Hat Gott gar nichts mit zu tun: Eine diskursive Ordnung biblischer Intertexte in den Romanen Uwe Johnsons [1 ed.] 9783737011471, 9783847111474


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Hat Gott gar nichts mit zu tun: Eine diskursive Ordnung biblischer Intertexte in den Romanen Uwe Johnsons [1 ed.]
 9783737011471, 9783847111474

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Johnson-Studien

Band 14

Herausgegeben von Ulrich Fries, Holger Helbig und Lothar van Laak

Paul Onasch

Hat Gott gar nichts mit zu tun Eine diskursive Ordnung biblischer Intertexte in den Romanen Uwe Johnsons

Mit einer Abbildung

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Zugl. Phil. Diss. Universität Rostock, 2018 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Uwe Johnson, Kohlezeichnung, 1961, in: Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht, hg. von G. Fritze Margull, Göttingen 2004, S. 224. © Steidl Verlag, Göttingen 2004, © Günter Grass, 1961. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1611-6402 ISBN 978-3-7370-1147-1

Inhalt

Ein Autor verfasst eine Leseliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Erster Teil: Johnson, Bibel, Literatur – Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs . . . .

23 24 32 42

2. Biblische Intertextualität – Eine Typologie unter Berücksichtigung der Romane Uwe Johnsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Biblische Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ebenen biblischer Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Ebene 1: Narrativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Ebene 2: Intensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Ebene 3: Diskursivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Noch einmal: Jonas zum Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . .

67 71 74 75 79 85 89

3. Zur Ordnung biblischer Intertexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

1. Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons . . 1.1 Religiöse Sozialisation und Haltung zur Kirche . . . . . . . 1.2 Kirchenkritik in Uwe Johnsons nicht-literarischen Texten . 1.3 Das Prosawerk Uwe Johnsons: Jonas zum Beispiel . . . . .

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. . . .

Zweiter Teil: Biblische Intertexte in den frühen Romanen Uwe Johnsons. Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 bis Zwei Ansichten 1. Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Politisch-kirchengeschichtlicher Rahmendiskurs: Der sozialistische ›Kirchenkampf‹ von 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Religiöser Diskurs: Ein »bürgerliches Überbleibsel«? . . . . . . . . .

97 99 106

6

Inhalt

1.3 Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Wir sollten wohl mal Geschichte wiederholen?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sprachlicher Diskurs: »Hat Gott gar nichts mit zu tun.« . . . . . . 1.4.1 Exkurs: Biblische Sprachformen des Deutschen . . . . . . . 1.4.2 Sprachkritik: »Ja um Gottes Willen« . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Folgen der Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.1 Parodie: Pius und »die Religion eines Staates« . . . . 1.4.3.2 Uneigentliches Sprechen: Die Parabeln der drei Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3.3 Kunstsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Biblischer Stimmbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Liturgischer Diskurs: »zwischen Pfingsten und schriftlichem Abitur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Freiheitlicher Rahmendiskurs: »nobody knows: nobody knows. But Jesus.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7 Zum Verhältnis von Persönlichkeitsrechten und Staatsräson . . .

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121 141 142 146 149 149

. . .

154 170 188

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190

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195 199

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203 209

. . . . . . . .

216 217 220 235 245 255 257 259

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275 293 294

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297 305

3. Das dritte Buch über Achim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Religiöser Diskurs: »Religion: Strich« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Theologisch-kirchengeschichtlicher Diskurs: »und wo er liegt ist nicht die Selbstmörderecke« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 313

2. Mutmassungen über Jakob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz« . . . . . . . . . . 2.2 Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs: »Die Grossen des Landes warfen ihr Auge auf Jakob« . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Gertrud Abs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Jakob Abs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Jonas Blach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Heinrich Cresspahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Gesine Cresspahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 »Soll einer sich selbst versäumen über einem Zweck« . . . . 2.3 Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters« . . . . . . . 2.4 Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sprachlicher Diskurs: »an dem ich Wohlgefallen gewinne« . . . . 2.5.1 Sprachkritik: »Aber er dachte in seinem Herzen« . . . . . . 2.5.2 Folgen der Sprachkritik: »und wenn ich dreissig Jahre ansässig wäre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Das Ringen um Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322

Inhalt

7

3.3 Sprachlicher Diskurs: »verstellte Sprache« . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Sprachkritik: »Menschen guten Willens« . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Folgen der Sprachkritik: »und allen wird heilig zumute« . . . 3.4 Politisch-ethischer Rahmendiskurs: Real existierender Sozialismus und christlich fundierte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Achim: Ein Prophet im Zeichen des Sozialismus . . . . . . . . 3.4.2 Karin: Die »Erlangung der ewigen Seligkeit« . . . . . . . . . . 3.5 Annäherung an eine ethische Orientierung . . . . . . . . . . . . . .

329 332 342

4. Zwei Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

5. Fünf Thesen zur Bibelrezeption in den frühen Romanen Uwe Johnsons

405

358 359 365 373

Dritter Teil: Biblische Intertexte in Uwe Johnsons Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl 1. Ein Opus magnum in vielerlei Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411

2. Mnemologischer Rahmendiskurs: »12. April, 1968 Karfreitag« . . . . . 2.1 Das evangelische Kirchenjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der jüdische Festkalender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

417 424 445

3. Religiöser Diskurs: Die »zwei Deutschen ohne Konfession« . . . . . . . 3.1 Die New Yorker Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Jerichower Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

481 481 487

4. Kirchengeschichtlicher Diskurs: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Nationalsozialistischer Kirchenkampf und ›Judenfrage‹ . . . . . . . 4.1.1 Jerichower Pastoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Der kirchliche Umgang mit Suizidenten . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Verhalten gegenüber der Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sozialistischer ›Kirchenkampf‹ und Stuttgarter Erklärung . . . . . .

497 497 498 515 524 528

5. Ethischer Diskurs: »Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt.« . . . 5.1 Lisbeth Cresspahl: »unnötig kirchenzahm« . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gesine Cresspahl: »Was ging sie die Kirche noch an!« . . . . . . . .

543 544 563

6. Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal« . . . . . 6.1 Biblische Systemreferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

577 579

8

Inhalt

6.2 Biblische Einzeltextreferenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

587

7. Fünf Thesen zur Bibelrezeption in den Jahrestagen . . . . . . . . . . .

595

Bibelrezeption im Zeichen einer doppelten narrativen Ethik . . . . . . . .

601

Anhang Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

659

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Uwe Johnson an Heinrich Beckschulze, Sheerness-on-Sea, 26. September 1977 Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/ 700042, Bl. 31f.

Ein Autor verfasst eine Leseliste

Mehr als vier Monate sind vergangen, seitdem die Schüler der neunten Klasse des Städtischen Gymnasiums in Barntrup Uwe Johnson in seiner Funktion »als Schriftsteller von Büchern«1 um Hilfe baten. Sie wünschten zu wissen, »welche Bücher für uns gut sind.«2 Mit einer Antwort werden die Schüler nicht mehr gerechnet haben, als Johnson am 26. September 1977 an den Lehrer Heinrich Beckschulze schrieb. Über zwei Seiten hinweg stellt er sich in jeweils einem separaten Absatz den sieben an ihn gerichteten Fragen der Schüler.3 Der Bitte, »einige Bücher [zu] empfehlen, gerne auch solche, die von nicht mehr lebenden Schriftstellern sind«,4 kommt der Autor mit einer ganzen Leseliste nach. Sie enthält die Namen Goethe, Fontane und Brecht, Flaubert, Faulkner und Tolstoi.5 Angeführt wird die Liste jedoch von einem Werk, mit dem die Schüler vermutlich nicht gerechnet hatten: der Bibel. In einer Reihe mit literarischen Werken wie Die Leiden des jungen Werther, Die Buddenbrooks oder Die Blechtrommel wirft die Nennung der Heiligen Schrift die Frage auf, in welchem Verhältnis Bibel und Literatur zueinander stehen. Die Antwort ist zunächst simpel: Wie die literarischen Werke ist die Bibel ein geschriebener Text, den es zu lesen lohnt. Doch was macht diesen Text für einen Autor wie Johnson so lesenswert, dass er ihn 15- bis 16-jährigen Schülern zur Lektüre empfiehlt? Bereits anhand der wenigen Verlautbarungen Johnsons zu seiner religiösen Einstellung und zur Institution Kirche lässt sich ausschließen, dass er den Schülern aus Barntrup die Bibel als Quelle christlichen Glaubens näherbringen wollte. Von welcher Bedeutung die Heilige Schrift für den Schriftsteller Johnson war, darüber geben seine Werke Aufschluss, vom Erstling Ingrid Babendererde 1 Michael Hänsch an Uwe Johnson, 25. 5. 1977, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/700041, Bl. 30–30v, hier: Bl. 30. 2 Ebd., Bl. 30v. 3 Vgl. Uwe Johnson an Heinrich Beckschulze, 26. 9. 1977, in: UJA Rostock, UJA/H/700042, Bl. 31f. 4 Michael Hänsch an Uwe Johnson, 25. 5. 1977, Bl. 30v. 5 Vgl. Uwe Johnson an Heinrich Beckschulze, 26. 9. 1977, Bl. 32.

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Ein Autor verfasst eine Leseliste

bis zum Fragment Heute Neunzig Jahr. Auf kunstvolle Weise werden im Œuvre des Büchner-Preisträgers von 1971 biblische Worte, bisweilen ganze Erzählungen aus der Heiligen Schrift aufgegriffen und in den jeweiligen Werkkontext integriert. Es ist beeindruckend, auf welch fundierten Kenntnissen die Auswahl und Verarbeitung der biblischen Texte basiert. Johnson konnte sich dabei nicht nur auf das von Max Frisch bescheinigte »homerische[] Gedächtnis«6 verlassen, sondern griff bei seiner literarischen Arbeit auf gleich mehrere Bibelausgaben zurück. In seinen Werken und den dazugehörigen Werkstufen finden sich Spuren der Lutherbibel nach der Revision von 1912, der revidierten Zürcher Bibel von 1931 sowie der englischsprachigen King James Bible nach der autorisierten Version von 1611 und der New English Bible von 1970. Rainer Paasch-Beeck gibt unter Berufung auf den ehemaligen Leiter des Uwe Johnson-Archivs, Eberhard Fahlke, an, dass sich in Johnsons Nachlass vier Bibeln befunden hätten.7 Drei dieser Bibeln gehören zum Bestand der Privatbibliothek im Rostocker Uwe Johnson-Archiv: ein Nachdruck der Lutherbibel von 1545,8 eine King James Bible9 und eine New English Bible.10 Nicht mehr Bestandteil der Johnson’schen Bibliothek ist eine Ausgabe der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931.11 Überraschend ist, dass keine revidierte Lutherbibel von 1912, auf die Johnson in seinen Werken am häufigsten zurückgegriffen hat, in der Bibliothek des 1984 verstorbenen Autors nachweisbar ist. Ob und wenn ja wie diese verloren ging, konnte nicht rekonstruiert werden. Neben verschiedenen Bibelausgaben konsultierte Johnson Konkordanzen12 und Lexika,13 tauschte sich mit Freunden und Bekannten aus. Beispielhaft für 6 Max Frisch: Tagebuch 1966–1971, Frankfurt am Main 1972, S. 24. 7 Vgl. Rainer Paasch-Beeck: »Ich habe viel in der Bibel gelesen.« Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, in: Pastoraltheologie 103, 2014, S. 307–333, hier: S. 313f. 8 Vgl. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. von Hans Volz, Bde. 1–2, München 1972, in: UJA Rostock, UJA BP 02558–1, UJA BP 02558–2, UJA BP 02557 (Anhang und Dokumente). 9 Vgl. The Holy Bible. Containing the Old and New Testaments. Transl. out of the orig. tongues and with the former transl. diligently compared and rev. by His Majesty’s Special Command, Oxford 1865, in: UJA Rostock, UJA BP 02555. 10 Vgl. The New English Bible. With the Apocrypha, Oxford 1970, in: UJA Rostock, UJA BP 02556. 11 Vgl. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zürcher Bibel, Berlin 1951. Diese Bibelausgabe war nachweislich noch Teil des Bestandes des Uwe Johnson-Archivs Frankfurt am Main. Wo sich dieses Exemplar heute befindet, konnte nicht ermittelt werden. 12 In der Bibliothek Johnsons befinden sich die beiden Konkordanzen zur Lutherbibel nach der Revision von 1912 und zur revidierten Zürcher Bibel von 1931; vgl. Calwer Bibelkonkordanz oder vollständiges biblisches Wortregister, unveränd. fotomechan. Nachdr. der 3. Aufl. von 1922, Stuttgart 1972, in: UJA Rostock, UJA BP 02559; Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.): Zürcher Bibel-Konkordanz. Vollständiges Wort-, Namen- und Zahlen-Verzeichnis zur Zürcher Bibelübersetzung. Mit Einschluss der Apokryphen, bearb. von Karl Huber und Hans Heinrich Schmid, Bde. 1–3, Zürich 1969–1973, in: UJA Rostock, UJA BP 02560–1, UJA BP

Ein Autor verfasst eine Leseliste

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diesen Austausch ist ein Brief vom 1. Februar 1969, adressiert an Walter Boehlich. Während der Arbeit am ersten Band der Jahrestage erkundigte sich Johnson beim ehemaligen Cheflektor des Suhrkamp Verlags: »Sind Sie ein Kenner der Bibel? Oder kennen Sie einen gerissenen Funktionär der evangelischen Kirche? ich komme bei einer bestimmten Sache mit der Konkordanz nicht weit genug.«14 Während das Anliegen Johnsons im vorliegeden Fall nicht überliefert ist,15 kann nachvollzogen werden, wie er seinen Schriftstellerkollegen Günter Eich bei einem geplanten, aber nicht mehr umgesetzten Kurzdrama über die Sumpfpflanze Kalmus unterstütze.16 Infolge eines Aufenthalts von Eich in Berlin, bei dem es zu einer Begegnung und einem ausführlichen Gespräch über das Gewächs kam,17 sandte Johnson zwei Briefe mit Abhandlungen zur Kulturgeschichte des Kalmus an Eich. Im zweiten Brief vom 2. Juli 1972 benennt Johnson u. a. zwei der vier in der Calwer Bibelkonkordanz verzeichneten Bibelstellen, in denen die Pflanze erwähnt wird: »Der K. war bei den Israeliten Bestandteil des Salböls, du könntest auf der Bühne also die folgenden Bibelstellen zitieren lassen: 2. Mos. 30,22ff. und Jes. 43,24«.18 Im Jahr 2011 gelangte Paasch-Beeck zu dem Schluss, dass »[z]ahlreiche Untersuchungen« Johnsons »kunst- und anspruchsvollen Umgang mit Bibelzitaten,

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02560–2, UJA BP 02560–3. Vgl. hierzu auch Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 314. Vgl. etwa Madeleine S. Miller/J. Lane Miller: Harper’s encyclopedia of Bible life, 3., überarb. Ausg., New York 1978, in: UJA Rostock, UJA BP 02561. Uwe Johnson an Walter Boehlich, 1. 2. 1969, zitiert nach Paul Onasch: »Wenn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden.« Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons, in: Tim Lörke/ Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, Göttingen 2015, S. 541–569, hier: S. 541. Walter Boehlich gesteht Johnson, sich »ein wenig« in der Bibel auszukennen, und bittet ihn, sein Anliegen näher zu erläutern, um »nachdenken und nachschauen« zu können; Walter Boehlich an Uwe Johnson, 3. 2. 1969, zitiert nach ebd. Eine Antwort Johnsons bleibt im überlieferten Briefwechsel aus. Erst gut ein Jahr später folgt der nächste Brief Johnsons, mit dem er den Kontakt zu Boehlich mit den Worten abbricht: »ich möchte nun doch nicht versäumen, mich von ihnen zu verabschieden. […] Und wünsche Ihnen eine gute Reise«; Uwe Johnson an Walter Boehlich, 8. 7. 1970, zitiert nach ebd. Johnson eröffnet seinen Brief an Eich vom 2. 7. 1972 mit dem Hinweis auf dessen geplantes »Dreiminutenstück über den Kalmus«; Uwe Johnson an Günter Eich, 2. 7. 1972, zitiert nach Max Frisch/Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1964–1983, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1999, S. 43–45, hier: S. 43. Im Folgenden mit der Sigle ›FJB‹ zitiert. Vgl. hierzu auch Roland Berbig: Faule Milz und erster Kalmus bei Wien. Uwe Johnson – Günter Eich: Signaturen einer Dichterfreundschaft. Mit einer Lektüre von Johnsons Gedenktext Einatmen und hinterlegen, in: Deutsche Vierteljahresschrift 1, 2004, S. 133–172. Vgl. Uwe Johnson an Max Frisch, 2. 7. 1972, in: FJB, 42. Uwe Johnson an Günter Eich, 2. 7. 1972, in: FJB, 44. Die beiden weiteren Bibelstellen, die die Calwer Bibelkonkordanz verzeichnet, sind Hld 4,14 und Ez 27,19; vgl. Calwer Bibelkonkordanz, S. 688.

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biblischen Figuren und ebensolchen Materialien inzwischen hinlänglich nachgewiesen«19 hätten. Dem ist ganz allgemein zuzustimmen, betrachtet man die reine Anzahl an Untersuchungen, die bislang zur Bibelrezeption des Mecklenburger Autors vorgelegt wurden. Es lohnt aber, genauer hinzusehen, denn in den allermeisten Analysen liegt der Schwerpunkt auf Johnsons letztem Roman Jahrestage oder der Parabel Jonas zum Beispiel. So veröffentlichte Paasch-Beeck in den vergangenen Jahren gleich mehrere Studien zu direkten biblischen Bezügen oder zu kirchengeschichtlichen Themenfeldern in den Jahrestagen.20 Für den Roman Ingrid Babendererde, mit dessen Konflikt um die Junge Gemeinde wie in keinem anderen Werk Johnsons die Themen ›Kirche‹ und ›Religion‹ im Zentrum stehen, liegt hingegen erst eine Arbeit vor, in der der Funktion biblischer Motive im Roman nachgegangen wird.21 Die Mutmassungen über Jakob wiederum wurden in einer Reihe von Untersuchungen, angefangen von Werner Joachim Radke22 bis hin zu Elisabeth Paefgen,23 vor allem hinsichtlich der Figurennamen und möglicher Symbole biblisch-allegorisch gedeutet. Für Das dritte Buch über Achim und Zwei Ansichten konstatierte Paasch-Beeck im Jahr 2014, dass Johnson »in diesen beiden Romanen in einem viel geringeren Maße auf sprachliche Anklänge, Motive, Figuren oder gar Zitate, die ursprünglich aus der Bibel stammen«, zurückgegriffen habe.24 In zwei Aufsätzen habe ich zu zeigen versucht, dass diese These für Das dritte Buch über Achim relativiert, wenn nicht revidiert werden muss.25 Das Ziel ist es, in der vorliegenden Untersuchung eine umfassende Systematisierung und vergleichende Analyse biblischer Bezugnahmen in den Werken Johnsons vorzunehmen. Einen ersten Ansatz für einen solchen Überblick lieferte Manfred Windfuhr. In seiner Studie Erinnerung und Avantgarde begibt sich Windfuhr auf eine religiöse Spurensuche, um die Ethik der Familie Cresspahl und eine Verbindung zwischen Natur und Religiosität in den Romanen Johnsons 19 Rainer Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Doms. Uwe Johnsons Auseinandersetzung mit der mecklenburgischen Kirche, in: Johnson-Jahrbuch 17, 2011, S. 83–115, hier: S. 83. 20 Vgl. hierzu ausführlich Dritter Teil, Kap. 3. 21 Vgl. Matthias Aumüller: Als der Heilige Geist über Uwe Johnson kam. Zur Funktion biblischer Motive im Bedeutungsaufbau von Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, in: JohnsonJahrbuch 18, 2011, S. 97–114. 22 Vgl. Werner Joachim Radke: Untersuchungen zu Uwe Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob, Diss., Stanford University 1966. 23 Vgl. Elisabeth Katharina Paefgen: Jakob als biblischer und literarischer Quergänger. Weitere Mutmaßungen über die Mutmassungen, in: Johnson-Jahrbuch 15, 2008, S. 81–93. 24 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 326. 25 Vgl. Paul Onasch: »Sätz[e] einer unwirksamen Religion über Recht und Sitte unter den Menschen«. Zum Umgang mit dem biblischen Kanon in Das dritte Buch über Achim, in: Johnson-Jahrbuch 21, 2014, S. 63–83; ders., Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons, S. 560–564.

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herauszuarbeiten. Dabei richtet er seinen Blick auf biblische Verweise in den Mutmassungen über Jakob, in der Parabel Jonas zum Beispiel, in Ingrid Babendererde, vor allem aber in den Jahrestagen.26 Einen deutlich umfassenderen Überblick legte Paasch-Beeck mit seinem 2014 veröffentlichten Aufsatz zur Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons vor. Für ein theologisches Publikum verfasst, geht Paasch-Beeck neben Jonas zum Beispiel und Jahrestage, in denen er den Schwerpunkt auf gottesdienstliche Handlungen auf der Vergangenheitsebene legt, auch auf die Romane Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob ein, um Johnsons vielseitigen literarischen Umgang mit der Heiligen Schrift zu demonstrieren.27 Im Vergleich zu den Einzelstudien fällt auf, dass in diesen Untersuchungen aufgrund der Fülle und Komplexität biblischer Bezugnahmen vor allem selektiv-exemplarisch auf die Texte zugegriffen wird. Eine Systematisierung von Verweisen auf die Heilige Schrift findet nur in Ansätzen statt. Überdies verfahren die meisten bislang veröffentlichten Studien akkumulierend. So fundiert die Analyseergebnisse bisweilen sind, erschöpft sich ihre Präsentation häufig in einer Ansammlung biblischer Zitate und Anspielungen. Im Gegensatz dazu orientiert sich die vorliegende Untersuchung an einer diskursiv-funktionalen Analyse. Darstellungsleitend ist hierbei die Annahme, dass die in die Texte integrierten biblischen Bezugnahmen nicht singulär auftreten, sondern in der Regel konzeptionell eingesetzt werden. Zudem sind sie innerhalb der Werke Johnsons und auch über die Werkgrenzen hinweg miteinander verknüpft. Die biblischen Bezugnahmen eröffnen neue oder erweitern bereits bestehende Diskurse um theologische oder kirchengeschichtliche Aspekte. Auch funktional stehen die für Johnsons Werk relevanten Diskurse in einem Zusammenhang, den es zu ergründen gilt: Welche Rolle nehmen die in die Texte eingegangenen biblischen Worte in ihrem neuen Kontext ein? Werden sie vom Erzähler oder einzelnen Figuren gebraucht, um Kritik an der Institution Kirche oder religiösen Vorstellungen zu üben? Bewirken die Texte der Heiligen Schrift eine Sakralisierung ihres textuellen Umfeldes oder werden sie ihrerseits durch eben jenen Werkkontext säkularisiert? Gibt es neben den bereits erwähnten Gemeinsamkeiten auch Unterschiede im Gebrauch biblischer Bezugnahmen innerhalb der Werke Johnsons? Diese und ähnliche Fragen sollen im Folgenden für die Romane Johnsons diskutiert werden. Das Korpus der zu Lebzeiten veröffentlichten Romane umfasst Mutmassungen über Jakob, Das dritte Buch über Achim, Zwei Ansichten und Jahrestage. Postum wurden Johnsons Erstling Ingrid Babendererde und der Fragment gebliebene Roman Heute Neunzig Jahr veröffentlicht. Inwieweit auch 26 Vgl. Manfred Windfuhr: Erinnerung und Avantgarde. Der Erzähler Uwe Johnson, Heidelberg 2003, S. 53–65. 27 Vgl. Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons.

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diese beiden Texte dem Romanwerk Johnsons zugeordnet werden können, soll durch einen kurzen Exkurs in die Editionsphilologie eruiert werden. Als einer der meistdiskutierten Begriffe innerhalb der Literaturwissenschaft reicht das Verständnis dessen, was unter dem ›Werk‹ eines Autors zu verstehen ist, von sehr umfassenden bis zu stark eingrenzenden Definitionsversuchen.28 Innerhalb der vorwiegend funktionalen Werkmodelle in der Editionsphilologie wird häufig die Rolle des Autors als entscheidendes Kriterium angesehen: »Das Werk ist ausschließlich vom Autor festgelegt: Er allein entscheidet, ob und wann ein Text zum Werk wird, er allein konstituiert das Werk«.29 Dagegen negiert Roland Reuß den Einfluss des Autors und interpretiert ein ›Werk‹ als Produkt seiner Wirkungsgeschichte, denn »Werk und Wirkungsgeschichte bringen sich wechselseitig allererst im Verlauf der Geschichte hervor«.30 Doch ab wann wird ein Text zu einem Werk; mit seinem Abschluss, seiner Veröffentlichung? Siegfried Scheibe begreift die Entstehung eines Werkes als einen »historischen Prozess«,31 wonach bereits Vorstufen, verschiedene Fassungen und Teilfassungen eines Textes zum ›Werk‹ gehören. Zu jedem Zeitpunkt fasse ein Autor einen Text in einer Form ab, in der er ihm »richtig, am besten erscheint«.32 Damit wendet sich Scheibe gegen die Vorstellung, dass ein Text erst mit seiner Veröffentlichung zu einem Werk werde, und begründet seine Begriffsbestimmung damit, dass Autoren auch nach der Publikation »nicht selten« die Möglichkeit wahrnehmen, »zu ändern, umzuarbeiten, neue Fassungen herzustellen«.33 Nichtsdestotrotz bildet die Publikation für einen Text eine Zäsur. Er überschreitet eine Grenze, hinter der »die Intention des Autors – im doppelten Sinn – aufgehoben ist«.34 Entsprechend bildet für Gunter Martens die Publikation bzw. die Publikationsabsicht, mit der er dem Problem nicht veröffentlichter bzw. Fragment gebliebener Texte begegnet, das für ein Werk konstitutive Kriterium: »Ein Werk ist eine Textfassung, die der Autor selbst veröffentlicht hat oder die er für eine Veröffentlichung vorgesehen hat.«35

28 Einen Überblick zu verschiedenen Werkmodellen bietet etwa Thomas Kater: Im Werkfokus: Grundlinien und Elemente eines pragmatischen Werkbegriffs, in: Lutz Danneberg/Annette Gilbert/Carlos Spoerhase (Hg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, Berlin/Boston 2019, S. 67–91, hier: S. 67–71. 29 Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs, in: editio 18, 2004, S. 175–186, hier: S. 184; Kursivdruck im Original. 30 Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk, in: Text 10, 2005, S. 1–12, hier: S. 10. 31 Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe, in: ders./ Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, München 1971, S. 1–44, hier: S. 4. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Martens, Werk als Grenze, S. 179. 35 Ebd.; Kursivdruck im Original.

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Für den Fragment gebliebenen Roman Heute Neunzig Jahr lag zweifellos eine solche Veröffentlichungsabsicht vor. Einen Tag vor Heiligabend des Jahres 1983 sandte Siegfried Unseld ›seinem‹ Autor Johnson einen »letzte[n] Gruß in der letzten halben Stunde der Verlagsarbeit, und gleichzeitig setze ich meine Unterschrift unter den Vertrag für ›Heute Neunzig Jahr. Die Geschichte der Familie Cresspahl‹«.36 Unselds ließ seinem Brief einen Vertragsentwurf in zweifacher Ausfertigung beilegen,37 der sich auf die Absicht von Autor und Verleger zurückführen lässt, ein Werk dieses Titels zu veröffentlichen. In den editorischen Hinweisen zu der von ihm im Jahr 1996 verantworteten Ausgabe betont Herausgeber Mecklenburg jedoch, dass das Nachlassmaterial zeige, dass Johnson bis zu seinem Tod nicht viel Zeit gefunden habe, um am Manuskript zu arbeiten. Vielmehr handele es sich bei der von ihm herausgegebenen Edition um ein Konglomerat zweier bereits im Jahr 1975 erstellter Typoskripte.38 Folgerichtig gelangt Mecklenburg zu dem Schluss, dass das Romanfragment eine Vorstufe zu den Jahrestagen sei, die Johnson in der vorliegenden Form »unter normalen Umständen wohl kaum zur Veröffentlichung gegeben hätte«.39 Demnach lässt sich für die überlieferten Textfassungen und die Edition Mecklenburgs keine Veröffentlichungsabsicht Johnsons konstatieren. Das Erzählprojekt Heute Neunzig Jahr ist kein Werk im Sinne Martens’ und wird im Folgenden nicht eigenständig auf biblische Bezugnahmen hin untersucht, als Vorstufe der Jahrestage aber punktuell zu deren Analyse hinzugezogen. Anders gestaltet sich die Entscheidung über den Werkcharakter bei Johnsons Erstling. Heinrich Vormweg etwa stellte bei Erscheinen des Romans die Frage: »Gehört Ingrid Babendererde – Reifeprüfung 1953 zum Werk selbst oder doch nur zu dessen Vorgeschichte?«40 Unbestritten lag eine Veröffentlichungsabsicht Johnsons für seinen ersten Roman vor. Der Autor selbst umschrieb diese Absicht in seinen im Sommersemester 1979 gehaltenen Frankfurter Vorlesungen, von

36 Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 23. 12. 1983, in: Uwe Johnson/Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt am Main 1999, S. 1078f. Im Folgenden mit der Sigle ›JUB‹ zitiert. 37 Vgl. ebd., S. 1079: »2 Anlagen / Bitte schick uns das Original des Vertrages mit Deiner Unterschrift versehen zurück.« 38 Vgl. Norbert Mecklenburg: Editorische Hinweise, in: Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, aus dem Nachlaß hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1996, S. 143–146, hier: S. 144. Im Folgenden mit der Sigle ›HNJ‹ zitiert. 39 Norbert Mecklenburg: Zur gemeinsamen Entstehung von Heute Neunzig Jahr und Jahrestage. Eine philologische Studie, in: HNJ, 147–193, hier: S. 152. 40 Heinrich Vormweg: Die Leseprobe. Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Erstsendung: Deutschlandfunk am 27. 6. 1985, zitiert nach Beate Wunsch: Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Frankfurt am Main 1991, S. 72.

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denen er eine seinem Erstling widmete.41 Er sei 1956 vom »Wahn« besessen gewesen, »aus einem abgeschlossenen Typoskript müsse zwangsläufig ein gedrucktes und erhältliches Buch werden« (BU, 88). Es folgten noch im selben Jahr Einreichungen beim Aufbau-Verlag, Carl Hinstorff Verlag, Paul List Verlag und Mitteldeutschen Verlag sowie bei der kulturpolitischen Wochenzeitung Sonntag in der DDR. Sie alle lehnten das Manuskript letztlich ab, ebenso wie ein Jahr später der Suhrkamp Verlag.42 Bereits einen Monat nach einem Treffen mit Peter Suhrkamp am 11. Juli 1957 in Berlin, in dem ihm der Verleger seine Absage mitteilte, verfasste Johnson einen Brief, in dem er sich einverstanden erklärte, aus dem Manuskript kein Buch werden zu lassen (vgl. BU, 99). Zwölf Jahre später zeigte sich Johnson im Gespräch mit Wilhelm J. Schwarz froh darüber, »daß es nicht mein erstes Buch geworden ist«.43 Er betonte aber auch, die Geschichte von Ingrid Babendererde »sicherlich noch einmal aufgreifen«44 zu wollen. Dieses Vorhaben verwirklichte Johnson bekanntlich im vierten Band der Jahrestage. Wie er über eine Veröffentlichung seines Erstlings nach dem Erscheinen seines vierbändigen Hauptwerks dachte, ist nicht unmittelbar überliefert. Einzig Siegfried Unseld gibt in seinem Nachwort zur 1985 postum veröffentlichten Ausgabe an, dass Johnson während einer Zugfahrt im November 1983 versichert habe, »daß Manuskript befinde sich in seinem Haus in Sheerness-on-Sea« und der Verleger könne »es ja einmal aus seinem Nachlaß edieren«.45 Nicola Westphal schenkt dieser Ausführung Unselds wenig Glauben und bezeichnet sie als »Behauptung ohne Beweischarakter«.46 Ihre Vermutung, Johnson habe »eine Pu-

41 Vgl. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1980, S. 55–99. Im Folgenden mit der Sigle ›BU‹ zitiert. Nicola Westphal begründet diesen Umstand mit der poetologischen Bedeutung des Erstlings für Johnsons schriftstellerische Entwicklung; vgl. Nicola Westphal: Literarische Kartografie. Erzählter Raum in den Romanen Uwe Johnsons, Göttingen 2007, S. 26. 42 Beate Wunsch erwähnt überdies eine Einreichung bei Hoffmann & Campe; vgl. Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 22. Zurückführen lässt sich diese Annahme auf Hans Scholz’ Nachruf für Johnson, der am 14. März 1984 in Der Tagesspiegel erschien und den Bernd Neumann in seiner Johnson-Biografie aufgreift; vgl. Hans Scholz: Blick in den Osten zurück. Zum Tode von Uwe Johnson, in: Der Tagesspiegel, Nr. 11697 vom 14. 3. 1984, S. 4; Bernd Neumann: Uwe Johnson, Hamburg 1994, S. 225. Weitere Anhaltspunkte für eine Einreichung bei Hoffmann & Campe gibt es allerdings nicht, sodass ein Irrtum von Scholz nicht ausgeschlossen werden kann. 43 Wilhelm J. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson (Am 10. 7. 1969 in West-Berlin), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 234–247, hier: S. 236. 44 Ebd. 45 Siegfried Unseld: Nachwort. Die Prüfung der Reife im Jahre 1953, in: Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Frankfurt am Main 1985, S. 249–264, hier: S. 251. Im Folgenden mit der Sigle ›IB‹ zitiert. 46 Westphal, Literarische Kartografie, S. 26.

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blikation zu Lebzeiten nicht mehr vor[gesehen]«,47 widerspricht aber weder der Aussage Unselds, noch lässt sie sich auf irgendeine Weise verifizieren. Ob eine Publikationsgenehmigung für den Roman vorlag, lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln. Das Ingrid-Manuskript, das Raimund Fellinger und Joachim Unseld bei einer Inspektion in Sheerness-on-Sea in einem Leitz-Ordner fanden und das die Vorlage für die 1985 veröffentlichte Edition bildete, war jedoch zweifelsohne zu einem früheren Zeitpunkt in dieser Form für eine Veröffentlichung vorgesehen. Aus diesem Grund kann von Ingrid Babendererde als einem Werk Johnsons gesprochen werden. Das Romanwerk Johnsons umfasst somit fünf Veröffentlichungen, die für die Betrachtung biblischer Diskurse als Textkorpus dienen: Ingrid Babendererde (1956/57, erschienen 1985), Mutmassungen über Jakob (1959), Das dritte Buch über Achim (1961), Zwei Ansichten (1965) und Jahrestage (1970–1983). Die Darstellung der Analyseergebnisse folgt der Chronologie der Entstehung der Texte, beginnend mit Ingrid Babendererde und endend mit Jahrestage. Aufgrund des Umfangs und der Formenvielfalt der Bibelrezeption in Johnsons letztem Roman, die sich in erheblichem Maße vom übrigen Werk unterscheidet, werden im zweiten Teil dieser Arbeit die Analysen zu den ersten vier Romanen unter dem Stichwort ›frühe Romane‹ subsumiert.48 Im dritten Teil folgen die Untersuchungsergebnisse zu den Jahrestagen, die mit denen der frühen Romane verglichen werden. In beiden Teilen werden sowohl werkimmanente als auch werkübergreifende biblische Diskurse in einem quasi prototypischen Vorgehen einer eingehenden Analyse und Interpretation unterzogen. Darin eingeschlossen sind Untersuchungen zum im Jahr 1957 erstmals in einem Gutachten des Mitteldeutschen Verlags zu Ingrid Babendererde von Günter Mehnert erwähnten Johnson’schen Bibelton. Die Integration biblischer Textsegmente in einen literarischen Text konstituiert eine textuelle Wechselbeziehung, die eine interdisziplinäre Beschäftigung mit den Texten herausfordert. An der Schnittstelle zwischen den Bezugswissenschaften von Literaturwissenschaft und Theologie dient eine Typologie bi47 Ebd. 48 Der Begriff ›frühe Romane‹ folgt der Systematik, die der Promotionsschrift von Katja Leuchtenberger zugrunde liegt; vgl. Katja Leuchtenberger: »Wer erzählt, muß an alles denken«. Erzählstrukturen und Strategien der Leserlenkung in den frühen Romanen Uwe Johnsons, Göttingen 2003. Wolfgang Strehlow dagegen zählt zum Frühwerk Johnsons die »vom DDR-Sujet gespeiste[n]« Romane Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim; Wolfgang Strehlow: Ästhetik des Widerspruchs. Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise, Berlin 1993, S. 237. Mit dieser Kategorisierung einher geht die Zuordnung von Karsch, und andere Prosa und Zwei Ansichten zu einer »Orientierungsphase«, womit Strehlow und in dessen Folge weitere Johnson-Forscher zu legitimieren versuchten, den Prosaband und Johnsons vierten Roman aus ihren Werkanalysen auszuklammern; ebd.; vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 4.

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Ein Autor verfasst eine Leseliste

blischer Intertextualität, die im ersten Teil im Anschluss an Vorüberlegungen zu Bibel und Christentum in Leben und Werk Johnson entwickelt wird, als Grundlage der Untersuchungen zu den fünf Romanen. Durch einen intertextualitätstheoretischen Zugriff soll vermieden werden, die Analyse biblischer Bezugnahmen bereits im Vorfeld durch einen funktionalen Rahmen einzugrenzen.49 Inwieweit sich die Typologie als allgemeines Analyseinstrumentarium eignet, dafür ist die Untersuchung von Johnsons Romanwerk in gewisser Weise ein Gradmesser. Geleitet wird sie von der Forderung Karl-Josef Kuschels, einem der Theologen, die das Forschungsfeld ›Theologie und Literatur‹ begründet haben, dass das »Werk von Uwe Johnson […] unter theologisch-ethischem Aspekt neu zu lesen«50 sein werde. Eine Voraussetzung hierfür ist es, Johnsons Empfehlung an die Schüler des Städtischen Gymnasiums in Barntrup nachzukommen und die Bibel zur Hand zu nehmen.

49 Eine funktionale Eingrenzung ist vielen theologischen Studien des Forschungsfeldes ›Theologie und Literatur‹ zu eigen; vgl. hierzu Erster Teil, Kap. 2, Anm. 4. Daneben weisen auch die von Albrecht Schöne, Birgit Lermen und Georg Langenhorst entwickelten Typologien zur Bibelrezeption ein Nebeneinander struktureller und funktionaler Kategorien auf; vgl. Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen 1958; Birgit Lermen: »Ich begann die Geschichte der Bibel zu lesen: Ein Riß; und der Abgrund Mensch klaffte auf«. Rezeptionsformen der Bibel, in: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 1999, S. 48–88; Georg Langenhorst: Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen – Methoden. Ein Werkbuch für Schule und Gemeinde, München 2001, S. 14–21. Gegen eine Anwendung der Typologien zur Bibelrezeption auf die Romane Johnsons spricht allerdings in erster Linie, dass sich diese vorwiegend für die Analyse von Großformen direkter Bibelrezeption eignen. Die Vielzahl von kurzen, aber prägnanten Anspielungen auf Worte und Motive, Situationen und Personen der Heiligen Schrift in Johnsons Romanen lassen sich primär nur den Kategorien der Verweisungstechnik bzw. des Ersatzes zuordnen. Auch liegt der Fokus bei allen drei Typologien in erster Linie auf der Verhältnisbestimmung von Einspielung und Prätext (Bibel), weniger auf der sich daraus entwickelnden Beziehung zwischen Einspielung und (literarischem) Text, die bei kurzen Allusionen evidenter zu sein scheint. Mit dem Hinweis auf direkte Bibelrezeption sei daneben auf ein sehr enges Verständnis von Bezugnahmen verwiesen, das diesen Typologien zugrunde liegt. Einer langen Auslegungsgeschichte, über die die Bibel als kanonischer Text verfügt, wird mit einer solchen Einschränkung nur unzureichend Rechnung getragen. 50 Karl-Josef Kuschel: Literatur und Theologie als gegenseitige Herausforderung. Bilanz, Ertrag, Entwicklung 1984–2004, in: Erich Garhammer/Georg Langenhorst (Hg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur, Würzburg 2005, S. 19–42, hier: S. 24.

Erster Teil: Johnson, Bibel, Literatur – Zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs

1.

Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons

Im März 1952 erwähnt der 17-jährige Abiturient Johnson im Lebenslauf zu seiner Reifeprüfung eine »ziemlich abrupte[] Loslösung von religiösen Traditionen und Ideen«1 in seiner Familie. Auch wenn diese Aussage im Kontext ihrer Entstehung, einer zunehmend antikirchlichen Kampagne der Führung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) in der frühen DDR, gelesen werden muss, war sie nicht nur ein politisch erwünschtes Statement. In Gesprächen mit Schwarz im Juli 1969 bestätigt Johnson die frühere Darstellung, indem er bekundet, nach dem Zweiten Weltkrieg »das Interesse an der Religion« verloren und demzufolge »keine religiösen Bindungen«2 mehr zu haben. Eine Begründung liefert er gleich mit: »Persönliche Erfahrungen hindern mich immer, eine Ideologie rückhaltlos mitzudenken, mitzuerleben. Konkretes war mir immer wichtiger, auch heute noch.«3 Es ist wenig überraschend, dass angesichts dieser Selbstzeugnisse in den einschlägigen Biografien Johnsons Verhältnis zum Christentum und zur evangelischen Kirche nahezu kein Platz eingeräumt wird. Jürgen Grambow konstatiert lediglich, dass der Mecklenburger »kirchlich so eng nicht gebunden«4 gewesen sei. Bernd Neumann lässt mit Axel Walter, der als Pastor und Landessuperintendent in Mecklenburg fungierte, einen Mitschüler Johnsons berichten, »[d]er Oberschüler Johnson gab sich […] als ein junger Atheist, der der Kirche sehr reserviert gegenüberstand.«5 Damit scheint die Gretchenfrage für Johnson beantwortet zu sein. 1 Uwe Johnson: Darstellung meiner Entwicklung. Transkription, in: Johnson-Jahrbuch 4, 1997, S. 12–14, hier: S. 13. 2 Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 240. 3 Ebd. 4 Jürgen Grambow: Uwe Johnson, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2004, S. 11. 5 Neumann, Uwe Johnson, S. 75. Den letzten Teil des von Neumann wiedergegebenen Zitats, »[d]ie Konfirmation lehnte er gegen den Wunsch der Mutter ab«, hat Axel Walter in einem Interview mit Holger Helbig und Paasch-Beeck im Jahr 1997 dementiert: »[Ich] kann mich auch nicht erinnern, daß ich das gegenüber Herrn Neumann gesagt habe. Herr Neumann hat, für meine Begriffe, eine besondere Beziehung zu dem Verhältnis Mutter-Sohn in der Familie

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Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons

Doch gerade seine Selbstzeugnissen regen zu weitergehenden Überlegungen an. Ein Interesse kann nur verlieren, wer einmal eines hatte; eine abrupte Loslösung in der Familie kann es nur geben, wo es einmal eine Bindung gab. Und so gibt Johnson in besagten Gesprächen mit Schwarz selbst Auskunft darüber, »protestantisch erzogen worden« zu sein und »viel in der Bibel gelesen« zu haben.6 Während man in den spärlichen Selbstaussagen zu seiner Kindheit und Jugend vergeblich nach weiteren Hinweisen auf eine religiöse Sozialisation sucht, ist es allen voran Paasch-Beeck, aber auch Johnsons Schulkameraden Günther Stübe und Axel Walter, zu verdanken, Licht ins Dunkel gebracht zu haben.7

1.1

Religiöse Sozialisation und Haltung zur Kirche

In seiner 1998 veröffentlichten Studie zu Uwe Johnsons christlicher Sozialisation bis 1949 konstatiert Paasch-Beeck noch, »bis heute nichts über die religiösen Ausprägungen seiner Eltern und Großeltern«8 sagen zu können. Ein Jahr später veröffentlichte er eine bemerkenswerte Arbeit zu Uwe Johnsons familiären Wurzeln in Mecklenburg. Anhand von Zeitzeugenaussagen und Archivalien konnte Paasch-Beeck herausfinden, dass Johnsons Großeltern sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits enge kirchliche Bindungen hatten. So war Friedrich Ludwig Ernst Karl Mård, Johnsons Großvater väterlicherseits, in Kladow, unweit des Schweriner Sees, »langjährige[r] tüchtige[r] und eifrige[r] Kirchenjurat«9 der dortigen Kirchengemeinde. Auch im zwischen Schwerin und Gadebusch gelegenen Dorf Drieberg, in das die Familie zwischen 1913 und 1915 zog, erinnerte man sich der »große[n] Nähe von Friedrich und Marie Johnson zur Kirche«.10 Wie verlässlich diese Erinnerungen nach 80 Jahren auch sein mögen,

6 7

8 9

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Johnson konstruieren wollen. Die Aussage paßt gut in seine Konzeption. Ich will ganz vorsichtig sein: Hier hat er interpretiert«; ebd.; Käte Walter/Axel Walter: Aus dem wird einmal ein Schriftsteller. Ein Gespräch, in: Johnson-Jahrbuch 5, 1998, S. 9–29, hier: S. 13. Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. Vgl. Rainer Paasch-Beeck: Konfirmation in Güstrow. Uwe Johnsons christliche Sozialisation bis 1949, in: Johnson-Jahrbuch 5, 1998, S. 44–59; ders.: Versuch, einen Großvater zu finden. Uwe Johnsons familiäre Wurzeln in Mecklenburg, in: Risse, Sonderheft 1, 1999, S. 20–38; Günther Stübe: Johnson in Güstrow. Berührungen, in: Johnson-Jahrbuch 4, 1997, S. 39–47; Walter/Walter, Ein Gespräch. Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 48f. Chronik von Kladow, 24. 6. 1911, zitiert nach Paasch-Beeck, Uwe Johnsons familiäre Wurzeln, S. 32. Ein Kirchenjurat ist ein Kirchenvorsteher, der in einer Gemeinde per Bestellung bestimmte Beratungs- und Kontrollfunktionen zugesprochen bekommt; vgl. Kirchliche Verwaltungsordnung für Mecklenburg-Schwerin, Schwerin 1931, S. 153–156. Paasch-Beeck, Uwe Johnsons familiäre Wurzeln, S. 34. Zur Umbenennung Friedrich Mårds in Friedrich Johnson gemäß der amtlichen Verfügung vom 31. Juli 1893 vgl. ebd., S. 28f.

Religiöse Sozialisation und Haltung zur Kirche

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wird doch deutlich, dass Johnsons Vater in einem christlich geprägten Elternhaus aufwuchs. Ähnlich verhält es sich mit seiner Mutter, Erna Johnson, geborene Sträde. Als zweitälteste Tochter von August und Berta Sträde wuchs sie im pommerschen Darsewitz, dem heutigen Darzowice, in einer strenggläubigen Familie auf. Ihre Eltern waren Mitglieder der altlutherischen Kirche11 und insbesondere bei Johnsons Großmutter Berta Sträde soll es sich um ein außerordentlich gottesfürchtiges Gemeindemitglied gehandelt haben. Dass auch der am 20. Juli 1934 im Kreiskrankenhaus von Kammin, dem heutigen Kamien´ Pomorski, geborene Enkel den nur wenige Kilometer von seinem Geburtsort entfernten großelterlichen Hof »regelmäßig, ja häufig«12 besuchte, davon zeugen neben einigen Fotografien13 auch Johnsons eigene Erinnerungen. In einem Brief an Rolf Italiaander vom November 1979 hielt er fest: Die Orte des Aufwachsens aus dem Gedächtnis verlieren, das hiesse ja die Dievenow vergessen, die für ein Kind zu breite Schlange Wassers mit ihren niedrigen schwarzen Booten, den glucksenden Fischkästen, dem wildwüchsigen Bruch und den federnden Wiesen an ihren Ufern.14

Jene Dievenow, die heutige Dziwna, ist es auch, an der Johnson am 9. September 1934 das Sakrament der Taufe empfing. In seinem kirchlichen Ausweis, der am 10. April 1949 in Güstrow ausgestellt wurde, ist Darsewitz als Ort der Taufe angegeben.15 Paasch-Beeck ist es gelungen, mit Meta Ploetz, einer Tante Johnsons mütterlicherseits, eine Augenzeugin der Taufe ausfindig zu machen. Diese erinnert sich daran, dass der Junge in der Wolliner Christuskirche in die christliche 11 Die Evangelisch-Lutherische Kirche in (Alt-)Preußen organisierte sich infolge der von Friedrich Wilhelm III. verhängten Union der lutherischen und reformierten Kirchen in Preußen und dem damit einhergehenden Agendenstreit aufgrund der vom König entworfenen Berliner Agende von 1821/22. Insbesondere in Schlesien, unter Führung des Breslauer Theologen Johann Gottfried Scheibel, aber auch in weiteren Teilen Preußens lehnten Pastoren und Gemeinden die Union aufgrund ausschließender kirchlicher Lehren wie der divergierenden Auffassung vom Abendmahl ab. Nach einer langjährigen Verfolgung, die erst 1840 unter Friedrich Wilhelm IV. endete, reorganisierte sich die Gemeinde 1841 in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preußen, 1972 trat sie der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) bei, 1989 folgte ihr die Evangelisch-Lutherische (altlutherische) Kirche der DDR; vgl. Werner Klän: Altlutheraner, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 1: A–B, 1998, Sp. 379–381. Im Folgenden mit der Sigle ›RGG4‹ zitiert. Vgl. auch Wilhelm H. Neuser: Agendenstreit, in: ebd., Sp. 181f.; Jörg Bauer/Michael Beintker/G. Thomas Halbrooks: Abendmahl. III. Dogmatisch. 1. Evangelisch, in: ebd., Sp. 31–40. 12 Paasch-Beeck, Uwe Johnsons familiäre Wurzeln, S. 24. 13 Vgl. etwa »Die Katze Erinnerung«. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern, zusammengestellt von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1994, S. 26f. 14 Uwe Johnson an Rolf Italiaander, 29. 11. 1979, zitiert nach »Die Katze Erinnerung«, S. 11. 15 Vgl. Kirchlicher Ausweis. Uwe Klaus Dieter Johnson, in: UJA Rostock, UJA/H/001868, Bl. 9– 10, hier: Bl. 9v.

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Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons

Gemeinschaft aufgenommen wurde und seine Großmutter als »eine der Taufpat(inn)en«16 fungierte. Berta Sträde sollte dreizehn Jahre später, im Jahr 1947, zu ihrer Tochter Erna Johnson und deren Kindern Uwe und Elke ins mecklenburgische Güstrow ziehen. In der Barlachstadt verbrachte sie die letzten Jahre ihres Lebens und »betreute und versorgte« ihre Enkelkinder, während »Johnsons Mutter für den Lebensunterhalt der Familie arbeiten ging«.17 Am 2. Juni 1948 starb Berta Sträde im Alter von 69 Jahren in Güstrow. Wie sich mehr als zwanzig Jahre später zeigen sollte, scheint der Tod der Großmutter für Johnson mit einem prägenden Ereignis verbunden gewesen zu sein. In seiner am 19. November 1969 in der Berliner Kongresshalle gehaltenen Rede zum Bußtag, spricht er von »einer alten Frau«, die den »Vertrag mit Gott, so wie er von der pommerschen Landeskirche aufgesetzt war, bis zum Schluß erfüllt hat«; nicht einmal habe sie »mit dem Eiergeld gemogelt, sie war auch darin mit der Bibel einig, daß siebzig Jahre genug sind, aber sie hat sich erkundigt, als sie noch zwei Stunden hatte, ob sie jetzt ins Paradies komme.«18 Der Pastor habe ihr die Frage mit »Ja« beantwortet – eine »nach den neueren Streitigkeiten in der evangelischen Theologie […] nicht unbezweifelbare Antwort«19 –, doch »[ j]etzt liegt die Frau verrottet zwei Meter tief in der Erde und hat ihre zwei letzten Stunden gelebt mit einer falschen Antwort von einer Auskunftsbehörde, die sie für unfehlbar halten mußte und die ihre letzte war.« (BS, 26f.) Sehr wahrscheinlich handelt es sich bei jener »alten Frau« um Johnsons Großmutter. Die implizit vermittelte Auffassung ihres Enkels vom Tod als dem ›Ende‹ des menschlichen Daseins hätte sie für sich vermutlich nicht akzeptiert, steht sie doch in deutlicher Opposition zur christlichen Lehre vom Leben nach dem Tod. Johnsons Vorwurf an die Kirche, sich »in die metaphysische Notlösung, die das Individuum sich mühselig genug und aus eigenen Kräften für den Fall

16 Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 59. Im Gegensatz dazu weist der kirchliche Ausweis Johnsons weder einen Taufspruch noch die Taufpaten aus; vgl. Kirchlicher Ausweis, Bl. 9v. 17 Paasch-Beeck, Uwe Johnsons familiäre Wurzeln, S. 24. 18 Uwe Johnson: Rede zum Bußtag. 19. November 1969, in: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main 1975, S. 44–51, hier: S. 46. Im Folgenden mit der Sigle ›BS‹ zitiert. 19 Es ist anzunehmen, dass Johnson hier auf die Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche um das Auseinanderklaffen von wissenschaftlicher Bibelforschung und Gemeindefrömmigkeit seit den 1950er Jahren anspielt; vgl. hierzu Alexander Christian Widmann: Wandel mit Gewalt? Der deutsche Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2013, S. 57–66. Vgl. auch Günter Klein/Walter Kreck/Willi Marxsen: Bibelkritik und Gemeindefrömmigkeit. Vorträge auf dem 12. Deutschen Evangelischen Kirchentag, Gütersloh 1966; Werner Jentsch: Zwischenbemerkung. Neuralgische Punkte zwischen Universitätstheologie und Gemeindefrömmigkeit, Neukirchen-Vluyn 1968.

Religiöse Sozialisation und Haltung zur Kirche

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seiner eigenen Vernichtung zusammenbasteln muß« (BS, 48), mit einem ›billigen‹ Versprechen zu drängen, fußt somit auf einer persönlichen Erfahrung.20 In seiner Kindheit und Jugend gelangte Johnson sowohl über die Familie als auch über Schulfreunde in Kontakt mit christlichen Lebenspraktiken. Durch seine Großeltern war er mit den religiösen Vorstellungen der altlutherischen Kirche wohlvertraut, was sich in der Figur der Marie Abs in den Jahrestagen widerspiegelt. Trotzdem führten diese religiösen Einflüsse in jungen Jahren nicht zu einer religiösen oder gar konfessionellen Bindung Johnsons. Vielmehr erkannte er sehr früh die Diskrepanz zwischen dem Verkünden der christlichen Offenbarung und dem entsprechenden Handeln danach – sowohl von kirchlichen Würdenträgern, als auch von (scheinbar) gläubigen Christen. In seinen Frankfurter Vorlesungen berichtet Johnson von einem Erlebnis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, das für ihn als zehnjähriges Flüchtlingskind so eindringlich gewesen sein muss, dass er es 34 Jahre später vor Studenten wiedergibt: Das Dorf war bedrängt von zivilen Flüchtlingen aus der östlichen Richtung, widerliche, unbequeme Mahnung waren sie an die so geläufig im Gebete bezeugte Tugend der Nächstenliebe, eine Gefahr für den Wohnraum, selbst für die Gute Stube, für die eigenen Vorräte an Mitteln zum Leben (was im Mecklenburgischen, als »läven«, ein Wort ist auch für das Essen). An den Sonntagen dieses Frühsommers ist die Kirche dicht besetzt, hier wollen die einheimischen Bauern den Flüchtlingen ihre Frömmigkeit etwas weniger kostspielig beweisen, so wie diese ihnen vorzuführen gedenken, dass sie immerhin in der Innigkeit des Glaubens gleichgestellte Personen sind. (BU, 28f.)

Doch nicht nur die Bewohner dieses Dorfes lassen aus Johnsons Sicht die Nächstenliebe vermissen, für die sie in den sonntäglichen Gottesdiensten beten. Auch der Vertreter dieser Kirchengemeinde sei ein ›Wendehals‹ gewesen: »Was aber hat der Pastor, der Ergebung predigt in Gottes unerforschliche Fügung, was für Ratschläge hat dieser verkleidete Mann noch im Januar gegeben?« (BU, 29) Ohne es näher auszuführen, deutet Johnson an, dass es sich beim Vorsteher der Gemeinde im unweit von Güstrow gelegenen Recknitz, in der er mit seiner Mutter und seiner Schwester vor der heranrückenden Roten Armee bei Verwandten Zuflucht fand, um einen Anhänger der nationalsozialistischen ›Reichsbewegung Deutsche Christen‹ handelte.21 Neben der persönlichen Betroffenheit zeugen die 20 Vgl. hierzu Erster Teil, Kap. 1.2. 21 Neumann und Paasch-Beeck konnten ermitteln, dass es sich bei diesem Pastor mit großer Wahrscheinlichkeit um Harri Kruse handelte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übernahm er die Pfarrstelle in Recknitz. Neumann beschreibt Kruse als »ein vormaliges NSDAP-Mitglied« und »Studienrat für Griechisch und Latein«, der »mit dem Kriegsende aus dem Schuldienst entfernt« wurde und aufgrund seiner klassischen Bildung »die Recknitzer Pfarrstelle zugeschanzt« bekam; Neumann, Uwe Johnson, S. 61. Paasch-Beeck fand heraus, dass Kruse zur beschriebenen Zeit noch kein berufener Pastor war, sondern nur die Rolle eines solchen übernahm. Erst 1948 wurde er offiziell in das Amt des Pastors der Recknitzer Gemeinde berufen; vgl. Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 50. Woher Neumann

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Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons

Erinnerungen Johnsons davon, dass die Zäsur, die er im Jahr 1945 miterlebte, zu einer Auseinandersetzung über die Rolle von (christlichem) Glauben und der Institution Kirche führte. Zwei Jahre später begann der 13-Jährige in Güstrow den Konfirmationsunterricht bei Pastor Gerhard Bosinski zu besuchen. Obwohl Johnson von Walter attestiert wird, der Kirche reserviert gegenübergestanden zu haben, berichtet dessen Mitkonfirmand Günther Stübe, dass es der spätere Autor war, der »am besten in der Bibel Bescheid«22 wusste. Auch war er »vermutlich einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzige von uns, der den Katechismus auswendig gelernt hatte«.23 Doch an dieser Stelle sollte der von Walter betonte Unterschied zwischen davon wissen und danach leben berücksichtigt werden: »Das Wissen hatte Johnson bestimmt.«24 Walter zeichnet ein Bild von Johnson als einem wissbegierigen Jugendlichen, der sich alles angesehen und angehört hat. Wenn er die Gelegenheit nicht wahrgenommen hätte, wäre eine Lücke in seinem Wissen entstanden. Das entsprach nicht seiner Mentalität. Deshalb hat er sich ja auch mit der Bibel beschäftigt. Ebenso wie er sich später mit dem Material der FDJ beschäftigt hat: Ich meine die Veranstaltungen für das Abzeichen für gutes Wissen. In beiden Fällen muß man genauer hinsehen, wie weit er sich engagiert, ein persönliches Bekenntnis dazu abgelegt hat. Johnson war da sehr vorsichtig.25

Neben dem Konfirmationsunterricht besuchte Johnson einen evangelischen Jugendkreis, der ebenfalls von Pastor Bosinski organisiert wurde und später in der Jungen Gemeinde aufging.26 Laut Stübe gehörte auch die Konfirmandengruppe um ihn und Johnson noch für kurze Zeit der Jungen Gemeinde an.27 Ebenso erinnert sich Ilse Bosinski, die Witwe des Dompredigers, an den »später sehr bekannt gewordene[n] Schriftsteller Uwe Johnson«28 als ein Mitglied des evangelischen Jugendkreises ihres Ehemanns. Sie schränkt aber in einem Brief an Paasch-Beeck ein: »Uwe Johnson war bei uns nur ›einer‹ unter vielen anderen Jugendlichen. Die Jahre dort waren von vielen schlimmen Anfeindungen, Verhaftungen und Verhören überschattet und Uwe zog sich zurück […]. Zum Kern

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seine Informationen bezieht, dass Johnson diesem Pastor »Fragen nach dem Anteil Gottes an der jüngst eingetretenen Katastrophe« stellte, ist nicht bekannt; Neumann, Uwe Johnson, S. 61. Stübe, Johnson in Güstrow, S. 43. Ebd., S. 44. Walter/Walter, Ein Gespräch, S. 12. Ebd., S. 12f. Stübe, Johnson in Güstrow, S. 44. Vgl. ebd. Ilse Bosinski: Schwierige Jahre in Güstrow am Beispiel persönlicher Aufzeichnungen, in: Studienhefte zur mecklenburgischen Kirchengeschichte 7, H. 3, 1994, S. 24–29, hier: S. 26.

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der Jungen Gemeinde hat er nicht gehört.«29 Auch wenn Johnson diesem Kirchenkreis »wohl eher als Sympathisant«30 angehörte, wie es Walter formuliert, blieb der Kontakt zur Familie Bosinski über die Konfirmation hinaus bestehen, bis er die DDR im Jahr 1959 verließ.31 Ob man, wie Paasch-Beeck, davon sprechen kann, dass sich Johnson »schon einige Zeit vor dem Konfirmationstermin innerlich von der evangelischen Kirche zurückgezogen«32 habe, sei dahingestellt. Angesichts des Todes der Großmutter, der in diese Zeit fällt, erscheint die Annahme durchaus möglich zu sein. Ebenso plausibel wäre, dass sich ein vielseitig interessierter Jugendlicher seinen eigenen Weg bahnte – zwischen christlichen und sozialistischen Vorstellungen, die ihm beide unmittelbar präsent waren. Unabhängig davon empfing Johnson am 10. April 1949, zu Palmarum, im Güstrower Dom die Konfirmation. Sein Konfirmationsspruch, der auch in seinem Prosawerk an prominenter Stelle seinen Platz finden sollte,33 war Mt 16,26. Nur wenige Monate später, am 10. September 1949, trat Johnson in die FDJ ein (vgl. BU, 52). Paasch-Beeck folgert, dass die innere Distanzhaltung des Schülers zur evangelischen Kirche damit auch »nach außen sichtbar«34 wurde. Johnson gab allerdings noch 1953 zu Protokoll, erst seit zwei Jahren nicht mehr Mitglied der Jungen Gemeinde zu sein.35 Dies verdeutlicht, dass die gleichzeitige Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde und zur FDJ zumindest bis 1951 keinen Widerspruch darstellte. Der Monopolanspruch der DDR-Staatsführung auf die Jugendarbeit war ab 1950 erst allmählich mit Maßnahmen gegen Mitglieder der Jungen Gemeinde verbunden. Eine umfassende Kampagne gegen die Junge 29 Ilse Bosinski an Rainer Paasch-Beeck, o. D., in: Privatbesitz, Bl. 1–4, hier: Bl. 2v. Ich danke Rainer Paasch-Beeck für die Bereitstellung des vermutlich im Mai 1997 verfassten Briefes, aus dem er in seinem Aufsatz Konfirmation in Güstrow im Johnson-Jahrbuch 5 (1998) in Auszügen zitiert; vgl. Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 55. 30 Walter/Walter, Ein Gespräch, S. 11. 31 Vgl. Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 56. Ilse Bosinski berichtet gar davon, dass Johnson ihnen vor der Flucht ein »ungefähr zehn Seiten umfassendes handschriftliches Manuskript mit eigenen Gedichten zur Aufbewahrung« übergab, das jedoch bei »einem unserer sieben Umzüge« verloren ging; Bosinski, Schwierige Jahre in Güstrow, S. 26. 32 Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 58. 33 Vgl. Kirchlicher Ausweis, Bl. 10. In den Jahrestagen heißt es am Ende des Tageskapitels vom 5. August 1968: »Matthäus XVI. 26. Ja, Schiet!«; Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bde. 1–4, Frankfurt am Main 1971–1983, S. 1733. Im Folgenden mit der Sigle ›JT‹ zitiert. 34 Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 58. 35 Vgl. Referat auf der Sitzung der Parteileitung der Universität Rostock, 20. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Informations- und Arbeitsberichte 1950–1958, FDJ 30, Bl. 1–15, hier: Bl. 12: »Der Student Uwe Johnson aus der philosophischen Fakultät, der nach seinen eigenen Angaben seit 2 Jahren nicht mehr Mitglied der Jungen Gemeinde ist«. Vgl. hierzu auch Tanja Winkler: Uwe Johnsons Spuren im Rostocker Universitätsarchiv. URL: http://www.uwe-john son-gesellschaft.de/uwe-johnson/johnsoniana [Zugriff vom 15. 3. 2018].

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Gemeinde setzte erst im Mai 1952 ein und wurde durch die Rede Walter Ulbrichts auf dem IV. Parlament der FDJ initiiert.36 In unmittelbare Berührung mit der Kursverschärfung und den anschließenden Repressionen gegen die Junge Gemeinde kam Johnson spätestens zu Beginn des Jahres 1953. Als Germanistikstudent der Universität Rostock und Mitglied der FDJ-Gruppe der Philosophischen Fakultät wurde er dazu aufgefordert, am 5. Mai 1953 im Zuge einer Großversammlung der FDJ-Gruppe einen Diskussionsbeitrag zum Thema Die Junge Gemeinde und die Rechte der Kirche zu halten.37 Johnsons Referat nahm dabei nicht den von der FDJ-Gruppe gewünschten Verlauf. Statt die christliche Jugendorganisation als Gefahr für den Staat zu erweisen, beschrieb er ihre Zusammenkünfte, so Johnson mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen in den Frankfurter Vorlesungen, als »Seminar zur Auslegung eines Textes, hier der Bibel« (BU, 65). Von Überfällen, die Mitgliedern der Jungen Gemeinde vorgeworfen wurden, wusste er nur in zwei Fällen zu berichten: »auf zwei Oberschüler, Angehörige der Jungen Gemeinde und mit eben dieser Begründung von der Schule verwiesen, in einer Vollversammlung« (BU, 65). Gemäß dem nicht mehr überlieferten Protokoll der Veranstaltung warf Johnson der FDJ vor, verfassungswidrig und an Terror grenzend zu handeln.38 In den Frankfurter Vorlesungen geht Johnson über diese Darstellung hinaus. Demnach habe er abschließend festgestellt, die Hetze und die Schikanen gegen eine Religionsgemeinschaft konstituiere einen mehrfachen Bruch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, ausgeführt durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik: Artikel 9 gewährleiste die Freiheit der Meinungsäusserung, Artikel 41 die Glaubensfreiheit und ungestörte Ausübung der Religion, und so fort bis zum Artikel 45. (BU, 65f.)

Die Worte des Studenten schlugen ein »wie eine Bombe«39 und sollten Konsequenzen nach sich ziehen: Johnson selbst berichtet von einem Beschluss der 36 Vgl. Ellen Ueberschär: Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945–1961, Stuttgart 2003, S. 176–185. Ueberschär beschreibt, dass die DDR in den 1950er Jahren »inflationär über Abzeichen verfügte«, was dazu führte, dass Jugendliche gleich mehrere von ihnen trugen, teilweise auch »das ›Kreuz auf der Weltkugel‹ neben der aufgehenden Sonne im Abzeichen der FDJ«; ebd., S. 179. Auch Axel Walter berichtet von kirchlich organisierten Themenabenden im Jahr 1950, »zu denen die FDJ-Mitglieder kamen und mitdiskutierten. Das war noch nicht antikirchlich, selbst wenn sie in Gruppen erschienen«; Walter/Walter, Ein Gespräch, S. 14. 37 Vgl. Referat Sitzung der Parteileitung 20. 5. 1953, Bl. 12. 38 Vgl. ebd. 39 Protokoll der Leitungssitzung der SED-Grundorganisation, Philosophische Fakultät, 8. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Parteileitungssitzungen der Philosophischen Fakultät 1951–1963, UPL 367, Bl. 25. Der unbekannte Referent des FDJ-Referates vom 20. Mai 1953 spricht hingegen davon, dass Johnsons Rede »stillschweigend zur Kenntnis« genommen wurde; selbst der Protest eines Genossen »verhallte unbeachtet«, obwohl an der Versammlung

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Partei, der seine »Exmatrikulation, Sperre sämtlicher Hochschulen« (BU, 66) nach sich ziehen sollte.40 Doch fiel jener Beschluss in die Zeit des ›Neuen Kurses‹ der SED-Führung, der infolge der Erfahrungen des Aufstandes vom 17. Juni 1953 die Einstellung aller Aktionen gegen die Junge Gemeinde zur Folge hatte. Infolgedessen wurde vermutlich auch der Exmatrikulationsbeschluss gegen den Germanistikstudenten aufgehoben (vgl. BU, 66f.). Literarisch verarbeitete Johnson den Konflikt um die Junge Gemeinde in seinem ersten Roman Ingrid Babendererde, den er bereits in Rostock zu schreiben begann. Obwohl Johnson selbst kein Angehöriger der Jungen Gemeinde mehr war, zeigte er eine »konkrete Betroffenheit«41 – drei Kommilitonen seiner Seminargruppe gehörten der christlichen Jugendorganisation an – und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Beides ließ ihn gegen die Maßnahmen des Staates angehen und sich mit der Jungen Gemeinde solidarisieren. Es ist anzunehmen, dass Johnson aufgrund dieser Solidarität Mitglied der evangelischen Kirche blieb, solange er in der DDR lebte. Erst kurze Zeit nach seinem ›Umzug‹ nach Westberlin erklärte er am 2. März 1960 beim Amtsgericht Berlin-Schöneberg seinen Austritt.42 Er ging damit den Schritt, seiner Distanz zur evangelischen Kirche auch offiziell Ausdruck zu verleihen. An dieser Distanziertheit sollte sich bis zu Johnsons Tod nichts ändern. In seinem Testament vom 22. März 1983

»eine ganze Reihe Genossen der Parteiorganisation der philosophischen Fakultät anwesend waren«; Referat Sitzung der Parteileitung 20. 5. 1953, Bl. 13. 40 Mit den Akten der Philosophischen Fakultät und des Instituts für Germanistik der Universität Rostock lässt sich Johnsons Darstellung seiner Exmatrikulation und deren Rücknahme nicht belegen, wobei die Akte ›Studienangelegenheiten‹ der Philosophischen Fakultät zwischen 1951 und 1957 eine Dokumentationslücke aufweist; vgl. Philosophische Fakultät. Studienangelegenheiten. 1948–1969, in: Universitätsarchiv Rostock, Phil.Fak. 74; Germanistisches Institut. Studentenangelegenheiten. 1953–1968, in: Universität Rostock, Phil.Fak. 295. Am 13. Mai 1953 – der vom Referenten des FDJ-Referates angegebene 14. Mai 1953 war mit Christi Himmelfahrt ein gesetzlicher Feiertag, wohingegen im Protokoll der Leitungssitzung der SED-Grundorganisation der Philosophischen Fakultät vom 8. Mai 1953 ein »Mittwoch, 17.00« handschriftlich als anvisierter Termin verzeichnet ist – fand eine Aussprache zwischen der Parteileitung und Johnson statt, in der letzterer seinen Diskussionsbeitrag wiederholte und betonte, »daß mir die Diskussion schon lange nicht gefällt und das [sic!] es mir nicht gefällt das [sic!] meine Worte protokolliert werden«; Referat Sitzung der Parteileitung 20. 5. 1953, Bl. 13; vgl. Protokoll der Leitungssitzung 8. 5. 1953, Bl. 25. Statt von einer Exmatrikulation spricht der Referent des FDJ-Vortrags Ende Mai davon, dass Johnson »unbehelligt weiter auf Kosten der Arbeiterklasse [studiert], trotzdem er eine so negative Rolle spielt«; Referat Sitzung der Parteileitung 20. 5. 1953, Bl. 14. 41 Walter/Walter, Ein Gespräch, S. 19. 42 Vgl. Amtsgericht Berlin-Schöneberg: Bescheinigung [zum Austritt aus der evangelischen Kirche], in: UJA Rostock, UJA/H/001883, Bl. 53. Wirksam wurde der Austritt zum 3. April 1960, nicht wie von Paasch-Beeck irrtümlich angegeben zum 4. April 1960; vgl. Paasch-Beeck, Konfirmation in Güstrow, S. 59.

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verfügte er: »I REQUEST that there shall be no music speeches flowers or any religious or other services whatsoever«.43 Die Kritikpunkte, die Johnson zu dieser Haltung führten, konnten bislang lediglich angedeutet werden. Dass diese Kritik auf konkreten Vorstellungen basierte, welche Aufgabe(n) die Institution Kirche hat, darüber gibt seine bereits weiter oben erwähnte Rede zum Bußtag Aufschluss, ebenso wie das 1970 veröffentlichte Nachwort zu Grunert-Bronnens Interviewband Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik und der Aufsatz Eine Kneipe geht verloren. Da diese Vorstellungen auch für das Verständnis der Romane Johnsons von erheblicher Relevanz sind, sollen sie im folgenden Abschnitt eingehend diskutiert werden.

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Im Nachwort zu Grunert-Bronnens Interviewband zeichnet Johnson ein Bild der Entwicklung der damaligen DDR hin zu einer »strenge[n] Erzieherin«,44 die ihre Bürger dazu genötigt habe, den Staat zu verlassen, der für sie mehr war »als ein Land, mehr als Heimat und biographische Gegend« (BS, 55). Den »beiden Kirchen« – der evangelischen wie der katholischen – wirft er für die Zeit der Gründung beider deutscher Staaten vor, lediglich ihre eigenen Positionen verteidigt zu haben: »wieder einmal war ihr Geschäft nicht von dieser Welt« (BS, 52). Der Vorwurf ist konkret. Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hätte es einer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bedurft. Johnson zufolge hätte »mit der Vergangenheit gebrochen werden« (BS, 52) müssen. Die beiden Kirchen hielten jedoch an ihren traditionellen Positionen fest – eben jenen Positionen, die in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 partiell ausgehöhlt wurden und der politischen Instrumentalisierung dienten. Sie versäumten es, den Menschen Handlungsmöglichkeiten anzubieten, die der konkreten Situation angemessen gewesen wären. Somit machten es die Kirchen der neuen Macht in der DDR, deren »Autorität von Haus aus die bessere war, weil anti-faschistisch« (BS, 53), leicht, »die Zuständigkeit der alten Instanzen zu verkleinern« (BS, 52). Mit dem Vorwurf der Weltfremdheit versehen, transportiert Johnsons Kritik implizit eine Erwartungshaltung: Es hätte die Möglichkeit bestanden, das christliche Menschenbild, Bezug nehmend auf die konkreten Gegebenheiten der Menschen nach 1945, als ein genuin anti-faschistisches 43 Uwe Johnson: Testament, 22. 3. 1983, zitiert nach Heinrich Lübbert: Der Streit um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1998, S. 38; Versalien im Original. 44 Uwe Johnson: Versuch, eine Mentalität zu erklären, in: BS, 52–63, hier: S. 58, zuerst abgedruckt in Barbara Grunert-Bronnen (Hg.): Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik, München 1970, S. 119–129.

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zu deklarieren. Es sei dahingestellt, ob diese Erwartungshaltung angesichts der Geschichte beider Kirchen vor 1945 tatsächlich realistisch ist. Ein gänzlich anderes Bild von der Institution Kirche, hier vornehmlich der evangelischen Kirche,45 zeichnet Johnson in seiner Rede zum Buß- und Bettag von 1969. Vor rund 1.300 Zuhörern eröffnete Johnson seine Rede mit einer süffisanten Beschreibung der Philippus-Kirche in Berlin-Friedenau, nur wenige Meter von der Johnson’schen Wohnung in der Stierstraße entfernt. Jene zwischen 1959 und 1962 entstandene »recht modeselige Auffassung von Baukunst« gleiche einem »Ski-Übungshang« und verfüge darüber hinaus über einen »frei stehenden Glockenturm«, deren Geläut »nicht nur Kleinkindern Ohrenschmerzen« bereite (BS, 44).46 Dieses Glockengeläut nimmt Johnson zum Ausgangspunkt, das Verständnis der Kirche zu vermitteln, keine gewöhnliche Institution bzw., dem juristischen Wortschatz gemäß, nicht einfach eine »Körperschaft öffentlichen

45 Paasch-Beeck verweist in seiner im Jahr 1999 erschienen Analyse der Rede auf Johnsons Kirchenverständnis als einem institutionellen. Hingegen bliebe das »evangelische Verständnis von Kirche als Gemeinschaft, und zwar als Gemeinschaft der Gläubigen, daß also auch jeder einzelne Christ Teil der Kirche ist und Kirche konstituiert«, in Johnsons Betrachtung außen vor; Rainer Paasch-Beeck: Eine Rede über Kirche und Tod. Uwe Johnsons Rede zum Bußtag, in: Johnson-Jahrbuch 6, 1999, S. 163–182, hier: S. 169. Hierbei sollte aber nicht die Möglichkeit außer Acht gelassen werden, dass die Eingrenzung des Kirchenbegriffs auf die Institution Kirche eine ganz bewusste Entscheidung Johnsons war. Wie in seiner dezidierten Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus scheint es ihm nicht um eine generelle Negierung christlicher Glaubensvorstellungen zu gehen – wozu bedürfte es sonst einer Kritik an der Institution Kirche –, sondern um eine Kritik an denjenigen, die in beiden deutschen Staaten Kirche zuvörderst prägten, in den Gemeinden wie in der öffentlichen Wahrnehmung. 46 Die nach den Plänen Hansrudolf Plarres für die Philippus-Gemeinde errichtete Kirche ist vom Grundriss her ein Sechseck, das durch eine »großflächige[] Farbverglasung« geprägt ist; Kerstin Englert: Kirchen nach 1945, in: Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (Hg.): Berlin und seine Bauten, Bd. 6: Sakralbauten, Berlin 1997, S. 207–272, hier: S. 217. Architektonisch passt die Philippus-Kirche in eine Reihe polygoner Kirchen, die die Berliner Sakralarchitektur der 1950er Jahre mitprägte; vgl. ebd., S. 219f. In einem Brief an die Redaktion der Evangelischen Kommentare führt Johnson seine Kritik am Glockengeläut der Philippus-Kirche weiter aus: »Die Beziehungen gegenüber der Kirche vor den von mir gemieteten Fenstern sind kaum recht verbunden. Die Kirche macht zu bestimmten Tageszeiten Krach. Ohnehin liegt dieser Teil Friedenaus unter der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof. Glockengeläut obendrein halte ich bei kleinen Kindern und jungen Hunden für Körperverletzung. Eine Weile lang rief ich bei fast jedem Läuten den verantwortlichen Pfarrer an und erkundigte mich nach dem Anlaß. Er gab eine Auskunft, die große Skepsis hinsichtlich der laienhaften Zeitmessung offenbarte: Es sei Mittag, zwölf Uhr …; er gab andere Auskünfte. Nach einer Weile entfuhr ihm nur noch: Ach, Sie sind’s! und keine Auskunft mehr. Eine Weile hoffte ich auf Weiterungen jenes Sieges, den eine frankfurter Referendarin im Prozeß gegen eine zu laut klingende Kirche davongetragen hatte; sie muß ihn irgendwo haben stehen lassen, denn weiterhin darf die Kirche in unserem Wohngebiet Lärm machen um zwölf Uhr mittags, in dem Verdacht, wir verstünden nicht die Rathausuhr zu lesen …«; Uwe Johnson: Brief an eine Redaktion, in: Evangelische Kommentare 7, 1974, S. 105f., hier: S. 106.

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Rechts« (BS, 44) zu sein.47 Diesem Anspruch entspreche sie jedoch nicht, indem sie bei ihrer Themenwahl aufmerksam »die feuilletonistischen Entwicklungen verfolgt« und die »Bürger ausführlich bedient mit der christlichen Sicht auf die Sexualerziehung, die Beatles und die Minoritätenprobleme in Bessarabien« (BS, 44f.). Für Johnson sind es Themen, die beliebig seien und bei denen die Kirche unnötigerweise als eine Belehrungsinstanz auftrete. Ihre Postulate würden entsprechend wirkungslos verhallen. Zumindest bedenkenswert erscheint, ob diese Angelegenheiten nicht allein deshalb auch in den Funktionsbereich der Kirche fallen sollten, weil sie die Lebenswelt ihrer Mitglieder unmittelbar berühren. Johnson insistiert jedoch auf einem funktional differenzierten Gesellschaftsmodell im Sinne Niklas Luhmanns.48 Noch deutlicher wird seine Kritik, wenn er in der Folge ein zentrales Thema jeder religiösen Dogmatik aufruft – den Tod: »aber wenn es um die Beendigung der individuellen Existenz geht, ist die Äußerungssucht der bescheidwisserischen Instanz eingetrocknet zu trüben und ungreifbaren Formeln, widersprüchlich und widerwillig abgegeben« (BS, 45). Angesichts dieser Auffassung lässt sich Johnson nicht in eine Reihe »mit den konservativen Verächtern einer sich wandelnden und sich auch gegenüber gesellschaftlichen Problemen öffnenden Kirche am Ende dieses Jahrtausends«49 stellen. Vielmehr lässt sich aus dem Gesagten schließen, dass er eine der zentralen, wenn nicht die Hauptaufgabe der Kirche darin erkennt, dem Menschen eine differenzierte und plausible Erklärung zum menschlichen Tod anzubieten. Gestützt wird diese Annahme durch seine Ausführungen zum Sterben und dem Leben nach dem Tod. Diesem Themenkomplex nähert sich Johnson aus unterschiedlichen Blickwinkeln: anhand allgemeiner Überlegungen, eines persönlichen Erlebnisses und eines Falls, der in den Medien, in politischen und in Kirchenkreisen seinerzeit für Aufsehen sorgte. Doch statt der Kirche eine in diesem Bereich ausgesprochene Kompetenz zuzusprechen, wirft er ihr Simplifizierung, »Anmaßung und Versagen«50 vor. 47 In der Folge versieht Johnson die Kirche mit den sarkastischen Attributen »Beratungsfirma«, »Sachwalterin des Lebens, des Schutzes von Leben« sowie »Immobilienhändlerin, Wertpapiermaklerin, Dollarmilliardärin« (BS, 45, 48f.). 48 Vgl. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2000, S. 116. Für Luhmann ist Religion »nicht mehr eine notwendige Vermittlungsinstanz […], die die Beziehung aller gesellschaftlichen Aktivitäten zu einem Gesamtsinn herstellt«, sondern vielmehr eine kommunikative Einheit, ein »religionsspezifische[r] Code«, für den sich »am ehesten die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz« eignet: »Man kann dann auch sagen, daß eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet. Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, der Anschlußfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann«; ebd., S. 125, 77; Kursivdruck im Original. 49 Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 169. 50 Ebd., S. 170.

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Bereits in den allgemeinen Überlegungen, die vom Gesichtspunkt der Plausibilität geprägt sind, gelangt Johnson zu dem Schluss, dass »der christliche Tod nicht begreiflich«, die Erklärungen der Kirche zum Leben nach dem Tod »nicht annehmbar« (BS, 46) seien. Warum werde ein Individuum, dessen Ziel darin bestehe, ein Partner Gottes zu werden, nur wenige Jahre nach dem möglichen Erreichen dieses Zustandes »vernichtet« (BS, 45)? Warum erfolge dieses Sterben »mit Vorbereitung? Warum die Beschwerden des Alters, warum das Abnehmen mit Schmerzen, das Sterben unter Qualen, alles als Vorwarnung und Einstellung auf einen Abschied, der dadurch das Wesen einer Strafe und Züchtigung annimmt?« (BS, 45f.) Johnson berührt mit diesen Fragen, wie Paasch-Beeck festhält, »unausweichlich auch einen ewigen Stachel im Fleisch der Kirche, das Problem der Theodizee«, und wirft ihr ätiologische Simplifizierung vor: »Der natürliche Tod ist ein Vorbehalt, den die Kirche der individuellen Verantwortlichkeit entzieht und für den Gott reserviert« (BS, 45f.). Somit lasse sich auch die christliche Vorstellung einer ›Seele‹ und eines ›Paradieses‹ »[a]ußer in Worten« (BS, 46) nicht halten. Als Exempel für seine Auseinandersetzung mit dem Leben nach dem Tod dient Johnson, wie bereits an früherer Stelle erwähnt, die Beschreibung der letzten Stunden seiner Großmutter. Noch immer bewegt er sich auf der Ebene allgemeiner Reflexionen, wenn er die Kirche als »Auskunftsbehörde« bezeichnet, die »mit ihrem Bescheidwissen renommiert«, während ihre Lehrsätze zum Sterben und dem Leben nach dem Tod bloße »Versprechen« (BS, 47) seien. Versprechen vom Paradies, vom hellen Grab (versehen mit den Worten aus Ps 33,4)51 erscheinen Johnson angesichts der Beobachtungen einer verrotteten Leiche, eines verschraubten oder vernagelten Sarges nicht plausibel. Was für ihn bleibt, ist der Tod als das unverrückbare Ende menschlichen Lebens: »Denn der bevorstehende Ort ist schrecklich. Wenn man das bürgerliche Zeremoniell bei Beerdigungen abzieht, bleibt es die Erde, also ein Ort ohne Bewußtsein, ein Defizit.« (BS, 46) Johnson beharrt darauf, dass es die Aufgabe eines jeden einzelnen sei, »eine metaphysische Notlösung […] für den Fall seiner eigenen Vernichtung zusammen[zu]basteln« (BS, 48). Auf die bestehenden religiösen Angebote könne ebenso gut verzichtet werden. Wenn es nicht das Sterben und der Tod sind, so bliebe das irdische Leben: die Kirche als (ethisches) Korrektiv, als »Sachwalterin des Lebens, des Schutzes von Leben« (BS, 48), innerhalb der Gesellschaft und auch gegen den Widerstand 51 Vgl. BS, 47: »Der beleuchtete Raum in der finsteren Erde war also das Grab, und das Licht, in dem der sehr saubere und ganz heile Sarg ausgestellt war, kam von oben, nämlich in der Form eines Blitzes, und der Blitz verdankte seine Leuchtkraft dem oberen weißen Rand des Plakats, weil der die Worte trug: ›Des Herrn Wort ist wahr, und was er zusagt, das hält er‹.« Wie unplausibel dieses Plakat daherkommt, vermittelt Johnson durch seine Beschreibung des Sarges als einem sehr sauberen und sehr heilen.

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politischer Machthaber. In diesem Sinne wird im zweiten Teil von Johnsons Rede mehr als nur »die Geschichte der deutschen Kirche(n) im 20. Jahrhundert«52 verhandelt. Dass Johnson für die Institution Kirche den Begriff ›Sachwalter‹ wählt, der im Dritten Buch über Achim und in den Jahrestagen stellvertretend für den Staatsratsvorsitzenden Ulbricht steht,53 lässt die anschließende Kritik erahnen. Exemplarisch führt er vor, dass die Kirche(n) ihren eigenen Anspruch »regelmäßig aufgegeben [haben] zu Gunsten der Geschäftsverbindung mit der jeweils regierenden Gewalt« (BS, 48). Indem sich die Kritik nicht nur auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges beschränkt, in der die Kirchen »dem Hitler die Soldaten kampfesmutig gehalten haben mit ihrem Segen« (BS, 48), wird ihr zusätzliches Gewicht verliehen. Johnson führt seinen Zuhörern vor, dass sich an diesem Verhältnis zwischen Kirche und Staat auch nach 1945, und trotz dieser auch für die Kirche(n) einschneidenden Ereignisse, grundlegend nichts geändert habe: »Und richtig, kaum waren ein paar Jährchen vergangen, da bestellten sie einen Bischof für die Militärseelsorge in der westdeutschen Bundeswehr, der heißt Herrmann Kunst.« (BS, 48)54 Das war 1957, und nur zwei Jahre später veröffentlichte eine von der Evangelischen Studiengemeinschaft eingerichtete wissenschaftliche Kommission das Ergebnis ihrer zweijährigen Beratungen in den sogenannten Heidelberger Thesen, die als »Resümee der gesamten Atomdebat-

52 Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 172. 53 Während Tamara Krappmann den Begriff ›Sachwalter‹ auf Ulbrichts Vornamen zurückführt, hat Johnson in den bereits erwähnten Gesprächen mit Schwarz darauf verwiesen, dass der Begriff »weniger eine Anspielung auf die Person, auf den Vornamen Ulbrichts als auf das Amt, das er bekleidet«, ist; Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, Göttingen 2012, S. 247, Anm. 933; Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 234. Dementsprechend ist es naheliegend, den Terminus im juristischen Sinne als einen Anwalt des Sozialismus zu verstehen, der nicht durch Wahl, sondern per Einsetzung der Sowjets zwischen diesen und dem unterlegenen Volk, den Bürgern der DDR, als Mittler auftritt. Gudrun Widmann hebt angesichts dessen hervor, dass Johnsons Ulbricht-Bild »im absoluten Widerspruch zu der positiven Bedeutung [steht], die der Begriff ›Sachwalter‹ beinhaltet. Die Betitulierung ist eine von ihm bewußt eingesetzte Provokation, sie fordert den Leser auf, sich mit dem Begriff ›Sachwalter‹ und der Person ›Ulbricht‹ auseinanderzusetzen«; Gudrun Widmann: »Eine Art Information, in der Form von Erzählung«. Die Darstellung der Vor- und Frühgeschichte der DDR in Uwe Johnsons Jahrestagen, Frankfurt am Main u. a. 1991, S. 111. 54 Am 4. Juli 1957 beschloss der Rat der EKD, nachdem die Synode der EKD für die kirchenrechtlichen Grundlagen gesorgt und diese außer von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau von allen Landeskirchen bestätigt wurden, eine Verordnung über die Inkraftsetzung des Kirchengesetzes zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland. Trotz vorheriger Ablehnung nahm auch die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Anfang Juli 1957 den Staatsvertrag an; vgl. Verordnung über die Inkraftsetzung des Kirchengesetzes zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge in der Bundesrepublik Deutschland vom 8. März 1957, in: Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1957, Gütersloh 1958, S. 116.

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te«55 in der evangelischen Kirche verstanden werden können. Ihre grundlegende Maxime lautet: »Der Weltfriede wird zur Lebensbedingung des technischen Zeitalters«.56 Für Teile der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war diese Maxime jedoch unvereinbar mit der Behauptung, dass zur Erreichung dieses Ziels die »Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise«57 anerkannt werden müsse58 – für Johnson erst recht nicht, wie er durch die ironische Wiederholung und Hervorhebung von »Dasein« (BS, 48; Kursivdruck im Original) unterstreicht. Ähnlich verhalte es sich bei einem (vorläufigen) Arbeitspapier eines 17-köpfigen Ausschusses, in dem Maßnahmen zum Umgang mit der seit 1968 dramatisch anwachsenden Zahl von Wehrdienstverweigerern festgehalten sind. Zwar wurde dieses Schriftstück bereits am 1. April 1969 verabschiedet und im Anschluss von Hermann Kunst an »verschiedene[] Institutionen der evangelischen Kirche zur Kenntnis gegeben«,59 an die Öffentlichkeit gelangte es aber erst im Oktober 1969, wenige Wochen vor Johnsons Rede. Dass Kunst zusammen mit seinem katholischen Kollegen Franz Hengsbach die Pläne des Verteidigungsministeriums unterstützte, den Ersatzdienst zu verlängern, löste in der Öffentlichkeit einen Proteststurm aus – vermutlich auch bei Teilen des in der Berliner Kongresshalle anwesenden Publikums. Johnson verschärft diesen an sich bereits diskussionswürdigen Sachverhalt polemisch durch die Offenlegung zweier Euphemismen – »Militärministerium« für Verteidigungsministerium und »Arbeitsdienst« für Ersatzdienst60 – und durch die Beschreibung von Wehrdienstleistenden »als die zum Töten bereiten Typen« (BS, 48).61 Die Rolle der Kirche(n) bei der Remilitarisierung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren rückt Johnson zufolge auch die Stuttgarter Erklärung vom 18./ 55 Karl Herbert: Kirche zwischen Aufbruch und Tradition. Entscheidungsjahre nach 1945, Stuttgart 1989, S. 294. 56 Thesen der Atomkommission der Evangelischen Studiengemeinschaft, zitiert nach Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1959, Gütersloh 1960, S. 100–106, hier: S. 100. 57 Ebd., S. 104. 58 Martin Niemöller prognostizierte bereits ein Jahr zuvor auf der dritten außerordentlichen Tagung der zweiten Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: »In 10 Jahren wird aus der Gruppe, die hier versammelt ist, kein Mensch mehr an die Rechtfertigung atomarer Waffen oder Vernichtungsmittel denken. Das braucht aber seine Zeit«; Martin Niemöller, zitiert nach Herbert, Kirche zwischen Aufbruch und Tradition, S. 296. 59 Vgl. Karl-Heinz Janßen: Thron und Altar 1969. Fahrlässiges Spiel mit der Verfassung und ihren Grundrechten, in: Die Zeit, Nr. 42 vom 17. 10. 1969, S. 11. Vgl. auch Ein gewisses Halt, in: Der Spiegel, Nr. 43 vom 20. 10. 1969, S. 62. 60 Mit dem Begriff ›Arbeitsdienst‹ stellt Johnson eine Parallele zur nationalsozialistischen Militarisierung her. 61 Vgl. auch Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 175.

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19. Oktober 1945 in ein Licht der Unaufrichtigkeit. Zum einen aus sich selbst heraus, was der Redner durch die Bezeichnung der Erklärung als »Sühnebekenntnis« (BS, 48) hervorhebt. Während ›Sühne‹ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Wiedergutmachung, eine Bußleistung impliziert, ist diese Bedeutung in ›Schuld‹ seit dem Althochdeutschen zunehmend verblasst und impliziert nur noch ein Vergehen, eine Übeltat.62 Die terminologische Wahl Johnsons impliziert die Forderung nach der Sühne der eigenen Schuld in der evangelischen Kirche, die jedoch nicht stattgefunden habe. Der Völkermord an den europäischen Juden wird in der Stuttgarter Erklärung an keiner Stelle erwähnt, sodass diese, wie Paasch-Beeck betont, »doch wie Schönfärberei«63 anmute. Dass dieser Akt demonstrativer Reue an Aufrichtigkeit vermissen lasse, betont Johnson zum anderen durch die Darlegung der erneuten Beteiligung der EKD an der Militarisierung eines Staates, in diesem Fall der Bundesrepublik Deutschland. Wieder verrate sie dabei ihre christlichen Grundwerte, denn statt für den Schutz des Lebens einzutreten, nehme sie sich »die Lizenz, ihren Angehörigen beim Sterben für diese Art des öffentlichen Rechts behilflich zu sein« (BS, 49). Zum Abschluss dieses zweiten Themenkomplexes widmet sich Johnson der Rolle der evangelischen Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik. Überraschenderweise geht er dabei mit keinem Wort auf die im Jahr 1969 erfolgte Trennung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik (BEK) von der EKD ein.64 Die Regionalsynode der EKD (Ost) hatte noch 1967 in ihrer Fürstenwalder Erklärung mit einem gemeinsamen Bekenntnis auf einer Mitgliedschaft in der EKD bestanden und damit den Vorwurf der Staatsführung, »daß das sozialpolitische Umfeld das Evangelium binde«,65 zurückgewiesen. Zwei Jahre später jedoch beugten sich die acht auf dem Gebiet 62 Vgl. Sühne, in: Dudenredaktion (Hg.): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 5., neu bearb. Aufl., Berlin 2014, S. 837; Schuld, in: ebd., S. 760. 63 Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 174, Anm. 30. Zudem verweist Paasch-Beeck darauf, dass Johnson den zentralen Satz der Stuttgarter Schulderklärung nur unvollständig zitiert. Statt »aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben«, heißt es in der Bußtags-Rede unter Auslassung von »nicht fröhlicher geglaubt«: »sie hätten ›nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht brennender geliebt‹« (BS, 48); Theophil Heinrich Wurm u. a.: Stuttgarter Erklärung, zitiert nach Gerhard Besier/Gerhard Sauter: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945, Göttingen 1985, S. 62; vgl. Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 174, Anm. 29. Warum Johnson ausgerechnet diesen Teil der Aufzählung ausgelassen hat, ist nicht klar, gerade weil die fehlende Wortgruppe die Kritik noch intensiviert hätte. 64 Vgl. Paasch-Beeck, Rede über Kirche und Tod, S. 175f. 65 Robert F. Goeckel: Die evangelische Kirche und die DDR. Konflikte, Gespräche, Vereinbarungen unter Ulbricht und Honecker, aus dem Amerikanischen übers. von Katharina Gustavs, Leipzig 1995, S. 87.

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der DDR ansässigen evangelischen Landeskirchen, auch infolge der neuen DDRVerfassung vom 6. April 1968, dem zunehmenden staatlichen Druck. Nach monatelangen Verhandlungen unterzeichneten am 10. Juni 1969 die Vertreter aller ostdeutschen Landeskirchen die Ordnung des BEK.66 Trotz einer EKD-Klausel in Art. 4 IV der Ordnung des BEK, in der angesichts gemeinsamer Aufgaben eine Gemeinschaft mit der EKD betont wird,67 kam dieser Schritt einer faktischen Trennung der evangelischen Kirche in Ost- und Westdeutschland gleich. Im September 1969 legten die ostdeutschen Mitglieder des Rates der EKD ihr Mandat nieder, im November traf die Konferenz der Kirchenleitungen der Evangelischen Kirchen in der DDR den Feststellungsbeschluss, dass »[m]it der Annahme der Ordnung des Bundes durch die Synoden der Landeskirchen und die Konstituierung der Organe des Bundes […] die evangelischen Kirchen in der DDR nicht mehr Gliedkirchen der EKD«68 seien. Auch wenn sich Johnson auf der Oberfläche dem Thema der ›Geschäftsverbindung‹ der Kirche, hier der evangelischen Kirche in der DDR, mit dem Staat widmet, so lässt sich aus seinen Worten eine implizite Stellungnahme zur Abspaltung der ostdeutschen Landeskirchen von der EKD herauslesen. Als Nexus zwischen west- und ostdeutscher Kirche dient Johnson die Militärseelsorge. Dass diese nicht zur Aufgabe der evangelischen Landeskirchen in der DDR gehöre, zeuge zwar von einer Opposition zwischen Kirche und Staat, doch gehe diese nicht von der Kirche aus. Vielmehr sei die Kirche in der DDR »nicht erwünscht«, was Johnson auch auf ihre andauernde Verbindung zum Kapitalismus zurückführt: »Offenbar ist es ein Problem nur für die extravagante Theologie, wieso ihr heikler Begriff von ›Freiheit‹ ausgerechnet mit der Freiheit des Kapitalismus zusammenfällt, statt mit dem Freiheitsbegriff der sozialistischen Idee; ein Laie wäre damit wohl überfordert.« (BS, 49) Deutlich verweisen diese Worte auf eine sozialpolitische Einbettung der Institution Kirche. Da diese Einbettung in der EKD einem westdeutschen, kapitalistischen Oktroi folge, ist es naheliegend, dass Johnson für eine relative Unabhängigkeit der ostdeutschen Landeskirchen plädiert, womöglich verbunden mit der Hoffnung auf eine Entspannung des Verhältnisses von Kirche und Staat in der DDR. Um seine These von der »Identifizierung der Kirche mit früheren Geschäftsfreunden« (BS, 49) zu unterstreichen, führt Johnson zu guter Letzt einen mehr als zehn Jahre zurückliegenden Fall an und schließt damit den Bogen zum Beginn seiner Rede, in dem die Themen ›Sterben‹ und ›Leben nach dem Tod‹ 66 Vgl. ebd., S. 106. Zur Entwicklung seit dem Jahr 1968 mit der Verabschiedung der neuen Verfassung der DDR bis hin zur Gründung der BEK vgl. ebd., S. 90–107. 67 Vgl. ebd., S. 100f. 68 Konferenz der Kirchenleitungen der Evangelischen Kirchen in der DDR: Feststellungsbeschluß, zitiert nach Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1969, Gütersloh 1970, S. 4.

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behandelt werden. Im Oktober 1957 verweigerte Propst Otto Maercker der im Sterben liegenden 19-jährigen Edeltraut Andersson zunächst den Besuch mit geistigem Beistand, bevor diese nicht »den Konfirmationsunterricht nachhole[]« (BS, 49). Nach ihrem Tod lehnte er den Wunsch der Eltern auf ein christliches Begräbnis mit derselben Begründung ab. Daraufhin sollte die junge Frau »nicht in der Reihe, sondern abseits am Zaun beigesetzt« (BS, 50)69 werden, was den Staat veranlasste, einzugreifen und den Propst zu verhaften. Mit diesem Fall führt Johnson neben der Militärseelsorge ein weiteres Beispiel dafür an, wie die Kirche ihre ureigenste Prämisse, die Nächstenliebe, den Schutz des menschlichen Lebens, zugunsten von ›Geschäftsbeziehungen‹ oder wie in diesem Fall aufgrund starrer Lehrsätze aufgibt: »als müsse der Fall nicht Andersson heißen, nach einem Kind, dem der Sinn des Lebens materialistisch dargestellt worden war, nicht mit dem endlichen Triumph des Individuums im kapitalistischen Sinne« (BS, 50). Es ist kein Zufall, dass es jene Nächstenliebe ist, die in einem weiteren Text Johnsons Erwähnung findet. In der Sammlung Berliner Sachen veröffentlichte Johnson den Aufsatz Eine Kneipe geht verloren,70 den er selbst als einen »Exkurs oder Kommentar«71 zum Roman Zwei Ansichten bezeichnete. Innerhalb des Beitrags wird geschildert, wie sich eine Kneipe in einem »Südviertel Westberlins« (BS, 64) durch den Einfluss einer neuen Wirtin, die die Geschäfte ihres verstorbenen Onkels übernimmt, zu einem Zentrum der »Förderung des westwertigen Personenverkehrs« (BS, 73) entwickelt. Die stetig wachsenden Kosten72 führen innerhalb weniger Jahre zur Verschuldung, die im Verkauf der Kneipe mündet und mit den Worten kommentiert wird: »Vorbei, erledigt, historisch war das Tatmotiv, die Hilfe für den Nächsten, erpreßt durch die Drohung mit der 69 Weitere Ausführungen zur kirchlichen Bestattungspraxis folgen im Zweiten Teil, Kap. 3.2. 70 Robert Gillett hat plausibel dargelegt, dass es sich bei Eine Kneipe geht verloren nicht um eine Erzählung handelt, wie es u. a. K. H. Lepper annimmt, sondern um einen Aufsatz. Als zentrales Argument führt Gillett an, dass sich der vermeintliche Erzähler am Ende des Textes direkt an den Leser wendet und ihn »der Komplizenschaft bezichtigt«, wodurch der »scheinbar herausragende erzählerische Text doch in die Nähe jener Gattung gerückt [wird], die im Untertitel des ganzen Buches angesprochen wird«; Robert Gillett: Das soll Berlin sein. Einladung zu einem wenig beachteten Buch, in: Johnson-Jahrbuch 7, 2000, S. 11–33, hier: S. 19f.; vgl. K. H. Lepper: Dichter im geteilten Deutschland. Bemerkungen zu Uwe Johnsons Erzählung Eine Kneipe geht verloren, in: Monatshefte für den Unterricht 60, 1968, S. 23–34. 71 Uwe Johnson: Auskünfte und Abreden zu Zwei Ansichten (Auf Fragen von Mike S. Schoelman), in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 86–89, hier: S. 88. 72 Vgl. BS, 84f.: »Die Kosten für die Reise der Grete, den Antrag Nummer 1, hatten noch umgerechnet werden können auf eine Schachtel Zigaretten: zwei Fahrkarten hin, drei Fahrkarten zurück. […] Die Erledigung des Antrags Nummer 73 hatte noch den zehntel Preis eines durchschnittlichen Autos erfordert, Nummer 90 den Gegenwert von einem achtel Auto, und ab Nummer 400 waren jeweils zwei Überführungen ungefähr so teuer gewesen wie ein vollständiger Serienwagen der Mittelklasse«.

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ansteckenden Nähe fremden Unglücks, im Stich gelassen.« (BS, 94; Hervorhebung P. O.) Erneut wird auf den Begriff der Nächstenliebe als Grundlage eines moralisch richtigen Handelns verwiesen, auf eine Nächstenliebe, die auf Betroffenheit und dem Willen zur Hilfe gründet, auch gegen die Androhung peinlicher Strafen »im Osten wie im Westen der Stadt« (BS, 76). Stattdessen wird eine rein auf der Institution Kirche beruhende Verpflichtung zur Nächstenliebe als unaufrichtig und unnötig erklärt. So will die Wirtin die Fluchthelfer, zwei Studenten, nicht so genau kennen, daß sie denen Nachmittage hinter dämmerbunten Kirchenfenstern beim Unterricht für die Konfirmation, die Äußerung eines Lehrers über Literatur des achtzehnten Jahrhunderts hätte angeben sollen als einen Grund, aus dem Leuten über die Grenze zu helfen wäre […]. (BS, 75)

Bei der Witwe des vormaligen Wirtes der Kneipe hingegen wird der institutionalisierte Glaube ins Gegenteil gewandt: »sie hatte aber bald nach der Beerdigung angefangen, die Dinge der Welt mehr und öfter nach religiösen Gesichtspunkten zu beurteilen« (BS, 65). Doch statt durch den Glauben bestärkt zu werden, war »sie keine rechte Hilfe«, bedurfte im Grunde der Aufsicht […], wenn sie abends allein an einem Ecktisch neben dem Windfang saß, hinter dem Schild Privat und gefalteten Händen ein Gläschen Magenbitter verborgen hielt, überhaupt mit einem fremden, abweisenden Gehabe, als kenne sie die übrigen Gäste neuerdings nicht mehr deutlich […]. (BS, 65)

Kritisiert wird nicht ein aufrichtiger Glaube, sondern ein moralischer Deckmantel, hinter dem sich die Institution Kirche und ihre Mitglieder allzu oft verstecken, ohne nach den moralischen Grundsätzen des Christentums, insbesondere der der Nächstenliebe, zu leben und zu handeln. Diese Beispiele aus vier von Johnsons nicht-literarischen Texten zeugen von einer soliden Kenntnis zu grundlegenden Fragen christlicher Theologie, vor allem aber von einer in erster Linie gegenüber den Vertretern der christlichen Kirche(n) konkreten Erwartungshaltung. Dabei stehen sowohl in den Frankfurter Vorlesungen und der Rede zum Bußtag als auch in den Aufsätzen Versuch, eine Mentalität zu erklären und Eine Kneipe geht verloren kontroverse Betrachtungen zur christlichen Nächstenliebe im Zentrum der Auseinandersetzung. Auch wenn sich Johnson, der bereits in seiner Kindheit mit der Bibel und dem christlichen Glauben intensiv in Berührung kam, noch in seinen Jugendjahren vom Christentum und der evangelischen Kirche abwandte, führte dies nicht zum Ende seiner Auseinandersetzung mit religiösen Themenkomplexen, seien sie theologischer wie kirchengeschichtlicher Art. Hierin liegt ein erster Anhaltspunkt dafür, dass Johnson Schülern einer neunten Klasse die Lektüre des Buches der Bücher empfiehlt. Die Bibel als Quelle abendländischer Kultur ist

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gegenwärtig – im Religiösen, im Kulturellen oder in Fragen der Ethik. Das galt 1977 ebenso wie heute. In noch viel stärkerem Maße als die wenigen nicht-literarischen Texte, denen religiöse Diskurse inhärent sind, zeugen Johnsons literarische Texte von einem vielseitigen Umgang mit der Heiligen Schrift. Sie vermitteln einerseits einen Eindruck von der lebenslangen und umfassenden Beschäftigung eines Autors des 20. Jahrhunderts mit religiösen Fragestellungen, und zeugen andererseits von der gesellschaftlichen Bedeutung der Bibel, die sich nicht allein in religiösen Diskursen erschöpft.

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Das Prosawerk Uwe Johnsons: Jonas zum Beispiel

Vom erst postum veröffentlichten Erstling Ingrid Babendererde bis zu den vierbändigen Jahrestagen erstreckt sich ein vielfältiges Spektrum literarischer Bibelbezüge in den Werken Johnsons. Neben den Jahrestagen ist es die Erzählparabel Jonas zum Beispiel, die in der Johnson-Forschung, vor allem aber außerhalb ihrer, beständig analysiert wird.73 Sie bildet ein eindringliches Beispiel für den Umgang Johnsons mit der Heiligen Schrift, greift er darin doch nicht nur vereinzelt auf biblische Worte zurück, sondern adaptiert ein vollständiges Buch des biblischen Kanons, die wunderhafte Erzählung des Propheten Jona im Alten Testament, die in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 mehrfach rezipiert wurde.74 73 Erika Schuster und Edith Glatz ist zu verdanken, dass Johnson über die Parabel Aufnahme in zwei Anthologien zur Wechselwirkung von Heiliger Schrift und literarischen Werken gefunden hat; vgl. Erika Schuster: Tobias – Daniel – Jona. Nachexilische Gestalten, in: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Personen und Stoffe, Mainz 1999, S. 281–302, hier: S. 290–292; Edith Glatz: Wer suchet, der findet die Bibel in der Literatur, Würzburg 2013, S. 102f. Vgl. auch den Nachdruck von Jonas zum Beispiel in Simone Frieling (Hg.): Der rebellische Prophet. Jona in der modernen Literatur, Göttingen 1999, S. 92–95. Allerdings verzichten sowohl Schuster als auch Glatz in ihren Studien auf eine Verortung der Parabel im Œuvre des Autors, was angesichts der Sonderstellung des Textes in Johnsons Gesamtwerk erforderlich wäre. 74 Vgl. hierzu Wilhelm Kühlmann: Modell Jona. Zur biblischen Typologie in der deutschen Essayistik und Erzählprosa des 20. Jahrhunderts (Andres, Jendryschik, Johnson, Lattmann, Rinser u. a.), in: Johann Anselm Steiger/ders. (Hg.): Der problematische Prophet. Die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst, Berlin 2011, S. 317– 333. Kühlmann macht drei Komplexe der Jona-Erzählung aus, »die sich in einer langen Tradition verdichtet haben« und nach 1945 aufgegriffen und angepasst wurden: »a) Flucht, Isolation, Schuld, Scheitern und die märchenhafte Vernichtung und Errettung eines Menschen in bzw. von einer dunklen, immer neu zu interpretierenden Übermacht, dem biblischen Großfisch (›Wal‹) [….]; b) die mit der Jonasfigur [sic!] bevorzugte Zeichnung eines modernen, d. h. oft fraglichen und gebrochenen Charakters, dabei anknüpfend an die Problematisierung und Neuinterpretation des alttestamentlichen Prophetenamtes […]; c) die Relation

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Johnsons im November 1957 verfasste Adaption,75 die zuerst 1960 unter dem Titel Besonders die kleinen Propheten in der italienischen Literaturzeitschrift Botteghe Oscure veröffentlicht wurde,76 fand 1964 Eingang in die Sammlung Karsch, und andere Prosa.77 Bereits zwei Jahre zuvor wurde der Text einem breiten deutschen Publikum bekannt. Nach der Veröffentlichung am 2. Januar 1962 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung78 folgten noch im selben Jahr Nachdrucke in der Schülerzeitung Wir des Pestalozzi-Gymnasiums Herne,79 in Der Tagesspiegel80 sowie in der Anthologie Das Atelier.81 Im Austausch über eine Veröffentlichung in Wagenbachs Anthologie bemerkte Johnsons Verleger Siegfried Unseld im Januar 1961 den besonderen Status des Textes: »Mir will scheinen, daß Sie in der S. Fischer-Anthologie mit der Jehova-Geschichte nicht allzu typisch vertreten sind.«82 Unselds Hinweis ist bemerkenswert, weil Johnson bis zu diesem Zeitpunkt lediglich die Mutmassungen über Jakob veröffentlicht hatte – auch wenn der Verleger das unveröffentlichte Manuskript zu Ingrid Babendererde kannte.83 Überdies vermag Unseld keine Verbindung zwischen dem Pro-

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der solcherart verschieden modellierten Zentralfigur zu einer ursprünglich ›Gott‹ genannten Stimme, Instanz und Macht, deren Existenz, Befugnis und Handlungslogik als ebenso unbequem wie auslegungsbedürftig erscheint und auf die schon in der Bibel sowohl mit Gehorsam als auch mit Widerspruch, Protest oder Rebellion reagiert werden konnte«; ebd., S. 318f. Dass es sich bei Johnsons Parabel durchaus um einen »hintergründige[n]« Text handelt, der sich nicht ohne Weiteres einem der drei Muster zuordnen lässt, wird die folgende Analyse zeigen; ebd., S. 323. Vgl. Uwe Johnson: [ohne Titel; Jonas zum Beispiel], 1. Fassung, 11. 11. 1957, in: UJA Rostock, UJA/H/001880, Bl. 49–49v, abgedruckt in Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte, mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann, Frankfurt am Main 1992, S. 116f. Vgl. Uwe Johnson: Besonders die kleinen Propheten, in: Botteghe Oscure 25, 1960, S. 281–283. Vgl. Uwe Johnson: Jonas zum Beispiel, in: ders.: Karsch, und andere Prosa, Nachwort von Walter Maria Guggenheimer, Frankfurt am Main 1964, S. 82–84. Im Folgenden mit der Sigle ›KP‹ zitiert. Vgl. Uwe Johnson: Besonders die kleinen Propheten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 5 vom 6. 1. 1962, Beil. Bilder und Zeiten, S. IV. Uwe Johnson: Jona zum Beispiel, in: Wir. Schülerzeitung des Pestalozzi-Gymnasiums Herne, 1962, H. 4 (April), S. 15–17. Uwe Johnson: Jona zum Beispiel, in: Der Tagesspiegel, Nr. 5119 vom 13. 7. 1962, S. 4. Uwe Johnson: Jonas zum Beispiel, in: Klaus Wagenbach (Hg.): Das Atelier, Bd. 1: Zeitgenössische deutsche Prosa, Frankfurt am Main 1962, S. 132f. Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 2. 1. 1961, in: JUB, 114. Womöglich hatte Unseld darüber hinaus Einblick in das im Entstehen begriffene Manuskript von Das dritte Buch über Achim. Einige Seite der zwischen Mai 1960 und April 1961 entstandenen ersten Fassung schrieb Johnson gar im Haus des Verlegers in Frankfurt am Main; vgl. Sven Hanuschek/Katja Leuchtenberger/Friederike Schneider: Nachwort, in: Uwe Johnson: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 3: Das dritte Buch über Achim, hg. von Katja Leuchtenberger und Friederike Schneider, Berlin 2019, S. 285–341, hier: S. 296. Der Romantext wird im Folgenden mit der Sigle ›DBA‹ zitiert.

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pheten der Parabel und der Figur des Jonas Blach aus Johnsons erstveröffentlichtem Roman herzustellen, über die in der Forschung inzwischen Konsens besteht.84 Zurückführen lässt sich dieser Befund vor allem auf die Wahl des Titels, den Johnson mehrfach anpasste: von Besonders die kleinen Propheten über Jona zum Beispiel bis schließlich zu Jonas zum Beispiel.85 Möglich wurden diese Titelmodifikationen durch den wiederholten Abdruck des Textes, was von einem hohen Interesse an der Bibelbearbeitung des Schriftstellers Johnson zeugt, die in eine Zeit hinein verfasst wurde, in der zwar die enge institutionelle Verbindung von Literatur und Religion nach 1945 sukzessive entkoppelt wurde, die Heilige Schrift aber als Fundus literarischer Bearbeitungen nicht an Kraft einbüßte.86 Erstmals interpretiert wurde die Parabel im Jahr 1965 in einer Handreichung für Deutschlehrer.87 Heinz Ide kritisiert sechs Jahre später in einem Beitrag für die Zeitschrift Diskussion Deutsch die Qualität der Handreichung und bietet eine kurze »Skizze einer Interpretation« an, in der selbst zu einer fragwürdigen Deutung gelangt: »Jonas z. B., Jesaja z. B., Uwe Johnson z. B. – fragwürdige Existenzen. Beispiele!«88 Ebenfalls im Jahr 1971 veröffentlichte Ingrid Riedel ihre Dissertationsschrift Wahrheitsfindung als epische Technik, in der sie die Parabel interpretiert89 und als eine von drei »Sonderformen unter Uwe Johnsons Texten«90 klassifiziert. Die bislang letzte Studie legte Matthias Schaffrick im Jahr 2014 vor.91 Innerhalb der dazwischenliegenden gut vierzig Jahre entstand eine Reihe von Untersuchungen, in denen die Parabel ganz unterschiedlich gedeutet wurde. Das Spektrum an Interpretationen reicht von Vergleichen zwischen der biblischen Vorlage und deren Adaption über politische sowie autobiografische Übertragungen des Parabelgehalts bis hin zu erzähltechnisch-poetologischen 84 Vgl. Theo Buck: Jonas zum Beispiel. Interpretation eines Schlüsseltextes, in: Text + Kritik. Uwe Johnson, H. 65/66, 2. Aufl., Neufass., München 2001, S. 83–103, hier: S. 87; Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 321. 85 Vgl. Anm. 76–81. 86 Vgl. hierzu Dirk Kemper/Natalia Bakshi: Nachkriegsliteratur, in: Daniel Weidner (Hg.): Handbuch Literatur und Religion, Stuttgart 2016, S. 192–198. 87 Didaktisch-methodische Analysen. Handreichungen auf der Grundlage der Texte im Lesewerk Kompaß 3, bearb. von Friedrich Müller u. a., Paderborn 1965, S. 698–701. 88 Heinz Ide: Korrekturen. Über eine Interpretation zu Uwe Johnsons Jonas zum Beispiel, in: Diskussion Deutsch 2, 1971, H. 4, S. 168–171, hier: S. 170f.; Kursivdruck im Original. In seiner Kritik gelangt Ide zu dem Schluss, dass in der Handreichung »nicht interpretiert, sondern phantasiert, interpoliert und unterstellt [wurde], bis am Ende ›der Mensch vor Gott‹ herauspräpariert war«; ebd., S. 170. 89 Vgl. Ingrid Riedel: Wahrheitsfindung als epische Technik. Analytische Studien zu Uwe Johnsons Texten, München [1971], S. 197–206. 90 Ebd., S. 164. Die anderen beiden Texte, die Riedel als Sonderformen bezeichnet, sind Über eine Haltung des Protestierens und Ein Brief aus New York; vgl. ebd., S. 164–196. 91 Vgl. Matthias Schaffrick: Jona, Bloch, Melville. Uwe Johnsons prophetischer Sound, in: Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, Berlin 2014, S. 379–393.

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Deutungen. Johnson selbst beschrieb seinen Text im Interview mit Schwarz als einen »Versuch, die Schwierigkeiten zu erklären, in die ein Intellektueller kommt, wenn er sich mit Macht affiliiert und dann wegen taktischer Schwankungen sitzengelassen wird«.92 Während der Autor seine Parabel als politisch intendiert ausweist, wurde in den Arbeiten der jüngsten Vergangenheit, von Bertram Salzmann93 über Miriam Reinhard94 und Schaffrick, versucht zu zeigen, dass durch die narrative Doppelstruktur des Textes mit den Erzählebenen der biblischen Jona-Geschichte und der Gegenwartsebene des Erzählers eindimensionale Deutungen der Parabel nicht gerecht werden.95 Das Ziel der folgenden Interpretation ist es, zu zeigen, dass sich die bereits bestehenden Deutungsansätze vielfach nicht ausschließen, es kein Für oder Wider eine politische96 oder poetologische Interpretation gibt, sondern sie sich vielmehr gegenseitig bedingen. Die Theo Buck zufolge »stark divergierende Skala der Interpretationen«97 soll zusammengeführt werden, indem die Konvergenzen der Interpretationen stärker betont werden. Eine Ausnahme bilden hierbei autobiografische Deutungsansätze wie die von Wolfgang Paulsen und Neumann, die mit Aussagen, dass Johnson mit der Parabel »so etwas wie ein Glaubensbe92 Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. 93 Vgl. Bertram Salzmann: Jonas, Johnson und Jehova. Uwe Johnsons produktive Bibelrezeption in Jonas zum Beispiel, in: Johnson-Jahrbuch 13, 2006, S. 139–150. 94 Vgl. Miriam Reinhard: Uwe Johnsons Jonas zum Beispiel. Ein Beispiel für das Verhältnis von Beispiel, Lektüre und Sinn, in: Steiger/Kühlmann (Hg.), Der problematische Prophet, S. 335– 345. 95 Vgl. Schaffrick, Johnsons prophetischer Sound, S. 392: »Das Problem der meisten vorliegenden Interpretationen der Erzählung ergibt sich aus solchen Vereinheitlichungen der ›narrativen Doppelstruktur‹. Diese Lektüren überschreiten mehr oder weniger leichtfertig nicht nur die Schwelle zwischen Erzähler und Autor, sondern auch zwischen Prophet (Jona) und Autor (Johnson), also Prophetie und Autorschaft, ohne die systematischen Differenzen oder Johnsons Selbstaussagen zu seinem ›Beruf‹ zu beachten.« 96 Mit dem Begriff ›politisch‹ wird hier – und in der Folge – weniger das Feld der Politik (Herrschaft) mit seinen politischen Institutionen (polity), Inhalten (policy) und Prozessen (politics) verstanden, als vielmehr mit Hannah Arendt das Politische als ein öffentlicher »Raum zwischen den Menschen«, in dem aufgrund der als gleich anerkannten anderen Akteure die »Freiheit der Meinungsäußerung« institutionell gesichert und somit politisches Handeln möglich wird; Hannah Arendt: Freiheit und Politik. Ein Vortrag, in: Die neue Rundschau 69, 1958, S. 670–694, hier: S. 674; dies.: Einführung in die Politik II, in: dies.: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Ursula Ludz, München 2003, S. 28–133, hier: S. 50. Als »Möglichkeitsbedingung« politischen Handelns und als »kritischer Maßstab« für die herrschende Ordnung fungiert das Politische als normativer Maßstab für die Politik, die wiederum mit Formen der herrschaftlichen Einschränkung des öffentlichen Raumes das Politische und mit ihm die (Meinungs-)Freiheit in ihrer Existenz bedrohen kann; Thomas Bedorf: Das Politische und die Politik. Konturen einer Differenz, in: ders./Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin 2010, S. 13–37, hier: S. 19. Vgl. hierzu Arendt, Einführung in die Politik II, S. 48–53; dies., Freiheit und Politik, S. 678f.; Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 370. 97 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 86.

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kenntnis«98 ablege oder diese »schon auf den 1959 erfolgenden Wohnsitzwechsel«99 verweise, rein spekulativ vorgehen und dem komplexen Gehalt des Textes nicht gerecht werden. Auf einen kursorischen Überblick über den biblischen Hintergrund des Jona-Buches folgt eine philologische Untersuchung der JonasParabel. Hierfür kann auf die bereits vorliegenden Arbeiten zurückgegriffen werden. Eine neuerliche Analyse ist allerdings nötig, da sich in diese Arbeiten immer wieder Fehldeutungen aufgrund philologischer Ungenauigkeit eingeschlichen haben. So legt nicht nur Christian Grawe in seiner Interpretation aus dem Jahr 1973 fälschlicherweise die Lutherübersetzung des Buches Jona zugrunde.100 Trotz des ein Jahr später erfolgten Hinweises von Christel Rosenberg, Johnson habe für seinen Text vorwiegend auf die revidierte Zürcher Bibel von 1931 zurückgegriffen,101 wiederholen im Abstand von zwanzig bzw. dreißig Jahren Awino Kührt102 und Buck103 den Fehler Grawes. Im Anschluss an die 98 Wolfgang Paulsen: Innenansichten. Uwe Johnsons Romanwelt, Tübingen/Basel 1997, S. 102. 99 Bernd Neumann: Editorische Vorbemerkung, in: Johnson, »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«, S. 7–19, hier: S. 8. 100 Vgl. Christian Grawe: Literarisch aktualisierte Bibel: Uwe Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, in: Der Deutschunterricht 25, 1973, H. 2, S. 34–39. 101 Vgl. Christel Rosenberg: Noch einmal: Uwe Johnson Jonas zum Beispiel (Entgegnung auf Christian Grawes Aufsatz in Heft 2/1973), in: Der Deutschunterricht 26, 1974, H. 4, S. 123– 128. Auf der Grundlage der Analyse aller in Johnsons Romanen und Erzählungen direkt zitierter Bibelworte ergibt sich, dass die Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 einzig für die Parabel Jonas zum Beispiel als primäre Grundlage diente. In allen anderen Texten, sofern sie Zitate aus der Heiligen Schrift aufweisen, griff Johnson vorrangig auf den Text der revidierten Lutherbibel von 1912 zurück. Aus diesem Grund werden Bibelstellen in dieser Untersuchung in der Regel aus der Lutherbibel zitiert, ohne die Ausgabe gesondert nachzuweisen. Wird wie vor allem in diesem Abschnitt zu Jonas zum Beispiel aus einer anderen Bibelausgabe zitiert, erfolgt jeweils ein Kurzbeleg in eckigen Klammern. 102 So interpretiert Kührt das Auftreten des Ortsnamens ›Joppe‹ als eine »Kombination von Informationen des Alten Testaments und des Neuen Testaments (Johnson verwendet beispielsweise statt der entsprechenden alttestamentarischen Stadt Japho, den Namen von Joppe, einer Stadt aus dem Neuen Testament)«, mit der eine »Erweiterung der Zeitdimension des Textes bis in die Neuzeit des Neuen Testament[s]« einhergehe; Awino Kührt: Uwe Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel als Modell künstlerischer Selbstverständlichkeit über die Gegenwart, in: Carsten Gansel/Jürgen Grambow (Hg.): …Biographie ist unwiderruflich… Materialien des Kolloquiums zum Werk Uwe Johnsons im Dezember 1990 in Neubrandenburg, Frankfurt am Main 1992, S. 79–95, hier: S. 90. In der Übersetzung der entsprechenden Stelle gemäß der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 heißt es aber: »Jona machte sich auf, aus dem Angesichte des Herrn hinweg nach Tharsis zu fliehen, und ging nach Joppe hinab«; Jona 1,3 [Zürcher 1931]. Insgesamt wird der Ortsname in der Zürcher Bibel zwei Mal mit Japho (Jos 19,46; 2 Chr 2,16) und zwei Mal mit Joppe (Esr 3,7; Jona 1,3) übersetzt; vgl. Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.), Zürcher Bibel-Konkordanz 2, S. 288, 328. 103 Buck geht beim Ausruf des Propheten, »[d]as Leben ist mir verleidet« (KP, 84), von einer Transformation des Wortlauts der Bibel aus, die »Unsicherheit, Angst, Leid und Verzweiflung des Individuums unter dem ständigen Druck des Machtapparats« zum Ausdruck bringe; Buck, Jonas zum Beispiel, S. 96. Während es in der Übersetzung Luthers nach der

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philologische Analyse sollen verschiedene Deutungsansätze der Parabel in einem Gesamtmodell zusammengeführt und zur Romanwelt Johnsons ins Verhältnis gesetzt werden. Als Folie für seine Erzählparabel dient Johnson das biblische Buch Jona, das als Teil des Zwölfprophetenbuches im Alten Testament auf die zwölf Bücher kleiner Propheten von Hosea bis Meleachi verweist. Das Attribut ›klein‹ bezieht sich auf den Umfang der Bücher, die erstmals in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. im Buch Jesus Sirach104 als Einheit genannt werden. Theologisch zielen sie darauf ab, den Menschen in Jerusalem und Judäa die Befürchtungen vor externen Bedrohungen zu nehmen und sie im Wissen um das kommende Heil zum Glauben an JHWH anzuhalten:105 »20Euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln; und ihr sollt aus und eingehen und hüpfen wie die Mastkälber.«106 Das Buch Jona, das vermutlich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts oder zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. entstand,107 unterscheidet sich von den anderen elf Büchern der kleinen Propheten und auch von den übrigen Prophetenbüchern dadurch, dass es »keine Zusammenstellung von Prophetensprüchen bzw. -predigten darstellt, sondern eine Erzählung über einen Propheten«108 – vergleichbar den Elija- und Elischa-Erzählungen in den Königebüchern.109 Der Prophet namens Jona tritt nicht als Prophet im eigentlichen Sinne in eine Symbiose mit JHWH, indem er die Botschaft seines Gottes verkündet, die durch ihn spricht, indem er selbst spricht,110 sondern er versucht von Beginn an, sich seinem pro-

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Revision von 1912, die Buck zitiert, heißt, »[i]ch wollte lieber tot sein als leben«, finden sich in der revidierten Zürcher Bibel von 1931 die bei Johnson lediglich syntaktisch umgestellten Worte: »Ja, mit Recht zürne ich so, dass mir das Leben verleidet ist«; Jona 4,9 [Zürcher 1931]. Vgl. Sir 49,12: »12Und der zwölf Propheten Gebeine grünen noch, wo sie liegen. Denn sie haben Jakob getröstet, und Erlösung verheißen, auf die sie gewiß hoffen sollten.« Vgl. Erich Zenger: Das Zwölfprophetenbuch, in: ders. u. a.: Einleitung in das Alte Testament, 7., durchges. und erw. Aufl. mit einem Grundriss der Geschichte Israels von Christian Frevel, Stuttgart 2008, S. 517–586, hier: S. 517, 521. Mal 3,20. Vgl. Erich Zenger: Das Buch Jona, in: ders. u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 547–553, hier: S. 551. Peter Weimar sprach sich zuletzt für eine Herkunft der Jona-Erzählung in der vorliegenden Gestalt erst für das 3. Jahrhundert v. Chr. aus, »als Palästina unter der Herrschaft der Ptolemäer stand«; Peter Weimar: Jona, Freiburg i. Br. 2017, S. 65. Alfons Deissler: Jona, in: ders.: Zwölf Propheten II. Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, 2. Aufl., Würzburg 1986, S. 149–164, hier: S. 149. Vgl. 1 Kön 17,1–2 Kön 13,25. Vgl. Jürgen Ebach: Prophetismus, in: Hubert Cancic/Burkhard Gladigow/Karl-Heinz Kohl (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4: Kultbild–Rolle, Stuttgart 1998, S. 347–359, hier: S. 352: »Die Propheten sind nicht einfach Sprachrohre und Werkzeuge Gottes. Durch sie redet Jahwe, indem sie selbst reden, gestalten, deuten, argumentieren, adressieren. Jeder Versuch der säuberlichen Trennung zwischen dem Propheten als Wortempfänger und dem Propheten als Interpreten scheitert nicht nur an der Sperrigkeit des

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phetischen Auftrag und dem Angesicht JHWHs zu entziehen. Die Frage nach der historischen Verortung jenes Jona, der in Jona 1,1 als »Sohn Amitthais« ausgewiesen wird – von Johnson um die Angabe aus 2 Kön 14,25, »von Gath-Hahepher«, ergänzt (KP, 82) –, gilt in der Exegese als überholt: »Die vielen und zumeist respektablen Bemühungen der Vergangenheit (bis ins 20. Jh. hinein), das Buch Jona historisch zu deuten, mußten und müssen letztlich […] scheitern«.111 So weist auch Salzmann darauf hin, dass Jona mit dem Verweis auf 2 Kön 14,25 in eine Zeit versetzt wird, »in der er historisch gar nicht gewirkt haben kann«, denn zur Zeit Jerobeams II. »war Ninive in Israel […] noch kaum bekannt, zum Inbegriff der Verderbtheit wurde es erst im Zuge der assyrischen Expansion und der Bedrohung Israels gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr.«112 Der Gang eines israelitischen Propheten in die assyrische Hauptstadt Ninive erscheint ebenso unhistorisch wie die Ausmaße einer antiken Stadt, die »drei Tagereisen zu durchwandern« sei und in der »über 120 000 Menschen« leben.113 Solch wundersame Beschreibungen korrespondieren mit märchenhaften Elementen wie der Darstellung des Seesturms und der Episode von Jona im Bauch des Fisches, der eigentümlichen Verordnung des Königs zur Buße und dem Gleichnis vom Rizinus.114 Peter Weimar bezeichnet die Jona-Erzählung auch deshalb als »literarisch-fiktives Gebilde«, das »äußerst kunstvoll arrangiert« sei.115 Durch das Nebeneinander zweier Erzähl- und Sprachebenen, einer »prosaisch-nüchternen, fast geschäftsmäßigen, auch stark formelhaften«, die überwiegend mit Jona verbunden ist, und einer »stärker durch poetische Züge bestimmt[en]«,116 werde der Fluss der Erzählung beständig unterbrochen. Als literarisches Gestaltungsmittel zielen diese Unterbrechungen darauf, Ruhepunkte oder Inseln im Erzählablauf zu schaffen und Raum zu gewinnen für eingeschaltete Reflexionen, die dem Erzählten neue Tiefe geben, die es sonst nicht hätte. Ein solches Verfahren, gezielt auf verschiedene Weise und mehrere Ebenen durchgespielt, ist zweifelsohne auf Wirkung ausgelegt, tritt, indem es mit der Erwartung spielt, in ein hintergründiges Gespräch mit dem vorgestellten Leser, dazu angetan, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, um auf zweiter Ebene gleichsam die hinter der Oberfläche liegende, verborgene Wirklichkeit greifbar werden zu lassen.117

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Materials, sondern vor allem daran, daß eine solche Trennung von ›innen‹ und ›außen‹ dem atl. Denken fremd ist.« Deissler, Jona, S. 150f. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 146. Vgl. hierzu auch Jörg Jeremias: Das Buch Jona, in: ders.: Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, Göttingen 2007, S. 75–112, hier: S. 83. Jona 3,3; 4,11 [Zürcher 1931]. Vgl. Weimar, Jona, S. 38. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd.

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Für Alfons Deissler kommt der Verfasser der Jona-Erzählung daher aus einem »Kreis früher Schriftgelehrter, welche sich studierend gleichsam über die heiligen Schriften beugten, um sie für ihre Generation in weisheitlich eingefärbte Lehrerzählungen zu aktualisieren«.118 Erich Zenger betont hingegen, dass die Deutung dieses Stückes narrativer Theologie als eine Lehrerzählung nur eine Möglichkeit darstellt. Die lange Auslegungsgeschichte des Buches Jona gliedert er in insgesamt vier Positionen: (1) Bisweilen werde als Kern der Erzählung die »sühnende und rettende Kraft der Umkehr«119 ausgemacht, die Zenger zufolge aber nicht das Hauptthema sein könne, weil sie nur für das dritte Kapitel prägend ist. (2) Darüber hinaus werde die Erzählung als Kritik an Tendenzen zum Partikularismus und zur Xenophobie im nachexilischen Judentum gelesen. Entsprechend interpretiert Deissler Jonas Widerstand als Bestreben, »seinem Gott aufzuzwingen, nur für Israel ein gnädiger und barmherziger Bundesgott zu sein und über die Israel feindseligen Völkerwelt nur als ein strenger Gott der vergeltenden Gerechtigkeit zu walten«.120 Gegen dieses, die »Jahweoffenbarung verengende[], ja verstellende[] Denken und Wünschen«, stehe der Verfasser des Buches Jona auf, sodass der theologische Gehalt der Erzählung in der »Verkündigung vom universalen Heilswillen Jahwes« liege.121 Zenger hebt hervor, dass auch hierin nicht das Hauptthema des Jona-Buches bestehen könne, weil es die Schiffsbesatzung und die Niniviten außer Acht lasse. (3) Gegen die Deutung als Lehrerzählung über die »Dramatik einer prophetischen Berufung und/oder über die Bedeutung der Gerichts- und Unheilsprophetie« führt Zenger an, dass Jona in der Schlussszene nicht mehr am Widerstand gegen JHWH festhalte: »Welch’ ein Prophetenbild wäre hier entfaltet, wenn der Prophet um seiner Ehre willen lieber den Untergang einer ganzen Stadt als ihre Umkehr und Errettung sehen möchte!«122 (4) Dies wiederum geht mit Zengers Deutung einher, Jonas Schweigen am Buchende als Ergeben in die Einsicht zu deuten. Für ihn ist das Buch Jona eine theologische Prophetenerzählung, die ihre Leserinnen (Juden und Christen) dazu einlädt, sich mit Jona zusammen zu jener Gottes-Wahrheit hinführen zu lassen, mit der das Buch endet: dass der Gott Israels als der Schöpfergott ein Gott der Gnade ist, der als Gott des Rechts zur Umkehr bewegt und sich darin als Gott der Vergebung und des Strafverzichts erweist – weil er ein Gott der grenzenlosen Liebe zu allem Lebendigen ist.123

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Deissler, Jona, S. 150. Zenger, Buch Jona, S. 552. Deissler, Jona, S. 152. Ebd. Zenger, Buch Jona, S. 552f. Ebd., S. 553; Kursivdruck im Original.

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Diese Interpretation geht wiederum mit der Beobachtung Deisslers einher, dass die Jona-Erzählung »durch und durch theozentrisch«,124 ihr Hauptakteur JHWH und nicht Jona sei. Entsprechend argumentiert er, »daß man dem Buch die Überschrift geben könnte: ›die Geschichte Jahwes mit seinem Propheten Jona‹«.125 Johnsons Selbstaussage, in seiner Jona-Erzählung gehe es um die Schwierigkeiten, in die ein Intellektueller gerate, wenn er sich der staatlichen Obrigkeit anschließe, um letztlich sitzengelassen zu werden, lässt vermuten, dass in seiner Umarbeitung der Fokus von JHWH bzw. Jehova zu Jona hin verschoben ist. Das biblische Buch dient Johnson dabei zum einen als strukturelle Folie, zum anderen übernimmt er ganze Passagen wortgetreu. Die Grundlage hierfür, darauf wurde unter Verweis auf Rosenberg bereits hingewiesen, bildet die Zürcher Bibel nach der Revision von 1931, als die gegenüber der Lutherübersetzung »philologisch genauere und zu Johnsons Zeit zudem modernere Übersetzung«.126 Nur an einigen wenigen Stellen wie beim Quadrieren der Zahl vierzig im letzten Abschnitt127 dient die revidierte Lutherbibel von 1912 als Textgrundlage. Da es sich bei Johnsons Parabel nicht um einen Text handelt, der vereinzelte intertextuelle Spuren aufweist, die durch ihre Einschreibung in den Kontext des neuen Textes eine Spannung128 erzeugen, ist ein methodisches Vorgehen erforderlich, bei dem die Divergenzen zwischen biblischer Vorlage und Johnson’scher Adaption herausgearbeitet werden. Die vorliegenden Analysen haben gezeigt, dass es gerade solche »Durchbrechungen«129 sind, die die intertextuelle Spannung in der JonasErzählung erzeugen. Bereits im Titel der Erzählung nimmt Johnson erste Veränderungen vor. Während das Typoskript vom November 1957 noch ohne Titel ist, bedeutet die Wahl für die beiden ersten Veröffentlichungen, Besonders die kleinen Propheten, neben dem biblischen Hintergrund des Zwölfprophetenbuches, dass nicht die »Grossen des Landes«,130 sondern ein kleiner Prophet in den Blick genommen

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Deissler, Jona, S. 152. Ebd. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 143. Vgl. KP, 84: »Und Jona blieb sitzen im Angesicht der sündigen Stadt Ninive und wartete auf ihren Untergang länger als vierzig mal vierzig Tage?« Eine solche Quadrierung greift Jesus – nach der Übersetzung Luthers – in Mt 18,22 auf und steigert sie: »22Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.« In der Zürcher Bibel wird die Stelle übersetzt mit: »22Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis 77mal.« 128 Zum eine intertextuelle Spannung erzeugenden Kriterium der Dialogizität vgl. Erster Teil, Kap. 3.2.2.2. 129 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 90. 130 Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob, in: ders.: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I:

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wird. Dies ist insofern interessant, als Johnson am 11. November 1957, dem Datum, mit dem der erste überlieferte Entwurf der Jonas-Erzählung überschrieben ist, einen Brief von Manfred Bierwisch erhält: »Die Situation Jonas ist eine bedauerliche. Ferner ist zu bejahen: Jawohl, der Angeklagte lebte auf dem Mond. (Wer nicht?)«131 Aus dem folgenden Satz wird deutlich, dass sich Bierwisch nicht auf den Propheten Jona(s) bezieht, sondern auf Jonas Blach aus den Mutmassungen über Jakob: »Außerdem weiß man nun, daß Marschall der Sowjetunion Shukow wegen Kultes der Person suspendiert wurde. Man wird das mit den Grundprinzipien der Kulturkonferenz in Verbindung sehen müssen, um die machtvolle Einheit der Parteilinie zu erkennen.«132 In Johnsons erstveröffentlichtem Roman hält der promovierte Anglist Jonas Blach auf einer Zusammenkunft von Intellektuellen eine Brandrede. Die Ereignisse dieser Zusammenkunft werden zunächst aus der Perspektive des Stasi-Hauptmanns Rohlfs, sodann der von Jonas geschildert. Zwischen beide Erzählpassagen inkludiert Johnson einen Exkurs des Erzählers zum Personenkult, den Bierwisch auf den aktuellen Fall des Marschalls Georgi K. Shukow bezieht, der Ende Oktober 1957 seiner Funktionen im Zentralkomitee der KPdSU enthoben wurde.133 Naheliegend erscheint daher die Annahme, dass die Prophetenparabel unter dem EinWerke, Bd. 2, hg. von Astrid Köhler u. a., Berlin 2017, S. 24. Im Folgenden mit der Sigle ›MJ‹ zitiert. 131 Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 9. 11. 1957, in: UJA Rostock, UJA/H/110111, Bl. 40–40v, hier: Bl. 40. Auf diesem Brief hat Johnson handschriftlich das Empfangsdatum vermerkt: »Sesenheim, 11-XI-1957«; ebd. 132 Ebd. 133 Vgl. Mitteilung über ein Plenum des ZK der KPdSU, in: Neues Deutschland, Nr. 261 vom 3. 11. 1957, S. 1 f. Zur Begründung des Beschlusses des Zentralkomitees der KPdSU, das Ende Oktober 1957 ohne Shukow getagt hatte, heißt es: »Das Plenum des ZK stellt fest, daß unter der persönlichen Teilnahme des Genossen G. K. Shukow in der Sowjetarmee begonnen wurde, den Kult um seine Person zu pflegen. Mit Hilfe von Schmeichlern und Speichelleckern begann man, ihn in Lektionen und Vorträgen, in Artikeln, in Filmen und Broschüren zu verherrlichen, indem man seine Person und seine Rolle im Großen Vaterländischen Krieg übermäßig hervorhob. Damit wurde dem Genossen G. K. Shukow zu Gefallen die wahre Geschichte des Krieges entstellt, die tatsächliche Lage der Dinge gefälscht […]. Die Partei und die Regierung ließen den Verdiensten des Genossen G. K. Shukow eine hohe Würdigung zuteil werden, indem sie ihm den Rang eines Marschalls der Sowjetunion sowie den Titel eines vierfachen Helden der Sowjetunion verliehen und ihn mit vielen Orden auszeichneten. Ihm wurde großes politisches Vertrauen geschenkt: Auf dem XX. Parteitag wurde er zum Mitglied des ZK der KPdSU gewählt. Das ZK der KPdSU wählte ihn zum Kandidaten und später zum Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU. Infolge mangelhaften Parteibewußtseins verlor Genosse G. K. Shukow, der die hohe Einschätzung seiner Verdienste falsch auffaßte, jedoch die einem Parteimitglied zukommende Bescheidenheit, die W. I. Lenin uns lehrte; er meinte, er sei der einzige Held aller Siege, die unser Volk und seine Streitkräfte unter Führung der Kommunistischen Partei errangen, und verletzte gröblich die Leninschen Parteiprinzipen für die Führung der Streitkräfte. Somit hat Genosse G. K. Shukow das von der Partei in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht«; ebd., S. 2.

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druck des Austauschs mit Bierwisch bzw. den Leipziger Freunden über diesen Passus in den Mutmassungen über Jakob entstand, in der der Intellektuelle Jonas Blach die Politik der »Grossen des Landes« kritisiert und Reformvorschläge für einen menschlichen Sozialismus unterbreitet. Hierzu passt, dass Johnson den Titel mit den Veröffentlichungen im Jahr 1962 letztlich zu Jonas zum Beispiel änderte. Im Vergleich zum Titel des biblischen Buches ist der Name des Propheten von der hebräischen in die griechische Form übertragen worden. Auf den deutschen Sprachraum bezogen, das zeigt stellvertretend der Name des promovierten Anglisten in den Mutmassungen über Jakob, bedeutet diese Übertragung eine Aktualisierung: »Gezielt enthebt er folglich den Propheten seiner Historizität, macht ihn zum Zeitgenossen.«134 Darüber hinaus verweist der Zusatz ›zum Beispiel‹ auf einen ›starken‹ Erzähler, der suggeriert, noch weitere Beispiele anführen zu können, und auf den exemplarischen Charakter dessen, was im Folgenden erzählt werden soll. Betont wird damit, was bereits in der biblischen Erzählung angelegt ist: ein modellhafter Vorgang zwischen Gott und einem seiner Propheten, der sich »unter gleichen und ähnlichen Bedingungen«135 jederzeit wiederholen kann. Diese Wiederholbarkeit unterstreicht der Erzähler gleich zu Beginn der Parabel. Auf wenigen Zeilen paraphrasiert er die biblische Geschichte der Prophetie und hebt mit Jesaja und Jeremia zwei ›große‹ Propheten hervor, die mit ihrem Auftrag »im Unglück« lebten136 oder gar »in die Kloake zu sitzen« kamen137 (KP, 82). Das Verhältnis zwischen Jehova138 und seinem Volk wird damit um die 134 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 89. Hans Bahlow zufolge ist der Vorname ›Jonas‹ im deutschen Sprachraum erst mit der Reformationszeit präsent; vgl. Hans Bahlow: Deutsches Namenlexikon. Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt, 11. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 266. 135 Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 93. 136 Vgl. Jes 50,4–7. 137 Vgl. Jer 38,6. Diese Stelle scheint auch Buck zu meinen, wenn er aus der Lutherbibel zitiert und mit Jer 3,55 eine nicht existente Stelle angibt; Buck, Jonas zum Beispiel, S. 102, Anm. 41. Salzmann weist überdies darauf hin, dass Jeremia kein historischer Vorgänger von Jona als Prophet war, denn »Ninive wurde 612 von den Medern und Babyloniern erobert, Jeremias Zisternenzeit fällt in die Regierungszeit von König Zedekia 597–587 v. Chr.«; Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 144, Anm. 13. Aufgrund der Ahistorizität des Buches Jona und dem Modellcharakter der expositorischen Erwähnung von Jesaja und Jeremia erscheint diese historische Ungenauigkeit eher zweitrangig. 138 Die von Johnson verwendete Bezeichnung ›Jehova‹ für ›Herr‹ bzw. ›Gott‹ deutet Buck als Namensgebung, die die Bedeutung des Allmächtigen relativiere: »Denn die Setzung des Namens besagt nichts anderes als dessen mögliche Ersetzung. Andere Namen können an seine Stelle treten. Herrscher kommen und gehen. Allein die gesellschaftliche Hierarchie bleibt erhalten«; Buck, Jonas zum Beispiel, S. 89. Allerdings handelt es sich bei ›Jehova‹ um eine »um 1100 n. Chr. unter Christen aufgekommene falsche Lesung des Gottesnamens ›Jahwe‹, der im hebr. Text mit den Konsonanten Jhwh und den – leicht veränderten – Vokalen des Wortes adonaj (›Herr‹) wiedergegeben wurde«; Hans Schmoldt: Jehova, in:

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Perspektive des Propheten erweitert, der von Beginn an wie ein Sprachrohr seines Gottes daherkommt, indem er »dem König mit seinen Großen und ihren Untertanen sagen [soll], wie der Herr es meine« (KP, 82). Der Erzähler richtet zum Abschluss der Exposition, und damit an exponierter Stelle,139 den Fokus auf die Seele des Propheten, die »empfindlich und wissend und zweiflerisch« ist, »um die Stimme des Herrn zu hören und das Unglück zu erfahren« (KP, 82). Alle drei Eigenschaften werden durch ein ›und‹ in ihrer Bedeutung hervorgehoben und stehen zugleich in einem Spannungsverhältnis zueinander. Der Leser wird auf die bevorstehende Erzählung über Jona vorbereitet, indem der Prophet kompositorisch aus der Mittlerrolle zwischen Jehova und seinem Volk gerückt wird. Am Ende des ersten Absatzes stehen sich Jehova, mit dessen Schöpferkraft und Allmacht die Erzählung eröffnet wird, und die Figur des Propheten gegenüber. Implizit führt der Erzähler bereits in der Exposition den Grund für den Wandel im Verhältnis zwischen Jehova und seinem Propheten an: Der vormalige Bund ist nur noch Vertrag, »[d]er ging über die menschlichen Kräfte« (KP, 82). Indem Buck im Terminus ›Vertrag‹ lediglich einen »neuzeitlichen Begriff«140 für den Bund Gottes mit den Israeliten sieht, wird er der Akzentverschiebung nicht gerecht. Noch heute wird z. B. der vertragliche Schluss zwischen Ehepartnern dadurch sprachlich aufgewertet, dass er als ›Ehebund‹ oder ›Bund fürs Leben‹ bezeichnet wird. Alternativ zum Vertrag als einer rechtlich bindenden Willenserklärung kann ein Bund die feste Verbindung zwischen Menschen ausdrücken, die gleichfühlend oder gleichdenkend sind und sich gegenseitig zu etwas verpflichten. Salzmann weist überdies darauf hin, dass der Sinaibund,141 von Gott gestiftet und immer wieder erneuert, kein auf Gegenseitigkeit beruhender Vertrag ist.142 Die Akzentverschiebung, durch die die Beziehung zwischen Jehova und seinem Volk an Bedeutung verliert, wird durch die Beschreibung des Vertrags noch gesteigert. Die Einhaltung eines Vertrags, der »über die menschlichen Kräfte« (KP, 82) geht, erscheint vonseiten des Volkes nahezu unmöglich. Das Vorgehen Gottes, einen Vertrag zu schließen, den eine Vertragsseite nicht versteht, sodass sie fortwährend dagegen verstößt, worauf

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Klaus Koch u. a. (Hg.): Reclams Bibellexikon, 7., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2004, S. 253. Indem Johnson auf diese Bezeichnung zurückgreift, hebt er die Bedeutung des einen, allmächtigen Gottes für Juden und Christen hervor. Zudem wird so die im Buch Jona existente Differenzierung zwischen JWHW – in der Luther- und Zürcher Bibel übersetzt mit ›Herr‹, ›Gott, der Herr‹ und ›der Herr, Gott‹ – und Elohim – übersetzt mit ›Gott‹ – aufgehoben; vgl. Rosenberg, Noch einmal, S. 124; Zenger, Buch Jona, S. 551. Salzmann spricht gar vom »Schlüsselsatz der ganzen Geschichte«; Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 144. Buck, Jonas zum Beispiel, S. 91. Vgl. Ex 19,5: »5Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein.« Vgl. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 144.

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Jehova sich gezwungen sieht, »einen Vorbedachten und Auserwählten in seinem Volke zum Propheten« (KP, 82) einzusetzen, wird vor allem durch die fortwährende Wiederholung des Vorgangs überaus fragwürdig. Die Beschaffenheit des Vertrags überfordert die Menschen, doch statt diesen zu modifizieren, werden Mittler eingesetzt, die in ihrer Wirkung keine Umkehr, sondern höchstens kurzfristigen Gehorsam zu erzielen vermögen. Bereits in der Einleitung der Parabel ist damit der Grund für Jonas Verhalten angelegt. Während in der biblischen Erzählung insbesondere das Verhalten Jonas der Kritik unterzogen wird, »erscheint bei Johnson das Handeln Gottes selbst als fragwürdig«.143 Mit dem zweiten Absatz beginnt die Erzählung des Propheten Jona, der wie in der Bibel als »Sohn Amitthais von Gath-Hahepher« (KP, 82) vorgestellt und damit – wenn auch historisch nicht korrekt – als Figur des Alten Testaments verortet wird. Die Differenz zum Namen in der Überschrift erzeugt sogleich eine Spannung, die auf die beiden Erzählebenen, die Ebene der biblischen Erzählung und die Gegenwartsebene des Erzählers, sowie das Parabolische der Erzählung hindeutet. Im Vergleich zur biblischen Vorlage, darauf hat Buck hingewiesen, ist überdies die Anfangssituation umgekehrt. Im Buch Jona ergeht zunächst der Auftrag Gottes an seinen Propheten, bevor dieser mit der Bosheit Ninives, das stellvertretend für die »grausame Weltmacht«144 Assyrien steht, begründet wird. In der Johnson’schen Erzählung hingegen rückt der Grund der Berufung, »die Bosheit und Sünde der Stadt Ninive« (KP, 82) in den Vordergrund. Der Auftrag wird nachgestellt,145 aber um eine Information bereichert: Die in der Heiligen Schrift erst im zweiten Auftrag Gottes an Jona artikulierte Verkündigung, der zufolge die Stadt Ninive untergehen werde, findet sich bei Johnson bereits an dieser frühen Stelle. Der Prophet wird damit von Beginn an einer in der Bibel angelegten Unabhängigkeit seiner Predigt gegen die Bewohner Ninives beraubt und als bloßer Übermittler der göttlichen Botschaft, als »›beauftragter‹ Befehlsempfänger«146 eingeführt. Der dritte Abschnitt beginnt mit dem Fluchtversuch Jonas in das entlegene Tharsis, »den westlichsten Teil der damals bekannten Welt«.147 Kührt betont die »außerordentliche Bedeutung der Flucht des Propheten«,148 was sich jedoch mehr auf ihren Deutungsansatz als auf den Text zurückführen lässt, denn der Erzähler folgt an dieser Stelle der Struktur des biblischen Textes. Den Ortsnamen Tharsis nutzt der Erzähler für einen Kommentar über die »gelehrte Forschung dieser 143 144 145 146 147

Ebd., S. 145. Jeremias, Buch Jona, S. 79. Buck, Jonas zum Beispiel, S. 92. Ebd., S. 93. Ursula Struppe: Das Buch Jona, in: dies.: Die Bücher Obadja, Jona, Stuttgart 1996, S. 55–155, hier: S. 87. 148 Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 85.

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Hinsicht« (KP, 82). Zum einen macht er damit auf seine Präsenz aufmerksam, zum anderen ironisiert er (wissenschaftliche) Bestrebungen, den Gegenstand der Erzählung historisch zu belegen. Mit fünf Verbformen und Adverbien149 werden die Ergebnisse theologischer und archäologischer Forschung relativiert, den Ort Tharsis zu lokalisieren.150 Während der Kommentar als »Ironisierung der Wissenschaft«,151 aber auch als Kritik an der »von der Partei angemaßte[n] ›wissenschaftliche[n] Begründung des ›dialektischen Materialismus‹ als einer historische Gesetzmäßigkeit«152 gelesen wurde, fällt innerhalb des Textes der Gegensatz dieser Stelle zur historischen Verortung der biblischen Prophetenfigur im Absatz zuvor auf. Setzt man die beiden Stellen ins Verhältnis, so wird das zunächst vorgeführte Prinzip der historischen Einordnung kurz darauf wieder relativiert. Durch dieses Verfahren wird das Exemplarische des Gegenstands hervorgehoben und der Text für die historische Gegenwart geöffnet. Wiederholt wird dieser Mechanismus am Ende des dritten Abschnitts, wenn der Erzähler die Wundergeschichte im Bauch des Fisches mit »[s]o heißt es« (KP, 83) kommentiert.153 Zwischen beiden Erzählerkommentaren wird der Fluchtversuch Jonas wiedergegeben; im Vergleich zur biblischen Vorlage in verkürzter Form. So werden die »theologisch bedeutsamen Teile«,154 Jonas Verhandlung mit den Schiffsleuten, die sich letztlich zu JHWH bekehren,155 und der Jona-Psalm im Bauch des Fisches,156 ausgespart. Der Text wird damit »rigoros säkularisiert«157 und auf Jonas Widerstand sowie Jehovas Reaktion hin ausgerichtet. Daneben wird die biblische Vorlage an einigen Stellen durch lexematische Veränderungen durchbrochen. Während in der ersten Fassung der Jonas-Erzählung und auch bei der deutschen Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die 149 Vgl. KP, 82; Hervorhebung P. O.: »Die gelehrte Forschung dieser Hinsicht meint, daß diese Stadt vielleicht in Südspanien vermutet werden könne, und hält eine unvergleichliche Entfernung für jedenfalls wahrscheinlich.« 150 Vgl. Jeremias, Buch Jona, S. 84, Anm. 18: »Tarsisch, trotz zahlreicher Spezialuntersuchungen […] noch nicht sicher lokalisiert und gemeinhin mit Tartessos in Südspanien identifiziert, gehört nach Jes 66,19 zu jenen fernsten Ländern, die noch nichts von Jahwe gehört haben.« Salzmann geht sogar so weit, solche Überlegungen und Nachforschungen als »belanglose[] Hypothesen« zu bezeichnen, die »den Bibeltext Menschen von heute nicht wirklich näher bringt«; Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 145. 151 Grawe, Literarisch aktualisierte Bibel, S. 36. 152 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 93. 153 Buck spricht im Zusammenhang mit dieser Stelle davon, dass der Erzähler – Buck schreibt Johnson – »den Vorgang in seine Gegenwart hinein[zwingt]«; ebd., S. 94. 154 Ebd., S. 89. 155 Vgl. Jona 1,5–16. Die anfängliche heidnische Furcht der Schiffsleute wandelt sich zur Gottesfurcht, aus der heraus sie dem Herrn ein Opfer darbieten und ein Gelübde ablegen; vgl. hierzu Jeremias, Buch Jona, S. 85–88. 156 Vgl. Jona 2,3–11. 157 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 89.

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Wendung »warf Jehova einen gewaltigen Wind auf das Meer«158 aus der Zürcher Bibel übernommen ist, wurde das Verb ›werfen‹ seit der Veröffentlichung in der Anthologie Das Atelier durch ›drücken‹ ersetzt: »Als das Schiff aus dem Hafen von Joppe gelaufen war, drückte Jehova einen gewaltigen Wind ins Meer«.159 Im Bemühen um eine lebensweltliche Akzentuierung löst Johnson die Parallelität zwischen dem Werfen des Windes und dem Werfen von Jona ins Meer auf.160 Mit einer ähnlichen »grobianischen Derbheit«161 wird das Werfen von Jona zu einem Schmeißen verstärkt: »Sie holten ihn an Deck und schmissen ihn über Bord« (KP, 83). Die in der biblischen Vorlage als umsichtig dargestellten Schiffsleute kommen in Johnsons verkürzter Reinterpretation der Episode achtlos daher. Während Jona schläft, führen sie das Losverfahren durch, das wie in Jos 7,14.16 oder 1 Sam 14,42 dazu dient, den oder die Schuldigen zu ermitteln,162 und schmeißen den Propheten ins Meer. Das Losverfahren mit anschließendem Opfer führt nicht mehr zur Bekehrung der Schiffsleute, sondern wird zum rein »formalen Akt«.163 Stattdessen richtet der Erzähler den Fokus erneut auf Jona, denn während über sein Schicksal entschieden wird, ist er in gleich doppelter Weise ausgeliefert: seinem Gott und den Schiffsleuten. Der Umstand aber, dass Jona geschlafen haben soll, während sich das Schiff in höchster Not befand, betont seine selbst verantwortete Passivität. Der Kommentar des Erzählers, der erst nachträglich in den Text eingefügt wurde,164 durchbricht erneut die biblische Erzählung, indem das epistemische Modalverb ›sollen‹ den wundersamen Charakter relativiert und zugleich auf die Gegenwartsebene der Parabel verweist. Gemäß der biblischen Vorlage wird die Passivität des Propheten in der Folge bis

158 Johnson, [ohne Titel; Jonas zum Beispiel], Bl. 49. Vgl. auch Johnson, Besonders die kleinen Propheten (FAZ), S. IV. 159 Johnson, Jonas zum Beispiel (Das Atelier), S. 132; Hervorhebung P. O. Vgl. KP, 82. 160 Vgl. hierzu Jeremias, Buch Jona, S. 86. 161 Norbert Mecklenburg: Vorschläge für Johnson-Leser der neunziger Jahre, in: Uwe Johnson: Karsch, und andere Prosa, Nachwort von Walter Maria Guggenheimer, Frankfurt am Main 1990, S. 95–113, hier: S. 107. 162 Vgl. Jeremias, Buch Jona, S. 87. 163 Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 85. Grawe wertet den Vorgang, dem zufolge das Los fällt, während Jonas schläft, als Betrug; vgl. Grawe, Literarisch aktualisierte Bibel, S. 36. Indem die Schiffsleute aber das Los werfen, kann es sich nicht um einen Betrug handeln, denn das Ergebnis des (göttlich beeinflussten) Losentscheids ist unabhängig von der Anwesenheit der Betroffenen. Im Grunde braucht es sie nur, um den Vorgang durchzuführen. Ein Betrug würde stattdessen vorliegen, wenn Jona ins Meer geworfen würde, ohne dass zuvor das Los geworfen worden wäre. 164 Vgl. Johnson, [ohne Titel; Jonas zum Beispiel], Bl. 49: »Die Besatzung warf das Los über den Schuldigen, und das Los fiel auf Jona. Da er es selbst für das Beste hielt, warfen sie ihn ins Meer« – »Die Besatzung warf das Los über den Schuldigen, und das Los fiel auf Jona. Er soll ja geschlafen haben. Sie holten ihn an Deck und schmissen ihn über Bord, zumal er es selbst für das Beste hielt.« (KP, 83; Hervorhebung P. O.)

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zum resignativen Todeswunsch gesteigert: sie »schmissen ihn über Bord, zumal er es selber für das Beste hielt« (KP, 83). Die Schilderung von Jonas Aufenthalt im Bauch des Fisches ist nahezu wortgetreu der biblischen Vorlage entnommen, allerdings wie bereits erwähnt um den gesamten Jona-Psalm, das Gebet des Propheten im Bauch des Fisches, gekürzt. Eine Änderung nimmt der Erzähler vor, indem er das biblische Prädikat ›betete‹ durch ›sang‹ ersetzt: »und Jona sang drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches zu Jehova« (KP, 83). Diese Modifikation steht im Einklang mit dem Bestreben des Erzählers, den Text zu säkularisieren, zumal das Gebet des Propheten ein Psalm, ein religiöser Liedtext, ist. Johnsons Variante wurde auch als Durchbrechung der Erzählebenen gedeutet. So interpretiert Buck im Hinblick auf die Bedeutungsebene der Parabel den Prädikatswechsel als Hinweis darauf, dass Jona »mehr Dichter als Prophet«165 sei. Kührt hingegen deutet den Gesang des Propheten metaphorisch und integriert ihn in ihre politische Interpretation der Parabel: »Er ›singt‹ (verrät seine Prinzipien) und ist schließlich bereit, den Auftrag seines Herrn auszuführen, Ninive den Untergang zu predigen. Der ehemals oppositionelle Prophet, als in sich widersprüchliche, menschliche Figur gezeigt, wird im ›Fischgefängnis‹ diszipliniert.«166 Eine zweite Abweichung findet sich am Schluss des dritten Abschnitts. Während Jona in der biblischen Erzählung auf Geheiß des Herrn freigelassen wird,167 entlässt der Fisch den Propheten in Jonas zum Beispiel ohne expliziten göttlichen Auftrag: »Dann spie der Fisch ihn ans Land.« (KP, 83) Der Fisch, der im Buch Jona »vornehmlich als Werkzeug Jahwes dient«,168 gewinnt damit an Autonomie. Gesteigert wird der Effekt noch dadurch, dass die Kausalität zwischen dem an Jehova gerichteten Gesang Jonas und seiner Freilassung per Erzählerkommentar unterbrochen wird: »So heißt es.« (KP, 83) Diese Akzentverschiebung korrespondiert mit der Entscheidung des Erzählers, die zweite Botschaft Jehovas an Jona, die Ankündigung der nahenden Zerstörung der Stadt, in die erste Botschaft zu integrieren. Angesichts der Zeichen der göttlichen Macht ist ein erneutes Eingreifen Jehovas überflüssig. Der Fisch lässt Jona frei, woraufhin dieser nach Ninive geht. Am Ende des dritten Absatzes scheint es, als könnte Jehovas Vorstellung einer linearen prophetischen Handlungsführung, die am Ende des zweiten Absatzes ins Stocken gerät, fortgesetzt werden. Im vierten Absatz, in dem Jona seinen außergewöhnlichen Auftrag in die Tat umsetzt und in das Herz des »übermächtige[n] Feind[es]«169 geht, stimmt die Parabel in weiten Teilen wörtlich mit dem Text der Zürcher Bibel überein. Es 165 166 167 168 169

Buck, Jonas zum Beispiel, S. 94. Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 85. Vgl. Jona 2,11 [Zürcher 1931]: »11Und der Herr gebot dem Fisch, und er spie Jona ans Land.« Jeremias, Buch Jona, S. 92. Struppe, Buch Jona, S. 85.

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finden sich nur kleinere Modifikationen wie die Streichung des biblischen Stilmerkmals ›aber‹ in Satzzweitstellung170 oder der Ersatz das Prädikats ›durchwandern‹ durch das dem Anlass, einen Auftrag zu erfüllen, entsprechendere ›durchqueren‹.171 Von großer Bedeutung für den Parabeltext ist die pointiert unterschiedlich dargestellte Reaktion der Niniviten auf Jonas Predigt, die Stadt werde in vierzig Tagen zerstört sein. Trotz einer von Lustlosigkeit zeugenden »Wortkargheit«172 des Propheten, der den Anlass wie den Adressaten der Prophezeiung nicht expliziert, ist die Reaktion der Bewohner Ninives in der biblischen Erzählung von Beginn an durch Buße und Umkehr gekennzeichnet. Diese Reaktion steht im Zeichen des Glaubens an den ihnen fremden Gott JHWH173 und ist getragen von der Hoffnung, dass es ihn »vielleicht […] doch noch«174 gereuen möge. Im Gegensatz dazu schenken die Niniviten in Jonas zum Beispiel der an sie gerichteten Botschaft Jehovas keinen Glauben, sondern »erkannten Gott in seinem Ärger« (KP, 83). Diese Haltung stellt Jehova in seiner außergewöhnlichen Autorität als Schöpfermacht infrage, weil das Erkennen auf ein Muster hindeutet, das sich von Zeit zu Zeit wiederholt. Das Modell des biblischen Extrems wird so zur Regel, woraufhin die göttliche Androhung keine Furcht mehr erregt, sondern nur noch hingenommen wird. Das hieraus abgeleitete Prozedere wirkt ritualisiert und die Attribuierung des Fastens als ein ebenso »schlimmes« (KP, 83) wie theatralisches Gebaren. Die formalisierte Durchführung der Buße gipfelt in der Person des Königs, der sich »mit dem Trauergewand« bedeckt und »ein wenig mit Asche« bestreicht (KP, 83). Der »extremste[] Trauerritus des Sitzens im Staub«175 bzw. in der Asche, den Johnson in der Fassung vom November 1957 zunächst nicht modifiziert hatte,176 verkommt hier zur Farce. Ihren Höhepunkt findet sie, als bereits die Dinge, die sie zur Buße »tun wollten« (KP, 83), Jehova gereuen. Die Parodie des gesamten Bußakts bezieht sich jedoch nicht auf die biblische Erzählung, auch wenn diese über weite Strecken direkt zitiert wird. Die im Buch Jona an der Bekehrung zum Glauben an JHWH orientierte Buße wird erst durch 170 »Ninive aber war eine über alle Massen grosse Stadt«; Jona 3,3 [Zürcher 1931]; Hervorhebung P. O. – »Ninive war eine über alle Maßen große Stadt« (KP, 83). 171 »Ninive aber war eine über alle Massen grosse Stadt, drei Tagereisen zu durchwandern«; Jona 3,3 [Zürcher 1931] – »Ninive war eine über alle Maßen große Stadt und nur in drei Tagesreisen zu durchqueren« (KP, 83). 172 Jeremias, Buch Jona, S. 99. 173 Jeremias weist darauf hin, dass ›glaubten‹ in Jona 3,5 die Übersetzung eines Verbs ist, »das sonst stets Israel vorbehalten ist und seinen Glauben, d. h. sein festes Sich-Verlassen auf Gott bezeichnet«; ebd. 174 Jona 3,9 [Zürcher 1931]. 175 Jeremias, Buch Jona, S. 101. 176 Vgl. Johnson, [ohne Titel; Jonas zum Beispiel], Bl. 49. Ebenso in Johnson, Besonders die kleinen Propheten (FAZ), S. IV.

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die sprachlichen Durchbrechungen des Erzählers parodiert. Damit verweisen sie auf die Gegenwartsebene, die von der Erzählinstanz im Titel und im dritten Absatz mit dem Kommentar zur »gelehrten Forschung« (KP, 82) in den Text eingeführt wurde. Derlei Durchbrechungen erzeugen ein Bild der Gegenwartsebene, in dem Jehova von Zeit zu Zeit seine Macht demonstriert. Als Alibi dienen ihm gewisse Grundsätze – ein Vertrag oder die moralische Unterscheidung von Gut und Böse, über die er als Allmacht frei verfügt –, aufgrund derer ein Ritus in Gang gesetzt wird. Dieser Ritus, im vorliegenden Beispiel die Buße, tendiert zum formalen Akt und damit zur inhaltsleeren Hülse, sodass Grundsätze kaum eine Rolle mehr spielen. Entsprechend steht im Zentrum der Parabel gerade nicht ein »schwelende[r] Konflikt zwischen Obrigkeit (Herr/Jehova) und der Bevölkerung«,177 denn letztere hat sich, das wird auf höchst ironische Weise vorgeführt, mit dem Ritus arrangiert. Entscheidend ist vielmehr die Diskrepanz zwischen Jehovas Sprechen und Handeln, somit auch die Legitimation seiner Handlungen. Diese Diskrepanz und die Entscheidung Jehovas, die leere Drohung (wieder einmal) nicht in die Tat umzusetzen, führt im fünften Absatz ein zweites Mal zum Konflikt zwischen Jona und seinem Gott. Der Handlungsverlauf gelangt zum Stillstand und geht in das Stadium der Reflexion über. Eingeleitet werden die Erwägungen mit dem Hinweis auf Jonas Verdruss und Zorn infolge von Jehovas (Nicht-)Handeln. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht der Disput im zweiten bzw. dritten Gespräch,178 das auf eine Anklage des Gottes durch seinen Propheten zuläuft.179 Die Anklage entspringt dem Gebet, das Jona zu Beginn des vierten Kapitels im Buch Jona an seinen Herrn richtet. In der Jonas-Parabel wird das Gebet ganz im Sinne der Säkularisierung des Textes erzählerisch ausgespart, obgleich es gesprochen worden sein muss. Die Leerstelle ist auffüllbar,180 wie implizit aus der Frage Jehovas hervorgeht: »Ist es recht, daß du hier sitzest und lieber sterben möchtest als noch weiter leben?« (KP, 84) Sie rekurriert auf das Ende des biblischen Gebets: »3Und nun, o Herr, nimm doch meine Seele von mir;

177 Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 86. 178 Obwohl es sich in Jonas zum Beispiel erst um das zweite Gespräch handelt, weil das eigentliche zweite im Anschluss an die Befreiung aus dem Bauch des Fisches weder erwähnt noch wiedergegeben wird, heißt es: »Und zum dritten Male redete Jehova mit ihm« (KP, 83f.). 179 Hierin liegt wohl auch die kompositorische Umstellung begründet, dass Jona sich zunächst östlich Ninives eine Hütte baut, bevor das Gespräch mit Jehova stattfindet. In der biblischen Vorlage steht zu Beginn des vierten Kapitels zunächst das Gebet Jonas, bevor geschildert wird, dass sich dieser »östlich der Stadt nieder[liess]«; Jona 4,5 [Zürcher 1931]. Die anschließende Erwähnung jedoch, dass Jona im Schatten wartet, »wie es der Stadt ergehen würde«, deutet an, dass der »Protest schon am neuen Ort ›östlich der Stadt‹ vor Gott gebracht worden sein muss«; Jona 4,5 [Zürcher 1931]; Jeremias, Buch Jona, S. 108. 180 Zur Unterscheidung von auffüllbaren und echten Leerstellen/Nullpositionen vgl. Hans Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse, Kiel 2006, S. 93f.

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denn es ist mir lieber, ich sterbe, als dass ich noch weiterlebe.«181 In nur einem Satz und in indirekter Rede fasst der Erzähler den weiteren Verlauf des Gebets zusammen, lässt aber die Charakterisierung des Herrn als ein »gnädiger und barmherziger Gott«182 aus und endet in einer Frage: »Aber Jona antwortete, das sei recht, denn warum habe er nach Tharsis fliehen wollen?« (KP, 84) Der gezielte Übergang von einer begründenden Aussage im Buch Jona, »[d]arum wollte ich auch das erste Mal nach Tharsis fliehen«,183 zu einer Frage lenkt die Aufmerksamkeit auf die nun folgende Antwort. Deren Bedeutung wird mit dem Wechsel von indirekter zu direkter Rede zusätzlich hervorgehoben: »Weil du nie tust, wie du gesagt hast und wie es gerecht ist nach deinem Gesetz!« (KP, 84) Jona richtet sich in seiner Anklage gegen die »administrative[] Willkür«184 Jehovas, der mit seinem Handeln die von ihm aufgestellten Grundsätze, mit denen er seine Ankündigungen und Aufträge zu legitimieren versucht, aushöhlt. Das Verhältnis zwischen Jehova und den Menschen ist entkoppelt, weil der Vertrag bzw. das Gesetz als Bindeglied durch willkürliche Verfügungen der Allmacht außer Kraft gesetzt wird. Jehova reagiert auf die Anklage Jonas mit einer neuerlichen pädagogischen Maßnahme, die zugleich Ausdruck seiner Macht ist. Wie er infolge des ersten Fluchtversuchs des Propheten einen Sturm entfesselt und einen großen Fisch aufbietet, so sind es nun ein Rizinus, ein Wurm und ein harter Wind, die zum Einsatz kommen, verbunden mit großer Hitze. Die Parallele der beiden Szenen wird durch das Verb ›entbieten‹ hervorgehoben: »Und der Herr entbot einen Rizinus […]. Am folgenden Morgen entbot Jehova einen Wurm« (KP, 84; Hervorhebung P. O.). Ein zweites Mal wird Jona direkt mit Jehovas »Gerichtshandeln«185 konfrontiert und reagiert wiederum mit dem Wunsch zu sterben. Den Abschluss des fünften Abschnitts bildet ein zweites reflexives Gespräch zwischen Jehova und Jona, in dem der Prophet seine Haltung ein weiteres Mal begründet: »Das Leben ist mir verleidet.« (KP, 84) Jehova konfrontiert ihn daraufhin mit einer Frage, die den Rizinusstrauch als ein Gleichnis zu erkennen gibt: Dich jammert des Rizinus, um den du keine Mühe hattest, der groß gewachsen ist und verdorben von einem Morgen zum anderen. Warum jammert dich nicht der großen Stadt Ninive, in der über hundertzwanzigtausend Menschen sind, die zwischen links und rechts noch nicht unterscheiden können, dazu die Menge Vieh? (KP, 84)

Die in der Jonas-Parabel ebenso wie in der biblischen Vorlage offen gehaltene Frage ist nahezu wörtlich aus der Zürcher Bibel übernommen. Neben einer ge181 182 183 184 185

Jona 4,3 [Zürcher 1931]. Jona 4,2 [Zürcher 1931]. Ebd. Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 87. Jeremias, Buch Jona, S. 110.

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ringfügigen Anpassung186 wurde sie an zwei Stellen modifiziert. Zum einen wird Jehovas Frage zum Jammer über Ninive von einer auf sich selbst bezogenen rhetorischen Frage – »Und mich sollte der großen Stadt Ninive nicht jammern« – zu einer direkten und im Ergebnis offenen Ansprache des Propheten umgestaltet,187 die diesen in den Fokus rückt. Zum anderen ist das Nicht-Unterscheidenkönnen bzw. -wollen der Niniviten hinsichtlich »rechts und links«188 zu »links und rechts« modifiziert. Grawe hat Überlegungen dazu angestellt, inwiefern diese Umkehrung politisch motiviert sein könnte. Seine Ergebnisse, Jona als einen »typische[n] Rechtsfanatiker«, einen Rechten, und Gott als »Repräsentant der Barmherzigkeit«, damit als einen Linken – »Gott als Linker!« – zu klassifizieren, lassen sich mit Johnsons Ansatz nicht in Einklang bringen.189 Zunächst einmal gilt es, den Sprecher der Aussage zu berücksichtigen; es spricht nicht der Erzähler, sondern Jehova. Versteht man die Begriffe sodann in ihrer biblischen Bedeutung als ›richtig‹ und ›falsch‹, so lässt sich die Umkehr als Charakterisierung der allmächtigen Obrigkeit interpretieren; einer Obrigkeit, für die jene moralischen Kategorien verschoben oder umgekehrt, womöglich gar außer Kraft gesetzt sind. Entsprechend unternimmt Jehova keine Anstrengungen, »dem Volk, das den herrschenden Zustand aus Mangel an Einblick akzeptiert, zu seiner Mündigkeit zu verhelfen«.190 Sein Ziel besteht lediglich darin, die bestehende Macht zu erhalten. Eine weitere erzählerische Durchbrechung verweist darauf, dass die Macht Jehovas höchstens den Anschein einer Allmacht besitzt. Indem der Rizinus als eine Ressource charakterisiert wird, deren »Saft als castor oil gehandelt wird anderswo in der Welt« (KP, 84), weist der Erzähler mit dem »Gebrauch der angelsächsischen Variante für Rizinusöl« auf die »alternative Welt des westlichen Kapitalismus« hin.191 Indem dieses »anderswo in der Welt« aber im letzten Abschnitt nicht als eine Alternative aufgegriffen wird, deutet die Erwähnung nicht

186 Die Änderung von »und den du nicht großgezogen hast, der in einer Nacht geworden und in einer Nacht verdorben ist« (Jona 4,10 [Zürcher 1931]), zu »der groß gewachsen ist und verdorben von einem Morgen zum anderen« (KP, 84) stimmt mit der vorherigen Anpassung des Erzählers überein, wonach Jehova »[a]m folgenden Morgen« (KP, 84) und nicht »am folgenden Tag [als] die Morgenröte aufstieg« (Jona 4,7 [Zürcher 1931]) einen Wurm entbieten lässt. 187 Vgl. Buck, Jonas zum Beispiel, S. 96. 188 Jona 4,11 [Zürcher 1931]. 189 Grawe, Literarisch aktualisierte Bibel, S. 37f.; Kursivdruck im Original. Vgl. hierzu schon Rosenberg, Noch einmal, S. 125; Kursivdruck im Original: »Aber Johnsons Gott als eindeutig positiv, als den Repräsentanten der Barmherzigkeit zu sehen, der als ein Linker dem Wandel aufgeschlossen ist, dürfte doch Johnsons Aussageabsicht zu sehr vereinfachen, wenn nicht verzerren.« 190 Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 88. 191 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 95.

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primär auf die Möglichkeit zur Flucht hin.192 Vielmehr wird durch das Anderswo die Allmacht Jehovas relativiert und als Dogma entlarvt. Es gibt einen Teil der Welt, in der die Macht Jehovas ohne Wirkung ist. Mithilfe der genannten Durchbrechungen wird der »garstige Graben«193 sichtbar, der die biblische Erzählung von der Gegenwartsebene der Johnson’schen Parabel trennt. Die Frage Jehovas an Jona, warum ihn das Schicksal Ninives nicht jammert, stellt im Gegensatz zur biblischen Vorlage keine Frage im eigentlichen Sinne mehr dar. Sie zielt nicht auf eine Antwort, inwieweit Jona gewillt und fähig ist, »sich radikal zu erneuern und völlig anders zu werden«.194 Sie ist vielmehr ein weiteres Mittel der politischen Demagogie, die Jehova zum Gegenschlag, zur Anklage des Propheten nutzt. Kompositorisch ist es daher konsequent, wenn die Jonas-Parabel nicht mit Jehovas Frage endet, sondern um einen weiteren, den sechsten Abschnitt ergänzt wird. Der Erzähler greift den für den Propheten offenen Schluss195 im Jona-Buch auf und abstrahiert aus seiner Situation drei »Verhaltensmöglichkeiten«:196 »Und Jona blieb sitzen im Angesicht der sündigen Stadt Ninive und wartete auf ihren Untergang länger als vierzig mal vierzig Tage? Und Jona ging aus dem Leben in den Tod, der ihm lieber war? Und Jona stand auf und führte ein Leben in Ninive? Wer weiß.« (KP, 84) Die gemäß ihrer Wortstellung als Aussagen angelegten Sätze werden erst durch Fragezeichen am Ende des Syntagmas zu Fragen und damit zu Varianten, die die ihnen innewohnende Offenheit ausdrückt. Gesteigert wird diese Virtualität durch die Anapher der koordinierenden Konjunktion, mit der alle drei Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinandergestellt sind. Das abschließende »[w]er weiß« rekurriert auf Jona 3,9 und ist eine theologisch »gewichtige prophetische« Formel, die »Gottes Freiheit gegenüber allem Streben nach menschlicher Gewissheit schützen soll«.197 In ihrer Spannung aus Fragewort und Satzschlusszeichen changiert diese Formel zwischen Frage- sowie Aussagesatz und lässt das Schicksal von Jona wie in der biblischen Vorlage offen. Für Kührt jedoch sind die drei Möglichkeiten nur rhetorischen Charakters, denn sie zielten nicht darauf ab, echte Alternativen zu benennen und dem Leser zur Wahl zu stellen, sondern sie fixieren und bestätigen die von der Handlung und dem Gleichnis exakt beschriebene Rolle des Propheten innerhalb des geschilderten Gesellschaftszustandes. Er ist Instrument der 192 193 194 195

Vgl. ebd., S. 95f. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 146. Jeremias, Buch Jona, S. 112. Für den Leser bzw. Hörer der rhetorischen Frage JHWHs hingegen »liegt die eigene Antwort auf der Hand«; Deissler, Jona, S. 164. 196 Grawe, Literarisch aktualisierte Bibel, S. 38. 197 Jeremias, Buch Jona, S. 107.

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Macht zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen […]. Als gesellschaftsverändernde Kraft kommt der Prophet aufgrund seiner isolierten Stellung nicht infrage.198

Buck widerspricht dieser Deutung Kührts vehement und bezeichnet sie als »[g]rundfalsch«.199 Zwar hält die Jonas-Parabel auch für ihn »keinen ausformulierten positiven Sinn« bereit, die Suche danach werde dem Leser aber »mit Nachdruck anempfohlen«, wenn nicht von ihm erzwungen.200 Während Kührt übersieht, dass alle drei Varianten eben nicht darauf abzielen, Jonas Rolle als potentielle »gesellschaftsverändernde Kraft« zu erörtern, sondern »das Schicksal und die Erfahrung eines einzelnen Menschen, der von Gott beauftragt, genötigt und ›sitzen gelassen‹ wird«,201 in den Blick rückt, missversteht Buck die ›Aufgabe‹ des Lesers. Das »[w]er weiß« ist eben keine Frage, auf die als Antwort ›der Leser‹ folgen darf. Gegenüber einer Obrigkeit, die die moralischen Kategorien ›rechts‹ und ›links‹ umgekehrt hat, bleiben nur mehr Möglichkeiten, sich zu verhalten. Die (moralische) Beurteilung der Entscheidung der beispielhaften Figur obliegt nicht dem Erzähler; deshalb hält er sie offen.202 Aber sie obliegt auch nur insofern dem Leser, als er sie für sich selbst entscheiden kann – wie Hans Mayer, der in einem Brief an Johnson vom 21. Dezember 1957 argumentiert, »dass Jona, wenn man der einschlägigen Forschung trauen soll, doch schliesslich in Ninive geblieben ist, vermutlich in der Hoffnung, dass die Stadt auf die Dauer doch noch lernen wird, zwischen links und rechts zu unterscheiden«.203 Am Beispiel der Prophetenfigur werden Möglichkeiten reflektiert, wie sich die Figur ihre Freiheit in einer Situation bewahren kann, in der sie von einer Obrigkeit, die ihre Macht ausspielt, funktionalisiert und gemaßregelt wird. Johnson dekliniert damit für eine Figurengruppe, für die Jona steht, die Frage durch, die er in seinem zweiten Roman, an dem er parallel schrieb, ausführlich behandelt. Eine für den Leser eindeutige Lehre enthält die Johnson’sche Parabel nicht und soll sie nicht enthalten. Ihr aber eine »lehrhafte Erkenntnis«204 abzusprechen, verkennt den Gehalt, der hinter der Entscheidung für ein offenes Ende steht. Von diesem Ende aus nimmt der Erzähler, und mit ihm Johnson, gerade nicht »die Position des biblischen Jehova ein«,205 sondern stellt sich poetologisch dem demagogischen Sprechen der vorgeblichen Allmacht entgegen. Statt eine Deutungshoheit 198 199 200 201 202 203

Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 89. Buck, Jonas zum Beispiel, S. 97. Ebd. Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 149. Vgl. auch ebd. Hans Mayer an Uwe Johnson, 21. 12. 1957, zitiert nach Bernd Neumann: Philologie und Biographie in Uwe Johnsons frühen Texten (1952–1959). Eine Annäherung, in: Johnson, »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«, S. 129–211, hier: S. 208. 204 Salzmann, Jonas, Johnson und Jehova, S. 149. 205 Ebd.

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über Gut und Böse zu sein, bietet er dem Leser Verhaltensmöglichkeiten an und führt damit »die schwierige Suche nach der Wahrheit«,206 dem richtigen Leben im falschen, vor.207 Diese Ambiguität ist für Schaffrick das Prophetische an Johnsons Parabel, das primär auf der narrativen Ebene angesiedelt sei: Prophetie ist als Erzählprinzip aufzufassen […], bei dem es Johnson um das Ausagieren der ›Wahrheit‹ geht. Diese erzählerische Wahrheit lässt sich nicht festlegen, sie kennt keinen letzten Grund, sondern entsteht aus der Konkurrenz verschiedener, sich teils widersprechender ›Teilwahrheiten‹: einer subjektiven, einer objektiven und einer parteiischen Wahrheit, die verschiedene Perspektiven notwendig machen.208

Schaffrick deutet Jonas zum Beispiel als einen in erster Linie poetologischen Text, in dem Johnson sein eigenes Erzählen problematisiert209 und einen »prophetischen Sound« entwickelt, der die Parabel »mit allen späteren Texten des Autors verbindet«.210 Dass Johnson hierfür ausgerechnet das biblische Buch Jona als Vorlage wählt, führt Schaffrick auf den Umstand zurück, dass die biblische Erzählung »einerseits narrativ verfasst« sei und »andererseits eine ›Selbstkritik‹ der Prophetie« darstelle.211 Diese für die Einordnung von Jonas zum Beispiel essenziellen Beobachtungen müssen noch um eine weitere Besonderheit des Jona-Buches ergänzt werden. Die biblische Erzählung enthält einen »unerhöhrte[n] Vorgang«, der »ohne jede Parallele im Alten Testament« ist:212 »Von keinem sonstigen Propheten, auch nicht von dem widerstrebenden Jeremia, ist ein solches ›Nein‹ zum prophetischen Auftrag bekannt.«213 Indem der Blick auf die Figur des Propheten in Johnsons Adaption noch verstärkt wird, gewinnt dieser Umstand zusätzlich an Bedeutung. Mithilfe von Durchbrechungen der biblischen Erzählung, die auf die Gegenwart des Erzählers verweisen, wandelt sich der Gehalt der biblischen Vorlage. Aus dem Lobpreis JHWHs und der Kritik an einem auf Prinzipien beharrenden Propheten entwickelt Johnsons Prophet eine innere Distanz ge206 Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet), in: BS, 7–21, hier: S. 21. 207 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Reproduktion der Erstausgabe 1951, Berlin 2001, S. 59. Insofern entspricht Johnsons Erzählung in mustergültiger Weise einem offenen Kunstwerk im Sinne Umberto Ecos, das »zwar schon physisch abgeschlossen« – und insofern kein Kunstwerk in Bewegung ist –, »aber dennoch ›offen‹ [ist] für ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen, die der Rezipierende im Akt der Perzeption der Reiztotalität entdecken und auswählen soll«; Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, 6. Aufl., aus dem Italienischen übers. von Günter Memmert, Frankfurt am Main 1993, S. 57. 208 Schaffrick, Johnsons prophetischer Sound, S. 393. 209 Vgl. ebd., S. 382. 210 Ebd., S. 393. 211 Ebd., S. 382. 212 Jeremias, Buch Jona, S. 84. 213 Deissler, Jona, S. 155.

Das Prosawerk Uwe Johnsons: Jonas zum Beispiel

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genüber dem Verhalten Jehovas, das nicht seinem Volk, sondern einzig dem eigenen Machterhalt dient. Das Verhalten eines Einzelnen oder einer Gruppe, die Jona(s) verkörpert, gegenüber einer autoritären und demagogischen Obrigkeit wird so zur zentralen Thematik der Johnson’schen Auseinandersetzung mit der biblischen Vorlage. Johnsons Aussage in den Gesprächen mit Schwarz, es gehe in seiner Parabel um die Figur eines Intellektuellen, wird insbesondere von Kührt und Buck aufgegriffen. Kührt interpretiert den Text als »Reflex der konkreten Realität DDR«,214 in der nach den im Herbst 1956 niedergeschlagenen Aufständen in Ungarn der seit 1953 eingeleitete Neue Kurs relativer Freizügigkeit ein jähes Ende fand: Nun begann auch in der DDR eine massive Welle von Verhaftungen und politischen Prozessen gegen Intellektuelle, von denen auch Personen im Umkreis Johnsons betroffen waren (Hans Mayer systematisch in Lehr-, Publikations- und Forschungstätigkeit behindert, Ernst Bloch mit Publikationsverbot belegt).215

Ganz ähnlich sieht Buck den Kern des Textes in der »Darstellung der Position des Intellektuellen in der Diktatur«,216 auch wenn er dessen Gehalt nicht hierauf beschränkt wissen möchte. Mit der Figur des Propheten verortet Johnson den Intellektuellen zwischen der Obrigkeit und dem Volk – weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehörig. Seine Funktion und, wie Kührt betont, damit auch seine Existenz, ist »abhängig vom Willen und aktuellen Gebrauchswert für die eine oder die andere Seite«.217 Der Handlungsspielraum, den der Intellektuelle gegenüber den Mächtigen besitzt, ist aufgrund seiner Machtressourcen überaus eingeschränkt, zumal in einer autoritativen Gesellschaft.218 Warum aber soll der Prophet, und mit ihm der Intellektuelle, wie Kührt meint, nicht in der Lage sein, »eine produktive Beziehung zum Volk, im Sinne einer aufklärenden Funktion für den Bewußtwerdungsprozeß des Volkes über seine Rolle im Rahmen der Beziehung zur Macht und seine mögliche gesellschaftliche Veränderungspotenz zu finden«?219 Deutet der Erzähler nicht genau diesen Weg als eine Möglichkeit des Propheten an, wenn er ihn aufstehen und ein Leben in Ninive führen lässt? Auch Hans Mayer weist diesen Weg, indem er sich im Brief an Johnson auf die »einschlägige[] Forschung« beruft. In jedem Fall schließen alle drei Möglichkeiten eine vierte aus: Ein neuerliches Bündnis mit der Macht stellt keine Alternative dar. Ihre Entsprechung findet diese Konsequenz in der Sprache des Erzählers, die 214 215 216 217 218 219

Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 82. Ebd., S. 80. Buck, Jonas zum Beispiel, S. 86. Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 80. Vgl. Rosenberg, Noch einmal, S. 126. Kührt, Johnsons Kurzgeschichte Jonas zum Beispiel, S. 89.

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Bibel und Christentum in Leben und Werk Uwe Johnsons

eine Entgegnung auf das unaufrichtige und demagogische Sprechen Jehovas darstellt. Parabolisch verwandelt Johnson das biblische Buch Jona in ein »politisches und ästhetisches Krisenbarometer«.220 Seinen Ausgang nimmt die Parabel in der politischen Konstellation, die durch zahlreiche sprachliche Durchbrechungen in den Text integriert ist. Die Erwägungen zur politischen Lage setzen zugleich einen sprachlich-ästhetischen Reflexionsprozess in Gang,221 an dessen Ende eine Sprache steht, die Schaffrick als prophetischen Sound bezeichnet. Auch wenn es sich bei der Parabel Jonas zum Beispiel um einen »Sonderfall« in Johnsons Œuvre handeln mag, generieren die Beobachtungen an diesem Text einige Fragen für die anstehende Analyse von Johnsons Romanen: Mit seiner These, der prophetische Sound bilde das Bindeglied zwischen dem Jonas-Text und allen späteren Texten des Autors, stellt Schaffrick eine Verbindung zwischen der Parabel und den Romanen Johnsons von den Mutmassungen über Jakob bis zu den Jahrestagen her. Doch nicht erst für Johnsons erstveröffentlichten Roman, sondern bereits für den postum veröffentlichten Erstling Ingrid Babendererde ist vom »biblischen Tonfall«222 die Rede. In welchem Verhältnis stehen prophetischer Sound und biblischer Tonfall? Noch notwendiger erscheint es zu bestimmen, welche sprachlichen Phänomene auf die Heilige Schrift zurückgeführt werden können und welche einen solchen Tonfall erzeugen. Darüber hinaus wird es aufschlussreich sein zu verfolgen, wie Johnson den Themenkomplex um das Verhalten gegenüber der Obrigkeit ausgestaltet, der Bestandteil der Mutmassungen über Jakob und weiterer Romane ist. Zunächst soll jedoch eine Typologie entwickelt werden, die eine Analyse von biblischen Verweisformen in den Romanen Johnsons, und darüber hinaus allgemein in literarischen Texten, gewährleistet. Den Ausgangspunkt für das zu entwickelnde Analyseinstrumentarium bildet der Umstand, dass es sich zwischen den Romanen Johnsons und den biblischen Schriften um eine Text-TextBeziehung handelt. 220 Buck, Jonas zum Beispiel, S. 98. 221 Dies wiederum widerspricht Schaffrick, für den die politische Konstellation gerade nicht den »Dreh- und Angelpunkt von Jonas zum Beispiel« bildet, »sondern die Prophetie als narratives Konzept, über das erst ein Verständnis der politischen Dimension dieser Erzählung möglich wird«; Schaffrick, Johnsons prophetischer Sound, S. 393. Schaffrick führt seine Sicht indirekt auf die intertextuelle Folie der Jonas-Parabel zurück, die sich durch ihre Narrativität, ihre märchenhaften bzw. fantastischen Züge und ihre rätselhafte Offenheit auszeichne; vgl. ebd., S. 381–384. Allerdings sind die märchenhaften bzw. fantastischen Züge in Johnsons Text getilgt, die Offenheit des Buches Jona ergibt sich aus der unerhörten Begebenheit des prophetischen Widerstandes. Insofern konstituiert auch die biblische Vorlage ihre Form, für die wiederum auf zahlreiche Intertexte aus anderen biblischen Büchern zurückgegriffen wird, in erster Linie aus dem Inhalt der Erzählung. 222 Vgl. Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243.

2.

Biblische Intertextualität – Eine Typologie unter Berücksichtigung der Romane Uwe Johnsons

Das Buch in den Büchern lautet der Titel einer von Andrea Polaschegg und Daniel Weidner herausgegebenen Anthologie, mit dem die vielfältigen literarischen Textreferenzen auf die Schriften des Alten wie des Neuen Testaments treffend umschrieben werden. In ihrer einleitenden Topografie des Spannungsfeldes von Bibel und Literatur mahnen die beiden Herausgeber an, dass viele autormonografische Studien dazu neigen, die »›Originalität‹ [des Autors] im Umgang mit dem biblischen Text tendenziell zu überschätzen«.1 Um eine Balance zu finden und weder in die Falle der ›Über-‹ noch der ›Unterinterpretation‹ bzw. des ›Unterfragens‹ zu gehen,2 soll die zu entwickelnde Typologie zur Analyse von Formen literarischer Bibelrezeption auf ein breites Fundament gestellt werden. Nimmt man die textuelle Beziehung zwischen biblischen und literarischen Texten zum Ausgangspunkt der Typologie, bieten sich als Grundlage aller weiteren Überlegungen Instrumentarien an, die in den vergangenen fünfzig Jahren durch Vertreter der Intertextualitätstheorie entwickelt wurden. Möglich erscheint es mittels dieses Zugriffs, den interdisziplinären Austausch zwischen den Bezugswissenschaften von Literaturwissenschaft und Theologie im Begegnungsfeld von ›Literatur und Religion‹3 auf eine gemeinsame methodische Basis zu stellen.4 1 Andrea Polaschegg/Daniel Weidner: Bibel und Literatur. Topographie eines Spannungsfeldes, in: dies. (Hg.): Das Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur, München 2012, S. 9–35, hier: S. 13. 2 Zur Diskussion der Über- bzw. Unterinterpretation zwischen Eco und Jonathan Culler vgl. Umberto Eco: Überzogene Textinterpretation, in: ders.: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, aus dem Englischen übers. von Hans Günter Holl, München/ Wien 1994, S. 52–72; Jonathan Culler: Ein Plädoyer für die Überinterpretation, in: ebd., S. 120– 134; Umberto Eco: Erwiderung, in: ebd., S. 150–162. 3 Während die Begriffe ›Begegnungsfeld‹ und ›Forschungsfeld‹ in der Literatur z. T. synonym verwendet werden, wird in dieser Arbeit zwischen einem Begegnungsfeld als einem Ort, an dem es zu Überschneidungen zwischen Literatur/Kunst und Religion kommt, und einem Forschungsfeld, in dem eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit eben diesem Begeg-

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

Obwohl sich der Terminus technicus ›Intertextualität‹ zu einem Modebegriff entwickelt hat5 und sich die entstandenen Ansätze seit dem Ende der 1960er nungsfeld erfolgt, unterschieden; vgl. hierzu Maike Schult: Im Grenzgebiet: Theologische Erkundung der Literatur, in: dies./David Philipp (Hg.): Wortwelten. Theologische Erkundung der Literatur, Berlin 2011, S. 1–30, hier: S. 10, 27. Vgl. auch Henning Schröer: Literatur und Religion. VI. Praktisch-theologisch, in: Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 21: Leonardo da Vinci–Malachias von Armagh, Berlin/New York 1991, S. 294–306. Im Folgenden mit der Sigle ›TRE‹ zitiert. Das von Polaschegg und Weidner beschriebene Diskursfeld von ›Bibel und Literatur‹ ist im Großen und Ganzen deckungsgleich zum Begegnungsfeld ›Literatur und Religion‹. Allerdings nehmen sie eine Einschränkung auf jüdische und christliche Kontexte vor, was im Hinblick auf eine systematische Erschließung religiöser Phänomene in literarischen Werken eine unnötige Verkürzung darstellt. So berücksichtigt etwa Langenhorst in der Neuauflage seiner Anthologie »Ich gönne mir das Wort Gott« auch Beispiele deutsch-muslimischer Gegenwartsliteratur; vgl. Georg Langenhorst: »Ich gönne mir das Wort Gott«. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur, 2., akt. und völlig überarb. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 227–257. 4 Sowohl Theologen als auch Literaturwissenschaftler machen es sich seit einigen Jahrzehnten zur Aufgabe, das Begegnungsfeld von ›Literatur und Religion‹ zu untersuchen. Im angelsächsischen Raum entwickelte sich bereits in den 1950er Jahren ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das von Persönlichkeiten wie Nathan Scott, George Steiner und Robert Detweiler geprägt wurde; vgl. Terry Wright: Von der Moderne zur Postmoderne. Internationale Entwicklungslinien von ›Literatur und Theologie‹, in: Garhammer/Langenhorst (Hg.), Schreiben ist Totenerweckung, S. 70–98, hier: S. 74. Anfang der 1970er Jahre entwickelte sich auch im deutschsprachigen Raum ein eigenständiges Forschungsfeld, in dem sich Theologen anschickten, den Begegnungsraum von ›Literatur und Religion‹ zu erschließen. Unter dem Titel ›Theologie und Literatur‹ hat sich in den vergangenen rund fünfzig Jahren ein »äußerst produktiver eigenständiger Forschungsbereich etabliert«, deren Entwicklung spätestens seit Mitte der 1980er Jahre in seiner »Komplexität kaum noch zu überblicken« ist; Georg Langenhorst: Ertrag und Perspektive, in: Garhammer/Langenhorst (Hg.), Schreiben ist Totenerweckung, S. 175–189, hier: S. 175; Kuschel, Literatur und Theologie, S. 21. Gleichzeitig aber werden immer wieder Stimmen laut, die eine »Verweigerung der Literaturwissenschaft« beklagen, am Forschungsfeld zu partizipieren, und den mangelnden Willen kritisieren, »sich von exegetischhermeneutischen Spezialisten bei der Exegese eines […] offensichtlich aus einer bestimmten religiösen Tradition herkommenden Textes helfen zu lassen«; Georg Langenhorst: Theologie und Literatur. Ein Handbuch, Darmstadt 2005, S. 215; Wolfgang Braungart: Literaturwissenschaft und Theologie. Versuch zu einem schwierigen Verhältnis, ausgehend von Kafkas Erzählung ›Der Hungerkünstler‹, in: Garhammer/Langenhorst (Hg.), Schreiben ist Totenerweckung, S. 43–69, hier: S. 47. Für die Theologie war es daher an der Zeit, dass mit Langenhorst einer der Protagonisten des Forschungsfeldes ›Theologie und Literatur‹ den Abschied vom Dialog-Paradigma forderte, das seit der Etablierung des Forschungsbereichs in nahezu jeder Studie seinen Platz fand: »Einen wissenschaftlichen Dialog zwischen Literaturwissenschaftlern und Theologen mit gleicher Interessenlage hat es nie gegeben, kann es wohl auch nicht geben, er ist auch nicht erstrebenswert«; Langenhorst, Ertrag und Perspektive, S. 185. Das Ende des Dialog-Paradigmas ist aber nicht gleichbedeutend mit einem Ende des Austauschs beider Disziplinen, zu dem Weidner vor einigen Jahren neuerlich aufgerufen hat; vgl. Daniel Weidner: Religion in Theorien der Literatur, in: ders. (Hg.), Handbuch Literatur und Religion, S. 9–17, hier: S. 12f. 5 Wolfgang Heinemann stieß in einer Literaturrecherche Ende der 1990er Jahre auf 48 Verwendungsweisen des Begriffs ›Intertextualität‹: »Sie reichen – in adjektivischer Prägung – von der ›intertextuellen Disposition des Textes‹ (was immer das sein mag) über ›intertextuelle

Biblische Intertextualität – Eine Typologie

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Jahre in ganz unterschiedliche Richtungen herausbildeten, ermöglicht ein Zugang über dieses Konzept eine Analyse literarischer Bibelrezeption. Ein solcher Zugang verzichtet auf funktionale Präsumtionen – weder in die eine (Aktualisierung) noch in die andere Richtung (Säkularisation) – und nimmt die Verweisung als eine Form der Textbeziehung in den Blick. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich intertextualitätstheoretische Zugänge zur Erschließung des Begegnungsfeldes von ›Literatur und Religion‹ zunehmender Beliebtheit erfreuen.6 Um verschiedene Dimensionen intertextueller Bezüge erfassen zu können, eignen sich weder poststrukturalistische Ansätze wie von Julia Kristeva oder Roland Barthes, die Intertextualität als ein universales, jedem Text inhärentes Phänomen begreifen,7 noch zu eng definierte Intertextualitätskonzepte wie von Klaus W. Hempfer, Rolf Kloepfer oder Henning Tegtmeyer, die eine strikte Trennung von Intertextualität und Systemreferenz vornehmen.8 PoststrukturaStrategien, Übercodierungen und Schreibweisen‹ bis zum ›intertextuellen Leser‹ und sogar ›Superleser‹; als Substantiv begegnet uns die ›wissenschaftliche Intertextualität‹, die ›ästhetische Intertextualität‹, die ›explizite‹ und ›implizite‹, die ›autorspezifische‹ und sogar eine ›kryptische Intertextualität‹. Aber auch das ›Intertextwissen‹ spielt eine Rolle, ebenso wie ›Intertextsignale‹ und ›intertextuelle Indikatoren‹; sogar verbale Prägungen kommen gelegentlich vor: ›Intertextualisierungen‹, ›Metastrategien des Intertextualisierens‹ sowie das Prinzip ›intertextualisierend‹. Das Ganze gipfelt natürlich in einer ›Intertextualitätstheorie‹, die ich bei meinen Recherchen nur benannt fand, aber nirgends ausmachen konnte«; Wolfgang Heinemann: Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht, in: Josef Klein/Ulla Fix (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen 1997, S. 21–37, hier: S. 21; Kursivdruck im Original. 6 Vgl. Langenhorst, Ertrag und Perspektive, S. 178. Beispielhaft zu nennen wäre die Dissertation von Tanja Gojny: Biblische Spuren in der Lyrik Erich Frieds. Zum intertextuellen Wechselspiel von Bibel und Literatur, Mainz 2004. Programmatisch haben Clemens Sedmak und Peter Tschuggnall auf einen methodologischen Zugang über Theorien zur Intertextualität hingewiesen; vgl. Clemens Sedmak/Peter Tschuggnall: Sie haben nur ihre Zeichen. Semiotik – Literaturwissenschaft – Theologie, mit einem Geleitwort von Zoran Konstantinovic´, Anif/ Salzburg 1998, S. 140–152. Maike Schult sieht hingegen in einer rezeptionsästhetischen Zugangsweise den »neue[n] Treffpunkt von Theologie und Literaturwissenschaft«; Schult, Im Grenzgebiet, S. 11, Anm. 59. Beispielhaft für einen solchen Zugang lassen sich die Arbeiten von Engemann und Grözinger anführen; vgl. Wilfried Engemann: Personen, Zeichen und das Evangelium. Argumentationsmuster der Praktischen Theologie, Leipzig 2003; Albrecht Grözinger: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Theologie, 2., durchges. Aufl., München 1991. 7 Julia Kristeva, die den Begriff ›Intertextualität‹ im Jahr 1967 in ihrem Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman für die Beschreibung des Beziehungsgeflechts zwischen Texten einführte, geht von der Vorstellung aus, dass sich »jeder Text […] als Mosaik von Zitaten auf[baut], jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes«; Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1972, S. 345–375, hier: S. 348. 8 Vgl. Klaus W. Hempfer: Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines nouveau nouveau roman, München 1976, S. 54; Rolf Kloepfer: Grundlagen

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

listische Ansätze zur Intertextualität sind für sprachphilosophische Überlegungen überaus erkenntnisreich, allerdings wenig geeignet, um nach konkreten Beziehungen zwischen Texten zu fragen, wie sie Gegenstand dieser Arbeit sind. Mit einem zu engen Intertextualitätsbegriff läuft man dagegen Gefahr, eine traditionelle sources-and-analogues-Forschung zu betreiben und dabei »unter dem neuen und modischen Etikett Zusammenhänge zwischen Einzeltexten zu untersuchen, wie sie immer schon untersucht wurden, und dies auch in methodisch gleicher Weise weiterzubetreiben«.9 Aus diesen Gründen wird in dieser Arbeit auf ein Konzept von Intertextualität zurückgegriffen, das einerseits eine Operationalisierbarkeit intertextueller Bezüge ermöglicht und andererseits unterschiedliche Verweisformen unter einem übergreifenden Modell vereint, um verschiedene Dimensionen der Textreferenz erfassen zu können. Ein entsprechendes Konzept legte Manfred Pfister im Jahr 1985 mit seinem Modell der Skalierung von Intertextualität vor. Mit diesem »Vermittlungsmodell«10 gelingt es, eine Brücke zwischen universalem und spezifischem Intertextualitätsparadigma zu schlagen.11 Ausgehend von einer möglichst weiten, sprich poststrukturalistischen Definition von Intertextualität lassen sich verschiedene Grade intertextueller Intensität unterscheiden. Verweisformen höchstmöglicher Intensität bilden dabei, bildlich betrachtet, den Mittelpunkt von konzentrischen Kreisen, deren intertextuelle Intensität in Richtung Peripherie mehr und mehr abnimmt und »sich asymptotisch dem Wert Null«12 annähert. Neben der Integration verschiedener Konzeptionen von Intertextualität besteht die besondere Leistung dieses Ansatzes in einer mehrfachen und damit vielschichtigen Definition intertextueller Intensität, die neben dem Grad an inhaltlicher und syntaktischer Integration in den Text auch die Spannung zwischen

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des ›dialogischen Prinzips‹ in der Literatur, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 6, 1982, S. 358–379, hier: S. 365f. Vgl. hierzu Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität, in: Ulrich Broich/ders. (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1–30, hier: S. 17f.; Henning Tegtmeyer: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen – Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis’, in: Klein/Fix, Textbeziehungen, S. 49–81. Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 19. Ebd., S. 25. Während Pfister die in dieser Arbeit übernommene terminologische Unterscheidung zwischen universaler und spezifischer Intertextualität vornimmt, wählt Stefan Alkier die Opposition von ›entgrenzter‹ und ›begrenzter Intertextualität‹; vgl. Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 11; Stefan Alkier: Intertextualität – Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: Sänger, Dieter (Hg.): Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110, Neukirchen-Vluyn 2003, S. 1–26, hier: S. 10. Henning Tegtmeyer wiederum bezeichnet beide Paradigmen als ›globale‹ bzw. ›lokale Intertextualität‹; vgl. Tegtmeyer, Intertextualität und seine Fassungen, S. 50. Kristeva selbst nahm eine Differenzierung von ›extensiver‹ und ›intensiver Intertextualität‹ vor; vgl. ebd. Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 25.

Biblische Intertextualität

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Text und Prätext bzw. Phäno- und Referenztext13 sowie die Bedeutung des ausgewählten Elements aus dem Prätext berücksichtigt. Die Modellierung in Form konzentrischer Kreise stellt überdies die fließenden Übergänge zwischen verschiedenen Formen der Intertextualität in Rechnung. Im Folgenden wird Pfisters Modell der Skalierung von Intertextualität auf die Spezifik biblischer Intertexte übertragen. Ziel ist es, eine Typologie zu entwickeln, die neben Pfisters Kriterium der intertextuellen Intensität weitere Kategorien berücksichtigt und verschiedene Analysebereiche unterscheidet.

2.1

Biblische Intertextualität

Aus einer Minimaldefinition von Intertextualität als dem »Bezug zwischen einem Text und anderen Texten«14 lässt sich eine erste Definition biblischer Intertextualität ableiten: Von ihr kann gesprochen werden, wenn eine Bezugnahme auf die Heilige Schrift Teil eines nichtbiblischen Textes ist. Auf den ersten Blick vermag die Definition biblischer Intertextualität somit keine große Herausforderung darzustellen. Die Minimaldefinition weiterführend, lässt sich ein biblischer Intertext bestimmen als eine zitierende oder anspielende Bezugnahme auf die Schriften des Neuen und/oder Alten Testaments. Auf den zweiten Blick ergeben sich für die wissenschaftliche Analyse literarischer Bibelrezeption indes einige Abgrenzungsschwierigkeiten: Wie ist mit den deuterokanonischen Schriften zu verfahren, auf die in literarischen Werken ebenso wie in der bildenden Kunst häufig Bezug genommen wird? Noch evidenter ist die Frage: Wo sind die Grenzen von Anspielungen zu ziehen? Die zweite Frage verweist auf den besonderen Charakter des (Referenz-)Textes Bibel als einem fundierenden15 und kanonischen Text. Infolge der Kanonisierungsprozesse des Alten und Neuen Testaments wurden die darin enthalten Schriften zu ›abgeschlossenen‹ Texten, denen nichts hinzugefügt werden darf. Der zentrale intertextuelle Anschluss an die Bibel besteht demnach in der Kommentierung als der Auslegung der heiligen Schriften.16 Hieran anschließend lässt sich erwägen, inwieweit biblische Intertextualität in literarischen Texten 13 Renate Lachmanns Terminologie geht auf Kristevas Unterscheidung von Phäno- und Genotext zurück; vgl. Renate Lachmann: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch, München 1984, S. 133–138, S. 136. 14 Ulrich Broich: Intertextualität, in: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2: H–O, 3., neubearb. Aufl., Berlin/New York 2000, S. 175. 15 Vgl. Hans Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 7. Aufl., München 2013, S. 102. Als ›fundierend‹ bestimmt Assmann diejenigen Texte, die entscheidend zur Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses beitragen. 16 Vgl. ebd.

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

selbst kommentierend wirkt, ob sie als eine Form der Auslegung verstanden werden kann. Tanja Gojny ist dieser Frage in ihrer Dissertation zu Biblischen Spuren in der Lyrik Erich Frieds nachgegangen und gelangt zu dem Schluss, dass es sich bei literarischer Bibelrezeption durchaus um »eine andere art der Auslegung«17 handelt. Literarische Bibelreferenzen würden demzufolge der Erweiterung des semantisches Raumes, auch der Bibel, dienen. Beträchtlich schwieriger wird die Abgrenzung biblischer Intertextualität bei systemreferentiellen Bezugnahmen. Wiederholt wird in den Werken Johnsons ein biblischer Duktus nachgeahmt, der sich, wie noch zu zeigen sein wird, an Martin Luthers Übersetzung der Heiligen Schrift anlehnt, ohne dass sich diese Lexem- und Syntaxanleihen auf konkrete Bibelstellen zurückführen ließen. So heißt es in den Mutmassungen über Jakob, »[d]ie Grossen des Landes warfen ihr Auge auf Jakob« (MJ, 24), und in Das dritte Buch über Achim, »nach fünf Jahren Krieg drang die verbündete Welt über den deutschen Staat und zerschlug ihn und teilte Land und Menschen und Vieh auf an die nunmehr entstandene östliche Hälfte der Welt und die westliche« (DBA, 43). Obwohl der Grad an Idiomatisierung solcher Wörter, Wendungen und Satzkonstruktionen schwer zu bestimmen ist, fällt ihr archaisierender Charakter auf, der im Vergleich zum übrigen Text häufig zu einem Stilbruch führt. Konkrete Kriterien, anhand derer sich überprüfen lässt, wann von Bezugnahmen auf die Sprache der Heiligen Schrift gesprochen werden kann, werden im Verlauf der Analyse von Johnsons Erstling Ingrid Babendererde vorgestellt. Für den Augenblick genügt festzuhalten, dass auch solche Systemreferenzen einen Aspekt biblischer Intertextualität bilden. In diesem Zusammenhang sei auf eine erste Modifikation des Pfister’schen Intertextualitätsmodells verwiesen. Darin ist ›Kommunikativität‹ ein Kriterium zur Bestimmung der Intensität eines Intertextes, das den »Grad der Bewußtheit des intertextuellen Bezugs beim Autor wie beim Rezipienten, d[ie] Intentionalität und d[ie] Deutlichkeit der Markierung im Text selbst«18 bestimmt. Die Problematik intertextueller Markierung in literarischen Texten wird im nächsten Kapitel erörtert. An dieser Stelle wird der Fokus auf die beiden weiteren genannten Merkmale dieser Kategorie gerichtet, die ›Bewusstheit‹ und ›Intentionalität‹ eines Autors, eine intertextuelle Beziehung in seinen Text zu integrieren. Für die Textanalyse können beide Parameter nicht fruchtbar gemacht werden, weil sie in der Regel schlicht nicht nachweisbar sind.19 Statt eines produktions17 Gojny, Biblische Spuren in der Lyrik Erich Frieds, S. 484; Kursivdruck im Original. Aufgrund dessen leitet Gojny ab, dass die Kirche ein großes Interesse an einer »Zusammenarbeit mit der Literatur« haben sollte; ebd., S. 492. Dass der Begriff der ›Zusammen-Arbeit‹ hier unglücklich gewählt scheint, wurde eingangs dieses Kapitels dargelgt; vgl. Erster Teil, Kap. 2, Anm. 4. 18 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 27. 19 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür schildert Eco in seinen 1990 gehaltenen Tanner Lectures: »In das Foucaultsche Pendel verliebt sich der junge Casaubon in eine Brasilianerin

Biblische Intertextualität

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orientierten Zugangs orientiert sich die Analyse biblischer Verweisformen in den Romanen Johnsons an einem rezeptionsästhetischen Zugang20 und lässt das Kriterium der ›Kommunikativität‹ bei der Bestimmung intertextueller Intensität außer Acht. Zu guter Letzt soll auf die eingangs gestellte Frage zur Definition biblischer Intertextualität eingegangen werden, ob die deuterokanonischen Schriften zum Spektrum der Bibelrezeption zu zählen sind. Auch wenn diese Texte in den Werken Johnsons nahezu keine Rolle spielen, sind sie Teil biblischer Intertextualität. Schriften wie das Buch Judit oder Jesus Sirach stehen nicht nur in unmittelbarem Zusammenhang zu den protokanonischen Büchern des Alten Testaments, sondern sind Teil der Kanones der katholischen, orthodoxen oder altorientalischen Kirche – und damit ebenso kanonisch. Auf der Grundlage der vorangehenden Betrachtungen lässt sich biblische Intertextualität genauer definieren als (literarische) Bezugnahme auf einen oder mehrere Texte des Alten, einschließlich der deuterokanonischen Schriften, wie des Neuen Testaments bzw. die Bibel als Ganzes, die sowohl primärer als auch

namens Amparo. […] Ich wußte nicht, warum ich den Namen wählte; da es jedoch kein brasilianischer Name war, mußte ich schreiben: ›Ich habe nie begriffen, wieso diese Nachfahrin holländischer Einwanderer, die sich in Recife angesiedelt und dort mit Indios und Schwarzen aus dem Sudan vermischt hatten, wieso diese stolze junge Frau mit dem Gesicht einer Jamaikanerin und der Kultur einer Pariserin einen spanischen Namen hatte.‹ Ich benutzte den Namen Amparo also wie etwas Fremdes, das von außen in den Roman eindrang. Monate nach der Publikation fragte mich ein Freund: ›Warum Amparo? So heißt doch ein Berg.‹ Und dann fuhr er fort: ›In dem Schlager ›Guajira Guantanamera‹ kommt ein Berg namens Amparo vor.‹ O Gott. Ich kannte diesen Schlager sehr gut, hatte aber den Text völlig vergessen. Mitte der fünfziger Jahre sang ihn ein Mädchen, in das ich verliebt war. Sie war Lateinamerikanerin, sehr hübsch. Obwohl weder Brasilianerin noch Kommunistin, noch dunkelhäutig, noch hysterisch wie Amparo, diente sie mir unbewußt als Vorbild für ein bezauberndes lateinamerikanisches Mädchen, geschaffen im Geiste meiner Jugend, als ich so alt war wie Casaubon. Ich hatte an diesen Schlager gedacht, und irgendwie muß der Name Amparo (den ich völlig vergessen hatte) aus meinem Unbewußten auf das Papier gewandert sein«; Umberto Eco: Zwischen Autor und Text, in: ders., Interpretation und Überinterpretation, S. 75–98, hier: S. 97. Ob intendiert oder nicht, ob bewusst oder nicht, für Eco kommt nur ein Schluss infrage: »Die Geschichte ist vollkommen irrelevant für die Interpretation meines Textes. […] Wenn es aus ihr eine Lehre zu ziehen gilt, dann nur die: Das Seelenleben des empirischen Autors ist gewiß unergründlicher als seine Texte«; vgl. ebd. 20 Auch Thomas Grimanns Versuch, beide Zugänge miteinander zu verbinden, indem er sich der Intentionalität des Autors über eine etwaige Intentionalität des Textes anzunähern versucht, kann die Schwierigkeiten nicht beheben, die die Kategorie der ›Kommunikativität‹ mit sich bringt. Aus der Explizität eines Intertextes, Grimann zufolge dem Umstand, dass ein solcher »auf irgendeine Weise, direkt oder indirekt, als solche[r] markiert ist«, lässt sich zunächst nicht mehr ablesen als der Grad seiner Markierung; Thomas Grimann: Text und Prätext. Intertextuelle Bezüge in Theodor Fontanes »Stine«, Würzburg 2001, S. 184. Die hinter einem Intertext stehende Intention ist dem Text in seinem Status als Objekt nicht inhärent und verweist auf das Subjekt, den hinter dem Text stehenden Produzenten.

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

sekundärer Art, vermittelt u. a. über rituelle Handlungen, religiöse, politische oder künstlerische Texte, sein kann. Ausgehend von dieser Definition werden im nächsten Schritt drei Ebenen zur Beschreibung biblischer Intertextualität entwickelt, auf denen die anschließenden Analysen und Interpretationen von Bezugnahmen auf die Heilige Schrift in den Romanen Johnsons basieren.

2.2

Ebenen biblischer Intertextualität

»Nun sehe man einen Gast aus dem westlichen Bruderland mit seinem Besuch den guten Willen zeigen«, konstatiert in Das dritte Buch über Achim die Figur Fleisg, ein Stellvertreter der »Zeitung für Stadt und Bezirk« (DBA, 39f.), über die Reise des Westdeutschen Karsch in die DDR. Über Herrn Fleisg wird die biblische Wendung der ›Menschen guten Willens‹ aus Lk 2,14 in den Roman eingeführt, die zweierlei verdeutlicht. Zum einen ist das geflügelte Wort21 trotz seines biblischen Hintergrunds nicht in einen religiösen Zusammenhang eingebettet. Vielmehr wird über die biblische Wendung das politische Verhältnis zwischen der DDR und der BRD22 auf das Handeln zweier Figuren projiziert. Die Wendung wird damit politisch aufgeladen. Dies wiederum zeigt, dass biblische Intertexte nicht selbstreferentiell in einen Text eingespielt werden können, sondern von Erzähldiskursen ummantelt 21 Bei geflügelten Worten handelt es sich um phraseologische Einheiten, die sich auf eine konkrete Quelle wie die Heilige Schrift zurückführen lassen; vgl. Helmut Weidhase/Nikolas Immer: Geflügelte Worte, in: Burdorf/Fasbender/Moenninghoff (Hg.), Metzler Lexikon Literatur, S. 266; Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bde. 1–3, Freiburg i. Br. 1991/92, S. 17. Aus Gründen der sprachlichen Vielfalt werden die Begriffe ›biblische Wendung‹ und ›phraseologische Wendung‹ synonym gebraucht. Die Begriffe ›Redewendung‹ bzw. ›Phraseologismus‹, ›Redensart‹ und ›Sprichwort‹ bleiben hingegen phraseologischen Einheiten vorbehalten, die auf keine »bestimmte und allenfalls bestimmbare Quelle« zurückgehen; Harald Burger: Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen, 5., neu bearb. Aufl., Berlin 2015, S. 48. 22 Die Akronyme DDR und BRD werden hier und in der Folge wie vor der politischen Diskussion der 1970er Jahre, in der in Westdeutschland das Kürzel BRD mit der politischen Absicht in Verruf gebracht wurde, »die ›Verdrängung‹ und ›Tilgung‹ des Wortes Deutschland zu verhindern« und »BRD als vermeintlich kommunistische Erfindung und sprachlichen Beweis für die DDR-Abgrenzungspolitik und deren Verneinung der deutschen Nation zu diffamieren«, als politisch neutrale Kürzel für die beiden deutschen Staaten verwendet, die zwischen 1949 und 1990 auf dem Gebiet der heutigen, wiedervereinten Bundesrepublik Deutschland existierten; Silke Hahn: Vom zerrissenen Deutschland zur vereinigten Republik. Zur Sprachgeschichte der »deutschen Frage«, in: Georg Stötzel/Martin Wengeler (Hg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S. 285–353, hier: S. 320; Kursivdruck im Original. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Johnsons Schreibung der beiden Städte Berlins in den Zwei Ansichten in Zweiter Teil, Kap. 4, Anm. 89.

Ebenen biblischer Intertextualität

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sind, die bei der Analyse biblischer Intertexte berücksichtigt werden müssen. In der folgenden Typologie wird diesem Umstand dadurch Rechnung getragen, dass die ›Diskursivität‹ die dritte Ebene biblischer Intertextualität bildet. Zum anderen bezeugt die Verwendung des Konjunktivs ›sehe‹ eine Distanzhaltung des Sprechers zum Gesagten. Obwohl es sich um vom Erzähler wiedergegebene Rede handelt, vermittelt der Modus der Verbform in Kombination mit der im vorherigen Satz stehenden Inquit-Formel, »sagte Herr Fleisg« (DBA, 39), dass es sich um die Wiedergabe indirekter Rede handelt. Auch wenn der Erzähler von Das dritte Buch über Achim in der Folge mehrfach die phraseologische Wendung von den ›Menschen guten Willens‹ aufgreift, erfolgt deren Einführung in den Roman durch den Vertreter eines staatlichen Organs, vermittelt über die Rede des Erzählers. Sowohl die Distanz bzw. Mittelbarkeit des Erzählens als auch die Perspektive des Erzählers sind narrative Aspekte, die für die Analyse von Intertexten berücksichtigt werden sollten. Achim Auernhammer etwa hat darauf verwiesen, dass das gattungsübergreifende Konzept der Intertextualität gerade hierin seine Schwierigkeiten hat, denn narrative Aspekte werden aus der Theoriebildung weitgehend ausgeklammert.23 Um dem entgegenzuwirken, wird in der folgenden Typologie auf einer ersten Ebene die ›Narrativität‹ biblischer Intertextualität untersucht. Ihr folgen auf einer zweiten Ebene die ›Intensität‹, die auf Pfisters Modell der Skalierung von Intertextualität beruht, und der bereits erwähnten dritten Ebene, der ›Diskursivität‹ biblischer Intertextualität.

2.2.1 Ebene 1: Narrativität Die narrative Einordnung biblischer Intertexte folgt der erzähltheoretischen Systematisierung Wolf Schmids, dessen Stratifikationsmodell sich insbesondere für hybride Erzählformen wie in Johnsons Romanen eignet. In seinen erstmals im Jahr 2005 erschienenen Elementen der Narratologie setzt sich Schmid kritisch mit der Erzähltheorie Genettes auseinander und modifiziert dessen Kategorie des ›Modus‹ einer Erzählung. Genette entfaltet in Diskurs der Erzählung, einer 1972 veröffentlichten Studie, die 1983 um einen Neuen Diskurs der Erzählung ergänzt wurde,24 seine Erzähl23 Vgl. Achim Auernhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen, Berlin/Boston 2013, S. 5f. 24 Vgl. Gérard Genette: Discours du récit, in: ders.: Figures III, Paris 1972, S. 65–282; ders.: Nouveau discours du récit, Paris 1983. Erst 1994 erschien die deutsche Übersetzung beider Studien unter dem Titel Die Erzählung, die im Folgenden zitiert wird; vgl. ders.: Die Erzählung, aus dem Französischen übers. von Andreas Knop, mit einem Nachwort hg. von Jürgen Vogt, München 1994.

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theorie anhand dreier Kategorien: der Zeit (temps), dem Modus (mode) und der Stimme (voix) einer Erzählung. Für die Zeit einer Erzählung stellt Genette zunächst die Differenz zwischen der Zeit des Erzählten und der Zeit der Erzählung fest.25 Deren Wechselbeziehung bestimme sich durch die »Ordnung oder Reihenfolge der Ereignisse«, die Dauer der Darstellung von Ereignissen und das »Verhältnis[] der Dichte oder Frequenz«, in der ein Ereignis erzählt wird.26 Unter der Stimme einer Erzählung subsumiert Genette Fragen zur narrativen Instanz und ihren »Spuren, die sie in dem narrativen Diskurs, den sie angeblich hervorgebracht hat, (angeblich) hinterlassen hat«:27 Zu welchem Zeitpunkt, auf welcher narrativen Ebene und mit welcher »narrativen Einstellung[]«28 wird erzählt?29 Mit dem narrativen Modus versucht Genette zu erfassen, wie etwas erzählt wird; aus welcher Distanz, dem Grad an Mittelbarkeit, und welcher Perspektive bzw. Fokalisierung. Die narrative Distanz unterscheidet er in die Erzählung von Ereignissen und die Erzählung von Worten. Während die Erzählung von Ereignissen immer Diegesis, also »stets Erzählung«, und ihre Mimesis »stets Mimesis-Illusion« ist,30 kann die Wiedergabe von Personenrede sowohl diegetisch als auch mimetisch erfolgen. Allerdings bricht Genette die Binäropposition von Mimesis und Diegesis unnötigerweise auf und subsumiert unter der Erzählung von Worten die erzählte, die transponierte und die mimetische Rede.31 Der transponierten Rede ordnet er die erlebte und die indirekte Rede zu, die »[o]bgleich ein bißchen mimetischer als die erzählte Rede und prinzipiell durchaus imstande, alles Gesagte wiederzugeben«,32 doch vom Erzähler wiedergegebene Redeformen sind. So hält Genette für die erlebte Rede fest: »die Figur spricht mit der Stimme des Erzählers und die beiden Instanzen werden vermengt«.33 Einzig bei der mimetischen Rede, die Genette in die berichtete Rede dramatischen Typs und die unmittelbare Rede34 differenziert, liege Figurenrede vor: »der Erzähler [tritt] völlig zurück und wird durch die Figur ersetzt«.35 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. ebd., S. 17. Ebd., S. 18; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 138. Ebd., S. 158. Matias Martinez und Michael Scheffel umschreiben diesen Punkt als »Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen«; Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 6. Aufl., München 2005, S. 80; Kursivdruck im Original. Vgl. Genette, Erzählung, S. 139. Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 122–124. Ebd., S. 122. Ebd., S. 124; Kursivdruck im Original. Für die vielfach als ›innerer Monolog‹ bezeichnete Redewiedergabe verwendet Genette den Terminus ›unmittelbare Rede‹, weil das Wesentliche nicht darin bestehe, dass diese Rede »eine innere ist, sondern daß sie sich von Anfang an (›von den ersten Zeilen an‹) von jeder narrativen Vormundschaft befreit und sich sofort in den Vordergrund der ›Szene‹ schiebt«; ebd.

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Schmid hebt die Dreiteilung der Genette’schen Redewiedergabe auf und unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei »Komponenten des Erzähltextes«:36 der Erzähler- und der Figurenrede. Die Erzähler- und unter Umständen auch die Figurenrede konstituieren sich wiederum aus Figuren- und Erzählertext.37 Somit lässt sich die Erzählung von Ereignissen im Sinne Genettes als Erzählertext klassifizieren, der in Form der Erzählerrede wiedergegeben wird. Bei der Erzählung von Worten kann es sich sowohl um Erzähler- als auch Figurentext handeln, der entweder in Erzählerrede, der erzählten und transponierten Rede bei Genette, oder in Figurenrede, der mimetischen Rede bei Genette, abgebildet wird. Entsprechend kann es zu einer Textinterferenz, einem unterschiedlich starken »Mischungsverhältnis«38 von Erzähler- und Figurentext in der Erzählerwie auch der Figurenrede, kommen. Um in einer Rede die Textinterferenz bestimmen zu können, hat Schmid einen Katalog von acht Merkmalen entwickelt. Demnach können Erzähler- und Figurentext hinsichtlich der Auswahl thematischer Einheiten und deren Bewertung, der grammatikalischen Verwendung von Personalformen, Tempora und Deiktika, verschiedener Sprachfunktionen sowie stilistischer Merkmale in Lexik und Syntax unterschieden werden.39 Eng verbunden mit der Wiedergabe von Erzähler- und Figurentext ist Schmids Typologie der narrativen Perspektive, die sich wiederum von Genettes Typologie unterscheidet. Ausgehend vom Verhältnis zwischen dem Sprechen des Erzählers und dem Wissen der Figur differenziert Genette drei Formen der Fokalisierung: erstens kann der Erzähler mehr sagen, als die Figur weiß (Nullfokalisierung), zweitens kann er genauso viel sagen, wie die Figur weiß (interne Fokalisierung), und drittens besteht die Möglichkeit, dass er weniger sagt und auch weiß, als die Figur (externe Fokalisierung).40 Schmid zufolge kann ein Erzähler jedoch nur »aus seiner eigenen, der narratorialen Perspektive erzählen oder einen figuralen Standpunkt übernehmen, d. h. aus der Perspektive einer oder mehrerer der erzählten Figuren erzählen«.41 Für die Bestimmung, inwieweit aus einer narratorialen oder figuralen Perspektive erzählt wird, lassen sich mit Schmid fünf Pa35 Ebd.; Kursivdruck im Original. 36 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2., verb. Aufl., Berlin 2008, S. 154. 37 Den Begriff ›Text‹ definiert Schmid, ebenso wie Genette, in einem weiten Sinne als »Komplex aller äußeren und inneren Reden, Gedanken und Wahrnehmungen der beiden Instanzen, des Erzählers oder der Figuren«, der sich als gedankliches Konstrukt aus der Gestalt der ›Rede‹ abstrahieren lässt und sich von dieser dahingehend unterscheidet, dass er »die Subjektsphäre der jeweiligen Instanz, ihre perzeptive, ideologische und sprachliche Perspektive in reiner, unvermischter Form enthält«; ebd., S. 157f. Durch den Transfer von Text in Rede ist die Figurenrede »als unvermischte Manifestation des Figurentextes fingiert« und kann durchaus »Merkmale des Erzählertextes enthalten«; ebd., S. 158f. 38 Ebd., S. 158. 39 Vgl. ebd., S. 186–188. 40 Vgl. Genette, Erzählung, S. 134. 41 Schmid, Elemente der Narratologie, S. 137; Kursivdruck im Original.

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rameter bilden. Demnach weist eine Perspektive räumliche, ideologische, zeitliche, sprachliche oder perzeptive Merkmale auf, mithilfe derer sich unterscheiden lässt, ob ein Geschehen aus einer kompakten narratorialen oder figuralen Perspektive bzw. aus einer distributiven Perspektive erzählt wird.42 Noch besser als am oben angeführten Beispiel aus Das dritte Buch über Achim lassen sich Schmids narratologische Elemente an einer Passage aus den Jahrestagen veranschaulichen. Im Tageskapitel vom 22. Februar 1968 heißt es: »Im 39. Psalm steht geschrieben: sagte Brüshaver. Das war die Lektion, und das war für diesen Tod nicht erlaubt.« (JT, 763) Der erste Teil des ersten Satzes umfasst Figurenrede des Pastors Wilhelm Brüshaver, die Figurentext wiedergibt. Der zweite Teil des ersten Satzes umfasst hingegen Erzählerrede mit Erzählertext in Form einer Inquit-Formel zum Zwecke der Leserlenkung. Um den Anschein zu vermitteln, dass es sich um vollmimetische Figurenrede handelt, verzichtet der Erzähler in Johnsons Werken häufig auf eben solche Markierungen der Redewiedergabe, doch gibt Schmid zu bedenken, dass auch die Auswahl der Figurenrede bereits eine Form des Erzählertextes darstellt.43 Folglich kann die narratoriale Perspektive sowohl im diegetischen als auch im nichtdiegetischen Erzählen auftreten.44 Beim zweiten Satz handelt es sich erneut um Erzählerrede, für die sich auch mithilfe der Merkmale Schmids nicht exakt bestimmen lässt, ob sie aus Erzähler-, Figurentext oder einer Mischung aus beidem besteht. Ähnlich verhält es sich beim Versuch, die Erzählperspektive zu bestimmen. Während im ersten Teilsatz auf Spezialwissen zur liturgischen Ordnung bei Begräbnissen zurückgegriffen wird, was auf eine narratoriale Perspektive hindeutet, kommt dem gesamten Satz eine kommentierende Funktion zu, was wiederum einen zeitlichen Abstand zum Geschehen und damit eine narratoriale Perspektive nahelegt. Dieser kurze Ausschnitt veranschaulicht die Textinterferenz und das Ineinandergreifen von Figuren- und Erzählerperspektive(n) zu einem mehrstimmigen und polyperspektivischen Erzähltext Jahrestage. Mit dem Stratifikationsmodell von Schmid ist es möglich, hybride Textpassagen wie diese auf 42 Vgl. ebd., S. 130–137, 142–152. Eine kompakte Perspektive liegt vor, wenn alle fünf Parameter entweder auf eine narratoriale oder eine figurale Perspektive hindeuten. Distributiv ist eine Perspektive, die hinsichtlich der Parameter sowohl narratorial als auch figural ist; vgl. ebd., S. 151f. 43 Vgl. ebd., S. 155f. Darüber hinaus weist Schmid auf die »funktionale Überdeterminierung« von Figurenrede hin, da sie neben der Funktion, figurale Inhalte auszudrücken, auch den Zweck erfülle, »die Figur zu charakterisieren und zugleich die Narration zu befördern«; ebd., S. 156. 44 Ebd., S. 138f. Die Unterscheidung von diegetischem und nichtdiegetischem Erzählen resultiert aus Schmids ontologischer Bestimmung der Erzählerposition: »Diegetisch soll ein Erzähler heißen, der zur Diegesis gehört, der folglich über sich selbst – genauer sein früheres Ich – als Figur der erzählten Geschichte erzählt. […] Der nichtdiegetische Erzähler gehört dagegen nur zur Exegesis und erzählt nicht über sich selbst als eine Figur der Diegesis, sondern ausschließlich über andere Personen«; ebd., S. 87.

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mehreren Ebenen zu beschreiben und sich der jeweiligen Erzählsituation anzunähern. Das Beispiel lässt auch erahnen, wie evident die Unterschiede im Gebrauch biblischer Intertexte zwischen Erzähler- und Figurentext sein können. Allein aufgrund der Position des Erzählers, der das Handlungsgeschehen aus einer retrospektiven Reflexion heraus wiedergibt und dominant für die Sprachgestaltung verantwortlich zeichnet, vermehren sich die Möglichkeiten, biblische Intertexte in ganz unterschiedlicher Form in den Text einzubinden. So bedient sich der Erzähler im Jahrestage-Kapitel vom 25. April 1968 eines Verweises auf Gen 1,2, um Gesines Chef, Vizedirektor de Rosny, als einen skrupellosen Kapitalisten zu beschreiben: »Wo ein Hausbesitzer noch zögerte, schlugen neben ihm die Abbruchkugeln zu, und das weite Feld wurde wüst und leer.« (JT, 1055) Beide Beispiele verdeutlichen, welche Bedeutung die Kategorien von Erzählerund Figurenrede sowie Erzähler- und Figurentext haben, um den Gebrauch biblischer Intertexte im Erzähltext hinsichtlich ihres Sprechers und dessen Perspektive einzuordnen und miteinander in Beziehung zu setzen.

2.2.2 Ebene 2: Intensität Auf einer zweiten Ebene dient Pfisters Modell der Skalierung von Intertextualität dazu, biblische Verweisformen in den Romanen Johnsons hinsichtlich ihrer intertextuellen Intensität zu beschreiben. Pfister unterscheidet in seinem Modell zwischen quantitativen und qualitativen Kriterien intertextueller Intensität. Mithilfe der quantitativen Kriterien der »Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge« sowie der »Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Prätexte« soll nach der Bedeutung von Intertextualität in einem Werk gefragt und ein Vergleich zwischen »einzelnen Autoren oder gar in einzelnen Epochen« ermöglicht werden.45 Im Gegensatz dazu lässt sich mithilfe qualitativer Kriterien die Intensität einzelner Verweise als auch die strukturelle Einbindung intertextueller Ketten in einen Text untersuchen. Von den sechs von Pfister aufgestellten Kriterien werden für das vorliegende Modell fünf übernommen. Einzig das der ›Kommunikativität‹ bleibt aufgrund der Entscheidung für einen rezeptionsästhetischen Zugang unberücksichtigt. Darüber hinaus werden Pfisters Kriterien aufgrund der Besonderheit des Prätextes Bibel um ein weiteres Kriterium ergänzt – das der ›Temporalität‹. Vergleicht man Pfisters Skalierungsmodell mit anderen Typologien zur Beschreibung intertextueller Erscheinungsformen, muss der Umfang des zur Verfügung gestellten Beschreibungsinventars hervorgehoben werden. Peter Stocker 45 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 30.

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entwirft in seiner 1998 erschienen Dissertation zur Theorie der intertextuellen Lektüre in der Folge von Genette46 eine Matrix von sechs Formen von Intertextualität.47 Diese ergeben sich aus der Kombination von zwei Kriterien: der Struktur (Einzeltext, Textklasse) und dem Modus (Zitieren, Thematisieren, Imitieren) des intertextuellen Verweises. In Pfisters Modell der Skalierung von Intertextualität werden diese beiden Bereiche weitgehend mit den Kriterien der ›Referentialität‹ und der ›Strukturalität‹ erfasst. Die ›Strukturalität‹ dokumentiert die »syntagmatische Integration der Prätexte in den Text«,48 sodass beim bloßen Anzitieren, wie es für Johnsons Bibelrezeption typisch ist, eine geringe intertextuelle Intensität vorliegt. Der maximale Grad an Intensität wird erreicht, wenn ein Prätext wie das Buch Jona für Johnsons Parabel Jonas zum Beispiel als strukturelle Folie eines Textes fungiert. Mit dem Kriterium der ›Referentialität‹ wird der Grad erfasst, in dem ein Prätext in einem Text thematisiert wird. Das Spektrum erstreckt sich von der Integration eines Intertextes in den Text, der »Übernahme einer fremden und sich dem eigenen Kontext nahtlos einfügenden Wendung«,49 wie der Verweis in Ingrid Babendererde50 auf das Hohelied der Liebe aus 1 Kor 13,13,51 bis hin zum Thematisieren der intertextuellen Beziehung, wie die Anspielung auf das jüdische Laubhüttenfest unter Hinweis auf das »3. Buch Mose, Levitikus XXIII, 43« (JT, 187)52 im Jahrestage-Kapitel vom 18. Oktober 1967. 46 In seiner 1982 veröffentlichten Monografie Palimpsestes. La littérature au second degré (dt. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe) entwirft Genette eine erste Typologie intertextueller Bezüge. Darin definiert er Intertextualität »als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte« und unterscheidet sie in drei Formen: das Zitat, das Plagiat und die Anspielung; Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993, S. 10. Intertextualität ist für Genette jedoch nur eine Form von Transtextualität, unter der er zudem Para-, Meta-, Archi- und Hypertextualität subsumiert; vgl. ebd., S. 10–15. Der Versuch Genettes, durch die Etablierung des Begriffs ›Transtextualität‹ auf die homonyme Verwendung von ›Intertextualität‹ im sprachphilosophischen sowie in einem konkret operationalisierbaren Sinne zu reagieren, konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Trotz einiger Kritik bildet Genettes Typologie aber bis heute die Grundlage weiterer Typologien intertextueller Bezüge. 47 Vgl. Peter Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn u. a. 1998, S. 49–72. 48 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 28. 49 Ebd., S. 26. 50 »Auch war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe und niemals Zuversicht« (IB, S. 183; Hervorhebung P. O.). 51 »13Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen«; 1 Kor 13,13; Hervorhebung P. O. 52 »Heute bei Sonnenuntergang beginnen die Juden das Fest der Laubhütten, Sukkoth. Für die Orthodoxen unter ihnen dauert es neun Tage, die Reformierten feiern nur acht. Die Bibel verfügt das Fest im 3. Buch Mose, Levitikus XXIII, 43: ›damit eure Nachkommen erfahren, daß ich die Israeliten in Hütten habe wohnen lassen, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte (ich, der Herr, euer Gott)‹« (JT, 187).

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Ohne sich wie Stocker begrifflich einzugrenzen, umreißt Pfister mit der Definition von ›Strukturalität‹ die Differenzierung von Einzeltext- und Systemreferenz, wohingegen ›Referentialität‹ die drei Modi des Zitierens, Thematisierens und auch Imitierens einschließt. Obwohl Pfister auf konkrete Formen der Intertextualität verzichtet, besticht sein Skalierungsmodell durch ausdifferenzierte Kriterien, die sich besonders eignen, Übergange von einer Form zur anderen mit unterschiedlichen Graden intertextueller Intensität zu beschreiben. Überdies fällt unter das Kriterium der ›Referentialität‹ der Komplex der ›Markierung von Intertexten‹, der wiederholt Interesse innerhalb der Intertextualitätsforschung hervorgerufen hat. Die Markierung eines Intertextes dient aber nicht, wie Pfister annimmt, dem Vorhaben des Autors zu signalisieren, dass er sich »des intertextuellen Bezugs bewußt ist« und »davon ausgeht, daß der Prätext auch dem Rezipienten geläufig« sei.53 Ebenso wenig muss der Verzicht auf eine Markierung in erster Linie auf das Bestreben des Autors zurückzuführen sein, einen intertextuellen Verweis »grundsätzlich als solchen zu verschleiern«.54 Vielmehr sollte einem Hinweis von Susanne Holthuis Beachtung geschenkt werden, dem zufolge bei einem intertextuellen Bezug der Prätext »nicht wirklich als Text eingespielt wird«.55 Stattdessen erfolgt eine Verarbeitung der Vorlage, die bei sprachlicher Anpassung an den Text samt fehlender Markierung gewährleistet, dass der Erzählfluss aufrechterhalten wird. Insofern lässt sich eine bewusste Markierung eher als explizite Referenz deuten, als eine erste Form der Thematisierung eines Prätextes, mit der dem Leser etwas über die fiktionale Welt mitgeteilt werden soll. Mit einem dritten Kriterium erfasst Pfister, wie pointiert ein Element aus einem Prätext ausgewählt und in den Text integriert ist. Die ›Selektivität‹ eines Intertextes erstreckt sich zwischen den Extremen des »wörtliche[n] Zitat[s] aus einem individuellen Prätext«, so etwa mit der wörtlichen Wiedergabe von Lev 22,43 aus der revidierten Lutherbibel von 1912 im Jahrestage-Kapitel vom 18. Oktober 1967, und dem »Bezug zwischen Texten allein aufgrund ihrer Tex53 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 27. 54 Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematisierung und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996, S. 87. Entsprechend bemerkt Rüdiger Zymner für den Komplex der Anspielung, dass »nach meinen Beobachtungen prägnante Einzelausdrücke oder Formulierungen innerhalb eines Textes sowie sentenziöse und/oder aus dem Kontext leicht isolierbare längere Passagen (also typische Kandidaten für ›aphoristische‹ Blütenlesen) als Anspielungs-Material deutlich geeigneter [sind] als eben ›unauffällige‹ Passagen. Gelegentlich reicht schon die Position als Anfangs- oder als Schlußformulierung eines Textes aus, um Ausdrücke, Formulierungen oder auch längere Passagen als anspielungsfähiges Material auszuzeichnen«; Rüdiger Zymner: Anspielung und Kanon, in: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart/Weimar 1998, S. 30–46, hier: S. 34. 55 Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsästhetischen Konzeption, Tübingen 2003, S. 6.

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tualität«, was Pfister als die »periphere Schwundstufe von Intertextualität« definiert.56 Unter dem Kriterium der ›Selektivität‹ lassen sich somit zwei von drei Formen subsumieren, die Genette seinem Typus der intertextuellen Transtextualität zuordnet – das Zitat und die Anspielung.57 Der Grad der Markierung, den Genette für die Unterscheidung zwischen einem Zitat und einem Plagiat geltend macht,58 kann für das Kriterium der ›Selektivität‹ nicht übernommen werden. Für das Ausmaß an (direkter) Entnahme aus einem Prätext ist es irrelevant, ob diese markiert oder unmarkiert ist.59 Indes spielt die Markierung beim vierten Kriterium des Skalierungsmodells erneut eine zentrale Rolle. Unter dem Parameter der ›Autoreflexivität‹ werden Formen intertextueller Markierung erfasst, die über Anführungszeichen oder die Nennung des Prätextes hinausgehen. Stattdessen geht es darum, inwieweit in einem Text dessen Intertextualität thematisiert und reflektiert, »ihre Voraussetzungen und Leistungen [ge]rechtfertigt oder problematisiert«60 werden. Jörg Helbig erfasst diese Formen intertextueller Markierung in seinem Vier-StufenModell mit der Potenzierungsstufe61 und nennt als ein Erkennungsmerkmal »meta-kommunikative Verben zur Bezeichnung der Rezeption von Texten wie: lesen, vorlesen, ablesen, rezipieren, zitieren, rezitieren, deklamieren, etc.«62 Angewandt auf die Bibelrezeption Johnsons trifft man auf Formen der Autoreflexivität insbesondere in religiösen Kontexten. Im Jahrestage-Kapitel vom 21. Februar 1968 fasst der Erzähler Brüshavers Predigt unter Angabe der Bibelstelle zusammen und erwähnt stattdessen die Stellen des biblischen Kapitels, die nicht Teil der Predigt sind: Brüshaver fing an mit Matthäus 18, mit der Bedingung für den Eintritt in das Königreich des Himmels: wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder. […] (Brüshaver ließ die Stelle aus, die von der Notwendigkeit solcher Übel in der Welt handelt und dem Elend androht, der es bewirkt.) (JT, 760)

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Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 28. Vgl. Genette, Palimpseste, S. 10. Vgl. ebd. Vermuten lässt sich, dass Helbigs These, der unmarkierten wörtlichen Übernahme in einem literarischen Text liege ein Verschleierungswunsch des Autors zugrunde, auf die Unterscheidung Genettes zurückgeht. Der pejorative Ausdruck ›Plagiat‹ ist jedoch für die literarische Übernahme von Teilen eines Prätextes, ohne diese zu markieren, wenig geeignet und wird im Folgenden durch die Unterscheidung von markierten und unmarkierten Zitaten ersetzt. 60 Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 27. 61 Helbig unterscheidet zwischen der Thematisierung von Textreferenzen (Potenzierungsstufe), explizit markierten (Vollstufe), implizit markierten (Reduktionsstufe) und unmarkierten Intertexten (Nullstufe); vgl. Helbig, Intertextualität und Markierung, S. 83–142. 62 Ebd., S. 131.

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Solche Formen der Reflexion sind auch in der Darstellung von Alltagssituationen wie im Jahrestage-Kapitel vom 17. Januar 1968 zu finden, in dem der Erzähler eine Begründung für die nachfolgende Integration von Zitaten aus Mt 10 voranstellt: Und Lisbeth hatte nicht nur erinnert, sondern auch nachgelesen, was der Mecklenburgische Christliche Hauskalender für den 29. Oktober 1937 empfahl; Matthäus 10, Vers 34 bis 42. Sie habe es damals gehört. (Think not that I am come to send peace on earth: I came not to send peace, but a sword.) […] (And whosoever shall give to drink unto one of these little ones a cup of cold water only…) […]. (JT, 604f.; Kursivdruck im Original)

Mit dem fünften qualitativen Kriterium greift Pfister Bachtins Begriff der ›Dialogizität‹ auf und überträgt diesen auf sein Modell. Demnach erhöhe sich der Grad an intertextueller Intensität eines Textes, »je stärker der ursprüngliche und der neue Zusammenhang in semantischer und ideologischer Spannung zueinander stehen«.63 Dass solche Spannungen bereits durch geringfügige Veränderungen entstehen können, zeigt die Modifikation von Mt 18,3 im JahrestageKapitel vom 21. Februar 1968: »wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder« (JT, 760). Sowohl die Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 als auch die Lutherbibel von 1912 übersetzen das griechische γίγνομαι mit ›umkehren‹. In den Jahrestagen hingegen wird der Ausdruck ›wandeln‹ gebraucht und erzeugt eine Differenz zum biblischen Prätext. Die größtmögliche Spannung wird jedoch nicht zwangsläufig durch die Umkehrung der Semantik eines Intertextes erzielt, sondern vielmehr durch eine »differenzierte Dialektik von Anknüpfen und Distanznahme«.64 Entsprechend liegt eine hohe intertextuelle Intensität vor, wenn ein Intertext wie der auf Röm 13,1 zurückgehende Themenkomplex zum Verhalten gegenüber der Obrigkeit, der bereits in Johnsons Erstling und in der Parabel Jonas zum Beispiel angelegt ist, reflektiert wird.65 Ihren Höhepunkt an Dialogizität erreicht der Themenkomplex in den Jahrestagen durch die Gegenüberstellung von Röm 13,1 mit Apg 5,29.66 Eine deutlich geringere intertextuelle Intensität liegt hingegen vor, wenn die Bibel nur als Quelle, als argumentum ad auctoritatem verwendet wird, um wie im Jahrestage-Kapitel vom 26. Januar 1968 »neun Stellen« (JT, 646) zum Suizid in der Heiligen Schrift anzuführen. Mit der sechsten und letzten Kategorie, die nicht Bestandteil von Pfisters Modell ist, soll der Spezifik der Heiligen Schrift als einem kanonischen Text mit

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Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 29. Ebd. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.3; Erster Teil, Kap. 1.3. Vgl. Dritter Teil, Kap. 3.1.3.

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einer langen Auslegungsgeschichte Rechnung getragen werden.67 Die ›Temporalität‹ dient der Bestimmung, ob ein biblischer Verweis auf direktem/primärem oder aber sekundärem Weg in den Text eingespielt wird. Sekundäre Bezugnahmen können dabei von ganz unterschiedlicher Art sein und finden sich in den Romanen Johnsons in vielerlei Form. So werden über dogmatische,68 liturgische69 und kirchengeschichtliche Dokumente70 ebenso biblische Stellen und Bücher in die Romane Johnsons eingespielt wie über literarische Werke,71 Filme72 und

67 Eben dieser Spezifik des kanonischen Textes Bibel und dem Charakter religiöser Motive, Traditionen und Erzählungen als komplexe Denkkonstrukte versucht Carina Abs in ihrer Dissertation alternativ dadurch Rechnung zu tragen, dass sie den Terminus technicus ›Intertextualität‹ durch ein Konzept von Internarrativität ersetzt. Unter dem Begriff ›Narration‹ fasst Abs »alle möglichen Texte mit ihren jeweiligen Kontexten« zusammen, somit neben den biblischen Texten und kirchlichen Dogmen auch »jegliche Traditionen, Konzeptionen, jede Art von Überlieferungen oder kulturstiftende Dokumente, kirchliche oder theologische Vorstellungen sowie Lieder oder allgemein Musik [sic!] aber auch mündliche Erzählungen«; Carina Abs: Denkfaule Hoffnung? Anfragen an Erlösungsnarrationen bei Alfred Döblin, Christine Lavant und Friedrich Dürrenmatt, Ostfildern 2017, S. 55. Auch wenn sich religiöse Traditionen und Vorstellungen mitunter nur schwer auf konkrete Bibelstellen zurückführen lassen, bisweilen auch alternative Quellen der Denkkonstrukte möglich sind, bietet das Konzept der biblischen Intertextualität gegenüber dem der religiösen Internarrativität den Vorteil der Operationalisierbarkeit. Wo liegen die Grenzen religiöser Vorstellungen und Phänomene und inwieweit sind sie einem Text inhärent oder werden durch den Rezipienten an diesen herangetragen? Diese und ähnliche Fragen bleiben in Abs’ Studie offen – und können es aufgrund ihres eingegrenzten Gegenstandsbereichs auch bleiben. 68 Vgl. u. a. JT, 757 mit der sinngemäßen Wiedergabe aus Dietrich Bonhoeffers Ethik: »Gewiß verbietet die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich. Aber es ist an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt. Es war nun einmal so, daß der Selbstmord die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung«; vgl. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, in: ders.: Werke, hg. von Eberhard Bethge u. a., Bd. 6, hg. von Ilse Tödt u. a., München 1992, S. 195f. 69 Vgl. hierzu etwa der Verweis auf die von Jakob besuchte »Predigt in Sachen Auferstehung« (JT, 1599) im Jahrestage-Kapitel vom 22. Juli 1968. 70 Vgl. etwa die Auseinandersetzung mit der Stuttgarter Erklärung in Ingrid Babendererde und den Jahrestagen (vgl. IB, 106; JT, 1612). Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.3; Dritter Teil, Kap. 3.2. 71 In den Mutmassungen über Jakob entsteht durch die Anspielung auf Christian Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne sowohl durch den historischen Kontext als auch durch den Kontext des Zitats im Prätext ein Bezug zur Heiligen Schrift, insbesondere zur Opferpraxis, die u. a. in Ex 29,38f. fixiert ist: »Was wollen sie? sie wollen nicht dass das Lamm der Witwe gestohlen werde. Die Gerechtigkeit ist ein Nichtwollen. (Sie wollen: dass jedermann sein Lamm behalte und kein Streit mehr stattfinde um Lämmer, jeder besitze die gleiche Zahl von ihnen.)« (MJ, 97f.; Hervorhebung P. O.); vgl. Christian Friedrich Hebbel: Herodes und Mariamne, in: ders.: Werke in vier Bänden, nebst zwei Ergänzungsbänden, hg. von Friedrich Brandes, Bd. 2: Judith – Genoveva – Der Diamant – Maria Magdalena – Ein Trauerspiel in Sizilien – Julia – Herodes und Mariamne – Der Rubin, Leipzig [1912], S. 392–495, hier: S. 456. 72 In den Jahrestagen wird Zbyneˇk Brynchs Film The Fifth Horsemen Is Fear unter Bezugnahme auf Offb 6,1–8 (vgl. JT, 1135, 1168, 1178f.) thematisiert. Daneben wird in Johnsons Fragment gebliebener Erzählung Marthas Ferien auf den Film Sodom und Gomorrha von Mihály Kertész rekurriert, der wiederum auf die biblische Erzählung des Untergangs von Sodom und Gomorrha in Gen 19 Bezug nimmt; vgl. Uwe Johnson: Marthas Ferien, in: ders.: Versuch,

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Musikstücke,73 historische Reden und Dokumente,74 aber auch über religiöse Feiertage,75 Namen,76 geflügelte Bibelworte und Spracheigenheiten, die biblischen Ursprungs sind und Eingang in die Gegenwartssprache gefunden haben.77 Mithilfe der Ebenen der Narrativität und Intensität lassen sich biblische Intertexte bereits umfassend analysieren und miteinander in Beziehung setzen. Auf einer dritten Ebene soll verstärkt der Kontext in den Blick genommen werden, in den der jeweilige Intertext eingespielt wird.

2.2.3 Ebene 3: Diskursivität Bezeichnet Gojny biblische Intertextualität in literarischen Texten als »eine andere art der Auslegung«,78 so verweist sie implizit auf den Umstand, dass Intertexte bei der Integration in einen Text funktionalisiert werden. Im Gegensatz zur theologischen Auslegung, die das Ziel verfolgt, den biblischen Text zu interpretieren oder zu generalisieren, zu aktualisieren oder zu kontextualisieren, orientiert sich die literarische ›Auslegung‹ des Prätextes Bibel in der Regel am

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einen Vater zu finden. Marthas Ferien, hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1988, S. 35–50, hier: S. 49. Im Folgenden mit der Sigle ›MF‹ zitiert. Vgl. etwa den Spiritual Go down Moses in Ingrid Babendererde (vgl. IB, 121), in dem der Auszug aus Ägypten thematisiert wird, oder die Erwähnung von Pete Seegers Turn! Turn! Turn!, einer Adaption von Pred 3,1–8, in den Jahrestagen (vgl. JT, 1072). So beim Hinweis auf den Gebrauch religiöser Terminologie in Adolf Hitlers Rundfunkansprachen vom 21. Juli 1944 und 30. Januar 1945 in Heute Neunzig Jahr: »Juli 1944, das Bombenattentat auf Hitler, Verdämmungswirkung durch Barackenbau verringert, ich fasse es als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf« (HNJ, 114; Kursivdruck im Original) mit einer messianischen Stilisierung durch den Begriff ›Vorsehung‹ (vgl. etwa Apg 2,22f.) und »Ansturm der Steppe, Hitlers letzte Rundfunkrede am 30. Januar, tausend Jahre gleich zwölf, innerasiatische Sturmflut, einen Tag später erreicht die Rote Armee die Oder bei Frankfurt/O. und Küstrin« (HNJ, 117; Kursivdruck im Original) mit dem Verweis auf das tausendjährige Reich in Offb 20,1–6. Nennen lassen sich hier insbesondere die jüdischen Feste, aber auch die Bezüge auf das evangelische Kirchenjahr in den Jahrestagen. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 1. Vgl. hierzu vor allem die Thematisierung eines (möglichen) biblischen Hintergrunds der Namen ›Cresspahl‹ (vgl. JT, 1253) und ›Martha‹ (MF, 47). Die Liste der geflügelten Bibelworte ist lang und reicht von der einmaligen Einarbeitung von ›ein Herz und eine Seele sein‹ aus Apg 4,32 in Das dritte Buch über Achim (vgl. DBA, 152) bis hin zu den vielfachen Anspielungen auf ›Macht/Pracht und Herrlichkeit‹ aus Ez 31,18 (vgl. auch Lk 4,6) in Ingrid Babendererde (vgl. IB, 172), in Das dritte Buch über Achim (vgl. DBA, 234), in Jahrestage (vgl. u. a. JT, 1053, 1350) und auch in Eine Reise wegwohin, 1960 (KP, 43). Daneben bedient sich Johnson biblischer Syntax und Sprache und reflektiert diese wie bei der bereits erwähnten sarkastischen Verarbeitung des offenen Briefes von Hans Magnus Enzensberger an den Präsidenten der Wesleyan University vom 29. Februar 1968 im Jahrestage-Kapitel desselben Datums: »In der Welt; es klingt so alltäglich. Nein: auf Erden. Feierlich nachhallend. Biblisch allemal.« (JT, 795) Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 5.1. Vgl. Erster Teil, Kap. 2.1, Anm. 17.

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

literarischen Text. Damit soll nicht geleugnet werden, dass biblische Intertexte einen literarischen Text prägen können – Johnsons Parabel Jonas zum Beispiel ist beispielgebend hierfür. Im Gegensatz zu dieser Sonderform in Johnsons Prosawerk haben die Beispiele aus seinen Romanen einen Eindruck davon vermittelt, dass die biblischen Bezugnahmen in der Regel nicht in einen souveränen, losgelösten Diskurs treten, sondern in den Kontext des Textes eingebettet sind. So wird die auf Lk 2,14 zurückgehende Wendung von den ›Menschen guten Willens‹, die in Das dritte Buch über Achim an zehn Stellen aufgegriffen wird, innerhalb des Romans aus dem ursprünglich biblisch-kirchlichen Kontext herausgelöst und durch die Figurenrede des Staatsvertreters Fleisg zunächst als Element politischer Sprache in der DDR dokumentiert (vgl. DBA, 36). Durch die Komparation einer phraseologischen Wendung (vgl. DBA, 179) und die pointierte Platzierung innerhalb des Romangeschehens wird diese politische Sprache am Beispiel der Formel von den ›Menschen guten Willens‹ ironisiert und dient der Erzählinstanz als Mittel der Kritik an einer semantisch leeren politischen Propaganda. Der Wahl des Intertextes, das wird durch das Beispiel deutlich, liegt eine konkrete Auswahl zugrunde, die wiederum nicht willkürlich erfolgt, sondern von bestimmten Machtstrukturen gelenkt wird. Im konkreten Fall ist es die politische Sprache der DDR, in deren Repertoire die kirchliche Wendung aus Gründen der Friedenspropaganda aufgenommen wurde und so die Auswahl der Erzählinstanz leitet. Machtstrukturen regeln, was geäußert wird (und was nicht), aber auch, wie sich bestimmter Aussagen ›bemächtigt‹ wird. Entsprechend gelingt es dem Erzähler in Das dritte Buch über Achim, die Widersprüche in der Friedenspropaganda des ostdeutschen Staates durch die Integration der Wendung in den Kontext feindlicher Abgrenzung des sozialistischen Ost- vom kapitalistischen Westdeutschland zu stellen. Diese ersten Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass der von der Heiligen Schrift ausgehende theologische Diskurs eines biblischen Intertextes durch die Integration in einen literarischen Text durch die Machtstrukturen der in den Text eingeschriebenen gesellschaftlichen Diskurse näher bestimmt wird. So wird die auf Lk 2,14 zurückgehende Formel in einen politischen (Friedenspropaganda in der DDR) und einen sprachlichen Diskurs (Sprachkritik an der politischen Sprache in der DDR) überführt.79 Dieser kulturgeschichtliche Zugang ermöglicht auf einer historisch konkreten Ebene, die Verwendung biblischer Intertexte innerhalb eines Textes diskursiv zu verorten. In Grundzügen orientiert sich die diskursive Verortung an Michel Foucaults historisch-genealogischer Diskursanalyse – auch wenn es im Grundsatz unmöglich ist, von der Foucault’schen Diskursanalyse zu sprechen. Offen-

79 Vgl. hierzu näher Zweiter Teil, Kap. 3.3.1.

Ebenen biblischer Intertextualität

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kundig wird dies bereits, wenn Foucault in der Archäologie des Wissens seine »mäandrierende Verwendungsweise[]«80 des Diskurs-Begriffs reflektiert: Schließlich glaube ich, daß ich, statt allmählich die so schwimmende Bedeutung des Wortes ›Diskurs‹ verengt zu haben, seine Bedeutung vervielfacht habe: einmal allgemeines Gebiet aller Aussagen, dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierbare Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet; und habe ich nicht das gleiche Wort Diskurs, das als Grenze und als Hülle für den Terminus Aussage hätte dienen sollen, variieren lassen, je nachdem ich meine Analyse oder ihren Anwendungspunkt verlagerte und die Aussage selbst aus dem Blick verlor?81

Obwohl sich die erste von den beiden folgenden Begriffsbestimmungen unterscheidet, haben sie alle gemein, dass sie ein ›Feld von Aussagen‹ bestimmen. Während der Diskurs im ersten Fall als Singular zu begreifen ist, kommt es in der zweiten und dritten Begriffsbestimmung zu einer Ausdifferenzierung in verschiedene Diskurse und Diskurselemente. Einmal handelt es sich um eine Gruppe von Aussagen, das andere Mal um die diesen Aussagen zugrundeliegenden Regeln, die zur Konstitution eines Diskurses führen. Nimmt man die spätere Ausdifferenzierung zur Grundlage, lässt sich ›Diskurs‹ mit den Worten Foucaults als »Ort des Auftauchens der Begriffe«82 bestimmen, der Rolf Parr zufolge eine bestimmte Sphäre, einen Bereich der Gesellschaft, von dem er handelt, »zugleich selbst systematisch hervorbringt«.83 Achim Geisenhanslüke konstatiert, dass Foucault mit dieser Bestimmung weniger »an die Themen selber«84 denke, sondern »diesseits von jeder Option, von jeder thematischen Bevorzugung ein Feld strategischer Möglichkeiten«85 definiere, und nimmt damit auf den nur wenig später in die Archäologie des Wissens eingeführten Terminus technicus der ›diskursiven Formation‹ Bezug. Als diskursive Formation bestimmt Foucault die auf Ähnlichkeit gründende Struktur eines Diskurses, die bestimmten Formationsregeln folge.86 Während in der Archäologie des Wissens der Blick auf die innere Strukturierung von Diskursen gerichtet ist, rücken spätestens in Die Ordnung des Diskurses, Foucaults Antrittsvorlesung am Collège de France, auch die von außen auf Diskurse einwirkenden Formationsregeln in den Fokus der Betrachtung:

80 Rolf Parr: Diskurs, in: Clemens Kammler/ders./Ulrich Johannes Schneider (Hg.): FoucaultHandbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2008, S. 233–237, hier: S. 233. 81 Michel Foucault: Archäologie des Wissens, aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1981, S. 116. 82 Ebd., S. 91. 83 Parr, Diskurs, S. 234. 84 Achim Geisenhanslüke: Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg 2008, S. 82. 85 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 56. 86 Vgl. ebd., S. 58.

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Biblische Intertextualität – Eine Typologie

Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.87

Als Prozeduren der Regulierung benennt Foucault zum einen Formen der Ausschließung, von denen das Verbot die »sichtbarste und vertrauteste ist«, weil sie erfasst, »daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann«.88 Neben Prozeduren der Ausschließung führt Foucault Formen der Verknappung des Diskurses an: den Kommentar, die Disziplinen89 und den Autor »als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts«.90 Als dritte Prozedur der Diskursregulierung begreift Foucault Formen der »Verknappung der sprechenden Subjekte«,91 sprich eine Reglementierung des Zugangs zu Diskursen, etwa durch Rituale, die Setzung von Tabus oder die Erziehung. Diese Formen der Ausschließung und Verknappung bilden einen Wandel in Foucaults Denken ab, das sich von der Vorstellung einer Archäologie des Wissens als einer Analyse der Struktur von Diskursen hin zu einer Genealogie des Wissens entwickelt, wonach Diskurse »stets auch mit Machteffekten verbunden sind«.92 Wie solche Machteffekte die Auswahl und Integration eines biblischen Intertextes in einen Text lenken können, wurde durch die Integration der auf Lk 2,14 zurückgehenden Wendung von den ›Menschen guten Willens‹ in Das dritte Buch über Achim in Grundzügen vorgeführt. Insofern erscheint es hilfreich, der Analyse biblischer Intertexte neben einer strukturalen auch eine diskursive Analyse zugrunde zu legen.

87 Michael Foucault: Die Ordnung des Diskurses, aus dem Französischen übers. von Walter Seitter, 11. Aufl., Frankfurt am Main 2010, S. 10f. 88 Ebd., S. 11. 89 Unter den Disziplinen versteht Foucault nicht die Wissenschaften, sondern »ein Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses«, mit dem der Produktion »durch das Spiel einer Identität, welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der Regeln hat«, Grenzen gesetzt werden; ebd., S. 25; Kursivdruck im Original. 90 Ebd., S. 20. 91 Ebd., S. 26. 92 Parr, Diskurs, S. 235.

Ebenen biblischer Intertextualität

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2.2.4 Noch einmal: Jonas zum Beispiel Bevor in den weiteren Teilen dieser Arbeit mithilfe der entworfenen Typologie Formen und Funktionen der Bibelrezeption in den Romanen Johnsons herausgearbeitet werden, soll die Anwendung der drei Ebenen biblischer Intertextualität – die Narrativität, Intensität und Diskursivität – an der bereits analysierten Parabel Jonas zum Beispiel exemplarisch vorgeführt werden. Die in den vergangenen Kapiteln angeführten Beispiele aus Johnsons Romanen haben die zentrale Differenz zur Jonas-Parabel zutage gefördert, mit der sich Riedels Klassifizierung der Parabel als eine Sonderform begründen lässt.93 Während in den Romanen ganz unterschiedliche Diskurse durch pointierte biblische Intertexte konstituiert werden, wird die Diskursivität in Jonas zum Beispiel auf eine andere Weise erzeugt. Das biblische Buch Jona dient als strukturelle und inhaltliche Folie, der Prätext fungiert als grundlegende Erzählebene des neu entstandenen Textes. Die modifizierte Diskursivität des Textes entsteht nicht über biblische »Signalvokabeln«,94 sondern anhand von Durchbrechungen der biblischen Vorlage, die dem Erzähler wie auch den Figuren Jona und Jehova zugeschrieben werden. Diese Durchbrechungen verweisen auf eine zweite Ebene der Parabel, die Gegenwartsebene. In der Kombination beider Erzählebenen werden die ursprünglichen biblischen Diskurse aktualisiert. Das Resultat sind ein politischer und ein sprachlicher Diskurs. Eine viel diskutierte Stelle in Johnsons Parabel bildet die abschließende Rede, die Jehova an seinen Propheten richtet, nachdem Jona bekundet hat, dass ihm sein Leben verleidet sei: Da sagte Jehova, sein Herr: Dich jammert des Rizinus, um den du keine Mühe hattest, der groß gewachsen ist und verdorben von einem Morgen zum anderen. Warum jammert dich nicht der großen Stadt Ninive, in der über hundertundzwanzigtausend Menschen sind, die zwischen links und rechts noch nicht unterscheiden können, dazu die Menge Vieh? (KP, 84)

Nach einer einleitenden Formel des Erzählers, strukturell deckungsgleich mit der biblischen Vorlage in Jona 3,10f., folgt die längste Figurenrede der Parabel. Die Figurenrede ist wie im Buch Jona von der Erzählerrede durch einen Doppelpunkt getrennt. Sie enthält ausschließlich Figurentext, die Anklage Jonas durch seinen Gott Jehova, die nach einem Aussagesatz in eine rhetorische Frage mündet. Die strukturellen Parallelen zwischen der Gottesrede im Buch Jona und in Jonas zum Beispiel führen zu einer hohen Strukturalität des biblischen Inter93 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.3, Anm. 90. 94 Holger Helbig: Beschreibung einer Beschreibung. Untersuchungen zu Uwe Johnsons Roman Das dritte Buch über Achim, Göttingen 1996, S. 110, Anm. 131. Helbig zufolge stellt es eine Eigenart von Johnsons Prosa dar, intertextuelle Kontexte über Signalvokabeln aufzurufen.

90

Biblische Intertextualität – Eine Typologie

textes. Von ähnlich hoher intertextueller Intensität ist die Passage hinsichtlich ihrer Selektivität. Bis auf wenige Abweichungen ist der Redegegenstand direkt aus der Bibel zitiert. Dieser Befund geht mit einer geringen Intensität hinsichtlich der Parameter Referentialität und Autoreflexivität einher. Nahtlos ist der biblische Prätext in die Parabel integriert, eine Thematisierung der Intertextualität findet innerhalb des Textes nicht statt. Dies wiederum lässt sich darauf zurückführen, dass eben nicht eine Bibelstelle in einen bereits bestehenden Werkkontext eingefügt wird, sondern der Prätext selbst die Grundlage des Werkes darstellt. Selbst unter Berücksichtigung des sechsten und letzten Abschnitts, der ebenso wie die Exposition in dieser Form nicht Bestandteil des Buches Jona ist, erhöht sich der Grad an Referentialität und Autoreflexivität nicht. Der gesamte Abschnitt ist sowohl lexikalisch95 als auch syntagmatisch96 dem Duktus der Heiligen Schrift nachempfunden und steht im Einklang mit dem vorherigen Intertext. Dass es sich bei Johnsons Parabel nicht um eine Nachahmung der biblischen Vorlage handelt, wurde bereits unter Verweis auf zahlreiche Durchbrechungen betont. Die Folge dieser durch pointierte Modifikationen erzeugten Durchbrechungen, wie die Umkehr der Wendung »rechts und links«97 oder die Anpassung der Redestruktur von einer auf sich selbst bezogenen rhetorischen Frage Jehovas zu einer direkten Ansprache des Propheten, sind Spannungen zwischen Text und Prätext. Die Gegenwartsebene der Parabel konstituierend, verweisen sie auf den zeithistorischen Hintergrund des Erzählers. Dieser hohe Grad an Dialogizität wird innerhalb des Textes durch Auslassungen religiöser Passagen wie dem Psalm des Propheten im Bauch des Fisches verstärkt. Der biblische Prätext wird so in seiner Übertragung säkularisiert. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass es sich beim Buch Jona hinsichtlich der Temporalität um einen primären Intertext handelt, lässt sich eine ausgesprochen hohe Intensität des Intertextes konstatieren. Dennoch gelingt es dem Erzähler, sowohl in der Erzählerrede als auch, wie im vorliegenden Beispiel, in der Figurenrede, eine so intensive Spannung zwischen Prätext und Text zu erzeugen, dass der ursprünglich theologische Diskurs grundlegend verändert wird. Die theologische Prophetenerzählung, in deren Zentrum JHWH als ein Gott der Reue und der Gnade steht, wandelt sich zu einem »politische[n] und ästhetische[n] Krisenbarometer«.98 Der in erster Linie theologische Diskurs wird 95 Auf lexikalischer Ebene erzeugen Lexeme wie ›Angesicht‹, ›sündigen‹ oder die Quadrierung der Numerale ›vierzig‹ einen biblischen Duktus. 96 Syntagmatisch verweisen die Frageform der drei Verhaltensmöglichkeiten von Jonas und die prophetische Wendung ›wer weiß‹, die sich in Jona 3,9 wiederfindet, auf die Struktur des biblischen Prätextes. 97 Jona 4,11 [Zürcher 1931]. 98 Vgl. Erster Teil, Kap. 1, Anm. 220.

Ebenen biblischer Intertextualität

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durch die vom Erzähler vorgenommenen Veränderungen in einen politischen Diskurs überführt, der in engem Zusammenhang mit einem sprachlichen Diskurs steht. Die Umkehr der biblischen Wendung ›rechts und links‹ trägt zur Konstitution eines sprachlichen Diskurses bei, indem die inhaltliche Entleerung des von Jehova Gesprochenen hervorgehoben wird. Die Umstellung der Struktur von Jehovas abschließender Rede bildet überdies die Demagogie der obrigkeitlichen Rede ab, die nicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung, sondern auf die Anklage des Propheten hinausläuft. Durch die Konsequenzen, die der Erzähler für sein Erzählen zieht, indem er den Text mit dem sechsten Abschnitt wieder für den inhaltlichen Austausch öffnet, wird der sprachliche Diskurs um poetologische Aspekte erweitert. Darüber hinaus verweist die Umkehr der biblischen Wendung auf eine Obrigkeit, die jene Kategorien von ›rechts‹ und ›links‹ bzw. ›richtig‹ und ›falsch‹ umgekehrt hat. Jene moralischen Kategorien sind damit der Willkür einer Obrigkeit preisgegeben, die jenseits von ›richtig‹ und ›falsch‹ nur darauf aus ist, ihre Macht zu erhalten. Im Kontext der Parabel trägt die Modifikation des Intertextes dazu bei, den politischen Diskurs im Text zu stiften, der durch den Konflikt zwischen Jona und Jehova geprägt wird.

3.

Zur Ordnung biblischer Intertexte

Mit der vorliegenden Typologie, mit der biblische Intertexte auf drei Ebenen analysiert werden können, wurde ein mehrschichtiges Analyseverfahren entwickelt, das im Folgenden auf das Textkorpus angewendet werden soll. Das Ziel besteht darin, die Strukturen und Funktionen der Bibelrezeptionen in Johnsons Romanen zu erschließen. Der Typologie kommt dabei die Rolle eines analytischen Hilfsmittels zu, mit dem unterschiedliche Verweisformen auf die Heilige Schrift beschrieben und in ein Verhältnis gesetzt werden können. Die Ebene der Diskursivität ist für die Darstellung der Analyseergebnisse strukturbildend. Vor dem Horizont einer diskursiven Zuordnung werden die verschiedenen Intertexte analysiert und interpretiert, wie es für die Parabel Jonas zum Beispiel angedeutet wurde. Das narrative Beschreibungsinventar von Schmid ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, wird aber nicht für jede Bezugnahme expliziert. Eine Einordnung in die Klassifikationen der Redewiedergabe bzw. der Erzählperspektive wird vor allem an den Stellen vorgenommen, an denen es wie in der Figurenrede der Jonas-Parabel zur Abweichung vom für den Text dominanten Modus der Rede bzw. der vorherrschenden Erzählperspektive kommt. Ähnlich verhält es sich mit der Ebene der intertextuellen Intensität, die als ein Hilfsmittel und nicht als typologisches Korsett fungieren soll. Die leicht modifizierten Kategorien des Skalierungsmodells von Pfister werden auf die Intertexte und mit den Parametern angewandt, für die ihre Berücksichtigung von interpretatorischem Gewinn ist. Im zurückliegenden ersten Teil wurde wiederholt auf diskursive Überschneidungen zwischen den Romanen verwiesen, aber auch zu den im ersten Kapitel angeführten nicht-literarischen Texten Johnsons und zur Parabel Jonas zum Beispiel. Solchen Konvergenzen wird im Folgenden weiter nachgegangen, um die diskursive Vernetzung zwischen den Romanen aufzudecken und daraus allgemeine Aussagen über Johnsons Bibelrezeption ableiten zu können. Nichtsdestotrotz erfolgt die Analyse der biblischen Diskurse im Rahmen der jeweiligen Romangrenzen. Begründet liegt dieses Vorgehen in dem Umstand, dass die einzelnen Diskurse innerhalb der Grenzen eines jeden

94

Zur Ordnung biblischer Intertexte

Romans miteinander korrespondieren und dem jeweiligen Werkkontext angepasst sind.

Zweiter Teil: Biblische Intertexte in den frühen Romanen Uwe Johnsons. Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 bis Zwei Ansichten

1.

Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953

1. Dieses Manuskript ist nicht druckbar. 2. Der Autor ist hochbegabt aber unausgegoren. […] Was zu fehlen scheint, ist, dass alle diese negativen Erscheinungen eines grossen dialektischen Prozesses dargestellt werden. Das Buch steht für sich und kann nicht den ausserhalb gebliebenen guten Willen des Verfassers zuhilfe rufen. Der Wahrheit entsprechende einzelne Ereignisse können, unproportional aufgeboten, die Unwahrheit über einen grossen Zusammenhang aussagen. (BU, 93, 95)

Mit diesen Worten begründete Günter Mehnert, Lektor beim Mitteldeutschen Verlag, in seinem Schreiben vom 15. Juli 1957 die Entscheidung, ein von Johnson Anfang des Jahres eingereichtes Manuskript nicht zu drucken. Bei jenem Manuskript handelt es sich um den Roman Ingrid Babendererde, vermutlich um die im Sommer 1956 auf dem Fischland angefertigte Abschrift der dritten Fassung, die sogenannte Ahrenshooper Skripte, die heute als verschollen gilt. Trotz des Stils, der »einerseits noch unausgegoren, wild« sei, »andererseits schon wieder manieriert« (BU, 94), bescheinigt Mehnert dem Verfasser einen bewussten Umgang mit Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten: Johnson wisse »um die Wirkung des sozusagen ›kargen Wortes‹ genau so wie um die Wirkung des legendenhaften, chronikartigen ›Bibel-Tons‹« (BU, 94). Der Bibelton, von dem Mehnert hier spricht, ist für Johnsons Erstling ebenso stilprägend wie für seine späteren Werke, bildet aber nur ein Beispiel biblischer Zitate und Anspielungen in Ingrid Babendererde. Ein ganzes Netz von Bibelreferenzen erstreckt sich über den Roman und erweitert bereits bestehende bzw. konstituiert verschiedene neue Diskurse. Die bislang einzigen nennenswerten Überlegungen zur Funktion biblischer Motive in Ingrid Babendererde hat Aumüller vorgelegt.1 Aumüller setzt christlich-religiöse Motive wie den Dom, die elf Schüler der Klasse 12 A, die Spirituals in den Kursivpassagen und das Kreuz mit dem politisch-kirchengeschichtlichen Komplex um die staatlichen Repressionen gegen die Junge Gemeinde im Jahr 1 Vgl. Aumüller, Heilige Geist, S. 97–114.

98

Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953

1953 in Verbindung. Überdies arbeitet er intertextuelle Bezüge auf Pfingsten und damit verbundene Motive heraus, die sich in der zeitlichen Verortung des Romans und der Rede Ingrid Babendererdes vor der Schulversammlung finden. Aumüller gelangt zu dem Schluss, dass die verschiedenen Motive im Roman als Äquivalenzen gedeutet werden können: Der Geist Gottes (Gottes Wort) wird danach im Text, wie gezeigt, mit dem Geist der Verfassung äquivalent gesetzt. Diese Gleichsetzung wird in der Fabel aber nicht aufgenommen. Daher ist sie als ästhetische Zugabe zu werten, die dem Text eine bislang noch nicht attestierte tiefe Dimension verleiht und ihrerseits weitergehende Deutungen ermöglicht.2

Eine solche weitergehende Deutung wird im Folgenden angestrebt, um die Funktionen dieser tiefen Dimension, der durch biblische Intertexte erweiterten und konstituierten Diskurse, in Ingrid Babendererde zu erörtern: Lassen sich die biblischen Intertexte als »ernst gemeinte Analogie […], als ironische Anspielung oder aber als Relikt eines ritualisierten literarischen Verfahrens, dem gemäß Bibelallusionen in jeden guten abendländischen Text gehören«,3 interpretieren? Die im Jahr 1985 veröffentlichte vierte Fassung von Ingrid Babendererde, die im Januar 1957 fertiggestellt und im Anschluss vermutlich beim Suhrkamp Verlag eingereicht wurde, bildet die Grundlage der nachfolgenden Analyse. Um werkgenetische Aussagen zu biblischen Diskursen in Johnsons Erstling treffen zu können, werden für die nachstehenden Überlegungen überdies die im Uwe Johnson-Archiv überlieferte zweite und dritte Fassung sowie eine schmale Materialiensammlung herangezogen.4 Zu Beginn der Analyse soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit der politisch-kirchengeschichtliche Rahmendiskurs in Ingrid Babendererde, der »verfassungswidrige Kirchenkampf von 1953« (BU, 95), im Zusammenhang mit den biblischen Intertexten im Roman steht. Hierzu wird zunächst das Vorgehen des Staates gegen die Junge Gemeinde in Grundzügen nachgezeichnet.

2 Ebd., S. 114. 3 Ebd. 4 Vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 62f. Die Zählung der einzelnen Fassungen orientiert sich hingegen nicht wie bei Leuchtenberger an den im Nachlass Johnsons erhaltenen Fassungen – womit die erste, nicht überlieferte, zur nullten, die zweite zur ersten, die dritte zur zweiten und die vierte zur dritten Fassung würde –, sondern folgt der vom Autor in den Begleitumständen vorgenommenen Zählung; vgl. BU, 73–88.

Politisch-kirchengeschichtlicher Rahmendiskurs

1.1

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Politisch-kirchengeschichtlicher Rahmendiskurs: Der sozialistische ›Kirchenkampf‹ von 1953

Mit dem ›Kirchenkampf‹ der ostdeutschen Behörden an Schulen und Universitäten gegen die Junge Gemeinde im Jahr 1953 bildet ein politisch-kirchengeschichtlicher Diskurs den zeithistorischen Rahmen für Johnsons Erstling. An der Gustav Adolf-Oberschule einer Kleinstadt in der »sogenannte[n] norddeutsche[n] Tiefebene« (IB, 9; Kursivdruck im Original) erwächst aus dem staatlichen Vorgehen ein vielschichtiger Konflikt zwischen Schülern und Lehrern, der den »Dreh- und Angelpunkt der Geschichte«5 bildet. Das Initiationsmoment, die Auseinandersetzung zwischen Dieter Seevken und Elisabeth Rehfelde, liegt in der Erzählvergangenheit und wird dem Leser am ersten Tag der Handlung, einem Dienstagnachmittag, im Gespräch zwischen Klaus Niebuhr und seinem Bruder Günter nachgereicht: Auf dem Hof fragte Günter: Was denn mit der Elisabeth Rehfelde sei. Hat sie sich mit Hannes gestritten? – Nee-i: sagte Klaus: Wer kann sich denn mit Hannes streiten. Mit Seevken. […] Sie ist doch Junge Gemeinde, und Seevken wollte dass sie sich entscheidet entweder dafür oder für die Freie Deutsche Jugend. Hat sie gesagt: Wenn eben nicht beides geht, will sie nur eins; und schmeisst ihm das Mitgliedsbuch vor die Füsse. (IB, 34)

Ausgehend von dieser »falsche[n] Art, die Überzeugungsarbeit anzufassen« (IB, 114), geraten die drei Protagonisten Ingrid, Klaus und Jürgen Petersen in einen sie prägenden Konflikt: Wie verhalten sie sich gegenüber dem Unrecht, das an Elisabeth Rehfelde und den weiteren Mitschülern, die ›Mitglieder‹ der Jungen Gemeinde sind, verübt wird? Der Konflikt bildet für die drei Abiturienten und ihre Freundschaft eine Reifeprüfung in gleich mehrfacher Hinsicht – »an educational, political, and moral Reifeprüfung«6 –, die im Heimatverlust von Ingrid und Klaus endet.7 Notwendig wird die Flucht nach Westberlin, »von wo sie umsteigen in jene Lebensweise, die sie ansehen für die falsche« (BU, 87), weil der Konflikt um die Junge Gemeinde nur als ein Exempel für die Folgen des Stalinisierungsprozesses in der jungen DDR steht, der von Enteignung, Gleichschaltung und dem Vorgehen gegen Andersdenkende geprägt war. Veranschaulicht wird letzteres gegen Ende des Romans, wenn Direktor Robert ›Pius‹ Siebmann die Vorwürfe gegen die 5 Aumüller, Heilige Geist, S. 101. 6 Colin Riordan: The Ethics of Narration. Uwe Johnson’s Novels from Ingrid Babendererde to Jahrestage, London 1989, S. 41. 7 Zum Heimatverlust als zentralem Thema des Romans vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 32. Vgl. auch Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt am Main 1997, S. 177.

100

Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953

Junge Gemeinde im Gespräch mit Jürgen auf dessen Freunde Ingrid und Klaus überträgt: Er habe Jürgens Verhältnis zu der Babendererde und zu Niebuhr immer mit – er könne wohl sagen: Sorge. Betrachtet. […] Jürgen sei jung: fuhr er fort. Er habe zwar bis jetzt treu in ihrem Kampfe um den Sozialismus gestanden – aber er sei natürlich nicht gefeit gegen Einflüsse aus dem feindlichen Lager. Die Lehrer-Babendererdes seien immerhin eine völlig bürgerliche Familie, sie hätten Verwandte in Lübeck… und das gestrige Auftreten der Babendererde habe Pius’ Argwohn voll und ganz bestätigt. – Sie meinen: fragte Jürgen unmässig erstaunt. Pius wolle andeuten Fräulein Babendererde habe im Auftrag ausländischer Agenturen…? […] Er vermute das: sagte er. […] Er glaube nicht dass Fräulein Babendererde eine bezahlte undsoweiter Agentin sei: sagte Jürgen. Pius blickte befremdet. (IB, 222)

Es sind jene propagandistischen Vorwürfe, die gut 150 Seiten zuvor mit dem Hinweis auf eine »Sondernummer« anzitiert werden: »Er habe ihr die Sondernummer gegeben, die, wo die Beweise drinständen über die Spionagetätigkeit der Jungen Gemeinde.« (IB, 53) Mit jener Sonderausgabe der Jungen Welt vom April 1953 weist Johnson über den fiktionalen Horizont einer mecklenburgischen Kleinstadt hinaus auf die historischen Gegebenheiten des Jahres 1953 in der DDR.8 Um die zeithistorischen Auseinandersetzungen in ihrer Gänze verstehen zu können, ist es nötig, von 1953 aus einige Jahre zurückzublicken. Am 31. Juli 1945 verbot die Sowjetische Militäradministration alle Jugendorganisationen, mit Ausnahme antifaschistischer Jugendkomitees. Daraufhin verzichtete die evangelische Kirche auf die Bildung eigener Jugendvereine und entschloss sich, ihre Jugendarbeit im Rahmen der Gemeinde durchzuführen.9 Im März 1946 wurde die Freie Deutsche Jugend gegründet, die mit den kirchlichen Jugendgruppen10 anfangs konstruktiv zusammenarbeitete und zu diesem Zweck »Verbindungsstellen der evangelischen und katholischen Jugendarbeit«11 einrichtete. Indem 8 Colin Riordan umschreibt den Roman daher mit den Worten: »sixty-one windows on fictional world (based on historical events)«; Riordan, Ethics of Narration, S. 41. 9 Vgl. Hermann Wentker: »Kirchenkampf« in der DDR. Der Konflikt um die Junge Gemeinde 1950–1953, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42, 1994, H. 1, S. 95–127, hier: S. 96. 10 Ellen Ueberschär weist darauf hin, dass es nicht die kirchliche Jugendarbeit bzw. die Junge Gemeinde gab; vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 15. Neben den Jungmännerwerken und dem Burckhardthaus – beide vereinigten sich im Mai 1946 auch als Reaktion auf die Gründung der FDJ zur EKD-Jugendkammer Ost – existierten ganz unterschiedliche kleinere kirchliche Jugendgruppierungen wie die Mädchen- und Schülerbibelkreise oder der Jugendbund für Entschiedenes Christentum; vgl. ebd., S. 153–165. 11 Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 96. Insgesamt verhielt sich die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) moderat gegenüber den Kirchen, was Robert F. Goeckel auf drei Faktoren zurückführt: Erstens waren die Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg oft die einzigen noch funktionierenden Organisationen, die zudem nur selten von Kollaborateuren unterwandert waren, zweitens erkannte man den Beitrag der Kirchen im

Politisch-kirchengeschichtlicher Rahmendiskurs

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der FDJ zunehmend die Aufgabe zukam, die Kaderreserve der SED zu bilden, und sie den Anspruch erhob, »alleinige Vertreterin der Jugend zu sein«,12 rückte die kirchliche Jugendarbeit in ein Konkurrenzverhältnis. Auf dem III. Parlament der FDJ im Juni 1949 in Leipzig wurden die Verbindungsstellen der kirchlichen Jugendarbeit wieder abgeschafft.13 Im Dezember 1949, nur zwei Monate nach der Gründung der DDR, wurde der Vorwurf laut, die evangelische Jugendarbeit wäre verbandsmäßig organisiert und damit eine politische Interessensgruppe, die durch ihre bloße Existenz »das Monopol der Einheitsorganisation FDJ«14 gefährde. Als Argument für das Bestehen einer Organisation wurde das Bekenntniszeichen der Jungen Gemeinde, das sogenannte »Kugelkreuz« (IB, 54), als das »›öffentlichste‹ aller Merkmale der evangelischen Jugendarbeit«15 herangezogen und vereinzelt bereits zu Beginn des Jahres 1950 verboten.16 Der Konflikt um das Bekenntniszeichen durchzog die nun beginnende Auseinandersetzung um die Junge Gemeinde, die im Jahr 1953 ihren Höhepunkt fand. Hermann Wentker unterteilt den Zeitraum zwischen 1950 und 1953 in vier Phasen: Von 1950 bis zum Frühsommer 1952 kam es im Zuge der Rivalität zwischen FDJ und kirchlicher Jugendgruppierungen, wie am Bekenntniszeichen der Jungen Gemeinde exemplifiziert, zu ersten administrativen Maßnahmen.17 Das Jahr 1951 gilt allerdings gemeinhin als »Atempause«18 in der Auseinandersetzung, was sich in erster Linie auf die deutschlandpolitischen Bestrebungen der Sowjetunion zurückführen lässt. So wollte man die in der BRD »verbreitete pazifistische Neigung, insbesondere in Kreisen der evangelischen Kirche«,19 für die eigene Ost-West-Politik nutzen. Eine Kursverschärfung und damit den Beginn der zweiten Phase läutete die Rede Ulbrichts auf dem IV. Parlament der FDJ am 29. Mai 1952 ein. Nur einen Monat nach dem Besuch der Staats- und Parteiführung in Moskau bezichtigte der Generalsekretär der SED die Junge Gemeinde

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Kampf gegen den Nationalsozialismus an und drittens gab es die persönliche Erfahrung vieler Kommunisten, mit Mitgliedern der Bekennenden Kirche interniert gewesen zu sein, was »im Hinblick auf die spätere Politik des Regimes oft als ›Konzentrationslagereffekt‹ bezeichnet« wird; Goeckel, Die evangelische Kirche und die DDR, S. 60. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 101. Vgl. ebd., S. 96. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 177. Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 177–180. Am 21. März 1950 wurde in Sachsen-Anhalt ein Verbot zum Tragen des Kugelkreuzes in Schulen ausgesprochen, das erst nach mehreren Beschwerden von Seiten der Kirche zurückgenommen wurde. Ueberschär interpretiert diesen Vorgang als eine Art »Testballon administrativer Repression«, in den der Staatssekretär im Innenministerium, Johannes Warnke, eingeweiht gewesen sei; ebd., S. 178. Vgl. auch Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 98. Vgl. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 96. Ebd., S. 101. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 181.

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– »völlig unbegründet[]«20 – der Unterstützung von Agenten- und Spionagetätigkeiten und rief offen zum Kampf gegen die »Agentenorganisation«21 auf: »Warum […] nehmen wir nicht offen den Kampf gegen diese Elemente auf und entlarven sie als das, was sie sind?«22 Das Echo der Rede ließ nicht lange auf sich warten: In Schulen und Betrieben wurden Jugendliche gezwungen, sich zwischen FDJ und Junger Gemeinde zu entscheiden. Die Veranstaltungsverordnung vom 29. März 1951 wurde verschärft ausgelegt, sodass es insbesondere im Sommer 1952 zu zahlreichen Behinderungen und Auflösungen von Großveranstaltungen und Rüstzeiten der Jungen Gemeinde kam.23 Während diese Maßnahmen noch weitgehend unkoordiniert abliefen, begann im November 1952 mit der detaillierten Planung zur Bekämpfung der Jungen Gemeinde die dritte Phase. Erich Mielke, Staatssekretär im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), gab am 23. November 1952 an seine Bezirksverwaltungen die Weisung heraus, »alle Vorkommnisse« rund um die Junge Gemeinde unter dem Betreff »Kappe« an ihn zu melden.24 Wenige Tage später entschied sich auch das Zentralkomitee der SED zum Ergreifen systematischer Maßnahmen, die sich insbesondere gegen Mitglieder der Jungen Gemeinde an Oberschulen richteten, da sich unter den Abiturienten überdurchschnittlich viele ihrer Anhänger befanden.25 Im März 1953 begann das entschiedene Vorgehen gegen die Junge Gemeinde, das in der Literatur übereinstimmend als »Liquidierungsversuch«26 bezeichnet wird. Es wurden administrative Maßnahmen ergriffen wie die Einschränkung des Religionsunterrichts, eine Öffentlichkeitskampagne, mit der der Vorwurf erhärtet werden sollte, dass es sich bei der Jungen Gemeinde um eine Agentenorganisation handele, oder die Verabschiedung einer neuen Verordnung zur

20 Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 104. Demnach fehlen »in den einschlägigen Akten […] Hinweise auf eine Verbindung der evangelischen Kirchenjugend mit westlichen Agentenzentralen«; ebd. 21 Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 184. 22 Walter Ulbricht, zitiert nach ebd. 23 Vgl. ebd., S. 185, 187f. Wentker zufolge wurden 1952 insgesamt 154 Rüstzeiten aufgelöst; vgl. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 106. Zum Stören von Veranstaltungen traten vor allem FDJ-Mitglieder »als Schläger- und Störtrupp […] auf, was in den Berichten von Betroffenen bisweilen den Eindruck von ›geschlagenen Schlachten‹ entstehen läßt. Die FDJ, so die Schlachtordnung, kämpfte mit schwerer Technik, wie Motorrädern und Lautsprecherwagen«; Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 189. 24 Erich Mielke, zitiert nach Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 110. 25 Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 191. 26 Ebd., S. 195. Zurück geht der Gebrauch des Begriffs ›Liquidierung‹ auf ein Schreiben des Vorsitzenden der FDJ, Erich Honecker, an die 1. Sekretäre der FDJ-Bezirksleitungen, in dem er die »Liquidierung der Jungen Gemeinde« als Ziel ausgibt; Erich Honecker, zitiert nach Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 114.

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Genehmigungs- und Anmeldepflicht von Veranstaltungen.27 Daneben griff das Politbüro ein Vorhaben des Zentralrates der FDJ auf, an den Oberschulen Schulversammlungen durchzuführen.28 Auf diesen wurden die Mitglieder der Jungen Gemeinde mit den Vorwürfen konfrontiert, die u. a. in der Sonderausgabe der Jungen Welt unter dem Titel »Junge Gemeinde« – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag im April 1953 veröffentlicht worden waren. Darin hieß es, die Junge Gemeinde sei eine »illegale[]« und »religiös getarnte[] Organisation«, die »direkt durch die in Westdeutschland und vorwiegend in Westberlin stationierten amerikanischen Agenten- und Spionagezentralen angeleitet« werde.29 Auf der Grundlage dieser Vorwürfe wurden Abiturienten in Schauprozessen vor die Alternative gestellt, sich von der Jungen Gemeinde loszusagen oder von der Schule verwiesen zu werden. Die Bilanz nach nur wenigen Monaten liest sich wie folgt: Mehr als 800 Schüler gaben dem öffentlichen Druck nach und traten aus der christlichen Jugendorganisation aus, rund 700 weigerten sich und wurden der Schule verwiesen.30 Für diese Generation bedeuteten die Schulversammlungen die »einschneidenden Erfahrungen«31 mit dem DDR-Regime. Die Folge waren »Knoten und Knicke und Brüche in Lebensläufen« (BU, 95) junger Schüler; so auch im Leben Johnsons. Wie an den Schulen ergriff die FDJ auch an den Universitäten Maßnahmen, hier gegen die Evangelische Studentengemeinde. Im März 1953 organisierte sie Protestversammlungen »an den Universitäten Jena, Leipzig, Rostock und Halle, an der Bergakademie Freiberg, den Pädagogischen Hochschulen Potsdam und Dresden, der Pädagogischen Fakultät Greifswald, der Hochschule für Verkehr und der Hochschule für Bildende Künste in Dresden«.32 Für den 5. Mai 1953 wurde der Student Johnson aufgefordert, sich bei einer Großversammlung der FDJ-Gruppe der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock mit einem Diskussionsbeitrag zu beteiligen. Der Verlauf und die Folgen von Johnsons Rede wurden bereits an früherer Stelle dargestellt.33 Für den Germanistikstudenten bedeuteten sie einen Bruch in seinem Lebenslauf, in der DDR sollte er faktisch arbeitslos 27 Vgl. ebd., S. 111f. 28 Vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 196. 29 »Junge Gemeinde« – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USAAuftrag, in: Junge Welt, Sonderausgabe, April 1953, S. 1–4, hier: S. 1. 30 Vgl. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 117. Auch an Johnsons ehemaliger Schule in Güstrow fand Ende März 1953 eine Schulversammlung statt, in deren Verlauf drei Schüler von der John-Brinckman-Oberschule verwiesen wurden; vgl. Helmut Zeddies: »Verbrecherische staatsfeindliche illegale Tätigkeit« – Die Verfolgung der Jungen Gemeinde 1953, in: Peter Moeller u. a.: … sie waren noch Schüler. Repressalien – Wiederstand – Verfolgung an der John-Brinckman-Schule in Güstrow 1945–1955, hg. vom Verband Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS), 3., erw. Aufl., Rostock 2004, S. 136–142, hier: S. 136–138. 31 Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 197. 32 Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 117. 33 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.1.

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bleiben (vgl. BU, 114). Dennoch hatte die Kampagne der FDJ an den Universitäten bei weitem nicht die Auswirkungen wie an den Oberschulen des Landes.34 Den Kirchenleitungen blieben nur geringfügige Möglichkeiten, gegen die staatlichen Repressionen an Schulen und Universitäten vorzugehen. Sie boten den Opfern seelsorgerische Hilfe und teils auch Ausbildungsstätten in kirchlichen Einrichtungen an.35 Für die Vielzahl derjenigen, die wie die Figur Elisabeth Rehfelde in Johnsons Roman nach Westdeutschland flüchteten, wurde auf gesamtkirchlicher Ebene Hilfe bereitgestellt und eine Leitstelle in Hannover-Herrenhausen eingerichtet. Durch sie sollte gewährleistet werden, »innerhalb von drei Wochen Jugendlichen, die aus der DDR nach Westberlin geflohen waren, sowohl einen Platz an einer westdeutschen Oberschule als auch ein Zuhause in Jugendwohnheimen oder in Familien zu vermitteln«.36 Zu einer vollständigen Kursänderung der Staats- und Parteiführung gegenüber den Kirchen kam es Anfang Juni 1953 durch ein Dokument der neuen sowjetischen Staatsführung, die sich nach dem Tod Stalins konstituiert hatte, mit dem Titel Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik. Darin wurden die Parteifreunde aus der DDR aufgefordert, die Verfolgung von Mitgliedern der Jungen Gemeinde einzustellen.37 Auch wenn dies keineswegs das Ende kirchenfeindlicher Politik in der DDR bedeutete, veröffentlichte das Politbüro des Zentralkomitees der SED am 11. Juni 1953 im Neuen Deutschland ein Kommuniqué, in dem bekannt gegeben wurde, dass alle im Zusammenhang mit der Überprüfung der Oberschüler und der Diskussion über die Tätigkeit der Jungen Gemeinde aus den Oberschulen entfernter Schüler sofort wieder zum Unterricht zuzulassen sind und daß ihnen die Möglichkeit gegeben wird, die versäumten Prüfungen nachzuholen. Ebenso sollen die im Zusammenhang mit der Überprüfung der Oberschulen ausgesprochenen Kündigungen und Versetzungen von Lehrern rückgängig gemacht werden. Die in den letzten Monaten ausgesprochenen Exmatrikulationen an Hochschulen und Universitäten sollen sofort überprüft und bis zum 20. Juni 1953 entschieden werden.38

Einen Monat später folgte ein Gespräch zwischen Vertretern der FDJ und der kirchlichen Jugendarbeit, das »im Geiste der gegenseitigen Verständigung« stattgefunden und »Übereinstimmung in allen wichtigen Fragen« ergeben habe.39 34 35 36 37 38

Vgl. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 118. Vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 199. Ebd. Vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 200. Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 9. Juni 1953, in: Neues Deutschland, Nr. 134 vom 11. 6. 1953, S. 1. 39 Aussprache zwischen Vertretern der evangelischen Kirche und der FDJ, in: Neues Deutschland, Nr. 161 vom 12. 7. 1953, S. 2.

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Von zentraler Bedeutung war hierbei die Fixierung, dass »es sich bei der Jungen Gemeinde und der evangelischen Studentengemeinde nicht um Organisationen handelt, sondern um eine Lebensäußerung der Kirche im Raume der Kirche und ihrer Gemeinden«.40 Die offene Repression gegen die Junge Gemeinde war beendet. Was folgte, war der Beginn einer Phase systematischer und verdeckter Maßnahmen gegen die Kirche in der DDR.41 Dieser kurze historische Abriss soll einen Eindruck des repressiven ›Kirchenkampfes‹ in der DDR Anfang der 1950er Jahre vermitteln, in den das Handlungsgeschehen von Ingrid Babendererde eingebettet ist und so über das Schulgeschehen in einer mecklenburgischen Kleinstadt hinausweist: »Klaus’ und Ingrids Flucht erscheint dadurch […] als typische Folge einer datierbaren politischen Konstellation«.42 Die Sonderausgabe der Jungen Welt wird durch Dieter Seevken in den Roman eingeführt. Peter Beetz konfrontiert man im Zuge seiner (Wider-)Rede vor der Schülervollversammlung mit den Vorwürfen eben jener Sondernummer: Nachdem Direktor Siebmann die Junge Gemeinde zu Beginn als eine »illegale Verbrecherorganisation« vom »kapitalistischen Ausland bezahlter Volksfeinde« bezeichnet und ihre »terroristische Rolle« hervorhebt (IB, 141), fallen im sich anschließenden Zwiegespräch die propagandistischen Vorwürfe: den »organisierten Charakter der Jungen Gemeinde« sehe man »an Mitgliedsbüchern und Abzeichen« (IB, 142), »in christlichen Heimen [würden] Körperbehinderte misshandelt« und die Junge Gemeinde lasse sich »von den Amerikanern bezahlen für Sabotage und Spionage« (IB, 143). Mittels des eingangs erwähnten Vorfalls zwischen Elisabeth Rehfelde und Dieter Seevken dringt dieser zeithistorisch verbürgte Konflikt der DDR von 1953 in den Alltag der Schüler der Gustav Adolf-Oberschule ein. Überraschen mag dabei, dass die religiöse Praxis der Jungen Gemeinde im Roman nahezu keine Rolle spielt und nur an ausgewählten Stellen aufgegriffen wird. Entsprechend wird der politisch-kirchengeschichtliche Diskurs nur vereinzelt über biblische Intertexte, primärer oder sekundärer Art, konstituiert. Es entsteht der Eindruck, dass dem Konflikt um die Junge Gemeinde lediglich eine »initiative Funktion«43 40 Ebd. 41 Vgl. hierzu Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 206–221. 42 Westphal, Literarische Kartografie, S. 39. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs), in denen sich ab 1952 vor allem Bauern mit weniger als 20 ha Land zusammenschlossen (vgl. IB, 13), und dem Bau der Berliner Stalinallee (vgl. IB, 33) wird im Roman auf zwei weitere zeithistorische Ereignisse verwiesen; vgl. Hermann Weber: Die DDR 1945–1990, 5., akt. Aufl., München 2012, S. 13. Trotz des hohen dokumentarischen Gehalts wird mithilfe des historischen Abrisses deutlich, dass es für die Datierung des Handlungsgeschehens auf die Woche vom 26. bis 31. Mai 1953 und damit den Beginn der Kurskorrektur von SED und FDJ neben dem historischen Kontext weitere Gründe geben muss; vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.5. 43 Aumüller, Heilige Geist, S. 98.

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zukomme. Wie der Erzähler und die Figuren auf die Politisierung des religiösen Diskursfeldes in der jungen DDR reagieren und welche Funktionen biblische Intertexte hierbei einnehmen, wird in den folgenden Kapiteln erörtert, ausgehend vom religiösen Diskurs im Roman, in dem in einem ersten Schritt die konfessionellen Bindungen der Figuren, liturgische Praktiken oder religiöse Riten im Roman dokumentiert werden.44 Aus dem bisher Aufgeführten ergeben sich zwei Fragen, die im Zentrum der weiteren Untersuchung stehen sollen: Worauf lässt sich der geringe Stellenwert der religiösen Praxis der Jungen Gemeinde im Romangeschehen zurückführen? Kann dieser Befund auf das gesamte Romangeschehen und auf alle Figuren übertragen werden oder bedarf es hierbei einer Differenzierung?

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Religiöser Diskurs: Ein »bürgerliches Überbleibsel«?

In der zweiten Fassung von Ingrid Babendererde gibt der Zeuge Dietrich Erichson die Hintergründe des Handelns der FDJ und ihre Einstellung zur Religion wieder. Demnach gehe es den Mitgliedern der staatlichen Jugendorganisation in ihrer »kümmerlich[en]« Anklage gegen die Junge Gemeinde darum, die Jugend davon zu überzeugen, »dass Religion ein bürgerliches Überbleibsel ist und eine andere Meinung«.45 In der vierten, später veröffentlichten Fassung wurde die Figur Erichson ebenso getilgt wie diese Stelle. Auch scheinen die Anstrengungen von Jugendorganisation, Staats- und Parteiführung im Großen und ihrer Vertreter um Dieter Seevken und Direktor Siebmann im Kleinen bereits weit fortgeschritten. Zu diesem 44 Der Verwendung des Terminus ›religiös‹ liegt im Rahmen dieser Arbeit ein mehrdimensionaler, religionswissenschaftlicher Begriff von Religion bzw. Religiosität im Sinne Ninian Smarts zugrunde. Mit dem Ziel, innerhalb der »variety and […] luxurious vegetation of the world’s religions and subtraditions« Muster erkennen zu können, unterscheidet Smart sieben Dimensionen von Religion: (1) die praktische und rituelle, (2) die erfahrungsmäßige und emotionale, (3) die narrative oder mythische, (4) die doktrinale und philosophische, (5) die ethische und rechtliche, (6) die soziale und institutionelle sowie (7) die materielle Dimension; Ninian Smart: The World’s Religions, 2. Aufl., Cambridge 1998, S. 13. Auch wenn in religiösen Bewegungen die ein oder andere Dimension nur sehr schwach ausgeprägt sein mag, geht Smart davon aus, dass alle Religionen, und auch säkulare Ideologien wie der Nationalismus oder der Marxismus (quasi-religions), alle sieben Dimensionen aufweisen; vgl. ebd., S. 21–26. Für die Analyse der ›religiösen Diskurse‹ in den Romanen Johnsons werden alle sieben Dimensionen berücksichtigt, wobei der Schwerpunkt auf der praktischen und rituellen sowie der sozialen und institutionellen Dimension liegt und in erster Linie der Dokumentation konfessioneller Bindungen von Figuren, liturgischer Praktiken oder religiöser Riten in den Werken dient. 45 Uwe Johnson: Ingrid, 2. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/000224, Mappe 1–4, hier: Mappe 1, Bl. 10f.

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Schluss gelangt man bereits, wenn man sich die Darstellung des Doms als dem kirchlichen Funktionsraum der Stadt vergegenwärtigt. Der Dom Bereits im ersten nicht kursiven Kapitel wird der Kirchturm durch den Erzähler als Blickfang und Orientierungspunkt der Stadt in den Roman eingeführt: »Über dem Grasrand des niedrigen Ufers scheitelte sich der rote grobkantige Domturm stumpf gegen den Himmel vor dem Grossen Eichholz« (IB, 11). Ähnlich verhält es sich kurze Zeit später mit dem Weitendorfer Kirchturm, den Klaus’ Bruder Günter bei der Fahrt durch das Kleine Eichholz aus der Ferne erblickt: »Vor ihm lag die weite Mulde mit Saatgrün in der Mittagssonne, hinter der Kuppe des Bergs stand dünn und zitternd die Spitze des Weitendorfer Kirchturms gegen den Himmel« (IB, 31).46 Wie in der Kleinstadt weist der Erzähler den Kirchturm als zentralen Orientierungspunkt aus. Im Gegensatz zur Weitendorfer Kirchturmspitze wird die Domsspitze als »grobkantig[]« beschrieben; der Dom inmitten der Stadt erscheint als »breit und zuverlässig« (IB, 15). Das anthropomorphisierende Attribut ›zuverlässig‹ verweist metonymisch auf den tradierten Schutzraum der Kirche, dem die fragile und politische Schulgegenwart diametral entgegensteht. Nur folgerichtig steht der Dom »in seinem grossen ausgetrockneten Rot« (IB, 15) dem »endlosen tiefroten Gemäuer« (der Schmalseite) der Gustav Adolf-Oberschule räumlich und semantisch gegenüber, getrennt nur durch den »hier ziemlich breiten Stadtgraben« (IB, 16). Die Schüler der Klasse 12 A können aus dem Fenster der Schule heraus »immerzu auf den Domplatz« (IB, 18) schauen, und tun dies auch.47 Der Topografie der dargestellten Welt entspricht eine Topologie, eine Oppositionsbeziehung. Der Blick aus dem Fenster dient nicht nur der Ablenkung vom Unterricht, sondern ebenso der Orientierung der Schüler an der Domuhr. Gerade zum Ende einer Schulstunde blicken die Schüler auf sie, obwohl betont wird, dass sie »sieben Minuten« (IB, 172) vorgeht, wohingegen die Schuluhr »nie falsch« (IB, 102) gehe. Durch die differierenden Uhrzeiten wird die lokale Opposition 46 Erwähnenswert erscheint überdies die dem (Kirch-)Turm eigene, jedoch nicht religiös intendierte Zugewandtheit zum Himmel – vielmehr diente der Bau von Kirchtürmen ab dem 6. Jahrhundert funktionalen Zwecken. Die hierdurch eröffnete Opposition von Himmel und Erde wird im Roman mehrfach wieder aufgegriffen, jedoch nicht transzendental aufgefüllt. So dient nicht die Kirche als Mittler zwischen Himmel und Erde, sondern der See ist in Ingrid Babendererde Spiegelbild des Himmels. Als »›Gegenhimmel‹« spiegelt er jedoch nicht nur »utopische[] Hoffnung[en]«, sondern ebenso Unwetterwolken als Abbild irdischer Ereignisse; Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 118. 47 Vgl. etwa IB, 16, »[s]eine [= Sedenbohms; P. O.] elf Zuhörer sassen hinter ihren Tischen und schrieben, sahen vor sich hin oder aus den Fenstern«, oder IB, 20, »[u]m irgend etwas zu tun sah er [= Jürgen; P. O.] um sich und zum Fenster«.

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zwischen Dom und Schule auch auf der temporalen Ebene markiert. Dass die Domuhr dabei gerade sieben Minuten vorgeht, kann als Anspielung auf die Danielerzählung gelesen werden: 28

Ehe der König diese Worte ausgeredet hatte, fiel eine Stimme von Himmel: Dir, König Nebukadnezar, wird gesagt: dein Königreich soll dir genommen werden; 29und man wird dich von den Leuten verstoßen, und sollst bei den Tieren, so auf dem Felde gehen, bleiben; Gras wird man dich essen lassen wie Ochsen, bis über dir sieben Zeiten um sind, auf daß du erkennst, daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche und gibt sie, wem er will.48

Dass sie überhaupt vor-, die Uhr der sozialistischen Schule hingegen mit der Zeit geht, lässt sich möglicherweise als ironischer Reflex auf die sozialistische Parole einer ›Neuen Zeit‹ deuten. Kirche und Staat gehen jedenfalls nicht im Takt. Räumlich wie zeitlich wird der Dom durch den Erzähler immer wieder als omnipräsenter Orientierungspunkt hervorgehoben, was in auffälligem Gegensatz zu seiner liturgischen bzw. »kausalen«49 Funktionslosigkeit steht. Einzig an einer Stelle des Romans erfolgt der Blick in das Innere des Doms. Dort sitzt sonntags in den hinteren Reihen des Mittelschiffs sehr allein und sehr aufrecht eine müde Frau neben dem bekümmerten und vorsichtigen Gesicht eines kleinen Mädchens, die sah unbeweglich und unzugänglich vor sich hin […], und seit dem letzten Jahr des Grossen Krieges sass sie allein unter den altersbraunen ungebärdigen Holzschwüngen, die den Apostel Matthäus darstellten […]. (IB, 69)

Trotz des Einblicks in den Dom spart der Erzähler Handlung und Inhalt der Gottesdienste konsequent aus. Im Zentrum der Darstellung steht vielmehr die Abwesenheit des Sohnes dieser Frau, »der niemals neben ihr sass«, und das Verhältnis der beiden zueinander, denn er hatte »(im Gegenteil) dies und jenes öffentlich gesagt« (IB, 69). Implizit wird erneut auf die Opposition und den Konflikt zwischen der Zugehörigkeit zu einer kirchlichen oder staatlichen Organisation verwiesen, hier exemplifiziert an der gesellschaftlichen Keimzelle – der Familie. Der Dom bleibt letztlich Orientierungspunkt und lokaler, temporaler wie instrumentaler Antipode der Gustav Adolf-Oberschule. Als ein Ort mit festem Bedeutungskern, als Topos, bleibt der Dom dennoch »Epiphänomen der

48 Dan 4,28f.; Hervorhebung P. O. Darüber hinaus ließen sich die differierenden Uhrzeiten in ein ganzes Netz von Verweisen auf die Zahl Sieben in Ingrid Babendererde einordnen, worin Uwe Neumann in erster Linie ein Intertextualitätssignal ausmacht, um »nach Thomas-MannBezügen Ausschau zu halten«; Uwe Neumann: Die leuchtende Sieben. Zahlenmystik bei Uwe Johnson und Thomas Mann, in: Johnson-Jahrbuch 22, 2015, S. 165–193, hier: S. 170. 49 Aumüller, Heilige Geist, S. 102.

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Fabel, da es kaum ein Ereignis gibt, das in unmittelbarem Zusammenhang mit ihm steht«.50 Junge Gemeinde Ähnlich verhält es sich, wie bereits angedeutet, mit der kleinstädtischen kirchlichen Jugendgruppe und ihren Angehörigen. Auch sie bleiben trotz der grundlegenden Bedeutung des ›Kirchenkampfes‹ gegen die Junge Gemeinde überwiegend im Hintergrund, obwohl wenigstens vier Schüler der Gustav Adolf Oberschule der Jungen Gemeinde angehören: Elisabeth Rehfelde, Peter Beetz und seine Freundin Brigitt sowie Marianne Stuht. Letztere ist Mitschülerin der drei Protagonisten in der 12 A, »Tochter des Dompredigers« (IB, 166) und in ihrem Auftreten als eine »religiöse[], introvertierte[] Außenseiterin«51 eine besondere Nebenfigur. Neben ihrem Vornamen, der »weiter keinen Spitznamen« nötig mache – »sie war eben still und friedfertig« (IB, 74)52 –, trug Marianne noch in der zweiten Fassung des Romans den Nachnamen »Köster«,53 die niederdeutsche Form von Küster, einem Kirchenbediensteten.54 Überdies fungiert Marianne innerhalb der Klasse 12 A, in der sie das einzige Mitglied der Jungen Gemeinde ist, als Reflexionsfigur. Im Verhalten ihr gegenüber spiegelt sich die Haltung der Protagonisten Ingrid, Klaus und Jürgen gegenüber der christlichen Jugendorganisation. So erfährt der Leser, dass Ingrid über die Aktivitäten der Jungen Gemeinde nichts wissen wollte und »immer nur lachte«, sobald Marianne »vorsichtig davon anfing« (IB, 166). Dass Marianne jedoch nicht allein auf ihre Rolle als Mitglied der Jungen Gemeinde reduziert wird, unterstreicht Klaus, indem er während der Diskussion der drei Freunde über den Geschichtsunterricht von Direktor Siebmann bemerkt, für Marianne, im Gegensatz zu Elisabeth Rehfelde, »allenfalls nicht gutsagen« (IB, 106f.) zu wollen. Nicht aus den Gesprächen der Klassenkameraden, sondern durch die von Direktor Siebmann geführte politische Auseinandersetzung erfährt der Leser, 50 Ebd. 51 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 69. 52 Marianne bzw. Marianna sind Namenkopplungen aus Maria und Anne bzw. Anna, die erst in nachreformatorischer Zeit häufiger zu finden sind. Auch ist es möglich, dass Marianne bzw. Marianna »sekundär aus Mariamma u. Marion entstanden« sind; Wilfried Seibicke: Marianna, in: ders.: Historisches Deutsches Vornamenbuch, Bd. 3: L–Sa, Berlin 2000, S. 209–212, hier: S. 209; Kursivdruck im Original. 53 Vgl. Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 2, Bl. 17: »Babendererde ging zu ihrem Platz, immer für sich allein lächelnd, Babendererde setzte sich neben Köster und griente Köster (Marianne) auffordernd an als wolle sie mit Köster reden.« 54 Ein Küster ist ein kirchlicher Mitarbeiter, »der für die äußere Vorbereitung und Durchführung des Gottesdienstes, oft auch für Hausmeistertätigkeiten in und an kirchl. Gebäuden zuständig ist«; Thomas Klick: Küster, in: RGG4, Bd. 4: I–K, Tübingen 2001, Sp. 1908.

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dass die Mitglieder der Jungen Gemeinde »an ihren Mittwochabenden über den Bund Christi mit der Welt« (IB, 91) verhandelt und »am siebzehnten März abends einundzwanzig Uhr die Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg christlich gedeutet« (IB, 142) hätten. Die Stellung der drei Protagonisten zur Jungen Gemeinde lässt sich hingegen nur implizit aus der Reaktion auf ihre Klassenkameradin Marianne sowie aus den Gesprächen über das politische Vorgehen gegen ihre Mitschüler wie Elisabeth Rehfelde und Peter Beetz bestimmen. Jürgen fasst die gemeinsame Haltung in der Diskussion am Dienstagnachmittag wie folgt zusammen: »Sie seien alle drei nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert, und keiner werde sie für bedeutend halten. Was ihn (Jürgen) angehe: so halte er sie für albern.« (IB, 106) Geht man dieser Aussage im Roman nach, so lässt sie sich zuallererst für die Protagonistin verifizieren. Ingrid Babendererde Seitdem ihr Vater, »der Lehrer Dr. Babendererde[,] ertrunken war beim Segeln im Oberen See« (IB, 56), lebt Ingrid allein mit ihrer Mutter Katina. Wie ihr verstorbener Ehemann arbeitet Katina zunächst als Lehrerin an der Gustav AdolfOberschule, »aber nachdem Das Blonde Gift gekommen war, hatte sie gekündigt und war zur Deutschen Post gegangen« (IB, 56). An Verwandten wird ein reicher Onkel Ingrids in Lübeck erwähnt, zu dem sie einige Jahre ohne ihre Mutter fährt und dabei auch Fluchtgedanken hegt (vgl. IB, 57, 154). Nach ihrem letzten Besuch zusammen mit Klaus und Jürgen in den Sommerferien vor dem Abschlussjahr beschreibt sie ihre westdeutschen Angehörigen jedoch als »schrecklich« (IB, 168) und veranschaulicht dieses vernichtende Urteil an einem Chauffeur, der sie beim Einkaufen auf Schritt und Tritt verfolgt habe. In der zehnten und elften Klasse ist Ingrid zudem Mitglied der FDJ, bevor sie und Klaus sich »nach der Versetzung in die zwölfte Klasse […] sehr zurückzogen« (IB, 167). Religiöse Beziehungen und Einflüsse in Ingrids Leben werden nicht erwähnt. Jürgen wundert sich gar, als er seine Freundin mit Elisabeth Rehfelde im Gras sitzen sieht (vgl. IB, 194). Zudem grenzt sie sich, wie bereits erwähnt, bewusst von ihrer Klassenkameradin Marianne Stuht ab55 und bereitet ihr Kummer, indem sie immer zu lachen beginnt, sobald diese von der Jungen Gemeinde erzählt.

55 Vgl. IB, 86; Hervorhebung P. O.: »Während Pius die einleitenden Worte sprach, suchte Ingrid das nötige Heft unter ihren Sachen; sie bekam es aber von Marianne, die es ausgeliehen hatte. – Hast es lesen können: fragte Ingrid, sie war durchaus imstande hieraus eine längere Unterhaltung abzuleiten. Das scheiterte jedoch an Marianne. Die zog sich unter Pius’ mahnendem Blick zusammen und nickte nur mal schnell. Ingrid schüttelte belustigt ihren Kopf. Es war ihr unmöglich so andächtige Ehrerbietung zu verstehen.«

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Klaus Niebuhr Wie seine beiden Freunde hegt auch Klaus wenig Sympathie für Marianne Stuth, möchte für sie auch »nicht gutsagen« (IB, 106). Doch obwohl Gestus und Habitus des Schülers Niebuhr, insbesondere seine Mimik, ausgesprochen häufig als »spöttisch« (IB, 111) beschrieben werden, richtet er diese seine »Haupteigenschaft«56 im politischen Konflikt um die Junge Gemeinde ausschließlich gegen die Agitatoren und ihre propagandistische Argumentationsweise. Im halböffentlichen Raum der Schule kritisiert er »hinter eine[r] Fassade von Spott und Ironie«57 die »mental reservations« (IB, 79) der FDJ und ergreift in seiner Parabel der ›doppelten Elisabeth‹ Partei für seine christliche Mitschülerin. Im Privaten ist es Jürgen, der von Klaus »spöttisch und aus wachsamer Entfernung« betrachtet wird, als dieser die Ereignisse der Englischstunde aufgreift und die Junge Gemeinde für »albern« erklärt (IB, 106). Auf ironische Weise gibt Klaus zu verstehen, dass es bei alledem nicht um die christliche Glaubensausübung von Elisabeth Rehfelde, Peter Beetz oder Marianne Stuht gehe, denn »wozu habe die Republik eigentlich ihre Polizei für Staatssicherheit?« (IB, 107) Da der Schüler Niebuhr sehr früh sowohl die Intention als auch das Ausmaß des staatlichen Vorgehens erkennt, ist es nur folgerichtig, dass Jürgens Aussage, »[s]ie seien alle drei nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert«, mit einem scheinbar spöttischen »Ja-a« von Klaus beantwortet wird (IB, 106).58 Zum Ende des Gesprächs wechselt der Schüler allerdings den Modus seines Sprechens, gibt seine Distanz auf und versucht auf seinen Freund einzuwirken: »Klaus nickte. – Aber versucht mal erst mit ihm zu reden: sagte Klaus: Peter Beetz sei nicht die kapitalistische Klasse sondern jemand mit einem Irrtum.« (IB, 107) Ob Klaus an dieser Stelle aus sich heraus oder aber in dem Glauben, Jürgen beeinflussen zu können, in einer auffällig religionskritischen Weise spricht, lässt sich durch das Hinzuziehen zweier bereits zuvor erzählter Ereignisse besser bewerten. Die Brüder Günter und Klaus leben seit dem Tod ihrer Eltern, die als Widerstandskämpfer gegen die »vorige[] Regierung« (IB, 33) ihr Leben ließen, bei ihrer Tante Gertrud und ihrem Onkel Martin an der Niebuhr’schen Schleuse. Nachdem sich die Brüder bei der Ankunft an der Schleuse über den Vorfall zwischen Elisabeth Rehfelde und Dieter Seevken unterhalten haben, essen sie zu Mittag. Die Mahlzeit wird durch Tante Gertrud mit einem traditionellen Tischgebet eingeleitet und bildet den Abschluss des siebten Kapitels: »sie neigte sich und sprach: Komm, Herr Jesus, sei unser Gast; und segne – was du uns bescheret hast. Klaus hielt dabei einfach die Hände unter dem Tisch. Er war wie immer 56 Annekatrin Klaus: »Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl!« Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, Göttingen 1999, S. 103. 57 Ebd., S. 104. 58 Der Erzähler schließt sich diesem Spott an, indem er die Antwort als »höflich« (IB, 106) charakterisiert.

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bedacht dies Günter nicht sehen zu lassen; der faltete sie.« (IB, 35) Der Schüler Niebuhr wächst in einer religiös geprägten Familie auf, was in der zweiten Fassung noch an einer weiteren Stelle deutlich wird, die aufgrund der konzeptionellen Umstellung des Romans nicht in die vierte Fassung übernommen wurde: Am Sonntagvormittag erwähnt der Erzähler im Gespräch zwischen Günter und Ingrid, »Onkel Martin und Tante Gertrud sind zur Kirche«.59 Die religiöse Praxis der Familie Niebuhr, auch das wird an der Tischgebetsszene deutlich, ist nicht allein als eine Art »bürgerliches Überbleibsel« auf die Elterngeneration beschränkt, sondern erstreckt sich ebenso auf den 13-jährigen Günter. Klaus wird dagegen als eine Figur in den Roman eingeführt, die sich von der religiösen Tradition der Familie losgesagt hat oder aber im Lossagen begriffen ist. Bei seinen Erziehungsberechtigten ruft diese Haltung keinerlei Kritik hervor, was auf einen liberalen Umgang innerhalb der Familie hindeutet. Dieses Bewusstsein für Toleranz äußert sich beim Schüler Niebuhr in seiner ebenfalls bereits angesprochenen Verteidigungsrede für Elisabeth Rehfelde im Englischunterricht. Mit einem für einen Abiturienten außergewöhnlichen geschichtlichen Wissen zum Theater- und Literaturkampf im England des 17. Jahrhunderts ausgestattet, offenbart Klaus darüber hinaus theologische Kenntnisse, die auf die Lektüre der Heiligen Schrift verweisen und über diese hinausgehen: »Sie [= die Puritaner; P. O.] waren bürgerlich und hielten sich an die Bibel, die verbietet nämlich Theater, Sie wissen das wohl.« (IB, 79) Spätestens seit einem Vortrag an der Karl-Marx-Universität in Leipzig60 wusste der Autor, und mit ihm die Figur des Schülers Niebuhr, der er Teile seiner Ausarbeitungen in den Mund legt, dass diese Aussage in ihrer Explizitheit nicht korrekt ist. Das Theater als solches wird weder im Alten noch im Neuen Testament erwähnt: »In der Tat finden wir nirgendwo«, so schon Tertullian, in der Weise, wie klar und deutlich geschrieben steht: »Du sollst nicht töten, du sollst keinen Götzen anbeten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht betrügen«, ein ebenso unmißverständliches Verbot: »Du sollst nicht in den Circus gehen, nicht in das Theater; du sollst keinem Athletenwettkampf und keinem Gladiatorenspiel zusehen«.61

Erst aus einer Analogie von Götzendienst und Schauspiel sowie dem Bilderverbot aus Ex 20,4 leitet Tertullian ein Verbot solchen »Blendwerk[s]«62 ab: »Wie viele weitere anschauliche Beweise haben sich in der Tat von solchen Menschen er-

59 Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 3, Bl. 35. Typografisch ist der explizite Hinweis, dass es sich um einen Kommentar des Erzählers handelt, durch die Einklammerung des Satzes realisiert. 60 Vgl. Uwe Johnson: Thomas Otway: »Venice Preserved« & Literatur im Englischen XVII. [Jahrhundert], in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«, S. 31–61, hier: S. 38–41. 61 Quintus Septimius Tertullianus: De spectaculis. Über die Spiele, Lateinisch/Deutsch, aus dem Lateinischen übers. und hg. von Karl-Wilhelm Weeber, Stuttgart 1988, S. 15. 62 Ebd., S. 19. Vgl. auch ebd., S. 71.

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geben, die vom Herrn dadurch abgefallen sind, daß sie bei den Schauspielen mit dem Teufel gemeinsame Sache gemacht haben!«63 Diesen theologischen Kontext gab Johnson in seinem Vortrag über Thomas Otways Venice Preserved und die englische Literatur des 17. Jahrhunderts wieder, in dessen Verschriftlichung er »[z]um Theaterstreit« ausführt: Die Ablehnung des Theaters durch den Puritanism schreibt sich von den Tagen des Urchristentums schon her. Man beruft sich zunächst auf Plato, der den Wert des Schauspiels leugnete […]. Weitere, und grundsätzlich ausgesuchte Rückhalte ergaben sich aus dem Alten Testament, das kategorisch verbot, sich ein Bildnis zu machen.64

Dass dieses Wissen bei Klaus’ Aussage mitgedacht werden kann, wird durch die folgenden Worte deutlich, die beinahe wörtlich aus Johnsons Vortrag entnommen sind: »Oh ja: sagte Klaus seufzend: Sie sagten das alles aber nicht, sie erklärten heuchlerisch: Theater sei feuergefährlich, und solche Menschen-Ansammlung begünstige die Pestilenz… sie verschwiegen ihre biblischen – what’s the English for ›Hintergedanken‹?« (IB, 79).65 Mit einem beträchtlichen historisch-theologischen Wissen ausgestattet, ohne das auch die ironische Analogie zwischen englischen Puritanern sowie stalinistischer Staats- und Parteiführung in der jungen DDR nicht vollständig dekodiert werden kann, zeigt sich Klaus als ein überaus reflektierter Schüler, der seine (politische) Meinung auch im öffentlichen Raum der Schule nicht verschweigt. Zum Zwecke des Selbstschutzes verbirgt er sie allerdings häufig hinter historischen und literarischen Anspielungen.66 Als literarisch, historisch wie theologisch überdurchschnittlich gebildet ist diese Figur angelegt, versehen mit einer beträchtlichen reflexiven Distanz – das hat die Szene des Tischgebets gezeigt –, die ihn auch im Konflikt um die Junge Gemeinde auszeichnet.

Jürgen Petersen Deutlich diffiziler ist Jürgens Verhältnis zum Christentum. Seine Mutter und seine Schwester Grete sind jene »müde Frau« und jenes »kleine[] Mädchen[]«, die sonntags in den »hinteren Reihen des Mittelschiffs« im Dom sitzen (IB, 69). Der Schüler Petersen hingegen ist seit dem elften Schuljahr »Erster Vorsitzender der Grundeinheit der Freien Deutschen Jugend an der Gustav Adolf-Oberschule« (IB, 164). Dieses Engagement muss vor allem in Abgrenzung zu seinem Nazi63 Ebd., S. 77. 64 Johnson, Thomas Otway, S. 40. 65 In Johnsons Referat heißt es: »Der Magistrat wehrte sich. Er sprach von Feuergefahr Verkehrsstörungen Pestverbreitung – er sprach nicht von seinen puritanischen Hintergedanken«; ebd., S. 41. Vgl. hierzu auch Margot Heinemann: Puritanism and Theatre. Thomas Middleton and Opposition Drama under the Early Stuarts, Cambridge u. a. 1980, S. 18–47. 66 Vgl. auch Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 162.

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Vater verstanden werden, der etwas gegen den Sozialismus »getan habe und ums Leben kam dabei« (IB, 71). Durch seine intensive Hinwendung zum Sozialismus entzweien sich Jürgen und seine Mutter, die ihn am Esstisch als »etwas Niederträchtiges« bezeichnet, »etwas Schuftiges«, von dem sie nicht verstehe, »wie so etwas ihr Sohn sein könne« (IB, 116). Auch wenn der Erzähler Jürgen wie seiner Mutter anlastet, »dass sie nichts anderes mehr tun konnten als sich mit den Worten zerschlagen« (IB, 70), ist es einzig die Mutter, die sich despektierlich gegenüber ihrem Sohn äußert. Statt mit mütterlicher wie christlicher Milde und Nächstenliebe Vorbild für ihre Kinder zu sein, wirkt das Verhalten Frau Petersens herzlos, verbittert und wenig einsichtig; »über ihre Bosheit und in ihrem Kummer« (IB, 71) verfällt sie sogar selbst in Tränen. Nach moralischem Handeln, das mit ihrem vorgeblichen Glauben und einer damit einhergehenden christlichen Ethik vereinbar wäre, sucht man bei Jürgens Mutter vergeblich. Grundlegend anders verhält sich dies bei ihrem Sohn Jürgen, der als ehrlich und solidarisch charakterisiert wird. Sein Handeln ist von Aufrichtigkeit und Humanität geleitet:67 »Klaus hatte versucht ihr [= Jürgens Mutter; P. O.] zu erklären: Jürgen meine es eben ehrlich mit seinen Sachen, und vielleicht seien die ganz richtig so (für Jürgen).« (IB, 71) Mit seiner aufrichtigen wie menschlichen Einstellung einher geht sein Bemühen um Vermittlung. Wie bei der Rückgabe des FDJ-Mitgliedsbuches an Elisabeth Rehfelde ist Jürgen auch in der Beziehung zu seiner Mutter an der Beilegung des Konflikts interessiert. Als diese ihn am Nachmittag nach der Schülervollversammlung zum ersten Mal aus dem Gartenbaubetrieb abholt, lässt er sich auf die Geste der Mutter ein, obwohl es ihm »nicht recht« ist: »Er hätte ihr lieber erklären mögen dass seine Sache mit der Partei nichts Ungeheures sei« (IB, 188f.). Im Gegensatz zur zweiten Fassung, in der Jürgen bis vor einem Jahr selbst Anhänger der Jungen Gemeinde war68 und mit Pastor Barnow ein erbittertes Streitgespräch – wenn auch »sehr höflich«,69 wie der Erzähler mehrfach betont – über das Verhältnis von Sozialismus und Christentum führt,70 spielt eine 67 Annekatrin Klaus hat gezeigt, dass es »diese tolerante und menschliche Haltung ist […], die in Ingrid den Wunsch weckt, ›Jürgen zu küssen‹ für seine ›schwierige Aufrichtigkeit‹«; Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 106. Vgl. IB, 107. 68 Vgl. Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 3: »Er mochte es immerhin für unhöflich und nicht aufrichtig halten dass er seit einem Jahr etwa den Dienstagabenden Herrn Barnows ferngeblieben war: ohne dies zu erklären.« 69 Vgl. ebd., Mappe 4, Bl. 11. 70 Vgl. ebd., Mappe 4, Bl. 10f.: »Jürgen sagte: Er sei von der Gültigkeit des Marxismus ebenso überzeugt wie Pastor Barnow von seiner Glaubensart. Aber diese verbiete nicht den Marxismus. Das sei anders: sagte Jürgen […]: Die Kirche würde den Marxismus recht gern verbieten; jedoch habe sie nicht die Möglichkeit dazu, sie sei ihr abhanden gekommen. Was ihn (Jürgen) angehe, so finde er das in der Ordnung. In der Ordnung nämlich sei gelegen dass die Kirche dies Leben ansehe als eine Vorbereitung auf ein künftiges, der Marxismus sehe nur

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christlich geprägte Kindheit und Jugend des Schülers Petersen in der vierten Fassung nur noch am Rande eine Rolle. Sein moralisches Verhalten, das auf Mitmenschlichkeit und Toleranz basiert, lässt sich nicht primär auf einen christlichen Wertekanon beziehen. In der Freundschaftsbeziehung zu Ingrid und Klaus verkörpert Jürgen das Dazwischen, den Dritten, strukturell vergleichbar seiner Haltung zum Dualismus von Staat und Kirche, Sozialismus und Christentum. Vom unaufrichtigen Christsein seiner Mutter hat er sich distanziert, wie er sich im Zuge der Auseinandersetzung um die Junge Gemeinde von Direktor Siebmann und der Parteilinie entfernt. Für Jürgen scheint die Vorstellung eines ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ prägend zu sein; einer Menschlichkeit, die sich kaum besser wiedergeben ließe als mit drei biblischen Worten, die im Schaukasten der Jungen Gemeinde zu lesen sind: »Liebet eure Feinde« (IB, 91; Kapitälchen im Original). Die Auseinandersetzung zwischen Partei und Kirche wird auf die Figur des Jürgen Petersen projiziert und mit seinem (Sich-)Verhalten eine alternative (politische) Handlungsmöglichkeit offenbart. Gleichwohl durchläuft Jürgen eine Entwicklung, in der er sich dem Denken von Klaus annähert.71 Noch vor seiner parabolischen Rede von den Guten und Bösen Kindern wird Jürgen vom Erzähler als »der bestgehasste Mann der Oberschule« (IB, 145) charakterisiert. Zwar sucht er von Beginn an »das Gespräch und den Ausgleich«,72 ähnelt in seinem Denken und Sprechen aber viel stärker Direktor Siebmann. Von diesem distanziert er sich spätestens mit seiner Rede vor der Schülervollversammlung und bestätigt diese Lossagung im direkten Gespräch mit ›Pius‹ am Freitagvormittag, indem er ihn am Ende des Gesprächs »vollständig aufrichtig[]« fragt: »Pius sei wohl verrückt?« (IB, 227) das gegenwärtige. Also sei er auf die Vollständigkeit des Lebens bedacht. Darum seien seine Leute bedacht zu leben, und also bedacht solche Möglichkeiten zu besitzen mit denen man Hinderliches übergehen könne. Es stehe Herrn Barnow im übrigen frei solche Entschiedenheit zu verstehen als eine Engstirnigkeit die der Jugend eigentümlich sei. Dies stehe ihm nicht so frei: entgegnete Barnow. Er unterlasse das also. Was aber nun die Wege (Hinderliches zu übergehen) und deren Auswirkungen betreffe: geschehen nicht viel sogenannte Überzeugung mehr aus Angst und bequemen Rücksichten denn aus Einsichten? Das sei so: sagte Jürgen. Vorläufig sei der menschlichen Vernunft zuviel zugemutet. Nach drei Generationen jedoch werde sich die Lebensweise des Sozialismus als die natürlichste unter den vorhandenen vielleicht erwiesen haben, und er stehe nicht an für die vierte Generation eine gewisse Einsicht vorauszusagen. Jürgen gehe etwas grosszügig um mit Generationen, gehe er nicht? Und Jürgen gehe etwas unehrfürchtig um mit Peter Beetzens Lebensrecht, tue er das? Aber er sei ein sehr höflicher Mensch: der Jürgen Petersen.« 71 Vgl. Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 137. Vgl. IB, 223f.; Hervorhebung P. O.: »Der Schüler Petersen bedachte was er noch hatte, in der Tat fand sich ein Wunsch: er möge die Babendererde niemals aus solcher neugierigen Entfernung betrachten und mit solchem Spott wie jetzt Pius. (Den er doch geachtet hatte zu Zeiten.) Und ihm fiel ein dass dies wohl die Sehweise war, die Klaus unablässig betrieb. […] Mit dieser Frage sei nur: sagte Jürgen nachdenklich: Dass er sie nicht beantworte. Das war eine Klausensche Antwort gewesen.« 72 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 105.

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Dr. Ernst Kollmorgen und die bürgerlichen Lehrer Noch vier Tage zuvor sitzt Jürgen im Erdkundeunterricht von Dr. Ernst Kollmorgen, der aufgrund seines mecklenburgischen Dialekts von den Schülern nur ›Ähnst‹ genannt wird (vgl. IB, 16), und wundert sich über die »grosse Gleichgültigkeit« (IB, 21), mit der sein Lehrer den Unterrichtsgegenstand an seine Schüler vermittelt. Er führt dieses Verhalten darauf zurück, »dass Ähnst von Dingen gesprochen hatte, an die er nicht glauben wollte und deren Voraussetzungen er wahrscheinlich nicht mochte. Also behandelte er das Ganze als Stoff bloss, als Stoff, der auswendig zu lernen war.« (IB, 21) Doch der vom Erzähler vermittelte Eindruck, alle Schüler der Klasse 12 A seien froh darüber, dass sie sich nicht zur Unterrichtsthese, »[d]ie Gründe für die bisher ungenügende Ausnutzung der Naturkräfte, man hat da Westeuropa im Auge, liegen im System des Privateigentums« (IB, 17), äußern müssten, wird durch die Perspektivierung auf Jürgen revidiert. Er nämlich hält es für »höchst schädlich, wenn man so wichtiges Wissen als Lernstoff nur vermittle«, und fühlt sich »befangen vor diesem Herrn, der ein Schädling war: ein Schädling mit einem erwachsenen Knabengesicht unter schwarzen Haaren« (IB, 21). Mit nur einem (Signal-)Wort erweitert Johnson den Kontext über die konkrete Kritik am Erdkundelehrer Kollmorgen hinaus, indem er an den nationalsozialistischen Terminus des ›Volksschädlings‹ erinnert, der zum agitatorischen Sprachschatz der NS-Propaganda gehörte.73 Infolge der Begriffsverwendung durch einen FDJ-Kader rekurriert der Erzähler auf die »ungenierte[] Übernahme[] aus dem NS-Sprachgebrauch«74 in die sozialistische Staatsdoktrin und impliziert damit eine fehlende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR.75 Der weitere 73 Die Propaganda gipfelte in einer sieben Paragrafen umfassenden Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939; vgl. Hermann Göring/Wilhelm Frick/Hans Heinrich Lammers: Verordnung gegen Volksschädlinge, in: Reichsgesetzblatt 1939, Teil 1, Nr. 168 vom 6. 9. 1939, S. 1679. 74 Sabina Schroeter: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typischen Wortschatz, Berlin 1994, S. 193. 75 Durch einen Blick in das Neue Deutschland lässt sich diese These leicht verifizieren. Bereits am 22. Juni 1947 titelte das Zentralorgan der SED: Zuchthausstrafen für Volksschädlinge, in: Neues Deutschland, Nr. 143 vom 22. 6. 1947, S. 4. Während sich der Gebrauch des Begriffs bis in die 1950er Jahre anhand von Meldungen des Neuen Deutschland bestätigen lässt, setzte Ende des Jahrzehnts ein Wandel ein. Der Terminus ›Volksschädling‹ wurde fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Nationalsozialismus und dessen Aufarbeitung in (West-)Deutschland gebraucht; vgl. etwa Der Staat der Mörder. Aus der Rede Prof. Albert Nordens auf der internationalen Pressekonferenz in Berlin, in: Neues Deutschland, Nr. 122 vom 24. 5. 1957, S. 1: »In Stuttgart gehören der Leitung der dortigen Justiz sieben Mörder des Hitlerregimes an, darunter der Landgerichtsrat Dr. Atzesdorfer, der zahlreiche Deutsche und Polen als sogenannte Volksschädlinge hinrichten ließ und dafür am Ort seiner Verbrechen jetzt zum Landgerichtsdirektor aufgestiegen ist.« Ähnlich verhielt es sich mit dem Kampfbegriff des ›politischen Schädlings‹, der bis Ende der 1950er Jahre ebenfalls zum Repertoire der DDR-Propaganda gehörte: »Der Minister des Innern, Karl Maron, hat zum

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Verlauf lässt vermuten, dass sich die an dieser Stelle unreflektierte Sprachverwendung Jürgens auf den Einfluss Direktor Siebmanns zurückführen lässt. Der Leiter der Gustav Adolf-Oberschule bezeichnet die Anhänger der Jungen Gemeinde als »Volksfeinde« (IB, 141) 76 und blickt selbst auf eine nationalsozialistische Vergangenheit zurück.77 Direktor Siebmann ist aber auch nur Stellvertreter, ausführendes ›Organ‹ einer staatlich verordneten Politik, die aufs engste mit einer propagandistischen Terminologie verbunden ist. In der zweiten Fassung des Romans ist es ein auswärtiger Funktionär, der Peter Beetz als einen »offene[n] Schädling«78 tituliert. Noch an anderer Stelle wird deutlich, dass Dr. Ernst Kollmorgen den Vorgaben der Schulleitung, der Partei und dem Ministerium für Volksbildung nur widerwillig folgt. Während Klaus im Erdkundeunterricht aus dem Fenster schaut, bemerkt er, dass sein Lehrer sich weigert, »die Junge Gemeinde mit irgend etwas« (IB, 27) zu vergleichen. Der Abiturient stellt dies in unmittelbaren Zusammenhang mit Kollmorgens Beziehung zur Kirche: »Aber Ähnst liess seine Tochter immer noch in die Christenlehre gehen« (IB, 27). Folgerichtig konstatiert Lutz Hagestedt, die Figur müsse »als klares Aufbegehren gegen den gesellschaftlich oktroyierten Auftrag der Autorschaft gelesen werden, und als Einwand überdies gegen den verordneten Atheismus, der von allen Bildungsinstitutionen der DDR mitzutragen war«.79 Relativ zum klassischen Schulroman zeichnet Johnson ein differenzierteres Bild der Lehrerschaft, das eine bloße Opposition zwischen Schülern auf der einen und Lehrern auf der anderen Seite nicht zulässt.80 So ist die Bank, auf der die

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10. Jahrestag einen Tagesbefehl an die Angehörigen der bewaffneten Organe des Ministeriums erlassen. […] Die Angehörigen der Deutschen Grenzpolizei haben den Schutz unserer Staatsgrenzen so zu verstärken, daß kein Spion oder Schädling in unsere Deutsche Demokratische Republik eindringen kann«; Wir schützen unsere Republik. Tagesbefehl des Ministers des Innern, in: Neues Deutschland, Nr. 276 vom 7. 10. 1959, S. 8. Schroeter verweist auf die Vielzahl von Komposita mit ›Volks-‹ in der DDR, und das »trotz des kompromittierenden Gebrauchs durch die Nationalsozialisten«, was »Assoziationen an die Zeit vor 1945« zuließ; Schroeter, Sprache der DDR, S. 193. Vgl. IB, 160: »In den Sportstunden allerdings berichtete Herr Siebmann öfters und spannend über seine Erlebnisse im faschistischen Kriege, dessen Ende ihn im Rang eines Unteroffiziers betraf, und schloss mit der regelmässigen Bemerkung: nie wieder dürfe hoffnungsvolle Jugend derart missbraucht werden, und man müsse aus seinen Fehlern lernen.« Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 30. Lutz Hagestedt: Reiferpüfung für Leser. Ingrid Babendererde aus ost- und westdeutscher Sicht, in: ders./Michael Hofmann (Hg.): Uwe Johnson und die DDR-Literatur. Beiträge des Uwe Johnson-Symposiums Klütz, München 2011, S. 87–124, hier: S. 117. Vgl. hierzu weiterführend Carsten Gansel: Uwe Johnsons Frühwerk, der IV. Schriftstellerkongress 1956 und die Tradition des Schulromans um 1900, in: Internationales Uwe-JohnsonForum 2, 1992, S. 75–129, hier: S. 96–106; Heide Meincke: »Unter solchen Umständen habe man sich aufeinander verlassen können«. Zum Freundschaftskonzept in Ingrid Babendererde und seiner Anwendung im Deutschunterricht, in: Johnson-Jahrbuch 20, 2012, S. 224–236, hier: S. 231.

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Lehrer im Verlauf der Schülervollversammlung am Donnerstag sitzen, »in zwei säuberliche[] Abschnitte[]« geteilt: »von Herrn Sedenbohm bis zu Herrn Dr. Krantz befanden sich die Bürgerlichen, neben Dr. Krantz sass Frau Behrens« (IB, 144). Der vom Erzähler aus der sozialistischen Propaganda aufgegriffene Dualismus zwischen Bürgerlichen und Proletariern bzw. Sozialisten wird scheinbar bestätigt, wenn zu Fräulein Danzig bemerkt wird, sie »billigte Herrn Beetz sehr« (IB, 144). Aus dieser Einschätzung lässt sich eine Verbundenheit der Lehrerin mit der Jungen Gemeinde ableiten,81 die auch der kirchlich gebundene Dr. Kollmorgen teilt. Die Mehrzahl der ›bürgerlichen Lehrer‹ wird jedoch mit keiner konfessionellen Bindung assoziiert. Vor allem aber wird die Bezeichnung ›Bürgerlicher‹ als Diffamierung gebraucht und beliebig auf Andersdenkende wie Ingrid Babendererde und ihre Familie übertragen (vgl. IB, 222f.).82 Die Opposition ›bürgerlich–proletarisch‹ wird so als bloße Worthülse entlarvt, die auf einem Freund-Feind-Schema basiert und nicht (mehr) auf einer inhaltlichen Differenzierung. Eine andere Meinung Von den Lehrern und Schülern im Roman lässt nur eine geringe Zahl der Lehrer eine konfessionelle Bindung erkennen. Für die Mehrheit der Schüler, insbesondere für die Protagonisten Ingrid, Jürgen und Klaus, lässt sich im Vergleich zur Elterngeneration sogar ein Verlust an religiöser Bindung konstatieren. Für sie fungiert der Dom der Stadt beinahe ausschließlich als Orientierungspunkt, nicht jedoch als Raum liturgischer Prozesse. Dieser im Roman erzeugte Eindruck lässt sich auf die Perspektivierung zurückführen, durch die die drei Freunde ins Zentrum der Erzählung, und damit auch des religiösen Diskurses, rücken. Parallel zu den politischen Auseinandersetzungen um die Junge Gemeinde finden Gottesdienste und wöchentliche Zusammenkünfte der christlichen Jugendorganisation statt. Kollmorgens Tochter geht in die Christenlehre, und bei den Niebuhrs gehört das Tischgebet zur Mahlzeit. Dadurch vermittelt der Erzähler dem Leser, dass es ein religiöses Leben in der Stadt, bei Lehrern und Schülern gibt. Die sozialistische Propaganda, der zufolge Religion ein bürgerliches Überbleibsel sei, wird durch diese gelebte 81 Vgl. hierzu Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 127. 82 Indessen führt Direktor Siebmann ein Leben, das aus der Sicht der Schüler viel eher dem eines Bürgerlichen entspricht: »Und es gefiel ihnen [= den Schülern; P. O.] nicht die von Herrn Siebmann nach seiner Beförderung bewohnte Villa am Hafen angesichts der notdürftigen Wohnverhältnisse in der Stadt, sie fanden seine durchaus bürgerlich prächtige Hochzeit mit der Tochter von Herrn Mehrens lächerlich, an Herrn Siebmanns Übergang vom blauen Hemd zum soliden Anzug ärgerte sie sonderlich der Schlips, und wenn sie ihm am Sonntagnachmittag begegneten neben dem eleganten Kinderwagen und Aufzug seiner Frau, liessen sie ihn den Hut abnehmen« (IB, 163).

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(und sogar demonstrierte) Praxis in einer mecklenburgischen Kleinstadt entschieden infrage gestellt. Die Christen stellen sich ihrer Gegenwart, indem sie sich der Staatsdoktrin entgegenstellen. Aus heutiger Perspektive lässt sich festhalten, dass Johnson Gespür zeigt für das Beharrungsvermögen einer geistlichen Kraft, die sich ihrer Gegenwart auch dadurch manifestiert, dass sie ihr den Takt vorgibt: Schlag und Stunde folgen der Kirchturmuhr. In der ›Nischengesellschaft‹ der DDR, die sich hier bereits konstituiert, wird der Raum konfessioneller Bindung und kirchlicher Institution ein mächtiger Gegenspieler der Staatsführung werden, ein Hort beharrlicher Opposition. Weitergehende Markierungen im konfligierenden religiösen Diskurs bleiben bewusst ausgespart und werden von der zweiten zur vierten Fassung des Romans weiter reduziert. Dies ist insofern konsequent, als es dem Erzähler, und mit ihm Johnson, nicht um die Rolle der Religion in der jungen DDR geht, sondern um die Kampagne und den politischen Missbrauch durch Staats- und Parteiführung, der bis zum Verfassungsbruch reicht. Nur folgerichtig begründet Klaus seinen am Freitag postalisch eingereichten Antrag, »man möge ihn aus der Schülerliste streichen« (IB, 225), mit den »Artikeln der Verfassung 41 42 43 […] und in Erachtung der Artikel 9 12« (IB, 226),83 und nicht zufällig jährt sich einen Tag, nachdem Ingrid und Klaus ihre Heimat verlassen haben, die Annahme der Verfassung der DDR zum vierten Mal.84 Das Einlassen auf die von Staats- und Parteiführung begonnene (Schein-) Diskussion über die Rolle der Kirche würde diesem ›Kirchenkampf‹ seine Berechtigung zusprechen. In einer solchen Diskussion bestünde überdies die Gefahr, den Anteil der kirchenfeindlichen Politik im Nationalsozialismus und in der jungen DDR am Bedeutungsverlust der Kirchen bei den nachwachsenden Generationen nicht genügend zu berücksichtigen. Stattdessen persifliert der Erzähler die sozialistische Propaganda, indem er Jürgen über eine der wenigen direkten Bibelreferenzen im Roman sinnieren lässt: »Sicherlich hatten die von der Jungen Gemeinde sich etwas gedacht bei der Schrift in ihrem Schaukasten Liebet eure Feinde, unter Umständen hatten die damit wirklich den Klassenkampf behindern wollen.« (IB, 91) Die zentrale Bedeutung der Wiedergabe von Mt 5,44 wird neben der expliziten Markierung durch die Erzählweise hervorgehoben. Zwischen Jürgen und der direkten Bibelreferenz befinden sich zwei Erzählund damit auch Rezeptionsebenen, auf denen der Prätext aus seinem ursprüng-

83 Die Artikel 41 bis 43 der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (Verf. DDR von 1949) regelten die Glaubens- und Gewissensfreiheit, während die Artikel 9 und 12 die Meinungsfreiheit und das Recht zur Bildung von Vereinen und Gesellschaften festhielten; vgl. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, mit einer Einleitung von Karl Steinhoff, Berlin 1949, S. 31f., 18f. 84 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.5; Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 154.

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lichen Kontext herausgelöst und neu kontextualisiert wird.85 Das Vorgehen ähnelt sich auf beiden Ebenen, die Art der Kontextualisierung ist jedoch grundverschieden. Im Schaukasten der Jungen Gemeinde lässt sich Mt 5,44 als Synekdoche für einen der zentralen Texte der christlichen Ethik, die Bergpredigt, lesen.86 Aus diesem Kontext löst Direktor Siebmann die biblischen Worte und rückt sie in einen politischen Kontext, in dem der Intertext seiner biblischen Semantik gegenübersteht. Er wird zur bloßen Proposition, deren Gehalt für die eigene Argumentation verfremdet wird; ein klarer Fall von Instrumentalisierung. Dass ausgerechnet Jürgen, der in einem christlich geprägten Haushalt aufwächst, nicht in der Lage sein soll, diese Instrumentalisierung Direktor Siebmanns zu bemerken, mag zunächst unglaubwürdig und überspitzt wirken. In der Sonderausgabe der Jungen Welt vom April 1953 findet sich jedoch die Abbildung eines Schaukastens mit genau jenem Bibelzitat, kommentiert mit den Worten: Auf Anschlagbrettern und in Schaukästen hetzt die illegale »Junge Gemeinde« im Auftrage der amerikanischen Spionagezentralen in Westdeutschland und Westberlin gegen den Frieden und unsere Deutsche Demokratische Republik. Hier wird ein eigenartiger »Frieden« gepredigt – der Frieden mit den Feinden unseres Volkes, mit jenen, die einen neuen Krieg vom Zaune zu brechen beabsichtigen und im Interesse ihrer Profite Not und Elend heraufbeschwören wollen. Illegal wie die »Junge Gemeinde« sind ihre Anschlagbretter und Schaukästen.87

Allein die Rezeption dieser Bibelpassage verdeutlicht unterschiedliche Formen und Funktionen von (biblischer) Intertextualität. Die Ausführungen zum religiösen Diskurs in Ingrid Babendererde haben überdies einen ersten Eindruck vermittelt, wie differenziert Johnson die politische Situation des Jahres 1953 literarisch verarbeitet und dabei auf theologische Ausführungen verzichtet. Deutlich wird hierbei, dass das Vorgehen des Staates gegen die Kirche, der FDJ gegen die Junge Gemeinde nicht einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit einer anderen Meinung diente, sondern einzig die ›Liquidierung‹ von Strukturen Andersdenkender und die Monopolisierung der sozialistischen Staatsdoktrin zum Ziel hatte.

85 Zunächst einmal wird die Bibelstelle (erste Ebene) herausgelöst aus ihrem Kontext im Schaukasten präsentiert (zweite Ebene). Darüber hinaus greift Jürgen die Worte von Direktor Siebmann, der Bibelstelle und Schaukasten in den Kontext seiner Ansprache im Unterricht (dritte Ebene) integriert, auf. Insofern ist Jürgens Wiedergabe der Bibelstelle nach Genettes Typologie der narrativen Ebenen metametadiegetisch; vgl. Genette, Erzählung, S. 162–165. 86 Vgl. hierzu etwa Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, Teilbd. 1: Mt 1–7, Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1985, S. 188–191. 87 »Junge Gemeinde« (Sonderausgabe), S. 1.

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Wir sollten wohl mal Geschichte wiederholen?«

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Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Wir sollten wohl mal Geschichte wiederholen?«

Die Analyse der Instrumentalisierung des Gebots der Feindesliebe aus Mt 5,44 hat einen ersten Eindruck davon vermittelt, dass sich der politisch-kirchengeschichtliche Rahmendiskurs in Ingrid Babendererde mit dem Kampf gegen die Junge Gemeinde nicht auf die juristische Ebene mit dem Vorwurf der Agententätigkeit und dem angeblichen Status als Organisation beschränkt. Die These aus der zweiten Romanfassung, wonach Religion ein »bürgerliches Überbleibsel«88 sei, als auch die Instrumentalisierung von Mt 5,44 verweisen auf eine Argumentationsstruktur, in der durch selektive Auswahl und Umdeutung auch auf inhaltlicher Ebene gegen die Kirche und ihre Mitglieder vorgegangen wird. Auf teils offensichtliche, wie beim Verweis auf das Gebot der Feindesliebe, und teils versteckte Art wird der Schein inhaltlicher Auseinandersetzung der Staatsvertreter mit der christlichen Jugendorganisation in Johnsons Erstling aufgegriffen. Argumentativ ausgerichtet ist diese (Schein-)Auseinandersetzung auf die Bestätigung der sozialistischen Staatsdoktrin, die ein Nebeneinander von Staat und Kirche nicht vorsieht.89 Die Folge ist eine Funktionalisierung von Zitaten, Symbolen und ganzen Diskursen durch Vertreter des Staates wie Direktor Siebmann. Beispielhaft lässt sich dies anhand zweier kirchengeschichtlicher Teildiskurse vorführen, die in den Roman eingegangen sind: dem Diskurs zum Verhalten gegenüber der Obrigkeit, der auf der Schülervollversammlung durch die Rolle Luthers im Bauernkrieg angesprochen wird, und dem Schulddiskurs in Bezug auf die Rolle der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) zur Zeit des Nationalsozialismus.

88 Erster Teil, Kap. 1, Anm. 45. 89 Diese Auffassung basiert auf Karl Marx’ Religionskritik, wie er sie u. a. in seiner Kritik zur Hegel’schen Rechts-Philosophie formulierte: »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. […] Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks«; Karl Marx: Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie. Einleitung, in: ders./Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei, Bd. I.2: Werke, Artikel, Entwürfe. März 1843 bis August 1844, bearb. von Inge Taubert u. a., Berlin 1982, S. 170–183, hier: S. 170f.; Kursivdruck im Original.

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Die ›deutsche Schuld‹: Stuttgarter Erklärung Nach ihrem Streit über die ›doppelte Elisabeth‹ im Englischunterricht fragt Klaus seinen Freund Jürgen in der anschließenden Deutschstunde: »Wir sollten wohl mal Geschichte wiederholen?« (IB, 97). Sie verabreden sich zusammen mit Ingrid für den Mittwochnachmittag. Den Plan der drei greift der Erzähler auf und deutet dem Leser in einer Prolepse an: dieser »erwies sich deutlich als unpassend für die gegenwärtigen Umstände« (IB, 103). Am Nachmittag vergeht eine gefühlte Ewigkeit, in der die drei Freunde, zwischen denen ein »spöttischer Durchzug« (IB, 105) herrscht, nur das Nötigste miteinander sprechen. Erst im Verlauf ihrer Zusammenkunft beginnen sie, sich über sowjetische Geschichte auszutauschen, um nach beinahe zwei Stunden »zufällig« auf den Verlauf der Geschichtsstunde zu sprechen zu kommen, in der Direktor Siebmann »auf eine. Man dürfe wohl sagen: gefährliche. Erscheinung.« eingegangen ist (IB, 105, 89). Klaus erkennt früh, dass der Direktor der Gustav Adolf-Oberschule seinen Unterricht dazu missbraucht, historische Ereignisse so zu »dreh[en] […] wie ers brauchen kann« (IB, 90). So spannt er den Bogen »über den Klassenkampf im siebzehnten Jahrhundert« bis hin zur Jungen Gemeinde, um zu folgern: »Und was damals. Historisch! Historisch notwendig war –: istheuteineinStadiumdesVerfaulensundAbsterbensgetreten!!« (IB, 88) In Jürgen lösen die Ansichten seines Direktors, deren Prosodie vom Erzähler durch die Form der Redewiedergabe kritisch kommentiert wird,90 einen inneren Konflikt aus,91 über den er am Nachmittag mit seinen Freunden sprechen möchte. Doch so wenig der Umstand »zufällig« ist, so wenig handelt es sich um ein Dialog im emphatischen Sinne, d. h. um einen Gedankenaustausch mit offener Argumentation und Aussicht auf Verständigung. Ingrid und Klaus sind auf ein solches nicht bedacht, befinden sich gar »in der stillschweigenden Übereinkunft: dies zu besprechen sei nicht von Nöten, und legten ihre Sachen zusammen« (IB, 106). Jürgen wünscht allerdings etwas zu sagen und beginnt, die Auseinandersetzung mit Klaus in der Englischstunde zu bewerten: Wir haben uns ausgeschwiegen letztens, und ich möchte dies mal sagen. Wir wissen dann wie wir stehen und sparen uns das conversational English. / Sie seien alle drei nicht mit der Jungen Gemeinde verschwägert, und keiner werde sie für bedeutend halten. Was ihn (Jürgen) angehe: so halte er sie für albern. Sie habe nichts weiter zu sagen. Es sei nicht weiter schade um sie. (IB, 106)

Sobald der Erzähler die Einleitungsfloskel von Jürgen in direkter Rede wiedergegeben hat, »schneidet« er seiner Figur »im entscheidenden Moment das Wort

90 Vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 90. 91 Vgl. IB, 91: »Irgend wo hatte Pius recht: dachte Jürgen: Aber das war nicht in seinem Reden.«

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ab« und gibt dessen Einschätzung der Jungen Gemeinde in indirekter Rede wieder.92 Durch den Wechsel der Redewiedergabe lässt sich nur vermuten und nicht zweifelsfrei sagen,93 dass Jürgen durch einen rhetorischen Schachzug seine eigenen Zweifel am Vorgehen gegen die Junge Gemeinde auszuräumen versucht: Nach der unterstellten Übereinkunft mit den Freunden, die durch die unbestimmte Numerale »alle« bereits gesteigert wird, bedient sich Jürgen eines argumentum ad populum.94 Was hier jedoch (implizit) nach Zustimmung heischt, findet keine. Denn wenn »keiner« die Junge Gemeinde für bedeutend hält, lässt sich auch ein Vorgehen gegen sie nur schwer rechtfertigen. Klaus erkennt diesen Widerspruch und fragt: »Aber wozu habe die Republik eigentlich ihre Polizei für Staatssicherheit?« (IB, 106f.) Zunächst reagiert Jürgen nur mit einem »höflich[en]« und gelangweilt wirkenden »Ja-a« (IB, 106). Ingrid sieht ihn hingegen überhaupt nicht mehr an, nachdem sie ihn zu Beginn noch »aus wachsamer Entfernung« betrachtet hat (IB, 106). Wenn ›echte‹ Dialoge performative Sprechsituationen sind, in denen die Sprecher-Hörer-Relation durchgängig umkehrbar ist, dann deutet der Gesprächsverlauf hier auf eine Asymmetrie. Es wird zwar etwas gesagt, aber ohne Erfolgsaussicht beim Gesprächsgegenüber. Das argumentum ad populum läuft, dies belegt die (rhetorische) Frage nach der Staatssicherheit, ins Leere – ein Fall von Kommunikation als Nichtkommunikation. Johnson erfasst den Augenblick, in dem der Gesprächsfaden zerreißt und die Staatsmacht die Jugend nicht mehr zu erreichen vermag, was selbst Auswirkungen auf jene hat, die selbst noch der Jugend angehören und Staatsnähe verkörpern. Der Dialog ist von tragischer Sprach- und Hoffnungslosigkeit. Scheinbar unbeeindruckt setzt Jürgen seine Rede fort, die erneut im Modus der indirekten Rede vom Erzähler wiedergegeben wird, durch die einleitende Inquit-Formel jedoch auf eine direkte Übertragung verweist: Jürgen sagte: Er meine nun wirklich: die beiden letzten Kriege wären weniger ausführlich geworden, wenn sie nicht soviel Segen dazu gehabt hätten. Und wenn die Kirche 92 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 90. Dass der Moduswechsel durch den Schrägstrich typografisch markiert werde, wie Leuchtenberger weiter annimmt, ist angesichts eines zweiten Schrägstrichs auf derselben Seite wenig überzeugend; vgl. ebd. Der zweite Schrägstrich steht zwischen zwei Sätzen, die beide in indirekter Rede vom Erzähler wiedergegeben werden: »Er (Jürgen) glaube ihr das. / Nun meine aber die Junge Gemeinde: sie habe doch noch etwas zu sagen.« (IB, 106) Die beiden Schrägstriche lassen sich als typografisches Mittel deuten, um Pausen innerhalb der Rede Jürgens zu markieren, zumal an beiden Stellen ein Themen- bzw. Perspektivenwechsel erfolgt. 93 »In der indirekten Rede […] kann im Prinzip alles Gesagte dargestellt werden, es fehlt jedoch die Wörtlichkeit, d. h. wir wissen in diesem Fall nicht, wie die ›wirklich‹ gesprochenen Worte der Figur lauten«; Genette, Erzählung, S. 52; Kursivdruck im Original. 94 Das Indefinitpronomen »keiner« verweist hier auf die drei Freunde, generalisiert aber auch über diese hinaus.

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zwei Jahre nach dem Faschismus nach Stuttgart ziehe und dort bekenne: sie sei also schuldig: so brauche sie sich nicht zu wundern, wenn man ihr das glaube. Er (Jürgen) glaube ihr das. / Nun meine aber die Junge Gemeinde: sie habe doch noch etwas zu sagen. Und das hat sie vielleicht auch – in Stuttgart, aber nicht mehr bei uns. Also sei sie Stuttgarter Umständen wohl günstiger gesinnt als landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, und vielleicht tun die auch mal was gegen die LPGs. (IB, 106)

Im zweiten Teil seiner Rede erweitert Jürgen sein persönliches Urteil über die Junge Gemeinde um die generelle Rolle der Kirche angesichts der Mitschuld, die sie in beiden Weltkriegen zu verantworten hat. Explizit verweist er auf die Stuttgarter Erklärung, ein von Hans Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller verfasstes Bekenntnis der neugegründeten EKD, in dem ihre Vertreter die (Mit-)Schuld der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus eingestehen. Doch nicht »zwei Jahre nach dem Faschismus« wurde die Stuttgarter Erklärung verlesen und verabschiedet, sondern am 19. Oktober 1945 im Rahmen einer Sitzung des Rates der EKD mit Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen in der Landeshauptstadt Württemberg-Badens. Darin bekennen ihre Vertreter, dass wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer grossen Gemeinschaft wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit grossem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.95

Dass Jürgen die Stuttgarter Erklärung falsch datiert, könnte man auf einen Fehler des Autors zurückführen96 – als Johnson-Leser ist man aber gewarnt, auf eine so einfache Erklärung nicht vorschnell hereinzufallen. Möglicherweise dient die falsche Datierung als Nachweis einer wenig fundierten und mit Fehlern behaf95 Wurm u. a., Stuttgarter Erklärung, S. 62. 96 Auch ein Vergleich der Fassungen hilft hier nicht weiter. In der zweiten Fassung ist die Rede Jürgens anders gestaltet, die Stuttgarter Erklärung findet keine Erwähnung. Stattdessen spricht Jürgen über politische Reife: »Ob dies mit der Jungen Gemeinde nun nach Hintergedanken aussieht oder nach Ungerechtigkeit –: egal. Ich sehe ein dass das notwendig ist, und ich verbiete mir dann den Gesichtspunkt allgemeiner Moral. Dies Verzichtenkönnen und Zugestehen nenne ich politische Reife… Bitte ich meine nicht ihr seid unreif. Aber ihr seid eben bürgerlich, und seid mit euch beschäftigt (entschuldigt bitte), und ich weiss dass ihr es nicht könnt. Jeder macht seines, und seid mir nicht böse«; Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 2, Bl. 20. In die dritte Fassung ist die entsprechende Passage aufgenommen, wird jedoch von Klaus gesprochen und enthält ebenfalls die Datierung auf »zwei Jahre nach dem Faschismus«; Uwe Johnson: [ohne Titel; Ingrid Babendererde], 3. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/ 000231, Mappe 1–4, hier: Mappe 2, Bl. 21.

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teten Argumentation Jürgens. Ebenso denkbar erscheint es, in ihr einen Hinweis auf das im August 1947 vom Bruderrat der EKD veröffentlichte Darmstädter Wort zu sehen, das »deutlicher als das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 in der Tradition der Bekennenden Kirche«97 steht. Unabhängig von der falschen Datierung weist auch an dieser Stelle die Bezugnahme auf die Stuttgarter Erklärung implizit über die Mitschuld der Evangelischen Kirche an den Verbrechen des Nationalsozialismus hinaus auf den Umgang mit der ›deutschen Schuld‹ in der DDR. Jürgens Aussage, die Junge Gemeinde habe aufgrund des Schuldbekenntnisses der EKD vielleicht noch »in Stuttgart, aber nicht mehr bei uns« etwas zu sagen, spiegelt das antifaschistische Selbstverständnis des am 7. Oktober 1949 gegründeten ostdeutschen Staates wider. Nach dem Geschichtsbild der DDR war eine Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ nicht notwendig, weil Staat und Bürger per Staatsdoktrin antifaschistisch waren. Die Bürger der DDR lebten in einer ›neuen Zeit‹, die die Überwindung der ›alten Zeit‹, des Faschismus, zur Voraussetzung hatte. Wie sehr dieses Geschichtsbild Programmatik und Wunschdenken, wie wenig es Realität war, dafür steht neben Direktor Siebmann sinnbildlich die Familie Petersen. Jürgens Vater ist für die nationalsozialistischen Verbrechen aktiv mitverantwortlich, sodass die Verantwortung an der Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ für den Schüler Petersen keinesfalls geringer ausfallen kann als für die Anhänger der Jungen Gemeinde. Daran ändert auch sein Engagement in der FDJ nichts, weil es von einem Engagement für eine neuerliche Ideologie zeugt. Klaus kritisiert dieses Engagement mit seiner Frage nach der Rolle der »Polizei für Staatssicherheit« (IB, 107) und deutet pointiert strukturelle Parallelen zwischen alter und neuer Ideologie an. Wie sehr Jürgens Reden der staatlichen Ideologie verpflichtet ist, verdeutlicht der agitatorische Ausspruch, dass die Anhänger der Jungen Gemeinde »jetzt vielleicht sehen können: wohin sie gehören« (IB, 107), und der Wechsel in der 97 Peter Steinbach: Schuld und Verantwortung. Kirchen im Umgang mit ihrer Geschichte nach 1945, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): »Überall Luthers Worte…«. Martin Luther im Nationalsozialismus [Katalogband], Berlin 2017, S. 247–260, hier: S. 253f. Im Darmstädter Wort, das von Hans Joachim Iwand und Karl Barth formuliert wurde, bekennt sich der Bruderrat der EKD im Gegensatz zur Stuttgarter Erklärung dazu, dass »wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eignen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heimrufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind«. Das wiederkehrende Bekenntnis, in die Irre gegangen zu sein, mündet in der Forderung zur »Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi«; Ein Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes, zitiert nach Bertolt Klappert: Bekennende Kirche in ökumenischer Verantwortung. Die gesellschaftliche und ökumenische Bedeutung des Darmstädter Wortes, München 1988, S. 12f., hier: S. 12f.

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Denotation des Personalpronomens ›wir‹: »Wir machen vielleicht aus einer Mücke einen Elefanten, aber wir haben nicht einen zweiten im Hinterhalt.« (IB, 107) Gebraucht Jürgen das Personalpronomen zu Beginn seiner Rede für die drei Freunde, bezieht es sich hier auf die FDJ. Statt zwischen sich und seinen Freunden zu vermitteln, hat sich die Meinungsverschiedenheit zwischen Jürgen auf der einen sowie Ingrid und insbesondere Klaus auf der anderen Seite noch verschärft. Beide Freunde bemerken dies und greifen vermittelnd in Jürgens Rede ein. Zuerst appelliert Klaus an ihn, mit Peter Beetz und den anderen der Jungen Gemeinde zu reden, politischen Generalisierungen erteilt er eine klare Absage: »Peter Beetz sei nicht die kapitalistische Klasse sondern jemand mit einem Irrtum.« (IB, 107) Ingrid übt zunächst Kritik, indem ihr die Worte entfahren: »Blinder Eifer schadet nur« (IB, 107). Doch bereits zuvor verspürt sie »Lust Jürgen zu küssen« (IB, 107) und setzt ihren Wunsch wenig später in die Tat um, »vorübergehend zwar aber unzweifelhaft« (IB, 108). Mit diesem »Gnadenkuß«98 für Jürgens »schwierige Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit« (IB, 107) versucht Ingrid die Kluft zwischen den Freunden zu überbrücken, was ihr jedoch nicht gelingt. In der anschließenden symbolträchtigen Bootsfahrt können die Freunde ihre Uneinigkeit nicht verbergen: »Jetzt lagen sie schief und sie fuhren im Kreis: da siehst du mal was alles vorfallen kann, wenn drei in einem Boot für sich allein sind und uneinig zusammen.« (IB, 109)99 In der Konsequenz verbringen Ingrid, Jürgen und Klaus den Mittwochabend getrennt voneinander.100 Verhalten gegenüber der Obrigkeit: Die christliche Deutung der Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg Am darauffolgenden Donnerstag bleiben die drei Freunde zunächst getrennt: Klaus verbringt die ersten beiden Schulstunden zu Hause, Ingrid sitzt im Unterricht der 12 A und Jürgen in einer »Sitzung« mit »auswärtigen Funktionäre[n]« (IB, 129). In der Pause nach der zweiten Stunde ruft Jürgen seinen Freund von der Schule aus an und bittet ihn, zur vierten Stunde in die Schule zu kommen: »– Fünfte und Sechste Stunde Versammlung: sagte Jürgen.« (IB, 128) Klaus folgt der Bitte und erscheint zur Lateinarbeit in der vierten Stunde, in der die Klasse einen Text über einen christlichen Missionar »mit dem anglischen 98 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 166. Ikonografisch kann der Kuss auch als Friedens- bzw. Bruderkuss, der auf die frühchristlichen Gemeinden zurückgeht und von Repräsentanten sozialistisch-kommunistischer Staaten als Begrüßungsritual aufgegriffen wurde, gedeutet werden; vgl. Christoph Wetzel: Das große Lexikon der Symbole, 2. Aufl., Darmstadt 2011, S. 172. 99 Vgl. hierzu Meincke, Freundschaftskonzept in Ingrid Babendererde, S. 228. 100 Formal wird die Uneinigkeit der Freunde durch die Synchronisation der Kapitel 26 bis 28 umgesetzt, in denen jeweils erzählt wird, wie Jürgen (Kapitel 26), Klaus (Kapitel 27) und Ingrid (Kapitel 28) den Abend verbringen; vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 54.

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Namen Wolfrat« (IB, 134) übersetzen soll. Der lateinische Text und seine Übertragung durch die Schüler dienen im Roman als Vorausdeutung für das folgende Handlungsgeschehen.101 Mit Hannes Goretzki ist es ausgerechnet ein Anhänger der Jungen Gemeinde, zugleich der Freund Elisabeth Rehfeldes, der »unhörbar« zischelt: »Divini amoris – instinctu, instinctu, was heisst das?« (IB, 134) Die selektive Wiedergabe des auktorialen Erzählers ist deutlich darauf bedacht, eine Linie zwischen dem Martyrium Wolfrats, der »seine des Lorbeers würdige Seele (martyrii) in den Himmel« (IB, 134) sendet, und den Repressionen gegen die Junge Gemeinde zu ziehen. Die Vorausdeutung wird auf die Spitze getrieben, als Hannes den Lehrer Sedenbohm fragt: »ich habe martyrii nicht übersetzt, das kann man doch auslassen, kann man das?« (IB, 135) Das Nichtübersetzen des Genitiv Singular von martyrium erscheint wie ein Appell an den Leser, den Begriff selbst zu übertragen, um so seine unterschiedlichen Bedeutungen zu erschließen. Im Kontext des Wolfrat-Textes ließe sich martyrium wie seit der frühchristlichen Literatur als ›Opfertod für den christlichen Glauben‹ übersetzen. Zu dieser Bedeutungsverengung kam es jedoch erst im Verlauf der Christenverfolgung ab der Mitte des 3. Jahrhunderts.102 Das griechische μαρτυρία, ›Aussage/Zeugnis‹, bzw. μάρτυς, ›Zeuge‹, wurde neben seiner juristischen Bedeutung im Neuen Testament auf die Offenbarung Christi übertragen. So wird Jesus selbst als »ein Zeuge« beschrieben, »der die Wahrheit bekannte«.103 In der Nachfolge Jesu wird das Bekenntnis zum ›Erretter‹ als »direkte Ursache«104 für das Leiden der Jünger angeführt, so bei Stephanus,105 Jakobus und Petrus,106 Johannes107 und auch Paulus.108 Im Sinne eines Bekenntnisses für Jesus Christus lässt sich der Wolfrat-Text und mit ihm das martyrium ebenso auf die Erzählgegenwart übertragen. Zwar gehen die Anhänger der Jungen Gemeinde für ihren Glauben nicht in den Tod, aufgrund ihres ›Zeugnisses‹, zu dem sie nur kurze Zeit später gezwungen sind, droht ihnen aber die Relegation von der Gustav Adolf-Oberschule.

101 Der politisch-kritische Gehalt, den Klaus für seine »politisch hintersinnige Parabel« mit dem Titel Ins Unreine nutzt (vgl. IB, 178), ist bereits im lateinischen Text angelegt, den Sedenbohm übersetzen lässt; Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 162. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.2. 102 Vgl. Michael Slusser: Martyrium. III/1, in: TRE, Bd. 22: Malaysia–Minne, Berlin/New York 1992, S. 207–212, hier: S. 207. 103 Ebd., S. 208. Vgl. hierzu etwa 1 Tim 6,13: »13Ich gebiete dir vor Gott, der alle Dinge lebendig macht, und vor Christo Jesu, der unter Pontius Pilatus bezeugt hat ein gutes Bekenntnis«. 104 Slusser, Martyrium, S. 208. 105 Vgl. Apg 7,55–58. 106 Vgl. Apg 12,1–3. 107 Vgl. Offb 1,9. 108 Vgl. u. a. Röm 8,7; 1 Kor 4,9–13.

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Statt des planmäßig anstehenden Geschichtsunterrichts bei Direktor Siebmann wird die Klasse 12 A, und mit ihr alle Lehrer und Schüler der Gustav AdolfOberschule, in die Aula gerufen – für eine »Schülervollversammlung« (IB, 139). Dass ausgerechnet Sedenbohm dieser Aufforderung nicht nachkommt und stattdessen parallel zur Schülervollversammlung die Lateinarbeiten der Schüler korrigiert, unterstreicht die direkte Verbindung zwischen dem Text der Übersetzung und den Ereignissen in der Aula.109 An der Stirnwand der Aula hängt eine »grosse rote Fahne«, auf der die Losung befestigt ist: »Reinigt wachsam und unerbittlich unsere Reihen von den Feinden unserer demokratischen Ordnung.« (IB, 140)110 Zu solchen Feinden deklariert Direktor Siebmann die Junge Gemeinde und fordert deren »anwesende[] Mitglieder auf: durch eine unzweideutige. Stellungsnahmezubeweisen. Dass sie würdige Schüler. Einer demokratischenOberschulesind« (IB, 141). Als ein Stellvertreter der Jungen Gemeinde an der Gustav Adolf-Oberschule betritt Peter Beetz das Podest und beginnt seine Rede mit den Worten: »Das ist alles nicht wahr.« (IB, 142) Auf das Erstaunen des Präsidiums hin weist der Schüler den Vorwurf zurück, dass die Junge Gemeinde eine illegale Organisation sei. Das Wortgefecht zwischen Redner und Präsidium wird wie schon Jürgens Rede am Mittwochnachmittag im Modus der indirekten Rede wiedergegeben. Peter Beetz wird noch vor der Nennung des ersten Arguments vorgeworfen, er »sei doch illegal« (IB, 142), wodurch die Mitglieder des Präsidiums als unsachlich und gegen die Meinungsfreiheit aus Art. 9 Verf-DDR von 1949 verstoßend demaskiert werden. Der Schüler Beetz reagiert mit einer süffisanten Nachfrage, warum ihnen dies »eben auffalle während des behördlich verschärften Klassenkampfes« (IB, 142). In der Folge konfrontiert das Präsidium den Redenden mit unterschiedlichen Vorwürfen, die sich allesamt in der Sonderausgabe der Jungen Welt vom April 1953 wiederfinden. Der organisierte Charakter der Jungen Gemeinde zeige sich an »Mitgliedsbüchern und Abzeichen« (IB, 142). Bezug nehmend auf die Unterstellungen gegenüber den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg streiten sie, »[o]b es die Regel sei dass in christlichen Heimen Körperbehinderte misshandelt würden« (IB, 143). Auch lasse sich die Junge Gemeinde »von den Amerikanern bezahlen für Sabotage und Spionage« und habe »[n]eulich« einen Angehörigen der FDJ »mit Messern überfallen« (IB, 143). Peter 109 Vgl. hierzu Martin Fietze: Über Anmut, Würde und unglückliches Bewusstsein in Ingrid Babendererde, in: Johnson-Jahrbuch 23, 2016, S. 129–151, hier: S. 148. Fietze weist auch darauf hin, dass das Thema ›Martyrium‹ zu Beginn von Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung noch einmal aufgegriffen wird: »– Unser kleiner Märtyrer: flüsterte Sötens mitleidige Stimme« (IB, 172); vgl. ebd. 110 Die Tatsache, dass in dieser Losung der 37. Buchstabe »schief« hing – das erste ›e‹ in ›Reihen‹ –, symbolisiert »ein brüchiges Bild von Gemeinsamkeit in der Atmosphäre von Verrat und Mißtrauen unter den Schülern«; Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 126.

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Beetz widersetzt sich der Erwartungshaltung des Präsidiums, die propagandistischen Unterstellungen anzuerkennen, und bezeichnet jene wiederholt als Unwahrheiten. In seiner Argumentation beruft er sich mehrfach auf die Verfassung der DDR und richtet die Frage an seine Widersacher, »[w]arum die Regierung der Arbeiter und Bauern die Verfassung der Republik demokratisch brechen wolle?« (IB, 143) Mit dieser Frage und durch die Übernahme der Unterstellungen aus der Sonderausgabe der Jungen Welt wird der Konflikt an der Gustav Adolf-Oberschule im zeitgeschichtlichen Kontext des Vorgehens gegen die Junge Gemeinde in der gesamten DDR des Jahres 1953 verortet und als prototypisch charakterisiert. An einer Stelle der Auseinandersetzung zwischen Peter Beetz und dem Präsidium wird dieser Kontext noch erweitert und auf das staatlich verordnete (Kirchen-)Geschichtsbild in der jungen DDR verwiesen: Und die Junge Gemeinde habe am siebzehnten März abends einundzwanzig Uhr die Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg christlich gedeutet, was sage Peter Beetz nämlich zu dieser Schändung der heroischen Revolutionsgeschichte des deutschen Volkes? Dazu sagte Peter Beetz: Die Verfassung der Republik gestatte den Religionsgemeinschaften eine Meinung über die Lebensfragen des deutschen Volkes. Sie sagten: Er habe aber damit zum Boykott gehetzt, und er sagte: Er müsse wohl erst noch Theologie studieren um das verstehen zu können, und so verwarnten sie ihn zum dritten Mal. (IB, 143)111

Auf dem Höhepunkt der Bauernaufstände im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verfasste Luther im Mai 1525 eine Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern. Darin bezeichnet er die Bauern als »rasende[] Hunde«, die »eitel Teufelswerk treiben« und »den Tod verdienet haben an Leibe und Seele mannigfaltiglich«.112 Angesichts solch »schreckliche[r], greuli-

111 Die Unterschiede zur zweiten Fassung, in der der Vorwurf expliziter formuliert ist, hingegen der Hinweis auf Art. 6 Verf. DDR von 1949 und der sarkastische Hinweis auf ein nötiges Theologie-, nicht Geschichtsstudium fehlt, sind geringfügig: »Am 17. März wurde auf einer Ihrer Versammlungen das Thema diskutiert: Hat Luther die Bauern verraten oder nicht? Sie haben die Frage an dem Abend christlich beantwortet. Damit haben Sie die heroische Revolutionsgeschichte des deutschen Volkes verfälscht. / – Sie haben Jugendliche in Gewissenskonflikte getrieben, denn die marxistische Antwort auf diese Frage lautet anders! / – Artikel 41 der Verfassung: die Religionsgemeinschaften dürfen zu den Lebensfragen des deutschen Volkes offen Stellung nehmen – oder so. / – Ein Absatz vorher: religiöse Handlungen dürfen für parteipolitische Zwecke nicht missbraucht werden! / – Wir sind keine Partei. / – Aber Sie haben damit gegen die Auffassung der Partei Opposition gemacht! / – Eine andere Meinung ist keine Opposition. Die Verfassung erlaubt andere Meinungen. / – Was fällt Ihnen ein«; Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 28. 112 Martin Luther: Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern. 1525, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 18, Weimar 1908, S. 344–361, hier: S. 357.

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che[r] Sunde« unterrichtet Luther die »weltliche Obrigkeit«, wie sie sich gegenüber den Bauern zu verhalten habe: Der Obrigkeit, so da kann und woll ohn vorgehend Erbieten zum Recht und Billigkeit solche Baurn schlahen und strafen, will ich nicht wehren, ob sie gleich das Evangelio nicht leidet. Denn sie hat das gut Recht, sintemal die Baurn nu nicht mehr um das Evangelio fechten, sondern sind offensichtlich worden treulose, meineidige, ungehorsame, aufrührerische Mörder, Räuber, Gotteslästerer, wilche auch heidnische Oberkeit zu strafen Recht und Macht hat, ja, dazu schuldig ist, solche Buben zu strafen.113

Diese Verpflichtung der Obrigkeit leitet Luther aus dem Verständnis ab, dass ein Repräsentant dieser Obrigkeit, wenn er kann und straft nicht, es sei durch Mord oder Blutvergießen, so ist er schuldig an allem Mord und Ubel, das solche Buben begehen, als der, da mutwilliglich durch Nachlassen seins göttlichen Befehls zuläßt, solchen Buben ihre Bosheit zu uben, so er’s wohl wehren kann und schuldig ist. Darum ist hie nicht zu schlafen. Es gilt auch nicht hie Geduld oder Barmherzigkeit. Es ist des Schwerts und Zorns Zeit hie und nicht der Gnaden Zeit.114

Diese vehemente Absage Luthers an die aufständischen Bauern, die gehofft hatten, in ihren Anliegen vom Wittenberger Theologen unterstützt zu werden – so beriefen sich die oberschwäbischen Bauerngruppen im Februar 1525 in ihren Zwölf Artikel umfassenden Forderungen an den Schwäbischen Bund auf das »wort gots«115 –, führte seit seiner Veröffentlichung zu Kontroversen. Da die politische Theologie Luthers in den Werken Johnsons an zahlreichen Stellen Anklänge findet, soll sie auf den folgenden Seiten in Grundzügen entfaltet werden. Um die Hintergründe des Vorwurfs an Peter Beetz offenzulegen, wird zunächst die Wirkungsgeschichte, insbesondere die marxistische Auslegung von Luthers Äußerungen zum Bauernkrieg nachgezeichnet. Nachdem sich die unterschiedlichen Positionen zur Rolle Luthers im deutschen Bauernkrieg lange Zeit an den Konfessionsgrenzen manifestierten,116 bewertete Friedrich Engels den Bauernkrieg in seiner 1850 unter dem Eindruck der Revolution von 1848 verfassten Studie aus marxistischer Sicht. Demnach seien die Aufstände der Bauernhaufen Ausdruck von »Klassenkämpfe[n]« gewesen, die lediglich im Geiste ihrer Zeit »religiöse Schiboleths trugen«.117 Luthers »re113 Ebd., S. 359. 114 Ebd. 115 Die zwölf Artikel der Bauern 1525, zitiert nach Kaiser, Reich und Reformation 1517 bis 1525. Die 95 Thesen Luthers 1517, die Wahlkapitulation Karls V. 1519, das Wormser Edikt 1521, die zwölf Artikel der Bauern 1525, bearb. von Ernst Walder, Bern 1944, S. 50–59, hier: S. 58. 116 Vgl. Laurenz Müller: Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des ›Dritten Reiches‹ und der DDR, Stuttgart 2004, S. 29. 117 Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx/ders., Gesamtausgabe, Bd. I.10: Werke, Artikel, Entwürfe. Entwürfe Juli 1849 bis Juni 1851, bearb. von Günter Heyden u. a., Berlin 1977, S. 367–443, hier: S. 379.

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volutionäre[m] Feuereifer«118 des Jahres 1517 schlossen sich zunehmend mehr Interessengruppen an: Bauern und Plebejer, Bürger, Teile des niederen Adels und Fürsten – »Luther mußte zwischen ihnen wählen«.119 Aus der Sicht Engels folgte Luther, »der Schützling des Kurfürsten von Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg, der über Nacht mächtig und berühmt gewordene, mit einem Zirkel von abhängigen Kreaturen und Schmeichlern umgebne große Mann«, seinen Interessen: »Er ließ die populären Elemente der Bewegung fallen und schloß sich der bürgerlichen, adligen und fürstlichen Suite an.«120 Damit hatte Engels den Weg geebnet, um Luther eine eher unrühmliche Rolle in einer materialistischen Geschichtsschreibung zuzuweisen. Engels Arbeit hinterließ allerdings »in akademischen Kreisen vorerst kaum Spuren«121 und wurde erst im Zuge der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Dabei waren es insbesondere August Bebel und Franz Mehring, die die Einheit von Reformation und Bauernkrieg lösten und der unterschiedlichen Bewertung der Bewegungen den Weg ebneten.122 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hielten diese materialistischen Studien Einzug in die politische Doktrin und die Geschichtswissenschaft der SBZ und später der DDR. Während Luther noch 1945 von einer Kommission des Zentralkomitees der KPD als Opponent gegen die Fürsten und Fürsprecher für die Gewissensfreiheit positiv bewertet und in eine Linie mit Martin Niemöller gestellt wurde, »verblassten die Bilder Luthers und Niemöllers in der SBZ zunehmend und diese Figuren verloren ihre identifikationsstiftende Wirkung«.123 Alexander Abusch, der seine Studie während des Zweiten Weltkrieges verfasste und 1945 im Exil in Mexiko veröffentlichte,124 wie auch Wolfram von Hanstein stellten einen Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus und der historischen Entwicklung seit der Reformation her. Luther wurde dabei in eine Linie mit Friedrich II., Bismarck und Hitler gestellt: Luther war kein Reformator. […] Luther war Politiker. Nur um Politik war es ihm zu tun. Er ist es gewesen, der den deutschen Imperialismus als erster verkündete; er war es, der den deutschen Chauvinismus predigte; er war der eigentliche Zerstörer europäischer Einheit. Auf ihn gehen alle politischen Folgen und Folgerungen zurück, die Deutschland schließlich in den Abgrund rissen.125 118 119 120 121 122 123 124

Ebd., S. 383. Ebd., S. 384. Ebd. Müller, Diktatur und Revolution, S. 37. Vgl. ebd. Ebd., S. 169. Vgl. Alexander Abusch: Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Mexiko 1945. 125 Wolfram von Hanstein: Von Luther bis Hitler. Ein wichtiger Abriss deutscher Geschichte, Dresden 1947, S. 22.

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Nach der Gründung der DDR bedurfte es einer argumentativen Legitimation des Arbeiter- und Bauernstaats, »der offensichtlich nicht das Produkt einer Revolution des Proletariats war«126 – die Misere-Theorie Abuschs und von Hansteins rückte in den Hintergrund. Alfred Meusel, seit 1951 Direktor des Instituts für deutsche Geschichte an der Humboldt Universität zu Berlin und seit 1952 erster Direktor des Museums für Deutsche Geschichte, erkannte im Deutschen Bauernkrieg, parallel zur Misere-Theorie,127 eine (positive) Traditionslinie vom 16. Jahrhundert über die Französische Revolution von 1789 bis zur Oktoberrevolution von 1917, die »die Grundlage für den Aufbau des Sozialismus«128 gebildet habe. Für die Zeit von 1517, dem Thesenanschlag Luthers, bis 1525, der Zerschlagung der Bauernaufstände, prägte Meusel den Begriff der »frühbürgerliche[n] Revolution«.129 In deren Zentrum standen Thomas Müntzer und der Bauernkrieg. Die Bedeutung Luthers für diese Volksbewegung erkennt Meusel zwar an, bewertet sie letztlich aber als eine der »traurigsten Halbheiten der deutschen Geschichte«.130 Obwohl Meusels Bedeutung in der DDR-Geschichtswissenschaft spätestens mit dem Aufstieg Max Steinmetz’ sank, änderte sich an der Herabsetzung Luthers bis Ende der 1970er Jahre nichts.131 Dreh- und Angelpunkt blieb die Stellung des Wittenberger Theologen zum Bauernkrieg, der für das Geschichtsbild der DDR bis zu deren Zusammenbruch von zentraler Bedeutung blieb. Einer theologischen Auseinandersetzung mit Luthers Schriften wurde in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum Platz eingeräumt, obwohl sich ostdeutsche Theologen und Kirchenhistoriker wie Walter Elliger und Franz Lau darum bemühten.132 Elliger wendet sich in einer »in erster Linie für Nichttheologen«133 verfassten Studie über Luthers politisches Denken und Handeln vehement gegen von Hansteins Argumentation und betont, dass Luthers Vorgehen »kein Gesinnungswandel oder gar eine Gesinnungslosigkeit« zugrunde liege, weshalb es ungerechtfertigt sei, »ihn des subjektiven Verrats an der Sache der Bauern zu bezichtigen«.134 Stattdessen appelliert Elliger,

126 Müller, Diktatur und Revolution, S. 185. 127 So vergleicht Meusel eine Aussage des Markgrafen von Baden von 1525 mit der eines Krefelder Fabrikanten von 1945 und bezeichnet beide als »nahe Verwandte, die sich über die Zeiten hinweg die Hände reichen«; Alfred Meusel: Thomas Müntzer und seine Zeit, Berlin 1952, S. 25. 128 Ebd., S. 40. 129 Ebd., S. 41. 130 Ebd., S. 118. 131 Vgl. Müller, Diktatur und Revolution, S. 285. 132 Vgl. hierzu Volker Leppin: Reformationsgeschichtsschreibung in der DDR und der Bundesrepublik, in: Jan Scheunemann (Hg.): Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung im geteilten Deutschland, Leipzig 2010, S. 33–47, hier: S. 38f. 133 Walter Elliger: Luthers politisches Denken und Handeln, Berlin 1952, S. 8. 134 Ebd., S. 83.

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sich um ein »zureichendes Verständnis«135 zweier Texte Luthers zu bemühen: zum einen die bereits angeführte und im Mai 1525 veröffentlichte Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern und zum anderen die wenige Wochen zuvor, im April 1525, verfasste Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben. In seiner Erwiderung auf die Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauernschaft betont Luther zu Beginn, dass die Aufstände »gros und ferlich« seien, weil sie »Gottes reich und der wellt reich«136 zugleich betreffen. Er appelliert jedoch nicht zuerst an die Bauernschaft, sondern »[a]n die fursten und herren«:137 Yhr muest anders werden und Gotts wort weichen, Thut yhrs nicht durch freundliche willige weyse, so muest yhrs thun durch gewelltige und verderbliche unweyse. […] Es sind nicht bawren, lieben herren, die sich widder euch setzen, Gott ists selber, der setzt sich widder euch, heymzusuchen ewer wueterey.138

Diese Wüterei bestehe darin, dass die Obrigkeit »yhren nutz und mutwillen an den unterthanen suche«, statt »nutz und das beste verschaffe bey den unterthenigen«.139 Doch trotz dieser Missstände, die Luther offen anspricht und sich damit keineswegs blindlings in den Dienst der Fürsten und Herren stellt, gemahnt er die Bauernschaft: »Das die oberkeyt boese und unrecht ist, entschuldigt keyn rotterey noch auffrur, Denn die bosheyt zu straffen, das gebuert nicht eym iglichen, sondern der welltlichen oberkeyt, die das schwerd furet«.140 Seine Forderung begründet der Wittenberger Theologe mit der Heiligen Schrift unter Verweis auf Mt 26,52,141 besonders aber auf Röm 13:142 »1Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. 2Wer sich nun der Obrigkeit widersetzet, der widerstrebet Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.«143 135 Ebd., S. 52. 136 Martin Luther: Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben. 1525, in: ders., Werke 18, S. 291–324, hier: S. 292. Die Wiedergabe folgt dem Text des Urdrucks. 137 Ebd., S. 293. Die Fürsten und Herren schließt nicht nur das weltliche, sondern auch das geistliche Regiment ein, gegen deren Vertreter Luther gleich eingangs wütet: »sonderlich eüch blinden Bisschoffen und tollen pfaffen und munchen, die yhr noch heuttigs tages verstockt nicht auffhoret zu Toben und zu wuten, widder das heylige Euangelion«; ebd. 138 Ebd., S. 294f. 139 Ebd., S. 299. 140 Ebd., S. 303. 141 Bei seiner Gefangennahme spricht Jesus zu einem Jünger, der einem Knecht des Hohepriesters ein Ohr abhieb und bei dem es sich gemäß Joh 18,10 um Petrus handelt: »52[…] Stecke dein Schwert an seinen Ort! denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.« 142 Vgl. Luther, Ermahnung zum Frieden, S. 303. 143 Röm 13,1f.

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Auf eben jene Bibelstelle im Römerbrief beruft sich Luther auch in seiner wenige Wochen später veröffentlichten Schrift, in der er der Bauernschaft vorwirft, »[d]reyerley grewliche sunden widder Gott und menschen« auf sich zu laden: Zum ersten, das sie yhrer oberkeyt trew und hulde geschworen haben, unterthenig und gehorsam zu seyn, wie solchs Gott gebeut, da er spricht: ›Gebt dem Keyser, was des Keysers ist.‹ Und Ro. 13: ›Iderman sey der oberkeit unterthan‹ rc. Weyl sie aber disen gehorsam brechen mutwilliglich und mit frevel und dazu sich widder yhre herren setzen, haben sie damit verwirckt leyb und seel.144

Luthers Argumentation gegen einen gewaltsamen Aufstand der Bauernschaft ist stringent und biblisch begründet. Vor allem aber verweist sie auf ein Staatsverständnis, das der Reformator bereits zwei Jahre zuvor in Von weltlicher Obrigkeit und wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei dargelegt hatte. In seiner aus Weimarer Predigten entstandenen »Grundschrift zum Thema«145 unterscheidet Luther die göttliche Ordnung in ein »reych Gottis« und ein »reych der welt«.146 Die Menschen, die dem Reich Gottes angehören, seien alle »recht glewbigen ynn Christo unnd unter Christo«.147 Sie bedürfen keiner weltlichen Ordnung, »keyns welltlichen schwerdts noch rechts«, denn sie sind es, die »den heyligen geyst ym hertzen haben, der sie leret unnd macht, daß sie niemant unrecht thun, yderman lieben, von yderman gerne und froelich unrecht leyden, auch den todt«.148 Christsein macht Luther hierbei nicht nur vom Glauben an die Offenbarung Christi abhängig, sondern überdies von einem Leben in der Nachfolge Jesu, einem Leben im Zeichen christlicher Ethik. Von Natur aus sei aber niemand Christ, sondern »sunder und boese«,149 sodass Gott im Reich der Welt zwei Regimenter eingerichtet habe: das geistliche, um die Sünder zum Christsein zu befähigen, und das weltliche, »wilchs den unchristen und boeßen weret, daß sie

144 Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten, S. 357. 145 Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3., erneut durchges. Aufl., Tübingen 2007, S. 285. Bayer betont, dass diese wie jede Schrift Luthers »in ihrer Situationsbezogenheit« zu verstehen sei. Der Wittenberger Theologe habe sich in seinen Schriften jedoch »nie grundlegend revidiert, sondern weitergehende Überlegungen zur politischen Ethik auf ihrer Linie – freilich nicht unverändert – formuliert«; ebd. In diesem Zusammenhang verweist Bayer u. a. auf Luthers Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können von 1526; vgl. Martin Luther: Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können. 1526, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 19, Weimar 1897, S. 623–662. 146 Martin Luther: Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei. 1523, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 11, Weimar 1900, S. 245–281, hier: S. 249. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 249f. 149 Ebd., S. 250.

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eußerlich muessen frid hallten und still seyn on yhren danck«.150 Entsprechend unterscheidet Luther den Menschen in seiner Rolle als ›Amtsperson‹ und ›Christperson‹: Nemlich der, das eyn Christen sol also geschickt seyn, das er alles ubel und unrechte leyde, nicht sich selb reche, auch nicht fur gericht sich schuetze, Sondernn das er aller ding nichts beduerffe der welltlichen gewalt und rechts fur sich selbs. Aber fur andere mag und sol er rache, recht, schutz und huelffe suchen und datzu thun, wo mit er mag.151

Mit der Zwei-Regimente-Lehre152 löst Luther den scheinbaren Widerspruch auf zwischen der Ethik der Bergpredigt mit ihrem Gewaltverzicht und den biblischen Schriften, die die Unterordnung unter die weltliche Ordnung zum Inhalt haben. Zentral sei dabei neben dem Naturzustand des Menschen in der Sünde und damit einhergehender Notwendigkeit des weltlichen Schwerts, dass alle Ordnung auf Erden von Gott eingesetzt sei, einem göttlichen Plan folge. Hieraus leite sich ab, dass der Mensch nicht das Recht besitze, sich gegen die gottgewollte Ordnung gewaltsam aufzulehnen. Richter bleibe Gott allein. Die oberste Prämisse für Luther ist die Erhaltung von Ordnung. Dies bedeutet nicht, dass Luther »den schrankenlosen Absolutismus eines skrupellos nach ungehemmter Machtsteigerung drängenden Fürstentums in den Sattel gehoben«153 habe, sondern ex negativo eine Absage an Ordnungslosigkeit.154 Diesen Zweck der Aufrechterhaltung einer bestehenden Ordnung leitet Luther zwar aus dem Prinzip göttlicher Autorität ab, verweilt jedoch nicht beim argumentum ad verecundiam, sondern bezeichnet die göttliche Einrichtung als vernünftig, weil ihm nur so »eine gedeihliche Entwicklung des öffentlichen Lebens unbedingt gesichert«155 erscheint. Er appelliert an die Bauernschaft: »Kuend yhr nicht dencken odder nicht rechnen, lieben freunde, das, wenn ewer furnehmen sollt recht seyn, So wuerde eyn iglicher widder den andern richter werden und keyne gewallt noch oberkeyt, ordnung noch recht bleyben inn der wellt, sondern eytel mord und blutvergiessen«?156

150 Ebd., S. 251. 151 Ebd., S. 259. Bayer verweist darauf, dass Luther die noch hier propagierte »Märtyrer-Ethik« spätestens mit seiner Disputation Von den drei Hierarchien von 1539 überwinde und »dem Christen auch für sich selbst die Notwehr und Selbstverteidigung« zugestehe; Bayer, Luthers Theologie, S. 290. 152 Der häufig anzutreffende Begriff ›Zwei-Reiche-Lehre‹ ist laut Bayer »nicht ganz zutreffend«, weil es sich nicht um »zwei getrennte[] Bereiche[]« handele, sondern um »zwei Regierweisen Gottes«, die eng miteinander verzahnt sind und »mitten durch den Christenmenschen hindurch« gehen; ebd., S. 282f.; Kursivdruck im Original. 153 Elliger, Luthers politisches Denken, S. 139. 154 Vgl. ebd., S. 155f. 155 Ebd., S. 154. 156 Luther, Ermahnung zum Frieden, S. 317.

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Um zu verstehen, dass für Luther selbst ein Verfassungsbruch seitens der Obrigkeit keinen Widerstand rechtfertigt, ist zum einen die Unterscheidung von ›Amt‹ und ›Person‹, zum anderen die Frage der Legitimation des Widerstandes von zentraler Bedeutung. In seiner 1526 an seinen Freund Assa von Kram gerichteten Schrift Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können betont Luther, dass ein Amt »gut und recht« sein könne, auch wenn dessen Träger »boese und unrecht« handele.157 Ein gewaltsamer Aufstand richte sich jedoch gegen Person wie Amt und sei ein Angriff auf die gottgewollte Ordnung. Darüber hinaus fragt der Reformator zum wiederholten Male nach der Legitimation eines solchen Aufruhrs: »Wer hat dirs befolhen? Es muste ja hie zwisschen euch ein ander oeberkeit komen, der euch beyde verhoerete und den schueldigen verurteilt. Sonst wirstu dem urteil Gotts nicht entlauffen, da er spricht: ›Die Rache ist mein‹, Item: ›Richtet nicht‹, Matth. 7.«158 Mit dieser Argumentation geht jedoch kein widerstandsloses Ergeben in jegliches Machtgebaren der weltlichen Obrigkeit einher, denn neben der Gehorsamspflicht gibt es für Luther eine »Mitwirkungspflicht des Christen bei der Ausübung des obrigkeitlichen Amtes«.159 Ausgehend von dieser Verpflichtung zur Mitwirkung, die der Erhaltung der göttlichen Weltordnung diene, gibt es für Luther zwei Formen des legitimen Widerstandes des einzelnen Christen: die kritische Rede160 und im extremsten Fall die Gehorsamsverweigerung. Letztere sei jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die weltliche Ordnung ihren Zuständigkeitsbereich überschreite. Um dies zu erläutern, zitiert Luther Röm 13,7: Das geben auch seyne [Paulus] wortt deutlich unnd klar, da er beyde der gewallt und gehorsam das zill steckt unnd spricht: Gebt yderman das seyne, Schos des der schos,161 zoll des der zoll, ehre des die ehre, furcht des die furcht ist. Sihe da, welltlich gehorsam und gewallt gehet nur uber schos, zoll, ehre, furcht eußerlich.162

Zu einer solchen Überschreitung komme es, wenn sich die weltliche Obrigkeit herausnehme, über die Seelen, das Gewissen der Menschen, zu verfügen oder die Menschen zwinge, gegen Gottes Gebote zu handeln. In diesen Fällen sieht Luther 157 Luther, Ob Kriegsleute, S. 624. 158 Ebd., S. 640f. 159 Rochus Leonhardt: Politische Ethik bei Schleiermacher und Luther, in: Christian Danz/ders. (Hg.): Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 95–121, hier: S. 98; Kursivdruck im Original. 160 Vgl. Elliger, Luthers politisches Denken, S. 150f. Angesichts Luthers eigener Mahnreden scheint diese Form des Widerstandes beinahe selbstverständlich. Seine eigene Biografie zeigt jedoch auch, wie schwer es sein kann, sich auf das Wort zu beschränken. 161 Das frnhd. ›schoß‹/›schos‹ bedeutet neben ›Spross einer Pflanze‹, ›Unterleib‹ und ›Teil eines Kleides‹ auch ›Steuer, Abgabe, Zins‹; vgl. Christa Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Lexik aus Dichtung und Fachliteratur des Frühneuhochdeutschen, Tübingen 1996, S. 210. 162 Luther, Von weltlicher Oberkeit, S. 266.

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die Untertanen von ihrer Gehorsamspflicht befreit, da die weltliche Obrigkeit sich anmaße, sich an die Seite Gottes zu setzen: Wenn nu deyn furst oder welltlicher herr dyr gepeut, mit dem Bapst zuo hallten, sonst oder so zuo glewben, oder gepeutt dyr buecher von dyr zuo thun, solltu also sagen: ›Es gepuertt Lucifer nicht, neben Gott zuo sitzen. Lieber herr, ich bynn euch schuldig zuo gehorchen mit leyb unnd guott, gepietet myr nach ewr gewalt maß auff erden, so will ich folgen. Heysst yhr aber mich glewben unnd buecher von myr thun, so will ich nicht gehorchen. Denn da seyt yhr ehn tyrann unnd greyfft zuo hoch, gepietet, da yhr widder recht noch macht habt rc.‹163

Die Abkehr von der Gehorsamspflicht versteht der Wittenberger Theologe allerdings nicht als ein Widerstandsrecht, sondern als eine Verpflichtung zum passiven Widerstand: »Denn ich sage dyr, wo du yhm nicht widdersprichst und gibst yhm raum, das er dyr den glawben odder die buecher nympt, so hastu warlich Gott verleucket.«164 Noch elementarer als der Verweis auf eine Pflicht zum passiven Widerstand ist Luthers theologische Herleitung der Einschränkung weltlicher Gewalt. Demnach sei der Staat für die religiöse Ausrichtung seiner Untertanen nicht autorisiert, woraus sich eine Trennung weltlicher und geistlicher Zuständigkeiten ergebe – eine Staatsauffassung, die für die Zeit der Reformation165 und bis heute nicht selbstverständlich ist. Auch wenn die Auswirkungen der teils fatalen Interpretationen von Luthers Schriften nicht übersehen werden können,166 ist der Obrigkeitsgehorsam nach Röm 13 nicht isoliert zu betrachten, sondern in die Zwei-Regimente-Lehre einzuordnen. Nicht der Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit kann im Zentrum von Luthers theologischer Herleitung stehen, denn er ist nur ein Teil der übergeordneten göttlichen Ordnung. Der Mensch, idealiter ›Christperson‹ und ›Amtsperson‹ in einem, ist demzufolge in erster Linie Gott und seinen Geboten verpflichtet. Fürsten und Herren hingegen dienen der Aufrechterhaltung der gottgewollten Ordnung, sodass man ihnen in weltlichen Angelegenheiten zu Gehorsam verpflichtet ist. Überschreiten diese ihre Zuständigkeit, widersetzen sie sich der gottgewollten Ordnung, erwächst daraus eine Pflicht zur Gehorsamsverweigerung:

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Ebd., S. 267. Ebd. Vgl. hierzu Leonhardt, Politische Ethik, S. 99–101. Bayer verweist auf das »insbesondere von Friedrich Naumann genährte Missverständnis«, wonach Luther die Welt in zwei Bereiche, die statisch nebeneinander stehen würden, eingeteilt habe und der weltlichen Sphäre eine »Eigengesetzlichkeit« zukommen lasse, sowie die große Nähe von Altar und Thron angesichts des »landesherrlichen Kirchenregiments«, bei dem der Landesherr als Oberhaupt ›seiner‹ Kirche fungierte; Bayer, Luthers Theologie, S. 283f.

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Und summa, ist das die meynung, Wie S. Petrus spricht Act: .4. [= Apg 5,29; P. O.]: »Man muß Gott mehr gehorchen denn den menschen«, Da mit er yhe auch klerlich der welltliche gewalt eyn zill steckt. Denn wo man alles muest hallten, was welltlich gewallt wollte, ßo were es umb sonst gesagt: Man muß Gott mehr gehorchen denn den menschen.167

Mit dem Verweis auf »die Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg« (IB, 143) wird in Johnsons Erstling ein Bedeutungshorizont eröffnet, der weit über den Wittenberger Reformator und seine historische Bewertung im Arbeiterund Bauernstaat hinausgeht. Grundlage von Luthers Äußerungen über die aufständischen Bauernhaufen des Jahres 1525 war seine Zwei-Regimente-Lehre, in der das Verhältnis von Staat und Kirche zueinander, zu Gott und den Bürgern theologisch hergeleitet wird. Für die politische Ethik des deutschen Protestantismus, und damit auch für die Anhänger der Jungen Gemeinde, ist die ZweiRegimente-Lehre Luthers von so zentraler Bedeutung, dass ein entsprechender Verweis in der Auseinandersetzung zwischen Staats- und Kirchenführung naheliegt. Folglich lässt sich das staatliche Vorgehen gegen die Junge Gemeinde im Sinne Luthers als Überschreitung staatlicher Zuständigkeit und damit als Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung interpretieren. Als töricht bezeichnet der Reformator die Vorstellung solcher »narren«, die »die leutt mit yhren gesetzen und gepotten zwingen wollen, sonst oder so zuo glewben«.168 Von entscheidenderer Bedeutung aber ist der Versuch des jungen Arbeiter- und Bauernstaats, repressiv auf die Seelen bzw. das Gewissen seiner heranwachsenden Staatsbürger einzuwirken. Die Jugendlichen werden einer zentralen demokratischen Freiheit beraubt, der Staat und seine marxistisch-leninistische Doktrin schwingen sich zugleich zu einer Art Religionsersatz169 auf, in der der »Führer[] der Kommu167 Luther, Von weltlicher Oberkeit, S. 266. 168 Ebd., S. 262. 169 Vgl. hierzu etwa Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949– 1990, 3., vollst. überarb. und stark erw. Neuausg., Köln/Weimar/Wien 2013, S. 133. Der Begriff der ›Ersatzreligion‹ bildet eine terminologische Alternative zum seit den 1930er Jahren gebrauchten Begriff der ›politischen Religion‹. Luigi Storzo führte Mitte der 1920er Jahre den Begriff des ›Totalitarismus‹ für die politischen Entwicklungen im faschistischen Italien und in der bolschewistischen Sowjetunion ein. Die Erkenntnis, »dass totalitäre Regime auch in die spirituellen Sinnbezüge des Einzelnen eingriffen und dadurch die Trennung von Religiösem und Säkularem aufhoben«, führte in den 1930er Jahren zur Herausbildung des Begriffs der ›säkularen Religion‹ bzw. ›politischen Religion‹; Klaus Vondung: Deutsche Wege zur Erlösung. Formen des Religiösen im Nationalsozialismus, München 2013, S. 26. Eine besondere Bedeutung nimmt hierbei Eric Voegelin mit seiner 1938 veröffentlichten Studie Die politischen Religionen ein, in der er den Nationalsozialismus als politische Religion deutet. Seit den 1990er Jahren erfahren die Konzepte des ›Totalitarismus‹ und der ›politischen Religion‹ eine Renaissance, wobei der Begriff der ›politischen Religion‹ immer wieder kontrovers diskutiert wird, weil er totalitären Bewegungen wie dem Nationalsozialismus eine Stringenz und Kohärenz unterstellt, die diese nicht aufweisen. Als alternativen Begriff lehnt Hans Buchheim auch den der ›Ersatzreligion‹ ab, denn »[a]uch eine

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nistischen Partei der Sowjetunion«, dessen »Bildnis« (IB, 140) in nahezu jedem Klassenraum und auch in der Aula der Gustav Adolf-Oberschule prangt, als Gott fungiert.170 Bedeutend offensiver als in der gedruckten vierten Fassung verweigert sich Peter Beetz diesem stalinistischen Zugriff auf sein Gewissen noch in der zweiten Fassung und bekennt sich zu seinem Glauben: »Ich erkenne keinen anderen Herrn über mich an als Jesus Christus.«171 Dieses Zeugnis des Schülers Beetz verweist auf eine bereits in der Exposition zur zweiten Fassung von Erichson genannte Referenzstelle, der eine »Schlüsselfunktion […] für die Romanhandlung«172 zukommt, »den fünften und sechsten Vers im zweiten Kapitel des ersten Briefes von Paulus an Timotheus«:173 »5Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, 6der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, dass dies zu seiner Zeit gepredigt werde.« Stuttgart und Luther – ein Zusammenhang? Die Erwähnung der Stuttgarter Erklärung durch Jürgen und der Vorwurf Direktor Siebmanns, die Junge Gemeinde habe am 17. März die Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg christlich gedeutet, stehen auf den ersten Blick nicht in unmittelbarem Zusammenhang. Auf den zweiten Blick umspannen sie jedoch einen gemeinsamen Themenkomplex: das Verhalten gegenüber staatlichen Entscheidungen, die mit einer christlichen Ethik unvereinbar sind. Nicht zufällig werden beide kirchengeschichtlichen Teildiskurse durch Jürgen und Direktor Siebmann eröffnet, die als Anhänger der Staatsdoktrin eine fami-

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Ersatzreligion ist eine Religion, so wie ein Ersatzherr ein Herr ist«, und plädiert stattdessen dafür, totalitäre Bewegungen als »Religionsersatz« zu bezeichnen; Hans Buchheim: Despotie, Ersatzreligion, Religionsersatz, in: Hans Maier (Hg.): Totalitarismus und politische Religionen, Bd. 1, Paderborn 1996, S. 260–263, hier: S. 262. Der Reflex auf Ex 20,4 (»4Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen […]«) ist ebenso unübersehbar wie der Verweis auf den nationalsozialistischen Sprachgebrauch, den Johnson erst in der vierten Fassung in den Text eingefügt hat. In dieser letzten Fassung wird aus dem »sowjetischen Staatsoberhaupt[]« der »Führer[] der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, wie Johnson es am 21. Januar 1957 in einer Übersicht unter dem Punkt »[m]ühselige Kleinarbeit« notiert hatte: »Das sowjetische Staatsoberhaupt ist nicht namhaft und unablässig der Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«; Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, 4. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/000240, Mappe 5–11, hier: Mappe 9, Bl. 8; Uwe Johnson: Reifeprüfung III–IV, Notiz, 27. 1. 1957, in: UJA Rostock, UJA/H/000238, Bl. 44–48, hier: Bl. 47. Die eigene Vorgabe hat Johnson konsequent in der vierten Fassung umgesetzt; vgl. IB, 52, 113, 161f. Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 29. Walter Schmitz: Die Entstehung der ›immanenten Poetik‹ Uwe Johnsons: Ein Fassungsvergleich zu Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, in: Manfred Jurgensen (Hg.): Johnson. Ansichten – Einsichten – Aussichten, Bern 1989, S. 141–166, hier: S. 153. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.2. Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 1, Bl. 9. Vgl. auch BU, 76.

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liäre oder gar eigene faschistische Vergangenheit aufweisen. Der stalinistischen Politik, ja, der bis in die DDR fortgeführten marxistisch-leninistischen Geschichtsbeugung wird durch den Verweis auf die (Mit-)Schuld der DEK an den Verbrechen des Nationalsozialismus und das Obrigkeitsverständnis nach Luthers Zwei-Regimente-Lehre ein Spiegel vorgehalten. Jürgen, vor allem aber Direktor Siebmann agieren dabei ausschließlich mit politischen Kampfparolen, was durch das bloße Aneinanderreihen der Vorwürfe deutlich wird, die zusammenhanglos und ohne inhaltliche Reflexion vorgebracht werden. Durch die bloße Erwähnung im Roman ist der Leser gefordert, diesen nicht erbrachten Schritt zu gehen und die kirchengeschichtlichen wie theologischen Hintergründe beider Anspielungen aufzuspüren. Dabei wird deutlich, auf welch bedachte Weise Johnson den politisch-kirchengeschichtlichen Rahmendiskurs um die Junge Gemeinde mit weiteren kirchengeschichtlichen Teildiskursen auffüllt und das staatliche Vorgehen gegen die christliche Jugendorganisation in mehrfacher Hinsicht als Willkürakt ausweist, dem jegliche juristische,174 inhaltliche175 und ethische176 Grundlage fehlt. Darüber hinaus gelingt es Johnson durch die Figurenkonstellation und -charakterisierung, wie bereits bei der Analyse des religiösen Diskurses gezeigt werden konnte, die Kritik nicht nur einseitig vorzubringen. Andernfalls liefe der Roman Gefahr, als Verteidigungsschrift der Jungen Gemeinde reduziert zu werden. Im Roman wird eine grundsätzlich mögliche Kritik an der Stuttgarter Erklärung sowie an Luthers Obrigkeitsverständnis nicht weiter diskutiert und fordert den Leser zur Auseinandersetzung mit der Rolle der DEK zwischen 1933 und 1945 auf. Die Kritik im Romangeschehen gilt jedoch weder Stuttgart oder Luther, noch wird durch sie die ›deutsche Schuld‹ zum Thema gemacht. Sie richtet sich einzig gegen eine Funktionalisierung, die die eigene kirchenfeindliche Politik zu legitimieren versucht. Der Einsatz dieser beiden kirchengeschichtlichen Teildiskurse, die für die Erinnerung an die ›deutsche Schuld‹ und die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen in einem Unrechtsstaat stehen, 174 In juristischer Hinsicht wird durch Peter Beetz (vgl. IB, 142f.), Klaus (IB, 149, 225) und Jürgen (IB, 226) die Verfassung der DDR vorgebracht, gegen die das staatliche Handeln mit seinen Repressionen gegenüber Mitgliedern der Jungen Gemeinde hinsichtlich Art. 41–43 sowie Art. 9 und 12 Verf. DDR von 1949 verstößt. 175 In der zweiten Fassung wird dies noch deutlicher, wenn Jürgen im Gespräch mit Pastor Barnow zugibt, »dass das Gerede über Misshandlung Körperbehinderter der Vordergrund sei. Er missbillige dies übrigens durchaus; und wenn er solche Vorwände verteidigen müsse (wie dies nämlich vorkomme) und verteidige, so geschehe dies aus einer gewissen Scham über die Beschaffenheit der Massenpsychologie«; Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 10. 176 Ethisch erfolgt die Kritik durch das Rechtsempfinden der Schüler, die speziell von Ingrid empfundene Scham (vgl. IB, 148), weil so »einfach nicht gut« (IB, 150; Kapitälchen im Original) sei, sowie den Verweis auf die christliche Ethik, speziell die Bergpredigt mit Mt 5,44 und Luthers Zwei-Regimente-Lehre mit Röm 13,7.

Sprachlicher Diskurs: »Hat Gott gar nichts mit zu tun.«

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vermittelt implizit Kritik an einem Geschichtsbild, demzufolge die Auseinandersetzung mit den Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland unnötig sei, und an einer aus diesem historischen Verständnis abgeleiteten Politik des Arbeiter- und Bauernstaates. Insbesondere das zum Religionsersatz gewordene Konzept des Antifaschismus wird so als bloße Worthülse entlarvt. Peter Beetz, aber auch Klaus erkennen die autokratischen Strukturen dieser Politik sowie die Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beinahe als Folge der christlichen Deutung von Luthers Stellung zum deutschen Bauernkrieg bekennt sich Peter Beetz in der zweiten Fassung nicht nur zur Offenbarung Christi, sondern versagt der Obrigkeit, stellvertretend Direktor Siebmann, seinen Gehorsam: »Ich missachte jede faschistische Regierung.«177

1.4

Sprachlicher Diskurs: »Hat Gott gar nichts mit zu tun.«

Zwölf Jahre nach Mehnerts Gutachten zu Ingrid Babendererde räumte Johnson gegenüber Schwarz, auf einen Bibelton in seinen Werken angesprochen, verhalten ein: »Mit dem biblischen Tonfall mag es angehen. Ich bin protestantisch erzogen worden und habe viel in der Bibel gelesen.«178 Folgerichtig finden sich auch in der Johnson-Forschung Hinweise auf dieses Stilistikum des Mecklenburgers. Ist vom »unverkennbaren ›Johnson-Ton‹«179 die Rede, wird neben einer parataktischen Syntax, der Verwendung von Fachtermini und dem Gebrauch des Niederdeutschen häufig auch ein »parodistische[r] Bibelton«180 genannt. So verweist Klaus sowohl für die Mutmassungen über Jakob als auch für Ingrid Babendererde auf eine »travestierende und parodierende Anwendung biblischer Metaphorik«, die vordergründig dazu diene, die »fatale Vermessenheit des real existierenden Sozialismus« zu entlarven, »der alleinige Heilsbringer zu sein und damit alle Mittel im Dienste der Sache – und seien sie noch so menschenverachtend – zu rechtfertigen«.181 Leuchtenberger stützt ihre These, dass sich die Sprache Johnsons in seinem Erstling an die Bibelübersetzung Luthers anlehnt, exemplarisch mit dem vermehrten Auftreten der biblischen Formel ›siehe‹182 und Walter Schmitz gelangt in seinem Vergleich der Textfassungen von Ingrid Babendererde zu dem Schluss, dass es sich bei der zweiten Fassung des Romans um 177 178 179 180

Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 29. Vgl. Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 76. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 167. Vgl. auch Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 89; Walter Schmitz: Uwe Johnson, München 1984, S. 37. 181 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 125. 182 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 77, Anm. 153.

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eine »Kontrafaktur biblischer Schöpfungsgeschichte«183 handele. Allein diese drei Analysen und Interpretationen bieten Hinweise auf vielfältige Ausprägungen des Johnson’schen Bibeltons. Für eine systematische Annäherung an diese Form der Bibelrezeption wird zunächst umrissen, welcher Gestalt biblische Sprachformen sein können. Erst im Anschluss daran lassen sich Rückschlüsse auf die Funktion des Bibeltons bzw. der Bibeltöne in Ingrid Babendererde, und in der Folge auch in den weiteren Romanen Johnsons, ziehen. Der bereits von Leuchtenberger erwähnte mehrfache Gebrauch der Formel ›siehe‹ wie auch die metasprachliche Reflexion des Schülers Niebuhr über den Ausspruch »oh Gott […]! – Hat Gott gar nichts mit zu tun.« (IB, 49; vgl. auch IB, 19), deuten zumindest an, dass sich biblische Sprachformen in Johnsons Erstling nicht allein in der Parodie erschöpfen.

1.4.1 Exkurs: Biblische Sprachformen des Deutschen Martin Luther forderte in seinem Sendbrief vom Dolmetschen von 1530, man müsse für die Übersetzung der Heiligen Schrift »die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen«.184 Falsch wäre es, aus dieser Forderung abzuleiten, dass Luthers Bibelübersetzung ein Abbild der damaligen Umgangssprache und ein heute empfundener Bibelton einzig das »Ergebnis der Altertümlichkeit des Textes, verbunden mit sakralen Inhalten«,185 sei. Vielmehr ist Luthers Ausspruch als Aufforderung zu verstehen, eine Übersetzung adressatenorientiert zu gestalten. Diese Forderung sieht der Wittenberger Theologe in der Heiligen Schrift angelegt und kommentiert in seiner Tischrede zu 1 Joh 2,19: »Es thut die schriefft rechtt, das sie so schlecht und einfeltig redet; so könnens die kinder auch verstehen. Sonst, wo Christus und apostoli hetten geredt hoch wie Persius oder Iuuenalis, so wurde man kein kindt leren können.«186 Die Bibel in deutscher Sprache richtete Luther an die lateinunkundigen Bevölkerungsschichten zu Beginn des 16. Jahrhunderts187 – die 183 Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 153; Kursivdruck im Original. 184 Martin Luther: Sendbrief vom Dolmetschen, 1530, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 30,2, Weimar 1910, S. 632–646, hier: S. 637. 185 Birgit Stolt: Biblische Erzählweise vor und seit Luther – sakralsprachlich – volkssprachlich – umgangssprachlich?, in: Vestigia bibliae 4, 1982, S. 179–192, hier: S. 180. 186 Martin Luther: Locus Iohannis. 5291, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 2: Tischreden. 1531–1546, Bd. 5: Tischreden aus den Jahren 1540–1544, Weimar 1919, S. 47. Vgl. hierzu auch Herbert Wolf: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Luther-Studien, Berlin 1983, S. 48. 187 Vgl. hierzu etwa Erwin Arndt/Gisela Braun: Luther und die deutsche Sprache. Wie redet der Deudsche man jnn solchem fall?, Leipzig 1983, S. 77f. Walter Schenker hat in einem Vergleich

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keineswegs mit den Vertretern der untersten sozialen Schichten gleichzusetzen sind188 –, orientierte sich aber für seine Bibelübersetzung neben den Adressaten ebenso an den zu übersetzenden Inhalten. Um den Problemen verschiedener sprachlicher Register (von Gott und den Menschen Gesprochenes) wie auch der historisch-kulturellen Differenz zwischen den Adressaten des Prätextes und der Übersetzung zu begegnen, changierte Luther zwischen wortgetreuer und freier Übersetzung.189 Die Notwendigkeit einer wortgetreuen Übersetzung erkannte er bei sogenannten Biblizismen aus den hebräischen und griechischen Originaltexten, die seit der Lutherbibel als »deutsche stilistische Verstehenssignale«190 auf ein heilsgeschichtliches Geschehen hindeuten. Integriert man solche Biblizismen etwa in einen literarischen Text, erzeugen sie in diesem einen Bibelton, wie er Johnsons Romanen wiederholt attestiert wurde. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich in den Romanen von Ingrid Babendererde bis zu den Jahrestagen solche Verstehenssignale finden müssten. Birgit Stolt führt in ihrer Studie Martin Luthers Rhetorik des Herzens eine Reihe von Biblizismen an, darunter die monotone parataktische Reihung mit ›und‹ wie in Gen 1,1–3 oder Ps 92,10–12: 10

Denn siehe, deine Feinde, Herr, siehe, deine Feinde werden umkommen; und alle Übeltäter müssen zerstreut werden. 11Aber mein Horn wird erhöht werden wie eines Einhorns, und ich werde gesalbt mit frischem Öl. 12Und mein Auge wird seine Lust sehen an meinen Feinden; und mein Ohr wird seine Lust hören an den Boshaften, die sich wider mich setzen.191

Für das Hebräische ist die parataktische Reihung mit ›und‹ natürlich, doch bereits bei der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische, und damit noch vor den Evangelisten, wurde sie zu einem Stilmerkmal, das sowohl Hieronymus als auch Luther in ihren Übersetzungen übernommen haben.192 Zwar ist die parataktische Reihung mit ›und‹ seit jeher und entsprechend auch zu Luthers

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der Sprache Huldrych Zwinglis mit der Martin Luthers anhand der jeweiligen Übersetzungen des Matthäusevangeliums herausgearbeitet, dass Luthers Fokus auf der Überwindung dialektaler/horizontaler denn auf der Überwindung sozialer/vertikaler Sprachbarrieren liege – im Gegensatz zu Zwingli. Damit einher gehe eine mehr kontextbezogene Sprache Luthers – gegenüber einer mehr referenzbezogenen Sprache Zwinglis –, die einer »Kunstabsicht« folgt und »anspruchsvoller, aber auch spannender« sei; Walter Schenker: Die Sprache Huldrych Zwinglis im Kontrast zur Sprache Luthers, Berlin/New York 1977, S. 219. Vgl. auch ebd., S. 179. Vgl. etwa ebd., S. 4. Vgl. Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000, S. 88. Birgit Stolt: Die Entmythologisierung des Bibelstils. Oder: Der komplizierte Zusammenhang zwischen Sprachgeschichte und Gesellschaftsgeschichte, in: Barbara Sandig (Hg.): Stilistik, Bd. 1: Probleme der Stilistik, Hildesheim/Zürich/New York 1983, S. 179–190, hier: S. 182. Ps 92,10–12; Hervorhebung P. O. Vgl. Stolt, Luthers Rhetorik des Herzens, S. 117.

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Zeiten ein Merkmal gesprochener Sprache, doch greift der Wittenberger Theologe statt der geläufigen Doppelform »öfter als damals üblich zur Dreigliederung«,193 was für eine bewusst eingesetzte Stilistik spricht, die dem Leser, Bezug nehmend auf die Trinitätslehre, eine »transzendente Dimension des Erzählten«194 anzeigt. In Ps 92,10 findet sich mit der Partikel ›(und) siehe‹ ein weiterer Biblizismus, der auf die hebräische Interjektion ‫ ֵהָנּה‬zurückgeht und zur Partikel wird, weil Luther selbst dort ›siehe‹ übersetzt, wo es grammatikalisch nicht korrekt ist: »4Siehe, ihr fastet, daß ihr hadert und zanket und schlaget mit gottloser Faust. Wie ihr jetzt tut, fastet ihr nicht also, daß eure Stimme in der Höhe gehört würde.«195 Durch die Abweichung Luthers von der numeralen Kongruenz und der Tradition früherer deutscher Bibelübersetzungen wird die Partikel zu einem biblischen Stilmittel mit Appellfunktion, das besonders bei der Darstellung von Engelserscheinungen, Visionen und Prophezeiungen hochfrequent ist.196 Als weitere Biblizismen führt Stolt197 die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung wie etwa in Ps 17,15198 oder Apg 3,6,199 zweigliedrige Verbalausdrücke wie in Jona 1,2,200 das Nennen von Körperteilen als Metonymie für einen Menschen oder seine Tätigkeit wie in Num 10,31201 oder Jes 10,7202 sowie die Einleitungsformel ›Es begab sich (aber)‹ wie in Mt 7,28203 oder Hi 1,6 an.204 Christian Dube nennt neben diesen Biblizismen die für das Hebräische typische rhetorische Figur des Parallelismus membrorum205 wie in Jes 54,5206 oder Jes 65,13.207 193 194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205

Wolf, Martin Luther, S. 100. Stolt, Luthers Rhetorik des Herzens, S. 118. Jes 58,4. Vgl. Stolt, Luthers Rhetorik des Herzens, S. 112–117. Vgl. ebd, S. 118–121. »15Ich aber will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde«; Hervorhebung P. O. »6Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und wandle«; Hervorhebung P. O. »1Mache dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie! denn ihre Bosheit ist heraufgekommen vor mich«; Hervorhebung P. O. »31Er sprach: Verlaß uns doch nicht, denn du weißt, wo wir in der Wüste uns lagern sollen, und sollst unser Auge sein«; Hervorhebung P. O. »7wiewohl er’s nicht so meint und sein Herz nicht so denkt; sondern sein Herz steht, zu vertilgen und auszurotten nicht wenig Völker«; Hervorhebung P. O. »28Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über seine Lehre«; Hervorhebung P. O. »6Es begab sich aber auf einen Tag, da die Kinder Gottes kamen und vor den Herrn traten, kam der Satan auch unter ihnen«; Hervorhebung P. O. Vgl. Christian Dube: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers. Analysiert an Hand ausgewählter Reden aus den Jahren 1933–1945, Norderstedt 2004, S. 86f. Zum Parallelismus membrorum vgl. zuerst Robert Lowth: Auszug aus D. Robert Lowth’s Lord Bischofs zu London Vorlesungen über die heilige Dichtkunst der Hebräer, mit Herders und Jones’s Grundsätzen verbunden. Ein Versuch, zur Beförderung des Bibelstudiums des alten Tes-

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In ähnlicher Weise wie aus dem Hebräischen und Griechischen ins Deutsche überführte Biblizismen haben sich sprachliche Eigenheiten Luthers sowie Spezifika der Sprache seiner Zeit, die Eingang in seine Übersetzung gefunden haben, im Verlauf des Sprachwandels der letzten 500 Jahre als Verstehenssignale biblischer Sprache herausgebildet. Solche Eigenheiten finden sich auf syntaktischer Ebene mit dem pränominalen Genitiv wie »des Menschen Sohn« in Mt 25,13,208 besonders aber in der Lexik durch den Bedeutungswandel bzw. die Bedeutungserweiterung bei Wörtern wie ›fromm‹ oder ›Rechtfertigung‹, die von der säkularen in die religiöse Sphäre übertragen wurden, bzw. ›Gnade‹ oder ›Glaube‹, die zu zentralen Begriffen des kirchlichen Bereichs wurden.209 Bei allen bislang genannten kirchen- und bibelsprachlichen Merkmalen handelt es sich um mikrosprachliche Erscheinungsformen. Doch gerade bei der Übertragung von Bibelsprache in nicht religiöse Textformen erzeugen auch makrosprachliche Merkmale systemreferentiell einen Bibelton. Als Beispiele lassen sich das parabolische Sprechen prophetischer Literatur, aber auch die Übertragung psalmistischer, apokalyptischer, genealogischer und paränetischer Text- und Sprachformen auf literarische Texte anführen.210 Eine Zwischenstellung zwischen mikro- und makrosprachlichen Bezügen auf die Heilige Schrift nehmen (explizite wie implizite) Zitate von Bibeltexten sowie Anspielungen auf biblische Themen und Symbole ein, die ebenfalls zur Entstehung eines Bibeltons beitragen, aber darüber hinaus auch andere Diskurse im Text konstituieren bzw. bereits bestehende ergänzen. Auf Grundlage dieser einführenden Überlegungen soll im Folgenden unter systematischen Gesichtspunkten analysiert werden, ob sich bibelsprachliche Erscheinungsformen des Deutschen in Johnsons Erstling wiederfinden und einen »legendenhaften, chronikartigen ›Bibel-Ton[]‹« (BU, 94) konstituieren.

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taments, und insbesondere der Propheten und Psalme, nebst einigen vermischten Anhängen entworfen von Carl Benjamin Schmidt, Danzig 1793, S. 168–183. Lowth differenziert den Parallelismus membrorum in den synonymen (vgl. Jes 54,5), den antithetischen (vgl. Jes 65,13) und den synthetischen Parallelismus (vgl. Ps 19,8–11). Robert Smend ergänzt diese Trias um den klimaktischen Parallelismus, »bei dem die zweite Hälfte Worte der ersten wiederholt und die Aussage ergänzt (›Während durchzieht dein Volk, Jahwe / während durchzieht das Volk, das du erworben hast‹ Ex 15,16b)«; Rudolf Smend: Die Entstehung des Alten Testaments, 4., durchges. und durch einen Literaturnachtr. erg. Aufl., Stuttgart/ Berlin/Köln 1989, S. 102. »5Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann – Herr Zebaoth heißt sein Name –, und dein Erlöser der Heilige in Israel, der aller Welt Gott genannt wird.« »13Darum spricht Herr Herr also: Siehe, meine Knechte sollen essen, ihr aber sollt hungern; siehe, meine Knechte sollen trinken, ihr aber sollt dürsten; siehe, meine Knechte sollen fröhlich sein, ihr aber sollt zu Schanden werden«. Vgl. Dube, Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, S. 86. Wolf, Martin Luther, S. 43f. Vgl. hierzu etwa Gojny, Biblische Spuren in der Lyrik Erich Frieds, S. 122–124.

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Vor allem aber sollen die Auswirkung und Funktionen dieser Erscheinungsformen für den sprachlichen Diskurs des Romans untersucht werden. Ausgehend von der Sprachkritik, die eine zentrale Funktion innerhalb des sprachlichen Diskurses im Ingrid-Roman einnimmt und insbesondere der Ideologiekritik dient,211 werden anschließend deren Folgen für das Erzählen im Roman anhand bibelsprachlicher Einzeltext- und Systemreferenzen analysiert. Ein Ziel ist es, zu zeigen, dass sich der Johnson’sche Bibelton nicht auf seinen parodistischen Charakter beschränken lässt, sondern vielmehr einem ›biblischen Stimmbruch‹ gleicht.

1.4.2 Sprachkritik: »Ja um Gottes Willen« Für die Sprachkritik sensibilisiert wird der Leser bereits zu Beginn des Romans durch eine redensartliche Beteuerungsformel, die auf den christlichen Gott bezogen ist. Den sprachlichen Reflexionsprozess setzt Klaus in Gang, der während des Erdkundeunterrichts, von dem im zweiten Kapitel erzählt wird, die Formel »oh Gott« gebraucht, um sich umgehend zu korrigieren: »Hat Gott gar nichts mit zu tun« (IB, 19). Zu Beginn des vierten Romankapitels wird Ingrid aus Jürgens Perspektive vorgestellt, dessen Gedankenrede mit einer Floskel eingeleitet wird, die angesichts des weiteren Handlungsverlaufs wie eine Parodie wirkt: »Ja um Gottes willen, er kannte sie nun ziemlich lange, er hatte sie sogar einmal geküsst, wer weiss wie das vorkommen konnte, – aber jetzt war es doch wohl unglaublich anzusehen wie sie dastand in all dem Sonnenstaub und die Mappe schaukeln liess an ihrer Hand.« (IB, 24; Hervorhebung P. O.) Jürgens unreflektierter Gebrauch der redensartlichen Beteuerungsformel steht damit im Gegensatz zum Sprachbewusstsein von Klaus. Das Zusammenspiel beider Stellen verweist auf dreierlei: Erstens deutet die scheinbar unbewusste Verwendung von ›oh Gott‹ und ›um Gottes Willen‹ auf einen hohen Grad an Idiomatisierung dieser ursprünglich religiösen Beteuerungsformel hin.212 Die Zurechtweisung von Klaus zeigt, dass die Idiomatisierung so weit vorangeschritten ist, dass es zu einer Sinnentlehrung des Phraseologismus gekommen ist; beide Wendungen haben ihre religiöse Konnotation verloren und fungieren nur mehr als bloße Interjektionen. Dass Klaus diesen Wandel nicht stillschweigend hinnimmt, sondern die Interjektion resemantisiert, verweist 211 Vgl. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 169. 212 Dies wird unterstrichen, indem selbst Marianne als Mitglied der Jungen Gemeinde auf Itsches »Nieder mit dem Kalten Krieg!« das »Oh Gott« als Interjektion gebraucht (IB, 99). An dieser Stelle ist es übrigens nicht Klaus, sondern Itsche, der die zur Interjektion gewordene redensartliche Beteuerungsformel beim Wort nimmt und Marianne ironisch entgegnet: »Wie mans nimmt« (IB, 99).

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zweitens auf den kulturellen Einfluss von Religion. Drittens rekurriert die Reflexion implizit auf den allgemeinen Widerspruch zwischen Sprechen und Handeln in der stalinistischen DDR. Die unreflektierte Verwendung von ›um Gottes Willen‹ durch Jürgen erzeugt den Eindruck, dass es sich bei Klaus und Jürgen trotz ihrer Freundschaft um Antipoden handelt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das dazwischenliegende Kapitel, in dem der Erdkundeunterricht von Lehrer Kollmorgen mit Klaus’ Redebeitrag aus Jürgens Perspektive wiedergegeben und reflektiert wird. Vor allem aber wird der Leser bereits auf den ersten Seiten von Ingrid Babendererde auf die Notwendigkeit der Reflexion von Sprechen und Sprache sowie eine damit einhergehende Sprachkritik als einer zentralen Thematik des Romans verwiesen. Nur kurze Zeit nach Jürgens Gedankenrede über Ingrid beschreibt der Erzähler, wie die Schüler durch das Treppenhaus gehen und darin gespannte Spruchbänder mit politischen Botschaften erblicken: »Die Arbeit an den Oberschulen Mecklenburgs ist ein bedeutender Beitrag im Kampf um Frieden und Einheit für Deutschland«, »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« und »Arbeit ist die Quelle aller Kultur« (IB, 24; Kapitälchen im Original). In der Aula der Oberschule hängt eine »grosse rote Fahne an die Wand genagelt, darauf hatte die 9BI die Losung befestigt aus einzelnen weissen Pappbuchstaben: Reinigt wachsam und unerbittlich unsere Reihen von den Feinden der demokratischen Ordnung.« (IB, 140; Kapitälchen im Original) Die Schule als Bildungs- und Erziehungsinstitution verkommt zu einer Stätte politischer Indoktrination, die ihren Schülern die politischen Losungen nicht nur vorgibt, sondern auch überall sichtbar präsentiert. Ähnlich verhält es sich bei der Gestaltung des Unterrichts, dessen Inhalte ausnahmslos auf die politischen Ziele ausgerichtet sind. Entsprechend spielen das »System des Privateigentums« (IB, 17) und der »Klassenkampf« (IB, 22) im Erdkundeunterricht ebenso eine Rolle wie im Geschichtsunterricht, in dem Direktor Siebmann einen direkten Zusammenhang zwischen dem »Klassenkampf im siebzehnten Jahrhundert« (IB, 88) und der Jungen Gemeinde herstellt. Selbst der Mathematikunterricht von Herrn Krantz soll im Zeichen der politischen Erziehung stehen, auch wenn der Lehrer nicht weiß, »wie er von der Integralrechnung auf die Innenpolitik kommen solle« (IB, 89). Bei denjenigen Lehrern, die der stalinistischen Doktrin mit ihren restriktiven politischen Konsequenzen nicht folgen können und wollen, führt dies zu einer Differenz zwischen Gesagtem und Gedachtem. Der Lehrer Kollmorgen spricht im Erdkundeunterricht von Dingen, »an die er nicht glauben wollte und deren Voraussetzungen er wahrscheinlich nicht mochte«, sodass er das zu Sagende »als Stoff bloss« behandelt (IB, 21). Ähnlich verhält es sich bei der Schülerschaft, in der die Grenze von politischer Gefolgschaft und stillem Widerstand ebenfalls mitten durch sie hindurch verläuft. Der Schüler Niebuhr hält es für ein »heiteres

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Spiel dem Herrn Direktor den Schüler Niebuhr vorzustellen, den Herr Direktor sich vorstellte, obwohl es den Schüler nicht gab« (IB, 170). Das Spielen einer erwünschten Rolle, für das der Lehrer Kollmorgen und der Schüler Niebuhr exemplarisch stehen, rekurriert vom Mikrokosmos Schule als »ideologische[m] Apparat des Staates«213 auf das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat. Infolge der »machtpolitische[n] Instrumentalisierung von Sprache«214 durch den Staat und seine Vertreter sind Unaufrichtigkeit, Misstrauen und Schweigen innerhalb der gesamten Bevölkerung vorprogrammiert. Der ideologische Missbrauch von Sprache wird anhand der Begrüßungsformel »Freundschaft« (IB, 52 u. ö.), insbesondere aber durch politische Schlagwörter wie ›Frieden‹ (vgl. IB, 24) und ›Klassenkampf‹ (vgl. IB, 25 u. ö.) erzählerisch vorgeführt.215 All diese Termini und die mit ihnen wie auf den Spruchbändern konstruierten Parolen werden als sinnentleert, als »Worthülse[n] und Phrasendrescherei«216 beschrieben. Dass der inflationäre und gekünstelte Einsatz dieser politischen Schlagbegriffe vollkommen seine Wirkung verliert, wird selbst beim zunächst politisch konformen Jürgen deutlich, der die Spruchbänder nur mehr »[m]echanisch las« (IB, 24). Noch einen Schritt weiter geht Ingrid, die den Gebrauch des Terminus ›Klassenkampf‹ auf parodistische Weise auf die offizielle, politische Sprache beschränkt und somit auf seine Bedeutungslosigkeit für alle Kommunikationsformen verweist, die (noch) nicht politisiert sind: »Nu brauchs dich nich mehr ssu ä-gin, der Klassenkampf hat heut schon eine Minute vor eins aufgehööt..!« (IB, 25) Ähnliches wird erzählt von Schülern, die ihren Direktor an Sonntagnachmittagen treffen und »Anstandes halber hier ›Freundschaft‹ durch ›Guten Tag‹« (IB, 163) ersetzen. Die politische Sprache wird so als eine nicht authentische, künstliche Sprache definiert, die ein parodistisches, in der Verbindung mit der politischen Macht aber auch ein agitatorisches Potenzial in sich trägt, sodass »Frieden und Einheit« in unmittelbarer Verbindung – und keineswegs in einem Gegensatz – zum Klassenkampf und zur Reinigung »von den Feinden der demokratischen Ordnung«, den (Volks-)Schädlingen, steht.217 Diese Doppelzüngigkeit, diese »mental reservations« (IB, 79), werden allenthalben deutlich und auf der Erzählerebene explizit thematisiert, wenn es über Klaus heißt, dass ihm »die Notwendigkeit vielen Redens« unangenehm ist, denn »vieles an der Sparsamkeit seines Ausdrucks war Verteidigung gegen den Nebensinn, der in allzu kennzeichnenden Worten wie ›bürgerlicher Klassenfeind‹ und ›Führer der Völker‹ enthalten war« (IB, 156).

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Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 149. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 75. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Vgl. Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 125f.

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1.4.3 Folgen der Sprachkritik Aus der instrumentalisierten, verfremdeten, »verkommenen Sprache«218 erwächst eine Sensibilisierung des Lesers für den politisch betriebenen Sprachmissbrauch in der jungen DDR. Darüber hinaus setzt die Sprachkritik innerhalb des Romans den »Maßstab für die Bewertung der eigenen Sprachleistung«219 von Figuren und Erzähler fest. Wie zu zeigen sein wird, kommt biblischen Tönen, die auf unterschiedliche Weise in Johnsons Erstling laut werden, hierbei eine besondere Bedeutung zu. Das politische Sprechen wird parodiert, indem der Allmachtsanspruch des Staates sprachlich in einen biblischen Kontext gestellt und so als Selbstüberhöhung wie Anmaßung gegenüber Kirche und Religion kritisiert wird. Um diesem staatlichen Anspruch zu begegnen, tritt auf der Figurenebene neben das Schweigen von Schülern und Lehrern die Möglichkeit uneigentlichen Sprechens als Form subversiver Kritik. Wie es Johnson auf der Erzählerebene gelingt, sich »Ausdrucks- und Formulierungsschablonen«220 zu entziehen und eine Kunstsprache zu kreieren, die bibelsprachliche Formen integriert, wird zum Abschluss dieses Kapitels veranschaulicht werden. 1.4.3.1 Parodie: Pius und »die Religion eines Staates« Bereits im Zusammenhang mit Jürgens Rede am Mittwochnachmittag vor seinen Freunden, aber auch im Kontext der politischen Funktionalisierung des Schulunterrichts wurde auf die Bedeutung des Geschichtsunterrichts von Direktor Siebmann am Vormittag des 27. Mai 1953 hingewiesen. Im Zentrum der Darstellung der Unterrichtsstunde im 20. Romankapitel steht jedoch die Charakterisierung des Direktors und der stalinistischen Staatsführung, als deren Stellvertreter er fungiert, durch den Erzähler. Nachdem bereits zuvor der Spitzname »Pius« für den »Direktor der Oberschule« (IB, 32) in den Roman eingeführt und jener danach noch drei weitere Male genannt wird (vgl. IB, 61, 74, 79), reflektiert der Erzähler diesen zu Beginn des Kapitels: Niemand wusste warum Pius Pius hiess. Päpste haben so geheissen, und in der Tat stand Pius der Schule vor und ihrer Parteiorganisation mit solcher Autorität, aber es mochte nicht deswegen sein. ›Pius‹ ist lateinisch und bedeutet ›Der Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der

218 Ebd., S. 122. 219 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 76. 220 Ebd.

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Sozialistischen Einheitspartei; indessen hatte er diesen Namen nicht von der 12 A. Darinnen war ein hoher und ein tiefer Ton. (IB, 86)

In einer Präteritio bietet der Erzähler Hintergründe zum Spitznamen des Direktors, um sie umgehend wieder zu korrigieren bzw. zu relativieren. Das mimetisch unzuverlässige Erzählen221 verleiht dem Spitz- bzw. Spottnamen seine Individualität und erscheint als Signifikant einer Charaktereigenschaft. Dass der Spitzname, der durch den Hinweis auf eine mögliche Erstnennung zu »Fastnacht« (IB, 92) in seinem Spottcharakter gesteigert wird, womöglich auf Ingrid zurückgeht, wird im Roman nur angedeutet. Auch wenn der Erzähler suggeriert, dass niemand wisse, »warum Pius Pius hiess«, so weiß es doch jeder: Erzähler, Schüler und Leser. Der Spitzname Direktor Siebmanns verweist auf die quasireligiöse Dimension des sozialistischen Herrschaftsanspruchs und die Treue des Direktors gegenüber seiner Partei. Von besonderer Relevanz ist hierbei die Bedeutung des Wortes ›fromm‹, das seit dem 15. Jahrhundert spezifisch religiös konnotiert ist und neben ›tüchtig‹ sowie ›rechtschaffen‹222 zum Ausdruck bringt, »von einer religiösen Überzeugung durchdrungen, gottergeben«223 zu sein. Die sozialistische Staatsdoktrin mit ihrem Antifaschismus wird damit zu einem Religionsersatz oder mit den Worten von Klaus aus der zweiten Romanfassung zu einer Art »Staatsreligion«, Direktor Siebmann zum Hüter der »Religion eines Staates«.224 Ein solcher ›Glaubenssozialismus‹ widerspricht der Grundlage jeg-

221 Gemäß der Begriffsbestimmung Tom Kindts erzählt ein Erzähler mimetisch unzuverlässig, sobald er darauf verzichtet, in seinen Aussagen über die fiktive Welt unter der Voraussetzung der Kompositionsstrategie des Werkes »ausschließlich korrekte und alle relevanten Informationen« mitzuteilen; Tom Kindt: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß, Tübingen 2008, S. 51. Zum narratologischen Phänomen des unzuverlässigen Erzählens vgl. auch Simone Elisabeth Lang: »Zumindest hätte er sich all das gewünscht.« Unzuverlässiges Erzählen in der Heterodiegese, Diss., Bremen 2016. Lang untersucht in ihrer Dissertationsschrift u. a. die Mutmassungen über Jakob hinsichtlich mimetischer (Un-)Zuverlässigkeit und gelangt zu dem Schluss, dass »der Befund zur mimetischen Zuverlässigkeit des Erzählers positiv« ausfalle, auch wenn sich der Erzähler des Romans »am Rande des Spektrums der erzählerischen Zuverlässigkeit« bewege, »bei genauer Betrachtung genau damit zu spielen« scheine; ebd., S. 223. Vgl. hierzu Paul Onasch: »nicht mehr zu erzählen gewusst als unzuverlässige unsichere Gerüchte«. Zu den Grenzen unzuverlässigen Erzählens in Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob (1959), in: Matthias Aumüller/Tom Kindt (Hg.): Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens, Berlin 2020, im Erscheinen. 222 Vgl. Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 25., durchges. und erw. Aufl., Berlin 2011, S. 320. 223 Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, Bd. 1: A–L, 2., durchges. und erg. Aufl., Berlin 1993, S. 378. Vgl. hierzu auch Friso Melzer: Der christliche Wortschatz der deutschen Sprache. Eine evangelische Darstellung, Lahr 1951, S. 230–232. 224 Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 4, Bl. 20, 16.

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licher sozialistischer Theorie: dem wissenschaftlichen, historischen Materialismus. Die nachfolgende Beschreibung von Direktor Siebmanns Physiognomie, in der »Vertrauen erweckende frische Jugendlichkeit« wirkt, wird durch sein Auftreten gebrochen, in dem »viel Wichtigkeit und Anspruch« (IB, 87) dominiert. Dies spiegelt sich auch in seiner Redeweise wider, die insofern »besonders« ist, als sie von »hochgespannten Triumph-Bögen« und »heftigem Abhacken der Satzteile, die nahezu singend hintereinanderklappten«, geprägt ist (IB, 87). Auf der Formebene des Romans wird dieser liturgisch anmutende Sprechgesang typografisch durch Zusammenschreibungen, Bindestriche und Schlusszeichen innerhalb eines Satzes abgebildet, sodass auch für den Leser die parodistische Reduktion Direktor Siebmanns auf seine Ausdrucksseite spürbar wird:225 »Das heisst. Das heisst die religiös-ideologischen. Interessen des Bürgertums –. Waren immer! Be-män-te-lungen. Der Profitgier! […] Und was damals. Historisch! Historisch notwendig war –: istheuteeinStadiumdesVerfaulensundAbsterbensgetreten!!« (IB, 87f.) Die Rede des Direktors löst bei den Schülern »Stille« und »Schulegefühl«, eine »besondere Art von Unbehagen, ein befremdliches Gemenge aus gestörter Trägheit und zuverlässigem Misstrauen, Misstrauen gegen die belehrenden Mitteilungen dieser Anstalt« (IB, 88), aus. Als er schließlich einen Zusammenhang zwischen dem Unterrichtsgegenstand und der Jungen Gemeinde herzustellen versucht, empört sich Ingrid auf einem an Klaus gerichteten Zettel: »Ich finde das unerhört. […] Der dreht das so wie ers brauchen kann.« (IB, 90) Sie ist jedoch ohnmächtig, sich gegen den Direktor zur Wehr zu setzen, und selbst Klaus, der den Englisch- und Deutschunterricht als Bühne für öffentliche, wenn auch versteckte, Kritik nutzt, schweigt. Während die Schüler der 12 A ihren Lehrern in den vorherigen Stunden mit »spöttischer Neugier« gegenübersitzen, »besichtigten«226 sie Direktor Siebmann »mit freundlicher Neugier« (IB, 88f.). Der Erzähler nimmt die Differenz, die der Perspektive der Schüler inhärent ist, zum Ausgangspunkt, um den Einfluss und die Macht des Direktors ironisch zu umschreiben. Dabei bedient er sich des Duktus der Heiligen Schrift wie direkter Bibelzitate: Siehe: so ein gewaltiger Mann war Pius. Er hatte zwei Telefone, in die er dies und jenes sprechen konnte. Er mochte der von Bodmer sagen: sie solle ihm nach dem Munde schreiben, und die von Bodmer würde diese zehn Zeilen also ausfertigen. In Pius’

225 Vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 76. 226 Die Wahl des Verbs unterstreicht den Fokus der Schüler auf die Ausdrucksseite Direktor Siebmanns, dessen Rede so als ein Ereignis erscheint, und zeugt überdies davon, dass die Schüler am Unterricht in keiner Weise partizipieren. Vielmehr sitzen sie schweigend und ihre Gedanken auf Zetteln formulierend vor ihrem Lehrer.

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Zimmer stand ein Mikrofon, wenn er das einschaltete, liess es seine Stimme hören in jedem Klassenraum. Und Pius hatte die Macht mit seinem Worte etwas gut und böse zu machen, und seine Unterschrift würde ihnen bescheinigen: sie seien nützliche Mitglieder der Republik. So gewaltig war Pius. (IB, 89f.; Hervorhebung P. O.)

Die Passage wird durch die bibelsprachliche Partikel ›siehe‹ eingeleitet, sodass eine Anlehnung an die Heilige Schrift von Beginn an deutlich ist. Was folgt, ist die zentrale Aussage, die die gesamte Passage in der Form eines synonymen Parallelismus – ein besonders für den Psalter prägendes Stilmittel – rahmt: »so ein gewaltiger Mann war Pius/So gewaltig war Pius.« Dass es sich dabei um eine Parodie handelt, wird durch das verwendete Exempel deutlich, mit dem Direktor Siebmanns Macht symbolisiert wird: zwei Telefone. Die Telefone versinnbildlichen die Entfernung des Sprechers zum Adressaten. Dass es sich zudem um zwei Telefone handelt, verweist auf die Doppelzüngigkeit des Direktors, einmal dieses und einmal jenes sagen zu können.227 Parallel hierzu erscheint der übernächste Satz, in dem »dies und jenes« als »gut und böse« expliziert und auf Gen 3,4f. bezogen wird. Pius wird damit als Direktor karikiert, der mit seinen Worten die Allmacht Gottes für sich beansprucht: »Die Macht des Wortes ist die der Schöpfungsgewalt, die sich die Welt nach den ihr eigenen Maßstäben herrichtet«.228 Zwischen dem Parallelismus wird die scheinbare Allmacht des Direktors konkretisiert, indem Frau Bodmer als dem Direktor hörige Sekretärin charakterisiert wird, die ihm »nach dem Munde« schreibt229 und auch »diese zehn Zeilen« ausfertigen würde. Auch wenn die »zehn Zeilen« angesichts des biblisches Kontextes, in den die Erzählerrede eingebettet ist, Assoziationen zum Dekalog erzeugen, verweist die Umfangsangabe in Kombination mit dem vorangestellten Relativpronomen wohl einzig auf den Umfang der Erzählerpassage. Durch den Einsatz unterschiedlicher biblischer Referenzen parodiert der Erzähler den Direktor der Gustav Adolf-Oberschule, was durch seine Stellvertreterfunktion auf den Allmachtsanspruch der Staats- und Parteiführung der DDR hinausweist. Die konkrete Ausgestaltung des Sozialismus gleicht demnach einem Religionsersatz, in dem sich ihre Repräsentanten mit gottgleicher Allwissenheit und Allmacht stilisieren und das (Un-)Recht für sich in Anspruch nehmen, über den Willen der Bürger und über bestehende Gesetze hinweg zu entscheiden. So sind die Schüler erst durch die Unterschrift ihres Direktors

227 In seiner Rede vor der Schülervollversammlung greift Jürgen diese Wendung für die Doppelzüngigkeit Pius’ auf: »So sagte Pius dieses und die ihn anhörten fürchteten dass er jenes wollte. Sie konnten seit langem die Bedeutung der Worte nicht mehr übersehen, sie waren also bedacht wenig gesagt zu haben.« (IB, 145; Hervorhebung P. O.) 228 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 126. 229 In »Munde« findet sich ein archaisches e, das den Eindruck des bibelsprachlichen Duktus verstärkt.

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»nützliche Mitglieder der Republik« und damit von seiner persönlichen Gunst wie Willkür unmittelbar abhängig. Parallel zum Vorgehen gegen die Evangelische Kirche und insbesondere gegen die Junge Gemeinde erfolgt eine Stilisierung des Sozialismus als Religionsersatz, um die Angehörigen »eines Neuen Deutschland« (IB, 161) an die staatlich oktroyierte Ideologie zu binden.230 Zentral hierfür ist die Abgrenzung gegenüber bereits bestehenden Gesellschafts- und Glaubenstraditionen, die als ›alt‹ und damit automatisch schuldbeladen gelten. Die bürgerliche Tradition gehört ebenso hierzu wie die christliche Glaubenstradition, was Jürgen durch seine plakative Kritik an der Stuttgarter Erklärung unterstreicht. Die DDR definierte sich über einen radikalen Neubeginn im Sinne einer ›Neu-Schöpfung‹, was sich am inflationären Gebrauch des Adjektivs ›neu‹ in Zeitungen (Neues Deutschland, Neue Welt) oder Schlagworten wie dem der religiös konnotierten ›Neuen Zeit‹231 widerspiegelt. In der zweiten und dritten Fassung des Romans wird das Verständnis des herrschenden Sozialismus als ein Religionsersatz,232 »in der die Partei gottähnlich schaltet, die Attribute Gottes – Allmacht und Allwissenheit – beansprucht und ihre eigene Schöpfung mit neuen Namen über die Wirklichkeit stülpt«, Schmitz zufolge auch auf der Formebene abgebildet: »Der Roman präsentiert sich als Kontrafaktur biblischer Schöpfungsgeschichte; über sechs Tage erstreckt sich die Handlung, ohne daß ihr Resultat am siebten als ›gut‹ gelten dürfte. Vielmehr hat die Gegen-Schöpfung der gottähnlichen Partei dann die wirkliche ›Heimat‹ der

230 Entsprechend versuchte man in der DDR, die Sakramente durch sozialistische Rituale zu ersetzen und so den Einfluss der Kirche zu unterbinden. 1954 kam es zur Einführung der Jugendweihe als Pendant zur Konfirmation/Firmung; ab 1958 gab es Versuche, die Taufe durch eine sozialistische Namensgebung, die kirchliche durch eine sozialistische Eheschließung und Bestattung zu ersetzen und beim Weihnachtsfest die christlichen Bezüge zu verschweigen und stattdessen ein Fest des Friedens zu feiern; vgl. Stefan Wolle: Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR (1949–1961), Berlin 2013, S. 354–366. Vgl. hierzu auch Horst Dieter Schlosser: Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen, Köln 1990, S. 85–88. In einem Brief Pastor Johannes Zellmers an Johnsons Mutter vom 22. Januar 1955 ist der anfängliche Widerstand der Kirchen dokumentiert, der jedoch aufgrund des ausgeübten Drucks auf die Heranwachsenden ohne den gewünschten Erfolg blieb: »Ein Nebeneinander von Jugendweihe und Konfirmation ist unmöglich! Entweder die Jugendweihe oder die Konfirmation. Auch unsere Kirche steht voll und ganz hinter dieser Erklärung. Wer die Jugendweihe empfängt, kann nicht konfirmiert werden! Wer schon konfirmiert ist und an der Jugendweihe teilnimmt, bricht sein Konfirmationsgelübde!; Johannes Zellmer an Erna Johnson, 22. 1. 1955, in: UJA Rostock, UJA/H/000239, Bl. 49f., hier: Bl. 49; Hervorhebungen im Original unterstrichen. 231 Vgl. Offb 21,1f. 232 Schmitz spricht stattdessen von Ersatzreligion; vgl. Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 153. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 169.

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Menschen verdrängt.«233 Die Änderung Johnsons in der vierten Fassung von einer siebentägigen zu einer viertägigen Makrostruktur, ergänzt durch eine zweite Zeitebene,234 ist dem Anschein nach eng mit dem Verzicht auf die Figur des Dietrich Erichson verbunden. Auf einem fünfseitigen Typoskript vom 27. Januar 1957 notiert Johnson über die Figur des ehemaligen Schülers der Gustav AdolfOberschule, dass ohne seine Anwesenheit im Roman »schon der Freitagabend eindeutig sein«235 könne. Die Veränderung der temporalen Makrostruktur spricht gegen Schmitz’ Versuch, die siebentägige Struktur der zweiten Fassung als Kontrafaktur zu deuten.236 Auch wird zwar zu Beginn des Romans der Anschein einer kleinstädtischen Idylle erweckt, die durch das Eindringen staatlicher Repressionen in das Alltagsleben der Figuren zerstört wird, bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass dieser Prozess bereits vor den im Roman behandelten Ereignissen begonnen hat. Es wird von einem Hof berichtet, dessen Besitzer »vor Pfingsten nach Berlin gefahren und inzwischen nicht zurückgekommen« (IB, 13) ist. Somit lässt sich die Kirchenpolitik der Sozialistischen Einheitspartei nach der Bodenreform und der Kollektivierung der Landwirtschaft lediglich als ein weiterer Schritt der sozialistischen »Gegen-Schöpfung« begreifen. Die Folgerung aber bleibt: Für die Protagonisten enden die staatlichen Bestrebungen, die evangelische Kirche zu schwächen, um den christlichen Glauben in der Bevölkerung durch die sozialistische Ideologie zu ersetzen, aufgrund des repressiven Vorgehens im Verlust von Heimat – zugunsten der (Meinungs-)Freiheit.

1.4.3.2 Uneigentliches Sprechen: Die Parabeln der drei Freunde Um sich gegen die politische Funktionalisierung des Schullebens zur Wehr zu setzen, greifen die Schüler, unter ihnen vor allem Klaus, mehrfach auf das Mittel der uneigentlichen Rede zurück. Als Uneigentlichkeit ist nach Zymner eine »im Text nachweisbare Appellstruktur« zu verstehen, die eine »Richtungsänderung 233 Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 153. 234 Die Gegenwartshandlung erstreckt sich auf den Zeitraum vom 26. bis 29. Mai 1953, die Nachzeithandlung beginnt am 30. Mai 1953 und umfasst einen nicht genau bestimmbaren Zeitraum; vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 50. 235 Johnson, Reifeprüfung III–IV, Bl. 45. 236 Neumann deutet die siebentägige Struktur und die damit verbundenen 77 Kapitel als Intertextualitätssignal, um »nach Thomas-Mann-Bezügen Ausschau zu halten«; Neumann, Die leuchtende Sieben, S. 170. Darüber hinaus verweist er auf die Bedeutung der Siebenzahl als »allbekannte Märchenzahl« und leitet daraus eine »eigentümliche Kippfigur« ab: »Eben erzeugt die Sieben noch einen Realitätseffekt, im nächsten Moment zersetzt sie ihn und markiert die Fiktivität des Textes«; ebd. Eine Verbindung zum Inhalt von Ingrid Babendererde stellt Neumann hingegen nicht her.

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der semantischen Kohärenzbildung« anzeigt.237 Um diese Appellstruktur zu erzeugen, verfügt uneigentliche Rede über ein Initial- und Richtungssignal, das einerseits anzeigt, dass die Sprache eines Textes an dieser Stelle »nicht konventionell verwendet wird«, und andererseits auf die »Richtungsänderung der semantischen Kohärenzbildung« verweist.238 Die Richtung des Transfers kann dabei sowohl durch den Ko- als auch den Kontext bestimmt werden.239 Formen uneigentlichen Sprechens findet man in Johnsons Erstling an gleich mehreren Stellen: Wie bereits gezeigt wurde, verschränkt Klaus im Englischunterricht das Schicksal von Elisabeth Rehfelde mit der Leidenschaft Elisabeths I. für das Theater und dem in der Folge entbrennenden Literatur- und Theaterstreit im England des 17. Jahrhunderts.240 Ähnlich verhält es sich, wenn der Schüler Niebuhr im Deutschunterricht Bertolt Brechts Über Schillers Gedicht »Die Bürgschaft« rezitiert, wobei für die vorliegende Arbeit die Werkgenese dieser Stelle von besonderer Relevanz ist. Weitere Passagen uneigentlichen Sprechens sind die Übertragung der Lateinklausur von Klaus »Ins Unreine« (IB, 178), aber auch die Reden Jürgens über die Guten und die Bösen Kinder (vgl. IB, 145) sowie Ingrids über die Hosen von Eva Mau (vgl. IB, 174) vor der Schülervollversammlung. In allen fünf Passagen werden biblische Intertexte und Themenkomplexe aufgerufen. Die aus der uneigentlichen Rede abgeleiteten Sprachformen und Textsorten reichen von der Metapher über das Gleichnis und die Parabel bis hin zur Allegorie, wobei die terminologischen Übergänge vielfach fließend sind. Auch wenn nicht alle genannten Passagen aus Johnsons Erstling im eigentlichen Sinne Parabeln sind, ist dennoch anzunehmen, dass »Johnsons damals typischer Parabelstil, wie er auch im Ingrid-Roman mehrmals aufgegriffen wird«,241 zur Genese eines Bibeltons in diesem Roman beiträgt. Naheliegend erscheint überdies, dass das uneigentliche Sprechen in Ingrid Babendererde, das vom Schüler Niebuhr ausgeht und auf Jürgen sowie Ingrid übertragen wird, auf der strukturellen Ebene Parallelen zu den biblischen Parabeln aufweist. Biblische Parabeln finden sich im Alten wie im Neuen Testament, wobei insbesondere Jesus in den Evangelien als »Gleichniserzähler«242 charakterisiert wird, der »durch viele solche Gleichnisse« den Menschen »das Wort« verkün-

237 Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn 1991, S. 62. 238 Ebd., S. 50f. 239 Ebd., S. 62. 240 Vgl. IB, 79f.; Zweiter Teil, Kap. 1.2. 241 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 72. 242 Ruben Zimmermann: Die Gleichnisse Jesu, in: ders. (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, S. 3–48, hier: S. 3.

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dete.243 In der deutschsprachigen theologischen, teilweise auch literaturwissenschaftlichen Parabel- und Gleichnisforschung hat die Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommene Untergliederung von Gleichnissen durch Adolf Jülicher kanonischen Charakter gewonnen.244 Jülicher unterscheidet Gleichnisse im weiteren Sinne in drei Kategorien: Gleichnisse im engeren Sinne, Parabeln und Beispielerzählungen.245 Rudolf Bultmann erweiterte die Klassifikation Jülichers um die Kategorie der ›Bildworte‹, die er auf eine Stufe mit Metaphern und Vergleichen stellt.246 Ruben Zimmermann kritisiert diese Differenzierung der neutestamentlichen Gleichnisse, weil sie den Texten »eine sachfremde Logik aufzwingt, die nicht länger fortgeschrieben werden darf«.247 Er fordert daher, »sich nicht nur von der Untergattung ›Beispielerzählung‹ zu verabschieden, sondern auch den Gattungsbegriff ›Gleichnis im engeren Sinne‹ aufzugeben und den traditionellen Begriff ›Gleichnis‹ nur noch als unscharfen Oberbegriff bildlicher Redeformen beizubehalten«.248 Stattdessen plädiert er für den Terminus technicus ›Parabel‹ als einzig angemessener Bezeichnung für die Gleichnisse Jesu: »Parabel – sonst nichts!«249 Bestimmen lässt sich die Gattung ›Parabel‹ Zimmermann zufolge durch eine Reihe von Merkmalen, die auf Zymners Definitionsversuch zurückgehen: Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Transfersignale zu erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Kound Kontextinformationen (6) gelenkt wird.250 243 Mk 4,33. 244 Vgl. Zimmermann, Gleichnisse Jesu, S. 17. 245 Vgl. Adolf Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu, Freiburg i. Br. 1888, S. 120. Als Ausgangspunkt seiner Klassifikation dient Jülicher die Fabel, die sich in der Kategorie der Parabel wiederfindet. Die Parabel versteht er als »Fabel im Dienst religiöser Ideen«; ebd. Darüber hinaus vergleicht Jülicher die genannten Formen mit der Allegorie, die aber unter den Gleichnissen Jesu nicht zu finden sei, weil sie »nicht verkündigt, sondern verhüllt, […] nicht offenbart, sondern verschleiert, […] nicht verbindet, sondern trennt, […] nicht überredet, sondern zurückweist«; ebd., S. 121. Der Klassifikation Jülichers folgt etwa Eta Linnemann in ihrer für den Religionsunterricht konzipierten Dissertation; vgl. Eta Linnemann: Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 4. Aufl., Göttingen 1966. 246 Vgl. Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition, mit einem Nachwort von Gerd Theißen, 10., erg. Aufl., Göttingen 1995, S. 181–184. 247 Zimmermann, Gleichnisse Jesu, S. 23. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. Bei Zymner heißt es: »Eine Parabel ist ein episch-fiktionaler Text mit mindestens einem Expliziten oder Impliziten Transfersignal zur Richtungsänderung des Bedeutens. Dabei kann die Richtungsänderung ausdrücklich gelenkt werden, kann aber auch offen bleiben im Rahmen des Bedeutungspotentials des Textes. In keinem Fall enthält der Text global an-

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Unabhängig von der Problematik, dass Zymner im Gegensatz zu Zimmermann das Gleichnis von der Parabel unterscheidet,251 hilft diese Definition, Struktur in das terminologische Durcheinander der Parabel- und Gleichnisforschung zu bringen. Für die Romanpassagen in Ingrid Babendererde ist innerhalb dieser Definition das Merkmal der Fiktionalität von besonderer Relevanz. Klaus’ Verschränkung der Ereignisse um Elisabeth Rehfelde mit den politischen Auseinandersetzungen Elisabeths I. kann aufgrund ihres konkreten historischen Bezugs gemäß dieser Definition streng genommen nicht als Parabel bezeichnet werden. Da es sich bei der Fiktionalität jedoch um ein narratives und kein strukturales Textmerkmal handelt, ergibt sich die Frage, ob strukturale Merkmale der jesuanischen Parabeln nicht auch auf weitere Formen uneigentlicher Rede übertragen werden können. Um dieser Frage nachgehen zu können, bedarf es eines weiterführenden Ansatzes, da die vorliegende Definition Merkmale anführt, die sowohl religiöse als auch literarische Parabeln aufweisen. Einen entsprechenden Ansatz verfolgt Wolfgang Harnisch, der vom »dramatischen Gepräge«252 der neutestamentlichen Gleichnisse ausgehend allgemeine Merkmale von Parabeln und Gleichnissen auf die Parabeln Jesu überträgt. Insgesamt behält Harnisch den traditionellen Oberbegriff des ›Gleichnisses‹ bei und unterscheidet zwischen der dramatischen Gleichniserzählung (Parabel) und dem narrativen Miniaturstück (Gleichnis).253 Für die Parabel führt Harnisch ein ganzes Bündel an Merkmalen an, das sich in drei Bereiche gliedern lässt. Zunächst begreift er die neutestamentlichen Parabeln als szenische Gepräge mit einer dreiteiligen Szenenfolge (Protasis – Epitasis – Katastrophe), der Verwendung von direkter Rede und von Monologen sowie einer geradlinigen Handlungsführung.254 Für die Figurenwelt der neutestamentlichen Parabeln nennt Harnisch das dramatische Dreieck als typisch, das entweder durch einen »Handlungssouverän mit einem antithetischen Zwillingspaar« oder drei Figuren

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thropomorphisiertes Figural aus der bekannten Realität«; Zymner, Uneigentlichkeit, S. 101; Kursivdruck im Original. Vgl. Zymner, Uneigentlichkeit, S. 122–130. Demnach bestehe das Distinktionsmerkmal zwischen Parabel und Gleichnis in der Fiktionalität. Bei einer Parabel liege eine epische Fiktionalität vor, für ein Gleichnis sei sie hypothetischer Natur. Hieraus leitet Zymner ab, das ein Gleichnis ein Text sei, »der die Basisstruktur des Vergleiches überschreitet – entweder durch statische Beschreibungen zu mindestens einem der Glieder der Basisformel oder aber durch hypothetische-fiktionale Handlungsschilderungen, die sich an mindestens eines der Glieder der Basisstruktur knüpfen«; ebd., S. 130. Wolfgang Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, 2., durchges. Aufl., Göttingen 1990, S. 20. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 20–29. Die dreiteilige Szenenfolge differenziert Harnisch unter Berufung auf Dan Otto Via in zwei Schemata: Handlung–Krise–Lösung und Krise –Tat –Lösung. Da beide Reihungen sowohl auf eine tragische als auch eine komische Lösung hinauslaufen können, ergeben sich insgesamt vier Erzählgerüststrukturen; vgl. ebd., S. 26–29.

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»mit abfallender Rangfolge« geprägt wird, wobei im zweiten Fall »ein Rollenwechsel der Mittelfigur den besonderen Charakter des Erzählgerüsts signalisiert«.255 Ebenso wie nicht religiöse Parabeln verzichten auch die biblischen Gleichniserzählungen auf Ausschmückungen und sind geprägt von konträren Gesprächspartnern wie dem Hang zur Typisierung der Figuren, was nicht selten eine Atmosphäre des Irrealen erzeugt.256 Weitere erzählerische Merkmale sind ein unmotivierter Einstieg sowie ein abruptes Ende der jesuanischen Parabel, der Gebrauch von Wiederholungen und Hyperbeln als Mittel der Ironisierung des Gesagten sowie das Achtergesetz, wonach der für die Parabel bedeutendste Teil am Ende erzählt wird.257 Dieses Bündel von Merkmalen soll als Grundlage dienen, um im Folgenden die Passagen uneigentlicher Rede in Ingrid Babendererde unter strukturalem Gesichtspunkt mit den Parabeln des Neuen Testaments zu vergleichen. Die Analyse bleibt hierbei auf die letzten drei Passagen beschränkt. Klaus’ Verteidigungsrede über die ›doppelte‹ Elisabeth intendiert im Gegensatz zu vielen jesuanischen Parabeln nicht, das Einverständnis des Gegenübers, des Lehrers und der Mitschüler, zu gewinnen, wodurch »die Möglichkeit einer echten Entscheidung gegeben«258 wäre. Vielmehr deckt der Schüler Niebuhr das rechtswidrige staatliche Vorgehen gegen die Junge Gemeinde mithilfe einer historischen Verschränkung auf. Er appelliert an seine Zuhörer, darunter seinen Freund Jürgen, der sich umgehend zur Widerrede erhebt, sich diesen Missbrauch vor Augen zu führen: »für ›Klassenkampf‹ wünsche er ›Klassenkampf‹ zu hören, und nicht ›Sabotage‹: wenn es das eine wie das andere geben könne im democratic kindergarten« (IB, 80). Aufgrund der Integration der Gegenwartsebene in die Rede fungiert der historische Bezug weniger als Schutz vor möglichen Konsequenzen, sondern als Referenzargument: Der Blick in die Geschichte lehrt, das gegenwärtige Unrecht zu erkennen. Die zweite Passage uneigentlicher Rede ist in die Erzählung vom Deutschunterricht der Klasse 12 A am Mittwoch integriert, der ganz im Zeichen der Erbeproblematik steht und von der Lehrerin Behrens als »eine Art Reifeprüfung im Voraus« (IB, 96) stilisiert wird, und besteht aus Klaus’ Rezitation von Brechts Sonett Über Schillers Gedicht »Die Bürgschaft«. Entsprechend handelt es sich nicht um den Parabelstil Johnsons, sondern um einen als Parabel genutzten literarischen Intertext, sodass auf einen strukturellen Vergleich mit den jesuanischen Parabeln verzichtet werden kann. Äquivalent verhält es sich mit der 255 Ebd., S. 79f. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Parabel Vom verlorenen Sohn, in der der Vater als Handlungssouverän und die Kinder als antithetisches Zwillingspaar agieren (vgl. Lk 15,11–32), die Parabel vom Schalksknecht mit der Figurenfolge König, Knecht und Mitknecht für den zweiten Fall (vgl. Mt 18,21–35). 256 Vgl. ebd., S. 29–35. 257 Vgl. ebd., S. 35–41. 258 Linnemann, Gleichnisse Jesu, S. 30.

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zweiten Fassung des Romans, in der nicht Schillers Die Bürgschaft, sondern Goethes Der Gott und die Bajadere als Referenztext dient. Brecht verfasste 1938 auch zu dieser Ballade ein Sonett, das wiederum von Klaus vorgetragen wird. In der zweiten Fassung dient der Einsatz der Religionsmetapher einer neuerlichen ironischen Charakterisierung des real existierenden Sozialismus – Gott, durch Direktor Siebmann personifiziert, fungiert als »Metapher für die Ersatzgötter der Partei«, die Bajadere stehen hingegen »für die Objekte ihrer Macht«, die Gnade und Ungnade erfahren, wann es dem Mahadöh beliebt.259 In der vierten Fassung rückt mit dem Verweis auf Schillers Die Bürgschaft das Motiv des Freundschaftsbeweises in den Mittelpunkt der Handlung. Durch dessen Aufgreifen wird an die moralische Integrität innerhalb der bestehenden Freundschaft als eine Art ›Nische‹ gegenüber dem Herrschaftseinfluss appelliert. Dies wiederum deutet die Divergenz zwischen den privaten Forderungen der Abiturienten an ihre Lebensgestaltung und den an sie gerichteten politisch-gesellschaftlichen Erwartungen an. Während die Schüler über ihr Verhältnis zur Lyrik der Weimarer Klassik sprechen, verhandeln sie mittelbar das Verhältnis von Persönlichkeitsrechten und Staatsräson. Ein drittes Mal greift der Schüler Niebuhr auf das Mittel des uneigentlichen Sprechens bzw. Schreibens am Donnerstag während des Lateinunterrichts bei Sir Ernest zurück. Seine »[i]ns Unreine« (IB, 178) geschriebene Parabel weist deutliche strukturelle Parallelen zu den jesuanischen Parabeln auf. »Ins Unreine« Die Schüler der Klasse 12 A sollen einen Abschnitt der Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum,260 der Geschichte des Erzbistums Hamburg, übersetzen. Bei der Schrift des Domscholasten Adam von Bremen, die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts verfasst wurde, handelt es sich um ein bedeutendes Geschichtswerk des Mittelalters.261 Wie ein Dokument im Uwe Johnson-Archiv nahelegt, hat der Schüler Johnson diesen Text am 17. Januar 1952, wenige Monate vor seinem Abitur, ebenfalls ins Deutsche übertragen müssen.262 Mit scheinbarer Mühelosigkeit übersetzt Klaus den Text über das Schicksal des Missionars Wolfrat, der das Verfluchen und Zerstören eines heidnischen Götterbildes mit dem Leben bezahlt und zum »martyrii« (IB, 134), zum Märtyrer wird. Dass ›martyrii‹ das einzige Wort aus dem lateinischen Text ist, das nicht übersetzt 259 Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 156. 260 Es handelt sich um das 60. Kapitel im zweiten Buch der Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum; vgl. Adam von Bremen: Hamburgische Kirchengeschichte, hg. von Bernhard Schmeidler, 3. Aufl., Hannover/Leipzig 1917, S. 122. 261 Vgl. Bernhard Schmeidler: Einleitung, in: ebd., S. VII–LXVII, hier: S. LV, LXV. 262 12 A. Klassenarbeit vom 17. Jan. 1952, Typoskript, 17. 1. 1952, in: UJA Rostock, UJA/H/ 000229, Bl. 8.

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wird, verweist auf dessen besondere Relevanz. Der Bezug des Textes zur Gegenwart von Lehrer und Schülern wird bereits an dieser Stelle zweifelsfrei deutlich.263 Während Hannes, dem Klaus seine Übersetzung zum Abschreiben reicht, den Text des Tischnachbarn in leicht abgewandelter Form überträgt (vgl. IB, 177), verfasst Klaus einen zweiten Text mit dem Titel Ins Unreine und legt ihn in sein Heft. Im Verlauf der Schülervollversammlung sitzt Sir Ernest im Konferenzraum der Schule und kontrolliert die Lateinarbeiten seiner Schüler. Als er Niebuhrs Heft »von vorn bis hinten« durchblättert, entdeckt er jenen Zettel und liest einen Text in »sehr kleine[n] und verschliffene[n] Schriftzeichen« (IB, 177f.). Darin flüchtet Wolfrat, »ehemaliger Bürger Schlechten Auslandes«, in das Land der Bärtigen, in dem er bald »Befremden und Missbilligung« erregt, weil er sich dem Kollektiv widersetzt (IB, 178f.). Auf einer eigens einberufenen »bärtene[n] Versammlung« (IB, 179) wird Wolfrat zur Rede gestellt und antwortet auf die ihm entgegengebrachten Vorwürfe. Er wolle »die Bedeutung der sozialen Leistung einer hochherzigen und gastfreundlichen Nation« nicht verleugnen, »ein Volk aber, das versehen sei mit einer regierenden Partei und mit dem Haarwuchsmittel Comanat, könne und dürfe sich nicht anderseitigem Verfahren so völlig verschliessen« (IB, 179). Statt sich dem Druck zu fügen, bekundet Wolfrat, »er halte es geradezu für löblich und als ein Verdienst, nicht zu gehören zu jenen, die sich heimlich rasieren, öffentlich aber gefälschte Bärte trugen« (IB, 179). Die Parallele des Parabelinhalts zum Romangeschehen mit der bevorstehenden Schülervollversammlung ist unverkennbar und wird bereits zu Beginn durch die Datierung auf »Donnerstag nach Pfingsten« (IB, 178) markiert. Mit dem Land der Bärtigen rekurriert Klaus ironischer Weise auf die DDR, deren Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, Walter Ulbricht, neben seinem sächsischen Dialekt über einen charakteristischen Bart verfügte.264 Darüber hinaus erinnert die »Grossgruft« (IB, 180), in der Wolfrat aufgebahrt wird, an das Mausoleum Wladimir Iljitsch Lenins. Die Ironie, die so weit geht, dass die Bärtigen bei der »falschen Bedienung« (IB, 180) des Rasierapparates ums Leben kommen, enthält eine deutlich kritische Botschaft. Nicht nur, dass die Regierenden gegen den ›Abweichler‹ Wolfrat vorgehen, auch ist der Bart als zentrales Identifikationsmerkmal des Landes unnatürlich. Zur Umsetzung der Staatsdoktrin bedarf es des Haarwuchsmittels Comanat,265 während die Polizei des Landes gleich ganz un263 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.3. 264 Strehlow spricht vom Bart als einem »Ulbricht-Stigma«; Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 104. 265 Die 1935 von Franz Halier in Magdeburg gegründete Comanat-Haus KG vertrieb in der DDR ein Haarwuchsmittel auf pflanzlich-biologischer Basis: Kräuter wurden mit »96prozentigem Alkohol zu einer Essenz verarbeitet, der […] das importierte Wirkstoffgelee Royal, ein Extrakt, der aus der Bienenkönigin gewonnen wird«, hinzugefügt wurde; Jürgen Goldam-

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rasiert daherkommt und Bürgerinnen »wegen geringen Bartwuchses verächtlich angesehen« (IB, 179) werden. Bei aller Parallelität zwischen Klaus’ Parabel und der lateinischen Vorlage unterscheiden sich die beiden Wolfrats hinsichtlich ihrer Motivation, ein fremdes Land aufzusuchen, wie auch ihres Verhaltens in der Fremde. Während sich der Missionar Wolfrat, von »göttlicher Liebe getrieben«, in das Land der Sueben begibt und das »Götterbild des Stammes« verflucht und zerschlägt (IB, 134), entscheidet sich der Wolfrat »Schlechten Auslands«, in das Land der Bärtigen aus Neugierde zu gehen, gepaart mit dem Wunsch, sich ein eigenes Bild von dieser »sonderlichen Nation« zu machen (IB, 178). Dass der Neubürger nur »zufällig« einen Rasierapparat bei sich hat, sonst »mit keinem anderen Gepäck versehen« ist, leitet den ironischen Gehalt der Parabel ein (IB, 179). Doch im Gegensatz zum Missionar agitiert der neugierige Wolfrat nicht gegen die Staatsdoktrin, sondern verweigert sich lediglich dem propagierten Konformismus und bewahrt sich seine Individualität. In Klaus’ Adaption der lateinischen Vorlage wird Wolfrat vom missionierenden Täter, der neben seiner keine Gottheit toleriert, zum Opfer eines Staates, der gegen diejenigen vorgeht, die sich der willkürlichen Staatsdoktrin zu entziehen versuchen oder ihr nicht entsprechen können. Im Gegensatz zu den Sueben befindet sich der neugierige Wolfrat in der Minderzahl und besitzt nicht die Macht, um gegen die auf ihn zielende Agitation vorzugehen. Als einzige Mittel des Widerstandes bleiben ihm die Standhaftigkeit und das Wort, das er an die Oberen richtet, um ihnen seine Haltung zu begründen. Wolfrat wird vom dogmatischen Märtyrer zum Kritiker, der sich seine Haltung bewahrt und die Unaufrichtigkeit des staatlichen Dogmas bemängelt. Hierzu passt die ironische Kirchenkritik, die Klaus in seine Parabel integriert: Die tödlichen Folgen der falschen Benutzung des Rasierapparates lässt er von der »katholischen Kirche« (IB, 180), die hier die Rolle eines dogmatischen Referenzpunktes einnimmt, begutachten.266 Diese gelangt jedoch zu Deutungen, die als »im eigentlichen Sinne peinlich verzeichnet werden« (IB, 180) können. Vergleicht man Klaus’ parabolische Wolfrat-Adaption mit den Merkmalen neutestamentlicher Parabeln, lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten feststellen. So verfügt die Parabel über einen weitgehend unmotivierten Einstieg267 und ein mer: Comanat – Wundermittel gegen Haarausfall, in: Magdeburger Volksstimme, Nr. 88 vom 3. 4. 1997, S. 23. Ich danke der ehemaligen Leiterin des Stadtarchivs Magdeburg, Maren Ballerstedt, für Hinweise zur Recherche nach Informationen zur Comanat-Haus KG und für die Bereitstellung des Artikels von Jürgen Goldammer. 266 Es ist naheliegend, diese Stelle als Anspielung auf das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit zu deuten, das auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Jahr 1870 von Papst Pius IX. verkündet wurde und in den Mutmassungen über Jakob explizit aufgerufen wird; vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.4. 267 Zwar wird Wolfrats Neugierde als ein Grund für die Übersiedlung genannt, unklar bleibt aber, weshalb er »in ängstlicher Eile« (IB, 179) das Land der Bärtigen aufsucht.

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szenisches Gefüge mit Protasis (Wolfrats Reise ins Land der Bärtigen), Epitasis (Schauprozess und Tod Wolfrats) und Katastrophe (Ausstellung des Leichnams mit dem Leitsatz »Die Bezeichnung ›Wunder‹ ist zur Zeit verboten.« (IB, 180)). Darüber hinaus ist der Text geprägt von einer geradlinigen Handlungsführung, Elementen indirekter Rede, konträren Gesprächspartnern (Wolfrat und die Bärtigen), der Typisierung der Figuren (mit dem Bart als Distinktionsmerkmal) und einer Atmosphäre des Irrealen. Auf den ersten Blick fehlt neben den konträren Gesprächspartnern eine dritte Figur in der Form eines Handlungssouveräns oder einer sich wandelnden Mittelfigur. Allerdings wird auf den zweiten Blick deutlich, dass der katholischen Kirche die Rolle eines solchen Souveräns zukommt, ihr Urteil jedoch zur Parodie verkommt. Im Zentrum der Parabel steht nicht die Vermittlung einer ›Wahrheit‹ durch einen Souverän, sondern die Kritik an eben dieser Attitüde, weil sie in der Praxis nicht zum Guten führt, sondern zum Vorgehen gegen Andersdenkende. Nichtsdestotrotz wird durch die Erwähnung der katholischen Kirche ein offensichtlicher Bezug zum politisch-kirchengeschichtlichen Rahmendiskurs des Romans gestiftet, dem staatlichen Vorgehen gegen die Junge Gemeinde.

Gute Kinder, Böse Kinder Im Anschluss an die Lateinstunde beginnt die Schülervollversammlung, auf der nach Direktor Siebmann und Peter Beetz auch Jürgen zu den Schülern, Lehrern und zum Präsidium spricht. Doch anders als vom »bestgehassten Mann der Oberschule« (IB, 145) erwartet, dankt er Peter Beetz für dessen offene Worte, die »im Gegensatz zu dem unartikulierten Schweigen, das die Versammlung ansonsten vereine« (IB, 144), stünden. Mit seinen nun folgenden Worten bedient sich Jürgen wie zuvor sein Freund Klaus des uneigentlichen Sprechens, indem er Peter Beetz als ein »Böses Kind« bezeichnet, das den »Gute[n] Kinder[n]« gegenüberstehe und »nun mit vorgeschobener Unterlippe würde nach Stuttgart reisen müssen oder nach Hamburg« (IB, 145). Dass Jürgens Parabel der guten und bösen Kinder eine Parodie auf den Direktor der Gustav Adolf-Oberschule darstellt, wird deutlich durch die im vorangegangenen Kapitel thematisierte Charakterisierung Direktor Siebmanns als jemand, der die Macht hat, »mit seinem Worte etwas gut und böse zu machen« (IB, 90). Der Verweis auf Gen 3,5, wonach es Gott vorbehalten ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, parodiert Pius als gottgleichen Direktor. Wie der Erzähler bedient sich Jürgen dieser biblischen Bezugnahme und expliziert seine Parodie: »So sagte Pius dieses und die ihn anhörten fürchteten dass er jenes wollte.« (IB, 145) Die Unaufrichtigkeit seiner Worte wie die unverhohlene Machtausübung Direktor Siebmanns führe bei den Schülern zu Schweigen und Konformismus:

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sie waren also bedacht wenig gesagt zu haben. Aber nächstens würden sie sagen müssen als Gute Kinder: der neben mir sitzt ist ein Böses Kind, und er soll nicht neben mir sitzen; und das Böse Kind würde zu jenem gezwungen sein. Und sie würden die Hände heben zum Zeichen ihres einmütigen Willens, und indem sie dieses taten, würden sie hoffen jenes nicht gemeint zu haben. (IB, 145)

Die Diskrepanz zwischen Meinen und Sprechen bzw. Handeln überträgt sich vom Direktor auf die Schüler; die Motivationen sind jedoch gänzlich verschieden. Die Mehrzahl der Schüler agiert aus Angst vor der Obrigkeit, die Pius verkörpert, und keineswegs aus Überzeugung. Vor allem aber durchschauen sie, ebenso wie Jürgen, der von der Sache des Sozialismus überzeugt ist, die Unaufrichtigkeit hinter dem Sprechen des Direktors. Die Parabel der Guten und Bösen Kinder hatte Johnson nicht von Beginn an für Jürgens Rede auf der Schülervollversammlung vorgesehen. In der Exposition der zweiten Fassung kommen der Zeuge Erichson und Ingrids Mutter auf die aktuellen politischen Ereignisse zu sprechen, woraufhin Erichson beginnt, die sogenannte »Kindergartenparabel«268 von der guten und bösen Tante, von den guten und bösen Kindern zu erzählen: – Nun haben Sie da einen Kindergarten zu übernehmen, beispielsweise. In dem ist schreckliche Unordnung, die Gören putzen sich ihre Nasen mit zwei Fingern und haben vor nichts Ehrfurcht. Nun muss da ja wohl Zucht und Sitte geschaffen werden, wie bringen Sie das den Kindern bei? Versuchen Sie es doch einmal mit Märchenerzählen, Kinder mögen das. Also Sie erzählen Märchen. Von der guten Tante Katina (nennen wir sie so), und dies sei ein schöner Kindergarten –, da müssen noch Möbel und Gardinen hinein, das Essen muss besser werden, und die Tante Katina ist eine gute Tante. Was ist das für eine Tante? Das ist eine gute Tante. Na. Und denn erzählen Sie das so paar Jahre lang, und das Essen wird besser, und das Haus wird allmählich wohnlich, und die Märchen werden wahr. Und unter den Kindern ziehen Zucht und Sitte ein, fast alle sagen Tante Katina ist eine gute Tante. (Was ist das für eine.) Aber leider nicht alle Kinder sagen so, einige stehen in der Ecke und sagen: Wir mögen unsere Tante lieber. Das ist aber eine andere. Tante Katina sagt: Das ist eine böse Tante, und seht ihr denn nicht wie schön dieser Kindergarten geworden ist? Die in der Ecke sagen sie sehen das, und sie sagen es gefällt ihnen. Aber ihre Tante sei eben keine böse Tante. Da sagt Katina: Für solche Kinder ist kein Platz in meinem Kindergarten. Und was sagen die anderen, die Guten Kinder? Sie sagen: Was ist das für eine Tante? Das ist eine böse Tante. Überhaupt gibt es nur eine Tante, und die hat gesagt: Du sollst den Namen deiner Tante nicht unnützlich führen, denn die Tante wird den nicht ungestraft lassen der ihren Namen missbraucht. Nu werdet ihr ja sehen.269

Die gute Tante Katina steht in Erichsons Parabel für die Partei, die mit einem gottgleichen Anspruch auftritt, was durch den Verweis auf das Gebot aus Ex 20,4, 268 Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 149. 269 Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 1, Bl. 9f.

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neben Gott keine weiteren Götter zu verehren, unterstrichen wird. Die Partei und ihre sozialistische Ideologie werden so expliziter als in der vierten Fassung als Gottes- und Religionsersatz stilisiert. Diese Grundaussage steigert Erichson in der Folge noch: Man hätte nun einfach volkspolizeilich verbieten können dass diese eigensinnigen jungen Leute zusammenkommen und reden über den fünften und sechsten Vers im zweiten Kapitel des ersten Briefes von Paulus an Timotheus. Statt zu beraten über den sozialistischen Aufstieg des deutschen Volkes unter der Führung der Grossen Sozialistischen Sowjet-Union.270

Der pseudepigraphische 1. Timotheusbrief hat als einer von drei Pastoralbriefen – in denen vorwiegend Fragen zur Leitung der Gemeinde behandelt werden271 – die »Gegnerbekämpfung«,272 das Vorgehen gegen Irrlehrer273 zum zentralen Thema. Timotheus wird vom fiktiven Verfasser, der sich als Paulus ausgibt, als »rechtschaffene[r] Sohn«274 und damit als Vertrauter des Apostels ausgewiesen und soll in Ephesus gegen jene Irrlehrer vorgehen. Entsprechend erhält er Weisungen zur Gemeindeordnung, die mit der Ermahnung zu »Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen«275 beginnen. Begründet wird diese Weisung mit einer kerygmatischen Formel, auf die Erichson in seiner Kindergartenparabel durch Nennung der Bibelstelle verweist: »5Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, 6 der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches zu seiner Zeit gepredigt würde«.276 Frau Babendererde zeigt sich überrascht von der Bibelkenntnis Erichsons, was, so Walter Schmitz, »auf die Schlüsselfunktion«277 des Intertextes für die Romanhandlung verweise. Die Bedeutung des Intertextes ergibt sich aus dessen Struktur. Beim Verweis auf 1 Tim 2,5f. handelt es sich um einen explizit markierten Intertext, auf den lediglich bibliografisch verwiesen 270 Ebd., Mappe 1, Bl. 10. 271 Neben dem 1. Timotheusbrief werden der 2. Timotheus- und der Titusbrief als Pastoralbriefe zusammengefasst; vgl. hierzu etwa Gerd Häfner: Die Pastoralbriefe (1 Tim/2 Tim/Tit), in: Martin Ebner/Stefan Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, S. 450–473. 272 Ebd., S. 450. 273 Vgl. 1 Tim 1,17–20: »17Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren und allein Weisen, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen. 18Dies Gebot befehle ich dir, mein Sohn Timotheus, nach den vorigen Weissagungen über dich, daß du in ihnen eine gute Ritterschaft übest 19und habest den Glauben und gutes Gewissen, welches etliche von sich gestoßen und am Glauben Schiffbruch erlitten haben; 20unter welchen ist Hymenäus und Alexander, welche ich habe dem Satan übergeben, daß sie gezüchtigt werden, nicht mehr zu lästern.« 274 1 Tim 1,2. 275 1 Tim 2,1. 276 1 Tim 2,5f.; Kursivdruck im Original. 277 Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 153.

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wird. Damit verfügt der Intertext zwar über einen hohen Grad an Selektivität, ist aber äußerst gering in Hinsicht auf die Kriterien der Strukturalität und vor allem Referentialität. Der Inhalt der Bibelstelle bleibt ungenannt, was innerhalb des Textes eine Leerstelle erzeugt, die durch den Leser gefüllt werden muss. Der Leser ist gezwungen, sich an den Bibeltext zu erinnern oder ihn nachzuschlagen. Dies wiederum lässt dem Intertext eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteilwerden, die im Rahmen der Exposition auf eine zentrale Bedeutung für die gesamte Romanhandlung verweist. Christentum und Sozialismus werden zueinander in Konkurrenz gesetzt, was an späterer Stelle in Peter Beetz’ Bekenntnis vor der Schülervollversammlung gipfelt, das wiederum auf 1 Tim 2,5f. rekurriert: »Ich erkenne keinen anderen Herrn über mich an als Jesus Christus.«278 Erichson kommt in der Folge auf die Vorwürfe zu sprechen, die der Jungen Gemeinde »ganz plötzlich« von den »Guten Kinder[n] (unsere Freie Deutsche Jugend)«279 angelastet werden: Spionage, Sabotage, Misshandlungen und Hetzschriften. Letztlich gehe es aber darum, gegen die Religion als eine andere Meinung vorzugehen, jedoch nicht direkt, denn »schliesslich hat man für so etwas seine Leute«.280 Was folgt, ist die Fortsetzung der ›Kindergartenparabel‹: Die FDJ kriegt es also heraus: die Junge Gemeinde hat den Kindergarten in die Luft sprengen wollen, welch ein unkindliches Vorhaben. Und die Guten Kinder rufen sich zusammen und sagen: Wer ist da unter uns von denen die den Kindergarten haben in die Luft sprengen wollen? Hier sind wir: sagen die Eigensinnigen: Aber wir haben gar nicht den Kindergarten in die Luft sprengen wollen. Jedoch die Besten Kinder sagen: Das wollt ihr wohl! Und unsere sonnige Republik wollt ihr dem Schlechten Ausland ausliefern: so dass die Sonne nicht mehr schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint. Seht ihr nun dass ihr abstehen müsst von eurer Bösen Tante?… So reden sie eine Weile, und jedes Kind möchte doch ein gutes sein, und im Kindergarten bleiben dürfen: also stehen sie endlich ab davon zu einer Verbrecher-Organisation gehören zu wollen. Nein: sagen sie: es tut uns leid, wir sehen es ein. Die Junge Gemeinde ist unser Verderben, die FDJ ist unser Gewinn. Und nun endlich sind es lauter gute Kinder. Tante Katina aber hört mit Entsetzen von dem allgemeinen Abscheu gegen die Böse Tante, der Guten Tante Amt ist die Fürsorge, und sie verbietet die Böse Tante fürderhin anzuhängen. Was ist der Guten Tante Amt…? Erichson lachte kurz und leise auf. – Es gibt auch Märtyrer: sagte er.281

Jene Märtyrer werden von Erichson jedoch nicht positiv konnotiert. Seiner Meinung nach sei es »rührend anzusehen«, wie jene auf den Versammlungen bekunden, »sie seien auch ein gutes Kind, und Paulus habe eben recht; von 278 279 280 281

Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 171. Johnson, Ingrid (2. Fs.), Mappe 1, Bl. 10. Ebd., Mappe 1, Bl. 11. Ebd.

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Sprengstoff aber wüssten sie nichts«.282 Rührend sei es vor allem deswegen, weil damit das Bekenntnis einhergehe, sie müssten »ganz eilig ins Schlechte Ausland reisen und sind dabei beleidigt mit vorgeschobener Lippe«.283 Erichson spricht sich in erster Linie gegen den staatlich oktroyierten Dualismus von Staat und Kirche aus, aber auch gegen einen vorschnellen Aktionismus für den eigenen Glauben. Damit unterstreicht der »Student der englischen Literatur«284 seinen Wunsch, am Sozialismus festzuhalten, und berücksichtigt, dass ein vorschnelles Zeugnis die Grenze zwischen Kirche und Staat, Christentum und Sozialismus verstärke. Erichson trägt Ansichten vor, die in der vierten Fassung auf Jürgen übertragen werden: der Wunsch nach Vermittlung zwischen Junger Gemeinde und FDJ. So rational diese Sichtweise erscheinen mag, so irrational ist es, den Mitgliedern der Jungen Gemeinde in einem Schauprozess ihr Bekenntnis zu Jesus Christus und infolge dessen die Flucht über die Staatsgrenze vorzuwerfen. Mit seiner parabolischen Kritik am Vorgehen der Anhänger der Jungen Gemeinde wird Erichson in der Exposition der zweiten Fassung als eine Figur charakterisiert, die aus einer sicheren Distanz zur politischen Lage und wenig empathisch aus der Rolle eines »Zuschauers«285 urteilt. In der vierten Fassung wählt Jürgen dieselben Worte, wonach Peter Beetz ein »Böses Kind« sei und »nun mit vorgeschobener Unterlippe würde nach Stuttgart reisen müssen oder nach Hamburg« (IB, 145). Allerdings werden diese Worte aus der Perspektive von Direktor Siebmann gesprochen: »So sagte Pius dieses und die ihn anhörten fürchteten dass er jenes wollte.« (IB, 145) Unabhängig von der Figurenkonstellation, deren Probleme Johnson erkannte,286 woraufhin er in der vierten Fassung auf die Figur des Zeugen Erichson verzichtete, verliert die Parabel der Guten und Bösen Kinder auch über die Fassungen nicht an Bedeutung. Sie legt das Bestreben von Partei und Funktionären offen, den Marxismus als einen Religionsersatz zu etablieren. Der Verweis auf Ex 20,4 veranschaulicht die »ideologische Intoleranz der ›Erzieherin‹ im ›democratic kindergarten‹ DDR«287 und das Bestreben der Tante Katina, die Rolle Gottes einzunehmen. Durch die Verschiebung von der Exposition in der zweiten Fassung zu Jürgens Rede vor der Schülervollversammlung in der vierten Fassung, vor allem aber durch den deutlich reduzierten Umfang verliert die Parabel ei282 283 284 285 286

Ebd. Ebd. Ebd., Mappe 2, Bl. 10. Schmitz, Entstehung der ›immanenten Poetik‹, S. 152. In der bereits erwähnten Notiz vom 27. Januar 1957 vermerkt Johnson: »Erichson leugnet seine Gestalt weil seine Illusion von Anwesenheit für den Vorgang nicht erheblich ist, diese Illusion nicht Vollständigkeit erreicht, diese Illusion eine Erzählung als Indiskretion erscheinen lassen könnte«; Johnson, Reifeprüfung III–IV, Bl. 45. 287 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 103.

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nerseits an Gewicht. Andererseits gewinnt sie an Bedeutung, indem es Jürgen als »der bestgehasste Mann der Oberschule« (IB, 145) ist, der sich auf dem Höhepunkt des Konflikts um die Junge Gemeinde einer solchen Parabel bedient und damit Kritik an Direktor Siebmann und am real existierenden Sozialismus übt. Der Schüler Petersen wird dadurch nicht vom Saulus zum Paulus, tritt aber öffentlich gegen seine Partei in Erscheinung. Die Parabel der Guten und Bösen Kinder weist mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten mit den neutestamentlichen Parabeln auf, was sich darauf zurückführen lässt, dass Jürgen das Parabolische nutzt, um den gegenwärtigen politischen Zustand zu abstrahieren und so einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen. Über diese Ebene geht er nicht hinaus. Johnson verzichtet auf die Utopie eines vermittelnden Handlungssouveräns, allerdings fungiert Jürgen selbst als Exempel eines Rollenwechsels, auch wenn dieser (noch) nicht in letzter Konsequenz erfolgt ist: Ingrid beobachtet »mit ihrer unheimlichen Aufmerksamkeit wie Jürgen nach seiner Rede sich auf den leeren Stuhl in der Mitte des Präsidiums setzte« (IB, 145). Die Hosen von Eva Mau Anders verhält es sich bei Ingrid Babendererde, die für ihre Rede vor der Schülervollversammlung ebenfalls auf eine Parabel zurückgreift. Diese beginnt sie mit der Ankündigung, den an sie herangetragenen Diskussionsbeitrag »Über die Junge Gemeinde Und Die Rechte der Kirche« ablehnen zu müssen, weil sie »nicht so gut Bescheid [wisse] über die Junge Gemeinde wie Herr Siebmann« (IB, 174). Stattdessen spricht sie über die Hosen »mit denen Eva Mau im Januar nach den Ferien in die Schule gekommen ist« (IB, 174). Ingrid erzählt von einer Situation, die vor der erzählten Zeit der Ingrid-Fabel liegt und in der der Direktor die westdeutsche Hose als »nicht passend« empfunden habe, sodass es das einzige Mal war, dass die Schüler »die Hose in der Schule gesehen haben« (IB, 174). Die Episode dient Ingrid als Bild für die Intoleranz des Staates gegenüber seinen eigenen Bürgern, die die Vorgaben der Oberen nicht in Gänze umzusetzen vermögen. Sie werden so zum »Sinnbild von individueller Freiheit und Menschenwürde«.288 Innerhalb der Parabel appelliert Ingrid auf ironische Weise an die Toleranz von Präsidium, Lehrern und Schülern: »Wir können ja wohl nicht alle Herrn Siebmanns Anzug tragen, wir mögen uns auch nicht alle so benehmen wie er. Ich bin also dafür dass Eva Mau ihre Hosen tragen dürfen soll. Wer sie dann nicht leiden mag kann ja wegsehen.« (IB, 174) Mit ihrer Kritik geht Ingrid noch weiter und überträgt die Hosenparabel auf Peter Beetz und die Junge Gemeinde: »Und ich bin also auch dafür dass Peter Beetz sein Abzeichen tragen darf: wenn es auch ein Kreuz auf der Kugel ist. Soll er 288 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 98.

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doch.« (IB, 174) Ingrid leistet damit im Gegensatz zu Klaus und Jürgen »direkten Widerstand«289 und begründet diesen unter Rückgriff auf die Worte des Direktors: In dieser Zeit führen alle Wege zum Kommunismus: sagt Herr Direktor Siebmann, und wir haben das wohl begriffen. Herr Direktor Siebmann soll aber bedenken woher wir kommen. Warum will er wohl dass wir einen Umweg über Stuttgart oder Hamburg machen, nur weil wir uns noch nicht gewöhnt haben, nur weil wir nach sieben Jahren noch in anderen Büchern lesen? Wir sagen dabei nichts gegen Pius’ Bücher, Peter Beetz hat nie etwas gegen Pius’ Bücher gesagt. Wir tragen nur noch nicht den Anzug von Herrn Direktor Siebmann. Und was geht es Dieter Seevken an dass Eva Mau neulich in der Grossen Strasse ging mit verbotenen Hosen? (IB, 174f.)

Ingrid nimmt die Aufforderung zum »Diskussionsbeitr[ag]«, zur »demokratische[n]Meinungsäußerung« wörtlich und stellt sich öffentlich gegen ihren Direktor und damit gegen das politische Vorgehen gegen die Junge Gemeinde (IB, 171). Die Reaktion der Zuhörer könnte unterschiedlicher nicht ausfallen. Nach einigen Augenblicken der Ruhe, bekunden die Schüler ihre Zustimmung mit »klatschenden Hände[n]« und »unaufhörliche[m] Trampeln«, während das Präsidium die Kontrolle über ihren eigenen Schauprozess zu verlieren droht: »Das Präsidium blickte in die Aula als seien die roten Tische ein treibendes Boot auf dem Oberen See bei Windstärke 8, und keiner schien da etwas von Segeln zu verstehen.« (IB, 175) Die Rede Ingrids vor der Schülervollversammlung markiert den Höhepunkt des Romans,290 der in der Folge in der Katastrophe endet. Trotz der offen bekundeten Zustimmung der Schüler wird Ingrid gemeinsam mit Peter Beetz der Schule verwiesen und verlässt mit Klaus die Heimat, um weiteren Konsequenzen durch die Relegation zu entgehen. Mit ihrer »mutige[n], graziös-freche[n] Rede« wird die Schülerin Babendererde zu einer »wahren Lichtgestalt«,291 weil sie von den drei Freunden die einzige ist, die sich ihre moralische Integrität bewahrt.292 289 290 291 292

Westphal, Literarische Kartografie, S. 44. Vgl. auch Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 146. Ebd. Im Großen und Ganzen konzentrieren sich in Ingrid eine Reihe positiver Eigenschaften, was sie »ins Auratische entrückt« wirken lässt; Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 117. Durch die »merkwürdige Überhöhung« der Titelheldin fehlt dem Roman etwas, das für die griechische Tragödie konstitutiv war, um beim Publikum »Jammer und Schaudern« und damit eine »Reinigung von derartigen Erregungszuständen« zu erzeugen: ein tragischer Fehler, die aristotelische ἁμαρτία; ebd., S. 119; Aristoteles: Poetik. Griechisch/ Deutsch, aus dem Griechischen übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Ditzingen 1994, S. 19. Der Figur Ingrid fehlt ein solcher ›Fehler‹, »jene schwankende, menschliche Linie […], die Klaus und Jürgen so sympathisch und ›normal‹ macht«; Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 117. Ausgeglichen wird dieser Umstand durch die Freundschaft von Ingrid, Jürgen und Klaus, die in ihren Eigenschaften und politischen Ansichten zwar verschieden sind, in ihrer freundschaftlichen Beziehung gleichwohl allen auf sie zukom-

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Im Gegensatz zu Jürgen geht Ingrid über die Abstraktion der politischen Situation hinaus. Sie übt offen Kritik und appelliert als eine Art Handlungssouverän zum Schluss ihrer Ausführungen an die Toleranz gegenüber Andersglaubenden und Andersdenkenden. Sie nimmt dabei eine klare Typisierung der konträren Figuren vor, indem sie Eva Mau auf ihre Hosen und Direktor Siebmann als politischen Agitator reduziert, und gliedert die Hosenparabel als szenisches Gefüge, indem sie die Situation beschreibt, die Folgen darstellt und einen Appell ableitet. Aus den drei genannten Merkmalen neutestamentlicher Parabeln, die sich in der Hosenparabel wiederfinden, lässt sich eine strukturelle Parallele ziehen, die im Kontext der Parabel um Motive aus Apg 2 ergänzt wird.293 Das uneigentliche Sprechen auf der Figurenebene von Johnsons Erstling wird von Klaus ausgehend auf Jürgen und Ingrid übertragen, bleibt aber auf die drei Freunde beschränkt, was einen ganz bewussten Einsatz des Parabelstils verdeutlicht. In struktureller Hinsicht bestehen Parallelen zwischen der Wolfratund Hosenparabel und den neutestamentlichen Parabeln. Der Idee eines Handlungssouveräns, wie sie in den Evangelien zu finden ist, wird allerdings eine Absage erteilt. Höchstens in moralischer Hinsicht bleibt sie aufrechterhalten. Die in den fünf Passagen uneigentlichen Sprechens aufgerufenen biblischen Intertexte und Themenkomplexe erzeugen in noch stärkerem Maße als die strukturellen Entsprechungen zu den neutestamentlichen Parabeln einen Bibelton in Ingrid Babendererde. In allen Fällen wird mit den biblischen Bezugnahmen der Machtmissbrauch der sozialistischen Staats- und Parteiführung angesprochen. Damit wird vor Augen geführt, wie ausschließlich die politische Souveränität in den Händen der Staatsvertreter liegt, die den Versuch unternehmen, gottgleich zu walten. Das staatliche Bestreben ist eng mit einer ersten Form uneigentlichen Sprechens verbunden, der inhaltlichen Diskrepanz zwischen Sprechen und Handeln (vgl. IB, 91). Der Instrumentalisierung von Sprache begegnen die Freunde mit einer zweiten Form uneigentlichen Sprechens. Der Parabelstil bietet ihnen die Möglichkeit »der verdeckten politischen Äußerung […], die als Entgegnung zu ideologischem Sprach(miss)brauch festen Boden unter den Füßen hat«.294 Obwohl die Formen uneigentlichen Sprechens in Umfang und Bedeutung von der zweiten zur vierten Fassung reduziert wurden, tragen sie zur Konstitution eines sprachlichen Diskurses bei, in dem der staatliche Missbrauch von Sprache auf mehr oder weniger verdeckte Weise kritisiert wird.

menden Widrigkeiten trotzen und sich nicht politisch vereinnahmen lassen. Die Übertragung des Parabelstils von Klaus auf Jürgen und Ingrid ist hierbei Ausdruck der tiefen Verbundenheit der drei Schüler. 293 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.5. 294 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 104.

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1.4.3.3 Kunstsprache Das uneigentliche Sprechen der drei Freunde Ingrid, Jürgen und Klaus sowie die Parodie auf Direktor Siebmann und den sozialistischen Religionsersatz sind Teil einer »um Authentizität bemühte[n], bewußt[] poetische[n] Kunstsprache«, die Johnson gegen eine »ebenso künstliche wie verkommen lügenhafte der politischen Propaganda gesetzt« hat.295 Der Anteil biblischer Einzeltext- und Systemreferenzen an dieser Kunstsprache beschränkt sich jedoch nicht auf die Formen der Parodie und des uneigentlichen Sprechens, sondern zieht sich wie ein dichtes Netz durch Johnsons Erstling. Hierzu trägt insbesondere der Erzähler bei, der sich sowohl innerhalb der narratorial perspektivierten Erzählpassagen als »potentieller Mitschüler«296 als auch innerhalb der figural perspektivierten Erzählpassagen297 ganz unterschiedlicher kirchen- und bibelsprachlicher Formen bedient. Diese umfassen direkte und indirekte Bezugnahmen auf biblische Einzeltexte sowie biblische Systemreferenzen auf lexikalischer und syntaktischer Sprachebene. Bibelsprachliche Systemreferenzen Zymner unterscheidet religiöse von literarischen Parabeln hinsichtlich der in ihnen formulierten Ziele, Auffassungen und Konventionen oder durch den Rückgriff auf eine »spezifische[], z. B. durch einen Grundlagentext wie die Bibel verbürgte[], Gruppensprache einer Religionsgemeinschaft«.298 Sprache meint hier, darauf hat Dube verwiesen, nicht eine »eigenständige Sprache«, sondern einen »Teilbereich einer konkreten langue«.299 Manfred Kaempfert erörtert den Sachverhalt am Beispiel des Wortes ›Versuchung‹: »[G]ehört es der Bibelsprache an (und ihren Derivaten) oder dem intersubjektiven System der deutschen Sprache? Die Alternative (im ausschließenden Sinne verstanden) ist falsch: es gehört zu beiden, gehört als Wort der Bibel (und der christlichen Tradition) zur deutschen Sprache.«300 Dube differenziert, u. a. von Kaempfert ausgehend, zwischen religiöser, teilreligiöser und nicht-religiöser langue und gebraucht für die ersten beiden Bereiche den Terminus technicus »kirchlich-biblische Sprache«, die »alle typischen lexikalischen, syntaktischen und stilistischen Mittel der Bibel und der kirchlichen Praxis, sofern es sich nicht um Verwaltungssprache der Kir295 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 168. 296 Arne Born: Wie Uwe Johnson erzählt. Artistik und Realismus des Frühwerks, Hannover 1997, S. 38. 297 Vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 41, Anm. 41. 298 Zymner, Uneigentlichkeit, S. 179. 299 Dube, Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, S. 43; Kursivdruck im Original. 300 Manfred Kaempfert: Säkularisation und neue Heiligkeit. Religiöse und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche, Berlin 1971, S. 83.

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chenbehörden und theologischen Fachwortschatz handelt«.301 Ausgehend von einer umfassenden Vorstellung von biblischer Intertextualität, der auch die kirchliche Praxis als Form der Auslegung des kanonischen Textes Bibel inhärent ist,302 werden die beiden von Dube beschriebenen Bereiche der religiösen und teilreligiösen langue im Folgenden unter dem Begriff der ›biblischen Sprache‹ subsumiert. Als Grundlage für die exemplarische Darstellung der Verwendung biblischer Sprache in Johnsons Erstling dienen Friso Melzers Wörterbuch Der christliche Wortschatz der deutschen Sprache sowie das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Obwohl Dube zu Recht kritisiert, dass Melzers Wörterbuch eine rein evangelische Darstellung ist und auch Wörter aufnimmt, die nicht genuin religiös sind, stellt es doch bis heute die einzige systematische Auflistung des biblischen Wortschatzes des Deutschen dar. Dubes alternatives Korpus, das anhand zweier Wörterbücher303 erstellt wurde, ist zwar systematisch nachvollziehbar, aber insgesamt unzureichend, weil selbst Lexeme wie ›fromm‹ oder ›Advent‹ darin fehlen. Da Dubes Korpus keinen Fortschritt gegenüber Melzers Wörterbuch darzustellen vermag, dient Letzteres trotz seiner Mängel neben dem Deutschen Wörterbuch als Grundlage für die folgende Darstellung. Das bereits erwähnte Lexem ›fromm‹ nimmt innerhalb von Ingrid Babendererde eine exponierte Stellung ein und wird romanimmanent als biblisches Attribut charakterisiert. Marianne, die als einzige Schülerin der Klasse 12 A Mitglied der Jungen Gemeinde ist, wird mit einem »frommen Haarknoten im Nacken« (IB, 22) beschrieben. Vor allem aber übersetzt der Erzähler den Spitznamen des Direktors Siebmann, Pius, als »›[d]er Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der Sozialistischen Einheitspartei« (IB, 86f.) Melzer zufolge hat das Wort ›fromm‹ eine Bedeutungserweiterung, wenn nicht gar einen Bedeutungswandel vollzogen, indem die Gottesfürchtigkeit zur dominanten Bedeutung des Lexems wurde. Noch bei Luther hatte ›fromm‹ die Bedeutung von »förderlich, tüchtig« bzw. ›gut‹ und entwickelte sich im Laufe der Zeit zum Attribut eines »bewußte[n]« Christen, »der so ist, wie er sein soll«.304 Zur Zeit der pietistischen Bewegung erhielt das Wort einen »Beigeschmack«, da zwischen einem frommen, bewussten und einem Namenschristen unterschieden wurde:

301 Dube, Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, S. 58; Kursivdruck im Original. 302 Vgl. Erster Teil, Kap. 2.2.2. 303 Bei den Wörterbüchern handelt es sich um Hermann Pauls Deutsches Wörterbuch und Alfred Götzes Trübners Deutsches Wörterbuch; vgl. Dube, Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, S. 62f. 304 Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 230f.

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Der »rechte Mann« steht vor der Öffentlichkeit untadelig da und besucht auch gelegentlich den Gottesdienst, der »Fromme« dagegen geht regelmäßig zur Kirche (zum Gottesdienst, zur Bibelstunde und wohl auch zur Gemeinschaftsstunde); der Namenschrist gibt nur, wo er gezwungen wird, der »Fromme« dagegen hat Freude daran, wo Not ist, zu geben.305

Während die Attribuierung von Mariannes Haarknoten als pars pro toto die fromme Haltung der Schülerin abzubilden vermag, liegt bei Direktor Siebmann eine bereits mehrfach zu beobachtende ironische Übertragung des politischen Allmachtsanspruchs der sozialistischen Partei und ihrer Funktionäre in den Bereich des Religiösen vor. Aufgrund der wiederholten Attribuierung des Direktors lässt sich vermuten, dass auch die Schüler, die dem Unterricht der Lehrer ausgeliefert sind, mit religiösen Attributen versehen werden. Bereits zu Beginn des Romans bitten »elf gesenkte Köpfe« den Erdkundelehrer Kollmorgen »um Erbarmen« (IB, 20). Obwohl Kollmorgen den ›bürgerlichen‹ Lehrern zugeordnet wird, der den »Lernstoff nur vermittle« (IB, 21), liefert er die Schüler dem ›sozialistischen Katechismus‹ aus, wodurch ›Erbarmen‹ im religiösen Sinne verstanden werden kann. Während das Lexem ›Erbarmen‹ in Ingrid Babendererde nur an dieser Stelle anzutreffen ist, findet sich wiederholt ein Adjektiv, dass u. a. mit dem lateinischen pius übersetzt werden kann: andächtig. Im Deutschen Wörterbuch wird ›andächtig‹ beinahe ausschließlich in einem religiösen Zusammenhang verortet,306 Melzer hingegen verweist auf die Bedeutungsverengung, die ›Andacht‹ von seiner ursprünglichen Bedeutung als »zielgerichtete[s] Denken, […] Absicht und Vorsatz« hin zu einem rein religiösen Verständnis genommen hat: »›Andacht‹ unterscheidet sich vom Gottesdienst dadurch, daß sie weder Predigt noch Sakrament enthält, sondern aus Beten, Singen und liturgischer Lesung des Wortes Gottes besteht (mitunter enthält sie eine kurze Auslegung des Wortes).«307 Ganz in diesem Sinne lässt sich die Charakterisierung Mariannes durch den Erzähler verstehen, der sie in der Pause »mit andächtigem und ehrfürchtigem Ausdruck« (IB, 130) in ihrem Heft lesen sieht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Klaus, der zu einem Mitschüler sagt: »Sieh mal […]: Jetzt verrichtet sie schon wieder Andachtübungen, das ist wohl Pflicht für die gebildeten Stände.« (IB, 130f.) Die Andacht wird hier wie auch im Mathematikunterricht von Dr. Krantz, in dem der Erzähler die Schüler beschreibt, die »andächtig die Hinweise des Lehrers auf[nehmen]« (IB, 216), auf den Lehrstoff bezogen. Während sich Marianne wie 305 Ebd., S. 231. 306 Vgl. andächtig, in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1: A–Biermolke, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1854, München 1991, Sp. 303. Im Folgenden mit der Sigle ›DWB‹ zitiert. 307 Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 39.

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die Mehrheit der Schüler aus der Not heraus andächtig verhält, zeugt der andächtige Blick Dieter Seevkens auf das Präsidium von Überzeugung und Linientreue (vgl. IB, 172). Dieser religiösen Bedeutung von ›andächtig‹ stellt der Erzähler die ursprüngliche Bedeutung im Sinne eines absichtlichen, vorsätzlichen Handelns und zielgerichteten Denkens gegenüber, wenn die Squit als »andächtig durch das kühle Wasser« (IB, 51) gleitend und der Wind als »andächtig durch den Vormittag« (IB, 231) pfeifend beschrieben werden. Ähnlich verhält es sich, wenn Klaus die Gedankenverlorenheit Jürgens beim Rudern als andächtig kommentiert (vgl. IB, 110), und selbst die Reaktion von Ingrids StasiVerfolger gegenüber dem Polizisten Heini Holtz erscheint mehr in einem zielgerichteten Sinne andächtig zu sein: »Der Rasierte sieht gar nicht hin, er sagt andächtig über seine Zigarette weg: Du Idiot.« (IB, 211) Der Umgang mit dem Lexem ›andächtig‹ zeugt davon, dass im Roman nicht nur politisch instrumentalisierte Wörter aus ihrer Engführung befreit, sondern auch religiös konnotierte Lexeme bis hin zur »neuerlichen Kenntlichkeit«308 erweitert werden. Der Leser wird im Zuge der Resemantisierung auf die in den Köpfen verankerte Bedeutungsverengung aufmerksam gemacht. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ›Andacht‹ und ›andächtig‹ zur Konstitution eines Bibeltons im Roman beitragen, da die semantische Differenzierung erst vor dem Hintergrund der religiösen Bedeutung erfolgt. Des Weiteren erzeugen das von Luther »ungemein häufig verwendet[e]«309 ›wahrhaftig‹310 sowie die Charakterisierung von Direktor Siebmanns Körper – wie in Röm 6,12 und 8,11 – als »sterbliche[r] Leib« (IB, 238) einen biblischen Tonfall. Es ließen sich noch weitere Lexeme nennen, die den anhand der Beispiele vermittelten Eindruck bestätigen, dass sich der Erzähler punktuell ganz bewusst biblischen Vokabulars bedient. Im Falle von ›andächtig‹ geht Johnson über den bloßen Gebrauch hinaus und verweist mit der Resemantisierung auf den Prozess der Bedeutungsverengung bzw. Bedeutungsvereinnahmung, für die der religiöse Diskurs beispielgebend, innerhalb des Romans aber nicht vordergründig ist. Für die syntaktische Ebene liegt bereits der Befund Leuchtenbergers vor, dass die Formel ›siehe‹ im Ingrid-Roman »[b]esonders häufig«311 benutzt werde. Insgesamt vierzehn Mal gebraucht sie der Erzähler und unterstreicht deren formelhaften Charakter durch die mehrfache Abgrenzung mittels Doppelpunkt vom nachfolgenden Satz: »siehe: so ein großmütiger Mensch war Hannes« (IB, 97).312 308 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 122. 309 wahrhaftig, in: DWB, Bd. 27: W–Wegzwitschern [-zwiesel], bearb. von Karl von Bahder, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1922, München 1991 Sp. 825–835, hier: Sp. 825. 310 Vgl. IB, 26, 42, 44, 47, 85, 94, 124, 127, 206, 208. 311 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 182. 312 Vgl. auch IB, 36, 78, 89, 110 (zwei Mal), 124, 130. In zwei Fällen erfolgt die Abgrenzung durch ein Komma (vgl. IB, 112, 149), in drei Fällen folgt der Satz ohne ein Satzzeichen (vgl. IB, 76,

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Im vorliegenden Beispiel wird Hannes als Freund von Elisabeth Rehfelde seinem Direktor gegenübergestellt: »Siehe: so ein gewaltiger Mensch war Pius.« (IB, 89) Durch die parallele Satzkonstruktion rückt die einzige Differenz innerhalb des Satzes in den Mittelpunkt: das Attribut. Während Pius gottgleich als so gewaltig ironisiert wird, dass er »die Macht [hatte] mit seinem Worte etwas gut und böse zu machen« (IB, 90), charakterisiert der Erzähler Hannes als großmütig und somit als »durch selbstüberwindung (sittlich) grosz in gesinnung und handlung gegen andre«.313 Hier wie in den weiteren Belegstellen handelt es sich bei ›siehe‹ um einen Biblizismus, mit dem der Erzähler die Bedeutung gewisser Aussagen durch einen Appell an den Leser, sich diese Stelle vor Augen zu führen, akzentuiert. Im Gegensatz zu Luther verzichtet der Erzähler beim Gebrauch der Formel allerdings auf Pronomen. Spricht er den Leser hingegen mit Personalpronomen an, wird die Verbform flektiert: »Mit dem [= Dampfer; P. O.] wäre Klaus immerhin zur zweiten Stunde passend gekommen, aber siehst du wohl: da schwimmt er.« (IB, 123) Dieser Umstand zeigt an, dass es sich beim ›siehe‹ in Ingrid Babendererde nicht wie in der Lutherbibel um eine Partikel handelt, sondern um den Imperativ von ›sehen‹. Durch die deutlich höhere Frequenz von ›siehe‹ gegenüber ›siehst du‹ und durch die häufige Abgrenzung mittels Doppelpunkt erzeugt der pointierte Einsatz der Formel nichtsdestotrotz eine intertextuelle Beziehung zur biblischen Partikel. Von den weiteren von Stolt und Dube genannten syntaktischen Biblizismen findet sich in Johnsons Erstling vereinzelt der pränominale Genitiv. So beschreibt der Erzähler »[d]er Rehfelde Augen«, wie sie Ingrid und Klaus während ihrer Abreise am »Aussichtsgang des Flughafens« beobachten (IB, 201; Kursivdruck im Original), oder Jürgen, der seinen Arm bei der Abstimmung zur Relegation Ingrids »hoch hinter des Zählenden Rücken« (IB, 182) hält. Überdies werden in einigen wenigen Fällen Körperteile als Metonymie für Menschen oder ihre Tätigkeiten verwandt. So bitten im Erdkundeunterricht »elf gesenkte Köpfe um Erbarmen« (IB, 20) und in der Gedankenrede der Schüler der Klasse 12 A angesichts der bevorstehenden Abiturprüfung heißt es: Dr. Krantz würde aufgerichtet stehen vor dem schicksalschweren Briefumschlag mit der Prüfungsaufgabe mit festlicher Langeweile und Pius’ wohltönender Gesang und die kleinen Blumen in den kleinen Vasen würden befestigen in den bereiteten Herzen die Empfindung: Hier habe allerhand auf dem Spiel gestanden; hier sei es auf etwas angekommen. (IB, 238) 150, 235). Bei der ersten Nennung steht die Partikel am Ende des Satzes: »Vom See hoch kam kühlender Wind durch eine Quergasse, Herr Sedenbohm trat mürrischen Gesichtes aus der Buchhandlung, siehe.« (IB, 36) 313 groszmüthig, in: DWB, Bd. 9: Greander–Gymnastik, bearb. von Arthur Hübner und Hans Neumann, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1935, München 1991, Sp. 567–570, hier: Sp. 569.

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Die Wirkung des »Gesangs« von Direktor Siebmann auf die Schüler wird im homiletischen Duktus ironisiert und mit einer zentralen biblischen Metonymie versehen: dem Herzen. Als weiterer Biblizismus findet sich die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung mehr als zehn Mal im Roman. In Verbindung mit einem archaisierenden ›e‹ in ›Schlusse‹ heißt es über den Mathematiklehrer, der sich der Forderung entzieht, im Unterricht »auf die Innenpolitik« zu sprechen zu kommen: »Herr Krantz aber hatte sich vor der Tafel aufgestellt am Schlusse der Stunde« (IB, 89). Die Partikel betont die Distanz zwischen den Lehrern Krantz und Siebmann, wie sie im Gespräch der drei Freunde über die Junge Gemeinde den Abstand zwischen ihnen hervorhebt: »Jürgen aber sass sehr entfernt von ihr« (IB, 107). Daneben wird das ›aber‹ in Satzzweitstellung auch ironisch gebraucht, wenn der Erzähler über Günter sagt: »Er aber war ein bedeutender Mann an der Hauptschleuse« (IB, 123). Neben den genannten syntaktischen Formen, die sich teils direkt auf die Heilige Schrift zurückführen lassen, ist der Roman geprägt von Parataxen. Insofern kann Herbert Kolbs für die Mutmassungen über Jakob aufgestellte These, dem Roman liege die Parataxe als die »beherrschende[] Kompositionsweise«314 zugrunde, auch auf Johnsons Erstling Ingrid Babendererde übertragen werden. Der in der Lutherbibel häufig anzutreffenden dreigliedrigen Parataxe mit ›und‹ bedient sich der Erzähler des Ingrid-Romans jedoch nur vereinzelt; etwa bei der Beschreibung des Lehrers Sedenbohm, der die beiden Schüler Söten und Dicken Bormann bei sich zu Hause zu Gast hat: »Herr Sedenbohm hockte vorgebeugt ihnen gegenüber an seinem übermässigen Büchertisch und schwieg und sah ab und an nach draussen.« (IB, 191) Hier wie bei der Schilderung Ingrids, die »gar nicht davon abkommen [konnte] zu lachen in ihrem Hals und Klaus sah es alles an mit Petes Gesicht und sie lachte noch mehr« (IB, 231), gebraucht der Erzähler die Parataxe, um die Gleichzeitigkeit der Handlungen zu betonen. Häufiger bedient er sich der klassischen zweigliedrigen Parataxe mit ›und‹ oder aber ganzer Hauptsatzfolgen, die mit der Konjunktion verbunden werden: Als er auf und ab zu gehen begann, blickte er kurzweg hoch und sah die 12 A und sah Itsche und Klacks und Dicken Bormann und Pummelchen und Hannes und Eva und Söten und Marianne in seinem schnellen heftigen Aufblicken und blieb plötzlich stehen zwischen dem dunkelroten ehrwürdigen Holz des Türrahmens und sie sahen seinen spöttisch aufgereckten reglos bitteren Kopf und sie wollten ihm gern sagen sie wollten nach der Reifprüfung ihrem Direktor die Sicht benehmen mittels eines über seinen Kopf gezogenen Sacks und seinen sterblichen Leib verprügeln mit den Latten seines netten kleinen Gartenhauses nach der Reifeprüfung, aber sie schwiegen Hannes neben Söten und Eva und Pummelchen und Klacks und Marianne und ihre letzte Einigkeit war

314 Herbert Kolb: Rückfall in die Parataxe. Anläßlich einiger Satzbauformen in Uwe Johnsons erstveröffentlichtem Roman, in: Neue Deutsche Hefte 10, 1963, H. 96, S. 42–74, hier: S. 42.

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nichts zu sagen, und Herr Sedenbohm schritt schon längst aufsichtig an den Fenstern entlang nach vorn, wo der Spruch angebracht war neben dem Bild. (IB, 237f.)

Die Ausführungen des Erzählers beginnen aus der Perspektive Sedenbohms mit einem Nebensatz, dem ein Hauptsatz mit einem in der Bibel häufig anzutreffenden zweigliedrigen Verbalausdruck (»blickte kurzweg hoch und sah«) folgt. Der Aufzählung von acht Schülern schließen sich weitere vier Hauptsätze an, von denen die ersten drei durch ›und‹ verbunden sind und der letzte ohne Konjunktion oder Satzzeichen an den vorherigen angefügt ist. Innerhalb dieser Reihung von Hauptsätzen kommt es zu einem Perspektivenwechsel von Herrn Sedenbohm auf das Kollektiv der Schüler und ihre Gedanken über Direktor Siebmann. Dem Wunsch der Schüler, den der Erzähler mit biblischer Lexik (»seinen sterblichen Leib«) wiedergibt, folgt ein Nebensatz, der mit der adversativen Konjunktion ›aber‹ eingeleitet wird. Erneut kommt es zu einer Aufzählung von diesmal nur sechs Schülern – Itsche und Eva fehlen –, der ein weiterer Hauptsatz folgt, der mit ›und‹ eingeleitet wird und den Perspektivenwechsel zurück zu Herrn Sedenbohm anzeigt. Den Abschluss bildet ein Lokalsatz, in dem der Fokus auf das Zentrum der Aula gerichtet ist: das Bild des Genossen Stalin. Angesichts dieser Beispiele lässt sich keine direkte Beziehung zwischen den monotonen parataktischen Reihungen mit ›und‹ in der Heiligen Schrift und in Johnsons Erstling herstellen. Kolb führt in seiner Studie zum Rückfall in die Parataxe fünf syntaktische Formen an, die eben jenen Rückfall ausmachen und von denen eine u. a. durch Luthers Bibelübersetzung an Bedeutung gewann. Die »Fügung aus Hauptsatz plus Relativsatz«315 gehe auf eine »der gesprochenen Sprache innewohnende Eigenart«316 zurück, die in das Schriftdeutsche übertragen wurde. Ohne die Lutherbibel als expliziten Ausgangspunkt dieser Entwicklung festzumachen, führt Kolb Beispiele aus der Bibelübersetzung des Reformators an, in der »Relativsätze der griechischen Vorlage in parataktische Fügungen«317 umgewandelt wurden: »37Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, daß er zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salbe«.318 Als stilistisches Mittel der mündlichen Sprache wie der »formale[n] Unverbundenheit« erhielt die Fügung auch Eingang in die Literatur, wie bei Fontane, Brecht – bekanntermaßen zwei literarische Vorbilder Johnsons – und dem Mecklenburger selbst. Nicht erst in den Mutmassungen über 315 Ebd., S. 45. 316 Ebd., S. 49. Kolb zeigt dies exemplarisch an den von Jacob und Wilhelm Grimm zusammengetragenen Kinder- und Hausmärchen, in denen »jeder zweite Märcheneingang« diese Fügung enthält; ebd. Vgl. etwa Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Rumpelstilzchen (KHM 55), in: Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm, Bd. 2, Berlin 1815, S. 252–254, hier: S. 252: »Es war einmal ein Müller, der war arm«. 317 Kolb, Rückfall in die Parataxe, S. 49. 318 Lk 7,37; Hervorhebung P. O.

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Jakob, sondern bereits in seinem Erstling gebraucht Johnson das Relativpronomen mit parataktischem Anschluss. Die insgesamt rund 300 Relativpronomen in Ingrid Babendererde leiten in zwei Drittel der Fälle einen Relativsatz ein, in einem Drittel sind sie Teil einer parataktischen Fügung. Bei der Fülle an Relativpronomen fällt es nicht leicht, die Funktion des Rückgriffs auf die parataktische Fügung zu bestimmen. Ausgehend von Kolbs Ausführungen lässt sich die These aufstellen, dass die Entscheidung für oder gegen eine parataktische Fügung von der Sprechsituation abhängig ist: Handelt es sich um Figuren- oder Erzählerrede? Erfolgt die Erzählerrede aus figuraler oder narratorialer Perspektive? Zunächst bleibt festzuhalten, dass es innerhalb des Romans hinsichtlich der Genera der Relativpronomen erhebliche Unterschiede gibt. Während das Verhältnis von parataktischer Fügung zu Relativsatz bei ›die/diese/deren‹ bei eins zu drei und bei ›der/dieser/dem‹ gar bei eins zu viereinhalb liegt, wird die parataktische Fügung bei ›das/dieses/dessen‹ ebenso häufig verwendet wie der Relativsatz. Für das Relativpronomen ›das‹ beträgt das Verhältnis gar zwei zu eins zugunsten der parataktischen Fügung. Betrachtet man einzig die parataktischen Fügungen, fällt auf, dass sie ausschließlich Teil der Erzählerrede sind, was angesichts von Kolbs Charakterisierung als Eigenart der gesprochenen Sprache überraschend ist. In einigen wenigen Fällen dienen sie der indirekten Redewiedergabe, wie beim Gespräch Jürgens mit seiner Mutter, in dem der Schüler antwortet, »er habe eine Partei-Sitzung gehabt, die dauerte leider etwas länger« (IB, 116), oder bei Peter Beetz’ Berufung auf die Verfassung der DDR, »die gehöre nämlich zum Unterricht der zehnten Klasse« (IB, 142). Am häufigsten gebraucht der Erzähler die parataktische Fügung hingegen zur Vergegenwärtigung und Dynamisierung des Erzählvorgangs, um Handlungen, punktuell auch Charakterisierungen, mehr Plastizität zu verleihen. Bei der Beschreibung der »Grossen Strasse« wechselt der Erzähler gar von der parataktischen Fügung zum Relativsatz: »Meistens kamen Kinder, die klapperten mit ihren Milchkannen, Frauen, die ihre Hausarbeit hatten liegen lassen; ja und Grossvater Sietow, der dicht vor Ingrid ging mit seinem blauen Krug« (IB, 206). Die parataktische Fügung im ersten Teil des Satzes bewirkt, dass dem Leser die klappernden Kinder plastisch vor Augen geführt werden. Ähnlich verhält es sich bei der Darstellung jener Szenerie am Freitagmorgen, in der Ingrid ein Geräusch vernimmt und beim Blick aus dem Fenster einen »grosse[n] schwarze[n] Vogel« auf der Regenrinne sitzen sieht: »– Klick: sagte es plötzlich leise, das war ganz nahe, und Ingrid sah erschrocken auf die Ecke des Dachs.« (IB, 203) Auch hier wird dem Leser das Klicken des Vogels, der in seinem mysteriösen Verhalten an den Raben in der

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Sintfluterzählung erinnert,319 durch den parataktischen Hinweis auf die Nähe zu Ingrids Fenster vergegenwärtigt. Die parataktische Fügung setzt der Erzähler insofern in erster Linie als Mittel der Leserlenkung ein. Die ausgewählten Beispiele haben einen Eindruck davon vermittelt, wie der Erzähler der formelhaften und sinnentleerten Propagandasprache mit einer Kunstsprache begegnet, mit der auf verschiedene Elemente biblischer und gesprochener Sprache zurückgegriffen wird. Durch verschiedene Mittel syntaktischer Abweichungen wird der gewöhnliche Erzählfluss gebrochen, um die Sprache von Restriktionen zu befreien und so Deutungsräume zu öffnen. Die Parataxen mit ›und‹ zielen etwa darauf ab, »to break down any semblance of causality«320 und lassen sich nicht direkt mit dem ebenfalls in der Heiligen Schrift anzutreffenden Stilmittel in Beziehung setzen. Anders verhält es sich bei den parataktischen Relativsatzfügungen, die sich auf den Einfluss der Lutherbibel zurückführen lassen und die formale Bindung der Satzteile auflösen. Der zunächst untergeordnete Relativsatz »stellt sich sogleich in gleichwertiger Satzform neben das anfangs übergeordnet Erscheinende, Sachverhalt reiht sich an Sachverhalt auf der gleichen Satzebene«.321 Im Zusammenspiel mit Relativsätzen werden die in den parataktischen Fügungen vermittelten Inhalte hervorgehoben und vergegenwärtigt. Darüber hinaus nutzt der Erzähler syntaktische Brechungen etwa durch die Formel ›siehe‹ oder die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung, um bestimmte Aussagen in ihrer Bedeutung hervorzuheben. Während der Leser dadurch auf gewisse Inhalte aufmerksam gemacht wird, markiert der Erzähler seine Rolle innerhalb des Textes. Er erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern ist aktiv daran beteiligt, ganz unterschiedliche Diskurse innerhalb des Romans zu stiften. Dementsprechend tragen bibelsprachliche Elemente in Johnsons Erstling zu einer Kunstsprache des Erzählers bei, die darauf aus ist, Kausalitäten aufzubrechen und die eigene Erzählweise vorzuführen. Diese Form ethischen Erzählens steht im Gegensatz zur politisierten Sprache des Staates und seiner Bediensteten, die in ihrem Allmachtsanspruch durch Lexeme der biblischen Sprache parodiert werden. Bibelsprachliche Einzeltextreferenzen Neben bibelsprachlichen Systemreferenzen tragen auch punktuelle Verweise auf konkrete Bibelstellen dazu bei, einen Bibelton in Ingrid Babendererde zu erzeugen. Intertextuelle Bezugnahmen wie das Nennen von 1 Tim 2,5f. in der zweiten Fassung des Romans finden sich in dieser Explizitheit in der vierten 319 Weiterführende Ausführungen hierzu finden sich zu Beginn des folgenden Abschnitts zu bibelsprachlichen Einzeltextreferenzen. 320 Riordan, Ethics of Narration, S. 15. 321 Kolb, Rückfall in die Parataxe, S. 48.

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Fassung nicht mehr. An früherer Stelle wurde bereits auf das Zitat aus der Bergpredigt im Schaukasten der Jungen Gemeinde oder Direktor Siebmanns Rede von den guten und bösen Kindern eingegangen. Während es sich hierbei um biblische Intertexte auf der Figurenebene handelt, ist es vorwiegend der Erzähler, der ausgewählte Stellen aus der Heiligen Schrift in seine Rede integriert. Zu Beginn des Englischunterrichts am Mittwochmorgen bietet er dem Leser zwei ›Übersetzungen‹ der Begrüßungsformel »I am glad to see you« an, die der Lehrer Sedenbohm gegenüber seinen Schülern wählt: »Das war englisch. Man konnte es so und so übersetzen; einmal: muss man sich doch sein Brot durch den Umgang mit nichtsnutziger Jugend erarbeiten, im Schweisse jeden Angesichtes…! – zum anderen und etwas wörtlicher: Ich bin so glücklich Sie zu sehen.« (IB, 76) Als primäre Deutung bietet der Erzähler nicht die wörtliche Übertragung der Begrüßungsformel an. Die damit angedeutete Sprachkritik am floskelhaften Gebrauch von Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln wird in der Folge insbesondere am FDJ-Gruß »Freundschaft« expliziert und offen kritisiert.322 In Sedenbohms Begrüßung der Klasse spielt der Erzähler in seiner primären Deutung auf eine Bibelstelle an, die Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden: »19Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.«323 Der Schuldienst ist für Sir Ernest verflucht wie der von Gott verfluchte Acker für Adam, der »Dornen und Disteln«324 trägt. Allerdings verursacht der Unterricht nicht Schweiß in seinem Angesicht, sondern in dem seiner Schüler. Die Last verlagert sich demnach vom Agens zum Patiens. Wie für Adam ist dieser Zustand für die Schüler »kein Strafakt«, sondern vielmehr eine Folge, »die jede Generation wegen des ein für allemal eingetretenen Umgangs mit Gut und Böse erreicht«.325 Der Aspekt von Gut und Böse lässt sich auf das Schulsystem übertragen, das nicht den Prämissen von Sitte und Moral, sondern von Indoktrination und Gehorsam unterliegt. Dementsprechend lässt sich Sedenbohms geringschätziges Urteil einer »nichtsnutzige[n] Jugend« – eine Wortwahl, die als Indikator dafür dient, dass sich der Erzähler hier der Perspektive des Lehrers bemächtigt –, nicht auf die intellektuelle Leistung seiner Schüler beziehen,326 sondern vielmehr auf deren moralische Integrität.

322 Vgl. IB, 95, 162: »Freundschaft! Dies sollte eine Begrüssung darstellen. […] Die ihnen aufgenötigte Vertraulichkeit des ›du‹ und ›Freundschaft‹ war durch die amtlich-gewalttätige und polizeiliche Bewältigung widriger Vorfälle vollends verdorben«. 323 Gen 3,19. 324 Gen 3,18. 325 Horst Seebass: Genesis I. Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, S. 127. 326 Immerhin bewertet Sedenbohm die Lateinarbeiten der Schüler Babendererde, Niebuhr und Groetzki als »fast sehr gut«, »besser als gut« und »fast sehr gut« (IB, 177).

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Im Gegensatz zum »Verlust vor Gott«, dem »[v]erlorene[n] Urvertrauen« im Buch Genesis, sind die politischen Gegebenheiten nicht ewiglich und unveränderbar, sodass Hoffnung besteht, »daß die Wirklichkeit besser sein könnte, als sie [derzeit; P. O.] ist«.327 Dass Sedenbohm der moralischen Nichtsnutzigkeit der Jugend entgegenzuwirken versucht, verdeutlichen die von ihm angestoßene Kontroverse im Englischunterricht über die »Rivalität zwischen der Aristokratie und den anderen, der neuen Klasse, der bürgerlichen« (IB, 77), wie auch der Lateintext zu Wolfrat, der Klaus zu seiner Parabel Ins Unreine animiert. Der Lehrer hält seinen Schülern den historischen Spiegel vor und vermag damit, ihren Widerstand gegen die staatlichen Repressionen an der Gustav Adolf-Oberschule herauszufordern. Zugleich erschöpft sich seine durch die Auswahl der Unterrichtsinhalte vorgebrachte Kritik in der historischen Parallele und damit in uneigentlichen Botschaften an seine Schüler. Es überrascht daher nicht, dass es ausgerechnet Klaus ist, in dem Sedenbohm innerhalb seines Englisch- und Lateinunterrichts einen Gesprächspartner findet. Wie Klaus bleibt auch Sir Ernest der Schülervollversammlung fern und liegt stattdessen »ausgestreckt im Lehnstuhl des Herrn Direktor Siebmann«, betrachtet »das leere Konferenzzimmer wie von einer Kommandobrücke aus« und korrigiert die Lateinarbeiten der Klasse 12 A (IB, 176).328 In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zitat aus Gen 3,19 lässt sich der Verweis auf ein biblisches Symbol am Ende des Romans lesen. Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde darauf verwiesen, dass Ingrid am Morgen nach der Schülervollversammlung von einem »grosse[n] schwarze[n] Vogel« geweckt wird, der auf der Regenrinne sitzt und mit einem »Klick« auf sich aufmerksam macht (IB, 203). Zwei Sätze später betont der Erzähler die Symbolhaftigkeit dieses schwarzen Vogels, der »zu wissen [schien] um seine Wichtigkeit« (IB, 203). Die Krähe bzw. der Rabe wird in verschiedenen Mythologien symbolisch gedeutet. In der Bibel stehen Raben für die Fürsorge Gottes und ernähren den Propheten Elija während einer Dürreperiode (vgl. 1 Kön 17,6); eine eher unrühmliche Rolle spielt der Rabe in der Sintfluterzählung (vgl. Gen 8,6f.).329 Der schwarze Vogel im Ingrid-Roman, der ab dem nächsten Absatz als Krähe spezifiziert wird, schaut Ingrid in der Folge »spöttisch« an und schüttelt den Kopf, als sei nun alles so wie es sein solle. Sie hob sich flatternd auf und schielte geringschätzig und ärgerlich zurück. Ingrid lachte auf und wandte sich eilig in die Kammer. Die Krähe

327 Seebass, Genesis I, S. 102. 328 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.3. 329 Josef Scharbert zufolge ist die Aussendung des Raben die Folge einer nachträglichen Ergänzung des Redaktors, der »[w]ahrscheinlich« das Aussenden der Taube vorfand und die ihm bekannte »babylonische Tradition der Gilgamesch-Sage, nach der ein Rabe der Versuchsvogel ist«, hinzufügte; Josef Scharbert: Genesis 1–11, Würzburg 1983, S. 91.

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segelte als lautloser schwarzer Fleck durch den Nebel. Als sie über Sedenbohms Haus zum See einschwenkte, begann sie merkwürdiger Weise ein heiseres Schimpfen. (IB, 203f.)

Das mysteriös erscheinende Schimpfen lässt sich womöglich als Reaktion des Vogels auf Sedenbohms Urteil über seine Schüler zu Beginn des Romans interpretieren. Sir Ernest sieht sich angesichts der Courage seiner Schüler Lügen gestraft. Ingrid hingegen erscheint durch den Verweis auf die Sintfluterzählung in einem besonderen Licht, indem sie als eine Figur gezeichnet wird, die einem höheren Auftrag folgend handelt; höher jedoch nicht im transzendentalen, sondern vielmehr im moralischen Sinne. Wie bei Ernst Sedenbohm verbalisiert der Erzähler auch eine Gefühlsregung Ingrid Babendererdes mithilfe eines Verweises auf die Heilige Schrift. Beim Segeln auf dem Oberen See begegnen Ingrid und Klaus einem entgegenkommenden Boot, in dem Hannes Groetzki auf symbolische Art und Weise gegen den Wind segelt: »Ingrid betrachtete ihn von der Seite und bewegte dies alles in ihrem Herzen; indessen sie sagte: Das geht am Ende in die Binsen.« (IB, 44) Der Erzähler beschreibt Ingrids Reaktion auf den gegen den Wind segelnden Hannes unter Verweis auf die Weihnachtsgeschichte, in der betont wird, dass Maria der Prophezeiung des Engels geglaubt habe, im Gegensatz zu den überraschten Besuchern der Krippe: »19Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.«330 Ingrid wird mit der Mutter Jesu in Beziehung gesetzt, die sich weder wundert, noch an den Worten des Engels zweifelt, sondern »die Dinge sorgfältig bedenkt«.331 Der paränetische Charakter von Lk 2,19 lässt Maria als »Vorbild der Gläubigen«332 erscheinen, als »Urbild der in Luk. 8,15333 und 11,28334 herausgestellten Haltung«.335 Auch Ingrid erwägt »dies alles« in ihrem Herzen, zweifelt jedoch und schenkt Hannes’ Unternehmen keinen Glauben, wodurch sie als Antipodin der biblischen Maria erscheint. Demonstrativ- und Indefinitpronomen in »dies alles« verweisen überdies auf den symbolischen Gehalt der Szenerie. Hannes ist zwar kein Mitglied der Jungen Gemeinde, aber als Freund von Elisabeth Rehfelde unmittelbar von den Repressionen gegen die evangelische Jugendorganisation betroffen. Zwei Tage nach der Segelszene, am Donnerstagvormittag, erhält er von Direktor Siebmann das unmoralische Angebot, die Be330 Lk 2,19. 331 Hans Klein: Das Lukasevangelium, Göttingen 2006, S. 141. Das Verb ›bewegen‹ bezieht sich nicht im metaphorischen Sinne auf das schwache Verb ›bewegen, bewegte, bewegt‹, sondern auf das starke Verb ›bewegen, bewog, bewegt‹, das zu ›erwägen‹ oder ›gründlich nachdenken‹ synonym ist; vgl. Stolt, Biblische Erzählweise, S. 183f. 332 François Bovon: Das Evangelium nach Lukas, Teilbd. 1: Lk 1,1–9,50, Zürich/NeukirchenVluyn 1989, S. 131. 333 »15Das aber auf dem guten Land sind, die das Wort hören und behalten in einem feinen, guten Herzen und bringen Frucht in Geduld.« 334 »28Er aber sprach: Ja, selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren.« 335 Wolfgang Wiefel: Das Evangelium nach Lukas, Berlin 1988, S. 75.

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ziehung zu seiner Freundin ein »bisschen ein[zu]schränken«, um ein »besseres Zeugnis« zu erhalten (IB, 138). Er lehnt das Angebot mit den Worten ab, »[d]a kann ich nichs versprechen, Herr Siebmann« (IB, 138), und verhilft seiner Freundin am Donnerstagnachmittag zur Flucht (vgl. IB, 193). Das Segeln im Wind wird zur Metapher für die politische Gegenwart, die sich in den idyllisch erscheinenden Naturraum einschreibt.336 Während sich Hannes aufgrund seiner Beziehung zu Elisabeth bereits mitten im Konflikt befindet und »gegenan geht« (IB, 43), segeln Ingrid und Klaus noch mit dem Wind. Dies ändert sich jedoch im Verlauf der folgenden Tage: Ebenso symbolträchtig geraten die drei Protagonisten am Freitagnachmittag in ein Unwetter und sind dazu gezwungen, gegen den Wind »gegenan zu gehen« (IB, 241). Westphal betont, dass diese Formel auf das »Widerstandsmoment« anspielt, »das dem Wind beim Segeln in Analogie zu den Forderungen nach Diskreditierung der Jungen Gemeinde entgegengesetzt wird«.337 Entsprechend segeln die Freunde auch wenig später »unverändert gegenan« (IB, 242). Das Ankämpfen gegen das Unwetter symbolisiert jedoch nicht nur den Widerstand gegen die politischen Entscheidungsträger, sondern ebenso die Annäherung der drei Freunde innerhalb dieses Politikums. Aufgrund ihrer divergierenden Auffassungen, ob und wie man eine Veränderung der politischen Lage herbeiführen könne, verbringen sie die Schülervollversammlung getrennt voneinander. Während der Segelpartie sitzen sie dagegen zusammen in einem Boot und kämpfen Hand in Hand gegen das Gewitter an: »Jürgen bekam ein Wasserkissen ins Gesicht geschleudert, dass er ganz hoch aufatmen musste in dem Regen, Klaus hatte das Ruder, Ingrid hatte die Fock, es war ihnen schon besser und es war allens klar.« (IB, 243) Angesichts der unterschiedlichen Handlungskonsequenzen, die die drei Freunde aus dem Konflikt ableiten, von einer »endgültigen Einigung«338 zu sprechen, mag zu weit geführt sein – zumal Jürgens Anteil an der Navigation der Squit durch »Wasser und Hagel« (IB, 242), Wind und Nebel geringer ausfällt als der von Ingrid und vor allem Klaus. Die Annäherung orientiert sich jedoch weder an der Position von Klaus noch stellt sie einen Kompromiss dar. Stattdessen kommt es zur »Beglaubigung der durch Ingrid verkörperten Position: Ihrer (nicht näher motivierten) moralischen Haltung nähern sich Klaus und Jürgen in Form wirklicher Entwicklungen an«.339 Im Gegensatz zu Westphal führen Beate Wunsch und Annekatrin Klaus als Motivation für Ingrids »moralische Empörung«340 das Verhältnis zu ihrer Mutter Katina an, die ihr als ›Kraftquelle‹341 und »Anhalts336 337 338 339 340 341

Vgl. hierzu Westphal, Literarische Kartografie, S. 42f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd. Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 144. Vgl. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 113.

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punkt für das eigene Leben«342 dient. Schon lange vor ihrer Tochter zieht Katina als Lehrerin der Gustav Adolf-Oberschule ihre politischen und persönlichen Konsequenzen: »nachdem Das Blonde Gift gekommen war, hatte sie gekündigt und war zur Deutschen Post gegangen« (IB, 56f.). Diese Konsequenz zeichnet auch Ingrid aus, die aufgrund ihrer empfundenen Scham (vgl. IB, 148) zu dem Schluss gelangt: »es braucht mich nichts anzugehen, geht mich aber« (IB, 149). Während Klaus die Möglichkeiten und Risiken eines direkten Widerstandes genauestens abwägt, stellt sich für Ingrid diese Wahl nicht. In ihrer »schöne[n] Gutherzigkeit« (IB, 25) erwägt sie ihre Urteile und die daraus resultierende Entscheidung in ihrem Herzen. Klaus und Ingrid erscheinen so als stereotype Antipoden des im wörtlichen Sinne vom Verstand geleiteten Mannes und der gefühlsgeleiteten Frau.343 Der Verweis auf Lk 2,19 läuft dieser offensichtlich erscheinenden Deutung, die sich auf die Etablierung des aufklärerischen Denkens zurückführen lässt, zuwider. Stolt betont, dass nach der biblischen Anthropologie »das Herz das geistige Erkenntnisorgan des Menschen ist, das innerste, äußerem Zugriff entzogene und nur Gott einsichtige Zentrum seiner Persönlichkeit. […] Herz und Verstand sind unlöslich miteinander verknüpft. Das Denken vollzieht sich nicht im Kopf, sondern im Herzen«.344 Mit der Titelheldin macht Johnson das Herz als Ort der Entscheidungsfindung stark gegenüber dem Verstand und stellt es diesem mindestens gleichberechtigt zur Seite. So führt das pragmatisch-rationale Verhalten von Klaus zur politischen Situation in der DDR zu einer ironisch-distanzierten Kritik und einem Rückzug ins Private. Spätestens mit dem Schulverweis von Ingrid ist die politische Durchdringung des privaten Raumes für Klaus jedoch so weit fortgeschritten, dass er sich zur Überwindung seiner rein pragmatisch-rationalen Passivität gezwungen sieht. Klaus nähert sich dem Verhalten Ingrids an, auch wenn er von seiner rationalen Herangehensweise nicht vollständig abrückt.345 Seine Liebe zu Ingrid lässt ihn aber die Beschränkung auf jene Rationalität aufgeben und im Augenblick unmittelbarer Betroffenheit wie Ingrid mit dem Herzen denken. Dass erst die persönlich-emotionale Betroffenheit zu seinem Umdenken führt, betont das Scheitern des rational-pragmatischen Verhaltens von Klaus in besonderem Maße. Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung ist dagegen von einer moralischen Betroffenheit geleitet, sodass das Herz als emotional-moralisches Zentrum der Titelheldin gedeutet werden kann. Die im ersten Buch des Romans eingeführte Bedeutung des Herzens als Quelle von Ingrids Verhalten wird während des Höhepunktes der Handlung nicht ex342 343 344 345

Wunsch, Studien zu Uwe Johnsons früher Erzählung, S. 143. Vgl. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 103, 107, 117. Stolt, Luthers Rhetorik des Herzens, S. 50. Deutlich wird dies, indem Klaus seine Bitte, »man möge ihn aus der Schülerliste streichen« (IB, 225), mit dem Verweis auf die Verfassung der DDR versieht.

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plizit erwähnt, dient aber, wie gezeigt werden konnte, als Folie ihres Handelns und wird mit den letzten Worten des Erzählers auf der Gegenwartshandlung als einzige Quelle zur Einschätzung der Lage exponiert: Und das Flirren der Fliederbüsche unter dem leichten Wind und das Schaben der Boote am Steg und das leise Getropf im Schleusenbecken und das graue helle Licht und ihren vorsichtigen Atem und Klausens verquere Haare und diese Narbe an Ingrids Hals und die ungeduldige Uhr und die unablässige Unruhe in ihrem Herzen. (IB, 247)

In einem anderen Sinne fungiert das ›Herz‹ als Metapher für die Wirkung, die Ingrid auf Klaus und Jürgen ausübt. Die »herzstockende[] Ingridschönheit« (IB, 40) erzeugt bei einer Segelpartie »einen Ruck in Klausens Herzen« (IB, 62). Vor allem aber in Jürgen erzeugt die »schöne Gutherzigkeit« Ingrids eine »schnelle[] Welle von Herzklopfen« (IB, 25f.) und der Gang entlang ihres Hauses lässt »[s]ein Herz klopf[en] in unanständigen Massen« (IB, 46). Die unerfüllte Liebe des Schülers Petersen führt bei ihm zu »Herzeleid« (IB, 47). Im Moment der Stimmenauszählung, die über die Relegation Ingrids von der Oberschule entscheidet, nimmt der Erzähler die Perspektive Jürgens ein, in dem sich »viel zu[trug]« (IB, 183), und schildert dessen Wahrnehmungen und Gedanken. Der Schüler Petersen erinnert sich eines Ereignisses in seiner Kindheit, bei dem er für einen zerbrochenen Spiegel verantwortlich gemacht wurde, obwohl »er nichts konnte zu dem Unglück« (IB, 183). Nachdem diese Kindheitserfahrung zunächst rein assoziativ in die Gedankenrede integriert ist, führt der Erzähler sie am Ende des Absatzes kommentierend mit Jürgens Beziehung zu Ingrid zusammen. Hierbei charakterisiert er dessen Gefühlslage mit Verweis auf das Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief: »Auch war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe und niemals Zuversicht; es genügte übrigens vollständig zu wissen dass er den Spiegel in der Tat nicht zerbrochen hatte.« (IB, 183) Mit den Worten ›Hoffnung‹, ›Liebe‹ und ›Zuversicht‹ stellt der Erzähler einen Bezug zur paulinischen Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe her, der man an mehreren Stellen im Neuen Testament begegnet; am prominentesten im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes: »13Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«346 Im ersten Korintherbrief spricht Paulus eine Reihe »theologischer und ethischer Grundprobleme«347 an, die sein Verständnis des Evangeliums widerspiegeln. Den Ausgangspunkt bilden Anfragen aus Korinth an den Apostel, die Streitigkeiten und ethische Missstände innerhalb der Gemeinde zu Tage treten lassen. Paulus reagiert, indem er auf Fragen zur Ehe, zum Umgang mit Götzenopfern und Götzopferfleisch, zur Blutschande und Unzucht, zum Gottes346 1 Kor 13,13. Vgl. auch Gal 5,5f.; 1 Thess 1,3; 5,8. 347 Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther, Teilbd. 1: 1 Kor 1,1–6,11, Zürich/Neukirchen-Vlyn 1991, S. V.

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dienst und zu weiteren Themen antwortet.348 Das Hohelied der Liebe ist verzahnt mit dem vorangehenden zwölften und dem darauffolgenden vierzehnten Kapitel des ersten Briefes an die Korinther; alle drei Kapitel behandeln einen Komplex von Fragen zum Gottesdienst und zur gemeindlichen Identität.349 Konkret reagiert Paulus auf eine korinthische Anfrage zum Verständnis des Pneumatischen: »Was ist das wahre Kennzeichen des Geistes? Welches Wort bzw. welche Rede (›logos‹) ist dem Geist konform? Die Weisheitsrede (›logos sophias‹) oder die Glossolalie? Was ist die wahre Weisheit? Wie ist sie zu erreichen?«350 Im dreizehnten Kapitel wird »die Liebe als wesentliches Kennzeichen aller wirklichen Geistesgaben dargestellt«,351 indem zunächst der Wert der (göttlichen) Liebe ins Verhältnis zu den Charismen gestellt wird. Anschließend werden die »Früchte und Wirkungen«352 der Liebe via negationis hervorgehoben und schließlich wird gefragt, was angesichts des »Unvollkommenen, Vergänglichen und Vorläufigen […] Bestand hat«.353 Der Schlussvers gibt eine Antwort auf diese Frage, überrascht aber damit, »dass neben der ›Liebe‹ nun auch ›Glaube‹ und ›Hoffnung‹ auftauchen«,354 sodass der Abschluss der Lehrrede zeitlich wie logisch gelesen werden kann.355 Helmut Merklein und Marlies Gielen legen dar, dass der Glaube als »Grundlage der christlichen Existenz« in seiner Zukunftserwartung »notwendigerweise« mit der Hoffnung verbunden ist, während die »Praxis solchen Glaubens und Hoffens« die Liebe ist.356 In der Konsequenz gebe Paulus mit der Trias »die grundsätzliche Dimension christlicher Existenz« an, »innerhalb derer die Charismen ihren Platz und ihr Betätigungsfeld haben. Wo Glaube, Hoffnung und Liebe die Existentiale christlichen Lebens sind, wird jeder Streit um die vorrangige Angemessenheit einer bestimmten Geisteshaltung verstummen.«357 Hans-Josef Klauck betont darüber hinaus, dass Glaube, Hoffnung und Liebe »nicht von der zeitlichen Begrenztheit der Charismen« bestimmt sind, sondern »etwas Endgültiges« in sich tragen, wobei einzig die Liebe »gänzlich 348 Vgl. Christian Wolff: Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 3., korr. Aufl., Leipzig 1989, S. 8–12. 349 Vgl. Helmut Merklein/Marlies Gielen: Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24, Gütersloh 2005, S. 106–236. Für Wolfgang Schrage ist das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes »nicht aus sich selbst heraus zu verstehen und recht nur im Zusammenhang mit den beiden umrahmenden Kapiteln auszulegen«; Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther, Teilbd. 3: 1 Kor 11,17–14,40, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1999, S. 276f. 350 Merklein/Gielen, Der erste Brief an die Korinther 11,2–16,24, S. 110; Kursivdruck im Original. 351 Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, S. 311. 352 Schrage, Der erste Brief an die Korinther 3, S. 304. 353 Hans-Josef Klauck: 1. Korintherbrief, Würzburg 1984, S. 96. 354 Merklein/Gielen, Der erste Brief an die Korinther 11,2–16,24, S. 161. 355 Vgl. Klauck, 1. Korintherbrief, S. 98; Schrage, Der erste Brief an die Korinther 3, S. 316. 356 Merklein/Gielen, Der erste Brief an die Korinther 11,2–16,24, S. 162. 357 Ebd.

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unverändert die Zeiten überspannt«.358 Christian Wolff schlussfolgert entsprechend: »Die Liebe hat eine überragende Bedeutung, weil sie den Glauben und die Hoffnung prägt (V. 7) und weil sie auch im Eschaton von Bestand ist (V. 8).«359 Die Liebe steht auch im Zentrum des Erzählerkommentars im 43. Kapitel des Ingrid-Romans, der symmetrisch zu 1 Kor 13,13 strukturiert ist. Doch während im ersten Teil des Satzes die Trias in Hinblick auf Jürgen anverwandelt wird, folgt im zweiten nicht die Betonung der Liebe als höchstes Gut, sondern die assoziative Verbindung mit der Spiegel-Szene. Auch wird die Liebe Jürgens nicht um Hoffnung und Glaube, sondern um Hoffnung und Zuversicht ergänzt. Johnson verzichtet damit auf den religiös aufgeladenen Terminus ›Glaube‹ und ersetzt ihn durch ›Zuversicht‹, die nicht im biblischen Sinne »Kennzeichen des Glaubens« ist, dass Gott »aus aller Not helfen kann«,360 sondern eine Erwartung zum Ausdruck bringt, ein Wunsch könne in Erfüllung gehen. Für eine solche säkularisierte Deutung spricht die in keinem religiösen Zusammenhang stehende Verortung Jürgens innerhalb des Romans.361 Statt des eschatologischen Gehalts der Liebe betont der Erzähler im Moment der Relegation Ingrids die Gefühle Jürgens zu ihr und zeichnet damit einmal mehr das Bild des gefühlsbetonten Schülers Petersen. Mittels der Trias von Hoffnung, Zuversicht und Liebe betont der Erzähler überdies, dass die Gefühle Jürgens nicht erst in jenem Augenblick ohne Hoffnung und Zuversicht auf Erwiderung sind, sondern es »niemals« waren. Während Glaube, Hoffnung und Liebe im Korintherbrief in einer symbiotischen Beziehung zueinander stehen, werden Hoffnung und Zuversicht in Bezug auf Jürgen durch das Temporaladverb negiert. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man hieraus die Schlussfolgerung zöge, dass sich Johnson einzig der Form von 1 Kor 13,13 bedient. Durch die punktuelle Bezugnahme auf das Hohelied der Liebe verweist der Erzähler neben dem Herz auf die Liebe als ethischer Quelle der Entscheidungsfindung und Handlungsführung; im Gegensatz zu einem dogmatisch eingeforderten Konformismus, für den Dieter Seevken in diesem 43. Kapitel stellvertretend steht, der »wachsam« vor der Tür positioniert »ein Verlassen des Raums nicht gestattet« (IB, 183).

358 Klauck, 1. Korintherbrief, S. 98. 359 Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, S. 326. Wolff führt hierzu erläuternd aus: »Für Glaube und Hoffnung ist ein ewiger Bestand nach paulinischem Verständnis (vgl. 2.Kor. 5,6f.; Röm. 8,24f.) ohnehin kaum anzunehmen. Sie werden freilich nicht etwa als Stückwerk beseitigt werden (vgl. zu diesem Gegensatz auch 2.Kor. 3,11); vielmehr findet der Glaube seine Erfüllung im Schauen, und die Hoffnung findet ihre Erfüllung in der Teilhabe am Erwarteten. Ein Fortbestand im Eschaton gilt jedoch für die Liebe; denn er ist in der Aussage von der zukünftigen liebenden Gottesgemeinschaft (V. 12) enthalten«; ebd., S. 325. 360 Fritz Rienecker: Zuversicht/Zuflucht, in: Helmut Burkhardt u. a. (Hg.): Das große Bibellexikon, Bd. 3: Paddan–Zypern, 2. Aufl., Wuppertal/Zürich 1990, S. 1733. 361 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.2.

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Kunstsprache im Zeichen ethischen Erzählens Alexandra Böhm, Antje Kley und Mark Schönleben leiten die Anthologie Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit mit der These ein, dass ethische Diskurse an Bedeutung gewonnen haben und »hoch kontroverse Angelegenheiten« sind, weil sich Gemeinschaften »innerhalb moderner Gesellschaften nicht mehr auf ein normatives, religiöses, ideologisches oder politisches Fundament« beziehen können.362 Einen solchen ethischen Diskurs stiftet die Erzählinstanz in Johnsons Erstling Ingrid Babendererde, indem sie ihrer Kritik an der sinnentleerten Propagandasprache der Staats- und Parteiführung eine Kunstsprache an die Seite stellt, die die Authentizität des Erzählens zum Programm erhebt. Biblische Einzeltext- und Systemreferenzen sind ein maßgeblicher Bestandteil dieser Kunstsprache. Sowohl der Rückgriff auf Lexeme der biblischen Sprache wie ›fromm‹, ›Erbarmen‹ und ›andächtig‹ als auch der Gebrauch syntaktischer Biblizismen wie die Formel ›siehe‹, der pränominale Genitiv, die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung und die Verbindung aus Relativpronomen und parataktischer Fügung führen neben einem teils ironisch-karnevalesken Tonfall in summa vor allem zu einer Brechung des Textes. Aufgebrochen werden semantische und syntaktische Schranken, wodurch der Text für neue Inhalte und Sichtweisen geöffnet wird. Diese werden dadurch hervorgehoben, dass die Brechungen Pausen im Erzählfluss erzeugen, die ein langsames und aufmerksames Lesen ermöglichen und an ein solches implizit appellieren. In einem Interview zu den Mutmassungen über Jakob mit Arnhelm Neusüss bestätigte Johnson eine solche Lektürevorstellung, die einer »Form des Lesens heutzutage« entgegensteht, »die sehr hastig ist und sich eigentlich nur nach Signalen orientiert«.363 Sein zweites Buch habe er so geschrieben, »als würden die Leute es so langsam lesen, wie ich es geschrieben habe«.364 Ergänzt wird diese Form der Leserlenkung, die Fremdheit inszeniert und damit Selbstverständlichkeit austreibt,365 durch die Auflösung semantischer Engführungen wie beim Adjektiv ›andächtig‹, das sowohl in seiner sakralen als auch säkularen Semantik verwendet wird. Dieses 362 Alexandra Böhm/Antje Kley/Mark Schönleben: Einleitung. Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit, in: dies. (Hg.): Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit. Philosophische, literarische und gesellschaftliche Perspektiven, München 2011, S. 11–34, hier: S. 11. 363 Arnhelm Neusüss: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson (Am 10. 9. 1961 in West-Berlin), in: Falhke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 184–193, hier: S. 185. 364 Ebd. 365 Vgl. Wolfgang Engler: Uwe Johnson – Gesten des Erzählens, in: Johnson-Jahrbuch 13, 2006, S. 85–101, hier: S. 92. Engler begründet die »Inszenierung von Fremdheit« im Erzählen Johnsons mit einer Übertragung des Inhalts auf die Form: »Die Erfahrung des Rezipienten reflektiert die Erfahrung der Figuren, mit denen er Umgang hat, die ihrerseits eine Grunderfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts referiert: Verlust von Ort, Üblichkeit und Identität; Fremdwerden und Fremdsein, Aneignung neuer Räume, Erwerb von ungewohnten Gewohnheiten, Zugehörigkeiten«; ebd.

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Verfahren ähnelt dem des »Wörterbrechens«, bei dem phraseologische Wendungen und Begriffe »auf mehrdeutige Konnotationen hin beleuchtet« werden.366 Während die bibelsprachlichen Systemreferenzen zu einem ethischen Erzählen beitragen, wird die moralische Integrität durch Zitate aus Ex 3,19, Lk 2,19 und 1 Kor 13,13 als herausgehobene Anforderung an die Figuren herangetragen, der insbesondere Ingrid, sukzessive aber auch ihre Freunde Jürgen und Klaus zu entsprechen vermögen. Mit intertextuellen Bezügen auf konkrete Stellen der Heiligen Schrift bietet der Erzähler dem Leser Ansatzpunkte und »Werkzeuge für Einordnung und Urteil«367 der politischen Gegenwart im Roman. Aus dem Blickwinkel bibelsprachlicher Spuren in der Erzählerstimme kann die These, es handele sich bei Johnsons Erstling um ein »moralisches Buch«,368 nur bestätigt werden. Mit seiner Kunstsprache leistet der Erzähler einen Beitrag zu einem ethischen Erzählen, in dem neben der omnipräsenten staatlichen auch verschiedenen anderen Stimmen und Perspektiven Platz eingeräumt wird. Eine solche Perspektive verlangt der Erzähler auch seinem Leser ab, dem nicht nur durch die Formel ›siehe‹ ein differenzierender Blick auferlegt wird.

1.4.4 Biblischer Stimmbruch Setzt man die Beobachtung zur ethisch-moralischen Kunstsprache des Erzählers mit den weiteren Ergebnissen des sprachlichen Diskurses in Ingrid Babendererde ins Verhältnis, wird die Eingangsthese bestätigt, dass sich der sprachliche Diskurs im Roman nicht auf Formen der Parodie beschränkt. Vielmehr konstituiert sich ein mehrdimensionaler Diskurs, in dem Erzähler und Figuren auszuhandeln versuchen, wie Identität, Authentizität und Integrität angesichts einer dogmatischen Politisierung beinahe aller Lebensbereiche, die wie im Roman ersichtlich sukzessive zu einer Entpolitisierung führt,369 bewahrt werden können. Das da366 Sigrid Weigel: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 136f. Weigel leitet das assoziierende Verfahren des ›Wörterbrechens‹ ebenso wie das Zusammenfügen von Phrasen zu einem Wort – auch dies findet sich in Ingrid Babendererde – aus Pola Vesekens (Pseudonym) Altweibersommer? (1982) her. Vgl. hierzu auch Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 90. 367 Westphal, Literarische Kartografie, S. 92. Die hier von Westphal für die Mutmassungen über Jakob getroffene Feststellung lässt sich somit auch auf Johnsons Erstling übertragen. 368 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 117. 369 Vgl. hierzu Arendt, Freiheit und Politik, S. 673: »Unsere jüngsten Erfahrungen mit totalitären Diktaturen scheinen mir geeignet, diese ältesten Erfahrungen mit dem Politischen aufs neue zu bestätigen. Denn sie haben uns eindeutig gezeigt, daß, wenn man mit der Abschaffung der politischen Freiheit ernstmachen will, es nicht damit getan ist, nur das zu unterbinden, was wir gemeinhin unter politischen Rechten verstehen, daß es nicht genügt, den Bürgern zu verbieten, sich politisch zu betätigen, Meinungen öffentlich zu äußern und sich in Parteien oder anderen Verbänden zum Zwecke des Handelns zusammenzuschließen.

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hinterstehende moralische Konzept, das hat u. a. Klaus gezeigt, ist die Vorstellung eines »humanen Sozialismus […], in dem sich die Frage nach einem nichtentfremdeten, einem mit sich selbst identischen Leben gar nicht erst stellen müßte«.370 Der sprachliche Diskurs in Ingrid Babendererde führt den Gegensatz von Utopie und Realität zusammen, indem in ihm der politisch-indoktrinierten Sprachverwendung eine Kunstsprache gegenübergestellt wird, mit der es trotz einer narratorialen Erzählhaltung gelingt, eine Vielzahl von Stimmen in sich zu vereinen und so das Konzept eines ethischen Erzählens einzulösen. Biblische Intertexte tragen in erheblichem Maße nicht nur zu einer Stimmenvielfalt, sondern zu einer ethischen Aufladung des Erzählens bei. Die geläufige These des archaisierenden Bibeltons mit »ironische[n] und satirische[n] Intentionen«371 bedarf daher einer Erweiterung. Mit der vorliegenden Analyse des sprachlichen Diskurses konnte gezeigt werden, dass die in Ingrid Babendererde vorkommenden Bibeltöne vielschichtiger sind als von Mecklenburg und anderen Autoren angenommen. Bereits der an den Beginn des Romans gestellte metasprachliche Verweis auf den floskelhaften Gebrauch der redensartlichen Beteuerungsformeln ›Um Gottes Willen‹ und ›Oh Gott‹ lässt sich nicht primär parodistisch lesen. Vielmehr nimmt die figural initiierte Sprachreflexion eine Signalfunktion wahr: Der Rezipient wird früh dafür sensibilisiert, Sprache auf ihre Funktion hin zu befragen. Die Notwendigkeit der Sprachreflexion wird anhand der politisch instrumentalisierten Sprache in der DDR vorgeführt. Als eine zentrale Folge jener Sprachreflexion parodiert der Erzähler die durch Staats- und Parteivertreter vorgenommene Stilisierung des Sozialismus als Religionsersatz. Im Zentrum steht Direktor Siebmann, der als Stellvertreter des Staates fungiert und dessen Man muß die Gedankenfreiheit, soweit man es kann – und man kann es sehr weitgehend –, man muß die Willensfreiheit und selbst die doch wirklich harmlos scheinende Freiheit künstlerischer Produktivität mitvernichten. Man muß sich mit anderen Worten all der Gebiete bemächtigen, die wir gewohnt sind, als außerhalb des Politischen liegend zu betrachten, weil auch in ihnen ein politisches Element enthalten ist. Oder anders gewendet: will man die Menschen daran hindern, daß sie in Freiheit handeln, so muß man sie daran hindern, zu denken, zu wollen, herzustellen, weil offenbar all diese Tätigkeiten das Handeln und damit Freiheit in jedem, auch dem politischen Verstande mitimplizieren. Daher glaube ich auch, daß wir das Phänomen der totalen Herrschaft durchaus mißverstehen, wenn wir meinen, daß in ihr eine totale Politisierung des Lebens erfolgt, durch die Freiheit zerstört wird. Das gerade Gegenteil ist der Fall; wir haben es mit dem Phänomen der Entpolitisierung zu tun, wie in allen Diktaturen und Despotien, nur daß diese Entpolitisierung hier so radikal auftritt, daß sie das politische Freiheitselement in allen Tätigkeiten vernichtet und sich nicht nur damit zufrieden gibt, das Handeln, also die politische Freiheit par excellence, zu zerstören.« Zu Arendts Politikbegriff vgl. Erster Teil, Kap. 1, Anm. 96. 370 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 118. 371 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 170.

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gottgleicher Allmachtsanspruch durch seinen Spitznamen, durch die Nachahmung seines liturgisch anmutenden Sprechgesangs sowie durch explizite Bibelreferenzen karikiert wird. Als eine weitere Form der Sprachkritik bedienen sich die drei Freunde auf der Figurenebene dem uneigentlichen Sprechen. Es käme aber einer Überinterpretation gleich, aus den strukturellen Parallelen zu den jesuanischen Parabeln eine direkte Rezeptionslinie vom Neuen Testament zum Roman herzustellen. Nichtsdestotrotz nimmt jede der fünf Passagen uneigentlichen Sprechens Bezug auf die Heilige Schrift, um den Machtmissbrauch der Staats- und Parteiführung deutlich zu machen. Dieser Umstand trägt entscheidend zur Konstitution eines Bibeltons in Ingrid Babendererde bei. Der Erzähler geht noch einen Schritt weiter und verwendet als Gegenentwurf zur politisch indoktrinierten Sprache eine polyphone Kunstsprache. Teil dieser Kunstsprache sind bibelsprachliche Einzeltext- und Systemreferenzen, mit denen der Text gebrochen und somit für Inhalte geöffnet wird, die von der staatlich oktroyierten Doktrin abweichen. Die Kunstsprache des Erzählers leistet damit ebenfalls einen Beitrag zu einem ethischen Erzählen im Roman. Angesichts dieser Vielschichtigkeit eines durch biblische Einzeltext- und Systemreferenzen gestifteten sprachlichen Diskurses kann von dem Bibelton nicht die Rede sein. Vielmehr begegnet man im Roman verschiedenen Bibeltönen, die durch den Erzähler arrangiert werden. Mecklenburgs Begriff des »stilistischen Stimmbruchs« für den »ständige[n] und abrupte[n] Wechsel der Töne« in Johnsons Erstling bietet einen idealen Anknüpfungspunkt,372 das Arrangement bibelsprachlicher Töne in Ingrid Babendererde als biblischen Stimmbruch zu bezeichnen.

1.5

Liturgischer Diskurs: »zwischen Pfingsten und schriftlichem Abitur«

Von einer Art Stimmbruch weiß auch die Bibel zu berichten. In der lukanischen Apostelgeschichte erscheinen den Jüngern »Zungen, zerteilt, wie von Feuer«, und sie beginnen »zu predigen mit andern Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen«.373 Die Bevölkerung von Jerusalem ist »bestürzt«, »entsetzt[]« und »verwundert[]«, dass jeder die Jünger in seiner Sprache predigen hört: 9

Parther und Meder und Elamiter, und die wir wohnen in Mesopotamien und in Judäa und Kappadozien, Pontus und Asien, 10Phrygien und Pamphylien, Ägypten und an den 372 Ebd. 373 Apg 2,3f.

Liturgischer Diskurs: »zwischen Pfingsten und schriftlichem Abitur«

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Enden von Libyen bei Kyrene und Ausländer von Rom, 11Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie mit unsern Zungen die großen Taten Gottes reden.374

Als Folge des Pfingstwunders, der Ausgießung des Heiligen Geistes, sind die zwölf Apostel in die Lage versetzt, in ihrer Sprache den Glauben an Jesus Christus zu verbreiten. Dass Aumüller in Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung Parallelen zur Zungenrede der Jünger sieht, mag zunächst verwundern. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache, dass der Roman in der Woche »zwischen Pfingsten und schriftlichem Abitur« (IB, 164) spielt, gewinnt Aumüllers These an Gewicht. Berechtigterweise stellt er die Frage, warum Pfingsten im Roman erwähnt wird, »wenn es nicht von Bedeutung wäre«?375 Dieser Frage soll auf den folgenden Seiten nachgegangen werden, zumal Johnson die erzählte Zeit des Romans von der zweiten zur vierten Fassung um zwei Wochen nach hinten verlegte. Während das Handlungsgeschehen in der zweiten Fassung noch den Zeitraum vom 11. bis 17. Mai 1953 umfasst,376 erstreckt es sich in der vierten Fassung auf die Woche nach Pfingsten, beginnt am 26. Mai 1953 und geht über den 30. Mai 1953 hinaus.377 In der Johnson-Forschung besteht Einigkeit darüber, dass diese zeitliche Verschiebung darauf zurückzuführen ist, dass es sich beim 30. Mai 1953, dem Tag der Flucht von Ingrid und Klaus, um den vierten Jahrestag der Annahme der Verfassung der DDR durch den III. Deutschen Volkskongress handelt.378 Somit verweist Johnson allein durch die zeitliche Einbettung des Romangeschehens auf den staatlichen Verfassungsbruch beim Vorgehen gegen die Junge Gemeinde, aber auch gegen Schüler wie Ingrid, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen und von der Schule verwiesen werden. Aumüller gibt zu bedenken, dass es Zufall sein könnte, dass der Jahrestag der Verfassung der DDR im Jahr 1953 auf die Woche nach Pfingsten fällt. Doch während sich in der zweiten Fassung kein Hinweis auf Christi Himmelfahrt findet, das im Jahr 1953 auf den 14. Mai fiel, wird Pfingsten in der vierten Fassung gleich vier Mal erwähnt (vgl. IB, 13, 150, 164, 178). Ein konkretes Datum wird hingegen nur einmal genannt – und das gegen Ende des Romans.379 Ob das 374 Apg 2,6–11. 375 Aumüller, Heilige Geist, S. 106. 376 Vgl. Johnson, Ingrid (2 Fs.), Mappe 1, Bl. 22, 27: »Er hielt die Innenseite gegen das Licht und las dort in kleinen breiten Buchstaben MAY ELEVENTH; das war Englisch und hiess ›elfter Mai‹. […] Dies nämlich dass heute vor einem Jahr Ingrid zum ersten Mal dortgesessen hatte«. 377 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 234. 378 Vgl. insb. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 155. 379 Vgl. IB, 237: »Drei Stunden nach Mittag stand die 12 A vor der Aula, in der gestern die Versammlung vor sich gegangen war; die Flurfenster standen weit offen und über dem Wall hielt sich das windigste Sonnenwetter, das du dir vorstellen kannst für einen neunundzwanzigsten Mai.«

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Pfingstfest einzig als chronologischer Orientierungspunkt dient, wie der Dom als lokaler, lässt sich nur verifizieren, indem die biblische Bedeutung des Pfingstfestes zum Romangeschehen in Beziehung gesetzt wird. Nach einem Proömium setzt die Apostelgeschichte mit Jesu letzten Worten an seine Jünger ein und verheißt ihnen, dass sie »die Kraft des heiligen Geistes empfangen« werden, um seine »Zeugen« zu sein »zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde«.380 Der anschließenden Himmelfahrt Jesu folgen Vorbereitungen auf das Pfingstfest wie die Nachwahl des Matthias zum zwölften Apostel.381 Zu Pfingsten, dem jüdischen Wochenfest,382 tritt Jesu Verheißung ein: Der heilige Geist kommt über die Jünger, die durch die Sprachengabe beginnen, das Evangelium zu predigen;383 zunächst in Jerusalem, wo die christliche Gemeinde um Petrus mit Verfolgungen zu kämpfen hat,384 später bis nach Rom,385 »dem Zentrum der damaligen Welt«.386 Eine erste Parallele zum Ingrid-Roman sieht Aumüller in der Anzahl der Schüler der Klasse 12 A. Nachdem der Schüler Jochen Schmidt »zwei Jahre« (IB, 121; Kursivdruck im Original) vor dem Romangeschehen nach West-Berlin übergesiedelt ist, haben Ingrid, Jürgen und Klaus noch acht Mitschüler in ihrer Klasse und sind damit wie die Jünger Jesu bis zur Wahl des Matthias in Apg 1,26 zu elft (vgl. etwa IB, 16). Auch wenn ein möglicher Vergleich zwischen Jochen Schmidt und Judas Ischariot ins Leere läuft, wird die Klasse 12 A durch ihr einstimmiges Abstimmungsergebnis gegen die Relegation Ingrids zu einer Gemeinschaft.387 Diese Gemeinschaft orientiert sich jedoch nicht an einer »Verbindung mit der Jungen Gemeinde«,388 die Aumüller zunächst diskutiert, sondern am Widerstand gegen den Verfassungsbruch an der Gustav Adolf-Oberschule: »Die Schüler der 12 A haben ihre geistige Reifeprüfung, die zugleich eine moralische ist, in der Abstimmung bestanden.«389 380 381 382 383 384 385 386 387

388 389

Apg 1,8. Vgl. Apg 1,9–26. Vgl. Lev 23,15–22. Vgl. Apg 2,1–13. Exemplarisch hierfür stehen das Martyrium des Stephanus (vgl. Apg 6,8–7,59) und die Verfolgung der christlichen Gemeinde durch Saulus (vgl. Apg 8,1–4). Vgl. Apg 28,17–31. Dietrich Rusam: Die Apostelgeschichte, in: Ebner/Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, S. 229–249, hier: S. 231. Ob man diese Gemeinschaft angesichts dessen, dass sich auch sieben Schüler der Klasse 12 B und einer der Klasse 11 A gegen eine Relegation der Schülerin Babendererde aussprechen (vgl. IB, 182), gleich als »Gemeinschaft Auserwählter« bezeichnen muss, sei dahingestellt; Aumüller, Heilige Geist, S. 103. Ebd. Aumüller gelangt jedoch ebenfalls zum Ergebnis, dass »fast keiner der Schüler in erkennbarer Verbindung mit der Jungen Gemeinde« steht und Ingrid, Jürgen und Klaus »eine Verbindung zur Jungen Gemeinde sogar explizit abgesprochen« wird; ebd. Ebd., S. 106.

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Eine weitere Entsprechung zum Pfingstwunder erkennt Aumüller in Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung, die der Zungenrede der Apostel ähnelt. Die Zungenrede zeichne sich demnach durch ihren vom heiligen Geist geprägten höheren Wahrheitsgehalt aus wie durch ihre Form als uneigentliche, auslegungsbedürftige Rede.390 Dass es sich bei Ingrids Rede um eine Form uneigentlichen Sprechens handelt, wurde im vorherigen Abschnitt gezeigt. Die höhere Wahrheit ihrer Rede liegt im Geist der Verfassung, die den Bürgern der DDR die Wahl ihrer Kleidung zusicherte, vor allem aber die Meinungs- und Bekenntnisfreiheit garantierte. Überdies verweist Aumüller auf die Sprachengabe aus Apg 2,6 und konstatiert, dass Ingrids Botschaft von allen verstanden werde, denn »gleich, welche Weltanschauung man für richtig hält, verstehen ihre Hörer zumindest, worauf sie hinaus will«;391 wenn sie auch nicht von allen akzeptiert wird. Das Präsidium mit Direktor Siebmann stellt Aumüller dem Hohen Rat Jerusalems gegenüber, der Petrus und Johannes in einer Versammlung zu ihren Reden vor dem Volk befragt und von ihnen fordert, »daß sie sich allerdinge nicht hören ließen noch lehrten in dem Namen Jesu«.392 Wie Petrus und Johannes bei den Ältesten, Obersten und Schriftgelehrten erreicht Ingrid beim Präsidium keine Einsicht, verfehlt dennoch ihre Wirkung nicht: Ähnlich dem Hohen Rat, der »nichts dawider zu reden«393 hat, als sie den Geheilten neben den beiden Aposteln sehen, blicken Direktor Siebmann und die Seinen schweigend in die Aula, bis Ingrid schon »an der Tür neben dem entsetzten Dieter Seevken« steht und die Aula von Händeklatschen und Trampeln »gefährlich« zu beben beginnt (IB, 175). Eine ähnliche Wirkung bei Direktor Siebmann ruft bereits kurz vor Beginn von Ingrids Rede das »entsetzliche[] Rattern« eines Weckers unter der Heizung und ein »übermässige[r] Lärmstoss« der Domglocken hervor: »der zweite Schlag vom Dom dröhnte in die Aula, der Wecker rasselte immer noch. Pius war ohnehin befangen gewesen in einer Pause der Empörung, nun aber war alles ein bisschen übermässig für ihn.« (IB, 172) Aumüller vergleicht diese orchestrierende Exposition von Ingrids Rede mit dem Brausen in Apg 2,2, das die Ausgießung des

390 Ebd., S. 108. Aumüller verweist bei der Notwendigkeit zur Auslegung auf 1 Kor 14,5: »5Ich wollte, daß ihr alle mit Zungen reden könntet; aber viel mehr, daß ihr weissagtet. Denn der da weissagt, ist größer als der mit Zungen redet; es sei denn, daß er’s auch auslege, daß die Gemeinde davon gebessert werde«; vgl. ebd., S. 108, Anm. 23. 391 Ebd., S. 108. 392 Apg 4,18. 393 Apg 4,14.

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heiligen Geistes einleitet: »2Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen.«394 Als letzter Beleg für die Evidenz des Pfingstfestes für Ingrid Babendererde lässt sich ein Kalenderblatt des Jahres 1953 anführen, das in einer Materialsammlung Johnsons zum Roman im Uwe Johnson-Archiv überliefert ist. Auf dem Kalender sind vier Daten durch einen Kreis hervorgehoben: der 5./6. April 1953 sowie der 24./25. Mai 1953.395 Auf den 5./6. April 1953 fielen der Ostersonntag und -montag. Folglich handelt es sich acht Wochen später, beim 24./25. Mai 1953 nicht nur um die beiden Tage vor Einsetzen des Handlungsgeschehens in Ingrid Babendererde, sondern zudem um den Pfingstsonntag und -montag des Jahres 1953. Die Datierung des Romangeschehens auf die Woche nach Pfingsten in Verbindung mit einem Komplex von Motiven um Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung, die deutliche Parallelen zu den biblischen Ereignissen um das Pfingstwunder aufweisen, konstituieren in Johnsons Erstling einen liturgischen Diskurs.396 Auf chronologischer Ebene ist dieser Diskurs strukturbildend und läuft auf den »dramatischen Höhepunkt«397 des Romans zu: Ingrids Rede vor der Schülervollversammlung. Von den biblischen Motiven wird jedoch nicht deren religiöser Gehalt in den Roman integriert. Johnson bedient sich des moralischhumanistischen Potenzials der Pfingsterzählung und profiliert die Klasse 12 A mit ihrem geschlossenen Abstimmungsergebnis gegen den Antrag des Präsidiums als eine Gemeinschaft, die die Verfassung der DDR als eine höhere Wahrheit begreift. Eine Verfassung, die mit der in ihr verankerten Handlungs-, Meinungsund Bekenntnisfreiheit den »Geist einer Humanität«398 verkörpert. Die biblische Pfingsterzählung und der vierte Jahrestag der Annahme der Verfassung der DDR stellen somit nicht zwei sich widersprechende Deutungsansätze dafür dar, dass der Konflikt um die Junge Gemeinde in Ingrid Babendererde in der Woche nach Pfingsten entfaltet wird. Vielmehr ergänzen sich die Interpretationen und verleihen der Verfassung der DDR eine Bedeutung, die

394 Apg 2,2. Wenig plausibel erscheint es hingegen, die Windmetaphorik im gesamten Roman auf das Pfingstwunder hin zu interpretieren; vgl. Aumüller, Heilige Geist, S. 108f. Dagegen spricht insbesondere, dass sowohl Hannes als auch Ingrid, Jürgen und Klaus nicht mit dem Wind, sondern »gegenan« (IB, 43, 241f.) segeln, sodass die Windmetaphorik wie von Westphal als »Übertragung der schulischen Herausforderung auf die Freizeitsphäre« und als »Verankerung des politischen Konflikts in der landschaftlichen Umgebung« gedeutet werden kann; Westphal, Literarische Kartografie, S. 42f. 395 Kalender 1953, in: UJA Rostock, UJA/H/000234, Bl. 40. 396 Aumüller bezeichnet diesen Diskurs als »religiöse[n] Subtext«; Aumüller, Heilige Geist, S. 109. 397 Ebd., S. 107. 398 Ebd., S. 110; Kursivdruck im Original. Auf die von Aumüller diskutierte Beziehung zwischen Sozialismus und Christentum als »Ideologien der Befreiung«, die »übermenschliche Kräfte zur Realisierung ihrer Ziele« erfordern, sei an dieser Stelle nur verwiesen; ebd., S. 113.

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über die Figurenebene hinaus399 von Beginn an im Roman angelegt ist und auf den Humanismus als Grundlage menschlichen Zusammenlebens rekurriert.

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Ingrid und Klaus sehen keine Zukunft für ein Leben in der DDR, das humanistischen Prinzipien folgen kann, und fliehen folgerichtig am »Sonnabend kurze Zeit nach Mitternacht« (IB, 248)400 in das andere Deutschland, in die BRD. Verbunden ist die Übersiedlung nach Westdeutschland mit dem Verlust der Heimat, dem Mecklenburg, das »aufgehört« hat »[h]inter dem Bahnhof von Fürstenberg« (IB, 10). Innerhalb der Nachzeithandlung kommen Ingrid und Klaus vor ihren Flügen von Westberlin nach Hannover und Hamburg (vgl. IB, 201f.) bei ihrem ehemaligen Mitschüler Jochen Schmidt unter. Mitten in der Nacht wacht Ingrid auf und sieht durch eine Glastür Klaus und Jochen im Nachbarzimmer. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens beginnt Jochen, begleitet von einer Gitarre, zu singen: »Die Guitarre schrie heftig und ungeduldig hinein in das nachdenkliche und ausführliche go down. Go down: Moses! Way – down – in E-gypts lan-d. Tell – the old Pharao. Pharao? Und sehr unvermutet, beiläufig und befriedigt kam in einem Zuge das to let my people go…« (IB, 121) Jochen singt den Refrain des Spirituals Go down Moses, das aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt. Spirituals, darauf hat bereits Aumüller verwiesen, sind »religiöse Gemeinschaftsgesänge«, »religiös inspirierte Freiheitssongs«, die während der Zeit der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert vor allem in den Südstaaten der USA entstanden.401 Wilhelm Otto Deutsch zufolge ist das Grundthema der klassischen Spirituals »ihre Sehnsucht nach Freiheit« – und das auch, »wenn sie diese erst im Himmel erwarten«.402 Der Begriff ›Spiritual‹ leitet sich von der Vorstellung her, dass die Texte und Lieder unmittelbar durch den heiligen Geist inspiriert würden,403 weshalb Theo Lehmann die Predigt als den Ausgangspunkt der Spirituals 399 Explizit auf die Verfassung der DDR berufen sich Peter Beetz (vgl. IB, 142f.), Klaus (vgl. IB, 149, 225) und Jürgen (vgl. IB, 226). 400 Da die fünf Abschnitte der Nachzeithandlung vollständig kursiviert sind, wird auf den Hinweis ›Kursivdruck im Original‹ bei den Primärtextnachweisen in diesem Kapitel verzichtet. 401 Aumüller, Heilige Geist, S. 104. 402 Wilhelm Otto Deutsch: Spirituals und Gospels sind nicht dasselbe. Ein Beitrag zur Unterscheidung, in: Evangelische Kirche im Rheinland 27, 2007, S. 45–51, hier: S. 47. 403 Vgl. Theo Lehmann: Negro Spirituals. Geschichte und Theologie, Berlin 1965, S. 118.

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sieht, in der ein Bibelwort oder ein Satz musikalisch adaptiert und »auf die eigene Situation«404 übertragen werde. Deutsch betont hingegen, dass Spirituals »religiöse Folklore« seien, die zunächst nicht in Gottesdiensten, sondern vielmehr »ad hoc in den camp meetings der Schwarzen, die nicht an den offiziellen Gottesdiensten ihrer Herren und Herrinnen teilnehmen durften«,405 entstanden seien. Einig sind sich beide im metaphorischen Charakter der Songs bei der Übertragung des biblischen Stoffes auf die Gegenwart: Während die Sklaven vom Himmel sangen oder von Ägypten, vom Jordan oder von der Kutsche, die sie heimholen würde, hatten sie durchaus die doppelte Bedeutung all dieser Bilder im Blick: Der »Jordan« war der Ohio (Grenzfluss zum Norden), »Ägypten« waren die Südstaaten, »Kanaan« die Nordstaaten, und »Wade in the water« enthielt die ganz konkrete Aufforderung, bei der Flucht einen Teil des Wegs im Wasser zurückzulegen, um die verfolgenden Bluthunde zu verwirren.406

Eine solche Übertragung des Gesungenen auf die Gegenwart findet auch zwischen den Freunden statt. Klaus äußert spöttisch, »– Ihr seid ja so frei« (IB, 121), woraufhin sich eine Diskussion der beiden über unterschiedliche Auffassungen von Freiheit entwickelt, die die »ganze Nacht« (IB, 122) anhält. Ausgangspunkt dieses Freiheitsdiskurses ist mit Go down Moses ein »majestätische[r]«407 und zugleich einer der »bekanntesten«408 Spirituals, der nach dem Sklavenaufstand von 1831 aufgrund seines subversiven Charakters auf vielen Plantagen verboten war.409 Er greift die Aufforderung Gottes an Mose aus Ex 3,10 auf, beim ägyptischen Pharao die Freilassung der Israeliten zu fordern: »9Weil nun das Geschrei der Kinder Israel vor mich gekommen ist, und ich auch dazu ihre Angst gesehen habe, wie die Ägypter sie ängsten, 10so gehe nun hin, ich will dich zu Pharao senden, daß du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten führest.« Besondere Betonung liegt dabei auf dem Wunsch Gottes, der Pharao möge sein Volk gehen lassen: »Let my people go.«410 Ganze fünfzehn Mal wird der Imperativ aus Ex 5,1411 im Spiritual wiederholt. Den Wunsch nach Freiheit aktualisiert Jochen mithilfe des Spirituals auf die Situation in der stalinistischen DDR, in der die Bürger in ihrer Freiheit massiv eingeschränkt werden. Sein Ägypten, die DDR, hat er bereits vor zwei Jahren 404 405 406 407 408 409 410 411

Ebd., S. 114. Deutsch, Spirituals und Gospels, S. 48; Kursivdruck im Original. Ebd. Lehmann, Negro Spirituals, S. 174. Deutsch, Spirituals und Gospels, S. 47. Vgl. ebd., S. 48. Der vollständige Text ist u. a. abgedruckt bei Lehmann, Negro Spirituals, S. 174f. »1Darnach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zu Pharao: So sagt der Herr, der Gott Israels: Laß mein Volk ziehen, daß mir’s ein Fest halte in der Wüste«; Hervorhebung P. O.

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verlassen und lebt seitdem im für ihn Gelobten Land. Auf Klaus’ Provokation hin unterstreicht er: »– Aber das passt mir eben!« (IB, 122) Dennoch ist die BRD, das zeigt die Diskussion der beiden, nicht per se das Gelobte Land, sondern kann es nur für den Einzelnen sein. Für Klaus stellt das kapitalistische Westdeutschland keine Alternative zum sozialistischen Ostdeutschland dar, weil dessen scheinbare Freiheit »seit Jahrhunderten eingeübt und überliefert« sei; »er merke gar nicht mehr was daran sei« (IB, 122). Stattdessen hält er am Sozialismus, nicht jedoch am real existierenden Stalinismus in der DDR, fest: »Seine (Klausens) frühere Freiheit sei eben jünger und knirsche also noch in ihren Gelenken. Jedoch sie werde nicht wiederholen was Jochens in den bürgerlichen Jahrhunderten falsch gemacht habe.« (IB, 122) Klaus folgt der marxistischen Argumentation, die Marx und Engels bereits in ihrer frühen Schrift wider Die Heilige Familie entfalteten. Demnach evoziere die Individualität in der bürgerlichen Gesellschaft lediglich den Schein von Freiheit, denn sie bedeute vielmehr einen »Krieg aller nur mehr durch ihre Individualität voneinander abgeschlossenen Individuen gegeneinander und die allgemeine zügellose Bewegung der aus den Fesseln der Privilegien befreiten elementarischen Lebensmächte«.412 Die Folge dieses Zustands sei nicht Freiheit, sondern die »vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit«.413 In der Einleitung Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie bezeichnet Marx die bürgerliche Gesellschaft als »Klasse mit radikalen Ketten«, an der »das Unrecht schlechthin« verübt werde, sodass sie den »völlige[n] Verlust des Menschen« bedeute.414 Ein Sinnbild dieser unbemerkten Unfreiheit sind im Roman die Bären im Zoologischen Garten, die von den Besuchern mit Zucker zum Betteln konditioniert werden, um am Ende doch »geschmeichelt« (IB, 67) zu sein. Klaus quittiert das unbedarfte Verhalten des jungen Bären gegenüber Ingrid mit den Worten »[d]as lernt sich« (IB, 67) und spielt damit auf die neue Situation, die neue Rolle der beiden im kapitalistischen Teil Deutschlands an. Ob das neue Leben zu einem »Martyrium im konsumorientierten Westen«415 wird, darüber gibt der Roman keinen Aufschluss. Vom gelobten Land aber kann Klaus auch nicht singen. Stattdessen stimmt er einen Spiritual an, der vom aufrichtigen Glauben an Gott zeugt: »nobody knows: nobody knows. But Jesus. […] glory. Glory allelujah, allelujah. Allelujah.« (IB, 122) In Nobody knows de trouble I see ist

412 Friedrich Engels/Karl Marx: Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: dies.: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 2: September 1844–Februar 1846, 2. Aufl., Berlin 1958, S. 3–223, hier: S. 123; Kursivdruck im Original. 413 Ebd. 414 Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie, S. 181f.; Kursivdruck im Original. 415 Aumüller, Heilige Geist, S. 104.

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das Lob Gottes nicht nur ein »Lippenbekenntnis«,416 sondern wird mit den Tiefpunkten des menschlichen Daseins, dem erlebten Leid, in Verbindung gebracht. Der Glaube zu Gott ist erst dann »echt«, wenn »das Gotteskind mit dem Leid fertig wird« und sich auch dann »nicht von Gott verlassen« fühlt.417 Dieser Gehalt des Spirituals lässt sich auf Klaus’ Verhältnis zum Sozialismus übertragen: Die Flucht aus der DDR ist ein einschneidendes Ereignis für den Schüler, ein Knick in seinem noch jungen Leben. Trotzdem versagt er dem Sozialismus und dessen Idee von Freiheit nicht seine Treue. Die Spirituals mit ihren biblischen Intertexten stiften einen freiheitlichen Diskurs in der Nachzeithandlung von Ingrid Babendererde und dienen als religiöse Parabeln für die unterschiedlichen Positionen von Jochen und Klaus, die im Kern aber dieselbe Vorstellung eint: der Wunsch nach Freiheit. Hiervon zeugt, dass nicht nur Jochen, sondern auch Klaus sich eines Spirituals bedient, um seine politische Ansicht zum Ausdruck zu bringen. Die Worte des Erzählers legen die Deutung nahe, dass Klaus in der Schlussszene singt, während Jochen ihn mit der Gitarre begleitet.418 Dieses Zusammenspiel symbolisiert, obwohl sich die beiden über den Weg noch uneinig sind, das Bekenntnis zur Freiheit als das zentrale Bürgerrecht. Interessant ist darüber hinaus Aumüllers Beobachtung, dass beide Spirituals in Beziehung zum Pfingstfest stehen: Wie Nobody Knows (nach Plessner) mit dem Empfangen des Heiligen Geistes verbunden ist, so ist auch Go Down damit, jedenfalls indirekt, verknüpft. Der Tag des Auszuges aus Ägypten, auf den das Lied anspielt, wird mit einem jüdischen Wochenfest gefeiert, aus dem das christliche Pfingstfest hervorgeht, und ist mit der Gesetzgebung am Sinai verbunden.419

Diese Beobachtung zeugt vor allem von einer Verknüpfung der einzelnen durch biblische Intertexte erweiterten und gestifteten Diskurse, wie sie zuvor bereits beobachtet werden konnte. Biblische Intertexte treten nicht singulär und isoliert auf, sondern sind untereinander verknüpft und konstitutiver Teil der diskursiven Formationen in Johnsons Erstling. Die Folge dieser Verbindungen ist ein diskursives Netz biblischer Intertexte, in dem neben dem politisch-kirchlichen dem freiheitlichen Diskurs eine Rahmenfunktion zukommt.

416 417 418 419

Lehmann, Negro Spirituals, S. 262. Ebd., S. 261f. Vgl. IB, 122: »sang Klaus in vorsichtiger Höhe zu zirpenden Saiten«. Aumüller, Heilige Geist, S. 104.

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In seinem Erstling Ingrid Babendererde führt Johnson am Exempel einer mecklenburgischen Kleinstadt vor, wie die politisch-ideologische Repression in der stalinistischen DDR zur sukzessiven Durchdringung beinahe aller Lebensbereiche führt; angefangen bei der Sprache über die Schule bis hin zur Religion und Freizeit der Bürger. Die Politik fungiert, einem Religionsersatz ähnlich, als eine Art Metaebene, von der aus die Durchdringung zum Zwecke der ideologischen Erziehung und Kontrolle erfolgt. Im Bereich der Schule ist dieser Prozess zu Romanbeginn bereits abgeschlossen, was insbesondere an den ›bürgerlichen‹ Lehrern deutlich wird, die sich trotz ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Politisierung des Schulstoffes den staatlichen Vorgaben beugen. Folgerichtig verläuft die Grenze innerhalb der Schule nicht zwischen Schülern und Lehrern, wie dies im Schulroman klassischerweise der Fall ist, sondern zwischen politisch konformen sowie politisch nonkonformen Schülern und Lehrern. Die Staatsmacht dringt mit Beginn des Romans zunehmend in den freizeitlichen Bereich ein, der mit den zur Idylle stilisierten Naturbeschreibungen und dem Segeln der Freunde auf dem Oberen und Unteren See der Schule entgegengestellt scheint. Sei es die Parteisitzung Jürgens am Mittwochabend, die Diskussion der Figuren über das staatliche Vorgehen an den schulfreien Nachmittagen oder jener StasiBeamte, der Ingrid am Freitagvormittag durch die Kleinstadt verfolgt; in all diesen Fällen wird die scheinbare Idylle gebrochen. Eine Intervention der Schüler bleibt solange aus, bis die Staatsvertreter beginnen, die Persönlichkeitsrechte von Freunden und Schulkameraden massiv einzuschränken. Insofern setzt das staatliche Vorgehen gegen die Junge Gemeinde eine Reaktion in Gang, in der die drei Freunde, aber auch weitere Schüler wie Peter Beetz und Jochen Schmidt, untereinander und mit den Vertretern der Staatsmacht über das Verhältnis von Persönlichkeitsrechten und Staatsräson verhandeln. Von zentraler Bedeutung für diesen Prozess, der sich über das gesamte Romangeschehen erstreckt, sind biblische Einzeltext- und Systemreferenzen, die etwa in der Nachzeithandlung durch die Integration zweier Spirituals einen Freiheitsdiskurs stiften. Dieser Freiheitsdiskurs steht dem politisch-kirchengeschichtlichen Rahmendiskurs gegenüber und bildet selbst einen Rahmen für die Romanhandlung. Innerhalb dieses Spannungsfeldes zwischen staatlicher Repression und der Freiheit des Einzelnen, lassen sich weitere Diskurse subsumieren, die durch biblische Intertexte konstituiert oder erweitert werden. Mit den zwei von Jürgen und Direktor Siebmann vorgebrachten Anspielungen auf die Stuttgarter Erklärung und die Stellung Luthers zum deutschen Bauernkrieg wird ein kirchengeschichtlicher Diskurs in den Roman integriert, durch den das historische Selbstverständnis der jungen DDR infrage gestellt wird. Von besonderer Relevanz ist der sprachliche Diskurs des Romans, weil er Auswirkungen auf die Figuren- und die Erzähler-

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ebene hat. Die Figuren und der Erzähler verhalten sich dabei auf ganz unterschiedliche Weise zur staatlich indoktrinierten und bedeutungsentleerten Sprache, die am Beispiel des Direktors Siebmann vorgeführt und parodiert wird. Während sich die drei Freunde des Mittels der uneigentlichen Rede bedienen, verwendet der Erzähler eine polyphone Kunstsprache, mit der er der Maßgabe ethischen Erzählens entspricht. Die zeitliche Verortung auf die Woche nach Pfingsten und verschiedene in den Roman integrierte Motive der biblischen Pfingsterzählung stiften einen liturgischen Diskurs, für den das moralisch-humanistische Potenzial des in der Apostelgeschichte geschilderten Wunders genutzt wird, um die Klasse 12 A als Gemeinschaft im Sinne der in der Verfassung verbürgten Freiheitsrechte und Ingrid als moralische Lichtgestalt hervortreten zu lassen. Die Bezugnahmen auf die Bibel erfolgen pointiert und meist implizit oder sogar sekundär. Eine direkte Einzeltextreferenz wie das Zitat aus Mt 5,44 (vgl. IB, 91) mit einer hohen intertextuellen Intensität bildet die Ausnahme und ist auch an dieser Stelle über den Schaukasten der Jungen Gemeinde medial vermittelt. Geflügelte Bibelworte wie »Im Schweiße deines Angesichts« aus Gen 3,19 oder »bewegte alle diese Worte in ihrem Herzen« aus Lk 2,19 sind ohne Markierung in die Erzählerrede integriert und werden auf die Romanfiguren übertragen. Die Trias »Glaube, Hoffnung, Liebe« aus 1 Kor 13,13 wird in ihrer Übertragung auf Jürgen gar negiert und zu ›Hoffnung, Liebe, Zuversicht‹ modifiziert. Markierte Intertexte finden sich lediglich an zwei Stellen im Roman: durch Anführungszeichen, typografische Hervorhebung und Kontextualisierung des Zitates aus Mt 5,44 sowie durch den Hinweis, die Bibel verbiete das Theater (vgl. IB, 79) – wobei sich die zweite Markierung bei näherer Betrachtung als ironische Fehlinformation erweist. Neben ausgewählten Einzeltextreferenzen verwendet der Erzähler eine Reihe biblischer Systemreferenzen in Syntax und Lexik, die zur Konstitution einer Kunstsprache beitragen und einen Bibelton erzeugen. Funktional tragen die Bibelreferenzen nicht zu einer Sakralisierung des Erzählten bei; der Bibelton wird nicht zum Sakralton. Die biblischen Intertexte funktionieren in Ingrid Babendererde als Signalvokabeln, Parabeln, referenzielle Folien oder Brechungen. Die pointierten Anspielungen mithilfe von Signalvokabeln eröffnen (Teil-)Diskurse, die von Vertretern der Staatsdoktrin hervorgebracht, die politische Funktionalisierung bestehender Diskurse vorführen. Aufgrund des geringen Grads an Referentialität der Signalvokabeln kann der Deutungshorizont der Diskurse nur mit einem entsprechenden Hintergrundwissen oder durch Hinzuziehung zusätzlicher Informationsquellen erschlossen werden. Einen höheren Grad an Referentialität weisen die von den drei Freunden verwendeten Parabeln auf, die primär dazu dienen, Kritik an den politischen Bedingungen im Mai 1953 zu äußern, vereinzelt aber auch, wie im Falle von Ingrid,

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konkrete Forderungen zu stellen. In ihrer Funktion den Signalvokabeln gegenüber stehen referenzielle Folien, die über einen höheren Grad an Referentialität verfügen und im Roman vor allem als ethisch-moralische Folie zum Verhalten gegenüber der staatlichen Repression und Funktionalisierung fungieren. Allen voran sind hier die in den Roman integrierten Motive der biblischen Pfingsterzählung, die Herzenssymbolik und die Bezugnahmen auf ausgewählte Spirituals zu nennen. Im Gegensatz zu diesen drei Formen biblischer Intertexte, die auf der Handlungsebene Diskurse stiften, rufen lexikalische und syntaktische Systemreferenzen auf die Heilige Schrift Brechungen auf der Textoberfläche hervor, mit denen Pausen erzeugt und Räume für Inhalte geöffnet werden, die der Erzähler als Gegengewicht zur staatlich oktroyierten Doktrin betont wissen möchte. Ausgehend von diesen Analyseergebnissen für Johnsons Erstling können bei der nun folgenden Betrachtung zu Johnsons erstveröffentlichtem Roman Mutmassungen über Jakob, in dem der Freiheitsdiskurs von mindestens ebenso großer Bedeutung ist wie in Ingrid Babendererde, Vergleiche hinsichtlich der Verwendung und Funktion biblischer Intertexte gezogen werden.

2.

Mutmassungen über Jakob

Knapp dreißig Jahre nach der Ablehnung seines Manuskripts Ingrid Babendererde durch den Suhrkamp Verlag bilanzierte Johnson in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen: »Die Veröffentlichung der ersten Arbeit ist gescheitert. Negativ. Positiv: Die Chance, anzufangen mit einer anderen Veröffentlichung als dieser.« (BU, 99) Ob irrtümlich oder bewusst verschwieg er seinen Zuhörern und späteren Lesern, dass er zum Zeitpunkt der Absage durch Peter Suhrkamp im Juli 1957 bereits seit einigen Monaten an einem neuen Roman arbeitete. Seinem Hochschullehrer Hans Mayer gegenüber erwähnte er im November 1956, sich »um die Vorbereitungen eines Buches über die erhebliche Verschrägung von Rauch durch Wind und Regen«1 zu bemühen. Nachdem Johnson das Manuskript seines zweiten Romans im März 1959 beim Suhrkamp Verlag einreichte, riet der Lektor Walter Maria Guggenheimer in seinem Gutachten: »in summa: auf diesen autor würde ich haushoch setzen. ich kenne kein vergleichbares erzähl- und sprachtalent bei uns, auch arno schmidt nicht, er ist viel solider und – ›haltbarer‹.«2 Guggenheimer sollte mit seinem Urteil recht behalten. Die Veröffentlichung der Mutmassungen über Jakob im Herbst 1959 wurde von der Kritik begeistert aufgenommen, dem 25-jährigen Johnson gelang mit seinem erstveröffentlichten Roman, den er noch als Bürger der DDR verfasste, sogleich der Durchbruch als Autor in der BRD.3 Gemeinsam mit Günter Grass’ Die Blech1 Uwe Johnson an Hans Mayer, 1. 11. 1956, zitiert nach »Die Katze Erinnerung«, S. 63. 2 Walter Maria Guggenheimer: bericht guggenheimer. über uwe johnsons neuen roman, zitiert nach Kommentar, in: Uwe Johnson: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 2: Mutmassungen über Jakob, hg. von Astrid Köhler u. a., Berlin 2017, S. 247–431, hier: S. 275. 3 Noch im Dezember 1959 wurde Johnson ein Stipendium für einen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom zugesprochen, im März 1960 nahm er die Auszeichnung des Fontane-Preises (Berliner Kunstpreis) entgegen und im November desselben Jahres war Johnson Teilnehmer der Gruppe 47 auf deren Tagung im bayerischen Aschaffenburg; vgl. Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. Leben – Werk – Wirkung, Frankfurt am Main 2010, S. 28; Helmut Böttiger: »Dämonisch-interessant-langweiliges mutmaßliches Schweigen«. Uwe Johnson und die Gruppe 47, in: Johnson-Jahrbuch 23, 2016, S. 81–97, bes. S. 81–84.

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trommel und Heinrich Bölls Billard um halbzehn waren es Johnsons Mutmassungen über Jakob, durch die das Jahr 1959 als das Annus mirabilis in die deutsche Literaturgeschichtsschreibung einging.4 Das Lob der Kritiker zielte insbesondere auf den »[m]odernen Erzählstil mit allen seinen Konsequenzen«5 sowie die Sprache, »in der epische, essayistische und lyrische Impulse einander abwechseln oder durchkreuzen«.6 Enzensberger verstand Johnsons Schreibweise, »die in unserer Literatur einzigartig und fremd ist«, als »durchaus protestantisch, karg, bis zum Humorlosen streng und ernst, ja feierlich bis in den biblischen Tonfall«.7 Enzensbergers Beobachtung wird in der Johnson-Forschung bisweilen aufgegriffen, wenn der »biblische Tonfall«,8 »biblische Ausdrucksformen«,9 »biblische[] Metaphorik«10 oder der »Duktus der Bibel«11 erwähnt werden. Ansätze einer systematischen Analyse dieses Sprachregisters finden sich in Kolbs bereits erwähnter Studie zum Rückfall in die Parataxe.12 Die bislang erschienenen Analysen zu biblischen Intertexten in den Mutmassungen über Jakob sind in erster Linie durch einen Zugang geprägt, der im Titel einer Rezension des Romans im Time magazine anklingt: »Wrestling with the Angel«.13 Bevor Elisabeth K. Paefgen das Motiv des Kampfes zwischen

4 Vgl. hierzu Günter Häntzschel/Sven Hanuschek/Ulrike Leuschner (Hg.): Treibhaus 5. Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, München 2009. Darin enthalten ist ein Beitrag Greg Bonds zu den Mutmassungen über Jakob; Greg Bond: »Die Grossen des Landes warfen ein Auge auf Jakob«. Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, in: ebd., S. 144–159. 5 Günter Blöcker: Roman der beiden Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 253 vom 31. Oktober 1959, Bilder und Zeiten, S. V, abgedruckt in Raimund Fellinger (Hg.): Über Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1992, S. 47–50, hier: S. 47. Konkret benennt Blöcker die »gebrochene[] Kontinuität, einander überlagernde[] Gleichzeitigkeiten, blockartige[s] Nebeneinander der Dinge ohne Motivverknüpfung, Verzicht auf psychologische Geradlinigkeit«; ebd. 6 Jürgen Becker: »Mutmassungen über Jakob«. Über den gleichnamigen Roman von Uwe Johnson, Radiobeitrag der Deutschen Welle am 6. 9. 1960, zitiert nach Fellinger (Hg.), Über Uwe Johnson, S. 51–54, hier: S. 54. 7 Hans Magnus Enzensberger: Die große Ausnahme, in: Frankfurter Hefte 14, 1959, S. 910–912, hier: S. 911f. 8 Bernd Neumann: Utopie und Mimesis. Zum Verhältnis von Ästhetik, Gesellschaftsphilosophie und Politik in den Romanen Uwe Johnsons, Kronberg i. Ts. 1978, S. 33. 9 Hinton R. Thomas/Wilfried van der Will: Der deutsche Roman und die Wohlstandsgesellschaft, aus dem Englischen übers. von Hansheinz Werner, Stuttgart 1969, S. 133. 10 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 125. 11 Kommentar, S. 304. 12 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3. 13 Wrestling with the Angel, in: Time, Nr. 15 vom 12. April 1963, S. 76. Anders als bei Paefgen und anders als der Titel vermuten lässt, wird die Parallele aber nicht über den Kampf, sondern die Namensgebung durch den Engel/Gott hergestellt: »The Biblical Jacob who wrestled with an angel was trying to learn his name – in the belief that knowing something’s name gives a man power over it. When a traditional writer tells exactly what motive a character has, he offers the reader the belief of a label that allows him to put aside his questions about the character and

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Jakob und dem Engel am Jabbok für eine allegorische Interpretation der Begegnung zwischen Jakob und Rohlfs im Elbehotel nutzte, verfasste Werner Joachim Radke in den 1960er Jahren eine Dissertation, in der die Mutmassungen über Jakob als ein »symbolischer Roman«14 interpretiert werden. Radke stellt darin die These auf, die Figuren Heinrich Cresspahl, Jakob Abs und Jonas Blach seien »Deckfiguren zur dreieinigen Gottheit des christlichen Dogmas«.15 Einige von Radkes Beobachtungen werden in der vorliegenden Untersuchung an den entsprechenden Stellen für die Interpretation hinzugezogen. Grundsätzlich leidet die Studie aber unter ihrem produktionsästhetischen Zugang, in dem die Grenzen zwischen Figur und Autor, Text und Intention vollständig verschwimmen,16 und dem systematischen Bemühen, den Roman allegorisch zu deuten. Ausgehend von der Hypothese, Jakob sei ein Deckbild Jesu Christi,17 unterzieht Radke nahezu alle Figuren und Gegenstände in den Mutmassungen über Jakob einer allegorischen Auslegung hinsichtlich der Schriften des Alten und Neuen Testaments.18 Im Bestreben, nicht »an der Oberfläche der gegenständlichen Schicht verhaftet [zu] bleiben«,19 zwängt Radke den Romangegenstand in ein biblisch-gnostisches Interpretationskorsett. Hinter der Figur des Fahrers, der Jakob nach der Verabredung mit Rohlfs zum Schweigen sowie zum Treffen im Elbehotel zurückfährt (vgl. MJ, 47), verberge sich der Jünger Judas Ischariot. Die Bar Melodie rekurriere auf das biblische Bethania, sodass es sich bei »Tabak und belegte[n] Brötchen« (MJ, 47), die Jakob in der Bar erwirbt, um ironische Metaphern für Teilwahrheiten handele usw.20 Noch stärker überinterpretiert wirken Radkes zahlenmystische Auslegungen: Einmal verweise die Zahl ›Zwanzig‹ auf Mt 27,20, ein anderes Mal auf Joh 20,20 und ein drittes Mal wiederum auf Mt 21,20.21 Diese interpretatorische Willkür überzeugt ebenso wenig wie die mathematische Herleitung einer Verbindung zwischen Cresspahl und dem biblischen Abraham sowie Polykarp von Smyrna über deren Alters-

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consider the subjekt – and the story – closed. By refusing to do this, Uwe Johnson makes the matter of Jakob’s life a matter for continuing speculation«; ebd. Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 662. Ebd., S. 658. Vgl. ebd., S. 161: »Doch eine gewisse Korrelation der einzelnen von Johnson aufgeführten Dinge zu den Dingen, die in den beiden Kapiteln nach Jesu Auferstehung genannt werden, scheint vorhanden zu sein, zumal der Dichter selbst ein paar Seiten vorher das Problem aufwirft, dass die Dinge nicht immer das sind, wofür sie gehalten werden«. Vgl. ebd., S. 56. Beinahe ironisch klingt es, wenn Radke bemerkt bzw. bemerken muss: »Andererseits müssen wir zugeben, dass wohl nicht für alles von Johnson Erdichtete eine Entsprechung zur Bibel vorliegen mag«; ebd., S. 107. Ebd. Vgl. ebd., S. 94–98. Vgl. ebd., S. 137f., 198, 559.

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angaben.22 Folgerichtig findet Radkes Dissertationsschrift bis heute in der Johnson-Forschung im Grunde keine Beachtung. Das wird sich auch in der vorliegenden Arbeit nicht grundlegend ändern. Einzelne Überlegungen Radkes sind von Klaus J. Fickert und Paefgen sowie Klaus-Dieter Kaiser aufgegriffen worden. Fickert beschränkt sich in seinem kurzen Beitrag zu Biblical Symbolism in Mutmaßungen über Jakob23 vorwiegend auf onomastische Überlegungen zu den Figuren Jakob Abs und Jonas Blach, Heinrich, Lisbeth und Gesine Cresspahl. Abschließend stellt er erste Überlegungen zur Funktion biblischer Anspielungen in Johnsons erstveröffentlichtem Roman an. Aufgegriffen wurden Fickerts onomastische Betrachtungen von Neumann, der über eine mögiche Systemreferenz zwischen den Mutmassungen über Jakob und William Faulkners Absalom, Absalom! eine Verbindung der Figur Jakob Abs zum biblischen »Patriarchen Jakob« und zum »Aufrührer Absalom«24 herstellt: »wie Thomas Sutpen und Charles Bon Aufstieg und Fall des Old South verkörpern, inkarnieren sich in Jakob Abs die Hoffnungen und Probleme einer bestimmten Entwicklungsetappe der DDR«.25 Zum Aufrührer werde Jakob, weil sich in ihm der »authentische[], weil basisdemokratische[] Sozialismus gerade in der täglichen Arbeitspraxis« verwirkliche, sodass in ihm die »marxistische[] Kritik an den Herrschaftsformen im ›real bestehenden Sozialismus‹ in der DDR von 1956« verarbeitet sei.26 Einer Verbindung zwischen Jakob Abs und dem biblischen Jakob geht auch Paefgen nach. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Annahme, dass ein Name nicht »neutral, […] unschuldig gebraucht werden« könne: »Wenn der Name Jakob gewählt wird, werden diese Traditionen mit aufgerufen«.27 Trotz 22 Vgl. ebd., S. 517–519; Hervorhebung im Original unterstrichen: »Cresspahl wird uns zu Anfang des Romans zu Beginn zweier Paragraphen zweimal als 68-Jähriger beschrieben. […] Was hätte aber die seit ›18‹ Jahren tote Frau [= Lisbeth Cresspahl; P. O.] mit Cresspahls Verlangen nach seinem Kinde zu tun? Stellen wir die Zahl 68 um, so erhalten wir 86, wie auch seltsamerweise 68 + 18 = 86 ergibt. Wir wissen aber, dass Abram 86 Jahre war, als ihm von seiner Magd ein Sohn geboren wurde, da seine Frau der eigenen Kinder ›entbehrte‹. […] Weiterhin scheint merkwürdigerweise der 68-jährige Cresspahl ebenfalls Züge des legendären 86-jährigen (!) Polykarp aufzuweisen, der ›Lehrer Asiens, des Vaters der Christen‹«. 23 Klaus J. Fickert: Biblical Symbolism in Mutmaßungen über Jakob, in: German Quarterly 1, 1981, S. 59–62. 24 Bernd Neumann: Utopie und Mythos. Über Uwe Johnsons: Mutmaßungen über Jakob, in: Rainer Gerlach/Matthias Richter (Hg.): Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1984, S. 105–139, hier: S. 126. 25 Neumann, Utopie und Mimesis, S. 27. 26 Ebd., S. 35f. 27 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 81. In den Gesprächen mit Schwarz im Jahr 1969 erteilt Johnson einer solchen Herangehensweise eine Absage: »Wo kämen wir hin, wenn wir zur Erklärung jeder literarischen Gestalt die Geschichte seiner Vorgänger heranziehen würden«; Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. Gleichwohl gibt Johnson zehn Jahre zuvor in einem Brief an Adelheid Caspar zu: »Es ist mir aber bewusst

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»bestechend[er]« Unterschiede beider Figuren erkennt Paefgen eine Parallele zwischen Jakob Abs’ Duell mit Rohlfs im Elbehotel und dem biblischen Kampf am Jabbok zwischen Jakob und Gott. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit ihrer Interpretation erfolgt an späterer Stelle. Nur so viel sei an dieser Stelle gesagt: Paefgens These, mit dem biblischen Intertext werde »eine Zeitüberschreitung bzw. Zeitlosigkeit in die Romanhandlung« integriert, sodass Konfliktund Machtkonstellationen angesprochen werden, die »unabhängig von vergleichbaren historischen Festlegungen« sind, vermag nur bedingt zu überzeugen.28 Offen bleibt die Frage, warum ausgerechnet der biblische Jakob in den Mutmassungen über Jakob als intertextuelle Vorlage für den ostdeutschen Eisenbahner fungiert. Auf diese Problematik geht auch Klaus-Dieter Kaiser nicht ein, der Paefgens Gedankengänge für ein theologisch interessiertes Publikum reproduziert hat.29 Neben diesen umfangreicheren Analysen zu biblischen Intertexten findet sich, wie bereits eingangs erwähnt, der wiederholte Hinweis auf den biblischen Tonfall in den Mutmassungen über Jakob. Klaus etwa kündigt in ihrer Dissertation an, dass die »travestierende und parodierende Anwendung biblischer Metaphorik« verdiene, »ausführlicher erwähnt zu werden«.30 Dabei beobachtet sie neben einer subversiv-parodierenden ebenfalls eine affirmative Verwendung biblischer Metaphorik. Von weitaus größerer Bedeutung ist ihre These, dass eine Interpretation des Romans, die sich auf dessen biblischen Tonfall beschränke, »hoffnungslos verkürzt« ausfallen würde, weil dieser Tonfall »nur ein Register in der polyphonen Vielfalt der Mutmassungen« sei: Auch wenn die Namen Jakob und Jonas zusätzlich zu einer solchen Deutung verführen mögen, ist dahinter ebenfalls eher nur ein Spiel mit Bedeutungsmöglichkeiten zu vermuten, das Offenheit, freien Raum und Vielfalt garantiert und einer monologischen, in diesem Fall ›biblischen‹ Interpretation gerade entgegensteht […].31

Als Gewährsmann führt Klaus Johnson an, der im Gespräch mit Schwarz äußerte: Es gibt so viele Jerichows in Sachsen, der Name braucht gar nicht mit biblischen Assoziationen verbunden zu sein. Jonas hätte allerdings anders heißen müssen; ich gebe zu, daß es ein zu hohes Angebot an biblischen Namen ist. Diesen Namen eine biblische

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gewesen, dass die Geschichte eines Namens in ihm enthalten bleibt und als Gefühlswelt zumindest auf seinen gegenwärtigen Träger übergeht«; Uwe Johnson an Adelheid Caspar, 23. 11. 1959, zitiert nach Kommentar, S. 345. Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 93. Vgl. Klaus-Dieter Kaiser: Mutmaßungen über Jakob. Eine biblische Besinnung zu 1. Mose 32,23–30 mit Bezug auf den Roman von Uwe Johnson, in: Hans-Christoph Goßmann/Joachim Liß-Walther (Hg.): Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts, Nordhausen 2015, S. 236–243. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 125. Ebd., S. 126.

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Sinndeutung zu geben, kann nicht funktionieren, weil es nicht so gemeint ist. Bei Jonas Blach habe ich sicherlich nicht an eine biblische Beziehung gedacht.32

Unabhängig von den Zweifeln am Wahrheitsgehalt dieser Aussage33 stellt die Intention des Autors kein Argument dar, das sich gegen eine Textinterpretation vorbringen lässt. Durch die Analyse von Ingrid Babendererde konnte ferner gezeigt werden, dass es für die Romaninterpretation lohnend sein kann, nur ein sprachliches Register, konkret den Bibelton, einer systematischen Analyse zu unterziehen. Der Kritik von Klaus wird in der nun folgenden Analyse biblischer Einzeltext- und Systemreferenzen in den Mutmassungen über Jakob dadurch Rechnung getragen, dass die Analyse- und Interpretationsergebnisse in den Romanzusammenhang eingeordnet werden. Obwohl für die Mutmassungen über Jakob eine veröffentlichte Fassung vorliegt, die im Unterschied zum Erstling Ingrid Babendererde vom Autor autorisiert wurde, werden die im Uwe Johnson-Archiv befindlichen Textstufen des Romans bei der Textanalyse berücksichtigt. Das Ziel dieses Vorgehens besteht darin, mithilfe der Textgenese mögliche Entwicklungen der durch biblische Intertexte erweiterten und konstituierten Diskurse nachverfolgen zu können. Von den Textstufen ist hierfür insbesondere die erste überlieferte Fassung von Interesse, die Johnson zwischen dem 6. Februar und 4. Dezember 1958 überwiegend in Leipzig erarbeitete.34 Sie weist umfangreiche Eingriffe inhaltlicher und formaler Natur auf, die in der zweiten Fassung weitgehend umgesetzt wurden. Angefertigt wurde die zweite undatierte Fassung vermutlich zwischen Dezember 1958 und März 1959 als Reinschrift für den Suhrkamp Verlag und diente im Verlag der Markierung von Johnsons komplexem Leerzeilensystem.35 Im Uwe Johnson-Archiv befinden sich darüber hinaus eine Korrekturfahne, die Johnson voraussichtlich im Juli 1959 erhielt, und ein Umbruch bzw. vorläufiger Aushänger des Romans.36 Nicht überliefert sind ein Umbruch, den Johnson im August 1959 an den Suhrkamp Verlag sandte,37 und mindestens ein Typoskript, 32 Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. 33 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.3. 34 Uwe Johnson: [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob], 1. Fassung, 6.2.–4. 12. 1958, in: UJA Rostock, UJA/H/000350, Mappe 2–6. Vgl. hierzu Kommentar, S. 266–270. 35 Uwe Johnson: [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob], 2. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/000351, Mappe 7, Bl. 20–Mappe 13, Bl. 70. Vgl. hierzu Kommentar, S. 270–272, 289. Cornelia Bögel spricht aufgrund der Markierungen vom »sogenannten ›Leerzeilen-Typoskript‹«; Cornelia Bögel: Der digitale Jakob. Auf dem Weg vom Typoskript zur multimedialen Edition – ein Werkstattbericht, in: Johnson-Jahrbuch 22, 2015, S. 45–56, hier: S. 47. 36 Vgl. Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob, Druckfahne, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/ 002727, UJA/H/002728, Mappe 1–4; ders.: Mutmassungen über Jakob, Umbruch, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/000353, Mappe 14, Bl. 13–Mappe 16, Bl. 26. Vgl. hierzu Kommentar, S. 289–292. 37 Vgl. Kommentar, S. 293.

Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz«

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an dem Johnson bereits 1957 arbeitete und in dem die Handlung noch der Chronologie entsprechend erzählt wird.38 Die mit der Umarbeitung der chronologischen Fassung einhergehende Installation dreier Erzählmodi39 ermöglicht eine klare Zuordnung biblischer Intertexte zur Erzähler- oder den Figurenstimmen. Diese Bezugnahmen auf die Heilige Schrift stiften, wie in Johnsons Erstling vorgeführt werden konnte, ganz verschiedene Diskurse. Für die Mutmassungen über Jakob sind dies der politischgesellschaftliche (Rahmen-)Diskurs des Romans, der mnemologische, kirchengeschichtliche und sprachliche Diskurs. Ehe diese analysiert werden, stehen Betrachtungen zum religiösen Diskurs im Roman voran.

2.1

Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz«

Im Gegensatz zu Johnsons Erstling Ingrid Babendererde, in dem der religiöse Diskurs von der politischen Konfrontation zwischen Kirche und Staat dominiert wird, spielen die Themen ›Kirche‹ und ›Religion‹ in den Mutmassungen über Jakob praktisch keine Rolle. Die Protagonisten Jakob Abs, Gesine Cresspahl, Jonas Blach und Herr Rohlfs werden durch keinerlei religiöse Bindungen charakterisiert. Die Figuren Jonas wird als Nachwuchswissenschaftler der Anglistik an der Humboldt-Universität zu Berlin vorgestellt. Aus seinen Akten erfährt Rohlfs, dass Jonas »[s]echsundzwanzig Jahre, von Beruf Sprachwissenschaftler, promoviert« ist, über seine Eltern weiß er lediglich zu berichten: »Vater Buchhalter Mutter ohne Beruf.« (MJ, 96)40 Anders verhält es sich bei Gesine, über deren Vater Heinrich Cresspahl 38 Im Interview mit Arnhelm Neusüss im September 1961 erwähnt Johnson eine Textstufe, in der er »ungefähr ein Viertel chronologisch geschrieben [habe], ohne da irgendwelche Gespräche oder Monologe dazwischen zu schieben«; Neusüss, Gespräch mit Uwe Johnson, S. 185. Da sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren lässt, ob es sich bei dieser von Johnson angesprochenen Textstufe um eine eigenständige Fassung oder lediglich um Vorarbeiten handelt, beginnt die Zählung der Textstufen im Gegensatz zu Ingrid Babendererde erst mit der ersten überlieferten Fassung. 39 Der Begriff ›Erzählmodi‹ lehnt sich an die in dieser Arbeit übernommene Terminologie Katja Leuchtenbergers an; vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 76. Johnson spricht hingegen von »Manieren des Erzählens«; Michael Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 20. 8. 1961 in New York), in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 171–183, hier: S. 177. 40 Sofern der Kursivdruck in Textstellen der Mutmassungen über Jakob unkommentiert bleibt, handelt es sich um Kursivierungen im Original, die durch Johnson als Hervorhebung des monologischen Erzählmodus vorgenommen wurden; vgl. etwa Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 102.

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Mutmassungen über Jakob

ebenfalls Rohlfs informiert, dass er »nicht in die Kirche« (MJ, 233) gehe. Doch nicht erst gegen Ende des Romans erfährt der Leser von Cresspahls Haltung zum Christentum. Bei der Vorstellung von Gesine geht Rohlfs in seiner ersten monologischen Passage auf Gesines Mutter Lisbeth Cresspahl ein, deren Grab er auf dem Friedhof entdeckt, einem durch religiöse Rituale geprägten Ort: »Auf dem Stein nur der Name (Elisabeth), nicht der Mädchenname, kein Bibelzitat, kein Kreuz, nur die Lebenszeit« (MJ, 12). Religiöse Symbole eines Grabes wie Bibelzitat und Kreuz werden explizit benannt, aber fehlen für die Ruhestätte Lisbeth Cresspahls. Der Verzicht auf eine religiöse Inszenierung des Todes lässt sich implizit auf die (nicht-)religiöse Haltung ihres Ehemannes zurückführen. Auf dem (politischen) Höhepunkt der Handlung41 mutmaßt der Erzähler,42 dass Cresspahls »Achselzucken von Einverständnis«43 ein Gefühl für Jakob bedeutet habe, das geduldig ist gegen die sonntäglichen Kirchgänger, die in dieser Unbegreiflichkeit von Gesang und bodenlosen Worten und heiligem Orgelgeräusch ihr Leben erheben und so wirklich sind wie der Anblick einer Liebesumarmung nachts an den Hauswänden auch, die der Vorübergehende mit betroffenem Lächeln hinter sich lässt, weil es unerreichbar ist und nicht einmal wünschbar […]. (MJ, 178)

Auch wenn die beiden bildhaften Vergleiche auf den Erzähler zurückgehen, lassen sich die Assoziationen nicht allein auf den Sprecher, sondern auch auf das Bezug nehmende Objekt beziehen. Dass es sich hierbei um das Gefühl handelt, dass hinter Cresspahls Achselzucken steht, und nicht um das Gefühl, das in Jakob durch Cresspahls Achselzucken ausgelöst wird, lässt sich auf die Partikel ›selbst‹ im folgenden Satz zurückführen, die dem Leser den Perspektivenwechsel von Cresspahl zu Jakob anzeigt. Inhaltlich verweisen die bildhaften Vergleiche auf eine Geste des Einverständnisses, das von Distanz und Gleichgültigkeit gegenüber dem, was »unerreichbar und nicht einmal wünschbar ist«, geprägt ist. Neben dem Vorgehen von Rohlfs zählen hierzu auch die »sonntäglichen Kirchgänger«, denen Cresspahl trotz einer für ihn bestehenden »Unbegreiflichkeit« ein gewisses Verständnis entgegenbringt. Es ist ein Einverständnis gemeinsamen Zusammenlebens, in dem der Andersdenkende und Andershandelnde in seiner Andersartigkeit akzeptiert wird.44 Dass Cresspahl eine solche Ethik nicht nur ein41 Vgl. ebd., S. 155. 42 Vgl. MJ, 178: »Für Jakob mag«. An dieser Stelle schränkt der Erzähler mithilfe des Modalverbs ›mögen‹ seine ›Allwissenheit‹ ein; vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 142–144. 43 Dass es sich hierbei aller Voraussicht nach um Cresspahls Achselzucken handelt, lässt sich aus dem folgenden Satz ableiten: »Er selbst wandte sich ab von Cresspahls über dem Revolver gekrümmten Fingern und sagte unbeirrbar gleichmütig zu Herrn Rohlfs« (MJ, 178f.). 44 Vgl. hierzu Kristin Felsner: Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung. Christa Wolf und Uwe Johnson, Göttingen 2010, S. 260: »Ein guter Mensch ist jemand erst, wenn er in

Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz«

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fordert, sondern auch lebt, zeigt sich an der Frau, mit der er seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter einem Dach wohnt. Gertrud Abs, die Mutter Jakobs, wird im religiösen Sinne als Antipodin Cresspahls charakterisiert, die »in die Kirche ging am Sonntag« (MJ, 232). Doch selbst die Ausführungen zu Frau Abs’ Religiosität beschränken sich im Roman auf diese wiederum von Rohlfs vorgenommene Gegenüberstellung mit Cresspahl und zwei implizite, auf Gertrud Abs bezogene Bibelverweise des Erzählers.45 Ähnlich wie Klaus Niebuhr in Ingrid Babendererde die Religiosität seiner Tante und seines Onkels nicht teilt, verhält es sich mit Jakob, der in den Mutmassungen über Jakob im Gegensatz zu seiner Mutter in keinerlei religiösem Kontext verortet wird. Das Gleiche lässt sich für Gesine konstatieren, in deren Figurenrede jedoch das wiederholte Zurückgreifen auf biblische Intertexte auffällt. Auch wenn auf diesen Umstand an dieser Stelle noch nicht ausführlicher eingegangen werden soll,46 lässt sich von dieser sprachlichen Besonderheit aus auf die Figur schließen. Gesines Bezugnahmen auf die Heilige Schrift deuten auf eine intensive Lektüre dieser, womöglich gar eine religiöse Sozialisation hin. Ob dieser Umstand auf die Religiosität von Jakobs Mutter, die Gesine sich »zu eigen genommen« hatte (MJ, 15), zurückgeführt werden kann, bleibt im Roman offen. Ähnliche Überlegungen lassen sich zu Herrn Rohlfs anstellen, in dessen Monologen auf das fehlende Bibelzitat und Kreuz an Lisbeth Cresspahls Grab oder auf Gertrud Abs Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes verwiesen wird. Er zeichnet für die wenigen Spuren eines religiösen Diskurses im Roman mitverantwortlich, was angesichts seiner Rolle als Vertreter eines gegen die Kirche(n) vorgehenden Staates überrascht. Womöglich lässt sich diese Beobachtung auf seine Rolle als Mitarbeiter der Staatssicherheit zurückführen, in der er instruiert ist, auf eine kirchliche Verbindung der Observierten zu achten. Entsprechend beschränken sich Rohlfs Ausführungen auf religiöse Rituale wie den Kirchgang oder das Begräbnis. Der Glaube hinter der Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung solcher Rituale findet keine Beachtung. Allerdings ist ihm die Persönlichkeit der von ihm observierten Figuren auch nicht in der Weise zugänglich, dass er verlässliche Aussagen über deren Religiosität treffen könnte. Folglich erscheint es ebenso denkbar, die Äußerungen auf eine persönliche, womöglich in der Vergangenheit liegende, christliche Bindung zurückzuführen. Die Nebenfiguren wie Jöche, Hänschen oder Sabine, Peter Wulff, Wolfgang Bartsch oder Peter Zahn werden in keinen religiösen Kontext gestellt. Die einzige Ausnahme bildet der in den Mutmassungen über Jakob noch vornamenlose, seinem Handeln auch den Willen des anderen respektiert, wenn die Würde des Menschen gewahrt bleibt.« 45 Vgl. MJ, 76f. und die Ausführungen hierzu in Zweiter Teil, Kap. 2.2.1. 46 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 2.2.5.

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Mutmassungen über Jakob

bereits verstorbene Pastor Brüshaver, den Cresspahl in der Auseinandersetzung mit Rohlfs als moralische Instanz namhaft macht: Wie gehn sie mit dem Menschen um, sieh dir an was einem zustösst und wie es noch kommen soll, und kannst dich auf nichts berufen. Da jammert einer sie lassen ihm kein Geheimnis, oder sie lassen ihn nich reden: ja warum solln sie nich? Das’ dumm Zeug mit den Menschenrechten. Kann einer nicht von Würde reden und von menschlichen Ansprüchen und Ordnung in der Welt, kann einer nicht, wenn er nicht Pastor Brüshaver ist, bin ich nich, bist du nich. Aber wie gehn sie mit einem um […]. (MJ, 173)

Cresspahl macht seinem Gegenüber deutlich, dass es ihm nicht um moralisch konnotierte Begriffe wie ›Menschenrecht‹ und ›Würde‹, nicht um das Sprechen von Ethik und Moral geht, sondern um das direkte Handeln, den konkreten Umgang mit dem Gegenüber. Über ethische Kategorien zu sprechen, stehe einem »moralisch unbescholtenen Menschen«47 wie Pastor Brüshaver zu. Aus Cresspahls moralischem Verständnis heraus verdient Pastor Brüshaver seine exponierte Rolle nicht qua Amt oder politischer Auffassung, sondern durch sein Verhalten.48 Worin dieses außergewöhnliche Verhalten besteht, erfährt der Leser der Mutmassungen über Jakob (noch) nicht. Die Amtsführung Brüshavers liegt außerhalb der erzählten Zeit, der gegenwärtige Pastor Jerichows wird nicht erwähnt. Folgerichtig tritt die Kirche der mecklenburgischen Kleinstadt nicht als liturgischer Raum in Erscheinung. Kirchengebäude und die Institution Kirche Leipzig, München und Lübeck, Taormina, Breslau und Budapest sind nur einige der Städte, die in den Mutmassungen über Jakob erwähnt werden. Als Orte der Romanhandlung treten »Jakobs Stadt« (MJ, 26) an der Elbe, die »beiden Städte[] Berlin« (MJ, 87), Gesines Wohnort, »sechzig Kilometer Schnellstrasse entlang am Rhein« (MJ, 219) entfernt vom »N.A.T.O. headquarters« (MJ, 9), und Jerichow, eine »geringfügige[] Stadt an der mecklenburgischen Ostseeküste« (MJ, 20), in Erscheinung. Mit einer Ausnahme49 wird allerdings nur in einer von diesen Städten eine Kirche erwähnt, diese dafür aber gleich mehrfach. Seine erste Fahrt nach Jerichow erinnert Rohlfs für Anfang Oktober 1956: »wir fuhren die ganze Nacht weg aus Berlin nach unten und der Himmel wurde immer grösser immer weisser, da stand der Kirchturm von Jerichow ziemlich bescheiden hinter dem Berg« (MJ, 10). Trotz seiner ›Bescheidenheit‹ fungiert der Jerichower Kirchturm als Blickfang und damit bereits aus der Ferne als Orientierungspunkt. Ähnlich erinnert Gesine die Nachmittage mit Jakob im Gräfinnenwald und den 47 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 260. 48 Vgl. ebd. 49 An einer Stelle wird die »Kirche von Pankow« (MJ, 193) genannt, die sich in der Nähe von Jonas’ Zimmer befindet.

Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz«

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Berg am Ende des Unterholzes, von wo aus Jerichow ein »finsterer Klumpen in der Senke mit der Kirchturmspitze und dem Licht in meines Vaters Haus« (MJ, 154) war. Doch nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Stadtgrenzen dienen die Kirche und ihr »Bischofsmützenturm« (MJ, 33) für die Figuren bzw. den Erzähler als zentraler Orientierungs- und Referenzpunkt für die Lokalisierung von Gebäuden und Wegstrecken. Rohlfs erblickt Cresspahl das erste Mal, wie er »um die Kirche zur Ziegelei [stampfte]« (MJ, 11). Bei einer Fahrt von Rohlfs durch Jerichow erwähnt der Erzähler mehrere Gebäude und Straßen, die das »schwere lange hochbeinige überspritzte Automobil« (MJ, 33) passiert: kroch eilig auf das breitere wiewohl ebenso rauhe Pflaster der Hauptstrasse zwischen den ebenerdigen Häusern, am zweistöckigen Kaufhaus des Konsumvereins lief es rund um die Kirche mit dem Bischofsmützenturm, von da an verirrte es sich im Friedhofsweg und hielt endlich wie rastlos an hinter der alten Ziegelei neben der hohen durchbrochenen Wand des stehengebliebenen aber baufälligen Trockenschuppens […]. (MJ, 33f.)

Die Jerichower Kirche befindet sich zwischen der MfS-Zentrale der »Hundefänger von Jerichow« (MJ, 10) in der Bahnhofsstraße und Cresspahls Haus an der alten Ziegelei. Doch wie schon der Dom in Johnsons Erstling tritt sie als liturgischer Raum nicht in Erscheinung. Dennoch bleibt die Jerichower Kirche nicht auf ihre Funktion als Orientierungspunkt, als Kulisse beschränkt. Zurückführen lässt sich dieser Umstand darauf, dass die Topografie Jerichows mit Zeitgeschichte und der individuellen Geschichte der Figuren verknüpft ist. Der Ort wird vom Erzähler als eine frühere Bauernstadt vorgestellt, die »zumeist im Eigentum einer einzigen Familie von Adel« (MJ, 13) war. Auf dem Jerichower Friedhof ist nicht nur Gesines Mutter bestattet, sondern er ist Cresspahls Tochter auch als »Typhusfriedhof« in Erinnerung, wodurch zeitgeschichtlich auf den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen rekurriert wird. Ähnlich verhält es sich mit der Jerichower Kirche, deren architektonische Geschichte Jonas beim Gang durch die Stadt von Jakob erläutert wird, wiedergegeben im Dialog zwischen Jöche und Jonas: – […] Der Anfang war romanisch was man sieht an einem Rundbogenfries – Und zwei Rundfenstern, – Das war das westliche Schiff, das haben sie gotisch um drei Fenster verlängert, nicht? und man kann auch noch sehen an den rauhen Stellen dass die früher eine Kreuzform gehabt hat im Grundriss. (MJ, 69)

Funktional deutet Westphal die Verknüpfung der Jerichower Topografie mit ihrer Geschichte als den Versuch, »eine typische, geschichtlich zumindest andeutungsweise erschließbare Kleinstadtatmosphäre zu erzeugen […] und diese mit

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Mutmassungen über Jakob

mehr Zeitbezug auszustatten als die Stadt in Ingrid Babendererde.«50 Während die Figuren in Johnsons Erstling zeitgeschichtlich in Gegenwart und Vergangenheit verortet werden, erscheint die Stadt mit dem Dom als omnipräsentem Orientierungspunkt, als ahistorischer Raum und wird zur bloßen Kulisse.51 In den Mutmassungen über Jakob hingegen werden die individuelle Geschichte der Figuren wie auch die Topografie mit der Zeitgeschichte verknüpft. Die mecklenburgische Kleinstadt Jerichow wird bereits durch die Darstellung des Raumes als Ort der Erinnerung, als Mnemotopos ausgewiesen. Allerdings bleibt die zeitgeschichtliche Verortung nicht allein auf den Jerichower Raum beschränkt. Der Erzähler beschreibt das Universitätsgebäude, in dem Jonas arbeitet, unter Verweis auf dessen baulichen Ursprung und die Auswirkungen historischer Entwicklungen: Notwendig sind nur wenige mittelgrosse Zimmer in einem Gebäude, das allerdings durch etliche Würde einer hauptstädtischen Umgebung und des eigenen Aussehens ausgezeichnet sein sollte vor den dicht an dicht gedrängten Bauten zu profanem Nutzen (Kasernen, Fabriken, Miethäuser). Es darf aus gewöhnlichen glindower Ziegeln gemauert sein wie die anderen auch, doch hier versteht sich ein dicker unebener Putz als Schaustellung düsterer Unerschütterlichkeit (damals war ein Krieg gewonnen worden). Aussen heute noch starrt die ergraute Felsenlüge in den wilden verödeten Park, innen verschüchtern die mit Mamorplatten verkleideten Wandelgänge die menschlichen Reden und Schritte. (MJ, 80f.)

Eher beiläufig fällt in diesem Textabschnitt die Formulierung »Bauten von profanem Nutzen (Kasernen, Fabriken, Miethäuser)« auf. Durch sie wird eine Opposition zu sakralen Bauten betont. Das tertium comparationis besteht im konkreten Fall jedoch nicht in der religiösen bzw. nicht-religiösen Funktion eines Gebäudes, sondern im Prunk eines Bauwerks, in dem sich das Universitätsgebäude von anderen profanen Gebäuden unterscheidet. Insofern ist die Formulierung für den religiösen Diskurs des Romans nicht von besonderer Relevanz. Anders verhält es sich mit der einzigen Erwähnung der Institution Kirche, genau genommen der katholischen Kirche: »Wodurch büsste die katholische Kirche ein an Ansehen und Verehrbarkeit? Durch das Dogma der persönlichen Unfehlbarkeit.« (MJ, 98) Der Erzähler verweist auf die kirchengeschichtlichdogmatische Kontroverse um das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, das auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Jahr 1870 von Papst Pius IX. verkündet wurde. Hintergrund dieser Bezugnahme ist die Diskussion um politische Sys50 Westphal, Literarische Kartografie, S. 57. 51 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.2; Westphal, Literarische Kartografie, S. 40. Westphal weist in diesem Zusammenhang auf eine Ausnahme hin, »die Brücke zum Reeder Weg […], die die Faschisten am letzten Tag des Krieges gesprengt hatten« (IB, 155) und auf deren Trümmern Ingrid viele Nachmittage sitzt., denn der Stadt werde durch diese Erwähnung zumindest »ein Hauch von Historizität« verliehen; Westphal, Literarische Kartografie, S. 37.

Religiöser Diskurs: »kein Bibelzitat, kein Kreuz«

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teme, in denen ein Einzelner Machtbefugnisse erhält, mit denen er befähigt wird, allein über Recht und Unrecht entscheiden zu dürfen: Der Mensch ist schwach und anfällig für den Eigennutz. Die Möglichkeit recht zu haben macht rechthaberisch. Jeder macht mal einen Fehler. Aber beim Flugzeugführer macht ein Fehler mehr aus als bei spielenden Kindern; wann beginnt ein Fehler ein Verbrechen zu sein? Sind Fehler straffällig? Der Mächtige bestraft sich selbst für den Missbrauch der Macht: das ist ein neues Sprichwort, ich kenne es nicht. Die guten Leute sind viele, ihr Führer soll sein sie alle mit all ihren Augen. Dann müsste rein statistisch die Fehlerquote niedriger liegen. (MJ, 98f.)

Eingebettet sind diese Überlegungen in die Rede des Erzählers über den stalinistischen Personenkult, den Nikita Chruschtschow in seiner Geheimrede Über den Personenkult und seine Folgen auf dem XX. Parteitag der KPdSU aufs Schärfste kritisierte. Nähere Ausführungen zum Vergleich zwischen dem stalinistischen Personenkult und dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit erfolgen bei der Analyse des kirchengeschichtlichen Diskurses. Für den religiösen Diskurs des Romans genügt die Feststellung, dass die katholische Kirche in einem politisch-ideologischen Kontext verortet wird. Den politisch-ideologischen Kontext haben die Ausführungen zur Institution Kirche mit den wenigen Bezügen gemeinsam, in denen die Figuren des Romans mit den Themen ›Religion‹ und ›Kirche‹ in Verbindung gebracht werden. Zwar erscheinen politische und kirchliche Phänomene als parallel zueinander bestehende Teilsysteme innerhalb der im Roman dargestellten Gesellschaft, allerdings erfolgen Hinweise auf ein religiöses Leben ausschließlich in politischen Zusammenhängen. Der ehemalige Pastor Jerichows wird in einer politischen Diskussion als moralische Instanz angeführt, Rohlfs’ Erwähnungen des Grabes von Lisbeth Cresspahl sowie Heinrich Cresspahls und Gertrud Abs’ Verhältnis zur Kirche stehen im Zusammenhang mit seiner politischen Rolle als Hauptmann der Staatssicherheit. Folgerichtig treten die Kirchen in Pankow und Jerichow nicht als liturgischer Raum in Erscheinung. Sie sind lediglich topografische Orientierungspunkte, gleichwohl die Kirche Jerichows in einen architekturgeschichtlichen Kontext gestellt wird. Für die erste Fassung der Mutmassungen über Jakob hatte Johnson zwei Varianten vorgesehen, in denen die Beerdigung Jakobs erwähnt wird.52 Für eine stringente Gestaltung des religiösen Diskurses ist es konsequent, dass die Erwähnung eines solchen liturgischen Prozesses nicht in die folgenden Textstufen übernommen wurde.

52 Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 6, Bl. 33f., abgedruckt in Kommentar, S. 344.

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2.2

Mutmassungen über Jakob

Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs: »Die Grossen des Landes warfen ihr Auge auf Jakob«

Die Einbettung des religiösen Diskurses in politische Zusammenhänge deutet auf die zentrale Rolle des politisch-gesellschaftlichen Diskurses für die Mutmassungen über Jakob hin. Wie in seinem Erstling Ingrid Babendererde ist es ein Eingriff des Staates in das Privatleben seiner Bürger, der das Leben der Protagonisten grundlegend verändert. In stellvertretender Funktion für den ostdeutschen Staat tritt in Herrn Rohlfs ein Hauptmann der Staatssicherheit auf, der den »Einzelgängerauftrag« (MJ, 10) erhält, Gesine Cresspahl für die Militärische Spionageabwehr zu gewinnen. Zum Ziel wird die 23-Jährige durch ihre Tätigkeit als Dolmetscherin beim »N.A.T.O. headquarters« (MJ, 9) in der Bundesrepublik und ihre ostdeutsche Herkunft. Um sein Ziel zu erreichen, reist Rohlfs mit seinem Fahrer Hänschen ins mecklenburgische Jerichow und nimmt Gesines (familiäres) Umfeld ins Visier. Nach Frau Abs ist es ihr Sohn Jakob, der in den Fokus des Mannes gerät, »der seinen Namen austauschte vor jedem Gegenüber und also schon dem Namen nach keine andere Teilnahme an Jakobs Ergehen verwalten konnte als eine allgemeine und öffentliche« (MJ, 24). Folgerichtig kann der Erzähler konstatieren: »Die Grossen des Landes warfen ihr Auge auf Jakob.« (MJ, 24) Das politische Vorgehen des Staates wird durch den Erzähler mithilfe biblischer Metaphorik charakterisiert. Mit der Nennung des ›Auges‹ wird ein von Stolt beschriebener Hebraismus bzw. Biblizismus verwendet, bei dem ein Körperteil metonymisch für einen Menschen bzw. dessen Tätigkeit steht.53 Zentral für die biblische Symbolik ist aber das allsehende und allwissende Auge Gottes wie in Ps 11,4,54 »das im Dreieck die Weisheit der Dreifaltigkeit symbolisiert«.55 Der Erzähler, und auch dies stellt eine Parallele zum Ingrid-Roman dar, nimmt eine »Transformation aus dem Bereich der Religion in den politisch-ideologischen«56 Bereich vor und persifliert den Anspruch und das Selbstverständnis des Staates, allwissend und allsehend zu agieren. Benedikt Jeßing bringt neben dem »Machtanspruch des herrschenden Staatsapparates […], der den Blick Gottes übernimmt«, noch einen weiteren Aspekt vor: »Die biblischen Bilder, in denen über Rohlfs [als Vertreter dieses Staates; P. O.] gesprochen wird, bezeichnen weniger eine Position der Kontrolle und Überwachung als vielmehr eine der

53 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.1. 54 »4Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, des Herrn Stuhl ist im Himmel; seine Augen sehen darauf, seine Augenlider prüfen die Menschenkinder.« 55 Wetzel, Lexikon der Symbole, S. 16. 56 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 324.

Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs

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Erwählung und des Schutzes.«57 Deutlich werde dies, so Jeßing, wenn Rohlfs in Jakob einen jungen Mann sieht, »an dem ich Wohlgefallen gewinne« (MJ, 95). Sofern es sich hierbei um einen Verweis auf Lk 2,14 handelt, wäre es ein Beleg für die »fatale Vermessenheit des real existierenden Sozialismus, der alleinige Heilsbringer zu sein«,58 denn das Wohlgefallen der Menschen liegt nach christlichem Verständnis allein in Gottes Händen. Insofern beschränkt sich die Haltung der Erwählung und des Schutzes, das betont auch Jeßing, auf die Rolle von Rohlfs und des Staates. Jakob nimmt die Anwesenheit des Hauptmanns nicht als Schutz wahr. Gottes schützende Hand wird infolge der Transformation zum Damoklesschwert: »Also jedes Mal, wenn Jakob einen dunkelroten schmutzigen bespritzten Pobjeda über die Strasse kriechen sah … erinnerte er Herrn Rohlfs und wusste dass seine Hand über ihm war zu allen Zeiten.« (MJ, 217) Das Eingreifen des Staatssicherheitsdienstes in das Leben von Jakob, seiner Mutter, Jonas, Cresspahl und schließlich Gesine, die im Folgenden hinsichtlich der Funktion biblischer Intertexte bei der Konstitution des politisch-gesellschaftlichen Rahmendiskurses untersucht werden, mündet nicht in Schutz, sondern Tod, Flucht, Verhaftung und Resignation.

2.2.1 Gertrud Abs Nach seiner Ankunft in Jerichow wendet sich Rohlfs nicht direkt an Heinrich Cresspahl, Gesines Vater und einzig bekannten Verwandten. Stattdessen wartet er »eines Abends in Jakobs Oktober […] vor dem Kücheneingang des Krankenhauses« auf Frau Abs (MJ, 16). Die Ziehmutter Gesines wird vom Stasi-Hauptmann in ein Gespräch verwickelt über den Sozialismus und über die Kriegslust der abendländischen Kapitalisten und über die Vorzüge oder Nachteile des einen oder anderen, wie sie sich auf jedes Leben auswirken, etwa auf das Leben der Familie Cresspahl, die ja leider kaum noch eine Familie sei, denn die einzige Tochter war ja wohl abwesend, und Frau Abs sei sozusagen mütterlich für sie aufgekommen? (MJ, 16f.)

Mit »flatterndem Blick und heimlich zitternden Händen« streitet sie eine familiäre Beziehung zu Gesine ab und behauptet, sie habe »nur gewohnt in dem Haus und hat nichts zu tun mit der Familie Cresspahl« (MJ, 17). Rohlfs beschließt aus

57 Benedikt Jeßing: Konstruktion und Eingedenken. Zur Vermittlung von gesellschaftlicher Praxis und literarischer Form in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und Johnsons Mutmassungen über Jakob, Wiesbaden 1991, S. 244. 58 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 125.

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Mutmassungen über Jakob

persönlichen und strategischen Gründen,59 Frau Abs nicht noch einmal anwerben zu wollen, »wenn ich irgend kann« (MJ, 17). Hierzu hat er auch keine Gelegenheit mehr, denn die Mutter Jakobs sieht sich wenige Tage nach jenem Abend im Oktober zur Flucht aus der DDR gezwungen. Dass sich Jakobs Mutter mit ihren 59 Jahren ein weiteres Mal nach 1945 zur Flucht in ein unbekanntes Leben entscheidet, führt Felsner auf ihre christliche Moral zurück. Durch Rohlfs zum Lügen gezwungen, »um aufrichtig zu bleiben«, weiche sie von ihren »auf christliche Regeln zurückgehenden moralischen Grundsätzen« ab, sodass die Flucht »die logische Konsequenz aus der fehlenden Übereinstimmung ihrer eigenen Grundsätze mit denen des Staates« sei.60 Die Interpretation Felsners impliziert die These, dass Gertrud Abs eine streng religiöse Frau sei, die sich aufgrund des achten Gebotes, »16Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«,61 in einem Gewissenskonflikt befinde. Martin Honecker betont jedoch, dass der Dekalog kein generelles Verbot der Lüge beinhalte, sondern sich entsprechend dem präpositionalen Objekt (»wider deinen Nächsten«) »ausschließlich am Nutzen oder Schaden für den Mitmenschen«62 orientiere. Die Erweiterung des ursprünglich rechtlichen Hintergrundes des Gebots lässt sich an Luthers Der Große Katechismus ablesen. Demnach fallen »falsche prediger mit der lehre und lestern, falsche Richter und zeugen mit dem urteil odder sonst ausser dem gericht mit liegen und ubel reden«63 unter das Gebot. Als »die Summa und gemeinen verstand von diesem gepot« leitet Luther ab, »das niemand seinen nehisten beide freund und feind mit der zungen schedlich sein noch boeses von yhm reden sol (Gott gebe es sey war odder erlogen), so nicht aus befehl odder zu besserung geschihet«.64 Wenn Frau Abs’ Antwort auf die Fragen von Rohlfs nach christlichem Verständnis keine Lüge darstellt, so widersetzt sie sich doch der Obrigkeit nach Röm 13,1, indem sie die

59 Bond betont zurecht, dass sich Rohlfs nicht nur verbal, sondern wie gegenüber Frau Abs auch in seinem Verhalten von der »Art der Hundefänger« (MJ, 232) unterscheidet: »Rohlfs entspricht keineswegs dem gängigen Bild eines Stasi-Offiziers: Bei aller Treue zu seinem Staat respektiert er Menschen, die anders denken, und er handelt aus Überzeugung, ohne zu einem Überzeugungstäter zu werden«; Bond, Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, S. 150. Dennoch darf bei der Entscheidung, Frau Abs nicht noch ein weiteres Mal anwerben zu wollen, die strategische Überlegung nicht außer Acht gelassen werden, die Rohlfs abschließend äußert: »Es wäre nicht gut gegangen.« (MJ, 17) 60 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 261. 61 Ex 20,16. Vgl. auch Dtn 5,17. 62 Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, Berlin/New York 1990, S. 263. 63 Martin Luther: Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). 1529, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 30, Weimar 1910, S. 123– 238, hier: S. 170. 64 Ebd., S. 173.

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Aussage verweigert.65 Ursächlich für ihr Verhalten ist, Gesine und somit den »privaten Raum[] vom schädlichen Einfluss des Staates«66 zu schützen. Frau Abs nimmt anhand ihrer moralischen Grundsätze eine negative Bewertung der Politik des ostdeutschen Staates vor, die in letzter Konsequenz in der Gehorsamsverweigerung und im Verlassen der Heimat mündet. Inwieweit ihre moralischen Grundsätze auf dem christlichen Glauben beruhen, wird innerhalb des Romans nur angedeutet. Die Gertrud Abs der Mutmassungen über Jakob mit der Marie Abs der Jahrestage gleichzusetzen, wie es Felsner macht,67 ist aufgrund der abgeschlossenen Komposition der Romanwelten für die Interpretation von Johnsons erstveröffentlichtem Roman unzulässig. Neben dem Hinweis, dass »Jakobs Mutter in die Kirche ging am Sonntag« (MJ, 232), finden sich lediglich noch zwei Hinweise, die sich als Anspielungen auf die Religiosität von Frau Abs interpretieren lassen. Nach der Befragung Jakobs zu seiner Mutter durch Herrn Rohlfs gibt der Erzähler eine Kurzbiografie von ihr wieder. In diese Kurzbiografie ist ein Lehrsatz integriert, den sie an ihre Ziehtochter gerichtet hat: »darauf, Gesine, sollst du dir nicht mehr als Kochenkönnen einbilden« (MJ, 76). Die Wendung »sollst du« kann als Verweis auf den Dekalog und damit auf ein streng nach den Grundsätzen christlicher Moral gestaltetes Leben von Jakobs Mutter interpretiert werden. Von hier aus lässt sich eine Verbindung zu Gesines Anspielungen auf den Dekalog herstellen, die zugegebenermaßen von geringer intertextueller Intensität sind.68 Gegen ein streng christlich orientiertes Leben spricht allerdings der Hinweis in ihrer Kurzbiografie, dass die junge Gertrud Abs »eigene Augen für Herren aller Art« (MJ, 76) hatte. Auch die Entscheidung zur Flucht führt der Erzähler statt auf die christliche Überzeugung auf »die Erregbarkeit […] und die flackernde Bereitschaft zu Angst« (MJ, 76) zurück. Beschrieben wird Frau Abs als eine durch die historischpolitischen Umstände gebrochene Frau, deren »Unruhe ihres gegenwärtig neunundfünfzigjährigen Lebens sicherlich nicht zu vergleichen [war] mit der Hoffnung und Zuversicht jüngerer Jahre« (MJ, 77). Über die Lexeme ›Hoffnung‹ und ›Zuversicht‹ lässt sich eine Verbindung zum Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief herstellen, auch wenn die Selektivität des Intertextes an dieser Stelle weniger deutlich ist als noch in Ingrid Babendererde.69 Das für Jürgen Petersen plausible Ersetzen des religiös aufgeladenen Terminus ›Glaube‹ durch ›Zuversicht‹ spräche, auf Gertrud Abs übertragen, auch bei ihr für eine Abkehr

65 66 67 68 69

Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 2.4. Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 261. Felsner ignoriert dabei konsequent den Vornamenwechsel der Figur; vgl. ebd., S. 261f. Vgl. MJ, 33. Vgl. hierzu ausführlicher Zweiter Teil, Kap. 2.5. In Johnsons Erstling betont der Erzähler, in Jürgens Liebe zu Ingrid sei »niemals Hoffnung gewesen […] und niemals Zuversicht« (IB, 183). Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3.

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vom christlichen Glauben. Angesichts der historisch-politischen Erfahrungen könnte ihre Hoffnung und Zuversicht (an Gott) geschwunden sein. Dementsprechend lassen sich für Felsners These, die Flucht Gertrud Abs’ sei auf ihre christlich-moralischen Grundsätze zurückzuführen, im Roman keine ausreichenden Ansatzpunkte finden. Die Religiosität der Figur wird durch den Verweis auf ihre Kirchgänge angedeutet und das Verlassen der DDR neben ihrer Angst mit der Verweigerung gegenüber der Obrigkeit moralisch begründet. Für eine direkte Verbindung zwischen der Religiosität von Frau Abs und ihren moralischen Grundsätzen fehlen im Roman hingegen konkrete Hinweise.

2.2.2 Jakob Abs Einen Tag nach der Flucht von Gertrud Abs begibt sich Rohlfs von Jerichow aus in die Elbestadt und fordert Jakob auf der Straße auf, in sein Auto einzusteigen. In einem anschließenden ersten Gespräch, bei dem Rohlfs sich als »Herr[] Fabian« vorstellt (MJ, 37), befragt der Stasi-Hauptmann Jakob zum Sozialismus im Allgemeinen und seiner konkreten Ausgestaltung in Jakobs Arbeitsleben als Dispatcher bei der Deutschen Reichsbahn. Dass Rohlfs Verhör auf etwas anderes abzielen könnte als auf seinen Dienst, scheint Jakob zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu ahnen. Die Verabredung zur Fortsetzung des Gesprächs und die »Schweigeverabredung« (MJ, 46), die er »langsam und genau« (MJ, 47) unterzeichnet, vermitteln dem Leser einen ersten Einblick in den Eingriff des Staates in Jakobs privates Leben. Der Beginn des zweiten Gesprächs am Dienstag im Elbehotel gibt die Richtung vor, in die das Gespräch zielt. Nach einer ersten Frage zum Wetter lenkt Rohlfs die Aufmerksamkeit auf eine allein an einem Tisch sitzende Dame und fragt Jakob: »So stell ich mir Cresspahls Tochter vor. Irre ich mich sehr?« (MJ, 119) Mit der ersten Nennung von Gesine beginnt Rohlfs, sein Ziel zu verfolgen, Cresspahls Tochter über Jakob für die Staatssicherheit zu gewinnen. Langsam und allmählich rückt Gesine in den Fokus des Gesprächs und der Verabredungen zwischen Rohlfs und Jakob, die in der Zusammenkunft am darauffolgenden Mittwochabend in Cresspahls Haus kulminieren. Am Ende dieses Gesprächs in Jerichow begreift Jakob, dass selbst »wenn einer noch so mächtig war in der Welt und so viel Wirksames getan und verändert hatte, dass er jenseits lebte von Verachtung und Wohlwollen« (MJ, 177f.). Er droht Rohlfs: »Ich bring dich um wie einen tollen Hund, wenn.« (MJ, 179) Die Bedingung, wenn Gesine etwas zustoßen sollte, bleibt unausgesprochen. Alexandra Kleihues gelangt folglich zu dem Schluss, dass Rohlfs Agieren die »schrittweise Integration des Eisenbahners Jakob Abs in

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die Gemeinschaft der Regimekritiker«70 bewirke. So richtig diese Beobachtung ist, hinterlässt Jakobs Kritik dennoch einen ambivalenten Eindruck, weil sie bis zuletzt nicht die Oberhand über sein Pflichtbewusstsein gewinnt. Sinnbildlich für diese Zerrissenheit steht die Geste, die der Drohung an Rohlfs folgt: »Und erinnere dich, sie haben gleich hinterher Brüderschaft getrunken.« (MJ, 179) Als ursächlich für die Zerrissenheit, die eine »fatalistische Lähmung«71 in Jakobs Arbeits- wie Privatleben nach sich zieht, wird wiederholt das Fehlen eines »historisch-politischen Bewußtseins«72 genannt. Die traumatischen Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkrieges hat er weitgehend verdrängt,73 die wenigen persönlichen Erinnerungen, etwa mit Gesine, befinden sich »für ihn historisch betrachtet in einem Vakuum«.74 Die fehlende Verarbeitung der Flucht aus der Heimat, des Verlusts seines Vaters ziehen bis in die politische Gegenwart weitreichende Konsequenzen nach sich. Jakob richtet sich in den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen ein75 und vertritt »nur sich selbst«.76 Eine »moralische Empörung über die sich mehr und mehr enthüllende politische ›Lebenslüge‹«,77 durch die Jonas’ und insbesondere Gesines Handeln geprägt sind, fehlt ihm. Westphal umschreibt Jakob als eine »jeglicher politischen Bezüge beraubte Figur«,78 die in ihrem Beruf als Eisenbahner aufgehe und in dieser Eigenschaft hinreichend beschrieben sei. Ulrich Krellner relativiert dieses drastische Urteil, indem er darauf verweist, dass Jakob durchaus erkennt, dass »[n]ur Nachfolge und entsprechende Ausführung […] die notdürftig umgefärbten umgeschnittenen Uniformen der neuen deutschen Polizei« (MJ, 56) ausmachen und nicht 70 Alexandra Kleihues: Medialität der Erinnerung. Uwe Johnson und der Dokumentarismus in der Nachkriegsliteratur, Göttingen 2015, S. 43. 71 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 147. 72 Ebd., S. 151. 73 So erinnert sich Jakob auf Gesines Nachfrage hin auch an die Konzentrationslager, sein Gesicht ist indes reglos, seine Augen sind halb geschlossen (vgl. MJ, 154). Ähnlich verhält er sich bei der Nachricht der Landung der britischen und französischen Truppen in Ägypten: »sie sprach nicht laut, sie hing vorgebeugt über dem Lenkrad und starrte hinaus in den dünnen grauen Regen und horchte schrägen Kopfes auf die Stimme des Nachrichtensprechers, der inzwischen die neuesten Vermutungen über die bevorstehende Landung der britischen und französischen Truppen in Ägypten bekanntgab. ›Sie werden landen‹ sagte sie böse. Jakob sah nicht auf. Er zuckte die Achseln.« (MJ, 234) 74 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 152. 75 Vgl. MJ, 56: »Gewiss machte er sich auch Gedanken über die Zufälle, die einer Frau, die wohnt in der Baustrasse, ihr Mann ist auf dem Rathaus, im Stadtwald zugestossen sein sollten von einem siegreichen sowjetischen Soldaten; er hatte aber nichts zu tun mit den Beleidigungen, deretwegen eine verwilderte wie erbitterte Kampftruppe in ihrer eroberten Zone von Deutschland um sich schlug und schoss und sich betrank und für alles bezahlte mit ihrem eigenen Geld: er richtete sich ein.« 76 Holger Helbig: Über die ästhetische Erziehung der Staatssicherheit in einer Reihe von Thesen. Johnson liest Schiller, in: Johnson-Jahrbuch 6, 1999, S. 57–84, hier: S. 76. 77 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 153. 78 Westphal, Literarische Kartografie, S. 91f.

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die Personen, die die Uniformen tragen. Entsprechend betont der Erzähler, dass Jakob »weder Herrn Fabian noch Herrn Rohlfs die Würde bestreiten« wolle, »insofern er ihrer Wirklichkeit inne geworden war und insofern etwas würdig ist, wenn es nach einem anderen kommt (und wenn alles mehr des Wünschens wert ist als dies Vorher)« (MJ, 56f.). Er »hatte aber an dieser Würde keinen Teil« (MJ, 57). Statt der Figur ein historisch-politisches Bewusstseins abzusprechen, deutet Krellner Jakobs Verhalten als eine »abgelehnte Teilhabe an der Verantwortung für die neuen Verhältnisse«.79 Die Distanz zum Politischen verlangt Jakob in dem Moment, in dem der Staat in sein privates und berufliches Leben eindringt, Entscheidungen ab, die aus seiner Sicht nicht ›richtig‹ sein können. Dem privaten Glück mit Gesine stehen sein Pflichtbewusstsein und die subjektiv empfundene Unvereinbarkeit seiner sozialistischen Vorstellungen mit dem kapitalistisch geprägten westlichen Teil Deutschlands gegenüber.80 Sein berufliches Glück als Dispatcher bei der Reichsbahn kollidiert im Moment des Militärtransports nach Ungarn mit seinem Wunsch nach einer nicht-entfremdeten Arbeit im real existierenden Sozialismus.81 Im Moment der politischen Durchdringung seiner Arbeit, in dem seine politische Distanz und damit auch ein historisch-politisches Bewusstsein der Figur deutlich werden, entsteht ein »Klima der Gewalt und des Mißtrauens […], in dem sich der einzelne nur bis zur Selbstverleugnung anpassen kann oder daran zugrunde geht«.82 Angesichts des privaten und beruflichen Scheiterns von Jakob ist es überraschend, dass die Figur mehrfach unter Rückgriff auf zwei biblische Heilsbringer interpretiert wurde: den Stammvater Jakob und Jesus Christus.

79 Ulrich Krellner: »Was ich im Gedächtnis ertrage«. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk, Würzburg 2003, S. 107. 80 Vgl. MJ, 224: »ein Helles ein Bier für den Bruder aus dem Osten, hier, Zigarre / ich bin kein Bruder aus dem Osten / ach, bleibst du hier, nicht wahr / nein, ich fahr zurück / warum, Mensch, kann man denn da überhaupt leben ? oder musst du, Familie / gefällt mir hier nicht«; MJ, 123: »›Wenn ich nicht kündige und einfach wegbleibe von einem Tag auf den anderen, steht Peter Zahn da und weiss nicht wo er in anderthalb Minuten einen Ersatz hernimmt; hat er nicht um mich verdient, wär unfreundlich von mir. Und in fünf Minuten passiert viel auf einer Strecke von hundert Kilometern. Kündigen konnt ich ja schlecht‹, denn dann hätt er noch drei Wochen lang Dienst tun müssen, damit war ihm nicht geholfen. Erstlich eins: er macht eine angefangene Arbeit fertig und lässt den Platz ordentlich aufgeräumt zurück.« 81 Vgl. MJ, 196f.: »Jakob sank schweigend rauchend immer mehr vornüber, bis sein Arm plötzlich ausfuhr und auf den Tisch schlug, und Jakob schrie auf: ›Schreib mir den Namen auf von dem Kerl! Der hat eine Meinung über die Russen, hält er sie auf, ja glaubt er denn dass wir uns nichts denken dabei! ich weiss auch wohin sie fahren, hält er sie auf. Als ob zehn Minuten was nützen. Mach ihm klar dass seine verdammte Ehrenhaftigkeit uns hier an den Rand bringt, wir können nicht ewig reinen Tisch machen, wir haben hier Züge zu stehen. Die Leute wollen nach Hause, die haben auch eine Meinung über die Russen, deswegen tun sie doch noch keinem Menschen was‹«. 82 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 150.

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Um Jakob als Transfiguration Jesu zu deuten, bemüht Radke eine Reihe von Hinweisen, die spätestens auf den zweiten Blick wenig plausibel erscheinen. Jakobs Fahrt nach Jerichow am Freitagnachmittag interpretiert er als Reise zum ›Vater‹. Infolgedessen wird der Wochentag der Reise gleichsam biblisch-symbolisch gedeutet: »Welcher ›Freitag‹ wäre aber damit gemeint, dass er es verdiente so herausgehoben zu werden? […] Sollte hier vielleicht der Karfreitag gemeint sein mit seinem Symbolgehalt für die Christen?«83 Den 19. Oktober 1956 als Karfreitag zu deuten, lässt bereits aufhorchen. Wie in Ingrid Babendererde hätte Johnson das Romangeschehen auch um den 30. März 1956 anordnen können, wenn es ihm um »die Mutmassung, die, mit Nietzsche gesprochen, Gott ist«,84 und weniger um die politischen Zwänge im geteilten Deutschland gegangen wäre. Aber auch eine rein motivische Deutung der Karfreitagsanalogie wirft eine Frage auf: Warum kommt Jakob erst rund drei Wochen nach dieser Reise nach Jerichow ums Leben? Es finden sich in Bezug auf die Figur keine Hinweise oder Signalvokabeln, die eine solche Interpretation initiieren würden. Einen Lampenschirm, eine Polsterlehne und einen Tischrand,85 die Begrüßungsformeln ›Moin‹ und ›Mahlzeit‹86 eignen sich hierzu nicht. Die wenigen von Radke über das rein Symbolische hinausgehenden biblischen Intertexte legen, wie noch zu zeigen sein wird, andere Interpretationen nahe. Die Deutung der Figur Jakob als Transfiguration Jesu Christi läuft somit ins Leere. Den Ausgangspunkt der meisten biblisch-allegorischen Deutungen der Figur bildet sein Name. Bereits Radke weist auf die Möglichkeiten hin, den Jakob der Mutmassungen über Jakob mit dem »Gotteskämpfer Jakob«87 des Alten Testaments, aber auch mit dem Herrenbruder Jakobus88 in Beziehung zu setzen. Jakobus wird von seinem Bruder Jesus im Thomasevangelium als »de[r] Gerechte, dessentwegen Himmel und Erde entstanden sind«,89 charakterisiert.90 Während Jakobus nicht zum vorösterlichen Jüngerkreis gehörte, nahm er durch eine nachösterliche Bekehrung eine zentrale Rolle in der judenchristlichen Gemeinde Jerusalems ein, der er bis zu seiner Hinrichtung »wegen angeblicher Verletzung

83 Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 54; Hervorhebung im Original unterstrichen. 84 Ebd., S. 523. 85 Vgl. MJ, 46: »Jakob war nicht unruhig. Er fühlte sich unbeweglich zwischen Lampenschirm und Polsterlehne und Tischrand«. Vgl. hierzu Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 74–76. 86 Vgl. Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 89–99, 115–117. 87 Ebd., S. 594. 88 Vgl. Gal 1,19: »19Der andern Apostel aber sah ich keinen außer Jakobus, des Herrn Bruder.« 89 ThomEv 12. 90 Vgl. Jürgen Roloff: Jakobus, in: Koch u. a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, S. 252.

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der Tora«91 im Jahr 62 n. Chr. viele Jahre vorstand. Die theologische Bedeutung des Jakobus’ lässt sich daran ablesen, dass der Jakobusbrief, bei dem davon ausgegangen wird, dass es sich um ein Pseudepigraphon handelt,92 in seinem Namen abgefasst wurde. Der Grund hierfür ist Matthias Konradt zufolge »Jakobus’ Nachwirkung als ethisches Vorbild«.93 Schwarz nimmt in den Gesprächen mit Johnson darauf Bezug, dass Jakob öfter »›gerecht‹ oder ›der Gerechte‹«94 genannt werde. In der Tat wird Jakob durch Rohlfs als »Mensch[] der Gerechtigkeit« (MJ, 209) und »gerechter« (MJ, 246) als Jonas charakterisiert. Gesine sieht auf eine Frage Jakobs hin »die Falten quer über seine Stirn [stelzen] als ob er Ungerechtigkeit gesagt hätte« (MJ, 132). In diesen drei Textstellen wird Jakob explizit Gerechtigkeit als Charaktereigenschaft zugeschrieben, darunter aber auch von Rohlfs als einem Mann, der von sich behauptet: »Jawohl ich bin ungerecht. Aus Selbstachtung.« (MJ, 157) Weitere Parallelen zu Jakobus dem Gerechten ließen sich über den gewaltsamen Tod – Jakob wird »in der Absicht, einer entgegenkommenden Lokomotive auszuweichen« (MJ, 238), von einem Zug erfasst, Jakobus im Auftrag des Hohepriesters Ananos gesteinigt95 – und die Verwicklung in einen grundsätzlichen Konflikt herstellen. Während Jakob zum Opfer des Ost-West- bzw. West-Ost-Konflikts wird, sich aber trotz aller Konsequenzen für einen Verbleib im sozialistischen Ostdeutschland entscheidet, tritt Jakobus in der Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Judenchristen als Antipode von Paulus auf.96 Neumann nimmt Jakobs Sich-Verhalten zum Ost-West-Konflikt hingegen zum Ausgangspunkt onomastischer Überlegungen zu Jakob Abs Vor- und Nachnamen. In Jakobs Lebensweg erkennt er eine »Postfiguration«97 aus dem Stammvater Jakob und dem dritten Sohn Davids, Absalom. Beiden gemein ist eine Auseinandersetzung mit ihrem Bruder; bei Jakob die mit seinem Bruder Esau, den er um den väterlichen Segen des Erstgeborenen bringt, vor ihm flüchtet und sich später mit ihm aussöhnt,98 bei Absalom die mit seinem Bruder Amnon, der die gemeinsame Schwester Thamar vergewaltigt und verstößt, woraufhin Absalom seinen Bruder töten lässt.99 Während Wolfgang Paulsen das Motiv des 91 Matthias Konradt: Der Jakobusbrief, in: Ebner/Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, S. 496–510, hier: S. 502. 92 Vgl. ebd., S. 503. 93 Ebd. 94 Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. Schwarz stellt aber eine Verbindung zu einem spanischen Heiligen her, der den Namen Jakob der Gerechte trägt, woraufhin Johnson ihm entgegnet: »Daß es einen Heiligen Jakob der Gerechte gab, wußte ich nicht«; ebd. 95 Konradt, Jakobusbrief, S. 502. 96 Vgl. Roloff, Jakobus, S. 252. 97 Neumann, Utopie und Mythos, S. 130. 98 Vgl. Gen 27,1–33,16. 99 Vgl. 2 Sam 13,1–33.

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Bruderkonflikts »nicht so recht einleuchten«100 mag, steht es für Neumann in einem parabolischen Verhältnis zum »deutsche[n] Geschick nach 1945«.101 Ausgehend von der Verheißung Gottes an Rebekka, »[z]wie Völker sind in deinem Leibe, und zweierlei Leute werden sich scheiden aus deinem Leibe; und ein Volk wird dem andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen«,102 nimmt Neumann eine Übertragung der biblischen Geschichte auf den Gegenstand der Mutmassungen über Jakob vor: »Der Sozialismus, der jüngere Bruder, hat den ›göttlichen‹, den historischen Auftrag, den älteren Bruder Kapitalismus zu enterben.«103 Dies jedoch unter der Bedingung, auf friedlichem Wege zu gewinnen – wie auch der biblische Jakob seinen Bruder Esau und seinen Vater Isaak überzeugt, ihm das Recht des Erstgeborenen zu verkaufen104 und den Segen des Erstgeborenen zu verleihen105 – und nicht gewaltsam zu okkupieren. Die Utopie eines Sozialismus in der Form des »viel diskutierten ›dritten Weges‹«, der in seiner »eudämonistischen Überzeugungskraft und als demokratischer Sozialismus« überzeuge,106 scheine mit dem »Aufstand in Ungarn« (MJ, 129) am Horizont der poststalinistischen Gegenwart in der DDR auf. Die Aufstände in Budapest und anderen ungarischen Städten werden aber durch »das Vorgehen der Roten Armee« (MJ, 216) niedergeschlagen, die Hoffnung bleibt Utopie. So eingängig Neumanns parabolische Übertragung der biblischen Jakoberzählung auf das Romangeschehen sein mag, wird spätestens mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands deutlich, dass im Mittelpunkt des Romans nicht der West-Ost-Konflikt steht, sondern vielmehr der zwischen demokratischem und real existierendem Sozialismus. Die westdeutsche Perspektive beschränkt sich im Roman auf die wenigen Kontakte, die Jakob beim Besuch Gesines mit westdeutschen Bürgern hat. Gesine nimmt eine solche westdeutsche Perspektive nicht ein. Sie hat in ihrer neuen ›Heimat‹ »kein Woulgefalln« (MJ, 31) und tritt als eine vor dem real existierenden Sozialismus Geflüchtete in Erscheinung, die verstanden habe, »dass Freiheit nicht das Anderskönnen bedeutet sondern das Andersmüssen« (MJ, 155). Folglich wirft Neumanns onomastischbiblische These bereits an dieser Stelle einige Fragen auf, die sich durch seine weiteren Ausführungen noch vermehren: Mit dem Beginn des Bruderkampfes zwischen den Systemen (Niederwälzung des ungarischen Befreiungskampfes; Invasion gegen Ägypten) endet auch die parabolische Parallelführung zur Geschichte des biblischen Jakob bei Johnson. Nun übernimmt die 100 101 102 103 104 105 106

Paulsen, Innenansichten, S. 138. Neumann, Utopie und Mythos, S. 130. Gen 25,23. Neumann, Utopie und Mythos, S. 132. Vgl. Gen 25,29–34. Vgl. Gen 27,1–40. Neumann, Utopie und Mythos, S. 132.

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Absalom-Geschichte die mythische Leitfunktion innerhalb des Romans. […] Der Westen, die Engländer und die Franzosen, reagierten zunächst auf sowjetische Maßnahmen gegen Ungarn: wie Absalom mit Recht gegen Amnon vorgeht, der Thamar geschändet hat. Dann aber vergingen sie sich gegen den ›Willen des Weltgeistes‹ (vielleicht ist die Parallele zu Absaloms Auflehnung gegen David, den Statthalter Gottes, erlaubt) und fielen, entgegen der Logik der Geschichte, nur um ihrer überlebten imperialistischen Interessen willen, in ein Land ein, dessen Befreiung vom Imperialismus auf der Tagesordnung stand. So verwandelt sich ›Recht‹ in ›Unrecht‹; ihre Zeit als Kolonialmächte war um. Die Utopie schlägt an diesem Punkt in die schreckliche, die gewaltsame, die unlösbar verstrickte Form des Mythos um. Die ›politische Physik‹ gerät zum mythischen Gewalt-Ablauf.107

Zweifelsfrei sorgt Johnson mit der Parallelisierung von ungarischem Volksaufstand und Suezkrise für eine historische Gerechtigkeit, die für die politische Engführung im Ost-West-Konflikt beachtlich ist. Warum die angesprochenen politischen Parabeln aber ausgerechnet in der Figur des Jakob angelegt sein sollen, die ohne politische Überzeugung daherkommt und in »geradezu ›weiblicher‹ Passivität verharrt«,108 darauf geht Neumann nicht ein. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte darin bestehen, Jakob als Projektionsfläche der politischen Auseinandersetzungen zu betrachten, denen er sich nicht entziehen kann, weil sie ihm anhaften wie sein Name.109 Wie Neumann nimmt auch Paefgen eine onomastisch-biblische Deutung der Figur vor. Im Gegensatz zu Neumanns umfassender allegorischer Interpretation beschränkt sich Paefgen aber auf die Frage, ob »man den Jakob der Mutmassungen besser oder anders verstehen [könne], wenn man den biblischen Jakob hinzuzieht«.110 Trotz der frappierenden Unterschiede in der Anlage beider Figuren bejaht Paefgen diese Frage aufgrund einer angenommenen intertextuellen Beziehung zwischen Jakobs Gespräch mit Rohlfs am Dienstagabend im Elbehotel und dem Kampf des biblischen Jakob am Fluss Jabbok. Nachdem sich Jakob mit seinem Onkel Laban, dessen beide Töchter Lea und Rahel er zur Frau genommen hat, auf dem Berg Gilead versöhnt,111 strebt er an, sich auch mit seinem Bruder Esau auszusöhnen. Bevor es jedoch hierzu kommt, zieht er in der Nacht mit seinen beiden Frauen, ihren Mägden und seinen elf Kindern an die Furt des 107 Ebd., S. 134. 108 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 147. 109 Ähnlich formuliert es Bond, dem zufolge Johnson ein »Bild der DDR in einem kurzen Moment der Hoffnung im Herbst 1956« entwerfe: »Nach dem Bekanntwerden von Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KP der UdSSR im Februar 1956 und seiner Abrechnung mit Stalin schien ein Tauwetter möglich. Der Aufstand in Ungarn, den Johnson in den Mittelpunkt der Romanhandlung stellt, machte dem ein Ende – auch dafür steht der Tod Jakobs«; Bond, Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, S. 151. 110 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 85. 111 Vgl. Gen 31,22–54.

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Jabbok. Nachdem er seine Gefolgschaft durch den Flusslauf gebracht hat, bleibt er allein zurück: 25

[…] Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs war über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. 29Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist oblegen. 30Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.112

Die Darstellung von Jakobs Kampf am Jabbok enthält zwei Erzählebenen, die für die Deutung des Textes von Bedeutung sind. Auf einer ersten Ebene wird die für sich selbstständige Begegnung eines Menschen mit einem dämonischen bzw. göttlichen Wesen erzählt, die »in vielem unklar und geheimnisvoll« ist, aber dennoch »auf keinen Fall weginterpretiert werden« dürfe.113 So nimmt etwa Josef Scharbert eine Sage als stofflichen Hintergrund an, »nach der es an einer Jabbokfurt zu einer geheimnisvollen Begegnung zwischen Jakob und dem Flußdämon gekommen«114 sei. Auf einer zweiten Ebene ist die Erzählung Teil der Geschichte Jakobs und nach Abschluss des Jakob-Laban-Zyklus dessen Höhepunkt115 bzw. retardierendes Moment.116 Unmittelbar vor dem Zusammentreffen mit Esau, der ihm »mit vierhundert Mann«117 entgegenzieht, wird Jakob in einen Kampf mit seinem Gott verwickelt und »vollmächtig in Israel umbenannt«.118 112 Gen 32,25–31. 113 Hans Jochen Boecker: 1. Mose 25,12–37,1. Isaak und Jakob, Zürich 1992, S. 100. 114 Josef Scharbert: Genesis 12–50, Würzburg 1986, S. 221. Dagegen vgl. Boecker, 1. Mose 25,12– 37, S. 100: »Natürlich liegt die Annahme einer ursprünglich kanaanäischen Lokaltradition nahe, die hier aufgenommen worden ist. Aber es gibt keine Parallelen aus dem kanaanäischen Bereich. Auch wäre die hier zutage tretende Gottesvorstellung für kanaanäisches Denken ganz ungewöhnlich. So ist der Erzählstoff israelitischem Denken vielleicht doch näher (Hermisson), als man das früher gemeinhin angenommen hat. Zum Vergleich ist von den Auslegern immer schon auf eine andere Erzählung hingewiesen worden, auf Jahwes nächtlichen Überfall auf Mose, 2. Mose 4,24–26.« Ina Willi-Plein folgt Boecker und nimmt an, »dass eine alte Ortstradition von einem gefährlichen Schadensgeist am Flussübergang vom Verfasser als Erzählbaustein verwendet wurde, um nicht nur von der Gefährdung des Übergangs allgemein, sondern auch von der Last der noch unerledigten Schuld der Vergangenheit, die Jakob zu bewältigen hat, zu sprechen«; Ina Willi-Plein: Das Buch Genesis. Kapitel 12–50, Stuttgart 2011, S. 214. 115 Vgl. Horst Seebass: Genesis II. Vätergeschichte II (23,1–36,43), Neukirchen-Vluyn 1999, S. 401. 116 Scharbert, Genesis 12–50, S. 223. 117 Gen 32,7. 118 Seebass, Genesis II, S. 401.

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Damit wird er für die Begegnung mit seinem Bruder »entscheidend gestärkt und von der Gottheit in Schutz genommen«.119 Der ihm erteilte Segen rekurriert auf Jakobs vergangene Schuld, den von seinem Vater Isaak erschlichenen Segen für den älteren Bruder Esau. Doch anders als gegenüber seinem Vater antwortet der Gefragte dieses Mal mit seinem richtigen Namen. Neben dem Segen erhält Jakob mit ›Israel‹ einen neuen Namen, der vielmehr einem Ehrennamen gleichkommt, tritt der neue Name in den folgenden Erzählungen doch nicht an die Stelle des alten.120 Folglich interpretiert Seebass den neuen Namen nicht als Zeichen, den alten Namen »hinter sich [zu] lassen und damit all das Dunkle, mit dem seine Geschichte belastet ist«,121 sondern als Geste der Ehrerbietung: »Israel« soll Jakob zugesprochen werden, weil er mit Gott und Menschen im Streit war und ihn jeweils bestand. Der »Mann« spricht Jakob zu, daß er a) den Streit mit ihm als einem gottheitlichen Wesen, b) den mit Esau […] wie den mit Laban bereits bestanden hat, ja c) daß auch die Antastung der durch Gott geschützten patria auctoritas (Kap. 27) keinen Ergehenszusammenhang auslöst.122

Entsprechend siegt Jakob auch nicht über Gott, sondern er besteht die ihm gestellte, lebensbedrohliche Prüfung.123 Dass diese Lebensbedrohung von Gott ausgeht, transportiert ein alttestamentliches Gottesbild, wonach Gott nicht »allmächtig und unwandelbar als letzter Urgrund des Seins im Transzendenten verharrt«, sondern »dem Menschen spürbar begegnet, ihm sogar feindlich gegenüber auftritt und ihm Wunden beibringt«.124 Wie im Buch Hiob wird Gott beim Kampf am Jabbok »zu einem Feind ohne den Grund einer schweren Verfehlung«.125 Rohlfs’ Entscheidung, mit Jakob in Kontakt zu treten, hat ebenfalls kein Fehlverhalten zum Anlass – ganz im Gegenteil. Jakobs unauffälliges und vorbildliches Leben prädestiniert ihn aus Sicht von Rohlfs geradezu, Gesine für eine Tätigkeit im Staatssicherheitsdienst zu gewinnen. Als Ausgangspunkt für die Suche nach strukturellen Parallelen zwischen der biblischen Jakob-Erzählung und dem Gespräch zwischen Jakob und Rohlfs im Elbehotel dient Paefgen der 119 120 121 122 123

Ebd. Boecker, 1. Mose 25,12–37, S. 103. Ebd., S. 102. Seebass, Genesis II, S. 396. Vgl. ebd. Vgl. auch Boecker, 1. Mose 25,12–37, S. 100: »bei diesem Kampf geht es ja wahrlich nicht um eine sportliche Auseinandersetzung. Es geht um Lebensbedrohung und um Überwindung dieser Lebensbedrohung.« Dennoch stellt Boecker kurz darauf Überlegungen über einen möglichen ›Sieger‹ des Kampfes an, gelangt aber zu dem Schluss, dass keiner den anderen überwältigen könne, »[a]ber jeder gewinnt auf seine Weise Macht über den anderen, indem der eine den anderen an der Hüfte verletzt und dieser den Kontrahenten trotzdem festzuhalten vermag«; ebd., S. 102. 124 Boecker, 1. Mose 25,12–37, S. 105. 125 Seebass, Genesis II, S. 403.

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Zweikampfcharakter der Unterredung, den der Erzähler durch Beschreibungen der Körpersprache der beiden Protagonisten betont.126 Jakobs Stimme wird bei der herausfordernden Frage, ob »einer sich selbst versäumen [soll] über seinem Zweck«, als »zäh bis zum letzten Laut« beschrieben (MJ, 125). Ähnlich dem biblischen Jakob, der aufgefordert wird, den mit ihm ringenden Gott loszulassen und dies ablehnt, schlägt Jakob den Erklärungs- und Rechtfertigungsversuch von Rohlfs, er hätte dessen Mutter »nicht mit Gewalt aufhalten können« (MJ, 125), aus. Die Überraschung des Stasi-Hauptmanns, der ausschließlich in dieser Szene den Namen ›Seemann‹ trägt,127 auf Jakobs Herausforderung spiegelt sich in dessen Gesicht wider. Er fühlt es »wie erstarrt auf versteiftem Nacken und mitten darin den harten Griff der Zähne auf den Lippen« (MJ, 125). Rohlfs nächste Reaktion fällt »gewaltsam« (MJ, 125) aus. Er stellt sich zum Gegenangriff vor Jakob. Nach einem kurzen Wortgefecht »umklammern« sich ihre Blicke, bevor Jakob »überrascht« (MJ, 125) darüber ist, ein einvernehmendes Nicken wahrzunehmen.128 Das Gespräch zwischen Jakob und Rohlfs nimmt ebenso überraschende Wendungen wie der Kampf zwischen dem biblischen Jakob und Gott. Die Machtverhältnisse im biblischen Zweikampf wogen hin und her, wenn Jakob das Gelenk der Hüfte verrenkt wird, der Angreifer aber darum bittet, gehen zu dürfen, Jakob die Bedingung stellt, gesegnet zu werden, hingegen nicht erfährt, wie sein Gegenüber heißt. Dieses Changieren findet sich beim Gespräch im Elbehotel im Verhältnis von Nähe und Distanz wieder: Auf Rohlfs Erklärungs- und Annäherungsversuch reagiert Jakob provokant-abweisend. Seine herausfordernde Frage, »[s]oll einer sich selbst versäumen über einem Zweck«, beantwortet Rohlfs einsilbig und »grob« mit »Ja« (MJ, 125). Was folgt, ist eine »kleine Sensation und ein Höhepunkt in diesem Duell«, denn Jakob wechselt bei der Anrede des StasiHauptmanns von der dritten in die zweite Person Singular, »zum vertrauten Du«.129 Überdies kehren sich seine Hände so, dass die »locker ausgestreckten Finger[] offen« (MJ, 125) daliegen, zum Geben wie zum Empfangen. Rohlfs 126 Vgl. Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 86. 127 In der ersten überlieferten Fassung hatte Johnson den Namen ›Seemann‹ an zwei weiteren Stellen (vgl. MJ, 47, 122) vorgesehen, dann aber durch die Namen ›Rohlfs‹ bzw. ›Fabian‹ ersetzt. Diese Überarbeitung nahm Johnson auch für die dritte Benennung des StasiHauptmanns in dieser Szene vor; aus ›Seemann‹ wurde in der zweiten überlieferten Fassung ›Fabian‹ und schließlich ›Rohlfs‹: »›Ja‹, sagte Herr Rohlfs grob.« (MJ, 125); vgl. Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 4, Bl. 15; Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (2. Fs.), Mappe 10, Bl. 38, abgedruckt in Kommentar, S. 316, 327f. 128 Vgl. MJ, 125: »Bis Jakob überrascht wahrnahm dass der andere genickt hatte mit plötzlich geschlossenen Augen. Er stand auf. Sie verabschiedeten sich. Sie waren verabredet für Donnerstag.« 129 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 86.

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nimmt die vertraute Anrede an und gibt sie sogleich zurück, widerspricht Jakob aber im gleichen Atemzug. Eine weitere Widerrede Jakobs folgt, bevor Rohlfs das Gespräch für Jakob überraschend mit einem (zustimmenden) Nicken beendet. Dass Rohlfs die veränderte Anrede akzeptiert, interpretiert Paefgen analog zum Kampf am Jabbok als einen Akt, in dem der Hauptmann »›quasi‹ seinen Segen« erteilt, »indem auch er seinen Gegner einfach nur beim Vornamen nennt«.130 Jakob nimmt sein Gegenüber für sich ein, wie es ihm bereits im ersten Gespräch mit Rohlfs gelungen ist.131 Diese Aura, mit der er »die unterschiedlichsten Leute in seinen Bann zu ziehen vermag«,132 ähnelt der Ausstrahlung des biblischen Jakob, der von seinem Vater und Gott gesegnet wird sowie die Konflikte mit Laban und Esau friedlich beizulegen vermag. Als eine weitere Analogie lässt sich der Umstand deuten, dass Rohlfs als der Mächtigere den Namen seines Gegenübers kennt, während er selbst im Verlauf der Episode im Elbehotel gleich unter drei Namen geführt wird.133 Doch anders als Paefgen es darstellt, fällt der Name »Herr Seemann« (MJ, 125) nicht erst im Anschluss an Jakobs provokante Frage, »so als trete hier eine andere Seite von ihm hervor, als sei er jemand anderes, wenn er kurzfristig fast die Kontrolle über sich zu verlieren scheint«.134 Bereits kurz zuvor ist vom »Wagen […] Herrn Seemanns« (MJ, 125) die Rede. Stattdessen wandelt sich der vorgegebene, ›falsche‹ Name im Moment der Antwort auf Jakobs Frage zum scheinbar ›richtigen‹ Namen: »›Ja‹, sagte Herr Rohlfs grob.« (MJ, 125) Nichtsdestotrotz lässt sich die Beobachtung festhalten, dass der Mächtigere der beiden wie in der biblischen Erzählung seinen Namen verschleiert. Zur Namensgebung des Stammvaters Jakob lässt sich jedoch kein Zusammenhang herstellen. Als letztes Indiz für eine mögliche Analogie führt Paefgen an, dass sich beim Wortgefecht im Elbehotel wie beim Kampf am Jabbok kein Sieger ausfindig machen lasse.135 In den exegetischen Ausführungen wurde bereits darauf verwiesen, dass Jakob keinen Wettstreit führt, sondern eine lebensbedrohliche Herausforderung zu bestehen hat. 130 Ebd. 131 MJ, 41: »Und seine Arbeit bedeutet nur diese Verantwortung und nichts darüber hinaus: dachte ich, ich hätte ihn gern gefragt wie er denn lebt. Was ein ernsthafter Mensch dachte ich.« 132 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 84. 133 Während der Erzähler zunächst von »Herr[n] Rohlfs« (MJ, 117, 151) spricht, verweist er auf die falsch ausgewiesenen Identitäten des Hauptmanns, indem die Bezeichnungen »Herr Rohlfs und Herr Fabian« (MJ, 122) Teil einer inquit-Formel sind. In der nächsten Erzählerpassage gibt der Erzähler Jakobs Gegenüber zwei Mal den Namen »Herr Seemann« (MJ, 125), bevor der Hauptmann zum Abschluss wieder als »Herr Rohlfs« (MJ, 125) benannt wird. 134 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 86. Die Funktion dieses auratischen Erscheinens sieht Klaus in der Fallhöhe Jakobs, der trotz seiner »ursprünglich positiven Disposition« durch das System des real existierenden Sozialismus vernichtet wird; Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 146. 135 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 86, 92.

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Einer vergleichbaren Herausforderung ist der Jakob der Mutmassungen über Jakob ausgesetzt, indem ihm Rohlfs’ Version, und damit die staatlich-offizielle, von der Flucht seiner Mutter präsentiert wird. Statt diese Darstellung zu akzeptieren, bewahrt sich Jakob seine Deutungsmacht und damit seine persönliche Souveränität. Kompositorisch stellt die Episode im Elbehotel nicht den Höhepunkt der Herausforderung dar, sondern eher die Initiation der Epitasis:136 Zum ersten Mal muss sich Jakob des unmittelbaren staatlichen Zugriffs auf sein Leben erwehren. Hiervon ausgehend lässt sich über die bloße Begebenheit des Duells hinaus fragen, inwieweit das Gespräch im Elbehotel Teil einer ›Jakoberzählung‹ ist und als Scharnier von Vergangenheit und Zukunft fungiert. Jakob Abs hat, anders als der biblische Jakob, keinen Bruder, dafür aber eine Ziehschwester, die den Hintergrund der Gespräche mit Rohlfs bildet. Wie Jakob nach dem Kampf am Jabbok auf seinen Bruder trifft, wartet Gesine auf ihren Jakob vor dem Hotel »unter dem Baum trotzig mit krummem Nacken« (MJ, 126), nachdem sie ihn nach ihrer Ankunft in der Elbestadt in dessen Zimmer nicht antreffen konnte (vgl. MJ, 114f.). Ähnlich dem Jakob-Esau-Zyklus entwickelt sich aus der Zusammenkunft von Jakob und Gesine eine Art Versöhnung, aus der heraus die beiden Ziehgeschwister zu einem Liebespaar werden. Gesine erkennt, »dass Jakob nicht übriggeblieben sein konnte aus der Zeit unverändert als der Grosse Bruder« (MJ, 155). Zu diesem vorübergehenden Liebesglück trägt Rohlfs implizit bei, indem er Jakob für die drohende Gefahr sensibilisiert. Jakob weiß, dass die Staatssicherheit ihn und Gesine im Visier hat, sodass er sie vor einer möglichen Festnahme beschützen kann: Seine Hand griff so hart um meinen Hals dass ich gleich hochkam; er hatte mich gar nicht ansehen wollen. So schrägköpfig allein neben mir abseits im Dunkeln: als ob er nur die Hand frei hatte um sich meiner zu vergewissern. […] Vor dem Hotel schlug eine Wagentür zu. Ich wandte mich um den Baumstamm und kam mit den Augen gerade in das Licht und war noch geblendet als Jakob mich an den Zaun zurückgerissen hatte zwei Meter in einen Sprung über den Bürgersteig. Er hielt mich noch am Handgelenk […]. (MJ, 126)

Eine strukturelle Entsprechung findet diese Szene auf dem Höhepunkt des privaten Erzählstranges in Jerichow. Wiederum droht Gefahr durch ein Scheinwerferlicht, woraufhin Jakob Gesine am Nacken fasst, sie herunterdrückt und letztlich küsst: denn als sie über die Strasse gelaufen waren schräg den Damm hinunter und hinter den Erlen auf dem Knüppeldamm standen im Bruch, kam das schwere Rasen auf der Strasse 136 Vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 107. Krellner spricht entsprechend vom »Wendepunkt der Basisgeschichte«; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 70; Kursivdruck im Original.

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viel zu schnell näher, die Scheinwerfer schienen in der Kurve genau auf sie zuzuspringen und Jakob blieb stehen in einem einzigen Ruck das Licht suchte ihre Gesichter genau ab und verweilte auf jeder Einzelheit, da war sie gegen ihn geprallt in dem ungeheuren Schreck und blieb so starr mit dem Gesicht gegen seine Schulter gepresst und Jakobs Hand in ihrem Nacken drückte sie mit unendlicher ewiger Langsamkeit aus dem Lichtkeil nach unten, bis auf der Chaussee der Suchscheinwerfer ausgeschaltet wurde und der Wagen davonging hinter den Bäumen und sie küssten einander nach wieviel Jahren. Nach elf Jahren. (MJ, 154f.)

Rohlfs beeinflusst das Liebesschicksal von Jakob und Gesine jedoch nicht nur indirekt. Er verspricht Jakob sicheres Geleit für Gesine von Jerichow zurück zur Autobahn137 und bewirkt dessen Ausreisegenehmigung zum Besuch seiner Mutter und Gesines (vgl. MJ, 221). Rohlfs verkörpert damit wie der alttestamentliche Gott eine ambivalente Rolle: Als Staatsvertreter greift er massiv in das Leben eines Bürgers ein, stellt für Jakob wie für seine Familie eine Bedrohung dar und konfrontiert ihn mit den politischen Gegebenheiten im real existierenden Sozialismus. Dennoch beschützt er Jakob und die Seinen vor der Umsetzung staatlicher Regelungen.138 Fasst man die Ergebnisse des Vergleichs zwischen dem Gespräch im Elbehotel und dem biblischen Kampf am Jabbok zusammen, so lassen sich einige strukturelle Gemeinsamkeiten feststellen, wie der Zweikampfcharakter der Szenerie, die mehrfachen Wechsel von Nähe und Distanz in den Duellen, die Weigerung des Mächtigeren, seinen (wirklichen) Namen zu nennen, oder der einnehmende Charakter der beiden Jakob-Figuren. Diese Gemeinsamkeiten beschränken sich auf die erste Erzählebene der biblischen Erzählung, die Begegnung Jakobs mit einem dämonischen bzw. göttlichen Wesen. Betrachtet man die zweite Erzählebene, die Jakoberzählung, ergibt ein Vergleich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Der Plot der Jakoberzählung, die Versöhnung mit seinem Bruder Esau, ließe sich für die Mutmas137 Vgl. MJ, 164: »›Versprich‹ sagte Jakob. Ich kam mir überrumpelt vor. Es war das Einfachste. In der Atmosphäre des Vertrauens nach dem Prinzip des gegenseitigen Vorteils. Als Hänschen von unten kam mit Jakobs getrockneten gebügelten Sachen, teilte ich ihm dienstlich mit dieser Auftrag ist abgeschlossen«; MJ, 176: »da hatte Jakob nur noch zu erklären dass Herr Rohlfs ihm aber die Hand gegeben hatte«. Das Einlösen des Versprechens wird von Gesine im Dialog mit Jonas erzählt (vgl. MJ, 179f.). 138 Vgl. etwa auch MJ, 227: »– […] Es ist aktenkundig dass Jakob am Tag vor der Abreise einen Fotoapparat gekauft hat. Und da wir den bei der Haussuchung nicht finden konnten, hat er ihn also mitgenommen über die Grenze und ihn verkauft in der Bundesrepublik für etwa fünfhundert Westmark, das reichte für die Hotelrechnung, es muss noch etwas übriggeblieben sein, vielleicht hat er es umgetauscht. / – Das wären doch gleich zwei Straffälligkeiten: einmal Schmuggelei und dann noch ein schwerer Verstoss gegen Ihr Gesetz über den innerdeutschen Geldverkehr. So würden Sie es ausdrücken? Jakob ist ein Devisenschieber, ein Schädling an der volkseigenen Wirtschaft? / – Ich sehe nicht warum ich es anders nennen sollte.«

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sungen über Jakob auf die Beziehung von Jakob und seiner Ziehschwester Gesine übertragen. Zwar ergibt sich aus ihrer neuerlichen Begegnung keine Versöhnung, ihre Beziehung verändert sich aber von einem Geschwister- in ein Liebesverhältnis. Ein Fehlverhalten wie das des biblischen Jakobs, der seinen Bruder um den väterlichen Segen des Erstgeborenen betrügt, lässt sich für Jakob Abs im Roman nicht nachweisen. Das kooperative Verhalten gegenüber Rohlfs geht nicht auf seine Initiative zurück, sondern erwächst aus der Situation: der Bedrohung durch die staatliche Obrigkeit gepaart mit dem Pflichtbewusstsein Jakobs. Darüber hinaus bildet das Gespräch im Elbehotel kompositorisch nicht den Höhepunkt oder das retardierende Moment wie der Kampf am Jabbok, sondern vielmehr den Beginn der Epitasis. Aus intertextueller Sicht weist Paefgens allegorische Interpretation eine höhere Selektivität auf als Neumanns Deutungsansatz. Dennoch beschränkt sich die Selektion aus der biblischen Erzählung auf strukturelle Ähnlichkeiten. Als Signalvokabel fungiert ausschließlich der Name ›Jakob‹, sodass die Referentialität der Einzeltextreferenz überaus gering ausfällt. Ähnlich verhält es sich bei der bereits erwähnten allegorischen Deutung von Jakobs Nachnamen unter Rückgriff auf die biblischer Figur Absalom. Neben Neumanns parabolischer Übertragung des im Roman dargestellten Ost-WestKonflikts auf die Absalom-Erzählung, versuchen Fickert und Paulsen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der Romanfigur und Davids Lieblingssohn herzustellen. Fickert erkennt zwischen beiden Figuren drei Parallelen: Jakob Abs verteidige seine Ziehschwester Gesine wie Absalom seine Schwester Thamar, er sei ein »political activist«,139 der gegen die Regierung seines Vaterlandes vorgehe, wie jener gegen seinen Vater zu Felde gezogen sei, und beide kämen auf bizarre Weise zu Tode.140 Dass ausgerechnet in der politisch inaktivsten Figur des Ro139 Fickert, Biblical Symbolism, S. 60. 140 Vgl. ebd. Vgl. auch Klaus J. Fickert: Symbol Complexes in Mutmaßungen über Jakob, in: Germanic Review 61, 1986, H. 3, S. 105–108, hier: S. 106: »In this instance, the name calls to mind the story of a young man, the son of King David, whose life duplicates Jakob Abs’s in at least three aspects: he is the staunch defender of his sister (Jakob’s Gesine is an adoptive sister); he rebels against his father’s rule, while Jakob renounces his fealty to the fatherhood of the state; and, finally, both die in a bizarre fashion.« Paulsen weist überdies darauf hin, dass Absalom nach 2 Sam 14,25 ein »Schönling« ist: »25Es war aber in ganz Israel kein Mann so schön wie Absalom, und er hatte dieses Lob vor allen; von seiner Fußsohle an bis auf seinen Scheitel war nicht ein Fehl an ihm«; Paulsen, Innenansichten, S. 136; 2 Sam 14,25. In seinen anschließenden Ausführungen belegt er aber keine Ähnlichkeit der biblischen Figur zu Jakob Abs, sondern ergeht sich in biografischen Mutmaßungen über die Eitelkeit des Autors: »Wenn man so will, hat Johnson nicht nur seinen Schädel kahlgeschoren, sondern auch den Namen des schönen Absalom in ein Abs reduziert«; Paulsen, Innenansichten, S. 137. Dass Tamara Krappmann die Behauptung Paulsens bekräftigt und an Jakobs körperlicher Attraktivität »kein[en] Zweifel« aufkommen lassen möchte, obwohl sie beobachtet, dass Johnson eine »ausführliche Beschreibung seines Jakobs in den Mutmassungen auslässt«, ist nicht nachzuvollziehen; Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 168.

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mans die gewaltsame Auflehnung angelegt bzw. Jakob selbst ein »political activist« sei, klingt wenig plausibel. Aber auch Neumann sieht in Jakob den »authentischen, weil basisdemokratischen Sozialismus gerade in der täglichen Arbeitspraxis« verwirklicht und somit die »marxistische[] Kritik an den Herrschaftsformen im ›real bestehenden Sozialismus‹ in der DDR von 1956«.141 Klaus wendet gegen Neumanns Gedankenführung ein, dass »ein Gelingen Jakobs – wie Neumann es mit der Eudämonie der Figur wieder und wieder behauptet hat – doch nur als Affirmation eines Systems, das solch ein Leben möglich macht, verstanden werden kann«.142 Vielmehr bringe Jakobs Tod eine Kritik an einem System zum Ausdruck, »das selbst ein Individuum mit einer ursprünglich positiven Disposition vernichtet«.143 Jakob ist kein Aufrührer wie Absalom, sondern ein Opfer des politischen Systems. Die Annahme einer Gemeinsamkeit ist durch den Roman nicht gedeckt. Ähnlich verhält es sich bei Fickerts These, der Tod Absaloms habe »that element of the bizarre and the ambiguous which is present in Jakob’s death«.144 Lässt man für den Vergleich der Todesursachen die allegorischen Überlegungen vorübergehend außen vor und berücksichtigt nur den Kontext der jeweiligen Erzählung, lässt sich eine Ähnlichkeitsbeziehung nur schwer herstellen. Absaloms Tod, sich mit seinem in einer Eiche verfangenen Haupt erhängend,145 trägt außerordentlich groteske Züge eines an Übermut gescheiterten Sohnes, während Jakobs Tod ein sich abzeichnendes Schicksal besiegelt, das symbolisch im Bild zweier auf ihn zufahrender Züge dargestellt wird. Hier das Agens Absalom, da das Patiens Jakob. Was bleibt, ist das beiden gemeinsame Motiv der Verteidigung der eigenen Ziehschwester. Doch auch diesbezüglich überwiegen die Unterschiede gegenüber den Gemeinsamkeiten: Jakob gelingt es, Gesine vor der Gefahr einer Inhaftierung zu schützen, wohingegen Absalom seine Schwester rächt, nachdem ihr Unrecht widerfahren ist. Überdies wirft die angenommene Analogie die Frage auf, wie die Familienbeziehung von Bruder (Absalom), Schwester (Thamar) und Halbbruder (Amnon) auf den Kontext der Mutmassungen über Jakob übertragen werden kann. Eine direkte intertextuelle Beziehung zwischen Jakob Abs und dem biblischen Absalom lässt sich somit nicht herstellen. Paulsen und Ute Müller sehen im Nachnamen ›Abs‹ daher auch mehr eine »Verbeugung«146 vor jenem Autor, den Johnson während der Arbeit an den Mutmas-

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Neumann, Utopie und Mimesis, S. 35f. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 146; Kursivdruck im Original. Ebd. Fickert, Biblical Symbolism, S. 60. Vgl. 2 Sam 18,9. Paulsen, Innenansichten, S. 138.

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sungen über Jakob rezipierte: William Faulkner.147 Für Müller zitiert Jakobs Nachname »offensichtlich Faulkners Absalom, Absalom!«.148 Für die vorliegende Betrachtung des Einflusses biblischer Intertexte auf den politisch-gesellschaftlichen Diskurs der Mutmassungen über Jakob können zwei Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Figur Jakob Abs wird durch keinerlei explizite biblische Intertexte im Roman verortet. Zurückführen ließe sich das auf den Umstand, dass Jakob über keine eigene Stimme verfügt.149 Die Analyse der Figur Heinrich Cresspahl wird aber zeigen, dass dieser Umstand keinen hinreichenden Grund bildet. Dafür existiert eine Fülle biblisch-allegorischer Interpretationen der Figur, die deren Vor- und Nachnamen zum Ausgangspunkt haben. Die Analyse der bisherigen Deutungen hat gezeigt, dass es im Romantext vereinzelt Anhaltspunkte für eine solche Interpretation gibt, die intertextuelle Intensität aber gering ausfällt. Ein weiterer Beleg für diesen Befund sind die sich teils diametral widersprechenden Deutungsansätze, die wie im Fall von Radke und Neumann Gefahr laufen überzuinterpretieren und das Romangeschehen auf eine biblisch-allegorische Deutung hin zu verengen. Die vorangegangenen Überlegungen haben aber gezeigt, dass die Berücksichtigung der Bibel mit ihren Figuren, Erzählungen und ihrer Sprache ein in den Mutmassungen über Jakob angelegtes Register ist, das den Bedeutungshorizont des Romans erweitert. Noch deutlicher wird dies für die zweite Figur im Roman, die vor allem hinsichtlich ihres Namens biblisch gedeutet wurde.

2.2.3 Jonas Blach Jahre nach dem Erscheinen des Romans erklärte Johnson, beim »Doktor der Philologie« (MJ, 89) und Assistenten des Anglistischen Seminars der Humboldt Universität zu Berlin, Jonas Blach »sicherlich nicht an eine biblische Beziehung gedacht [zu haben]. Er stammt schließlich aus einer Kleinstadt in Sachsen. Für 147 Nicola Westphal stellt hingegen grundsätzlich infrage, dass der Name ›Abs‹ auf ›Absalom‹ verweist: »Will man, wie Kurt Fickert und Bernd Neumann, unbedingt Namensmetaphorik in Anschlag bringen, so erscheint die Assoziation zu ›abstrakt‹ hier doch sehr viel naheliegender als die zu ›Absalom‹«; Westphal, Literarische Kartografie, S. 94. 148 Ute Müller: William Faulkner und die Deutsche Nachkriegsliteratur, Würzburg 2005, S. 264. Müller führt die Gliederung der Handlung in eine Vorzeit- und Gegenwartsebene sowie die drei Erzählmodi auf den Einfluss von Absalom, Absalom! zurück; vgl. ebd, S. 264f. Vgl. auch Kommentar, S. 303. 149 Dass Jakob aufgrund seines Todes nicht als Dialogpartner auftreten kann und auch nicht zu den Figuren gehört, deren Innensicht in Monologform präsentiert wird, bedeutet nicht, wie Krellner gezeigt hat, dass die Innenperspektive Jakobs verborgen bleibt. In den vielstimmigen Erzählerpassagen wird seine Innensicht wiederholt dargestellt; vgl. Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 78–80.

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jemanden, der triefnaß aus dem Regen kommt, gibt es dort immer noch eine Redensart: ›Du bist ja naß wie ein Jonas.‹«150 Noch einmal zehn Jahre später, im Rahmen seiner Frankfurter Vorlesungen relativierte er diese Aussage: ›Nass wie ein Jonas‹ sagt man im Sächsischen von jemanden, der unter einer Traufe hervortritt. Das war der zweite biblische Name, zuviel demnach, aber er hielt fest an einer Stimme, die zäh und in lehrendem Ton zweifelt an einer Wissenschaft. Der Name blieb. Immerhin hatte ein Jonas einmal Streit gehabt mit seinem Gott, weil der anders tat als er versprochen hatte. Der Fall dieses Ideologen wurde schriftlich durchgenommen im November 1957 ( jetzt veröffentlicht unter dem Titel ›Jonas zum Beispiel‹). (BU, 121)

Johnson stellt zwischen dem Jonas in seiner Adaption der biblischen Jona-Geschichte und Jonas Blach der Mutmassungen über Jakob eine direkte Verbindung her. Bereits im ersten Teil dieser Arbeit wurde auf den textgenetischen Umstand hingewiesen, der für die zweite Aussage spricht. Die erste überlieferte Fassung der Parabel Jonas zum Beispiel stammt vom 11. November 1957;151 zu einer Zeit, in der Johnson an den Mutmassungen über Jakob arbeitete.152 Überdies trägt die Figur in der ersten überlieferten Fassung der Mutmassungen über Jakob noch an zwei Stellen den Namen ›Axel‹, den Johnson in der zweiten überlieferten Fassung einheitlich zu ›Jonas‹ angepasst hat.153 Die Veränderung des Vornamens bekräftigt die Annahme, dass der ersten überlieferten bereits eine frühere Fassung des Romans vorausging. Vor allem aber deutet sie die Bedeutung an, die dem neuen Namen für die Figur zukommt. Den Gehalt der Jonas-Parabel fasste Johnson, auch darauf wurde bereits verwiesen, im Interview mit Schwarz im Juli 1969 als einen Versuch zusammen, »die Schwierigkeiten zu erklären, in die ein Intellektueller kommt, wenn er sich mit Macht affiliiert und dann wegen taktischer Schwankungen sitzengelassen wird«.154 Ein solcher Intellektueller ist der Jonas Blach der Mutmassungen über Jakob, der als »wohlgeschätzte[r] Gehilfe des alten Mannes« (MJ, 87), seines Professors, im nächsten Jahr Dr. habil. und Oberassistent sein werde, »und Professor und geachtet […] in der Würde des wissenschaftlichen Dienstes: wenn er nichts dagegen tat« (MJ, 87). Aufgewachsen in der »abseitigen bedrängten Enge einer kleinen Stadt in Sachsen« (MJ, 86) schlägt Jonas aus der Sicht von Rohlfs eine »begabte Karriere« ein: Nach der Oberschule folgen »Studium Examen Assistenz

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Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243. Vgl. Johnson, [ohne Titel; Jonas zum Beispiel]. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2, Anm. 38. Vgl. Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 6, Bl. 2, 5; Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (2. Fs.), Mappe 13, Bl. 25, abgedruckt in Kommentar, S. 339. 154 Erster Teil, Kap. 1, Anm. 92.

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Promotion« (MJ, 96). Aus dem ehemaligen »Jugendfreund Blach«155 ist ein »Besserwisser« (MJ, 95) und »Geistesschaffender« (MJ, 97) geworden, der sich an der Universität vom staatlich propagierten Konformismus emanzipiert hat und zu einem ›Angehörigen‹ der sogenannten Intelligenz156 geworden ist, gegen die Rohlfs als Vertreter des Staates eine offene Abneigung hegt (vgl. MJ, 62f.). Jonas widerstrebt es, seine wissenschaftliche und gesellschaftliche Tätigkeit im sozialistischen Deutschland auf die Wiederholung politischer Worthülsen und den Gehorsam gegenüber staatlichen Vorgaben zu beschränken.157 Stattdessen hat er gelernt, mit »dreideutig verknoteten Wortbezüglichkeiten die herkömmliche Weise von Verständigung« (MJ, 138) zu überwinden. Sein Selbstverständnis als Intellektueller ist geprägt von »eigene[m] Denken und de[m] Wille[n] zum Widerspruch«.158 Er beschränkt sich nicht auf die Rezeption staatlich gelenkter ostdeutscher Medien und zeigt dies auch öffentlich, indem er »scharf und tonsicher eine Melodie pfiff aus dem ständigen Nachtprogramm eines amerikanischen Soldatensenders in Deutschland« (MJ, 85). Trotz dieses Anzeichens von Widerstand ist Jonas der Sache des Sozialismus »unbelehrbar ergeben« (MJ, 137) und deutet in diesem für Cresspahl sichtbaren Widerspruch159 seinen ideologischen Hintergrund an. Den Ausgangspunkt bildet die politische Gegenwart des real existierenden Sozialismus (unbelehrbar), den er im Sinne eines utopischen Sozialismus in demokratische Bahnen gelenkt sehen möchte (ergeben). Dieser Anspruch, für den er sich, übertragen auf die Wissenschaft, die »Existenz kon155 Die Bezeichnung »Jugendfreund« (MJ, 95) war die offizielle Anredeform eines FDJ-Mitglieds; vgl. Stefan Sommer: Das große Lexikon des DDR-Alltags. Von Aktivist und Altstoffsammlung über Dederon, Kaufhalle, Rondo und Subbotnik bis zum Zirkel schreibender Arbeiter, Berlin 2003, S. 262. 156 Vgl. etwa Ulrich Weißgerber: Giftige Worte der SED-Diktatur. Sprache als Instrument von Machtausübung und Ausgrenzung in der SBZ und der DDR, Berlin 2010, S. 153–157. 157 Ein Bild des staatlich erwünschten Konformismus und Obrigkeitsgehorsams verkörpert die Studentin und (Schein-)Intellektuelle Gisela, die die Diskussion über »Anlage und Aussage« eines Seminarreferates mit den Worten zum Erliegen bringt, »dass dies nur der Leiter der Übung zu beurteilen wisse« (MJ, 84f.). Neben seiner »versöhnlich[en]« Reaktion der Studentin gegenüber denkt Jonas, »dies war Fleiss, der im Zeugnis der Oberschule bescheinigte Fleiss mit nichts als der Fähigkeit zu geistiger Bewegung ohne ausschliesslichen Wunsch Willen Vorsatz und ein Nicht Anders Können, so standen die Gedanken nicht auf eigenen Füssen und waren sämtlich Abkömmlinge der überkommenen (vorbildlichen) Denkweisen, als ob die Universität die Fortsetzung des Schulbetriebes sei, auch die Wissenschaft verträgt nicht ihre eigene Nachahmung« (MJ, 85). 158 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 242. 159 Vgl. MJ, 137; Versalien im Original: »Denn UNBELEHRBAR war das Wort, das die sozialistische Staatsmacht für ihre Feinde gebrauchte und hiess soviel wie streitsüchtig besserwisserisch töricht unnütz, aber ERGEBEN verwandte sie für den anderen Teil der Bevölkerung und der internationalen Arbeiterklasse, der von dem einmal eingeschlagenen Weg zum Sozialismus UNBEIRRBAR überzeugt war und unermüdlich arbeitwillig die Anweisungen der Parteileitung ausführte, und was hiess UNBELEHRBAR ERGEBEN (dachte Cresspahl:) wenn es in Jonas’ Munde war?«

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troverser Meinungen, eigenständiges Denken und produktive Auseinandersetzung«160 wünscht, deutet sich in seinen »längeren theoretisierend-essayistischen Passagen«161 an, die bisweilen mit der Stimme des Erzählers verschmelzen.162 Die intertextuellen Verweise auf Stalins Linguistik-Briefe163 bilden eine Legitimationsgrundlage für diesen Anspruch. Sie lassen sich als »Appell des Wissenschaftlers (Dr. Jonas Blach) für die Freiheit der Wissenschaft und die Wiederbelebung des Meinungsstreits« gegenüber »stalinistisch ausgerichteten Dogmatikern, die die Parteilinie befehligten«, deuten.164 Wie weit Anspruch und Wirklichkeit im sozialistischen Alltag der DDR voneinander entfernt sind, muss Jonas im Frühjahr 1956 feststellen, als er vom Italienurlaub mit Gesine in den »sozialistischen Alltag« (MJ, 100) zurückkehrt. In der Hoffnung auf eine voranschreitende Demokratisierung, die er durch die »Geheimrede des Ersten Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« (MJ, 100) auf dem XX. Parteitag der KPdSU auf den Weg gebracht sieht, muss er beim Anblick der ostdeutschen Zeitung feststellen: »da gab es das nicht. Der XX. Kongress hatte stattgefunden, aber die Rede war nicht abgedruckt, sie kam auch nicht später, und allmählich wurde klar, dass sie für uns nicht gelten sollte.« (MJ, 100) Folgerichtig erweckt die Versammlung, auf die Jonas seinen »Chef und Professor« (MJ, 107) begleitet und auf der »gründlich und objektiv« über verschiedene Meinungen diskutiert wird – manchmal mit »nicht viel Rücksicht auf die bisher einzig anerkannten« (MJ, 101) –, die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit. Rohlfs echauffiert sich über die Veranstaltung und ihre Teilnehmer,165 während Jonas versucht, den Vorwurf der »Verschwörung« (MJ, 99), den er zuvor selbst verwendet,166 zu entkräften.167 Dennoch ist auch Jonas unsicher, inwieweit

160 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 242. 161 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 138. 162 So sind etwa Jonas’ Ausführungen zum Referat eines Studenten und die Reaktion der Studentin Gisela (vgl. MJ, 85) oder sein eigenes Referat auf der Versammlung von Wissenschaftlern (vgl. MJ, 108f.) in Erzählerpassagen integriert. 163 Vgl. Josif Vissarionovicˇ Stalin: Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1951. Vgl. hierzu Eberhard Fahlke: Die »Wirklichkeit« der Mutmassungen. Eine politische Lesart der Mutmassungen über Jakob von Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1982, S. 260–269. Fahlke bezieht sich dabei auf die linguistischen Ausführungen des Erzählers in MJ, 81f. und stellt darüber hinaus eine intertextuelle Beziehung zu Stalins Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR her; vgl. ebd., S. 267, Anm. 1. 164 Ebd., S. 269. 165 Vgl. MJ, 95f.: »Jetzt treten sie ganz unverschämt öffentlich zusammen, stellen sich hin als wären wir immer noch dabei. Ich verstehe nicht: über solche Diskussionen hat eine Zeitung geschrieben! als wüssten sie genug um es besser zu wissen. Und schicken es uns mit der Post ins Haus für den Fall, dass wir mitreden wollten. Uhrzeit. Sie stellen sich hin und reden über die künstliche Atmung der sozialistischen Moral als hätten sie Veränderungen vor.« 166 Einige Seiten zuvor werden Jakobs Worte wiedergegeben, in denen er die Versammlung als eine »anständige[] Verschwörung« (MJ, 94) bezeichnet.

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solche »Besprechungen (nennen wir es so)« (MJ, 93) nicht doch »Unsinn« sind, weil sie allein im Theoretischen verharren, hingegen nicht »mit Barrikaden enden und also mit Märtyrern im Zuchthaus« (MJ, 94). Angedeutet ist in dieser Aussage der Wunsch des jungen Akademikers nach einem praktischen Nutzen seiner Tätigkeit, denn »[w]underbar war die philologische Beschäftigung: eine sehr entlegene vereinzelte Erhabenheit des strengen Zusammenhangs (und dergleichen); sie war nicht der Beruf und das Gefäss für ein ganzes Leben« (MJ, 86). Als Stellvertreter der Arbeiterklasse stehen Cresspahl und Jakob für eben jenen praktischen Nutzen einer Arbeit und damit für die Realisierung der utopischen, sozialistischen Vorstellungen von Jonas. Nach dem Fällen eines Pflaumenbaumes in Cresspahls Garten ist er »sehr zufrieden mit seiner Müdigkeit und mit dem daumengrossen Hautfetzen, der von seiner Hand abhing, wo der Fuchsschwanz angekommen war« (MJ, 135). Ähnlich verspürt er bei der Betrachtung von Jakobs Tätigkeit im Dispatcherturm »unbändige Lust auf solche Arbeit« (MJ, 194). Im Gegensatz zu Cresspahl und Jakob nimmt Jonas in seiner Rolle als Intellektueller einen »Beobachterstandpunkt«168 ein. Entsprechend abstrakt referiert er auf der Versammlung über die Freiheit, die aufgrund der gesellschaftlichen Bedingtheit jedes Einzelnen allgemein, aufgrund der politischen Physik konkret ein Mangelbegriff ist, »insofern: sie kommt nicht vor« (MJ, 108). Die Fähigkeit zur Abstraktion ist aber nicht nur Ausdruck einer gewissen Distanz und Passivität, sondern darüber hinaus Ausweis seiner Fähigkeit zur Reflexion. Jonas erkennt die gesellschaftliche und seine persönliche Gemengelage und bildet das »Zentrum eines selbstreflexiven Erzählens«169 im Roman. Diese Reflexionsfähigkeit erlaubt es ihm, sein drohendes Schicksal zu erkennen. Zum Mann der Tat wird er dennoch nicht. Stattdessen hält er an seiner Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus fest.170 167 Vgl. MJ, 99: »Die Versammlung hatte ganz und fehlerlos das Aussehen einer wissenschaftlichen Zusammenkunft: es gab eine geschäftliche und eine Tagesordnung, zwei vorbereitete Referate und einen Präsidenten, der das Wort freigab, jedes wurde protokolliert: eine Verschwörung wird sich hüten Schriftführer anzustellen. Was sage ich ›hatte das Aussehen‹, es war eine harmlose Aussprache über verschiedene philosophische Probleme, etwa ›Wirklichkeit und Urteil‹«. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 2.4. 168 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 243. Diesen Beobachterstandpunkt nimmt Jonas zur Gesellschaft (vgl. etwa MJ, 142), interessanterweise aber auch zur Beziehung zwischen Gesine und Jakob ein. Entsprechend sieht Klaus Jonas’ Funktion neben seiner Rolle als theoretisierende Figur darin, »von außen auf Gesine und Jakob und ihre Verbindung zu blicken und ein subjektiv verzerrtes Echo ihrer Stimmen und Handlungen zu sein«; Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 141. 169 Kleihues, Medialität der Erinnerung, S. 34. 170 Insofern wird Jonas’ Nachname ›Blach‹ immer wieder als Anspielung auf Johnsons Universitätslehrer Ernst Bloch und dessen Prinzip Hoffnung gedeutet: »Jonas Blach lebt nach dem Blochschen ›Prinzip Hoffnung‹, wobei sein Nachname als eine Verbeugung Johnsons vor seinem Leipziger Lehrer Ernst Bloch zu verstehen ist, zumal Bloch als Modell für die

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Dass diese Hoffnung ausgerechnet in der Unfreiheit endet und damit »ein erstes und einziges Mal praktische Folgen zeitigt«,171 erscheint paradox. Doch auf Nachfrage von Jakob, warum er »nicht zum Westen« gegangen sei, obwohl er dort Gesine habe und in der Wissenschaft arbeiten könne, antwortet Jonas, dass dies »kein Grund für eine Republikflucht« sei: »Das reicht aus für ein Abholen am Bahnhof, guten Tag, da bist du ja, und es reicht für Bewirtung und Hilfestellung am Anfang; ich müsst da ja aber leben« (MJ, 202). Aufgrund der politischen Bedingungen ist es für ihn ebenso wie für Jakob unmöglich, eine Entscheidung für eines der beiden real existierenden Gesellschaftsmodelle zu treffen. Stattdessen entscheidet er sich für seine politische Überzeugung, für seine Utopie eines dritten Weges, was ihn diametral von Jakob unterscheidet.172 In diesem Verhalten ähnelt er dem biblischen Jona, der die Unabhängigkeit seiner Meinung gegenüber dem übermächtigen Gott zu behaupten versucht. Fickert erkennt in Jonas’ Rolle als Universitätslehrer eine Parallele zum prophetischen Auftrag des biblischen Jona: »Jonas also has the obligation to promulgate Communist doctrine and to instil in his students a sense of the infallibility of the Communist regime.«173 Beide hadern mit ihren Aufträgen und lehnen sich gegen ihre Obrigkeit auf, weil deren Handeln nicht mehr den Ideen entspricht, die beide aus Überzeugung vertreten und vermitteln sollen. Fickert weist überdies darauf hin, dass Jonas »tries to evade commitment by going on journeys«:174 Wie Jona vor seinem Auftrag nach Tarsis flüchtet, ist Jonas während des XX. Parteitags der KPdSU mit Gesine nach Taormina verreist. Nach der Versammlung mit seinem Professor fährt er nach Jerichow, um dort u. a. seinen staatskritischen Essay zu verfassen. Doch während sich Jona von Beginn an dem Auftrag Gottes zu entziehen versucht, setzt sich Jonas mit seiner Rolle kritischreflexiv auseinander. Durch das Halten des Referates auf der Versammlung und

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Gestalt des Anglisten, dem Jonas assistiert, abgegeben hat«; Paulsen, Innenansichten, S. 98. Bereits im Dezember 1959 deutet Hellmut Jaesrich in Der Monat an, dass »[d]ie Einführung des Herrn Dr. Blach […] einen Ausflug ins Hochschulwesen (Ost) mit entsprechendem Vokabular« erlaube, woraufhin Johnson in einem Brief an Jaesrich in »höfliche Abrede« stellt, »dass der Name Blach noch andere bezeichnen sollte als seinen Träger«; Helmut Jaesrich: Quer über die Gleise, in: Der Monat 12, H. 135, S. 71–75, hier: S. 74; Uwe Johnson an Helmut Jaesrich, 10. 3. 1960, zitiert nach JUB, 73f., hier: S. 73. Westphal, Literarische Kartografie, S. 70. Deutlich wird dies in der Reaktion von Jonas auf Jakobs Entscheidung, die sowjetischen Militärzüge passieren zu lassen: »›Morgen früh wären sie doch da gewesen‹ sagte Jakob. ›Ich red nicht davon dass wir alle drei – Ehrenpussel sagt er, er ist ja wohl rein beleidigt! und du und ich verhaftet wären. Ich mein: es wär als hätten wir verrückt gespielt aus lauter Lust und Drolligkeit‹. Herr Dr. Blach stand auf und kam ins Licht. Die Melderin wartete. Jonas räusperte sich und sagte: ›Und ihr hättet euch benommen nach eurer Meinung‹. ›Das mein ich mit Verrücktspielen‹ sagte Jakob lächelnd.« (MJ, 200) Fickert, Biblical Symbolism, S. 60. Ebd.

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das Verfassen des Essays sucht er den Austausch mit der Obrigkeit; wenn auch aufgrund der möglichen Konsequenzen nicht offen. Jona muss zu diesem Austausch erst gezwungen werden. Insofern besteht die Ähnlichkeit des Reise-/ Fluchtmotivs für Jona und Jonas nur oberflächlich. Seinen persönlichen Interessen folgend kritisiert Jona seinen Gott JHWH für dessen inkonsistentes Verhalten und fordert die Konsequenzen seiner Prophezeiung ein. Jonas handelt dagegen ohne obrigkeitlichen Auftrag ganz nach seinem moralischen Empfinden und in der Hoffnung, die Oberen zu einem menschlichen Sozialismus zu bewegen. Aufgrund dessen ist Jonas nicht ein »reluctant prophet«,175 sondern vielmehr »Prophet eines gerechten Sozialismus«.176 Die politische Realität in der stalinistischen DDR unterscheidet sich hingegen von der Vorstellung eines gerechten Sozialismus. Zwar weicht auch Gott in der Jona-Erzählung von seinem früheren Beschluss ab, die Stadt Ninive in vierzig Tagen untergehen zu lassen, und wird von seinem Propheten für dieses Schwanken kritisiert, doch begründet er seine Entscheidung mit dem ethischen Prinzip der Reue. Dieses Prinzip prophezeite er schon Jeremia gegenüber177 und führt es Jona mit dem Rizinusstrauch gleichnishaft vor.178 Offen bleibt, ob Jona Gottes Barmherzigkeit erkennt, die sich darin zeigt, »dass seine Güte seinen Zorn unendlich übertrifft«.179 Rohlfs als Vertreter des ostdeutschen Staates stellt sich in Cresspahls Haus der Kritik von Jonas, der einwendet, dass die »Errichtung einer proletarischen Staatsmacht, der Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft« (MJ, 173) nicht an den Bürgern, sondern an den »Verwaltern des sozialistischen Mehrwerts« liege: »Wir werden leben wie sie sich der fortschrittlichen Möglichkeiten bedienen« (MJ, 174). In ihrem zweistündigen Streitgespräch, dem Gesine und Heinrich Cresspahl, Jakob und Hänschen nur als Zuhörer beiwohnen, wird Jonas durch Rohlfs, ähnlich wie Jona durch JHWH, zurechtgewiesen, er solle »eine[n] anderen Ton« (MJ, 174) verwenden. Auf die Zurechtweisung hin fragt der Anglist den Stasi-Hauptmann, ob er »an ein moralisches Subjekt des Menschen« glaube: »meinen Sie dass die Eigensucht zu brüderlicher Menschenliebe umgewandelt werden kann?« (MJ, 174) Jonas ist es, der Rohlfs unter Verweis auf Lev 19,18 mit einem biblisch-ethischen Grundsatz konfrontiert, ob mit einem neuen gesellschaftlichen Modell notwendig alles infrage gestellt und einem Wandel unterzogen werden müsse. Als Konsequenz erkennt er die Gefahr, »dass jeder Funktionär mit seiner vollen Persönlichkeit der Sache seines Staates sich 175 Ebd., S. 61. 176 Neumann, Utopie und Mythos, S. 117. 177 Vgl. Jer 18,7f.: »7Plötzlich rede ich wider ein Volk und Königreich, daß ich es ausrotten, zerbrechen und verderben wolle. 8Wo sich’s aber bekehrt von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch reuen das Unglück, das ich ihm gedachte zu tun.« 178 Vgl. Jona 4,10f. 179 Jeremias, Buch Jona, S. 106.

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ergeben hat, er steht und fällt mit ihr« (MJ, 174). Im vollständigen Aufgehen in den Institutionen des Staates erkennt Jonas das Risiko, dass die Amtsträger nicht mehr der Sache (des Sozialismus) ergeben sind, sondern nur mehr ihrer Macht. Die Machterhaltung wird zur obersten Devise, die Johnson in seiner Adaption des Buches Jona am Beispiel Jehovas vorführt. Statt sich mit diesem Vorwurf auseinanderzusetzen, beschränkt sich Rohlfs darauf, Jonas zu drohen, und wird trotz seiner wiederholt angedeuteten Reflexionsfähigkeit als Teil des Systems entlarvt. Dass er sich aus der ideologischen Gefangenschaft nicht zu befreien vermag, offenbart der Stasi-Hauptmann spätestens mit der Inhaftierung von Jonas. Die zwischen Jona und JHWH bestehende Rollenbeziehung ist in den Mutmassungen über Jakob zumindest teilweise umgekehrt. Über den Weitblick und die Reflexionsfähigkeit JHWHs verfügt in Johnsons Roman die Figur Jonas Blach.180 Sie stellt ihr Denken und Handeln stets infrage und ist sich auch darüber bewusst, dass es »so viele Meinungen über die Freiheit« (MJ, 152) gibt. Ihr gegenüber stehen die Vertreter des ostdeutschen Staates, deren oberstes Prinzip der Erhalt der eigenen Macht ist. Eine Entsprechung zu ihnen existiert in der biblischen Erzählung nicht, dafür aber in der Parabel Jonas zum Beispiel. Umso bedeutender wird dieser Umstand aufgrund des unverändert asymmetrischen Machtgefüges, das allen drei Texten gemein ist. Wie Gott über die Mittel verfügt, um seine Gnade, seinen humanen Willen durchzusetzen, verfügen der Staat und seine Vertreter über die Möglichkeit, ihre ideologischen und persönlichen Interessen, die nicht primär am Wohl der Bürger des Landes ausgerichtet sind, durchzusetzen. Die humane Moral Gottes, die auch Jona die Reue zuteilwerden lässt, endet für den Propheten eines humanen Sozialismus im Gefängnis. Wie schon für die Figur Jakob Abs dient einzig der Name ›Jonas‹ als Signalvokabel für eine intertextuelle Beziehung zwischen den Mutmassungen über Jakob und dem biblischen Buch Jona. Darüber hinaus besteht eine zentrale Parallele im Motiv der Obrigkeitskritik. Vor dem Hintergrund der Parabel Jonas zum Beispiel und der zeitlich parallelen Entstehung dieses Textes und der Mutmassungen über Jakob lässt sich die biblische Erzählung als motivische Folie für die Figur Jonas Blach und damit für einen Teil des Romans lesen. Die strukturellen Unterschiede zur biblischen Vorlage erzeugen überdies einen hohen Grad an intertextueller Dialogizität, indem sie den Unterschied zwischen Jona und Jonas, vor allem aber zwischen JHWH und der staatlichen Obrigkeit in der DDR betonen.

180 Einen weiteren Anhaltspunkt für diese Interpretation liefert Fickert, indem er Jonas’ »professional interest, the field of English literature«, als »a symbol for the universality of his mission« deutet; Fickert, Biblical Symbolism, S. 60f.

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Daneben rekurriert der Universitätsassistent mehrfach auf andere biblische Einzeltexte, was eine Deutung der strukturellen Unterschiede überhaupt lohnend erscheinen lässt. So antwortet Jonas auf Jakobs Frage, warum er »nicht zum Westen« gehe, dass dies »kein Grund für eine Republikflucht« und Gesines Seele »in fremde Gärten gegangen« (MJ, 202) sei. Im Hohelied Salomos, einer ursprünglichen »Sammlung profaner Liebeslieder«,181 wird die Geliebte mit einem »verschlossene[n] Garten«182 verglichen. Auf dem Höhepunkt des Hohelieds ist die Gemeinschaft der Liebenden erfüllt, indem der Liebende »gekommen [ist], meine Schwester, liebe Braut, in meinen Garten«.183 Im folgenden Lied ist der Geliebte zunächst von seiner Geliebten getrennt, doch das Verschwinden des Geliebten stellt sich als ein Traum heraus, der womöglich nur erfunden ist, um die Gefährtinnen mit der beschriebenen Schönheit des Geliebten eifersüchtig zu machen.184 Auf die Frage der Töchter Israels, wohin der Geliebte gegangen sei, weiß sie plötzlich, dass er nicht verschwunden ist, sondern sich »zu ihr begeben und seine Lust an und in ihr gefunden hat«:185 »2Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten, zu den Würzgärtlein, daß er weide in den Gärten und Rosen breche.«186 Das Bild des Gartens, das die Frau und ihre Sexualität symbolisiert,187 kommt in »altorientalischer und neuarabischer Lyrik häufig vor«,188 erinnert im Kontext des Kanons der Heiligen Schrift an die Paradieserzählung in Gen 2,4– 3,24: »Die Analogien zwischen dem Garten des Hld und dem von Gen 2f lassen den Gang in den zunächst verschlossenen (4,12), sich dann aber öffnenden Garten und das Genießen seiner Früchte (4,16) als eine Wiederentdeckung des Paradieses verstehen.«189 Indem Jonas’ das Motiv aus dem Hohelied im Kontext des Themas ›Republikflucht‹ aufgreift und die Intimität des Gartens der Geliebten in fremde Gärten umwandelt, deutet er eine aus seiner Sicht bestehende (Selbst-)Entfremdung Gesines durch das Leben in der kapitalistischen BRD an. Der Plural ›Gärten‹ verweist daneben auf das Ende der Liebesbeziehung der beiden sowie das Liebes- und Beziehungsverständnis von Jonas. Gesine nimmt darin eine komplementäre Rolle für die sozialistische Utopie des Anglisten ein: 181 Walter Bühlmann: Das Hohelied, Stuttgart 1997, S. 16. 182 Hld 4,12. 183 Hld 5,1. Yair Zakovitch betont, dass das Verb ›hineingehen/kommen‹ »biblisch u. a. den Vollzug des Geschlechtsakts (z. B. Gen 16,4; 30,4)« bezeichnet; Yair Zakovitch: Das Hohelied, Freiburg i. Br. 2004, S. 207. 184 Vgl. ebd., S. 211. 185 Günter Krinetzki: Hoheslied, 3. Aufl., Würzburg 1980, S. 20. 186 Hld 6,2. 187 Vgl. etwa Zakovitch, Hohelied, S. 78; Krinetzki, Hoheslied, S. 20. 188 Helmer Ringgren: Das Hohe Lied, in: ders./Walther Zimmerli/Otto Kaiser: Sprüche, Prediger, Das Hohe Lied, Klagelieder, Das Buch Esther, 3., neubearb. Aufl., Göttingen 1981, S. 251–290, hier: S. 274. 189 Ludger Schwienhorst-Schönberger: Das Hohelied, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 389–395, hier: S. 394f. Vgl. hierzu auch Zakovitch, Hohelied, S. 200.

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»Der ›Wünschenswert‹ ist die jeweilige Utopie, deren Vollendung man vergeblich hinterherläuft, es ist mal die Sache des Sozialismus, mal der alte Traum vom Glück zu zweit, in der die eine Hälfte ihre andere endlich gefunden hat.«190 An anderer Stelle geht Jonas während seines Besuchs in Jerichow mit Cresspahl im Ratskeller essen und denkt während der Ausführungen von Gesines Vater zu Pastor Brüshaver, »wann wird er sterben« (MJ, 141). Unter Verweis auf Ps 41,6, den Beginn der Klage eines Kranken in einem Weisheitslied, »das mit Bausteinen aus Klage und Dank eine allgemeine Einsicht zu vermitteln sucht«,191 charakterisiert Jonas Gesines Vater als einen alten, dem Tod nahen Mann. Der folgende in die Erzählerrede integrierte Monologabschnitt ist eine Reflexion Jonas’, für die er auf den Duktus der Heiligen Schrift zurückgreift. Aus dem Vergleich mit Cresspahl heraus gelangt er zu dem Schluss, dass es ihm nicht gelingen werde, »eine ganze Stadt zu bewohnen […] und wenn ich dreissig Jahre ansässig wäre und hätte die Kellner und Tabakverkäufer an meine Wünsche gewöhnt und würde mein Geld ausgeben als sollten sie es von mir übrigens auch gern haben« (MJ, 141f.). Dem patriarchalen Habitus, eine Stadt zu bewohnen,192 wird der konjunktivische Konditionalsatz (und wenn), der an Paulus’ Einleitung in das Hohelied der Liebe erinnert,193 entgegengesetzt. Der Gegensatz betont Jonas’ Unzufriedenheit, dem Leben »abseits entlegen urteilssüchtig« (MJ, 142) zuzusehen. Einmal mehr gelangt sein Wunsch zum Ausdruck, »dass er an der Welt teilnehmen wollte« (MJ, 137). Politisch wird dieser Wunsch nicht Realität. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus endet für ihn im Gefängnis. Fickert erkennt darin eine weitere Ähnlichkeit zum Propheten Jona: »In accord with the Biblical myth, the monster state absorbs Jonas, then spews him out.«194 Während Jona jedoch an Land gehen kann, bleibt Jonas Blach in den Tiefen der staatlichen Repression gefangen.

190 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 136. Klaus konstatiert, dass das Verhalten von Jonas gegenüber Gesine durch eine »bürgerlich-romantische[] Liebesutopie« geleitet sei; ebd., S. 137. 191 Manfred Oeming: Das Buch der Psalmen. Psalm 1–41, Stuttgart 2000, S. 222; Kursivdruck im Original. Vgl. auch Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger: Die Psalmen I. Psalm 1–50, Würzburg 1993, S. 258. 192 Vgl. etwa Gen 19,29; Dtn 13,13. 193 Vgl. 1 Kor 13,1–3: »1Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. 2Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze.« 194 Fickert, Biblical Symbolism, S. 61.

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2.2.4 Heinrich Cresspahl Im Gegensatz zu Jonas Blach, der theoretische Überlegungen zum marxistischen Freiheitsbegriff anstellt und den Zustand der Freiheit im real existierenden Sozialismus anprangert, fasst der Erzähler die Position von Gesine Cresspahls Vater zu diesen Erwägungen kurz und bündig zusammen: »dem alten Mann ging das Gerede von Freiheit gegen den Strich« (MJ, 107). Begründet wird die pragmatische Sichtweise des alten Cresspahl mit dessen Erfahrungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: er war doch aufsässig gewesen wie sein Gehilfe von heute, der ihn nun aber vertreten sollte gegen Landhausbesitzer und »Freiheit«, damit ihm der eigene Angriff erspart blieb? (Cresspahl hatte fürchterlich geschimpft über die Besetzung der Ziegeleivilla, als die Flüchtlinge noch in den Scheunen lagen, er hatte Jakob nicht widersprochen, der diese Scheunen verglich mit denen, die er unterwegs gesehen hatte.) (MJ, 107f.)

Diese Stelle allein deutet eine anachronistische und pragmatische Sichtweise auf die politische Gegenwart des Jahres 1956 an.195 Aufgrund seiner Lebenserfahrungen versucht Heinrich Cresspahl, ein Leben jenseits der politischen Gegenwart zu führen. In Jerichow an der »mecklenburgischen Ostseeküste« (MJ, 13) hat er sich ein solches Leben eingerichtet. Westphal sieht ihn deshalb »in mehrfacher Hinsicht als Gegenfigur zu Jonas angelegt«.196 Radke gesteht dem Kunsttischler gar eine Schlüsselstellung im Roman zu, da dessen Haus »Zufluchtsort und Zielund Ausgangspunkt der Fahrten der Hauptfiguren des Romans ist«.197 Angesichts einer solchen Bedeutung der Figur ist es überraschend, dass Heinrich Cresspahl in den Monologen und Dialogen mit keiner eigenen Stimme repräsentiert wird. Sein Profil setzt sich wie das von Jakob »aus den Perspektiven der anderen Figuren und den Erzählerpassagen […], in denen auch, speziell in der

195 Vgl. hierzu Westphal, Literarische Kartografie, S. 72. 196 Ebd., S. 71. Als »Symptome« dieser Opposition nennt Westphal neben der »historischzeitliche[n] Dimension« zweier Generationen, die aufeinander treffen, den am Konkreten orientierten Wirklichkeitsbezug Cresspahls und dessen »Verwurzelung« in Jerichow, die wiederholt durch das Wind-, vor allem aber das Hausmotiv unterstrichen werde; ebd., S. 71f. Als sich Jonas die Frage stellt, warum »Cresspahl nicht ausser Landes gegangen« ist, konstatiert er: »Weil er ein Haus hatte. Was bedeutet ein Haus. Das weiss ich nicht« (MJ, 140). In der ersten Fassung noch wird die Frage, was ein Haus bedeute, beantwortet, die Antwort aber von Johnson gestrichen und in die zweite Fassung nicht mehr übernommen: »Weil er ein Haus hatte. Was bedeutet ein Haus. Für ihn mochte es eine Lebensweise sein. Er konnte sich nicht mehr einlassen auf die Frage ob es eine bessere Lebensweise gebe. Das weiss ich nicht«; Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 4, Bl. 29f.; Hervorhebung im Original durchgestrichen, abgedruckt in Kommentar, S. 330. 197 Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 478.

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direkten Auseinandersetzung mit Jonas’ Position, Cresspahls eigene Perspektive zur Sprache kommt«,198 zusammen. So gibt der Erzähler Cresspahls Reaktion auf Jonas’ Arbeit am Essay sinngemäß wieder. Nachdem er den Morgen über in seiner Werkstatt Furnierstücke poliert hat, geht Cresspahl zu Jonas und »stand hinter ihm und rieb unter seinem Kinn her mit einem Handrücken, blickte in die Ferne ohne das Bruch vor den Fenstern zu sehen und sagte endlich träumerisch etwa: auch der Fischfang ist ein ehrliches Gewerbe, oder Siehe die Lilien … so ungefähr, Gesine könnte es wissen.« (MJ, 140) Was zunächst wie eine süffisante Untermauerung des Gegensatzes des Handarbeiters Cresspahl und des Kopfarbeiters Jonas klingen mag, wird unter Einbeziehung der vorhandenen intertextuellen Beziehung zu einem Ratschlag des alten Cresspahl an den an seinen utopischen Vorstellungen festhaltenden Jonas. Paasch-Beeck betont, dass es sich bei den erwähnten Lilien »natürlich [um] die berühmten aus Mt 6,28«199 handelt: »28Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.« Zum Abschluss der Bergpredigt warnt Jesus seine Jünger vor irdischem Sinn. Die Lilien dienen ihm als Beispiel für seine Botschaft, seine Jünger sollen sich nicht sorgen und sagen: 31

[…] Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. 33Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. 34Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.200 32

Überträgt man die jesuanische Botschaft auf den nicht religiösen Cresspahl, so lässt sich dessen Kommentar als ein Hinweis an Jonas lesen, am Sinn seiner beruflichen Tätigkeit nicht zu verzweifeln und die eigene gesellschaftliche Rolle nicht zu überschätzen. Er selbst verkörpert mit seiner selbstständigen beruflichen Tätigkeit eine Lebenshaltung der individuellen Freiheit. Die zeitlich entrückte Intarsienarbeit symbolisiert die Haltung von Gesines Vater, sich der in der DDR omnipräsenten Forderung nach dem Aufbau des Sozialismus zu entziehen. Die »jederzeit verteidigten Intarsien, deren Zeit aber vorüber sei«, deutet der Erzähler als ein »Gleichnis für die schamhafte Spanne zwischen dem Wünschenswert und der Enttäuschung seines Lebens« (MJ, 145). Die Erfahrungen seines Lebens haben Cresspahl gezeigt, dass sich der Wunsch nach der Freiheit 198 Westphal, Literarische Kartografie, S. 71. 199 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 323. Vgl. auch Bernd Neumann (Hg.): Uwe Johnson. Mutmassungen über Jakob. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1989, S. 18. 200 Mt 6,31–34.

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des Einzelnen, der Wünschenswert, auch im (real existierenden) Sozialismus nicht umsetzen lässt. Doch statt zu resignieren, besinnt sich Cresspahl, wie es Jesus von seinen Jüngern einfordert, auf seine zentralen Wertmaßstäbe. Was für die Jünger Jesu das Reich Gottes und die Gerechtigkeit bedeutet, sind für ihn moralische Grundsätze, »die er sich im Laufe seines Lebens im Umgang mit Menschen geschaffen und aufgrund seiner Erfahrungen für gut befunden hat«.201 Jonas’ theoretische Überlegungen zum Freiheitsbegriff sind Cresspahl zu abstrakt, das Reden »von Würde […] und von menschlichen Ansprüchen und Ordnung in der Welt« könne nur jemand leisten, wenn er (wie) Pastor Brüshaver sei: »bin ich nich, bist du nicht« (MJ, 173). Der ehemalige Pastor Jerichows wird durch sein konkretes Handeln und die dahinterstehenden moralischen Grundsätze als ein integrer Mensch charakterisiert: »Ein guter Mensch ist jemand erst, wenn er in seinem Handeln auch den Willen des anderen respektiert, wenn die Würde des Menschen gewahrt bleibt.«202 Dagegen spricht Cresspahl dem StasiHauptmann Rohlfs ein Verhalten nach moralischen Grundsätzen ab. Er gibt ihm unmissverständlich zu verstehen, »Sie sind ein schlechter Mensch« (MJ, 178), und wirft ihm vor: »Wie gehn sie mit dem Menschen um, sieh dir an was einem zustösst und wie es noch kommen soll, und kannst dich auf nichts berufen. Da jammert einer sie lassen ihm kein Geheimnis, oder sie lassen ihn nich reden: ja warum solln sie nich? Das’ dumm Zeug mit den Menschenrechten.« (MJ, 173) Cresspahl führt dem Staatsvertreter Rohlfs vor, dass er dessen Handeln nach seinen eigenen Maßstäben bewertet und konfrontiert ihn mit einem eigenständigen Urteil. Er beweist, dass er »nicht einfach die staatlich verordneten Wertungen adaptiert, sein ›I‹ dem gesellschaftlichen ›me‹ untergeordnet«203 hat. Stattdessen differenziert er genau zwischen »der Sache des Sozialismus, für die ein jeder muss Opfer bringen in Erwägung der bedeutenden Zukunft und dem einen, der sie ausgeführt hatte bis in Cresspahls Haus mit der Anstrengung und dem bedenkenlosen Einsatz seiner Person« (MJ, 178). Gesines Vater steht damit ebenso wie Jonas für ein reflexives Überprüfen jeder einzelnen Tat, die »gut und gerecht sein« muss, will sie »der Herstellung eines gerechten und guten Gesell201 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 259. 202 Ebd., S. 260. 203 Ebd. Felsner greift an dieser Stelle auf George Herbert Meads Terminologie zur Differenzierung der menschlichen Identität aus Mind, Self and Society zurück. Ausgehend von der Beobachtung, dass »the structure of the complete self is thus a reflection of the complete social process«, differenziert Mead die menschliche Identität (self) in persönliche Dispositionen (I), die vor allem im Spontanen und Kreativen zum Ausdruck gelangen, und den an die Person gerichteten Erwartungen einer Gruppe oder Gesellschaft (me): »Where in conduct does the ›I‹ come in as over against the ›me‹? […] Through taking those attitudes we have introduced the ›me‹ and we react to it as an ›I‹«; George Herbert Mead: Mind, Self and Society. From the standpoint of a social behaviorist, edited and with an introduction by Charles W. Morris, 15. Aufl., Chicago 1967, S. 173f.

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schaftssystems dienen«.204 Die scheinbaren Antipoden Jonas und Cresspahl werden so zu moralischen Verbündeten. Die Bezugnahme Cresspahls auf Mt 6,28 lässt sich als Verweis auf die Heilige Schrift als Quelle seiner autonomen Moralvorstellungen deuten. Bestätigung findet diese Hypothese durch die zahlreichen biblischen Intertexte, durch die Gesines Vater charakterisiert wird. Der Erzähler beschreibt ihn als einen Mann, dessen Leben »nunmehr sieben Jahrzehnte« (MJ, 52) andauert. Das zum geflügelten Wort gewordene biblische Alter, das auf Ps 90,10205 zurückgeht, griff Johnson, wie bereits im ersten Teil gesehen werden konnte, zehn Jahre später erneut in seiner Rede zum Bußtag auf (vgl. BS, 46).206 Überdies verfügt Cresspahl über einen Schrank mit »sieben Türen« (MJ, 79), der durch die explizite Erwähnung der Türenzahl an das Buch in der Offenbarung des Johannes, »beschrieben inwendig und auswendig, versiegelt mit sieben Siegeln«,207 erinnert. Radke deutet den Bezug auf die heilige Siebenzahl, die »mystisch aus der göttlichen Zahl Drei und der irdischen Zahl Vier besteht«,208 als Bezugnahme auf die Bundeslade »und deren Zauberwirkung bei der Zerstörung Jerichos«.209 Die Vielzahl der in den Roman integrierten Bezüge auf die Zahl Sieben, auf die etwa Neumann im ersten Teil seiner beiden Studien zur Zahlenmystik in den Werken Johnsons eingeht,210 spricht jedoch gegen eine solch singuläre allegorische Interpretation wie sie Radke anbietet. Dass sich die Bezugnahmen auf die Siebenzahl nicht allein auf Cresspahl beschränken, ändert jedoch nichts an dem Befund, dass sie sich einer Reihe biblischer Intertexte um diese Figur zuordnen lassen.211 Neben dem Erzähler sind es auch die miterzählenden Figuren,212 mit

204 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 261. 205 »10Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« Vgl. hierzu Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, neu bearb. von Bogdan Krieger, 27. Aufl., Berlin 1926, S. 35. Die Zahl Siebzig fungiert in der Heiligen Schrift als »große runde Zahl«, was sich vermutlich auf die Bedeutung der Zahl Sieben zurückführen lässt, »so für die Nachkommen bedeutender Männer (1Mose 46,27; 2Mose 1,5; Richt 9,2), für die Dauer des Exils (Jer 25,11) oder für einen weiteren Jüngerkreis Jesu (Lk 10,1)«; Hans Schmoldt: Siebzig, in: Koch u. a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, S. 496. 206 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.2. 207 Offb 5,1. 208 Erwin Kischel: Zwei ungleiche Gleiche. Uwe Johnsons Lisbeth Cresspahl und Ernst Barlachs Henny Wau, in: Johnson-Jahrbuch 22, 2015, S. 127–144, hier: S. 134. 209 Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 493, Anm. 2. 210 Vgl. Neumann, Die leuchtende Sieben, S. 181f. 211 Neumann erachtet die Deutung, in der Zahl Sieben eine Anspielung auf die Bibel herauszulesen, als durchaus »plausibel«, betont letztlich aber den »Status der Sieben als Märchenzahl« und als »Fiktionssignal«, mit dem der »Artefaktcharakter des Erzählten« markiert werde; ebd.

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Ausnahme von Rohlfs, die auf biblische Intertexte zurückgreifen, um ihren Assoziationen zu Cresspahl Ausdruck zu verleihen. Im vergangenen Abschnitt wurden bereits die biblischen Intertexte analysiert, mit denen Jonas seine Gedanken zu Gesines Vater verbalisiert. In erster Linie ist es aber Gesine, die in Bezug auf ihren Vater wiederholt auf Sprachformen und Bilder aus der Heiligen Schrift zurückgreift. Auf einer an Jakob adressierten Ansichtspostkarte, die Rohlfs in den Händen hält, assoziiert Gesine ihre Urlaubseindrücke mit ihren Erinnerungen an Jerichow und ihren Vater. Dabei rekurriert sie auf das vierte Gebot des Dekalogs in Ex 20,12: »keiner hat einen Schirm wie mein alter Vater. Den ich ehren soll und du sollst ihn grüssen.« (MJ, 28) Neben dem Gebot, den Vater und die Mutter zu ehren, verweist der biblische Intertext auf Gesines persönliche Situation, getrennt von ihrem Vater lebend und nicht »in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott«,213 gegeben hat. Sie muss Jakob bitten, ihren Vater zu grüßen, der eine besondere Schutzfunktion für seine Tochter innehat. Betont wird dies durch die Metapher eines Regenschirms, der in seiner Gestalt einmalig sei. In einem späteren Telefonat mit ihrem Vater reagiert die »ehrfürchtige Tochter« (MJ, 30) auf die Ankündigung ihres Vaters, dass Frau Abs zu ihr kommen werde, »erschrocken« mit: »Heiliger Cresspahl […] werüm!« (MJ, 32). Kurz vor dem Kennenlernen von Jonas wiederholt sie diese Worte in ihrer Gedankenrede (vgl. MJ, 158). Neben dem Nexus zwischen Cresspahl und ›heilig‹ als Lexem der biblischen Sprache drängt sich eine Assoziation zu den Phraseologismen ›heiliger Bimbam‹ und ›heilige Einfalt‹ auf. Erstere drückt ähnlich den Wendungen ›heiliger Strohsack‹ und ›heilig’s Blechle‹ als »scherzhafte Anrufe nur fiktiver Heiliger […] Erstaunen, Erschrecken, Verwunderung und Unwillen«214 aus. Letztere geht auf den lateinischen Ausruf ›sancta simplicitas‹ zurück, der nach Zinograf-Weidners Apopthegmata (1653) von Jan Hus getätigt worden sein soll, als er auf dem Scheiterhaufen einen Bauern sah, der »in blindem Glaubenseifer«215 Holz zu den Flammen trug, und bekundet die Betroffenheit, das Erstaunen »über jmds. Naivität oder Unbekümmertheit«.216 Die zweite phraseologische Wendung lässt sich als Hintergrund des »seltsamen Ausruf[s]«217 ausschließen, weil sich Gesine nicht über eine etwaige Naivität und Unbekümmertheit ihres Vaters überrascht zeigt. Radke weist auch eine mögliche Verbindung zu ›heiliger Bimbam‹ zurück, weil er die Wendung 212 Leuchtenberger verwendet hierfür den Begriff der ›Co-Erzähler‹; vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 129–140. 213 Ex 20,12. 214 Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, S. 690. 215 Ebd. 216 Dudenredaktion (Hg.): Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, 2., neu bearb. und akt. Aufl., Mannheim u. a. 2002, S. 121; Kursivdruck im Original. 217 Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 170.

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nicht als Ausruf, sondern als Anrede deutet.218 Von dieser Annahme ausgehend stellt er eine Verbindung zur Anrufung Gottes durch Jesus wie in Joh 17,11 her: »11Und ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir. Heiliger Vater, erhalte sie in deinem Namen, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien gleichwie wir.«219 Entsprechend erkennt Radke in Cresspahl eine Personifikation Gottes.220 Eine derart weitgehende Deutung lässt außer Acht, dass die Anrufung auf Gesine zurückgeht, allein ihre Perspektive auszudrücken vermag. Dennoch erscheint die Assoziation durchaus plausibel. Allerdings steckt in beiden Fällen, in denen Gesine die Wendung ›Heiliger Cresspahl‹ aufruft, das Element der Überraschung, sodass eine Assoziation mit dem Phraseologismus ›(Ach du) Heiliger Bimbam‹ nicht übergangen werden sollte. Ihr Verweis auf das vierte Gebot des Dekalogs wie auch die Wendung ›Heiliger Cresspahl‹ lässt sich sodann als Ironie auf eine überkommene, verklärte Vergangenheit deuten und als Andeutung auf die herausgehobene Stellung Cresspahls für seine Tochter. Als Indiz für den ersten Interpretationsansatz spricht Gesines Rückgriff auf einen biblischen Duktus im Sprechen über ihren Vater. Auf dem gemeinsamen Weg mit Jakob nach Jerichow kommen in Gesine Erinnerungen an ihre Kindheit auf und sie konstatiert mit ironischer Distanz: »Nun wollen wir gehen in die Stadt meines Vaters und ansehen wie sie abgefallen ist von meiner Erinnerung.« (MJ, 153) Der biblische Duktus wird durch die Wendung ›nun wollen wir gehen‹ erzeugt, die sich etwa in Ex 8,23221 oder Jak 4,13222 findet. Gekoppelt wird die archaische Beschreibung des Gangs in die Heimatstadt mit der resignativen Gewissheit, dass die frühere Vertrautheit an Erinnerungen geknüpft ist, die so nicht mehr gegenwärtig sind.223 Ähnlich ironisch charakterisiert Gesine ihren Vater in einer Gedankenrede im Zusammenhang mit der von Pastor Brüshaver geerbten Katze und ihren Nachfahren: »Mein Vater ist geachtet in der Welt und angesehen, die Katzen laufen ihm nach.« (MJ, 146) Der biblische Duktus wird durch den zweigliedrigen Verbalausdruck ›geachtet und angesehen‹ sowie die Wendung ›in der Welt‹ wie in Gen 49,26224 oder Joh 3,17225 erzeugt. Die Achtung 218 Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 479. 219 Joh 17,11; Hervorhebung P. O. Vgl. Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 480. 220 Vgl. ebd., S. 477. 221 »23Drei Tagereisen wollen wir gehen in die Wüste und dem Herrn, unserm Gott, opfern, wie er uns gesagt hat.« 222 »13Wohlan nun, die ihr saget: Heute oder morgen wollen wir gehen in die oder die Stadt und wollen ein Jahr da liegen und Handel treiben und gewinnen«. 223 Vgl. hierzu etwa Michael Hofmann: Uwe Johnson, Stuttgart 2001, S. 84. 224 »26Die Segen deines Vaters gehen stärker denn die Segen meiner Voreltern, nach Wunsch der Hohen in der Welt, und sollen kommen auf das Haupt Josephs und auf den Scheitel des Geweihten unter seinen Brüdern.« 225 »16Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.«

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und das Ansehen Cresspahls werden durch den biblischen Duktus erhöht, durch die Eingrenzung auf die ihm nachlaufenden Katzen aber ironisch gebrochen. Gesine ist vor allem in ihren autonomen moralischen Grundsätzen stark durch ihren Vater geprägt und Cresspahl stellt sich gegenüber Rohlfs schützend vor seine Tochter (vgl. MJ, 176–179). Dennoch vermitteln Gesines mit Ironie gekoppelten biblischen Intertexte, mit denen sie ihren Vater beschreibt, eine Kluft zwischen den Erinnerungen an eine subjektiv idealisierte Vergangenheit in Jerichow und einer hiervon durch die innerdeutsche Grenze getrennten Gegenwart.226 Während Gesine von den Moralvorstellungen ihres Vaters wesentlich geprägt ist, versteht Jakob die moralischen Grundsätze Cresspahls erst im Moment von dessen Konfrontation mit Rohlfs im Haus in Jerichow: und dies war es was Jakob in der Stunde vor Mitternacht begriffen haben mag: wenn einer noch so mächtig war in der Welt und so viel Wirksames getan und verändert hatte, dass er jenseits lebte von Verachtung und Wohlwollen: wie Herr Rohlfs, so war Cresspahl immer noch imstande ihm Nachtlager Hilfe Beköstigung abzuschlagen mit den Worten »Sie sind ein schlechter Mensch«, obwohl diese Art von Urteil jedem vernünftigen Staatsbürger unsinnig vorkommen musste. Anfangs hatte Jakob in Cresspahls Vorhaben die Rache der alten Bücher verstanden, die sich nicht kümmert um einen unbestreitbaren Erweis von Schuld (MJ,177f.)

Die Perspektive von Jakob einnehmend, rekurriert der Erzähler mit dem Hinweis auf »die Rache der alten Bücher« auf das alttestamentliche Bild eines zornigen und sich rächenden Gottes als »Reaktion auf menschliches Fehlverhalten wie Missachtung seiner Zusagen und Gebote«.227 Überdies lassen sich Jakobs Gedanken als Verweis auf die kasuistische Rechtssammlung des Bundesbuches in Ex 20,22–23,33 lesen. Für Jakob erscheint Cresspahl bis hierhin als jemand, der sich im Fall der Fälle nicht an geltendem Recht und dem Nachweis von Schuld orientiert, sondern in seinem Zorn vom Grundsatz »23[…] Seele um Seele, 24Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, 25Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule«228 Gebrauch machen würde. Aus der Sicht von Jakob erweist sich Cresspahl als anachronistisch und nonkonform, aber auch als autonom. Wenn Radke daher zu dem Schluss gelangt, dass Cresspahl »den rächenden Gott personifizieren dürfte«,229 so lässt er zunächst außer Acht, dass es sich beim biblischen Intertext allein um die Wiedergabe von Jakobs Gedanken handelt. Vor allem aber erkennt Jakob in genau dieser Szene, dass Cresspahls Verhalten nicht von affektivem und willkürlichem Nonkonformismus geprägt ist, 226 227 228 229

Vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 2.3. Hans Schmoldt/Jürgen Roloff: Zorn, in: Koch u. a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, S. 600. Ex 21,23–25. Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 547.

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sondern von einer autonomen Moralvorstellung, die die historischen Erfahrungen mit dem staatlich oktroyierten Wechsel von Gut und Böse, Richtig und Falsch in weniger als zwanzig Jahren in Rechnung stellt. An seiner autonomen Moral hält Gesines Vater auch gegenüber Rohlfs fest, der als staatlicher Vertreter auf sein Leben unmittelbaren Einfluss ausübt, indem seine Tochter und Frau Abs in die BRD fliehen, Jakob unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt. Während seine Tochter den Gang in ein anderes Gesellschaftssystem antritt, wählt ihr Vater den Rückzug ins Private, das »Verweigern einer Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, deren Prinzipien für ihn inakzeptabel geworden sind«.230 In diesen Zusammenhang lassen sich die Bemühungen von Radke, Fickert und schließlich Krappmann einordnen, den Nachnamen der Vaterfigur und seiner Tochter symbolisch zu deuten. Im Gespräch mit Amos Leslie Willson bekannte Johnson, den Namen ›Cresspahl‹ gewählt zu haben, weil er »außerordentlich mecklenburgisch klingt und dennoch als Name in Mecklenburg so nicht belegt ist. […] Ich habe niemals jemanden getroffen, der den Namen Cresspahl trägt, außer dieser, meiner Person.«231 Ähnlich äußert sich im Roman Rohlfs, der bei der ersten Beschäftigung mit Gesine feststellt, »den Namen hatte ich nie gehört« (MJ, 10). In den Jahrestagen stellt Gesine als Schülerin aufgrund ihrer Spitznamen »Versuche in der Namensforschung an«, denn sie »wollte nicht angenagelt werden als Kresse am Pfahl, sie mochte aber auch nicht einen Namen als Christ haben, vielleicht von Chrest im Wendischen. Als sie an der Reihe war, erklärte sie ihren Namen als zusammengesetzt aus kross und Pall.« (JT, 1253) Vergleichbare Überlegungen stellt Radke an, dessen Dissertation zum Zeitpunkt der Abfassung des dritten Bandes der Jahrestage bereits veröffentlicht war. Denkbar erscheint es daher sogar, dass Johnson, dem bekannt war, dass Radke an einer Studie zu den Mutmassungen über Jakob arbeitete,232 auf dessen onomastische Überlegungen im fiktionalen Raum seines Hauptwerks reagierte. Radke führt das Determinans ›Cress‹ zunächst auf die Kresse zurück, geht aber von der Pflanzenfamilie, »ein[] Kreuzblüter der Ordnung Mohnartige«, und einer Verbindung zwischen ›cress‹ und ›cross‹ dazu über, im ersten Bestandteil des Namens eine Anspielung auf das »christliche[] Symbol des Kreuzes« zu sehen.233 Das Determinatum ›Pahl‹ leitet er vom Lexem ›Pfahl‹ her und gelangt zu 230 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 262. 231 Uwe Johnson: »Ein verkannter Humorist«. Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea), in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 281–299, hier: S. 290. 232 Radke richtete am 3. August 1964 einige Fragen im Zusammenhang mit seiner Dissertation an Johnson, die jener acht Tage später in aller Kürze beantwortete; vgl. Werner Joachim Radke an Uwe Johnson, 3. 8. 1964, in: UJA Rostock, UJA/H/252893, Bl. 38f.; Uwe Johnson an Werner Joachim Radke, 11. 8. 1964, in: UJA Rostock, UJA/H/252894, Bl. 40. 233 Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 512.

Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs

253

dem Schluss: »Verdeutscht hiesse Cresspahl etwa ›Kreuzpfahl‹ oder vielleicht ›Kreuzblüterpfahl‹«.234 Den Namen deutet er als »Metapher für eine Art ›Brücke‹ und ›Verbindung‹ zwischen Himmel und Erde«.235 Vergleichbar führt Fickert aus, der Name »has echoes of ›Christ‹ in ›Cress‹ and of ›Pfahl‹ [post] in ›pahl‹. A reference to the cross may be remote, but the allusion cannot be summarily dismissed.«236 Krappmann geht in ihrer onomastischen Analyse einen Schritt weiter als Radke und Fickert und führt zum Namen Cresspahl allgemein aus: Das erste Namenglied Cress-/Kress- steht entweder als Wohnstättenname zu mhd. krësse »Kresse«, als Berufsübernahme zu mhd. kresse zu »Gründling« für einen Fischer oder Fischhändler oder, als dritte Möglichkeit, als Übernahme zu fnhd. kreß »Krause«. Pahl geht entweder auf eine zusammengezogene Form von Pagel und damit eine niederdeutsche Form von Paul (lat. paul[l]us ›klein‹) zurück oder leitet sich als niederdeutscher Wohnstättenname von mnd. pa¯l »Pfahl, besonders Grenzpfahl, Grenze« ab. Gemeint sein könnte also beispielsweise ein Fischer, der an einem Grenzpfahl wohnt.237

Die klangliche Assoziation des Namens mit einem ›Kreuzespfahl‹, die Radke und Fickert transzendental deuten, greift Krappmann auf und säkularisiert sie im Kontext der Mutmassungen über Jakob. Sie gelangt zu dem Schluss, dass der Name »in diesem Umfeld seine volle symbolträchtige Bedeutung als Bindeglied zwischen den sehr unterschiedlichen Männern Jonas Blach und Jakob Abs« entwickle: »Beide werden durch Gesine zusammengeführt und treffen einander in Heinrich Cresspahls Haus. Ohne Vater und Tochter bestünde keinerlei Beziehung zwischen ihnen«.238 Beide jungen Männer teilen die Überzeugung, »dem richtigen, wenn auch verbesserungswürdigen, gesellschaftlichen System anzugehören«,239 und bilden mit dem am Gemeinwohl orientierten Aufgehen in der eigenen Arbeit und den theoretischen Überlegungen zur Fortentwicklung der politisch-gesellschaftlichen Zustände die Pole des Querbalkens. Zwischen diesen Polen bewegen sich Krappmann zufolge Menschen wie Gesine und Heinrich Cresspahl, die in diesem System leben müssen oder vor ihm fliehen: Nur dank ihnen, den Cresspahls, im Zentrum der Aufmerksamkeit können der Wissenschaftler und der Arbeiter gemeinsam gedacht werden, ebenso wie Jona und Jakob nur durch ihre gemeinsame Religion und ihr Auftreten in den Texten des Alten Testaments miteinander verbunden sind. Aus christlicher Sicht steht ihr geteilter Kontext unter dem Symbol des Kreuzes, das Heinrich und Gesine so aussagekräftig im Familiennamen tragen.240 234 235 236 237 238 239 240

Ebd., S. 515. Ebd. Fickert, Biblical Symbolism, S. 61. Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 331; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 170. Ebd. Ebd.

254

Mutmassungen über Jakob

Denkbar erscheint ebenfalls, das im Nachnamen anklingende Kreuz metaphorisch so zu deuten, dass Cresspahl und seine Tochter ›senkrecht‹ zu den beiden gesellschaftlichen Systemen in Ost- und Westdeutschland stehen. Kapitalismus und Sozialismus würden demnach die Pole des Querbalkens symbolisieren, wohingegen Gesine und ihr Vater in ihrem um Autonomie bemühten Verhalten den Längsbalken des Kreuzes bilden. Allen diesen onomastisch-allegorischen Deutungen ist gemein, dass sie mehr über den Ansatz des jeweiligen Interpreten verraten, als über die Figur und die womöglich über ihren Namen transportierte Metaphorik. Schließlich benötigt die Figur einen Namen. So ist es sinnbildlich, dass die Überlegungen der Gesine der Jahrestage zu ihrem Nachnamen auf Fremdzuschreibungen zurückgehen. Relevanter erscheint dagegen die Beobachtung, dass Cresspahl mit seinem Rückzug ins Private für eine Alternative steht, für einen dritten Weg zu den sich diametral gegenüberstehenden Gesellschaftsmodellen. Inwiefern dieser Weg eine echte Alternative darstellt, bleibt im Roman konsequenterweise offen. Angesichts von Gesines zukunftsungewisser Vorausdeutung, »[m]ein Vater wird sich zu Tode trinken« (MJ, 240), bleiben aber zumindest Zweifel. Angedeutet wird ein solches Schicksal bereits im Gespräch zwischen Cresspahl und Jonas im Ratskeller: wann wird er sterben dachte ich. Er erzählte dem Kellner ausführlich die Vorgeschichte und die Schicksale des Alkohols, den er vor dem Aufessen des Fischs trinken wolle. Jonas möge wohl wissen dass er dieses Gift nirgends sonst bekommen werde, abwesenden Blickes sprach er von der Chininbitterkeit und erwähnte den gewichtigen unausweichlichen Druck des Geschmacks auf den Kehleneingang, ›denn es gibt welche, an den’ kannssu voebei, mit disn mussu es änshaff aufnehm!‹; aber als sie ihn hatten, kippte er den Kelchrand wortlos erst gegen Jonas und dann gegen seine Lippen […]. (MJ, 141)

Durch die Integration des Bibelwortes aus Ps 41,6241 in Jonas’ Gedankenrede und das Lexem ›Kelch‹, mit dem auf die Abendmahlsgeschichte und den nahenden Tod Jesu Christi angespielt wird,242 wird das Bedeutungsfeld von ›Gift‹ und ›Tod‹ biblisch angereichert und Cresspahl erneut in einen biblisch-archaischen, durch den Verweis auf Jesus aber auch in einen ethischen Kontext gestellt.

241 »6Meine Feinde reden Arges gegen mich: ›Wann wird er sterben und sein Name vergehen?‹« 242 Vgl. Lk 22,20.

Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs

255

2.2.5 Gesine Cresspahl Im Gegensatz zu Heinrich Cresspahls Rückzug ins Private steht seine Tochter Gesine für die Absage an den real existierenden Sozialismus, für eine »›Moral der Verweigerung‹«243 und den Versuch, im kapitalistischen Westdeutschland ihr Glück zu finden. Rohlfs gegenüber bekundet sie, dass sie sich eingerichtet habe in der BRD (vgl. MJ, 226), wo sie ihre »moralische Intaktheit des sich verweigernden Individuums für den Moment«244 bewahren könne. Infolge des Aufstandes am 17. Juni 1953 sieht sich Gesine gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und über die Grenze zu fliehen (vgl. MJ, 13). Diese moralische Konsequenz wiederholt sich gegen Ende des Romans, wenn sie ankündigt, wegen der »bevorstehenden Landung der britischen und französischen Truppen in Ägypten […] nicht mehr für das Hauptquartier arbeiten« (MJ, 234) zu wollen. Erneut führt ihr moralischer Rigorismus zu einer Art von Flucht, wenn es sich auch nur um ihre Arbeitsstelle handelt, und verhindert, dass sie sich dauerhaft einrichten kann. Der Preis, den Gesine für ihre persönliche moralische Intaktheit zahlt, ist hoch und mit einer fortwährenden Rastlosigkeit verbunden. An Jonas fasziniert sie dessen »lustige wechselhafte Denkweise«, dass er »wenn er (im Spass. Im Spass) den einen Namen annahm und den anderen behielt und er immer dazwischen gab sich aus für namenlos« (MJ, 138). Beide eint, aufgrund ihrer reflexiven Art zwischen den herrschenden Meinungen zu stehen und politisch interessiert zu sein. Scheinbar bewusst entscheidet sich Gesine daher für eine Anstellung als Dolmetscherin »in einem Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte« (MJ, 15) und versucht in ihrer Tätigkeit (sprachlich) zu vermitteln, Distanzen zu überbrücken. Während Jonas mit seinem staatskritischen Essay eine Veränderung zum Positiven, zu einem menschlichen Sozialismus herbeizuführen versucht, bleiben die Handlungskonsequenzen, die Gesine aufgrund ihrer moralischen Empörung nach dem 17. Juni 1953 und dem 5. November 1956245 zieht, selbstbezüglich und stets eine Absage. Sie entscheidet sich nicht für die kapitalistische BRD, sondern gegen die DDR mit ihrem real existierenden Sozialismus, nicht für eine Anstellung an einem amerikanischen Radiosender, sondern gegen eine Tätigkeit im NATO headquarters. Die Folgen sind Einsamkeit und das Empfinden, unglücklich zu sein.246 Sie muss feststellen, dass die für 243 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 159. 244 Ebd., S. 158. 245 Vgl. MJ, 234: »als sie am Montag in den Spätnachrichten hörten dass die Engländer und Franzosen zuverlässig in Ägypten gelandet waren«. Der 5. November 1956 war ein Montag. Vgl. auch Hansjürgen Popp: Einführung in Uwe Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob, Stuttgart 1967, S. 98. 246 Mit den Worten, »[i]ch bin unglücklich gewesen Jonas« (MJ, 167), begründet Gesine ihre zweite Reise nach Taormina im Herbst 1956. Vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 2.3.

256

Mutmassungen über Jakob

sie einzige Lösung, die Flucht nach Westdeutschland, »so doch keine wirkliche«247 darstellt. Entsprechend folgert ihr Vater bereits zu Beginn des Romans: »Du has kein Woulgefallen inne Welt« (MJ, 31). Paasch-Beeck führt Cresspahls Worte auf Ps 44,4248 oder 1 Kor 10,5249 zurück, deutet aber an, dass es sich um eine Systemreferenz handelt und die Rückführung auf einen konkreten biblischen Einzeltext »hier nur eine untergeordnete Rolle spielt«.250 Vielmehr sei es von Bedeutung, »dass hier jemand auf sehr volkstümliche Weise Worte der Bibel in einem familiären und damit auch intimen Raum benutzt, von dem es am Romanende ausdrücklich heißt ›und Cresspahl ging nicht in die Kirche‹«.251 Der Umstand, dass sich Gesines nicht-religiöser Vater biblischer Sprachformen bedient und diese in seinen niederdeutschen Dialekt überträgt, deutet aber gerade auf den pointierten Einsatz eines biblischen Intertextes hin – ähnlich dem Verweis auf Mt 6,28 im Gespräch mit Jonas.252 Als Signalvokabel könnte das Lexem ›Wohlgefallen‹ fungieren, das in der Lutherbibel nach der Revision von 1912 insgesamt 31 Mal vorkommt.253 Bis auf wenige Ausnahmen wird dieses Wohlgefallen als Charaktereigenschaft Gottes ausgewiesen, der es wie in den von Paasch-Beeck angeführten Stellen aus den Psalmen und dem ersten Korintherbrief gegenüber seinem Volk Israel empfindet, aber auch gegenüber dem Einzelnen, den er liebt und dennoch straft,254 oder dem Knecht Gottes.255 In der lukanischen Weihnachtsgeschichte ruft die »Menge der himmlischen Heerscharen«256 im Anschluss an das Gotteslob und die universale Friedenshoffnung über allen Menschen Gottes Wohlgefallen aus: »14Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«257 Im nächsten Abschnitt zu Das dritte Buch über Achim wird die Bedeutung dieser Bibelstelle für den sprachlichen Diskurs in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman ausführlich 247 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 159. 248 »4Denn sie haben das Land nicht eingenommen durch ihr Schwert, und ihr Arm half ihnen nicht, sondern deine Rechte, dein Arm und das Licht deines Angesichts; denn du hattest Wohlgefallen an ihnen.« 249 »5Aber an ihrer vielen hatte Gott kein Wohlgefallen; denn sie wurden niedergeschlagen in der Wüste.« 250 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 323. 251 Ebd., S. 323f. 252 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.2.4. 253 Vgl. Calwer Bibelkonkordanz, S. 1389. Die Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 weist gar 54 Bibelstellen aus, in denen das Lexem ›Wohlgefallen‹ vorkommt; vgl. Kirchenrat des Kantons Zürich (Hg.), Zürcher Bibel-Konkordanz 3, S. 633. 254 Vgl. Spr 3,12: »12Denn welchen der Herr liebt, den straft er, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn.« 255 Vgl. Jes 42,1: »1Siehe, das ist mein Knecht – ich erhalte ihn – und mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat.« 256 Lk 2,13. 257 Lk 2,14.

Politisch-gesellschaftlicher Rahmendiskurs

257

dargestellt.258 An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass die kirchliche Wendung von den ›Menschen guten Willens‹ auf die lateinische Übersetzung von Lk 2,14 zurückgeht und in der DDR für die politische Friedenspropaganda funktionalisiert wurde. Entsprechend lässt sich Cresspahls Aussage nicht nur als Charakterisierung seiner Tochter, die weder diesseits noch jenseits der innerdeutschen Grenze Wohlgefallen an ihrem Leben findet, sondern auch als Hinweis auf den Grund für diesen Zustand in Form einer versteckten Kritik an den politischen Systemen in der DDR und der BRD interpretieren. Trotz dieses unseligen Zustandes scheint Gesine der von ihr eingeschlagene Weg alternativlos. Der Rückzug ins Private, wie er von ihrem Vater vorgelebt wird, bietet ihr keine Möglichkeit, die eigene moralische Intaktheit zu wahren. Die Verteidigung ihrer individuellen Freiheit ist für Gesine von höchster Bedeutung, der Schritt über die Grenze so folgerichtig wie konsequent, denn Freiheit bedeutet für sie »nicht das Anderskönnen […] sondern das Andersmüssen« (MJ, 155).259 Mit seinem auf das Hohelied Salomos rekurrierenden Urteil, dass Gesines Seele »in fremde Gärten gegangen« (MJ, 202) sei, deutet Jonas die Folgen dieser moralisch-politischen Entscheidung an. Neben dem politischen verweist er aber auch auf den privaten Konflikt innerhalb des Romans, in dem Cresspahls Tochter als eine Frau mit starken Empfindungen260 und einer »tiefe[n] Verwurzelung ihrer Gefühle«261 gezeichnet wird. Bevor im ersten Teil des folgenden Kapitels die Rolle biblischer Intertexte für diesen Aspekt des Romans analysiert wird, sollen die Ergebnisse der vorangegangenen Analysen zum Eingriff des Staates in das Leben von Gertrud und Jakob Abs, Jonas Blach sowie Heinrich und Gesine Cresspahl noch einmal gebündelt werden.

2.2.6

»Soll einer sich selbst versäumen über einem Zweck«

Der Moment des Umschwungs im Gespräch zwischen Rohlfs und Jakob im Elbehotel wird durch die Frage des Eisenbahndispatchers an den Stasi-Hauptmann eingeleitet, »[s]oll einer sich selbst versäumen über einem Zweck«, und von diesem mit einem groben »Ja« beantwortet (MJ, 125). So selbstverständlich diese 258 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3.3.1. 259 Dass sich in diesen Worten neben der Anspielung auf Friedrich Engels’ Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) auch ein Bezug zum Martin Luther nachgesagten Ausspruch, »Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.«, herauslesen lässt, wie ihn der Sachkommentar der historisch-kritischen Ausgabe der Mutmassungen über Jakob anführt, ist aufgrund von Jonas’ Sprechen in »dreideutig verknoteten Wortbezüglichkeiten« (MJ, 138) nur konsequent; Büchmann, Geflügelte Worte, S. 658; vgl. Kommentar, S. 413. 260 Vgl. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 161. 261 Ebd., S. 155.

258

Mutmassungen über Jakob

Antwort für Rohlfs sein mag, ist sie für die anderen im Roman agierenden Figuren, die dem direkten Eingriff des Staatsvertreters ausgesetzt sind, nicht. Unmittelbar nach der ersten Begegnung mit Rohlfs ergreift Gertrud Abs aus Angst (vgl. MJ, 76) die Flucht aus dem sozialistischen Teil Deutschlands. Heinrich und Gesine Cresspahl haben diese Frage schon vor dem Einsetzen der Romanhandlung für sich entschieden. Der eine hat den Rückzug ins Private gewählt und sich so seine autonome Moral vor der staatlich oktroyierten Ideologie bewahrt, die andere als Folge ihrer Entscheidung für die individuelle Freiheit die DDR verlassen. Sie alle erkennen einen Missbrauch des sozialistischen Zwecks zur Durchsetzung machtpolitischer Interessen. Der einzelne Mensch gerät dabei so weit aus dem Blick, dass »das Grundgebot der Menschenwürde, die Freiheit, mißachtet«262 wird. Cresspahl konfrontiert Rohlfs mit der Frage, »[w]ie gehn sie mit dem Menschen um« (MJ, 173), wohingegen Jonas einen staatskritischen Essay verfasst. Einzig mit Jakob scheint Rohlfs zunächst in seiner auf Friedrich Hegel und Friedrich Engels zurückgehenden Auffassung übereinzustimmen, dass »Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit« (MJ, 99) sei.263 Folgerichtig ist es Jakob, auf den die »Grossen des Landes […] ihr Auge« (MJ, 24) werfen. Der Eingriff des Staates in die individuelle Freiheit seiner Bürger wird bei all diesen Figuren verhandelt. Ähnlich wie Westphal könnte man daher von einem Freiheitsdiskurs sprechen,264 da im Roman vorgeführt wird, wie »ausnahmslos alle Protagonisten mit ihren jeweiligen Freiheitskonzepten«265 scheitern. Ursächlich hierfür sind die politischen Umstände im real existierenden Sozialismus. Ausgehend von diesem politisch-gesellschaftlichen Rahmendiskurs finden sich innerhalb des Romans, das haben die bisherigen Analysen der pointiert in den Roman integrierten biblischen Intertexte bereits sichtbar werden lassen, weitere diskursive Verzweigungen. In die Äußerungen des Staatsvertreters Rohlfs sind mehrere biblische Einzeltext- und Systemreferenzen integriert, wie etwa bei der Verwendung des Auges als Metonymie für den menschlichen Körper. Durch den Erzähler eingeführt, der die »Grossen des Landes« (MJ, 24) aus einer gottgleichen Position »ihr Auge auf Jakob« werfen lässt (MJ, 24), wird die Körpermetonymie durch Rohlfs, wenn auch nicht ausschließlich durch ihn, aufgegriffen: »Es hat mir gefallen mein Auge zu werfen auf zwei verdienstliche unbescholtene Leute, die seit gestern in der Ziegeleistrasse zu Besuch sind bei Herrn Cresspahl.« (MJ, 66) Ihren Ausgang nimmt der Rückgriff auf diesen Biblizismus im politisch-gesellschaftlichen Diskurs des 262 Ebd., S. 158. 263 Vgl. hierzu ausführlicher Zweiter Teil, Kap. 2.4. 264 Ausgehend von ihrem Analysegegenstand, dem erzählten Raum, spricht Westphal von einem »Freiwilligkeitsdiskurs in Bezug auf Ortswechsel« der Figuren; Westphal, Literarische Kartografie, S. 54. 265 Ebd., S. 71.

Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters«

259

Romans, im Eingriff des Staates in die individuelle Freiheit von Jakob (und Jonas). In Verbindung mit weiteren Biblizismen und Lexemen der biblischen Sprache werden wie schon in Johnsons Erstling Bibeltöne erzeugt, die zur Konstitution eines spezifischen sprachlichen Diskurses innerhalb des Romans beitragen. Bevor dieser sprachliche Diskurs in den Mutmassungen über Jakob untersucht wird, soll der ebenfalls im Roman angelegte kirchengeschichtliche Diskurs zum Verhalten gegenüber der Obrigkeit analysiert werden. Dass sich dieser Diskurs nicht in der intertextuellen Folie des Buches Jona für das Verhalten von Jonas Blach erschöpft, wird anhand der in den Roman integrierten Bezugnahmen auf Röm 13,1 und die damit verbundene Zwei-Regimente-Lehre Martin Luthers veranschaulicht. Zuallererst soll jedoch ein dritter Diskurs ergründet werden. Nur teilweise konnte mit Cresspahls auf autonomer Moral gründendem patriarchalen Auftreten bis hierher die Frage beantwortet werden, welche Funktion die biblischen Intertexte im Sprechen von Gesine haben. Die Verweise auf die Heilige Schrift, die sich dem politisch-gesellschaftlichen Konflikt des Romans zuordnen lassen, werden um eine Reihe weiterer biblischer Intertexte ergänzt. Zusammen konstituieren sie einen mnemologischen Diskurs, der sich sowohl auf eine private als auch eine historische Ebene erstreckt.

2.3

Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters«

Zu einem der zentralen Diskurse in den Mutmassungen über Jakob gehört der mnemologische bzw. Erinnerungsdiskurs, der auf beiden Erzählebenen des Romans angelegt ist. Auf der Gegenwartsebene werden die letzten Tage im Leben von Jakob rekonstruiert, nachdem dessen plötzlicher Tod am Morgen des 8. November 1956 bei den Figuren in seinem Umfeld einen »Reflexions- und Erinnerungsprozeß über dessen Schicksal«266 in Gang gesetzt hat. Im Werkstattgespräch mit Horst Bienek begründet Johnson seine Romankonzeption als Folge der Frage, was von einem verstorbenen Menschen im Gedächtnis der Menschen seiner Umgebung übrigbleibe: »natürlich, die erinnern sich an ihn«.267 In der Erzählstruktur des Romans wird dieser Erinnerungsprozess explizit durch die Dialoge zwischen Jöche und Jonas, Jonas und Gesine sowie Gesine und Rohlfs umgesetzt, die mit Krellner als »Erinnerungsgespräche«268 bezeichnet werden 266 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 48. 267 Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson (Am 3.–5. 1. 1962 in West-Berlin), in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 194–207, hier: S. 203. 268 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 48.

260

Mutmassungen über Jakob

können. Implizit erweitern die Monologe im Perfekt oder Präteritum, »die offensichtlich von einem unbestimmten Zeitpunkt nach Jakobs Tod aus perspektiviert sind«,269 den Vorgang des Erinnerns. Das Konglomerat an Stimmen, die sich in den Dialogen diskursiv begegnen, und Innensichten der Figuren, die für einige unter ihnen in Monologform präsentiert werden, tragen zur Rekonstruktion der Umstände von Jakobs Tod bei. Die Folge ist die Inszenierung eines »mehrstimmigen kollektiven Erinnerungsvorgang[s]«,270 in dem Johnsons Prämisse, dass sich die Geschichte ihre Form auf den Leib gezogen haben müsse,271 verwirklicht wird. Schließlich erinnere man sich eines Verstorbenen für gewöhnlich durch »Gespräche und erinnernde Monologe«.272 Auf der Vergangenheitsebene des Romans wird der mnemologische Diskurs wiederum durch »Binnenerinnerungen«273 erzeugt. Im Moment des Wiedersehens mit Jakob vor dem Elbehotel wird in Gesine ein Erinnerungsprozess in Gang gesetzt, der das gegenwärtig Erlebte zu ihren Kindheitserinnerungen in Beziehung setzt. Als Gesine aus dem Schatten eines Baumes hervortritt und vom Licht des Pobjedas von Rohlfs geblendet wird, reißt Jakob sie zurück an einen Zaun und hält eines ihrer Handgelenke fest. In Gesine ruft diese Szenerie Assoziationen an eine längst vergangene Situation hervor, in der sie von Jakob vor sowjetischen Soldaten beschützt wurde: in seinen Fingern spürte ich das weiche warme Waldgras und Baumduft Kiefernborkendurft und die Russen die auf uns zukamen. Lautlos drehte sich Jakobs Kopf auf seinem Hals mir zu, mit seinen Augen duckte er meinen Nacken niedriger, seine Hand zwang meine Schultern eng an den Boden. Er spreizte die Blätter auseinander vor uns dass wir sie sehen konnten: die Uniformen, klapperndes Geschirr, müde Pferdehälse, Stimmen, dumpfes Hufklappern. Als ob die Erde hohl wäre. Die unendliche Stille über uns zwischen den Baumkronen. Jakobs Finger streckten sich, locker lagen unsere Arme nebeneinander […]. (MJ, 126)

Gesines Assoziation trägt durch den Vergleich mit dem Motiv der hohlen Erde fantastische Züge274 und deutet auf eine verklärte Erinnerung an die eigene 269 Ebd., S. 71. 270 Thomas Schmidt: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses, Göttingen 2000, S. 11. 271 Vgl. Uwe Johnson: Wenn Sie mich fragen … (Ein Vortrag), in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 51–64, hier: S. 60. 272 Neusüss, Gespräch mit Uwe Johnson, S. 185. 273 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 74. 274 Die Vorstellung, dass die Erde ein hohler Körper ist und über eine parallele Hohlwelt verfügt, geht auf die antike Vorstellung eines Totenreichs zurück, wie sie in Dantes Die göttliche Komödie räumlich ausgestaltet ist. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts fand diese Vorstellung Eingang in physikalische und geologische Überlegungen zur Beschaffenheit der Erde. Während sich die Überlegungen zur hohlen Erde wissenschaftlich nicht durchsetzen konnten, wurde das Motiv in der fantastischen Literatur von Ludvig Holberg (Niels Klims

Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters«

261

Kindheit hin. Wie zu zeigen sein wird, enthalten weitere Assoziationen einige Bezugnahmen auf die Heilige Schrift, die ähnlich fantastisch-allegorische Züge aufweisen. Einen Hinweis auf die verklärende Form von Gesines Erinnerungen, zu der auch die Wettermetaphorik gehört,275 bietet ein Blick auf die Motivation für Gesines illegale Reise in die DDR. Am Morgen nach der Ankunft in Jerichow erzählt sie von ihrer erst kurze Zeit zurückliegenden zweiten Italienreise und wird von Jonas gefragt, warum sie den Ort ihres gemeinsamen Frühjahrsurlaubs noch einmal aufgesucht habe. Gesine begründet ihren Schritt damit, »unglücklich gewesen« zu sein, woraufhin Jonas begreift, »sie hatte im Herbst nachsehen wollen ob die Woche ausgehalten habe« (MJ, 167). Diese zweite Reise nach Taormina ist eine Reise zu sich selbst, zu den eigenen Erinnerungen an den Aufenthalt mit Jonas im Frühjahr des Jahres 1956. Gesine sucht aufgrund ihres Gefühlszustands den Ort noch einmal auf, mit dem sie positive Erinnerungen verknüpft. Taormina wird so zum Mnemotopos,276 auf der Suche nach einer (parallelen) Welt privaten Glücks. Auf Sizilien überprüft sie, ob sie mit Jonas glücklich werden kann. Einen ersten Hinweis auf das Schicksal ihrer Beziehung liefert ein Brief, »bedruckt mit Namen und geschäftlicher Bewandtnis einer mittleren Pension in Taormina auf Sizilien« (MJ, 27), den Cresspahls Tochter nicht an ihren Geliebten, sondern an Jakob sendet: Lieber Jakob, ich treibe mich um in der Welt, bei Regen sieht die Gegend aus wie die Rehberge, keiner hat einen Schirm wie mein alter Vater. Den ich ehren soll und du sollst ihn grüssen. Und gedenke deiner Dich liebenden halben Schwester Gesine Cresspahl. Ich bedanke Dir deinen langen Brief über das Brückenbauen. (MJ, 28)

Die Eindrücke ihrer Reise evozieren bei Gesine, das vermittelt sie Jakob in ihrem Brief, Erinnerungen an die gemeinsame Zeit auf den Rehbergen in der Umgebung von Jerichow. Als Mnemotopos für ihre Beziehung zu Jonas scheint Taor-

unterirdische Reise, 1741) über Edgar Allan Poe (Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket, 1838) und Jules Verne (Reise zum Mittelpunkt der Erde, 1873) bis hin zu Arno Schmidt (Tina oder über die Unsterblichkeit, 1956) zahlreich als Imaginationsraum für parallele Welten verwendet: »Die Hohlwelt war jetzt kein Reich der Schatten mehr, sondern ein utopischer Raum für gesellschaftskritische Staatsromane, ein Ort, wo man die bedrohte Zukunft des Menschen finden konnte, indem man auf unterirdische humanoide Lebensformen stieß, bei denen menschliche Schwächen ausgeprägter bzw. gesellschaftliche Missstände schon fortgeschrittener waren als oberirdisch«; Gerd Schubert: Hohlwelten?, in: Hartmut Fischer/ders. (Hg.): Hohlwelten. Beiträge zur Ausstellung HOHLWELTEN vom 21. September bis 19. November 2006 im Heimatmuseum Northeim, Berlin 2009, S. 8–21, hier: S. 11. 275 So herrscht in den erinnerten Szenen vorwiegend Sonnenschein (vgl. MJ, 15, 72f., 77, 204, 235); vgl. hierzu Born, Wie Uwe Johnson erzählt, S. 167. 276 Vgl. hierzu auch Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 108f. Westphal lässt hingegen das Reisemotiv außer Acht und spricht von Jerichow als dem »ersten Mnemotopos in Johnsons Werk«; Westphal, Literarische Kartografie, S. 77.

262

Mutmassungen über Jakob

mina gescheitert zu sein. Stattdessen löst der Urlaubsort Erinnerungen an Jakob und ihre Kindheit in Jerichow aus. Diese Erinnerungen zeugen von einer Unzufriedenheit, die sie Jakob gegenüber bestätigt, und einer Sehnsucht nach einer anderen Welt, jenseits der politischen Gegenwart, die für sie mit Verlust und Einsamkeit gleichbedeutend ist.

Jerichow und die Rehberge Vor dem Hintergrund der gescheiterten Erinnerungreise nach Sizilien reist Gesine beinahe folgerichtige illegal in die DDR ein, um Jakob wiederzusehen und den Ort aufzusuchen, der »biographisch weiter zurücklieg[t]«:277 ihre Heimatstadt Jerichow. Der Name ihrer Heimatstadt, eine »an der mecklenburgischen Ostseeküste« (MJ, 13) gelegene ehemalige Bauernstadt, rekurriert auf die biblische Stadt Jericho. Ähnlich wie bei den Namen Jakob und Jonas war Johnson auch beim Handlungsort der Mutmassungen über Jakob darum bemüht, die Bedeutung der Heiligen Schrift als Intertext für seinen erstveröffentlichten Roman kleinzureden.278 Ende August 1959 wurde Johnson indes von seinem Lektor Walter Boehlich nach dem Motiv dafür gefragt, »daß Sie Jerichow an die Ostsee verlegt haben«.279 Nur wenige Tage später erteilte er Boehlich Auskunft über den (biblischen) Hintergrund der Namenswahl: Jerichow habe ich mir aus der Bibel genommen, wenn ich nicht irre. Ich weiss nicht, was die Gründer der sächsischen Orte dieses Namens oder des märkischen sich gedacht haben mögen; es ist ja aber kaum zu übersehen dass eine Stadt, die lange Zeit mächtig ist, eines Tages einer bloss symbolischen Kraftanstrengung nicht standhält: und die Mauern werden fallen hin. Statt der Trompeten könnte man auch einen Lautsprecherwagen nehmen. Oder gesticktes Tuch an einer Stange. (Als Trompeten maskierte Ultraschall-Erreger.) Und da ich fand dass der Laut dieses Namens an der Ostsee angenehm blaugrau (etwa als Luft und Fischgeruch) auf der Zunge liegt, habe ich mir ein Jerichow aufgebaut an der Ostsee; es ist besser, da gibt es auch eins. Ich sehe, ich kann es nicht erklären; es ist aber wohl eine Antwort.280

Einmal mehr zeigt sich, wie vorsichtig mit Johnsons öffentlichen Selbstaussagen umgegangen werden muss. Im Brief an Boehlich jedenfalls stellt er eine klare Verbindung zwischen dem mecklenburgischen Jerichow und dem biblischen Jericho her. In Jos 6 wird die westlich des Jordans gelegene Siedlung als dem Volk Israel verschlossene Stadt beschrieben, als »Musterfall einer scheinbar absolut 277 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 109. 278 Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans wies Johnson im Gespräch mit Schwarz eine Verbindung zwischen dem Jerichow der Mutmassungen über Jakob und dem biblischen Jericho zurück; vgl. Zweiter Teil, Kap. 2, Anm. 32. 279 Walter Boehlich an Uwe Johnson, 25. 8. 1959, zitiert nach »Die Katze Erinnerung«, S. 86. 280 Uwe Johnson an Walter Boehlich, 28. 8. 1959, zitiert nach ebd.

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gesicherten Festung«,281 in die »niemand aus oder ein kommen konnte«.282 Das Jerichow von Heinrich Cresspahl ist eine Kleinstadt am Rande der ostdeutschen Republik, in der Provinz und weit entfernt von Ost-Berlin als dem Zentrum der politischen Macht. Jonas fühlt sich bei seiner Ankunft in Jerichow »wie in den Ferien: weil die Häuser zu ebener Erde sind, die Strasse ist mit Katzenköpfen gepflastert, die Pferdefuhrwerke kommen vom Land, das Land fängt an um die Ecke« (MJ, 68). Einer seiner Freunde charakterisiert die Provinz als »stehengeblieben, Rückstand im Agrarischen wegen überlanger Feudalorganisation« (MJ, 68). Jerichow fungiert, ähnlich dem biblischen Jericho, als ein provinzieller Schutzraum,283 weshalb Jakob mit Gesine nicht in der Elbestadt bleibt, sondern ihre Heimatstadt aufsucht. Doch auch dieser vermeintlich entlegene Ort ist bereits zu Beginn des Romans, und nicht erst mit Rohlfs Auftreten in Jerichow, staatlich durchdrungen. In der Akte zum Operativen Vorgang Taube auf dem Dach findet Rohlfs »Berichte von der Dienststelle Jerichow« (MJ, 9) und lässt bei seiner ersten Ankunft in der Kleinstadt in einem der »beiden Einfamilienhäuser in der Bahnhofstrasse« (MJ, 10) ein Zimmer für sich und Hänschen freiräumen. Darüber hinaus erwähnt Rohlfs in seinem ersten inneren Monolog einen gegenüber der Obrigkeit loyalen Vorsteher des Postamtes und einen Zusteller, den er dabei beobachtet, wie er Postkarten liest (vgl. MJ, 11). Auch wenn ein Mitarbeiter der Stasi-Dienststelle gegenüber Rohlfs beteuert, dass es »ein schweres Arbeiten hier« (MJ, 10) sei, so sind die Mauern der Kleinstadt bereits so weit unter dem staatlichen Einfluss gefallen, dass sich Jakob und Gesine bei ihrer Ankunft in Jerichow vor den Scheinwerfern eines auf sie zurasenden Wagens verstecken müssen (vgl. MJ, 154f.). Erst Cresspahls Haus fungiert für Gesine, aber auch für Jonas, als Raum, in dem sie sich trotz ihres illegalen Aufenthalts und ihrer illegalen Tätigkeit frei bewegen können. Es dient als privater Schutzraum, in dem sich Gesines Vater das Recht herausnimmt, einem Staatsvertreter wie Rohlfs »Nachtlager Hilfe Beköstigung abzuschlagen« (MJ, 178). Doch ähnlich wie die Mauern Jerichos durch ein großes Feldgeschrei fallen, das am siebten Tag der Belagerung nach siebenmaligem Umrunden der Stadt durch sieben Priester mit sieben Posaunen initiiert wird,284 so reichen »sieben bewaffnete Spaziergänger [aus] für die Ecken von Cresspahls Haus« (MJ, 177).285 Wie das Volk Israel vor den Mauern Jerichos steht, so können die »Scheinwerfer auf den Torpfosten der sowjetischen Komman281 Manfred Görg: Josua, Würzburg 1991, S. 27. 282 Jos 6,1. 283 Entsprechend ironisch reagiert Rohlfs, als er in Gesines Akte liest, dass Cresspahl »öffentlich im Krug von Jerichow« ein Lied gesungen habe: »glaube nicht dass da im Krug ›öffentlich‹ bedeutet, die kennen sich doch alle, na ja: öffentlich im Krug« (MJ, 9). 284 Vgl. Jos 6,15–20. 285 Vgl. hierzu auch Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 493, Anm. 2.

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Mutmassungen über Jakob

dantur« (MJ, 177) auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf die Mauern von Cresspahls Haus schwenken. Insofern lässt sich der Name der Kleinstadt mit seiner intertextuellen Beziehung zum biblischen Jericho als totum pro parte für das in der Stadt befindliche Haus Cresspahls deuten.286 Der Schutz, der von diesem Haus ausgeht, leitet sich allerdings nicht von der Beschaffenheit des Gebäudes her, sondern von den Figuren, die es bewohnen bzw. bewohnt haben. In ihrem Brief an Jakob erwähnt Gesine einen einzigartigen Schutz bietenden Regenschirm ihres Vaters (vgl. MJ, 28). Überdies habe Cresspahl seine Tochter »an die Haustür gebracht acht Jahre lang« (MJ, 13). Doch nicht nur mit ihrem Vater, sondern auch mit ihrem Ziehbruder verbindet Gesine, wie bereits dargestellt, Eigenschaften wie Schutz und Orientierung. So assoziiert sie das eingangs beschriebene Agieren Jakobs beim Wiedersehen mit seiner Ziehschwester vor dem Elbehotel mit einem Ereignis in ihrer Kindheit, in dem sie von Jakob vor sowjetischen Soldaten beschützt wurde. Mit ihrer Flucht aus dem ostdeutschen Staat entfällt der Schutz durch ihren Vater und ihren Ziehbruder. Gesine ist in einem für sie fremden Land auf sich allein gestellt. Noch auf ihrem Weg nach Jerichow beschreibt sich Gesine als orientierungslos. Im ihr seit Kindestagen bekannten Gräfinnenwald bekennt sie, »nicht einmal den Polarstern« zu finden, »allein hätte ich mich gewiss verlaufen in den unzähligen Wegen« (MJ, 153). Dass Gesine in Jakob den brüderlichen Schutz und die Geborgenheit findet, die sie sucht, wird spätestens während der Taxifahrt durch die Elbestadt deutlich, bei der ihr Wunsch auf blindes Verständnis trifft: »Wenn er doch nur den Arm hochnehmen würde und Jakobs Arm stieg hinweg über meinen Kopf und liess mir den Platz frei an seiner Schulter, ›Beschützu mich Jakob‹ sagte ich und fühlte in seiner Brust das leise Zittern von innerlichem Lachen und schlief ein und träumte« (MJ, 131). Jakob nimmt die Rolle als beschützender Bruder ein und weckt in Cresspahls Tochter Erinnerungen an ihre Kindheit in Jerichow. Bereits in ihrem Brief aus Taormina assoziiert Gesine ihre Kindheitserinnerungen in den Rehbergen mit ihren Urlaubseindrücke (vgl. MJ, 28). In ihrem Bericht am Morgen nach der Ankunft im Haus des Vaters greift sie den Vergleich ein weiteres Mal auf: »Bei Regen sei es aber so gewesen wie in den Rehbergen, wenn der Herr Vater absehen wolle von dem Jungen, der sie unter einem unge286 Ähnlich interpretiert Radke den Namen ›Jerichow‹ als Synekdoche für Cresspahls Haus. Allerdings sieht er darin eine »Art Totenhaus« und Jerichow damit als »Deckname[n] für das Totenreich und für die Welt im abwartenden Sinne als die dunkle Unterwelt«; Radke, Untersuchungen zu Mutmassungen über Jakob, S. 495f. Das hebr. ‫ חרי‬lässt sich mit ›Mond‹ übersetzen und kann vermutlich auf einen Kult des kanaanitischen Mondgottes zurückgeführt werden; vgl. Rainer Riesner: Jericho, in: Helmut Burkhard u. a. (Hg.): Das große Bibellexikon, Bd. 2: Haar–Otniel, Wuppertal/Zürich 1988, S. 655–659, hier: S. 655. Darüber hinaus besteht ein direkter Nexus zwischen dem Tod und der Kleinstadt eigentlich nur über das Grab Lisbeth Cresspahls (MJ, 12) und den Typhusfriedhof (vgl. MJ, 153).

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heuerlichen Regenschirm in die Pension zurückgebracht habe« (MJ, 167). Die Johnson-Forschung stimmt seit Radke darin überein, die Rehberge als biblischen Intertext zu interpretieren.287 Im Hohelied Salomos, auf das auch Gesines Charakterisierung durch Jonas – »[i]hre Seele ist in fremde Gärten gegangen« (MJ, 202) – verweist,288 appelliert die Geliebte im Zustand gegenseitiger Liebe an ihren Freund: »14Flieh, mein Freund, und sei gleich einem Reh oder jungen Hirsche auf den Würzbergen!«289 Die Würzberge symbolisieren als Form eines Berges im Hohelied wie schon die Scheideberge in Hld 2,17290 sowie die Myrrhenberge und der Weihrauchhügel in Hld 4,6 »die Brüste der Geliebten«.291 Einem Reh oder einem jungen Hirsch gleich wird der Geliebte im dritten Lied des Hohelieds beschrieben.292 Im fünften Lied sind es die Brüste der Geliebten, die mit »zwei junge[n] Rehzwillinge[n]«293 verglichen werden. Das Bild der ›Rehe‹ eint die beiden Liebenden und bringt durch die Schönheit und die »übermütig[e] und spielerische Beweglichkeit dieser Tiere«294 den Reiz zum Ausdruck, den die beiden Liebenden aufeinander ausüben. Bühlmann weist überdies auf eine »hintergründige Bedeutung« hin, die von den Brüsten der Frau als Symbol für das Leben und die Lebenserneuerung ausgehen: »Gazellen, Steinböcke und Hirsche bewohnen die Steppen und Bergwüsten, Bereiche, die dem Alten Orient als tödlich und chaotisch erscheinen. Tiere, die in einer existenzbedrohenden Steppe überleben, sind geeignet zum Sinnbild der Todesüberwindung zu werden.«295 Somit vereinen die Rehberge von Jakob und Gesine in sich Metaphern der Todesüberwindung und Lebenserneuerung und stehen für die Hoffnung, die beiden Figuren innewohnt. Der Ort fungiert für beide als locus memoriae, an dem 287 Vgl. Radke, Untersuchungen zu Uwe Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob, S. 601, Anm. 1; Barbara Scheuermann: Zur Funktion des Niederdeutschen im Werk Uwe Johnsons. »in all de annin Saokn büssu hie nich me–i to Hus«, Göttingen 1998, S. 103f., Anm. 148; Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 325. 288 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.2.3. 289 Hld 8,14. 290 Hld 2,17 und 8,14 sind nahezu identisch konstruiert, doch während der Geliebte in Hld 2,17 zu den Scheidebergen gelockt wird, schickt die Geliebte ihn in Hld 8,14 weg. Deutet man die Würzberge jedoch als Metapher für die Brüste der Geliebten, ist das Wegschicken vielmehr eine Einladung. Zakovitch legt diese Verbindung als »Aufforderung an den Leser« aus, »mit der Lektüre wieder von vorn zu beginnen, immer wieder von neuem. Denn hier entsendet die Sprecherin den Geliebten in die Balsamberge, und im ersten Lied von Hld rühmt sie den von ihm ausströmenden Wohlgeruch. Hier heißt sie ihn schnell weggehen, und dort sagt sie: ›Zieh mich dir nach, wir wollen laufen‹ (1,4)«; Zakovitch, Hohelied, S. 283. 291 Ebd., S. 285. 292 Vgl. Hld 2,9. In der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 wird ‫ י ִ ֗בְצִל‬nicht mit ›Reh‹, sondern mit ›Gazelle‹ übersetzt, sodass anzunehmen ist, dass die Ortsbezeichnung ›Rehberge‹ auf die Übersetzung des Alten Testaments durch Luther zurückgeht. 293 Hld 4,5. Vgl. auch Hld 7,4. 294 Bühlmann, Hohelied, S. 55. 295 Ebd.

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Mutmassungen über Jakob

die 14-jährige Gesine und ihr Ziehbruder leitmotivisch für das »Verlangen nach unversehrtem Glück«296 ihren selbstgebauten Drachen steigen lassen (vgl. MJ, 132, 235). Darüber hinaus werden die Rehberge über die intertextuelle Beziehung zum Inhalt des Hohelieds zum locus amoenus. In den Verweisen auf diese Sammlung von Liebesliedern wird die Liebesbeziehung der beiden ›Geschwister‹ vorausgedeutet. Im letzten Kapitel der Bibelschrift beklagt sich die Geliebte, dass sie ihren Gefühlen öffentlich nicht frei nachgeben könne, und wünscht sich, dass ihr Geliebter »gleich einem Bruder« wäre, den sie »führen und in meiner Mutter Haus bringen« könne.297 Dieses Bild wird in den Mutmassungen über Jakob umgekehrt: Es ist Jakob, der Gesine in die Stadt und das Haus ihres Vaters führt, und nachdem sich beide in einer Szene küssen, in der Cresspahls Tochter wiederholt von ihrem Ziehbruder beschützt wird, muss Gesine erkennen, dass »Jakob nicht übriggeblieben sein konnte aus der Zeit unverändert als der Grosse Bruder« (MJ, 155). Jonas gegenüber gesteht sie: »Es ist meine Seele, die liebet Jakob« (MJ, 170). Die Bezugnahme auf das Hohelied, hier konkret Hld 3,1–4,298 ist in der ersten überlieferten Fassung des Romans noch verstärkt, indem das Objekt ›Jakob‹ mit der Metapher des (fremden) Gartens, die Jonas im Gespräch mit Jakob auf Gesine überträgt (vgl. MJ, 202), umschrieben wird: »Es ist meine Seele in fremde Gärten gegangen.«299 Kolb interpretiert die »altertümlich formelhafte Redeweise« als Ausdruck eines distanzierten Verhältnisses zum Bekenntnis, gar als »Travestie der biblischen Entsprechung«.300 Für die Interpretation des ›Lie296 Scheuermann, Funktion des Niederdeutschen, S. 104. 297 Hld 8,1f. 298 »1Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht. 2Ich will aufstehen und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte; aber ich fand ihn nicht. 3Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen: ›Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt?‹ 4Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich halte ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in die Kammer der, die mich geboren hat«; Hervorhebung P. O. 299 Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 5, Bl. 10, abgedruckt in Kommentar, S. 334. Noch in der ersten überlieferten Fassung wurde die ursprüngliche Form durch eine handschriftliche Korrektur an die Form der späteren Druckfassung angepasst. 300 Kolb, Rückfall in die Parataxe, S. 50. Kolb bekräftigt seine Argumentation mit der Parodie auf 1 Kor 13,8 (»8Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird.«) im Dialog zwischen Jonas und Jöche: »– Sagt Sabine. Die ist doch im Sommer allein auf Urlaub gefahren. Sie waren doch auseinander. Und es hat einfach aufgehört. Ich hab doch gesehen wie sie umgegangen sind nach dem. Dann hat sie gesagt ›Guten Tag Jakob‹, und er hat sie freundlich angesehen und hat auch so was gesagt. Verstehst du? die mochten sich immer noch, aber die Liebe höret ewig auf.« (MJ, 24) Jöche bedient sich des biblischen Intertextes, um die Beziehung zwischen Jakob und Sabine zu umschreiben und aktualisiert den Bibeltext, indem er auf ein verändertes Verständnis von ›Liebe‹ verweist. Die Zuneigung, die Jakob gegenüber

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besbekenntnisses‹ sollte zunächst die Sprechsituation berücksichtigt werden: Gesine offenbart ihrem Geliebten, dass sie jemand anderes liebt. Ordnet man den Intertext darüber hinaus in das Netz von Verweisen auf das Hohelied ein301 und beachtet den Kontext des vierten Liedes des Bibeltextes, in dem die Geliebte denjenigen sucht und findet, den ihre Seele liebt, wird der Eindruck erweckt, als habe Gesine in Jakob gefunden, was sie gesucht hat. Ihr Zustand, sich unglücklich zu fühlen, scheint überwunden, das private Glück geboren bzw. wiedergefunden zu sein. Die Sinnlichkeit der Szene wird überdies durch die »Akzentverschiebung« des Lexems ›Seele‹ vom relativischen Objektsatz zum Subjekt gesteigert: »Während im Hohelied in allen einschlägigen Versen zuerst das Gegenüber, das Objekt der Liebe, genannt wird – ›da fand ich, den meine Seele liebt‹, 3,4 –[,] rückt dieses in Gesines Liebeserklärung an die zweite Stelle und die Seele als Ort der Empfindung tritt in den Vordergrund.«302 Gesine begründet ihre Trennung von Jonas nicht rational, sondern mit ihren Gefühlen für Jakob. Es sind Gefühle, die sie für Jonas nicht empfunden hat: »Er stand vor mir in meines Vaters Haus und war so wirklich wie Jakob neben mir ich wusste kein Wort und sagte GUTEN TAG Sabine verspürt, ist dem ersten Korintherbrief nach noch immer ›Liebe‹, allerdings nicht die Liebe, wie sie im Hohelied umschrieben wird und die Gesine in ihrem Liebesbekenntnis anspricht. Eine Analogie beider Sprachformen ist also sowohl aufgrund der unterschiedlichen Sprecher (Jöche – Gesine) als auch inhaltlich im Text nicht angelegt. 301 Ein Netz, das neben den Rehbergen und diesem Intertext in der Johnson-Forschung sogar noch erweitert wurde. Radke verweist auf eine mögliche intertextuelle Beziehung zwischen dem Namen des Operativen Vorgangs Taube auf dem Dach (vgl. MJ, 10) und der im Hohelied mehrfach erwähnten Taube als Metapher für die Geliebte: »2Ich schlafe; aber mein Herz wacht. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft: Tue mir auf, liebe Freundin, meine Schwester, meine Taube, meine Fromme«; Hld 5,2. Vgl. auch Hld 4,1; 5,12; 6,9. In der ersten überlieferten Fassung der Mutmassungen über Jakob stellt Rohlfs die Taube als Symbol aber in einen anderen biblischen Zusammenhang: »Ich habe geglaubt an Tauben, die einem in den Mund fliegen kraft freier Entscheidung«; Johnson, [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob] (1. Fs.), Mappe 6, Bl. 22, abgedruckt in Kommentar, S. 342. In Apg 2,3f. setzt sich der Heilige Geist, der in Mt 3,16 parr mit einer Taube gleichgesetzt wird, auf die Zungen der Apostel: »3Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; 4und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit andern Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen.« Bernd Neumann führt darüber hinaus die ›Geschwisterliebe‹ zwischen Gesine und Jakob neben Faulkners Werk, durch das sich »das Thema des Inzests« ziehe, auf Hld 8,1 zurück: »Umgekehrt finden in die erfüllte Liebe des Hohen Liedes Elemente der Geschwisterliebe Eingang […]. Johnson bricht, wie gesagt, diesem Thema die Spitze ab; bei ihm waltet nicht mythische Verstrickung, sondern die ›politische Physik‹ – die sich freilich selbst zu mythischer Unentrinnbarkeit entwickelt«; Neumann, Utopie und Mythos, S. 129f. Allerdings handelt es sich in der Liebesbeziehung zwischen Gesine und Jakob nicht um Inzest und auch im Hohelied ist das Wunschdenken (Optativ) der Geliebten metaphorisch zu verstehen: »Wenn die Frau davon spricht, dass der Geliebte an den Brüsten ihrer Mutter saugt, verweist das natürlich auf ihr [sic!] eigenen Brüste und auf den Genuss, den er dort findet«; Zakovitch, Hohelied, S. 285. 302 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 325.

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und schämte mich und befahl mir die Erinnerung: dies ist Jonas der mich liebt. In Ordnung.« (MJ, 159; Versalien im Original) Das rationale Sich-Erinnern an ihre Beziehung zu Jonas steht der sinnlichen und »mnemotopisch unterstützten, idealisierenden« Erinnerung an die »Sehnsuchtsgestalt ihrer Kindheit« gegenüber und vermag gegen sie nichts auszurichten.303 Als Jakob seine Geliebte in der BRD besucht, schläft Gesine am Montagabend auf der Couch ein, »als sei niemand bei ihr« (MJ, 234) gewesen. Im Schlaf ruft sie nach dem Geliebten und erzählt ihm nach dem Aufwachen von einem Traum: »Ich habe geträumt ich finde den Ausgang nicht« sagte sie. »In Cresspahls Haus, die Tür nicht?« fragte Jakob. Sie schüttelte den Kopf, das war als könne sie sich nicht rühren. »Hier« sagte sie. Jakob griff um ihre Schultern und richtete sie auf und sagte: »Das Graue, links, weisst du was links ist? das ist die Tür, dann kommt der Flur, und im Treppenhaus leuchtet es rot unter dem Lichtschalter, damit du ihn findest«. Inzwischen hatte sie sich aufgesetzt, sie hielt seine Hand fest, die er zur Lampe ausstrecken wollte. Sie legte sich zurück. Ihre Augen waren offen. »Wo bist du gewesen« fragte sie. So hatten sie sich früher nach ihren Gedanken gefragt. »Meine Liebe« sagte Jakob: »auf den Rehbergen, Drachen steigen lassen, und du warst auch mit«. Es war aber die Wahrheit, und nun erinnerten ihre offenen Augen in dem undeutlichen Licht ihn an das Drachensteigen auf den Rehbergen. (MJ, 235)

Die bereits motivisch gedeutete Erinnerung an das Steigenlassen des Drachens in den Rehbergen wird mit einer Reihe expliziter und impliziter Verweise auf das Hohelied in Beziehung gesetzt. Jakob lässt Gesine schlafen, wie es der Geliebte in Hld 3,5 von den Töchtern Jerusalems einfordert: »5Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Rehen oder Hinden auf dem Felde, daß ihr meine Freundin nicht weckt noch regt, bis es ihr selbst gefällt.« Weiterhin lässt sich Gesines Traum, in dem sie wie orientierungslos den Ausgang nicht findet, als Verweis auf die Traumerzählung im sechsten Lied des Hohelieds deuten, in dem die Geliebte wie verzweifelt fragt: »3Ich habe meinen Rock ausgezogen – wie soll ich ihn wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen – wie soll ich sie wieder besudeln?«304 Der Traum der Geliebten, in der ihr Geliebter verloren zu sein scheint, mündet in der Frage der Töchter Jerusalems, »[w]o hat sich dein Freund hingewandt?« – die Antwort ist bekannt: »Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten«.305 Auch wenn es im Romantext keine Hinweise darauf gibt, dass es sich um eine Szene im Anschluss an die »erste[] Liebesnacht«306 zwischen Gesine und Jakob handelt, wird durch die Textreferenz auf das Hohelied eine gewisse Intimität erzeugt. Deutlich wird, dass mit der Liebesbeziehung zu Gesine ein Verlust von Jakobs Rolle als beschützender großer Bruder einhergeht. Zwar 303 304 305 306

Kleihues, Medialität der Erinnerung, S. 48. Hld 5,3. Hld 6,1f. Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 325.

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beschreibt Jakob ihr den Ausgang, den sie in ihrem Traum nicht zu finden vermag, ihn finden muss sie jedoch allein. Folglich ruft die Szenerie in Gesine keine assoziativen Erinnerungen an die Rehberge hervor, wie es noch auf dem Weg nach Jerichow geschah, als Jakob die Rolle des großen Bruders einnahm, sondern diese müssen erst von Jakob initiiert werden. Mit der Veränderung der Beziehung zwischen Gesine und Jakob geht auch ein Wandel in der Erinnerungsstruktur einher.307 Die assoziativ hervorgerufenen Erinnerungen werden Gesine zunehmend unzugänglich. Der Prozess der Revision ihrer stilisierten Erinnerung setzt aber nicht erst mit dem Erreichen Jerichows und dem Kuss ein. Bereits zuvor reflektiert Gesine im Duktus der Heiligen Schrift, »[n]un wollen wir gehen in die Stadt meines Vaters und ansehen wie sie abgefallen ist von meiner Erinnerung« (MJ, 153), und stellt damit nach Taormina auch Jerichow als Mnemotopos infrage.308 Krellner gelangt daher zu dem Schluss, dass »ein reales Wieder-Aufsuchen der Orte der Vergangenheit für Gesine Cresspahl am Ende der Mutmassungen ausgedient«309 habe. In diesem Scheitern erkennt er eine Grundlage für das Erinnerungskonzept der Jahrestage, in denen »unter Absehung einer realen Wiederbegegnung die Rekonstruktion der Vergangenheit aus der räumlichen Ferne New Yorks und dem zeitlichen Abstand mehrerer Jahrzehnte«310 angegangen werde. Krellner lässt dabei außer Acht, dass auch New York ein Mnemotopos für eine Form der Erinnerung darstellt, die bereits in Johnsons erstveröffentlichtem Roman angelegt ist. Die ›deutsche Schuld‹ Auf ihrem Fußweg nach Jerichow erreichen Gesine und Jakob nach einer Gutsschmiede, die in ihr Kindheitserinnerungen an das Beschlagen eines Pferdes hervorrufen, den Gräfinnenwald, in dem sie sich ähnlich orientierungslos und von Jakob abhängig fühlt wie als Kind, »in dem Sommer nach dem Krieg« (MJ, 153). Damals verlief sie sich »in den unzähligen Wegen« und gelangte zum Typhusfriedhof. Der Gräfinnenwald fungiert als ein weiterer Mnemotopos und ruft Erinnerungen hervor an die offenen Gruben mit den Hühnern, die immer wieder herankamen aus dem Küchengarten und de[n] dicke[n] schwammstreifige[n] grobe[n] kalte[n] Schlosswürfel und die Toten auf den Leiterwagen wie Korngarben und wie ich einen nackten Mädchenfuss steif herausrutschen sah aus der fleckigen Zeltplan und mit geschlossenen Augen den schweren hölzernen Aufschlag hörte unter mir dröhnend auf meinen Lidern: 307 Vgl. Westphal, Literarische Kartografie, S. 77. 308 Bekräftigt wird dieses Infragestellen des Mnemotopos Jerichow durch die offene Frage Gesines am Ende der Monologpassage: »was wollte ich in meines Vaters Haus« (MJ, 154). 309 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 110f. 310 Ebd., S. 111.

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und wie ich betäubt von der Hitze in dem braunen Waldgras lag halb im Kiefernschatten und Jakob zog mit den Pferden ebenmässig wie die Ewigkeit über die frischen Stoppeln und wir sassen nebeneinander an den weich überkrusteten Pflugscharen und assen Nachmittagsbrot und es fragte plötzlich aus mir Ist das wahr Jakob mit den Konzentrationslagern: sind Zeitabläufe, von denen ich nie habe denken können: das war gestern und morgen wird es schon vorgestern gewesen sein, oder das war vor zehn Jahren und inzwischen weiss ich über den Monopolkapitalismus als Imperialismus viel besser Bescheid und kann das Vergangene betrachten von heute aus. Sie vergehen nicht, ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick vor Jakobs grossflächigem reglosem Gesicht und seinen halb geschlossenen Augen und höre ihn sagen Ja das ist wahr. (MJ, 153f.)

Der Gräfinnenwald ist für Gesine eng mit der Erinnerung an die Folgen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft verknüpft und ruft in ihr eine weitere Assoziation hervor. In einer idyllisch erscheinenden Szene im Sommer 1946, in der sich Gesine und Jakob von den Anstrengungen des Pflügens ausruhen, übermannt es die 13-Jährige und »es fragte plötzlich aus« ihr nach dem Wahrheitsgehalt dessen, was ihr über die Konzentrationslager bekannt ist. Die Antwort ist für sie verstörend wie prägend zugleich. Neben der Überforderung der heranwachsenden Gesine, die sich Bernd Auerochs zufolge darin widerspiegele, dass die Frage nach den Konzentrationslagern »gleichsam nicht von ihr selbst gestellt«311 wird, deutet Westphal unter dem »Stichwort des Sich-Verlaufens« die »räumliche Orientierungslosigkeit« auf den Wegen des Gräfinnenwaldes als Parallele zu »einem moralischen Orientierungsverlust nach dem Krieg«.312 Ihr großer Ziehbruder »bestätigt ihr ungeschönt die Wahrheit«,313 sodass sich Gesine mit der Tatsache konfrontiert sieht, einer Nation anzugehören, deren Menschen, womöglich in ihrer Umgebung, Verbrechen zu verantworten haben, die millionenfaches Leid nach sich zogen. Cresspahls Tochter lässt das Wissen um diese Gräueltaten, die mit Menschlichkeit und Moral unvereinbar sind, zu einer »radikalen Schlußfolgerung«314 gelangen: Damit kann man nicht leben, das ist unbrauchbar, wie soll es verantwortet werden. Wie soll das eingerichtet werden mit dem nassen Buchenblätterrascheln unter unseren Schritten und mit den schwankenden kreisenden Kieferkronen über uns vor dem grauen nächtlichen Himmel und mit meinem verdorbenen Leben und mit Jakob, den ich nicht sehen kann in dem schwarzen engen hochwandigen Hohlweg, er sollte nicht so schnell gehen, habe ich es so gewollt? so habe ich es gewollt. So ist der Wünschenswert. Was hat es zu tun mit Jerichow, das vor uns gelegen hat im Bruch, als wir oben auf dem Berg herausgekommen waren durch den fussbreiten Pfad im Unterholz und stillstanden Jakob 311 Bernd Auerochs: »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«. Zum Holocaust und zum Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 112, 1993, S. 595–617, hier: S. 597. 312 Westphal, Literarische Kartografie, S. 76. 313 Ebd. 314 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 597.

Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters«

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neben mir ohne ein Wort: ein finsterer Klumpen in der Senke mit der Kirchturmspitze und dem Licht in meines Vaters Haus: was wollte ich in meines Vaters Haus. (MJ, 154)

Obwohl Gesine für die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland nicht unmittelbar verantwortlich ist, empfindet sie eine (kollektive) Schuld am ideologisch begründeten systematischen Mord an Millionen von Menschen. Sie beurteilt ihr Leben im Zeichen dieser ›deutschen Schuld‹ als verdorben, als moralisch verkommen. Die Existenz der Konzentrationslager hat für sie »die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zerstört«.315 In einer Situation des Zivilisationsbruchs,316 in der jegliche moralische Grundsätze kollektiv außer Kraft gesetzt wurden, wird das Sich-Erinnern an den schlimmsten nur denkbaren Zustand für sie zur obersten moralischen Pflicht: Gesine »vergegenwärtigt sich wieder und immer wieder die unvorstellbaren Greuel [sic!] des Holocausts«317 und umschreibt das Eingehen der Konzentrationslager in ihr moralisches Bewusstsein mit dem stets wiederkehrenden Augenblick als 13-jähriges Mädchen vor Jakob. Die Erinnerung an die ›deutsche Schuld‹ fungiert als Kontrast zu dem zur Idylle stilisierten Bild der Kindheit in Jerichow. Einmal mehr tritt die mecklenburgische Provinzstadt mit dem väterlichen Haus als ein Schutzraum in Erscheinung, in dem die junge Gesine scheinbar fern der politischen Realität im nationalsozialistischen Deutschland heranwachsen konnte. Obwohl Gesine zur Generation derer gehört, die als Kinder und Jugendliche nicht am Krieg, an der Shoah, an der systematischen Tötung von Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen beteiligt waren, löst die Zugehörigkeit zu der Nation, die dies alles zu verantworten hat, das Gefühl von (Mit-)Schuld aus und mündet in moralischen Rigorismus. Die stetige Vergegenwärtigung der Folgen des politischen Handelns nach der Machtergreifung Hitlers dient ihr als Grundlage für die Bewertung des politischen Agierens in Ost- wie Westdeutschland nach 1945. Gesines historisch-politisches Bewusstsein konstituiert sich vor dem Hintergrund der ›deutschen Schuld‹. Jakob hingegen wird vom Erzähler beschrieben als ein 14-Jähriger, der hinein kam »in das Ende und in die Hinterlassenschaft des Deutschen Krieges, er hatte aber keinen Teil an ihm« (MJ, 55). Beim vom Erzähler angesprochenen ›Ende des

315 Ebd. 316 Der Begriff ›Zivilisationsbruch‹ für die gesellschaftlichen Auswirkungen der Shoah wurde von Dan Diner geprägt; vgl. etwa Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierung des Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 62–73, hier: S. 71f. 317 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 164.

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Mutmassungen über Jakob

Krieges‹ muss es sich um das Jahr 1943 handeln.318 Obwohl Jakob vier Jahre älter ist als Gesine, war auch er mit Beendigung des Zweiten Weltkrieges noch minderjährig. Als älterer Ziehbruder kann er Gesines Frage zu den Konzentrationslagern beantworten, sein Gesicht ist dabei aber reglos, seine Augen sind halb geschlossen (vgl. MJ, 154). Das Empfinden einer kollektiven Schuld ist in ihm nicht existent, sodass er nicht begriff und kaum zuständig war für die Soldaten der geschlagenen Armee, die verschwitzt und müde ohne Zucht und Anstand hinter dem Treck ankamen in Jerichow und bettelten um Wasser und Brot und stahlen wie die Raben und stumpf weiterzogen die Küste entlang westwärts als könnten sie sich so entfernen von dem was sie hinterlassen hatten. Er fand ihre Waffen und Uniformen im Bruch, sie gingen ihn nichts an, er nahm sie mit wie Strandgut. […] wenn die Sache mehrere Seiten hatte, so hielt er sich an diese Seite allein. Gewiss machte er sich auch Gedanken über die Zufälle, die einer Frau, die wohnt in der Baustrasse, ihr Mann ist auf dem Rathaus, im Stadtwald zugestossen sein sollten von einem siegreichen sowjetischen Soldaten; er hatte aber nichts zu tun mit den Beleidigungen, deretwegen eine verwilderte wie erbitterte Kampftruppe in ihrer eroberten Zone von Deutschland um sich schlug und schoss und sich betrank und für alles bezahlte mit ihrem eigenen Geld: er richtete sich ein. (MJ, 55f.)

Die Gegenüberstellung beider Szenen, das Desinteresse am Leid der zurückgekehrten, geschlagenen Soldaten der deutschen Wehrmacht und an der Vergewaltigung einer Frau durch einen Soldaten der Roten Armee, vermittelt einerseits einen Eindruck davon, wie sich Jakob einer politischen Parteinahme vollständig entzieht. Andererseits wird Jakob als jemand charakterisiert, der für diejenigen, die unter den Folgen des Krieges zu leiden haben, keine Empathie aufbringen kann. Zurückführen lässt sich dieses mangelnde Mitgefühl womöglich auf sein eigenes Schicksal, den Verlust seines Vaters und die Flucht mit der Mutter, das für die Familie erhebliche Entbehrungen nach sich zieht. So wird zwischen diesen beiden Szenen beschrieben, wie Jakob als 16-Jähriger aufkommen muss für seine Mutter mit Arbeit bei den Bauern und mit ungesetzlichem Verhandeln von Alkohol an die siegreichen sowjetischen Streitkräfte. Er gewann aber an jeder Flasche von 0,7 Liter Klarem oder Weinbrand oder Kirschschnaps etwa ein Viertel des Preises für sich, und für das interimistische Geld der Alliierten Mächte in Deutschland kaufte er einen Schrank und Betten und stellte sie in das dämmrige dreifenstrige Zimmer neben die Möbel von Cresspahl […]. (MJ, 56)

In seiner existenziellen Not spielen gesellschaftliche und politische Überlegungen über den Mehrwert und das Gemeinwohl, aber auch über Fragen nach der 318 Vgl. MJ, 14: »aber als er achtzehn Jahre alt war, fing er an als Rangierer auf dem Bahnhof von Jerichow. Gesine Cresspahl war zu der Zeit in die Oberschule aufgenommen worden, auf einen solchen Gedanken für sich kam Jakob nicht, seine Mutter hielt es überdies für unnütz; zu der Zeit war Gesine fünfzehn Jahre alt«; MJ, 17; Kapitälchen im Original: »In diesem Herbst war Jakob achtundzwanzig Jahre alt«.

Mnemologischer Diskurs: »die Stadt meines Vaters«

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Verantwortung für das geschehene Leid keine Rolle. Dass Jakob auch in der Folge die gesellschaftliche Partizipation auf seinen Beruf beschränkt und eine politische Teilhabe für sich ausschließt, mag darauf zurückzuführen sein, dass er erkennt, wie auch unter der neuen Ordnung »die Lebensumstände nichts zu tun haben mit einer Person« (MJ, 77). Neben der hierin ausgedrückten Kluft zwischen der Politik des Staates und dem Interesse seiner Bürger, weist diese Aussage auf die Vorstellung Jakobs hin, ein Leben parallel zum politisch-gesellschaftlichen Geschehen führen zu können. Eine gegenteilige Meinung vertritt nicht nur Rohlfs, der der Ansicht ist, dass »der Lebenslauf oder die Biografie einen Menschen hinlänglich und jedenfalls bis zur Verständlichkeit erkläre« (MJ, 77f.), sondern auch Jöche, der im Dialog mit Jonas bekennt: sieh mal ich bin ein spätes Kind, ich bin sicher das ist Zufall und hängt mit den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus zusammen, meine Eltern konnten sich ein Kind nicht leisten, aber als sie mich willentlich in die Welt setzten, konnten sie sich das eigentlich auch noch nicht leisten. Verstehst du? dass ich elf Jahre früher unter die Räuber gefallen wäre. Vergleiche mal. Ist das etwa unwahrscheinlich dass ich jeden Juden totgeschlagen hätte aus Spass und mir wäre sehr wohl gewesen im Krieg? dass ich mich gefühlt hätte als Herrenrasse und alles andere unter mir? Ist vielleicht nicht unwahrscheinlich. Warum: ich wär zu der Zeit in die Schule gegangen, dies und das wäre üblich gewesen, ›wir sind geboren um für Deutschland zu sterben‹, und die Erwachsenen haben ziemlich lange recht: bis du ihnen alles nachmachen kannst, dann meinst du du bist auch im Recht. (MJ, 78f.)

Unter Verweis auf das geflügelte Bibelwort ›er ist unter die Räuber gefallen‹ aus der jesuanischen Parabel vom barmherzigen Samariter319 hebt Jöche den Einfluss der Lebensumstände, der politischen Sozialisation als maßgeblich für die Biografie eines Menschen hervor. Unter den Folgen der politischen Indoktrination hätte auch er wie sein Vater zum »Judenschlächter« und »Hausanzünder« werden (MJ, 79) oder wie Rohlfs über »einen Knick« (MJ, 103) in seinem Lebenslauf verfügen können. Trotz der unterschiedlichen Ansichten über den Einfluss der Person und der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Identität des Einzelnen320 stimmen Jakob und Jöche in ihrer Selbstbezüglichkeit überein. Im Gegensatz zu Gesine empfindet Jöche den Zufall, nicht elf Jahre früher geboren zu sein, als Glück: »Insofern nämlich als ich von Heute aus froh bin dass ich mit dem Krieg nichts zu tun hatte.« (MJ, 79) Im Wissen um die ›deutsche Schuld‹ stellt sich für Gesine die Frage nach persönlichem Glück oder Unglück, das »Bedürfnis nach 319 Vgl. Lk 10,30 [Zürcher 1931]: »Jesus erwiderte und sprach: Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Räubern in die Hände; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und liessen ihn halbtot liegen.« Luther übersetzt stattdessen »vnd fiel vnter die Moͤ rder« [Luther 1545]. Vgl. hierzu auch Büchmann, Geflügelte Worte, S. 77. 320 Zur Biografiediskussion im Roman vgl. Westphal, Literarische Kartografie, S. 85.

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Mutmassungen über Jakob

einem kontinuierlichen Selbstverhältnis«,321 wie es Jakob verspürt, nicht. Insofern ist für sie das private nicht vom politisch-gesellschaftlichen Leben zu trennen. Daher überrascht es nicht, dass sich Gesine an ihre Frage als 13-jähriges Mädchen »im Augenblick eines innigen Beisammenseins mit Jakob«322 erinnert. Zum Abschluss sei noch einmal der Blick auf das von Jöche in seine Rede integrierte geflügelte Bibelwort gerichtet. Der Eisenbahnerfreund von Jakob umschreibt die nationalsozialistischen Täter unter Rückgriff auf die Parabel vom barmherzigen Samariter als ›Räuber‹. Jene ληστής sind es, die einen Menschen, der den Weg von Jerusalem nach Jericho zurücklegt, ausziehen, schlagen und halbtot liegen lassen. Sie sind die Verursacher des Leids. An moralischer Bedeutung gewinnt die Parabel, indem ein Priester und ein Levit, beides Angehörige »der offiziellen und angesehenen Welt des Kultus«,323 am Geschundenen vorbeiziehen, ohne ihm zu helfen. Erst ein Samariter, »eine beliebige Person mit verachteter Herkunft«,324 hilft dem Opfer. Auch wenn bisweilen über die Identität der Räuber spekuliert wird, betont François Bovon, dass sie für die Geschichte nicht von Bedeutung ist.325 Relevant ist, dass die Parabel die Antwort Jesu auf die Frage eines Schriftgelehrten darstellt, wer denn sein Nächster sei. Insofern dient der biblische Intertext der Charakterisierung einer unmenschlichen Herrschaft. Auf ähnliche Weise beschreibt Jöche, die staatliche Argumentationslinie von Rohlfs adaptierend, den deutschen Staat vor 1945 in Anlehnung an 1 Tim 6,10326 als »Land des Übels« (MJ, 38). Darüber hinaus kann die Einbettung der Parabel des barmherzigen Samariters in den Komplex der Nächstenliebe als moralische Implikation der Frage verstanden werden, wie ein menschliches Zusammenleben nach 1945 vorstellbar ist. Indem Jöche auf die Bibel als Prätext verweist, verortet er die nationalsozialistischen Verbrechen, ohne ihre Grausamkeit damit zu relativieren, im Kontext sich von alters her wiederholender Gräueltaten. Der biblische Kontext, in dem Jesus an Barmherzigkeit und Nächstenliebe als moralische Grundsätze eines zwischenmenschlichen Zusammenlebens appelliert, bieten eine Option, unter denen ein Weiterleben auch nach Auschwitz denkbar erscheint. In unmittelbarem Zusammenhang mit der ›deutschen Schuld‹ steht der nun folgende kirchengeschichtliche Diskurs um das Verhalten gegenüber der weltlichen Obrigkeit. Im Gegensatz zu Gesine als Vertreterin der jüngsten Generati321 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 107; Kursivdruck im Original. 322 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 597. 323 François Bovon: Das Evangelium nach Lukas, Teilbd. 2: Lk 9,51–14,35, Zürich/NeukirchenVluyn 1996, S. 88. 324 Ebd., S. 88f. 325 Vgl. ebd., S. 89. 326 »10Denn Geiz ist eine Wurzel alles Übels; das hat etliche gelüstet und sind vom Glauben irregegangen und machen sich selbst viel Schmerzen.«

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein«

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on,327 die die Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland nicht verantwortet hat, geht es nicht um ein kollektives Schuldempfinden, sondern um die mittelbare Verantwortung eines jeden Einzelnen und die Frage, wie der Widerstand gegen eine derart menschenverachtende Obrigkeit so gering ausfallen konnte.

2.4

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein«

Mit den Hinweisen auf die Stuttgarter Erklärung und die Stellung Martin Luthers im deutschen Bauernkrieg wurden in Ingrid Babendererde zwei kirchengeschichtliche (Teil-)Diskurse in den Roman integriert. In den Mutmassungen über Jakob findet sich der Diskurs um Luthers Zwei-Regimente-Lehre und die Frage nach dem Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit wieder. Ergänzt wird er um einen weiteren kirchengeschichtlichen (Teil-)Diskurs, der durch einen Verweis auf das im Jahr 1870 von Papst Pius IX. verkündete Dogma der Infallibilität gestiftet wird. Verhalten gegenüber der Obrigkeit Bei seinem ersten Aufenthalt in Jerichow verschafft sich Rohlfs einen Überblick über die Kleinstadt und ihre Bewohner, indem er einige Personen wie den Vorsteher des Postamtes aufsucht. Beschrieben wird dieser vom Stasi-Hauptmann als ein »halsstarr rechtlich Denkender, Beamter, Wertzeichen werden verkauft ohne Ansehen der Person, Briefe werden gestempelt und ohne Verzug befördert« (MJ, 11). Dieser Arbeitsethos, der im ersten Moment an Jakob erinnert und durch den Verweis auf Röm 2,11328 eine Überhöhung erfährt, wird durch eine bereits erwähnte Beobachtung von Rohlfs gebrochen. Einen Zusteller der Post sieht er beim Lesen von Postkarten und stellt ein in der Verfassung der DDR verankertes Recht329 der Anweisung eines Staatsoberen gegenüber: »und das Postgeheimnis ist ein Menschenrecht. Was aber ist die Unterschrift eines Staatssekretärs? siehst du. Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein, der ist auch gegen die Faschisten 327 Dieser Begriff ist in Anlehnung an die Autoren der Jungen Generation um Wolfgang Borchert und Heinrich Böll gewählt, die als junge Männer in den Krieg ziehen mussten, aber einen radikalen Neubeginn in der Literatur anstrebten. 328 »11Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.« 329 Das Postgeheimnis war in Art. 8 Verf. DDR von 1949 geregelt: »Persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Postgeheimnis und das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, sind gewährleistet. Die Staatsgewalt kann diese Freiheiten nur auf Grund der für alle Bürger geltenden Gesetze einschränken oder entziehen«; Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 18.

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Mutmassungen über Jakob

loyal gewesen, selbstverständlich Herr Mesewinkel.« (MJ, 11) Mit zynischer Distanz kritisiert Rohlfs in seiner Gedankenrede ein Verhalten blinden Obrigkeitsgehorsams, mit dem gegen geltendes Recht verstoßen wird. Bemerkenswert hieran ist zum einen, dass Rohlfs als Vertreter des Staates den Eingriff eines ›Kollegen‹ in das Persönlichkeitsrecht der Bürger wahrnimmt und als kritisch empfindet. Der Stasi-Hauptmann wird damit sehr früh im Roman als ein Staatsvertreter charakterisiert, der sich von der Mehrzahl der Beamten bewusst abgrenzt. Mit dem Vorsteher des Postamtes spricht er nicht über die Diskrepanz zwischen Vorschrift und Recht, sondern behält seine Kritik für sich. Ähnlich grenzt sich Rohlfs von einem Teil seiner Kollegen bei der Staatssicherheit ab, die unreflektiert ihren Dienst nach Vorschrift erledigen und alles notieren, was sie wahrnehmen. Abfällig bezeichnet er sie als »Hundefänger« (MJ, 9) oder »die Bediensteten die Lohndienenden« (MJ, 24) und erklärt einem Assistenten in Jerichow, wie seinem Verständnis nach die Arbeit bei der Staatssicherheit zu erfolgen habe: Also. Es hat mir gefallen mein Auge zu werfen auf zwei verdienstliche unbescholtene Leute, die seit gestern abend in der Ziegleistrasse zu Besuch sind bei Herrn Cresspahl. Denken Sie sich gefälligst gar nichts! die sind zur Erholung hier. Wie kann man nur auf solche läppischen Denunziationen hören. Uhrzeit. Gut. Die beiden gehen nachher in die Stadt. Zur Meldestelle, wenn ich nicht irre zu einem Möbelhändler, sie werden auch ein Bier trinken. Damit ist gar nichts bekannt, seien Sie nicht so voreilig. […] Wir sind keine Kettenhunde! merken Sie sich das. Sie sollen alles sehen. Sie haben schon die Gewohnheit nur das allenfalls Straffällige zu sehen, damit erfahren Sie nichts. […] Zwischen Staatsbürger und Staatsfeind darf man nicht eine Grenze ziehen vorher. Jedermann ist eine Möglichkeit. Ja? Wir kommen zu sprechen auf die Zielsetzung. Es ist nicht unser Ziel die Leute einzusperren. Wir brauchen sie nämlich. Und Sie sind kein Beamter, niemand ist auf Sie angewiesen. Sie sollen sich kümmern um jeden Menschen, Sie sollen ihm behilflich sein. (MJ, 66)

Wobei Rohlfs den Menschen behilflich sein möchte, verdeutlicht die Gegenüberstellung von Staatsbürger und Staatsfeind, die er als Kategorien für die Observation, aber nicht grundsätzlich infrage stellt. Behilflich sein möchte er bei der Einsicht, dass die Sache des Sozialismus die »gute Sache« (MJ, 98) bedeutet. Sein oberstes Ziel liegt in der Erziehung hin zur »Einsicht in die Notwendigkeit« (MJ, 99), woraus er ex negativo ableitet: »Erpresste Entscheidungen sind keine.« (MJ, 233) Doch trotz seiner Kritik an der Arbeitsweise der ›Hundefänger‹ ist er auf sie angewiesen, weil die Ergebnisse ihrer Arbeit die Grundlage für seine Tätigkeit bilden.330 So studiert er zunächst die »Berichte von der Dienststelle

330 Vgl. hierzu auch Klaus-Detlef Müller: Mit Hundefängern Staat machen? Über Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, in: Franz Huberth (Hg.): Die Stasi in der deutschen Literatur, Tübingen 2003, S. 69–86, hier: S. 79.

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein«

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Jerichow« (MJ, 9) über Gesine und ihren Vater, bevor er sich ein eigenes Bild von ihnen und ihrem sozialen Umfeld macht.331 Von einer ähnlichen Ambivalenz zeugt Rohlfs’ Stellung zum Bürgerrecht auf das Postgeheimnis. Während er in den Handlungen der örtlichen Postmitarbeiter einen Verstoß gegen gültiges Recht erkennt, liest er »zu mehreren Malen«, was Gesine in »grossen ungebrochenen runden scharf unten ausführenden Zügen« an Jakob aus Taormina geschrieben hat und steckt das Papier der Fotokopie »unter die Bügel des Ordners für die Taube auf dem Dach« (MJ, 28). Ähnlich finden sich in Jakobs Akte Protokolle aus »telefonischen Gesprächen« und Berichte über »Begegnungen und Nachbarschaften«, die »sortiert und gebündelt und geheftet und in einem fensterlosen Zimmer in einem unauffällig erblindeten Miethaus der nördlichen Vorstadt aufbewahrt [werden] für einen Mann, der seinen Namen austauschte vor jedem Gegenüber« (MJ, 24) – für Rohlfs.332 Der Stasi-Hauptmann wird als einer der Oberen charakterisiert, der für das Unrecht verantwortlich zeichnet und sich über Menschen mit einem geringeren Funktionsbereich erhebt. Sein Verhalten, die Selbstüberhöhung wie der bewusste Verstoß gegen geltendes Recht, legitimiert er in dem Glauben, Einsicht in die Sache des Sozialismus zu haben. Er ist davon überzeugt zu wissen, was richtig und falsch ist, und bringt dies unmissverständlich zum Ausdruck: »Massnahmen der Regierung sind von der Bevölkerung unliebsam empfunden worden – als ob sie damit falsch wären!« (MJ, 102) Wie im Gespräch mit dem Vorsteher des Postamtes spielt Rohlfs in seiner Gedankenrede auf ein Obrigkeitsverständnis an, das auf den Beginn des dreizehnten Kapitels im Römerbrief zurückgeht und durch Luthers Zwei-RegimenteLehre seit 500 Jahren eine massive Wirkung auf das Staatsverständnis im deutschen Protestantismus ausübt. Klaus Dicke eröffnete auf einer Tagung zum Thema Reformation und Politik im Oktober 2014 in Weimar seinen Beitrag mit den Worten: »Dass das Luthertum Deutschland den Obrigkeitsstaat und obrigkeitsstaatliches Denken beschert und zementiert habe, ist nahezu ein Topos im Wissensstand über die historischen Wurzeln der politischen Kultur in

331 Ganz ähnlich verläuft es bei Jonas, dessen Fall Rohlfs »wegen Angrenzung« (MJ, 96) übernimmt. Kenntnis von der Versammlung des »geistige[n] Gewissen[s] unseres Staatswesens« (MJ, 94) erhält er von einem Papier, das durch einen Kurier aus Berlin nach Jerichow gebracht wird. Nachdem er beschließt, den Fall zu übernehmen, studiert er Jonas’ Akte (vgl. MJ, 96f.). 332 Klaus-Detlef Müller arbeitet heraus, dass die Folgen dieses »unredlich erworbenen Wissen[s]« für die betroffenen Personen zur Enteignung des individuellen Gedächtnisses und das Informationsgefälle zur Demütigung führe; Müller, Mit Hundefängern Staat machen, S. 77. Als Beispiel führt er Jakob an, der sich erst nach der Erwähnung von Rohlfs an den Fluchtversuch seines Vaters nach Brasilien erinnert (vgl. MJ, 77); vgl. ebd.

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Deutschland.«333 Im vorangegangenen Abschnitt zu Johnsons Erstling Ingrid Babendererde wurde Luthers Staatsverständnis ausgehend von seinen Schriften des Jahres 1525 zum deutschen Bauernkrieg und die marxistische Rezeption dieser Schriften dargestellt.334 In seinen Gedanken zum Gespräch mit dem Vorsteher des Postamtes kritisiert Rohlfs ein Verhalten gegenüber der Obrigkeit, das in unreflektierten, blinden Gehorsam mündet, und zieht eine Linie zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der Gegenwart der erzählten Zeit, dem Herbst 1956. Im Zusammenwirken mit dem biblischen Intertext und seiner Auslegungsgeschichte im deutschen Protestantismus suggeriert diese Aussage eine Lutherrezeption, die einen Zusammenhang herstellt zwischen der Zwei-Regimente-Lehre und dem Nationalsozialismus. Allerdings, und das ist bemerkenswert, greift er hierzu nicht auf die marxistische Lutherrezeption zurück. Stattdessen verweist Rohlfs auf die Folgen der Zwei-Regimente-Lehre für das Obrigkeitsverständnis im deutschen Protestantismus. Durch die beinahe wörtliche Übernahme aus Röm 13,1 wird die auf Luther zurückgehende protestantische Staatsethik mit ihrem Obrigkeitsverständnis und einer daraus abgeleiteten Untertanenhaltung als eine Ursache für die nationalsozialistische Diktatur benannt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges prangerte etwa Otto Dibelius die christliche Schuld an, Röm 13,1 und die Auslegung Luthers zur Legitimation staatlicher Forderungen genutzt, sich »die Prüfung des Staats-Systems allmählich abgewöhnt[]« zu haben, hingegen die Weimarer Republik argwöhnisch beobachtet und als »atheistische Republik« abgelehnt und theologisch bekämpft zu haben.335 333 Klaus Dicke: Obrigkeitsstaat und Wächteramt. Auswirkungen der reformatorischen Obrigkeitslehre auf das Verständnis von Staat und Gesellschaft in der Moderne, in: Christopher Spehr/Michael Haspel/Wolfgang Holler (Hg.): Weimar und die Reformation. Luthers Obrigkeitslehre und ihre Wirkungen, Leipzig 2016, S. 141–156, hier: S. 141. 334 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.3. 335 Martin Dibelius: Selbstbesinnung des Deutschen, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Tübingen 1997, S. 28f. Die Vorbehalte des Luthertums gegenüber den demokratischen Grundsätzen der Weimarer Republik führt Dicke auf das lutherische Obrigkeitsdenken und in dessen Folge auf das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments zurück. Durch die Trennung von Kirche und Staat in der Weimarer Republik wurde »der politische Protestantismus im Wortsinn kopflos«; Dicke, Obrigkeitsstaat und Wächteramt, S. 149. Heinrich Assel zeichnet den Einfluss einiger prominenter evangelischer Theologen im aufkommenden Nationalsozialismus nach, die in diesem eine weltliche Obrigkeit im Sinne Luthers verwirklicht sahen und so zur theologischen Legitimation der Hitler-Diktatur beitrugen. Assel nennt Friedrich Gogarten, der 1932, ein Jahr vor der ›Machtergreifung‹ der Nationalsozialisten, in seiner Politischen Ethik aus der Unterscheidung der zwei Regimente heraus das Konzept eines »autoritären oder totalitären Staates im Namen völkischer Souveränität« und damit einen Gegenentwurf »zur Herrschaft des liberalen Rechtsstaats« der Weimarer Republik entwarf; Heinrich Assel: Theologische Diskussion um Martin Luther im NS-Staat, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.), »Überall Luthers Worte …«, S. 183–197, hier: S. 183. Ähnlich rekurrierte der Ansbacher Kreis um Werner Elert und Paul Althaus im Ansbacher Ratschlag

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein«

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Der Zynismus von Rohlfs, dass sich die protestantische Untertanenhaltung trotz der Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland auch elf Jahre nach dessen Ende im ostdeutschen Staat wiederfinden lässt, spiegelt sich in den Adaptionen der Bibelstelle wider: In Röm 13,1, »1Jedermann sei untertan der Obrigkeit«, befindet sich das Subjekt, das Indefinitpronomen ›jedermann‹, in Satzerststellung, gefolgt vom Prädikat, bestehend aus dem Kopulaverb ›sein‹ im Konjunktiv der dritten Person Singular Präsens und dem Subjektsprädikativ ›untertan‹, und dem Dativobjekt ›der Obrigkeit‹. In Rohlfs Gedankenrede, »Gegen die Obrigkeit muss man loyal sein« (MJ, 11), befindet sich das Objekt ›gegen die Obrigkeit‹, das zu einem präpositionalen Objekt geworden ist, in Satzerststellung. Das Subjekt, das Indefinitpronomen ›man‹, befindet sich im Mittelfeld der Verbalklammer, die aus dem Kopulaverb ›sein‹ im Infinitiv und einem Subjektsprädikativ besteht, allerdings um das Modulverb ›müssen‹ im Indikativ der dritten Person Singular Präsens ergänzt wurde. Vergleicht man beide Sätze miteinander, fällt erstens die veränderte Satzstellung auf. Das Objekt ›Obrigkeit‹ befindet sich in Rohlfs Gedankenrede nicht mehr in Satzletzt-, sondern in Satzerststellung und nimmt damit die Position des Subjekts in Röm 13,1 ein. Diese Hervorhebung wird durch die Verbalklammer, aus der das Objekt im vom 11. Juni 1934, einem Gegenbekenntnis zur Barmer Theologischen Erklärung, auf die Zwei-Regimente-Lehre Luthers, wenn sie darin bekennen: »Als Christen ehren wir mit Dank gegen Gott jede Ordnung, also auch jede Obrigkeit, selbst in der Entstellung, als Werkzeug göttlicher Entfaltung, aber wir unterscheiden auch als Christen gütige und wunderliche Herren, gesunde und entstellte Ordnungen. […] In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ›frommen und getreuen Oberherren‹ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ›gut Regiment‹, ein Regiment mit ›Zucht und Ehre‹ bereiten will. Wir wissen uns daher vor Gott verantwortlich, zu dem Werk des Führers in unserem Beruf und Stand mitzuhelfen«; Ansbacher Kreis: Der »Ansbacher Ratschlag« zu der »Barmer Theologischen Erklärung«, in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 67, 1934, Sp. 584–586, hier: Sp. 585. Noch bedeutend weiter geht Emanuel Hirsch, der in seinem Aufsatz Vom verborgenen Suverän im »Verhältnis zur Volkheit« zu erkennen glaubt, »was die Reformation Obrigkeit und die neuere Staatslehre den Suverän nennt«: »das Volk […] ist der verborgene, und damit der wahre Suverän«; Emanuel Hirsch: Vom verborgenen Suverän, in: Glaube und Volk 2, 1933, S. 4–13, hier: S. 5, 7; Hervorhebungen im Original gesperrt gesetzt. In seiner 1934 veröffentlichten Studie Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung führt Hirsch aus, dass der politische Wille der ›Volkheit‹ durch einen stellvertretenden öffentlichen Souverän zum Ausdruck gebracht werde: »Dieser öffentliche Souverän, der die prinzipielle Legitimität zum Bruch rechtsstaatlicher Legalität haben sollte, wurde je länger desto vorbehaltloser mit der Person des Führers identifiziert«; Assel, Theologische Diskussion, S. 191. Assel hat darüber hinaus herausgearbeitet, dass sich Hirschs ›Theologie‹ im Diensteid auf Hitler wiederfindet, den alle Geistlichen und Kirchenbeamten 1934 leisten mussten und in dem sich ein Gewissensvorbehalt wie in Luthers Zwei-Regimente-Lehre nicht findet. Zahlreiche Theologen und Geistliche verweigerten den Führereid, darunter auch Karl Barth, der daraufhin seinen Lehrstuhl an der Universität Bonn verlor; vgl. ebd.

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Vorfeld als einziges ausgeklammert ist, zusätzlich verstärkt. Zweitens verändert Rohlfs das Dativobjekt der Bibelstelle zu einem präpositionalen Objekt, indem er die Präposition ›gegen‹ ergänzt. Das Lexem ›gegen‹ verweist wiederum auf den veränderten Fokus des Sprechers, der den Blick von der Untertanenhaltung auf Möglichkeiten eines Widerstandes gegen die weltliche Obrigkeit richtet. Drittens wird der Konjunktiv mit adhortativer Funktion in einen Indikativ umgewandelt und durch das Modalverb ›müssen‹ ergänzt, sodass aus der Aufforderung bzw. Ermahnung eine Notwendigkeit wird. Viertens verändert Rohlfs das Subjektsprädikativ von ›untertan‹ zu ›loyal‹. Dies lässt sich auf das Bestreben des StasiHauptmannes zurückführen, das seit dem 18. Jahrhundert an Frequenz stark abnehmende336 und damit archaische Adjektiv ›untertan‹ durch ein aktuelleres mit ähnlicher Semantik zu ersetzen. Beides trifft auf das im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnte ›loyal‹ zu, das in den 1950er Jahren seine höchste Frequenz erreicht337 und sowohl mit regierungs- als auch mit gesetzestreu übersetzt werden kann.338 Neben der Aktualisierung erzeugt das Lexem ›loyal‹, das auf das lateinische legalis (dt. ›dem Gesetz entsprechend‹, ›gesetzlich‹) und damit lex (dt. ›Gesetz‹) zurückgeht, eine semantische Spannung, weil das von der Regierung und ihren exekutiven Institutionen veranlasste Kontrollieren der Postsendungen gegen gültiges Recht verstößt. Aber ist diese Spannung wirklich von der Figur beabsichtigt oder ist sie das Resultat des Erzählers, der seine Figur kenntlich machen will? Diese Frage soll im nächsten Schritt beantwortet werden. Fasst man zunächst die Ergebnisse des Vergleichs von Text und Prätext zusammen, wird deutlich, dass der Bibeltext aus Röm 13,1 der Sprache von Rohlfs und dem Kontext seiner Gedankenrede angepasst ist, jede Veränderung aber die Wirkung des Gesagten steigert. Mit der Anpassung des Prädikativs verringert sich die intertextuelle Selektivität – mit ›untertan‹ fällt eines von zwei Signalwörtern weg –, was durch die Hervorhebung des zweiten Signalwortes ›Obrigkeit‹ in veränderter Satzstellung kompensiert wird.

336 Vgl. untertan. Worthäufigkeit, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS). URL: https://www.dwds.de/r/ plot?q=untertan [Zugriff vom 31. 5. 2020]. Als Grundlage der Wortverlaufskurven des DWDS für den Zeitraum von 1598 bis 2010 fungieren mit dem Deutschen Textarchiv (1598–1913), dem DWDS-Kernkorpus (1900–1999) und dem DWDS-Kernkorpus 21 (2000–2010) drei Referenzkorpora; vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Referenzkorpora. URL: https://www.dwds.de/d/ k-referenz [Zugriff vom 31. 5. 2020]. 337 Vgl. loyal. Worthäufigkeit, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https://www.dwds.de/r/plot?q= loyal [Zugriff vom 31. 5. 2020]. 338 Vgl. loyal, in: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hg.): Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter, 3., überarb. Aufl., Mannheim 2003, S. 822.

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Auf zynische Weise kritisiert Rohlfs die Untertanenhaltung des Postbeamten und erhebt den Vorwurf, dass die Erfahrungen im Nationalsozialismus keine Veränderung im Verhalten gegenüber der Obrigkeit bewirkt und keine Auseinandersetzung mit der individuellen Schuld an diesen Folgen in Gang gesetzt habe. Implizit wird darüber hinaus eine Parallele im Verhalten der Staatsführung im Nationalsozialismus wie in der DDR gezogen – was für Rohlfs aber nicht von vordergründiger Bedeutung zu sein scheint. Er kritisiert nicht grundsätzlich den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, sondern die blinde Gefolgschaft, der die Einsicht in den Zweck der Sache fehlt. Da sich aber der Zweck grundlegend vom Nationalsozialismus unterscheide, heilige er auch die Mittel, die zuweilen Parallelen aufweisen mögen. Entsprechend reagiert er auf die rhetorischen Fragen eines betrunkenen Kollegen zu den Aufständen in Ungarn – »Warum schiessen sie denn dieses Pack nicht zusammen? Warum schiesst die Rote Armee dieses Pack nicht zusammen?« – in Gedanken mit einer Reaktion, die zwischen Zustimmung und Zweifel changiert: »Das frage ich mich auch. […] Ich weiss es nicht.« (MJ, 157) Selbst den Tod von Menschen nimmt Rohlfs in Kauf, weil er die Aufstände für einen »historische[n] Irrtum« (MJ, 175) hält. Als Grundlage dient ihm der Glaube, dass Freiheit nur durch die »Beseitigung des Kapitalismus, die Errichtung einer proletarischen Staatsmacht, de[n] Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft« (MJ, 173) möglich ist. Der Sozialismus ist für ihn »die Voraussetzung für ein moralisches und gerechtes Zusammenleben aller Menschen«,339 sodass alles dafür getan werden müsse, ihn zu verwirklichen. Wem die Entscheidung obliegt, wie die Umsetzung zu erfolgen habe, macht Rohlfs unmissverständlich deutlich: »Über die Notwendigkeit kann niemand urteilen als die Partei, wir. Gewissermassen ich.« (MJ, 102) Vor dem historischen Hintergrund der Aufstände in Ungarn rekurriert der Stasi-Hauptmann ein weiteres Mal auf Luthers Zwei-Regimente-Lehre, begründet die Legitimation der (weltlichen) Obrigkeit jedoch nicht mit der Autorität eines Gottes, der über Gut und Böse zu befinden habe, sondern verweist auf die Partei, die über Richtig und Falsch entscheide. Die Folge ist eine obrigkeitsstaatliche Struktur, nach der die Bürger zur Gefolgschaft verpflichtet sind und so leben – damit konfrontiert Jonas den Stasi-Hauptmann –, wie sich die Staats- und Parteivertreter »der fortschrittlichen Möglichkeiten bedienen« (MJ, 174). Die Kritik von Rohlfs am Obrigkeitsgehorsam läuft damit ins Leere und ist in ihrer Wirkung zynisch, weil ein solches Verhalten von der Obrigkeit, der er angehört, gefördert, wenn nicht gar erzwungen wird.340 339 Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 238. 340 Müller führt dieses Phänomen der »gesellschaftlichen Normierung« eindrucksvoll am Beispiel der staatlichen Überwachung von Bürgern vor: »Zugleich zeigt sich hier eine fatale Konsequenz des Überwachungsstaates. Die Menschen beobachten sich ständig im Hinblick auf gesellschaftlich-sanktionierte Verhaltensweisen. Wenn ein alter Mann, dessen Tochter im Westen lebt, mit Koffern zum Bahnhof geht, so wird das registriert und als Republikflucht

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Der Stasi-Hauptmann und seine vorgebliche Reflexionsfähigkeit werden vom Erzähler karikiert, indem durch die Integration des kirchengeschichtlichen Diskurses um die Zwei-Regimente-Lehre Luthers offengelegt wird, dass auch die Obrigkeit des neuen Staates im Glauben an den Sozialismus gegen geltendes Recht verstößt und dennoch von den Bürgern des Landes Gehorsam und Loyalität einfordert. Symbolisch hierfür steht das Schicksal von Jonas, der ganz im Sinne Luthers durch kritische Rede das politische Handeln der Staats- und Parteiführung beanstandet und Reformvorschläge für einen menschlichen Sozialismus unterbreitet. Jonas’ Rede auf der »wissenschaftlichen Zusammenkunft« (MJ, 99) und sein hieraus entwickelter staatskritischer Essay werden vom Erzähler in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem XX. Parteitag der KPdSU und Rohlfs’ zweiter Anspielung auf Röm 13,1 gestellt. Der Diskurs um das Verhalten gegenüber der Obrigkeit wird dabei um einen zweiten kirchengeschichtlichen (Teil-)Diskurs erweitert. Personenkult und päpstliche Unfehlbarkeit Eingebettet in einen inneren Monolog von Rohlfs und eine Erzählerpartie zur Zusammenkunft der Wissenschaftler um Jonas und seinen Professor gibt der Erzähler einen Exkurs zum Thema ›Personenkult‹. Kompositorisch wird dieser Exkurs von den sich gegenüberstehenden Sichtweisen von Rohlfs und Jonas auf die Versammlung gerahmt. Zunächst schildert Rohlfs, wie er von der Zusammenkunft erfährt, dass er sie als intellektuelle Anmaßung, als Reden »über die künstliche Atmung der sozialistischen Moral« (MJ, 96) empfinde und den Fall übernehmen werde. Im Anschluss lässt der Erzähler Jonas mit seiner Sicht auf die Dinge zu Wort kommen. Auffällig hieran ist, dass die Worte von Jonas in autonomer direkter Rede wiedergegeben werden, markiert durch Anführungszeichen, wohingegen Cresspahls kurzer Einwand ohne diese und mit Incipit-Formel versehen ist. Dieser Umstand lässt sich als Bemühen des Erzählers um erzählerische Gerechtigkeit deuten: Nachdem Rohlfs in einem längeren Monolog seine Sichtweise zur Versammlung der »Besserwisser« (MJ, 95) darlegen konnte, wird Jonas dasselbe Recht zuteil, über eine »Versammlung« zu sprechen, die »ganz und fehlerlos das Aussehen einer wissenschaftlichen Zusammenkunft« (MJ, 99) hatte. Innerhalb dieser Zusammenkunft sei darüber gesprochen worden, »wie es besser zu machen sei im Interesse eines sogenannten menschlichen Sozialismus« (MJ, 94). Den Ausgangspunkt und die Legitimation für die öffentliche Staatswahrgenommen und kolportiert. Dabei geht es gar nicht um die Qualität der Meinung, um Billigung oder Missbilligung – wichtig ist die Wahrnehmung von Verhalten im Horizont gesellschaftlicher Normierung, d. h. die Übertragung des Spitzelsystems in die Alltagsabläufe auch jener, die nicht zur Denunziation verpflichtet sind. In einem Staat, der seine Bürger bespitzelt, was diese wissen und wissen sollen, steht alles unter Verdacht und praktiziert jeder das Verdächtige«; Müller, Mit Hundefängern Staat machen, S. 78.

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kritik341 in der »seit länger als einem Monat« (MJ, 99) stattfindenden Gesprächsrunde bildet eine »tiefe Zäsur in der Entwicklung des Weltkommunismus«,342 die »Geheimrede des Nachfolgers« (MJ, 99). Am 25. Februar 1956 hielt der Generalsekretär der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow, auf einer Sondersitzung des XX. Parteitags der KPdSU eine rund vierstündige Rede Über den Personenkult und seine Folgen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und auch der Delegationen der Bruderparteien wie der SED um Ulbricht,343 erklärte Chruschtschow gegenüber den Parteigenossen gleich zu Beginn, dass das Zentralkomitee der KPdSU nach dem Tod Stalins eine Politik begonnen habe, die darin bestand, nachzuweisen, daß es unzulässig und dem Geist des MarxismusLeninismus fremd ist, eine einzelne Person herauszuheben und sie in einer Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln. Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet.344

Neben dem Personenkult, der sich erst in den Jahren nach Stalins Tod allmählich reduzierte, kritisiert Chruschtschow Stalin für dessen Terrorsystem, insbesondere dafür, dass er den Terror seit 1934 auch gegen die eigenen Parteikader richtete und hierfür seine Macht missbrauchte.345 Darüber hinaus beklagt Chruschtschow Stalins Sorglosigkeit und Ignoranz gegenüber der Bedrohung durch Hitler und dessen geringe Fähigkeiten bei der Führung militärischer Operationen.346 Zentral ist aber die Kritik an der Überhöhung, die er exemplarisch anhand der »Beweihräucherung Stalins als Koryphäe nahezu aller Wissenschaften, [der] Lobhudelei als größter Mensch der Epoche ironisiert«.347 Chruschtschow leitete mit seiner Rede die Entstalinisierung ein, die nicht nur die KPdSU, sondern alle an der Sowjetunion orientierten sozialistischen Parteien anging. Vor allem aber verlangte sie von allen unter sowjetischer Kontrolle stehenden Staaten eine Entscheidung, die sehr unterschiedlich ausfiel. Die offizielle Reaktion der SED-Führung lässt sich daran ablesen, dass die Geheimrede nicht abgedruckt wurde, »sie kam auch nicht später, und allmählich 341 So bezeichnet Rohlfs die Versammlung als »unverschämt öffentlich« (MJ, 95) und erwähnt eine Zeitung, die über die Diskussionen geschrieben habe. 342 Weber, Die DDR, S. 47. 343 Vgl. Wolle, Der große Plan, S. 294. 344 Nikita S. Chruschtschow: Über den Personenkult und seine Folgen, in: Josef Gabert/Lutz Prieß (Hg.): SED und Stalinismus. Dokumente aus dem Jahre 1956, Berlin 1990, S. 8–68, hier: S. 8. 345 Vgl. ebd., S. 14–35. 346 Vgl. ebd., S. 35–45. 347 Wolle, Der große Plan, S. 297.

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wurde klar dass sie für uns nicht gelten sollte« (MJ, 100). Stattdessen veröffentlichte das Politbüro des Zentralkomitees der SED am 4. März 1956 einen Bericht Walter Ulbrichts Über den XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Parteiorgan Neues Deutschland. Zum Ende seiner Darstellung erwähnt Ulbricht, dass im Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU erwähnt sei, »daß früher häufig gegen die Leninschen Normen des Parteilebens verstoßen wurde« und führt hierzu aus: Erstrangige Bedeutung habe die Wiederherstellung und gründliche Verankerung des Leninschen Prinzips der Kollektivität der Leitung. Das Zentralkomitee nahm den Kampf auf gegen den Persönlichkeitskult, der dem Geiste des Marxismus-Leninismus fremd ist. Offenkundig meinte Genosse N. S. Chruschtschow damit auch solche Selbstbeweihräucherungen und Entstellungen der Parteigeschichte, wie sie in der Stalin-Biographie zu lesen sind. Er sagte: »Die Verbreitung des Persönlichkeitskults setzte die Rolle der kollektiven Führung in der Partei herab und führte zuweilen zu ernsten Versäumnissen in unserer Arbeit.«348

Bereits an dieser Stelle beginnt Ulbricht zu lavieren. Auf Chruschtschows Worte erwidert er, dass die Forderung zu spät komme, weil das Zentralkomitee der KPdSU »bereits in den letzten Jahren entschieden den Kampf um die Wiederherstellung der Leninschen Normen des Parteilebens geführt« und dies auch »bereits in weitgehendem Maße erreicht« habe.349 Ulbricht erweckt den Eindruck, als sei eine Entstalinisierung der DDR-Gesellschaft nicht erforderlich und führt diese Sichtweise anhand des gegenwärtigen Stalinbildes vor: Zweifellos hat Stalin nach dem Tode Lenins bedeutende Verdienste beim Aufbau des Sozialismus und im Kampf gegen die parteifeindlichen Gruppierungen der Trotzkisten, Bucharinleute und bürgerlichen Nationalisten. Als sich Stalin jedoch später über die Partei stellte und den Personenkult pflegte, erwuchsen der KPdSU und dem Sowjetstaat daraus bedeutende Schäden. Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.350

Ende April 1956 veröffentlichte das Neue Deutschland einen Beitrag des Politbüros, in dem es die Forderung des XX. Parteitages der KPdSU, »die Verbindung der Theorie und der Praxis herbeizuführen«, für sich in Anspruch nahm und »Beratungen und Diskussionen mit den Parteimitgliedern, mit den Lehrern, Professoren, Dozenten und Studenten« in Aussicht stellte.351 Gleichsam wurde 348 Walter Ulbricht: Über den XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: Neues Deutschland, Nr. 55 vom 4. 3. 1956, S. 3f., hier: S. 4. 349 Ebd. 350 Ebd. 351 Die leninistische Geschlossenheit unserer Partei, in: Neues Deutschland, Nr. 104 vom 29. 4. 1956, S. 3f., hier: S. 3. Wie schon in Chruschtschows Rede wird in der Stellungnahme des Politbüros Marx’ Brief an Wilhelm Blos zitiert, in dem den Theoretiker dreißig Jahre nach seinem und Engels Eintritt in den Bund der Kommunisten seine damalige Forderung auf-

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jedoch erklärt, »daß trotz objektiv gegebener Möglichkeiten für das Entstehen des Personenkults in dieser Zeit in unserer Parteiführung es keine solchen Auswüchse gegeben hat«.352 Entsprechend wären Forderungen nach einer »mechanischen, schablonenhaften« Übertragung von Konsequenzen zurückzuweisen, wie sie in anderen sozialistisch regierten Ländern getroffen wurden und wie sie »[i]n einigen Fakultäten unserer Universitäten und Hochschulen sowie bei einer Reihe von Parteifunktionären und Mitgliedern« zu hören wären: »Es gibt keinen Bruch in unserer Entwicklung, weder durch die inneren Ereignisse hervorgerufen, noch von außen her angeregt, und es ist kein Bruch notwendig.«353 Trotz dieser klaren Parteilinie gegen eine konsequente Entstalinisierung, die vor allem die Haltung Ulbrichts widerspiegelt, rief die Geheimrede Chruschtschows oppositionelle Meinungen an den Universitäten und auch in der SED hervor. Für die nun folgende Analyse des Erzählerexkurses zum Personenkult soll es genügen, auf einen möglichen Bezug zwischen der von Jonas und seinem Professor besuchten regelmäßigen Zusammenkunft und den Treffen einer Gruppe von Intellektuellen um Wolfgang Harich hinzuweisen, die eine Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus ins Leben rief.354 Zwischen den Ausführungen von Rohlfs und Jonas zur Zusammenkunft ergreift der Erzähler das Wort und liefert eine kurze Abhandlung zum Personenkult, in der er eine Reihe intertextueller Bezüge auf Chruschtschows Geheimrede, aber auch auf Brechts Lied über die guten Leute (1939), Hebbels Herodes und Mariamne (1849) und die Heilige Schrift verarbeitet. Gleich zu Beginn seines Exkurses spielt der Erzähler auf das Ende der Bergpredigt und damit auf ein »genuin christliches Wertungsverfahren«355 an, indem er die jesuanische Opposition von Sprechen und Handeln auf den Beinamen, das »Heissenwollen« von Herrschern überträgt: Wie einer sich nennt möchte er angesehen sein. Um Johann ›den Grossmütigen‹ zu erkennen, vergleichen wir seinen Namen mit seinen Handlungen. Dies vorausgeschickt, und angefügt dass einer schicklich nicht sich Namen anmasse sondern besser von

352 353 354 355

greift, wonach »alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsglauben förderlich« sei; ebd. Vgl. Karl Marx an Wilhelm Blos, 10. 11. 1877, in: ders./Friedrich Engels: Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 34: Briefe. Januar 1875– Dezember 1880, Berlin 1966, S. 308–311, hier: S. 308. Die leninistische Geschlossenheit unserer Partei, S. 3. Vgl. Chruschtschow, Über den Personenkult, S. 9. Die leninistische Geschlossenheit unserer Partei, S. 3. Vgl. Fahlke, »Wirklichkeit« der Mutmassungen, S. 251f. Einen Überblick über die oppositionellen Bewegungen an den Universitäten und innerhalb der Partei bietet etwa Weber, Die DDR, S. 48f. Matthias Göritz: Die Ethik des Geschichtenerzählens in Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, in: Johnson-Jahrbuch 6, 1999, S. 38–56, hier: S. 52.

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seinen Mitmenschen (untertan oder nicht) einen annehmen solle, vergleichen wir nun das Tun der »guten, auch besten Leute« mit ihrem Heissenwollen. (MJ, 97)

Der Erzähler formuliert mit ironischer Distanz, die in der Mahnung ihren Höhepunkt findet, sich einen Beinamen lieber verleihen zu lassen, als sich selbst einen zu geben, das Programm seines Exkurses: die Selbststilisierung der »guten, auch besten Leute« mit ihrem Tun zu vergleichen. Vor dem Hintergrund der Geheimrede Chruschtschows zielt dieses »poetische[] Evaluierungsverfahren«356 darauf ab, die »falschen Propheten, die in Schafskleidern« kommen, innerlich aber »reißende Wölfe« sind, aufzuspüren.357 Jesus predigt dem Volk, »[a]n ihren Früchten sollt ihr sie erkennen«, und erläutert das Bild der guten und argen Früchte: »19Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 20Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. 21Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr! Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.«358 Die ›guten Leute‹ mit ihrer Rechtfertigungsstrategie, ihrem »Wille[n] zur verbessernden Veränderung«, konfrontiert der Erzähler mit der Frage, ob ein Land, in dem die »Mächte der Bosheit« besiegt würden und »jedermann sein Lamm behalte und kein Streit mehr stattfinde um Lämmer, jeder besitze die gleiche Zahl von ihnen«, auch »ohne weiteres gerecht« sei (MJ, 97f.)? Neben einem Verweis auf Eph 6,12359 enthält der Erzählertext eine Anspielung auf die Vorschrift zum täglichen Opfer aus Ex 29,38f. bzw. Num 28,3f., die durch die Integration eines direkten Zitats aus Hebbels Herodes und Mariamne eröffnet wird. Die Frage, was die ›guten Leute‹ wollen, wird insofern beantwortet, als sie nicht wollen, »dass das Lamm der Witwe gestohlen werde« (MJ, 97f.). In Hebbels Tragödie ist es der Pharisäer Sameas, der nach seiner Entlassung aus der Haft mit Mariamne und ihrer Mutter Alexandra spricht. Er offenbart beiden, dass König 356 357 358 359

Ebd. Mt 7,15. Mt 7,19–21. »12Denn unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern.« [Elberfelder 1905; Hervorhebung P. O.] In der Lutherbibel nach der Revision von 1912 heißt es stattdessen: »12Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.« Die Aufzählung von bösen Mächten führt eine »dem Teufel unterstellte, von ihm inspirierte und dirigierte Geisterwelt vor Augen, die den ganzen Lebensraum der Menschen, auch der Christen, verdüstert und bedroht«; Rudolf Schnackenburg: Der Brief an die Epheser, Zürich/Köln/Neukirchen-Vluyn 1982, S. 279. Gegen diese Mächte der Bosheit erscheint der Mensch ohnmächtig, wird aber innerhalb dieser Paraklese in Eph 6,10–20 zur Waffenrüstung »gegen die listigen Anläufe des Teufels«, zum Gebet »in allem Anliegen mit Bitten und Flehen im Geist« und zur Wachsamkeit »mit allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen« aufgefordert; Eph 6,11.18.

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Herodes, der Gatte Mariamnes, sich für den Messias halte und fordert die Tochter Alexandras auf, sich von ihm loszusagen. Zum Abschluss des Gesprächs kündigt Sameas an, opfern zu gehen, woraufhin ihm Alexandra ein Tier aus ihrem Stall anbietet, was der Pharisäer jedoch ablehnt: »Ich nehm’s, wo man’s entbehrt! / Das Lamm der Witwe und das Schaf des Armen! / Was soll dein Rind dem Herrn!«360 Durch die Umkehrung von Sameas Worten wird einerseits auf den Personenkult verwiesen, dem Herodes unterliegt, andererseits wird auf ironische Weise die normative Kategorisierung des deskriptiven Ziels hinterfragt. Geht von Gleichheit oder einem Zustand, in dem nicht nur jeder sein Lamm behalte, sondern auch jeder die gleiche Anzahl an Lämmern besitze, per se Gerechtigkeit aus? Handelt eine Obrigkeit, die ein solches Ziel verfolgt, a priori richtig? Dies hätte zur Folge, dass der richtige und gute Zweck jedes Mittel heilige. Die Fragwürdigkeit einer solchen Herleitung führt der Erzähler anhand der Geheimrede Chruschtschows vor, in der »einer der Besten sagte nach dem Tode des Allerbesten« (MJ, 98), dass dieser nicht im Sinne der guten Sache gehandelt und sie so in Gefahr gebracht habe, als er unzählige Mitstreiter hinrichten ließ und Gebiete anderer Staaten annektierte. Stattdessen habe er Entscheidungen »für seine Macht« (MJ, 98) getroffen, die im selbst initiierten Kult um seine Person gipfelte. Der Erzähler weist auf die Probleme eines autokratischen Staates hin und nennt die Schwachstelle beim Namen: »die Person« (MJ, 98). Auch die ›guten Leute‹ und der Allerbeste unter ihnen werden nicht qua Berufung in ihr Amt zum guten Menschen, sondern erst durch ihr Handeln.361 Diese Vorstellung, die der Erzähler mit dem Verweis auf die Bergpredigt eröffnet und anschließend entfaltet, beinhaltet eine klare Absage an autokratische Strukturen. Durch ein zweites Beispiel wird die Autokratiekritik generalisiert. Dass der Erzähler hierfür auf eine Institution zurückgreift, von der sich die sozialistischen Staatssysteme klar abgrenzen, verstärkt die Generalisierung. Der Erzähler zieht einen strukturellen Vergleich zwischen der stalinistischen Sowjetunion und dem Papsttum: »Wodurch büsste die katholische Kirche ein an Ansehen und Verehrbarkeit? Durch das Dogma der persönlichen Unfehlbarkeit.« (MJ, 98) Mit der Antwort wird auf die Konstitution Pastor aeternus rekurriert, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil am 18. Juli 1870 in Kraft gesetzt wurde. In der Konstitution wird die Stellung des Papstes innerhalb der katholischen Kirche 360 Hebbel, Herodes und Mariamne, S. 456. 361 Derselbe Maßstab gilt auch für Chruschtschow, dessen Worte, seine Kritik an Stalin, aus ihm noch keinen guten Menschen machen. Auch er unterliegt der Gefahr des Personenkults. Insofern lässt sich die Aussage, »[d]ieses heisst man Personenkult«, durch die Verwendung des Indefinitpronomens ›man‹ auch auf Chruschtschow beziehen, der sich nach dem Tod Stalins als derjenige stilisiert, der »die gute Sache gerettet« habe (MJ, 98). Die Schwäche des Vorgängers setzt sich in seinem Nachfolger fort, weil sich am autokratischen System nichts geändert hat.

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thematisiert und im vierten Kapitel das unfehlbare Lehramt des Römischen Papstes in einem Dogma festgehalten: Der Römische Papst, wenn er ex cathedra spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller obersten apostolischen Autorität eine Lehre, den Glauben oder die Sitten betreffend, als von der gesamten Kirche festzuhalten definiert, besitzt durch den göttlichen Beistand, der ihm im hl. Petrus verheißen ist, die Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei Definierung einer Lehre in Sachen des Glaubens und der Sitten ausgestattet haben wollte: und deshalb sind solche Definitionen des Römischen Papstes unabänderlich aus sich selbst [und nicht aus der Zustimmung der Kirche; Ergänzung des Übersetzers].362

Das Dogma der päpstlichen Infallibilität zielt darauf ab, die Rolle des Pontifex maximus innerhalb der katholischen Kirche bei innerkirchlichen Differenzen zu stärken. Beruft sich ein Papst, wie bislang einzig Papst Pius XII. im Jahr 1950 bei der Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel,363 auf seine verbriefte Infallibilität, hat dies zur Folge, dass der Glaubenssatz »wahr in dem Sinne und mit der Folge« ist, »daß ihre Formulierung nicht zurückgenommen oder geändert werden kann«.364 Dies bedeutet jedoch nicht, dass solche Glaubenssätze »keiner weiteren Auslegung fähig oder bedürftig wären«.365 Die päpstliche Unfehlbarkeit ändert nichts am grundsätzlichen Verständnis, wonach die Gemeinschaft der Glaubenden – nach katholischem Verständnis in der Gemeinschaft der Bischöfe unter dem Papst verwirklicht – durch das neutestamentliche Zeugnis »in alle Wahrheit führt (Joh 14,16; 16,13)«.366 Ist sich die Gemeinschaft der Glaubenden aber in Fragen der Glaubens- oder Sittenlehre uneinig, kann der Papst auf der Grundlage von Schrift und Tradition eine entsprechende Lösung des Dissenses für verbindlich erklären. Noch während des Ersten Vatikanischen Konzils, das am 2. Dezember 1869 mit einer vorsynodalen Kongregation begann und am 18. Juli 1870 mit der vierten öffentlichen Session endete, löste die Konstitution Pastor aeternus mit dem Dogma der päpstlichen Infallibilität einen innerkirchlichen Proteststurm 362 Pastor aeternus, zitiert nach Cuthbert Butler: Das I. Vatikanische Konzil, aus dem Lateinischen übers., eingel. und mit einem Nachwort versehen von Hugo Lang, 2. Aufl., München 1961, S. 413. 363 Vgl. hierzu August Bernhard Hasler: Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht und Ohnmacht eines Dogmas, mit einem Geleitwort von Hans Küng, München 1979, S. 221–227. Aufgrund des Widerstandes von Theologieprofessoren wünschte die Kurie eine Petition der Fakultäten für katholische Theologie, aber »[k]eine einzige Fakultät in Deutschland fand sich dazu in corpore bereit, und auch zahlreiche andere angesehene Fakultäten in nicht-deutschen Ländern verweigerten sich«; ebd., S. 223. 364 Eilert Herms: Unfehlbarkeit. I. Fundamentaltheologisch, in: RGG4, Bd. 8: T–Z, Tübingen 2005, Sp. 731f., hier: Sp. 732; Kursivdruck im Original. 365 Ebd. 366 Ebd., Sp. 731.

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aus.367 Zwar stimmten am letzten Tag des Konzils 533 Bischöfe für und nur zwei gegen die Konstitution, allerdings blieben zahlreiche Bischöfe als Ausdruck ihres Protests der Abstimmung fern.368 Noch auf der Probeabstimmung am 13. Juli 1870 stimmten von 601 Bischöfen 88 gegen die Konstitution, 62 gaben ihre Zustimmung nur unter Vorbehalt.369 Schon damals blieben ungefähr 76 Bischöfe der Kongregation fern.370 Im Anschluss nahmen die meisten der Bischöfe, die Rom während des Konzils verlassen hatten, die Konstitution an, »einige erst nach langem Zögern, manche (in Ungarn) erklärten nie ihre förmliche Zustimmung«.371 In Deutschland formierte sich um einige Professoren der katholischen Theologie die Altkatholische Kirche. Rückblickend sieht Georg Schwaiger im Ersten Vatikanischen Konzil das Ende einer Reformentwicklung, die im 11./12. Jahrhundert begonnen hatte: Im Ganzen hinterließ Pius IX. ein bedrückendes Erbe. Die katholische Kirche stand wohl innerlich gefestigt, im Papsttum konzentriert, doch isoliert in einer feindlich gesinnten Welt. […] Das Papsttum schien gegenüber den modernen Strömungen des 19. Jh. auf die Haltung feindseliger Abwehr festgelegt zu sein.372

Gut einhundert Jahre nach dem Ersten Vatikanischen Konzil bezeichnet August Bernhard Hasler als ausgesprochener Kritiker des Dogmas dieses als »eines der größten Probleme für die Kirchenreform und die ökumenische Bewegung«373 367 368 369 370 371

Hugo Lang: Vorwort, in: Butler, I. Vatikanische Konzil, S. 9–11, hier: S. 9. Vgl. Butler, I. Vatikanische Konzil, S. 440. Vgl. ebd., S. 427. Vgl. ebd. Georg Schwaiger: Papsttum I. Kirchengeschichtlich, in: TRE, Bd. 25: Ochino–Parapsychologie, Berlin 1995, S. 647–676, hier: S. 669. 372 Ebd. Mit der »feindlich gesinnten Welt« deutet Schwaiger den historischen Kontext des Ersten Vatikanischen Konzils an, denn »Vorbereitung, Ablauf und Lehraussagen des Konzils sind nur zu verstehen aus der Situation der katholischen Kirche und des Papsttums im 19. Jh.«; ebd., S. 668. Nachdem es im Kirchenstaat wie in anderen Staaten der ApenninenHalbinsel 1848 zu revolutionären Aufständen kam, floh Pius IX. aus Rom und kehrte erst zwei Jahre später mit der Unterstützung französischer Truppen in die ewige Stadt zurück; vgl. ebd., S. 667. Zu Beginn des Ersten Vatikanischen Konzils sah sich der Kirchenstaat erneut der Gefahr einer Besetzung durch das 1861 gegründete Königreich Italien ausgesetzt. Darüber hinaus kam es innerhalb der katholischen Kirche zu zahlreichen Auseinandersetzungen aufgrund unterschiedlicher Strömungen, »vom Liberalen Katholizismus bis hin zu extremen Formen des Ultramontanismus«; ebd., S. 668. Folglich muss das Dogma im Bestreben um ein Zeichen der Geschlossenheit des Papsttums verstanden werden. Zwei Tage nachdem die Konstitution Pastor aeternus in Kraft getreten war, besetzten italienische Truppen Rom, was faktisch das Ende des unabhängigen Kirchenstaates bedeutete. Pius IX. stilisierte sich fortan als »›Gefangener im Vatikan‹«; ebd. Bereits in den Jahren zuvor wurden Pilgerfahrten als Huldigungen an Pius IX. inszeniert. Die Folge war eine Form des Personenkults, der mit der Annexion und Ausrufung Roms als Hauptstadt des Königreichs Italien nur noch gesteigert wurde. 373 Vgl. Hasler, Wie der Papst unfehlbar wurde, S. 269. Hasler leitet seine Forderung aus dem Umstand ab, »daß das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit weder in der Bibel noch in

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und fordert gerade aufgrund des historischen Kontextes der Entscheidungen des Jahres 1870, dass diese revidiert werden sollten. Der Erzähler der Mutmassungen über Jakob integriert den kirchengeschichtlichen Diskurs um die Unfehlbarkeit des Papstes als Oberhaupt der katholischen Kirche in seinen Exkurs zum Personenkult und generalisiert damit seine Kritik. Der Personenkult des Stalinismus wird nur zu einem, wenn auch dem zentralen und die Kritik auslösenden, Exempel für die ironische Distanzierung von autokratischen Strukturen – sei es in Staaten wie der UdSSR oder Institutionen wie der katholischen Kirche, die durch diesen Lehrsatz an »Ansehen und Verehrbarkeit« (MJ, 98) eingebüßt habe. Die Legitimation einer Entscheidung für einen Weg allein mit dem Ziel, der »gute[n] Sache« (MJ, 99) zu dienen, droht alternative und vielleicht ebenfalls legitime Wege auszuschließen und sie womöglich gar als falsch abzuurteilen. Dass aber kein Konsens darüber besteht, worin die Wahrheit besteht und welcher der richtige Weg zur Durchsetzung eines Ziels ist, darüber legen die Geheimrede Chruschtschows und der Widerstand von Bischöfen und Theologen aufgrund des Unfehlbarkeitsdogmas ein beispielhaftes Zeugnis ab. Im Schlusssatz des Exkurses greift der Erzähler diesen Umstand auf, indem er das Hegel’sche Credo, »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit …«, hinterfragt: »was ist notwendig?« (MJ, 99) Was ist notwendig? Zwischen Obrigkeitsgehorsam und Personenkult In seiner gegen Eugen Dühring gerichteten Streitschrift betont Engels, dass Hegel der erste gewesen sei, »der das Verhältniß von Freiheit und Nothwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Nothwendigkeit«.374 Hierzu führt Engels weiter aus, dass die Freiheit »[n]icht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt […], sondern in der Erkenntniß dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen«.375 Engels leitet hieraus eine Unterwerfung unter die Naturgesetze ab. Demnach bestehe die Freiheit »in der auf Erkenntniß der Naturnothwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit nothwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung«.376 Hegel erläutert in der Enzyklopädie der philosophischen Wisder Geschichte der Kirche des ersten Jahrtausends eine Basis hat. Wenn aber das 1. Vatikanische Konzil nicht frei war, dann war es auch nicht ökumenisch. Dann aber können seine Dekrete auch keine Gültigkeit beanspruchen. Damit aber wird der Weg frei für eine Revision dieses Konzils, und zugleich eröffnet sich ein Ausweg aus der Situation, die der Geschichtswissenschaft und der Theologie gleichermaßen mehr und mehr als unhaltbar erscheint«; ebd. 374 Vgl. Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: Marx/ders., Gesamtausgabe, Bd. I.27, Berlin 1988, S. 271–483, hier: S. 312. 375 Ebd. 376 Ebd.

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senschaften im Grundrisse, dass sich die »Einsicht in die Notwendigkeit« auf das denkende Erkennen beziehe, das »zunächst formell« sei, und er in ihr »die letzte Unmittelbarkeit, die dem formellen Denken noch anhängt, verschwunden« sehe.377 In seiner Vorlesung über die Grundlinien der Philosophie des Rechts bestimmt Hegel das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit näher und wendet sich gerade gegen die für die Naturrechtstradition zentrale Vorstellung, wonach Freiheit als eine einmal dagewesene, ursprünglich vorhandene Qualität des Willens im Naturzustand gedacht werden kann und erst durch gesellschaftliche Überformung eingeschränkt wird.378 Nach Hegel resultieren auch die entstandenen und entstehenden gesellschaftlichen Strukturen aus Freiheit, im Verhältnis verschiedener, subjektiver freier Willen zueinander.379 Dieses Entstehen etwa von Recht aus der Freiheit folge wiederum einer inneren Notwendigkeit, einer Logik. Für Hegel gehen, mit den Worten Walter Jaeschkes zusammenge-

377 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 1830. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausg., Bd. 10, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 284f.; Kursivdruck im Original. 378 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders.: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausg., Bd. 7, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 35, 46; Kursivdruck im Original: »Daß das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, daß sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Mißverständnis; jenes ist zu diesem vielmehr im Verhältnis von Institutionen zu Pandekten. […] Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur, ist.« Vgl. hierzu Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, 3. Aufl., Stuttgart 2016, S. 339. 379 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 406f., 412; Kursivdruck im Original: »Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Willen gelte und vorgebracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatperson leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben. […] Diese Institutionen machen die Verfassung, d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit, im Besonderen aus und sind darum die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert und vernünftig, damit in ihnen selbst an sich die Vereinigung der Freiheit und Notwendigkeit vorhanden ist.« Vgl. hierzu Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 339.

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fasst, »[a]lle Gestalten und Formen gesellschaftlichen Lebens […] aus subjektiver Freiheit hervor«.380 Entscheidender als die Differenz zwischen Hegels Rechtsphilosophie und deren marxistischer Auslegung ist jedoch das »entscheidende Problem« des Hegel’schen Ansatzes, die Kluft zwischen interner Logik, der Notwendigkeit und dem freien Willen des Einzelnen: »Wieweit sind die – aus Freiheit hervorgegangenen – Strukturen der Sittlichkeit noch dem freien Willen zuzurechnen, wieweit stehen sie ihm zur Disposition, und wieweit blockieren sie eben die Freiheit, aus der sie hervorgegangen sind?«381 Dieses Problem stellt sich auch angesichts der im Roman beschriebenen politischen Gegenwart im Herbst 1956. Geprägt von repressiven Maßnahmen der Obrigkeit, ist die Einsicht in die Notwendigkeit der guten Sache beinahe unmöglich, denn der Zustand, in dem eine führende Partei unter Berufung auf ihr Wissen um die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze die Notwendigkeit festlegt, während dem Fußvolk nur die Freiheit bleibt, sich einsichtsvoll in diese Notwendigkeit zu fügen, ist sicher noch nicht das verwirklichte Recht der Freiheit […].382

Statt in die Freiheit vom formal denkenden Erkennen führen sozialistische Propaganda und staatliche Zwangsmaßnahmen zu blindem Obrigkeitsgehorsam und Personenkult. Notwendig und dienlich im Sinne der ›guten Sache‹ ist weder das eine noch das andere. Über die kirchengeschichtlichen Diskurse zur Zwei-Regimente-Lehre Luthers und zum Dogma der Infallibilität wird die politische Gegenwart in einem historischen Kontext verortet. Dies erlaubt es dem Erzähler im Exkurs zum Personenkult einen Vergleich der stalinistischen und katholischen Unfehlbarkeitsdogmen zu ziehen und seiner Kritik generellen Charakter an autoritativen Strukturen zu verleihen. In unmittelbarem Zusammenhang zum Themenkomplex des Personenkults stehen die Bezugnahmen auf Luthers Zwei-RegimenteLehre. Auch in diesem in die Mutmassungen über Jakob integrierten Teildiskurs wird das Verständnis der weltlichen Obrigkeit verhandelt. Durch die Gegenüberstellungen der verschiedenen Gedankenreden von Rohlfs wird sein widersprüchliches Verhältnis zum Obrigkeitsgehorsam deutlich. Während der StasiHauptmann den blinden Gehorsam gegenüber Staatsvertretern wie ihm sarkastisch kommentiert und in diesem Verhalten Parallelen zur Zeit des Nationalsozialismus erkennt, fordert er den Obrigkeitsgehorsam von kritischen Oppositionellen wie Jonas. Mit beiden kirchengeschichtlichen Teildiskursen wird das Selbstverständnis der herrschenden Obrigkeit zur Zeit des Stalinismus kri-

380 Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 341. 381 Ebd. 382 Christoph Strawe: Marxismus und Anthroposophie, Stuttgart 1986, S. 180.

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tisiert, indem es in einer Traditionslinie verortet wird, von der die DDR-Oberen vorgaben, sich abzugrenzen.

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Sprachlicher Diskurs: »an dem ich Wohlgefallen gewinne«

Bereits in der Einführung dieses Kapitels zu den Mutmassungen über Jakob wurde aus Enzensbergers Rezension Die große Ausnahme zitiert, in der dieser Johnson eine Sprache attestiert, die »durchaus protestantisch, karg, bis zum Humorlosen streng und ernst, ja feierlich bis in den biblischen Tonfall«383 sei. Neben dem biblischen Tonfall hebt Enzensberger den »Dialekt«, den »norddeutschen Flachland- und Küstenton«384 als Stilmittel hervor, der in der damaligen zeitgenössischen deutschen Literatur eine Ausnahme darstelle. Beides, Dialekt und Bibel, erwähnt Boehlich in einem Brief vom November 1959 an Peter Wapnewski und betont: »Die verquere Syntax hat nichts mit Dialekt zu tun, aber sehr viel mit der Bibel.«385 Kolb gelangt allerdings im Rahmen seiner syntaktischen Analyse von Johnsons erstveröffentlichtem Roman zu dem Schluss, dass sich drei von fünf syntaktischen Stileigentümlichkeiten auf die gesprochene Sprache, auf dialektale, volkstümliche oder umgangssprachliche Redeweisen zurückführen lassen: eine Nebensatzkonstruktion, in der der zweite Gliedsatz in der Form eines Hauptsatzes gebildet wird, die Transformation eines Objektsatzes in ein präpositionales Objekt und die Fügung aus Relativpronomen mit parataktischem Anschluss.386 Einzig die letzte dieser drei parataktischen Formen, das wurde bereits im Ingrid-Kapitel ausgeführt,387 lässt sich u. a. auf ihr Vorkommen in der Lutherbibel und deren späteren Einfluss auf die deutschsprachige Literatur zurückführen. Neben dieser syntaktischen Fügung sind weitere biblische Systemreferenzen in den Romantext integriert. Diese erstrecken sich sowohl auf die lexikalische und syntaktische, als auch auf die semantische Ebene und dienen, wie bereits an einigen Stellen gezeigt werden konnte, nicht allein der subversiven Kritik mittels Travestie und Parodie.388 Dennoch nimmt diese Funktion eine zentrale Rolle innerhalb des Romans ein und manifestiert sich insbesondere in der Sprache von Rohlfs und des Erzählers. 383 Zweiter Teil, Kap. 2, Anm. 7. 384 Enzensberger, Die große Ausnahme, S. 911. 385 Walter Boehlich an Peter Wapnewski, 7. 11. 1959, zitiert nach Christoph Kapp: »Kaum gibt sich der Lektor mit einem Autor auch ausserhalb des Geschäftshauses ab«. Uwe Johnson und Walter Boehlich, in: Johnson-Jahrbuch 23, 2016, S. 59–79, hier: S. 62. 386 Vgl. Kolb, Rückfall in die Parataxe, S. 48, 51, 64. 387 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3. 388 Vgl. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 125.

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2.5.1 Sprachkritik: »Aber er dachte in seinem Herzen« In der Einführung zum politisch-gesellschaftlichen Diskurs wurde das Eingreifen des Staates in das Leben seiner Bürger ausgehend von einem Erzählerkommentar entfaltet, in dem ein Körperteil metonymisch für einen Menschen bzw. dessen Tätigkeit steht: »Die Grossen des Landes warfen ihr Auge auf Jakob.« (MJ, 24) Mit diesem für das Hebräische typischen Biblizismus wird eine intertextuelle Beziehung zur Heiligen Schrift und deren Symbolik des allsehenden und allwissenden Auge Gottes hergestellt. Der Erzähler persifliert das Selbstverständnis eines Staates, gottgleich zu wirken, nämlich allsehend und allwissend. Die »satirisch entlarvende[] Religionsmetapher«389 der Augen-Metonymie ist aber nicht nur das Resultat einer Fremdzuschreibung des Erzählers, sondern hat ihren Ursprung im Sprachgebrauch der staatlichen Obrigkeit und ihrer Vertreter. In einem seiner inneren Monologe räumt Rohlfs ein, dass es ihm gefallen habe, sein »Auge zu werfen auf zwei verdienstliche unbescholtene Leute, die seit gestern abend in der Ziegleistrasse zu Besuch sind bei Herrn Cresspahl« (MJ, 66). An anderer Stelle werden seine Gedanken zu einem jungen Kurier der Staatssicherheit verbalisiert, »an dem ich Wohlgefallen gewinne« (MJ, 95). Mit dem Lexem ›Wohlgefallen‹, das »im akk. schon bei Luther«390 vorkommt, verwendet der Stasi-Hauptmann bekanntermaßen391 ein Wort der biblischen Sprache, mit dem insbesondere Gottes Verhältnis zu den Menschen charakterisiert wird. Rohlfs verortet sich somit in einer gottgleichen Rolle, gegenüber einem Mitmenschen Wohlwollen zu gewähren. Für Jeßing manifestiert sich im Selbstverständnis des Stasi-Hauptmanns weniger eine Haltung der Kontrolle, als vielmehr eine der »Erwählung und des Schutzes«.392 Beide Motive schließen sich aber nicht aus. Vielmehr bringen sie die Ambivalenz zum Ausdruck, in der sich Rohlfs sowohl in kritischer Reflexion als auch in strenger Überzeugung zu den sozialistischen Maximen des ostdeutschen Staates verhält. Das Zurückgreifen auf biblische Metaphorik und Wörter des biblischen Wortschatzes gewährt einen Einblick in die Integration von religiöser Sprache in die politische Propaganda. Das Ziel dieses Transformationsprozesses besteht darin, den Staat als Heilsbringer zu stilisieren.393 Hervorgehoben wird dies, wenn Jakob im Gespräch mit 389 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 169. 390 Wohlgefallen, in: DWB, Bd. 30: Wilb–Ysop, bearb. von Ludwig Sütterlin und den Arbeitsstellen des Deutschen Wörterbuchs zu Berlin und Göttingen, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1960, München 1991, Sp. 1124f., hier: Sp. 1124; Kursivdruck im Original. 391 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.2.5. 392 Jeßing, Konstruktion und Eingedenken, S. 244. 393 Eine Parallele in diesem Anspruch zur Haltung der nationalsozialistischen Obrigkeit wird wie schon in Johnsons Erstling über Kampfbegriffe wie den des ›Schädlings‹ hergestellt, der bereits zum propagandistischen Repertoire vor 1945 gehörte. Wie schon in Ingrid Babendererde, wo Jürgen den Lehrer Kollmorgen in seinen Gedanken als Schädling bezeichnet

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Kasch »alle möglichen Benennungen aus der Sprache der Zeitungen« vermeidet, in denen der ostdeutsche Staat als »Dorn in ihrem Auge«, dem der »Monopolkapitalisten«, glorifiziert wird (MJ, 106). Wie hier auf Num 33,55 greift auch Rohlfs ein weiteres Mal auf die Metaphorik der Heiligen Schrift zurück, indem er unter Verweis auf die Nächstenliebe in Lev 19,18 die kapitalistische Lebensweise mit einer »Eigensucht zu brüderlicher Menschenliebe« (MJ, 174) persifliert. Die Kritik am staatlich-propagandistischen Rückgriff auf biblische Sprachformen, für den insbesondere Rohlfs steht, wird durch ein Verfahren des Erzählers eröffnet. An ausgewählten Stellen imitiert er die politische Sprache und stellt die staatliche Selbststilisierung der politischen Realität gegenüber. So zeugt die biblische Augen-Metonymie im Kontext der staatlichen Überwachung eben nicht von Erwählung und Schutz, sondern von Repression und Kontrolle. Rohlfs gesteht dies ein, wenn er betont, sein Auge auf »zwei verdienstliche unbescholtene Leute« (MJ, 66) zu werfen. Noch deutlicher wird der repressive Charakter der Staatsgewalt, wenn der Erzähler Jakobs Gedanken unter Rückgriff auf eine zweite Körpermetonymie wiedergibt, die der Hand: »Also jedes Mal, wenn Jakob einen dunkelroten schmutzigen bespritzen Pobjeda über die Strasse kriechen sah … erinnerte er Herrn Rohlfs und wusste dass seine Hand über ihm war zu allen Zeiten.« (MJ, 217) Es ist jener Pobjeda, vor dem sich Jakob und Gesine zwei Mal verstecken, um sich dem Zugriff von Rohlfs zu entziehen. Für sie symbolisiert er nicht eine schützende Hand, sondern die unmittelbare Gefahr des Strafvollzugs. Wie real diese Gefahr ist, wird bei der Verhaftung von Jonas deutlich, der ebenso wie Jakob an früherer Stelle in den Wagen des Stasi-Hauptmannes einsteigt, diesen aber nicht wieder in Freiheit verlässt. Jonas wirft Rohlfs im Moment seiner Festnahme vor, »kein guter Verlierer« (MJ, 245) zu sein. Die Reaktion des Stasi-Hauptmanns beschreibt der Erzähler unter Rückgriff auf eine Bibelstelle: »Der wandte sich nicht um. Er schwieg auch, als der Assistent den Gefangenen barsch aufforderte er solle den Mund halten. Aber er dachte in seinem Herzen dass es nicht die Wahrheit sei.« (MJ, 245f.) Im Kommentar zur historisch-kritischen Ausgabe der Mutmassungen über Jakob wird die Wendung ›er dachte in seinem Herzen‹ auf das geflügelte Bibelwort ›wie der Mensch in seinem Herzen denkt, so ist er‹ zurückgeführt, die sich wiederum von der englischen Übersetzung von Spr 23,7 herleite:394 »7For as he thinketh in

(vgl. IB, 21), wird mit dem historisch belasteten Wort auch in den Mutmassungen über Jakob im Gespräch zwischen Gesine und Rohlfs auf die politisch-offizielle Sprache in der DDR verwiesen: »– Das wären doch gleich zwei Straffälligkeiten: einmal Schmuggelei und dann noch ein schwerer Verstoss gegen Ihr Gesetz über den innerdeutschen Geldverkehr. So würden Sie es ausdrücken? Jakob ist ein Devisenschieber, ein Schädling an der volkseigenen Wirtschaft?« (MJ, 227) Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.2. 394 Vgl. Kommentar, S. 431.

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his heart, so is he: Eat and drink, saith he to thee; but his heart is not with thee«.395 Bezieht man diesen biblischen Intertext auf Rohlfs Gedanken, wonach Jonas nicht die Wahrheit spreche, wären sie als Ausdruck einer Persönlichkeit zu deuten, die davon überzeugt ist, für die Wahrheit zu stehen. Alternativ lässt sich die biblische Anspielung des Erzählers auch auf eine Stelle im Lukasevangelium beziehen, auf die bereits in Ingrid Babendererde rekurriert wird.396 Dort ist es Ingrid, die während einer Bootsfahrt den entgegenkommenden Hannes Goretzki gegen den Wind segeln sieht und die symbolische Situation »in ihrem Herzen [bewegte]« (IB, 44). Der Bezug auf Lk 2,19, der Erzählung von Marias Reaktion auf die Verkündigung des Engels und der himmlischen Heerscharen, verfügt durch die Verwendung der identischen Verbform in Johnsons Erstling über eine hohe intertextuelle Selektivität. Die Substitution der Verbform von ›bewegen‹ zu ›denken‹ in den Mutmassungen über Jakob erzeugt hingegen eine höhere intertextuelle Dialogizität, eine Spannung zwischen dem biblischen Prätext und der Charakterisierung von Rohlfs. Während Maria und Ingrid in ihrem Herzen die jeweilige Situation bewegen und damit abwägen bzw. gründlich durchdenken, verzichtet Rohlfs auf einen solchen Reflexionsprozess und weist stattdessen die Kritik für sich als Unwahrheit zurück. Nach dieser Lesart würde der Erzähler einmal mehr aufdecken, dass sich die kritische und reflexive Art des StasiHauptmanns in den Grenzen der sozialistischen Ideologie bewegt. Für eine diese Ideologie infrage stellende Perspektive ist in seinem Denken kein Platz.397 Neben dem Erzähler ist es Jonas, der die staatlich-propagandistische Sprache wiederholt persifliert. Dies überrascht nicht angesichts seiner Kritik an der Studentin Gisela, deren Gedanken »nicht auf eigenen Füssen« stehen und »sämtlich Abkömmlinge der überkommenen (vorbildlichen) Denkweisen« seien (MJ, 85). Im Dialog mit Jöche bedenkt Jonas, was Jakob bei seinem ersten Verhör gesagt worden sein könnte, und ahmt daraufhin einen »kleinen historischen Überblick von der Mehrwerttheorie bis zur Verschärfung des Klassenkampfes durch die Avantgarde« (MJ, 37) nach. In seine Ausführungen, die durch Jöche ergänzt werden, integriert Jonas neben typischen Signalvokabeln der sozialistischen Propaganda und einem bürokratisch-formalisierten Nominalstil mit der Wendung ›auf Erden‹ auch eine biblische Systemreferenz: »– Die siegreichen Kapitalisten taten übel wo sie gesiegt hatten und ermutigten das private Eigentum zu weiterer Ausbeutung und bestärkten den Rückstand in der Entwicklung 395 Spr 23,7 [King James 1611]. 396 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3. 397 Methodisch interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich für die Bedeutung des Textes die Rückführung auf zwei unterschiedliche Bibelstellen nicht ausschließt, sondern sich die Intertexte vielmehr ergänzen. Dieser Umstand lässt sich einmal mehr als Plädoyer gegen jede Form von produktions- im Sinne von intentionsorientierten Intertextualitätstheorien anführen.

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des Lebens auf Erden, von neuem nun waren die Verbrecher nicht fern.« (MJ, 42) Durch den feierlichen Nachhall, der durch die biblische Systemreferenz erzeugt wird, wirkt die Kapitalismuskritik überspitzt und ironisch. Gesteigert wird diese Wirkung durch den Duktus göttlichen Sprechens zum Ende seiner Nachahmung: »sage ich, hörst du, verächtlich sind diese und des Untergangs gewiss, sollte nicht ein jeder ihnen ihr sträfliches Tun und Treiben verhindern wegen der nationalen Zukunft von Sozialismus?« (MJ, 42) Wie Gott etwa seinen Propheten Jona fragt, »und mich sollte nicht jammern Ninives«,398 so imitiert Jonas den Stil der rhetorischen Fragen, um das eigene Handeln zu legitimieren. Diese Beispiele verdeutlichen, wie sich der Anspruch des sozialistischen Staates, personifiziert in der Figur Rohlfs, als eine Art Religions- oder Gottesersatz der neue Heilsbringer für die Bürger der DDR zu sein, in deren Sprache niederschlägt. Rohlfs stilisiert sich durch den Rückgriff auf biblische Sprachformen in einer gottgleichen Allmacht. Der Erzähler und Jonas erweitern dieses Spektrum um die ironische Nachahmung der Kritik an einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der Suggestion der Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Weges. Vor allem aber gelingt es ihnen durch die Nachahmung der propagandistischen Sprache, in die biblische Einzeltext- und Systemreferenzen integriert sind, diese der politischen Realität gegenüberzustellen. Die Stilisierung als Heilsbringer schlägt so zum Bild eines Kontroll- und Repressionssystems um, das unter den Bürgern und konkret unter den Protagonisten des Romans zu einer Angst führt, die wie im Falle von Jakobs Mutter im Verlassen des Staates mündet.

2.5.2 Folgen der Sprachkritik: »und wenn ich dreissig Jahre ansässig wäre« Der biblische Tonfall des Mutmassungen-Stils beschränkt sich nicht allein auf die persiflierende Kritik an der staatlich-propagandistischen Funktionalisierung der Heiligen Schrift. Der Erzähler und die Figuren greifen selbst auf Sprachformen der Bibel oder konkrete Einzeltexte der Heiligen Schrift zurück. Im Ergebnis steht eine Verwendung von Sprache, die eine Alternative zur funktionalisierenden Verengung des staatlichen Sprachgebrauchs anbietet. Auf der Figurenebene wird den ideologischen Engführungen biblischer Einzeltextund Systemreferenzen durch deren semantische Erweiterung begegnet. Der Erzähler ergänzt seine persiflierende Sprachkritik wie schon in Ingrid Babendererde um eine Kunstsprache, in der biblische Sprachformen ein Register bilden. 398 Jona 4,11. Vgl. auch Jes 8,19; 10,11 oder Jer 5,9.

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Figurenebene: Semantische Rückführung Bereits an früherer Stelle wurden Gesines Rückgriffe auf biblische Intertexte wie die Einzeltextreferenz auf das vierte Gebot oder die systemreferentielle Wendung ›Heiliger Cresspahl‹ analysiert, mit denen das herausgehobene Verhältnis zu ihrem Vater, aber auch das Bild einer verklärten Vergangenheit in Jerichow ironisch untermalt werden.399 Ebenso wurden die wechselseitigen biblischen Bezugnahmen zwischen Cresspahl und Jonas bei dessen Aufenthalt in Jerichow dargelegt.400 Die bereits genannten Intertexte lassen sich um wiederholte Verweise auf dekalogische Sprachformen wie ›du sollst‹ oder ›gedenke‹401 ergänzen sowie um Gesines Gebrauch des pränominalen Genitivs in »meines Vaters Haus« (MJ, 154, 159), der von Jonas aufgegriffen wird: »deines Vaters Haus« (MJ, 157, 172). Sprachlich konzentrieren sich alle diese biblischen Intertexte auf Heinrich Cresspahl und das Verhältnis der weiteren Protagonisten zu ihm. Die Figur, vor allem aber ihre autonome Moral, die sie vor einem staatlichen Eingriff so gut es geht bewahrt, werden durch die entstehenden intertextuellen Beziehungen im Roman exponiert. Cresspahl wird unter Rückgriff auf die Heilige Schrift eine patriarchale Aura ähnlich den Stammvätern Israels, Abraham, Isaak und Jakob, verliehen. Diese zeichnet sich nicht durch rigide Moralvorstellungen aus, sondern durch eine an Humanität orientierte Reflexionsfähigkeit. Aus einer solchen Stellung heraus vermag Cresspahl, die Widersprüche der staatlichen Selbststilisierung aufzudecken: »Wie gehn sie mit dem Menschen um, sieh dir an was einem zustösst und wie es noch kommen soll, und kannst dich auf nichts berufen.« (MJ, 173) Der Vorwurf Cresspahls manifestiert die Antipodenstellung zwischen ihm und Rohlfs. Angedeutet wird sie unter Rückgriff auf einen biblischen Intertext bereits an früherer Stelle. Während Rohlfs an einem jungen Mitarbeiter seiner Behörde »Wohlgefallen« (MJ, 95) gewinnt, konstatiert Cresspahl im Telefonat mit seiner Tochter, dass sie kein »Woulgefalln inne Welt« (MJ, 31) habe. Dabei überträgt er den biblischen Intertext nicht nur in seine, die nicht staatliche Sprache des Niederdeutschen,402 sondern gebraucht das ›Wohlgefallen‹ im Gegensatz zu Rohlfs, der es selbst und damit gottgleich an einem 399 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.2.4. 400 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.2.3, 2.2.4. 401 Vgl. MJ, 28: »Und gedenke deiner Dich liebenden halben Schwester Gesine Cresspahl«; MJ, 112: »und du sollst dich auch nicht verbeugen«; MJ, 113: »du solltest auch mal seine Tochter anrufen«. 402 Der Umstand, dass Cresspahl beim Telefonieren, das der Gefahr der Überwachung ausgesetzt ist, auf das Niederdeutsche zurückgreift, obwohl seine Tochter Standarddeutsch spricht, lässt sich als Hinweis auf den »Verlust an Gemeinsamkeit« zwischen Vater und Tochter, aber auch als eine Form der Verschlüsselung des Gesagten in Opposition zur staatlich entfremdeten Sprache deuten; Scheuermann, Funktion des Niederdeutschen, S. 101.

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Kollegen gewinnt, als göttliche Gabe an den Menschen wie in Lk 2,14. Die Gegenüberstellung von Rohlfs und Cresspahl bildet sich in deren Sprachgebrauch ab: hier die staatliche Propagandasprache mit einer entfremdenden Transformation biblischer Sprachformen in den Bereich des Politischen, da das mundartliche Niederdeutsch und eine Rückführung der entfremdeten biblischen Gehalte auf ihre ursprüngliche Semantik.403 Ähnlich verfahren der Erzähler und einige Figuren im Umgang mit der AugenMetonymie. Deren Auftreten im Roman beschränkt sich nicht allein auf Rohlfs’ euphemistische Verwendung, mit der er seine Überwachung in ein göttliches Gewand des Schutzes zu kleiden versucht. Von Jonas wird die Metonymie auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt, wenn er sich daran erinnert, Jakob im Zug nach Jerichow »aus den Augen verloren« (MJ, 67) zu haben. Die Beobachtung, die bei Rohlfs zur Überwachung wird, ist ihres repressiven Charakters entledigt. Bei der Betrachtung von Cresspahl erkennt Jonas dessen Augen als Spiegel seiner Persönlichkeit: »Er hatte graue Augen. Die Augen waren sein Alter und seine entfernte Tochter und die dichte nasse Dunkelheit und seine Empörung und seine Fürsorge.« (MJ, 65) Die Augen bekennen in ihrem Ausdruck die aufrichtigen Gefühle von Empörung und Fürsorge einer Person und stehen damit im Gegensatz zur Unaufrichtigkeit von Rohlfs. Es ließen sich noch weitere Beispiele einer sich über den gesamten Roman erstreckenden Augenmotivik anführen. Sie würden auf ganz ähnliche Weise zeigen, dass die ideologische Engführung und Entfremdung der Augen-Metonymie durch die parallele Verankerung der biblischen Systemreferenz in der Sprache der Figuren und des Erzählers als solche vorgeführt und aufgelöst wird: Es ist eine dem »Verfahren des Wörterbrechens« verwandte Methode, die die ideologische Verkrustung eines Begriffs […] aufdecken kann und diese durch einen Reflexionsraum ersetzt, der nicht sofort mit einer neuen eindeutigen Semantik und insofern ideologisch gefüllt werden kann und soll.404

Erzählerebene: Ein kunstsprachliches Register Aus dem Anliegen von Jonas, gegen die »überkommenen (vorbildlichen) Denkweisen« (MJ, 85) und einer daraus resultierenden formelhaften, dem eigenen Denken entzogenen Sprache anzugehen, ergibt sich zwangsläufig die Frage, wie ein solches Vorhaben sprachlich umzusetzen ist. Eine Antwort liefert Jonas mit semantischen Rückführungen und »dreideutig verknoteten Wortbezüglichkeiten«, mit denen er »die herkömmliche Weise von Verständigung aufgab« (MJ, 138). Neben Jonas ist es der Erzähler, der die formelhafte und politisch 403 Dass diese Semantik nicht eindeutig ist, zeigt die Auslegungs- und Übersetzungsgeschichte etwa von Lk 2,14. Vgl. hierzu ausführlich Zweiter Teil, Kap. 3.3.1. 404 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 128.

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funktionalisierte Sprache der staatlichen Obrigkeit wiederholt persifliert. Folgerichtig stellt sich auch für die primäre Erzählinstanz des Romans die Frage, welche Sprache er einer entfremdeten Propagandasprache für sein eigenes Erzählen entgegensetzt. Findet sich wie schon in Johnsons Erstling auch in den Mutmassungen über Jakob eine »um Authentizität bemühte, bewußt poetische Kunstsprache«?405 Nur vereinzelt verwendet der Erzähler Lexeme der biblischen Sprache. Er greift auf einen biblisch-archaischen Duktus zurück, um das Verhältnis zwischen Gesine und ihrer Ziehmutter zu beschreiben, die Cresspahls Tochter »ein für alle Male […] zu eigen genommen [hatte] wie Jakob als den geschenkten grossen Bruder« (MJ, 15). Das Deutsche Wörterbuch verweist in diesem Zusammenhang auf die in der Lutherbibel anzutreffende Wendung ›nemen zu eigen knechten‹ wie in Gen 43,18: 18

Sie fürchteten sich aber, daß sie in Josephs Haus geführt wurden, und sprachen: Wir sind hereingeführt um des Geldes willen, das wir in unsern Säcken das erstemal wiedergefunden haben, daß er’s auf uns bringe und fälle ein Urteil über uns, damit er uns nehme zu eigenen Knechten samt unsern Eseln.406

Melzer erwähnt, dass das Lexem ›eigen‹ in Bezug auf den Menschen in den christlichen, vor allem pietistischen Sprachgebrauch eingegangen ist und in Komposita wie ›Eigenheit‹, ›Eigenliebe‹ und ›Eigenwille‹ negativ konnotiert ist.407 Diese semantische Entwicklung ist im ›zu eigen nehmen‹ der Lutherbibel, auf die hier vom Erzähler zurückgegriffen wird, aber noch nicht enthalten. Vielmehr wird das enge Verhältnis zwischen Gesine und Frau Abs sowie Jakob durch die gewählte Wendung übermäßig betont. Ein zweites Beispiel für den pointierten Einsatz biblischer Lexeme bietet der Besuch von Jonas und Cresspahl im Jerichower Ratskeller. Noch bevor Jonas in seiner Gedankenrede aus Ps 41,6 zitiert (»wann wird er sterben dachte ich«), schildert der Erzähler, dass das angestrengte Lufteinholen von Gesines Vater den Eindruck eines »sonderbar frommen Schreck[s]« erzeugen könne (MJ, 141). Während das seit dem 15. Jahrhundert religiös konnotierte Lexem ›fromm‹ in Ingrid Babendererde insbesondere durch den Spitznamen des Direktors Siebmann von erheblicher Relevanz war, kommt es in den Mutmassungen über Jakob an dieser Stelle und ein zweites Mal in einer Gedankenrede Gesines über eine Kellnerin vor (vgl. MJ, 116). Trotz der nur geringen Frequenz steht der Gebrauch des Lexems im Zusammenhang mit einer Beschreibung des alten Cresspahl, der durch einen Verweis des Erzählers auf das Abendmahl Jesu in die Nähe eines 405 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 295. 406 Gen 43,18; Hervorhebung P. O. Vgl. hierzu eigen, in: DWB, Bd. 3: E–Forsche, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1862, München 1991, Sp. 91–96, hier: Sp. 92. 407 Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 135f.

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Heiligen gerückt wird: »aber als sie ihn [= den Wein, P. O.] hatten, kippte er den Kelchrand wortlos erst gegen Jonas und dann gegen seine Lippen« (MJ, 141). Gesteigert wird die hagiografische Charakterisierung durch die folgende Monologpassage von Jonas, in der er sich im Duktus der Heiligen Schrift eingesteht, dass es ihm nie gelingen werde, »eine ganze Stadt zu bewohnen« (MJ, 141).408 In viel stärkerem Maße als die Lexik weist die »verquere Syntax«409 der Mutmassungen über Jakob biblische Einflüsse auf. Aufmerksam gemacht wurde bereits auf den von Kolb angeführten Rückfall einer durch ein Relativpronomen eingeleiteten Hypotaxe in eine asyndetische Parataxe. Kolb führt einige Beispiele an, in denen auf ein Relativpronomen nicht ein Relativ-, sondern ein Hauptsatz folgt, darunter auch auf das Liebesgeständnis Gesines, das auf das Hohelied anspielt: »Es ist meine Seele, die liebet Jakob.« (MJ, 170) Verfolgt man die Fügung aus Relativpronomen mit parataktischem Anschluss durch den gesamten Roman, so fällt auf, dass der Erzähler sie insgesamt mehr als fünfzig Mal gebraucht und damit häufiger als die Figuren, in deren Redeanteilen sie rund dreißig Mal vorkommt. Berücksichtigt man jedoch, dass die Erzählerpartien etwa sechzig Prozent des Textumfangs ausmachen,410 ist der Gebrauch zwischen Erzähler- und Figurentext im Verhältnis nahezu ausgeglichen. Dies mag insofern überraschen, als diese parataktische Konstruktion als Element der gesprochenen Sprache eher im Figurentext zu vermuten wäre. Darüber hinaus ist das Verhältnis interessant, in dem auf ein Relativpronomen entweder ein Relativsatz oder aber ein parataktischer Rückfall folgt. Insgesamt liegt für die Mutmassungen über Jakob ein Verhältnis von vier zu eins vor; durchschnittlich eines von fünf Relativpronomen weist demnach einen parataktischen Anschluss auf.411 Somit lässt sich für diese Form des Rückfalls in die Parataxe sowohl summarisch als auch prozentual ein erhebliches Auftreten feststellen. Als stilistischen Zweck für dieses syntaktische Stilmittel nennt Kolb insbesondere die »linguistische[] Porträtierung« wie in der »altertümlich formelhafte[n] Redeweise« von Gesines Liebesgeständnis.412 Der Erzähler hingegen, das konnte bereits für Johnsons Erstling herausgearbeitet werden, bedient sich dieses Mittels vor allem zum Zwecke der Vergegenwärtigung und Dynamisierung des Erzählvorgangs. Der Zustand von Frau Abs’ Heimat, dem »Pommernland, das war abgebrannt« (MJ, 14), wird durch die parataktische Fügung hervorgehoben. Er ist nicht mehr nur Ergänzung, nähere Erläuterung der Heimat, sondern ge408 409 410 411

Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 2.2.3. Zweiter Teil, Kap. 2, Anm. 385. Born, Wie Uwe Johnson erzählt, S. 76. Für die maskulinen Relativpronomen ›der/dieser/dem‹ beträgt das Verhältnis gar eins zu drei. Beim Relativpronomen ›der‹ stehen neunzehn parataktische Anschlüsse dreiundsechzig Relativsätzen gegenüber. 412 Kolb, Rückfall in die Parataxe, S. 50.

302

Mutmassungen über Jakob

winnt einen eigenständigen Informationsgehalt.413 Ähnlich ist es, wenn Gesine beschrieben wird als »Tochter, die ist jetzt nicht mehr da« (MJ, 34). Die nähere Erläuterung Gesines, ihre Heimat verlassen zu haben, rückt gleichwertig neben die Figur in den Vordergrund. Betont werden damit »die übeln Umstände der zeitgenössischen Gegenwart« (MJ, 47), die die Figuren in ihrem Handeln maßgeblich bestimmen. Neben dieser häufig anzutreffenden Systemreferenz auf die Heilige Schrift greift auch der Erzähler vereinzelt den pränominalen Genitiv auf, um von Cresspahls Tochter zu erzählen: »Da sass er nun und dachte an seiner Tochter Leben und wusste nicht wie ihr Leben war.« (MJ, 138; Hervorhebung P. O.) Selten vorkommend, aber ebenfalls ein biblisch-hebräisches Stilmerkmal der Erzählersprache sind zweigliedrige Verbalausdrücke, mit denen Eigenschaften und Tätigkeiten zusammengeführt werden, um Ambivalenzen und Diskrepanzen hervorzuheben. So heißt es über Cresspahl, während Gesine das väterliche Haus verlässt, er »lehnte am Rahmen und redete« (MJ, 13). Zu Jakobs Physiognomie bemerkt der Erzähler: »Das Gesicht ist gehorsam und lächelt« (MJ, 26). In Jakobs Gesichtsausdruck spiegelt sich die ambivalente Beziehung zwischen ihm und Sabine, die sich nach dem gemeinsamen Essen mit einem »teuergekleideten etwa vierzigjährigen Herrn« (MJ, 26) in einer Tanzbar treffen wird, wider. Die Formel ›siehe‹, die der Erzähler in Ingrid Babendererde vierzehn Mal gebraucht, kommt in den Mutmassungen über Jakob nur noch an zwei Stellen vor. In Cresspahls Bezugnahme auf die Lilien aus Mt 6,28 fungiert die Formel wie eine Markierung für die intertextuelle Beziehung zwischen Aussage und Prätext. Ein zweites Mal gebraucht der Erzähler die Formel, um im Zuge der Vorstellung von Jonas’ wissenschaftlicher Tätigkeit das Verhältnis von Wissenschaft und Staat zu erörtern. Beinahe biblisch-lehrhaft betont er dabei die politische Unabhängigkeit, aber ebenso gesellschaftliche Losgelöstheit einer Wissenschaft im Elfenbeinturm:414 »Nun setze man das Ganze mit Hörsälen und Seminaren und Assistentenzimmern unter Glas und sperre den Zutritt für Unbefugte und sehe einige Jahrhunderte später wieder nach; siehe, der Wissenschaft wird kein Schade geschehen sein.« (MJ, 81) Dieser Position steht die offizielle Auffassung der sozialistischen Staatsführung gegenüber, die die Wissenschaft in der Pflicht sieht, die Frage »[c]ui bono, wem nützt es«, zu beantworten: »Nützt es dem Staat der Arbeiter und Bauern?« (MJ, 81) Die Distanz des Erzählers zur zweiten Position, der politischen Vereinnahmung der Wissenschaft, wird durch die Markierung der entsprechenden Passage als Zitat, dessen Quelle ungeklärt ist,415 413 Vgl. ebd., S. 48. 414 Die Metapher des Elfenbeinturms geht seinerseits auf eine Stelle im Hohelied zurück: »Dein Hals ist wie ein elfenbeinerner Turm«; Hld 7,5. 415 Vgl. Kommentar, S. 388.

Sprachlicher Diskurs: »an dem ich Wohlgefallen gewinne«

303

deutlich. Doch auch die erste Position mit ihrem biblisch-lehrhaften Höhepunkt wirkt ironisch überspitzt.416 Jonas positioniert sich zwischen beiden Polen, widersetzt sich der politischen Funktionalisierung, versucht aber ebenso einer Wissenschaft als reinem Selbstzweck zu entkommen. Sein staatskritischer Essay und die Begeisterung für die Tätigkeiten von Jakob und Cresspahl, deren Ergebnisse unmittelbaren (gesellschaftlichen) Nutzen nach sich ziehen, sind Ausdruck einer Suche nach einem dritten Weg. Es ist ein Weg, auf dem Jonas den Nutzen seiner Tätigkeit und seine Stellung in der Gesellschaft für sich zu ergründen versucht. Bis auf diese Ausnahme sind die Imperativformen von ›sehen‹ im Roman allerdings konjungiert, in der überwiegenden Zahl der Fälle gar mit apokopiertem Imperative: »und sieh mal: was so der eigentliche Ärger war, da bin ich ja nie rangekommen« (MJ, 183). Ein weiterer syntaktischer Biblizismus steht im Zusammenhang mit dem Wort, mit dem der Roman beginnt: »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.« (MJ, 7; Hervorhebung P. O.) Insgesamt kommt das Lexem 428 Mal im Roman vor, davon zwanzig Mal als Partikel in Satzzweitstellung wie es in der Bibel wiederholt als Mittel der Intensivierung eingesetzt wird. Der Sprecher der insgesamt zwanzig ›aber‹ in Satzzweitstellung ist in fünf Fällen eine Figur, fünfzehn Mal der Erzähler, wie bei der Beschreibung der Lebens- und Familienverhältnisse in Cresspahls Haus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Lisbeth Cresspahl war 1938 gestorben, ihre Tochter war in diesem April zwölf Jahre alt. Die hiess Gesine. Von den beiden Familien aus Pommern war die eine weitergezogen nach der Veröffentlichung des Vertrags von Potsdam; Frau Abs aber, die nur mit ihrem Sohn gekommen war auf dem anderen Wagen, hatte hier nun warten wollen wegen ihres Mannes und wegen der Erlaubnis zur Rückkehr ins Pommernland, das war abgebrannt […]. (MJ, 14; Hervorhebung P. O.)

Neben dem bereits weiter oben erwähnten parataktischen Anschluss an das Relativpronomen ›das‹ im letzten Teilsatz wird die Vorstellung von Frau Abs mit einem ›aber‹ in Satzzweitstellung eingeleitet. Mit der adversativen Partikel wird die Differenz der Familie Abs zur ersten Familie aus Pommern betont. Statt den Unterschied von Jakob und seiner Mutter zur anderen Familie in einem Nebensatz mit adversativem Anschluss zu erwähnen, reiht der Erzähler beide Aussagen parataktisch aneinander und trennt sie mit einem Semikolon. Die Familie Abs wird durch diese syntaktische Konstruktion hervorgehoben, was durch die Partikel in Satzzweitstellung zusätzlich intensiviert wird. Die stilistische Hervorhebung signalisiert dem Leser den Auftakt zu einer Vorstellung von Gertrud Abs und ihrem Sohn, die schließlich in der bereits zitierten Darstellung 416 Gesteigert wird die Kritik an einer elfenbeinernen Wissenschaft durch weitere Formulierungen mit Lexemen des biblischen Wortschatzes wie »die siebzehn Stimmen von Jüngern der Wissenschaft« (MJ, 85) oder »unbedarfter Apostel« (MJ, 106).

304

Mutmassungen über Jakob

des Verhältnisses von Gesine zur neu hinzugewonnenen Familie mündet: »Und ein für alle Male hatte Gesine Cresspahl die Mutter Jakobs zu eigen genommen wie Jakob als den geschenkten grossen Bruder« (MJ, 15). Auch in den weiteren Fällen dient die Partikel in Satzzweitstellung der Intensivierung des Gesagten. Eingesetzt wird sie vom Erzähler häufig im Anschluss an Relativpronomen, sodass das in der Hypotaxe Untergeordnete hervorgehoben wird: »Sein Blick geriet ins Überlegsame und streifte Jakob, der aber reglos lag mit seinen Schultern.« (MJ, 80) In Summe lassen sich die Einzelbeobachtungen dahingehend zusammenfassen, dass sich die Erzählinstanz nicht darauf beschränkt, die Funktionalisierung biblischer Sprachformen in der Sprache der staatlichen Propaganda mit parodistischer Imitation aufzudecken und zu kritisieren. Vielmehr greift er selbst auf lexikalischer und syntaktischer Ebene auf biblische Systemreferenzen zurück und schreibt sie in seine Sprache ein. Funktional deuten die wiederholte stilistische Transformation in parataktische Strukturen wie der Anschluss an Relativpronomen oder die Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung auf das Bestreben hin, Kausalitäten symbolisch aufzubrechen und das Verhältnis von Ursache und Wirkung, die Beziehung zwischen Sachverhalten, den Leser bestimmen zu lassen. Diese Form ethischen Erzählens, die sich an der Vorstellung individueller Freiheit orientiert, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kritik an einer Propagandasprache, in der biblische Metaphern und Sprachformen auf das politische Ziel hin funktionalisiert und in ihrer Semantik entleert werden. Die Sprache des Erzählers stellt eine poetologische Erwiderung, eine Alternative zur staatlich-offiziellen Sprache dar. Sie wendet sich gegen die Funktionalisierung zum Zwecke politischer Erziehung und bildet ein Mittel, dem Leser ein »Angebot«, eine »Version der Wirklichkeit« zu unterbreiten.417 In diesen Zusammenhang lassen sich auch die semantischen Erweiterungen durch biblische Sprachformen auf der Figurenebene – von denen die Figur des Stasi-Hauptmanns ausgenommen ist – einordnen, denn auch sie stellen einen Gegenentwurf zur semantischen Verengung der sozialistischen Propagandasprache dar. Im Zusammenspiel von Erzähler- und Figurenstimmen tragen diese Formen biblischer Intertexte neben Elementen wie dem Niederdeutschen zu einer Stimmenvielfalt in den Mutmassungen über Jakob bei. Wie für Johnsons Erstling lässt sich auch für seinen erstveröffentlichten Roman konstatieren, dass die Funktion des von Enzensberger attestierten biblischen Tonfalls vielschichtig ist und zu einer Sprache im Roman beiträgt, die sich als ein Gegenentwurf zur staatlich verordneten Poetik des sozialistischen Realismus verstehen lässt: weg von der indoktrinierenden Erziehung des Lesers hin zu dessen Befähigung, durch Formen der Parodie, der Bedeutungserweiterung, der parataktischen Reihung 417 Johnson, Wenn Sie mich fragen, S. 62.

Das Ringen um Freiheit

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von Sachverhalten eine eigene Deutung der Geschichte vornehmen zu können, um sie »gegen die Welt zu halten«.418 Allein die biblischen Intertexte des sprachlichen Diskurses im Roman vermitteln einen Eindruck davon, dass die bisweilen »bis zur Manieriertheit stilisierte, aufgelöste, ja oft zerbrochene Sprache«419 der Mutmassungen über Jakob einer Poetik folgt, mit der Johnson der »problematischen Wirklichkeitserfahrung«420 ästhetisch gerecht zu werden versucht.

2.6

Das Ringen um Freiheit

Der Roman, der Johnson den Ruf einbrachte, »Epiker gegenwärtigen deutschen Schicksals«421 zu sein, beginnt und endet mit dem Tod des Titelhelden Jakob Abs. Jakobs Unglück bildet den Ausgangspunkt des Erzählens und fungiert als Scharnier zwischen den Erzählebenen des Romans. Auf der Gegenwartsebene rekonstruieren die Figuren aus Jakobs Umfeld die Umstände, die zu dessen Tod geführt haben, und konstituieren eine Vergangenheitsebene, auf der die Ereignisse vor dem Unglück in den Morgenstunden des 8. November 1956 erzählt werden. In Gang gesetzt wird die Romanhandlung durch Rohlfs, einen Hauptmann der Staatssicherheit und Vertreter des ostdeutschen Staates. Mit der Übernahme des Auftrags Taube auf dem Dach forciert er den staatlichen Eingriff in die Privatsphäre einer ganzen Reihe von Figuren. Die Symbolik der für Rohlfs zunächst unerreichbaren ›Taube‹ Gesine gewinnt im Laufe des Romans generellen Charakter. Das Agieren des Stasi-Hauptmanns verlangt Frau Abs und Cresspahl, Gesine, Jonas und Jakob Entscheidungen ab, die sie in Gewissenskonflikte bringen. Wie diese Konflikte zwischen Gehen oder Bleiben, Partizipation oder Rückzug ins Private in einer Gesellschaft mit autokratischen Zügen verhandelt werden, wird im Roman anhand dieser fünf Figuren vorgeführt. Eine Wertung oder gar die Entscheidung für einen der gewählten Wege gibt der Erzähler dem Leser nicht an die Hand: »Entsprechend der narrativen Grundhaltung des ›Beobachten[s] ohne Teilnahme‹ (MJ, 291), des Zur-Sprache-Bringens ohne Wertung, bleibt sie der Beurteilung des Lesers überlassen.«422 Angesichts einer 418 Ebd. 419 Karl Migner: Gesamtdeutsche Wirklichkeit im modernen Roman. Anmerkungen zu den Büchern Uwe Johnsons, in: Welt und Wort 17, 1962, S. 243–245, hier: S. 244. 420 Ebd., S. 245. 421 Heinz Mudrich: Deutschland – ein grauer Rangierbahnhof. Zu dem ersten Roman des 25jährigen Uwe Johnson, zitiert nach Nicolai Riedel (Hg.): Uwe Johnsons Frühwerk. Im Spiegel der deutschsprachigen Literaturkritik. Dokumente zur publizistischen Rezeption der Romane Mutmaßungen über Jakob, Das dritte Buch über Achim und Ingrid Babendererde, Bonn 1987, S. 68–70, hier: S. 68. 422 Westphal, Literarische Kartografie, S. 92.

306

Mutmassungen über Jakob

Bilanz, nach der sich Gesine und Frau Abs gezwungen sehen, die DDR zu verlassen, Cresspahl einsam und zurückgezogen an der Mecklenburgischen Ostseeküste lebt, Jonas verhaftet wird und Jakob ums Leben kommt, fällt eine Bewertung nicht leicht. Der Roman bietet allerdings »Werkzeuge für Einordnung und Urteil in Form von Problemfeldern an, auf die vor allem mit Hilfe intertextueller Bezüge (Schiller, Brecht, Marx/Engels) rekurriert wird.«423 Neben den von Westphal genannten Autoren und ihren Texten fungiert auch die Bibel als ein Prätext, über den durch pointierte Bezugnahmen Diskurse in den Mutmassungen über Jakob gestiftet oder erweitert werden. Innerhalb dieser Diskurse nehmen der Erzähler und die Figuren implizit Wertungen vor und werden in ihrem Handeln charakterisiert. Das durch Rohlfs verkörperte staatliche Selbstverständnis, gottgleich mit Allwissenheit und Allmacht zu wirken, wird in erster Linie durch den Erzähler persifliert, indem die vom Stasi-Hauptmann verwendete biblische Metaphorik in Situationen aufgegriffen wird, die den repressiven Charakter des Staates hervorheben. Das staatliche Selbstbild wird wie im Fall der Gegenüberstellung der Bezugnahmen auf Röm 13,1 als Demagogie entlarvt, die den mit der biblischheilsgeschichtlichen Sprache verknüpften Inhalten zuwiderläuft. Mit dem Exkurs des Erzählers zum Personenkult und der Verbindung zum Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, aber auch durch die Integration des Themenkomplexes der ›deutschen Schuld‹ wird die Kritik an der stalinistischen DDR generalisiert. Die konkrete zeitgeschichtliche Situation des Herbstes 1956 dient als ereignishaftes Exempel, die historische Einordnung deckt die strukturellen Parallelen zu vergleichbaren Situationen auf und sorgt neben einer historischen Gerechtigkeit für eine generelle Kritik an autokratischen Strukturen. Die fünf genannten Figuren sehen sich gezwungen, auf den staatlichen Eingriff in ihr Leben zu reagieren. Diese Konfliktsituation abbildend, charakterisiert der Erzähler die Figuren durch vielfältige biblische Intertexte, wodurch Frau Abs, Jakob, Jonas, Gesine und Cresspahl in Opposition zum Staat mit seiner funktionalisierenden Verwendung biblischer Metaphorik verortet werden. Jonas und Jakob rufen onomastische Assoziationen zum Propheten Jona und zum Stammvater Jakob hervor. Vor allem die alttestamentliche Jona-Erzählung lässt sich als intertextuelle Folie für das Verhältnis zwischen Jonas und der staatlichen Obrigkeit lesen. Aber auch Jakobs Beziehung zu Rohlfs kann vor dem Hintergrund der biblischen Figur des Stammvaters Jakob und seinem Kampf am Jabbok gedeutet werden. Überdies wird Cresspahl mit seinen von staatlichen Vorstellungen und Zwängen unabhängigen Moralvorstellungen durch Gesine, Jonas und Jakob in die Nähe eines heiligen Patriarchen gerückt. Sein Haus fungiert wie die Mauern im biblischen Jericho als Schutzraum, für seine Tochter zugleich als 423 Ebd.

Das Ringen um Freiheit

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Mnemotopos einer verklärten Kindheit. Auf der Suche nach einer politischen und privaten Heimat sucht Gesine die Erinnerungsorte ihrer Vergangenheit auf, doch selbst ihre Liebesbeziehung zu Jakob, die durch die Metaphorik des Hohelieds ausgeschmückt ist, scheitert aufgrund der politischen Umstände und der unterschiedlichen Vorstellungen der Figuren von Freiheit. Dies wiederum verdeutlicht, dass es sich beim politisch-gesellschaftlichen Komplex um den Eingriff des Staates in die Freiheit seiner Bürger um den Rahmendiskurs des Romans handelt, der u. a. durch biblische Intertexte konstituiert wird. In ihn eingebettet sind weitere (Teil-)Diskurse wie die erwähnten mnemologischen- und kirchengeschichtlichen Komplexe, aber auch ein sprachlicher Diskurs. Dieser ist parallel zum Rahmendiskurs aufgebaut, indem der Kritik an der staatlich funktionalisierten Sprache ein Sprechen der Figuren und des Erzählers gegenübergestellt ist, das sich daran orientiert, semantische Engführungen und Kausalitäten aufzulösen. Die formale Komplexität geht mit einem »[g]rößtmögliche[n] Komplexitätsgewinn der Wahrnehmung«424 einher, mit dem Gewinn neuer Perspektiven: Der ethische Nutzen eines Romans wie der Mutmassungen besteht in der größeren Sensibilisierung für verschiedene Perspektiven und mögliche Lebensentwürfe. Er gewährt Einsicht in die Schwierigkeiten und Möglichkeiten, eine Situation in ihrer ganzen Komplexität wahrzunehmen – um Urteile dann dementsprechend aufzuschieben oder mit einer größeren Fehlertoleranz zu versehen. Er zeigt auf, wie abhängig die Bewertung einer Situation von ihrer Darstellung ist. Die durch Erzählen gewonnene, schärfere Wahrnehmung kann eine normative Ethik zwar nicht ersetzen, jedoch ihren Spielraum erweitern.425

Wie in Ingrid Babendererde erfolgen die biblischen Bezugnahmen bis auf wenige Ausnahmen implizit oder sind sogar sekundären Charakters. Explizite Intertexte finden sich lediglich in Jöches Umkehrung von 1 Kor 13,8, »aber die Liebe höret ewig auf« (MJ, 24), im Verweis des Erzählers auf Eph 6,12, »den Mächten der Bosheit« (MJ, 97), in der Wiedergabe eines Zeitungszitats, in dem auf Num 33,55, »der ›Dorn in ihrem Auge‹« (MJ, 106), verwiesen wird, und in Jonas’ Bezugnahme auf Ps 41,6, »wann wird er sterben« (MJ, 141). Neben diesen und den pointiert eingesetzten impliziten Einzeltextreferenzen wie Cresspahls Verweis auf die Lilien aus Mt 6,28 oder Gesines Liebesgeständnis gegenüber Jonas ist der Roman durch mehrere Intertexte mit einer hohen Strukturalität geprägt, die für bestimmte Figuren oder Themenkomplexe als strukturelle Folie fungieren. Während die intertextuelle Beziehung zum Hohelied durch eine Vielzahl an Signalvokabeln eine verhältnismäßig hohe Selektivität aufweist, sind diejenigen zwischen den Figuren Jonas Blach und dem Propheten Jona sowie Jakob Abs und dem Stammvater Jakob bis auf den Namen rein motivischer bzw. struktureller 424 Göritz, Ethik des Geschichtenerzählens, S. 54. 425 Ebd., S. 55f.

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Mutmassungen über Jakob

Natur. Die sich teils erheblich widersprechenden Interpretationen dieser intertextuellen Beziehungen vermitteln einen Eindruck von der Gefahr, diese Beziehungen überzuinterpretieren. Neben Einzeltextreferenzen verwenden sowohl der Erzähler als auch die Figuren eine Vielzahl lexikalischer und syntaktischer Systemreferenzen, die sich unmittelbar oder auf Einflüsse der Heiligen Schrift zurückführen lassen. Ausgehend von Rohlfs’ politischer Funktionalisierung biblischer Sprache, die stellvertretend für die staatliche Propagandasprache steht, wird diese insbesondere durch den Erzähler persifliert und als sinnentleerter, propagandistischer Gebrauch von Worthülsen entblößt. Die Figuren und der Erzähler stellen dieser entfremdeten eine Sprache entgegen, die um semantische Erweiterungen und Öffnungen bemüht ist. Funktional wurde für Johnsons Ingrid Babendererde eine Typologie von vier Formen biblischer Intertextualität eingeführt: Signalvokabeln, Parabeln, referenzielle Folien und Brechungen. Der für Johnsons Erstling so »typische[] Parabelstil«426 findet sich in den Mutmassungen über Jakob nicht wieder. Vermutlich lässt sich dieser Umstand auf die Veröffentlichungssituation zurückführen. Während der Ingrid-Roman für eine Veröffentlichung in der DDR geschrieben wurde, kam für die Publikation von Johnsons zweitem Roman früh nur der Suhrkamp Verlag infrage.427 Auf Formen uneigentlichen Sprechens, um den Roman vor dem Zugriff der Zensur oder anderen staatlichen Sanktionen zu bewahren, konnte der Autor verzichten. Das Gros der intertextuellen Beziehungen zur Heiligen Schrift wird über kurze Einsprengsel von biblischen Signalvokabeln erzeugt. Der pointierte Einsatz von Signalvokabeln erstreckt sich über den gesamten Text. Sowohl die Figuren als auch der Erzähler bedienen sich dieses für Johnsons Romane typischen Verfahrens. Hierdurch können wie beim Verweis auf Luthers Zwei-Regimente-Lehre neue (Teil-)Diskurse gestiftet oder bereits bestehende um zusätzliche Aspekte und Perspektiven erweitert werden. Beispielgebend für den zweiten Fall sind die Anspielungen auf die Infallibilität, mit der die Kritik am Personenkult generalisiert wird, und die ›deutsche Schuld‹, die durch Jöches Verweise auf Lk 10,36 und 1 Tim 6,10 nicht als historischer 426 Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 241. 427 Zwar reichte Johnson das Manuskript des Romans erst im März 1959 beim Suhrkamp Verlag ein, in seinen Frankfurter Vorlesungen berichtet er aber von einem Treffen mit Peter Suhrkamp im Dezember 1957 und der Bitte des Verlegers um ein Exposé (vgl. BU, 128f.). Dem Mitteldeutschen Verlag antwortete Johnson auf eine Anfrage vom Januar 1958, er sei »das literarische Engagement leid inzwischen« – nach der Verhaftung zahlreicher Intellektueller seit dem Herbst 1956 eine reine Schutzbehauptung; Uwe Johnson an Rudolf Brock (Mitteldeutscher Verlag), 11. 1. 1958, zitiert nach BU, 130. Hinzu kam, dass Johnson im Frühjahr 1957 eine heute nicht mehr überlieferte Erzählung namens Sprich mal mit Jakob von der Liebe, die wie der Jakob-Roman im Eisenbahnmilieu angesiedelt gewesen sein soll, an die ostdeutschen Zeitungen Eulenspiegel und Weltbühne gesandt hatte, deren Publikation jedoch abgelehnt wurde; vgl. Kommentar, S. 259f.

Das Ringen um Freiheit

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Einzelfall, sondern als Archetyp menschlichen Verhaltens skizziert wird. Geprägt ist Johnsons erstveröffentlichter Roman von Signalvokabeln, die nicht wie in diesen beiden Fällen singulär in den Text integriert sind. Vielmehr erstrecken sich einzelne Verweise auf einen biblischen Text oder eine biblische Figur wie ein Netz durch den Roman und konstituieren letztlich Diskurse, die den Text als referenzielle Folien prägen. Zu nennen sind neben der Vielzahl an biblischen Systemreferenzen, mit der die staatliche Propagandasprache abgebildet und persifliert wird, die Anspielungen auf Motive und Sprachformen aus dem Hohelied, die den mnemologischen Diskurs in den Mutmassungen über Jakob maßgeblich bestimmen. Anders verhält es sich bei den biblischen Figuren Jona und Jakob, die als referenzielle Folien einmal für Jonas Blach und einmal für Jakob Abs fungieren. In beiden Fällen ist es einzig der Name, der als Signalvokabel dient. Hinzu kommen strukturelle und motivische Ähnlichkeiten, denen aber ähnlich viele Unterschiede gegenüberstehen. Diese Unterschiede, das zeigt sich unter Berücksichtigung der Parabel Jonas zum Beispiel für die referenzielle Folie des Buches Jona, sind nicht Ausdruck einer geringen intertextuellen Intensität, weil sich die geringe Selektivität auf das Bestreben nach einer hohen Dialogizität zwischen Text und Prätext zurückführen lässt. Dass der Einsatz von gleich mehreren referenziellen Folien nicht manieriert wirkt, ist ihrer fließenden Integration in den Text zu verdanken. Der Prätext wird lediglich angedeutet, eröffnet aber eine zusätzliche Perspektive im Roman. Mit dem Vorwurf der Manieriertheit wurde Johnsons Roman in der zeitgenössischen Kritik hinsichtlich seiner Sprache konfrontiert, die durch »formale Extravaganzen« und »völlig unverständliche Sätze«428 die Lektüre »unnötig erschwere[]«.429 Die biblischen Sprachformen im Roman, die vor allem in der Sprache des Erzählers durch Brechungen zu einer solchen Syntax führen, sind allerdings nicht Ausdruck eines Manierismus,430 sondern des Bestrebens um ein ethisches im Sinne eines reflektierenden Erzählens. Hierzu werden Kausalitäten aufgelöst und Räume geöffnet, um Beziehungen zwischen Sachverhalten neu zu verhandeln. Diese Form der Erzählersprache korrespondiert mit der Erweiterung semantischer Engführungen in der Figurensprache, die wiederum durch Signalvokabeln hergestellt wird. 428 Marcel Reich-Ranicki: Ein Eisenbahner aus der DDR. Zu Uwe Johnsons Roman »Mutmaßungen über Jakob«, in: Das Sonntagsblatt, Nr. 47 vom 22. 11. 1959, S. 20. 429 Kurt Leonhard: Zwischen Skylla und Charybdis, zitiert nach Riedel (Hg.), Uwe Johnsons Frühwerk, S. 57–59, hier: S. 59. 430 Vgl. auch Enzensberger, Die große Ausnahme, S. 911: »Mit manieristischem Dunkel oder modischer Obskurität hat dies alles nichts zu tun. Im Gegenteil: das Einzelne wird immer wieder hell angeleuchtet und scharf vernommen; Gesichtszüge, Handreichungen, Wortfetzen, Gegenstände erscheinen zuweilen beinah grell, so deutlich. Nur das Ganze, auf das es ankommt, bleibt unkenntlich.«

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Mutmassungen über Jakob

Nachdem Johnson mit den Mutmassungen über Jakob der Durchbruch gelungen war, feierte er zwei Jahre später mit der Veröffentlichung von Das dritte Buch über Achim einen zweiten Erfolg. In den zeitgenössischen Rezensionen findet sich im Gegensatz zum Debütroman nur mehr ein Hinweis auf den »getragenen biblischen Tonfall«.431 Kann dieser Umstand als Hinweis auf eine geringere Frequenz biblischer Intertexte in Johnsons drittem Roman gewertet werden?

431 Hermann Peter Piwitt: Chronik und Protokoll, in: Sprache im technischen Zeitalter 1, 1961/ 1962, H. 1, S. 83–86, hier: S. 85.

3.

Das dritte Buch über Achim

Manchmal hat er wirklich eine gedämpfte Stimme, denn er wohnt nunmehr unter einer Einflugschneise der westberliner Luftbrücke: er ist dahin umgezogen aus praktischen und nicht aus politischen Gründen. Nun sitzt er da und lernt am westdeutschen Leben und weiss nicht, wem er das einmal aufsagen soll. Ist auch wieder eine Geschichte vorgekommen, soll ein Buch werden: keine über ihn selbst.1

Im Februar 1960 entwirft Johnson auf Bitten der Südwestdeutschen Illustrierten Wochenzeitung (IWZ) eine »Aussage ›Über [s]ich selbst‹«2 in der dritten Person. Der zitierte Abschnitt gewährt einen Eindruck von Johnsons veränderter Lebenssituation nach seinem ›Umzug‹ nach Westberlin im Juli 1959. Daneben erwähnt Johnson ein »Buch«, dessen erste Fassung er kurze Zeit später, am 3. Mai 1960, niederzuschreiben beginnt. Das dritte Buch über Achim ist sein dritter verfasster und sein zweiter veröffentlichter Roman, der nach mehreren Vorabdrucken3 Anfang September 1961 erschien. Das Manuskript zum Roman war das erste, das Johnson in der Bundesrepublik Deutschland verfasste. Angesichts der Zäsur in seinem Leben, die mit der Veröffentlichung der Mutmassungen über Jakob im Herbst 1959 einherging, liegt die Vermutung nahe, dass sich auch an der Art zu Schreiben etwas geändert haben könnte. Paasch-Beeck greift diese Überlegung auf und überträgt sie auf die Bibelrezeption Johnsons:

1 Uwe Johnson: Lebenslauf für die »Südwestdeutsche Illustrierte Wochen Zeitung«, zitiert nach JUB, S. 72f. 2 Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 29. 2. 1960, in: JUB, S. 70f., hier: S. 71. Johnsons Wunsch, die Fiktion eines anonymen Fremdbildes aufrechtzuerhalten, indem der Text vom Suhrkamp Verlag oder Enzensberger an die IWZ gesandt werde, erfüllte sich nicht. Der Beitrag wurde am 19. März 1960 mit den Worten veröffentlicht: »Für die Leser der IWZ stellte er [= Johnson; P. O.] eine Aussage über sich aus Stimmen aus der Presse und des Rundfunks zusammen«; Südwestdeutsche Illustrierte Wochen Zeitung, zitiert nach JUB, 74. 3 Vgl. Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 31. 8. 1961, Anlage 3, in: JUB, 161–163.

312

Das dritte Buch über Achim

Ob letztlich diese Distanz [zur Kirche; P. O.],4 ob nicht viel eher gestalterische, sprich ästhetische Gründe, oder doch eher die Tatsache, dass die Existenz zweier deutscher Staaten die Thematik der beiden folgenden Romane Johnsons bestimmt hat, dafür verantwortlich sind, dass sowohl »Das dritte Buch über Achim« (1961) als auch die »Zwei Ansichten« (1965) ohne diesen »biblischen Tonfall« auskommen, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Fakt ist aber, dass Johnson, der seit den »Mutmassungen« mit dem ungeliebten Etikett des »Dichters der beiden Deutschland« leben musste, in diesen beiden Romanen in einem viel geringeren Maße auf sprachliche Anklänge, Motive, Figuren oder gar Zitate, die ursprünglich aus der Bibel stammen, zurückgegriffen hat.5

Für Das dritte Buch über Achim konnte diese Aussage, darauf wurde bereits an früherer Stelle verwiesen, in zwei Aufsätzen relativiert werden.6 Die beiden Beiträge über Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons7 und Zum Umgang mit dem biblischen Kanon in Das dritte Buch über Achim8 bilden die Grundlage der Betrachtungen in diesem Kapitel. Darin soll gezeigt werden, dass der biblische Tonfall und weitere durch biblische Intertexte gestiftete und erweiterte Diskurse, wenn auch in geringerer Zahl als in den ersten beiden Romanen, in Das dritte Buch über Achim vorkommen und von zentraler Bedeutung für die Konstitution des Textes sind. Das Geflecht biblischer Intertexte erstreckt sich über mehrere Handlungsebenen und begründet einen der zentralen Konflikte des Handlungsverlaufs, den zwischen Karin und Achim. Vor diesem Hintergrund erhält die Reise von Karsch in die DDR, die auf den ersten Blick »aufreizend unplausibel«9 daherkommt, eine Motivation: Karin sieht in Karsch die

4 Dass mit dem Austritt aus der evangelischen Kirche am 2. März 1960 diese Distanz nur mehr manifestiert wurde, konnte im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeitet werden; vgl. Erster Teil, Kap 1.1. 5 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 326. 6 Krellner stellt die These auf, dass sich Das dritte Buch über Achim noch aus der Substanz von Johnsons Leipziger Erfahrungen speise: »Die Basisfiktion des Romans belegt, daß die neuen Lebensumstände in der Bundesrepublik lediglich den Fluchtpunkt zur Rekonstruktion einer Geschichte markieren, die im Kern auf Dinge zurückgeht, die Johnson einst in Leipzig ›angesehen‹ und ›gezählt‹ hatte. Im Zuge der Arbeit am Achim-Roman wurde dieses ›mitgebrachte‹ Material jedoch weitgehend aufgebraucht. In der Folgezeit kommt es zu einer Stockung in Johnsons literarischer Produktivität, die graduell bis zum Beginn der Arbeit an den Jahrestagen andauert und insofern als Konsequenz der radikalen Veränderung seiner Lebensumstände nach dem Verlassen der DDR interpretiert werden kann«; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 159; Kursivdruck im Original. 7 Vgl. Onasch, Kirchengeschichtliche Diskurse. 8 Vgl. Onasch, Zum Umgang mit dem biblischen Kanon. 9 Ulrich Fries: Überlegungen zu Johnsons zweitem Buch. Politischer Hintergrund und epische Verarbeitung, in: Johnson-Jahrbuch 2, 1995, S. 206–229, hier: S. 207. Auch Leuchtenberger bezeichnet die gesamte Karsch-Handlung als »seltsam diffus« und »erklärungsbedürftig bis über das Ende des Romans hinaus«; Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 181, Anm. 13.

Religiöser Diskurs: »Religion: Strich«

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letzte Möglichkeit, Achim mit einer anderen als der ihm indoktrinierten Wirklichkeit zu konfrontieren. Wie bereits in den vorhergehenden Abschnitten, werden für die Analyse auch von Johnsons zweiten veröffentlichten Roman die im Uwe Johnson-Archiv befindlichen Textstufen hinzugezogen, um die Ausgestaltung der biblischen Intertexte im Roman textgenetisch zu verfolgen. Hierbei handelt es sich um ein schmales Konvolut an Vorarbeiten, eine erste Fassung, die zwischen dem 17. Mai 1960 und dem 2. April 1961 entstand, sowie eine vermutlich zwischen Ende Februar und Anfang April 1961 entstandene, undatierte zweite Fassung, die die Grundlage der Druckfassung bildete. Darüber hinaus liegen zur zweiten Fassung zwei Korrekturfahnen, die zwischen Mitte Mai und Anfang Juni 1961 von der Druckerei versandt wurden, und ein Umbruch vom Juli 1961 vor.10 Bevor es an die Betrachtung kirchengeschichtlicher, sprachlicher und politisch-ethischer Diskurse im Roman geht, soll zu Beginn erneut der Rolle des religiösen Diskurses mit der Präsenz von Kirche und Religion im Roman nachgegangen werden.

3.1

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Wie in den Mutmassungen über Jakob kommt dem religiösen Diskurs in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman keine zentrale Bedeutung zu. Die drei Protagonisten Achim, Karin und Karsch werden durch keinerlei direkte Beziehung zur (evangelischen) Kirche oder zum Christentum charakterisiert. Dies trifft auch für sämtliche Nebenfiguren in Das dritte Buch über Achim zu. Weder Frau Ammann noch Frau Liebenreuth, Herr Fleisg oder Achims Vater werden als Charaktere gezeichnet, deren konfessionelle Bestimmung von Relevanz ist. Kirchen werden innerhalb des Romans mehrfach erwähnt. Das Anführen dieser Kirchen beschränkt sich im Gegensatz zu Johnsons Erstling Ingrid Babendererde allerdings nicht darauf, als Kulisse, als bloßer Orientierungspunkt zu fungieren. Bereits in der Exposition werden »die Kirchtürme von Lübeck« (DBA, 7) im Kontext der Beschreibung der innerdeutschen Grenze verortet. Helbig hat darauf verwiesen, dass es »bemerkenswert«11 sei, dass sich die Kirchtürme Lübecks auf »der anderen Seite« (DBA, 7) befinden. Der nichtdiegetische Erzähler12 richtet den Blick auf die Grenze vom Territorium der DDR aus und 10 Vgl. Hanuschek/Leuchtenberger/Schneider, Nachwort, S. 294–325. 11 Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 22. 12 Die nicht personifizierten Sprecherinstanzen des Oberflächendialogs, den Erzähler und den bzw. die intratextuellen Leser, hebt Helbig in Abgrenzung zur erzähltheoretischen Verwendungsweise durch die Schreibung in Kapitälchen typografisch hervor; vgl. Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 18, Anm. 5, S. 20, Anm. 9. Entsprechend bezeichnet er

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leitet damit in das Romangeschehen um den westdeutschen Journalisten Karsch ein, der sich in die DDR fahrend der ostdeutschen Perspektive auf die Grenze bzw. den Grenzen nähert. Während die Kirchtürme Lübecks trotz ihres politischen Kontextes aber noch primär die Funktion einer Kulisse einnehmen, werden im Rahmen von Achims Kindheitsbeschreibungen Kirchengebäude konkret politisch semantisiert. Als die Familie zu Beginn der 1940er Jahre in die »große Stadt« zurückkehrt, »in der Achim geboren war« (DBA, 71), wird der junge Titelheld beschrieben, wie er von »einer unendlichen Straßenbrücke aus […] Gleisanlagen und Fabrikhöfe mit Schornsteinen und Gaskesseln verzwickt in die Ferne verschwimmen [sah] gegen die neblig dünnen Kirchtürme des Stadtkerns« (DBA, 72). Ob es sich bei der anschließenden Reflexion der Szenerie – »wie mochte das alles zusammenhängen?« (DBA, 72) – um die Gedanken Achims oder des Erzählers handelt, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Die Trennung der Darstellung von der anschließenden Frage mittels Semikolon spricht allerdings dafür, die Reflexion als Kommentar des Erzählers zu lesen. Beantworten lässt sich die offen gelassene Frage damit, dass Kirchen und Industrieanlagen in ihrer Gegenüberstellung als Symbole einer alten und neuen Zeit dienen: im Stadtkern die historisch-verschwommenen Gebäude wie Kirchen als Wahrzeichen einer vergangenen, in der Peripherie die Industrieanlagen einer gegenwärtigen, modernen Zeit. Dass der kirchliche als ein symbolischer Raum trotz (oder wegen) einer solchen politischen, konkret nationalsozialistischen Ideologie, die die Entkonfessionalisierung zum Ziel hatte, nicht an Bedeutung verloren hat, wird mit dem Einzug einer neuen politischen Ordnung deutlich. Die sowjetische Siegermacht nutzt die symbolische Bedeutung der Kirche und des Rathauses, um aus »leergeschüttete[n] Inletts […] an den Masten vor dem Rathaus und von halber Höhe des Kirchturmhutes« (DBA, 139) rote Fahnen wehen zu lassen. Dass die Rote Armee für ihre symbolträchtige politische Okkupation nicht nur den politischen, sondern auch den sakralen Raum wählt, verweist ebenfalls auf das Ziel einer neuerlichen Entkonfessionalisierung. Der Erzähler zieht im Kontext der Beflaggung eine konkrete Parallele zum nationalsozialistischen Deutschland, die sich über den religiösen Diskurs herstellen lässt:

den Oberflächendialog, in dem 70 Fragen des Lesers die Erzählung makrostrukturell gliedern, als Erzählerebene, die im Roman mit der Erzählebene verschränkt ist; vgl. ebd. , S. 46, Anm. 17. Der besseren Lesbarkeit halber wird auf die Hervorhebung der Begriffe mittels Kapitälchen verzichtet. Die Termini ›Erzählerebene‹ und ›Erzählebene‹ werden stattdessen durch die von Leuchtenberger eingeführte Bindestrichschreibung markiert, entsprechen inhaltlich aber der von Helbig aufgestellten Systematik; vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 178, Anm. 3. Leuchtenberger differenziert überdies die Erzähl-Ebene hinsichtlich der chronologischen Struktur in eine Vorzeit- (Achim-Fabel) und eine Gegenwartshandlung (Karsch-Fabel), wohingegen die Erzähler-Ebene die Nachzeithandlung abbildet; vgl. ebd., S. 179f.

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die Bevölkerung wird gebeten rot zu flaggen; an den Fenstern erschienen die roten Fahnen, von denen das Hakenkreuz des zerschlagenen Reiches hatte abgetrennt werden können aber nicht der vom Regen eingebleichte Abdruck, der nun übrigblieb als lichte weichkantige Durchsicht […]. (DBA, 139)

Ein viertes Mal wird die Kirche im sprichwörtlichen Sinne gebraucht und verweist auf eine kleinstädtische bzw. dörfliche Beschaulichkeit. Als tertium comparationis für die Beschreibung eines Dorfes, das Karin und Karsch besuchen, dient nicht dessen Größe oder sein Grad an Industrialisierung, sondern die wiedereingekehrte Ruhe, nachdem der Name des Dorfes »als Gedächtnis oder Empörung oder Stolz über die westlichen Grenzen des Landes gegangen war« (DBA, 174). Im Gegensatz hierzu umschreibt der Erzähler die Situation bei Karins und Karschs Ankunft: »Die Kirche war im Dorf, rundum stand junges Korn, auf den Feldwegen rührte sich nichts.« (DBA, 175) Als liturgischer Raum wird eine Kirche nur ein einziges Mal, nach der Beerdigung eines Bauern, dargestellt. Dass die Bestattung aber erst nach ihrer Beendigung zum Gegenstand wird, verweist darauf, dass nicht die Darstellung des liturgischen Prozesses für das Handlungsgeschehen von Bedeutung ist, sondern die sich daraus entwickelnde theologische Diskussion. Bevor hierauf näher eingegangen wird, sollen die drei Protagonisten Achim, Karin und Karsch im Hinblick auf einen religiösen Diskurs in Das dritte Buch über Achim gesondert betrachtet werden. Achim und Karin Die Protagonisten Achim und Karin, die als Sport- und Schauspieleridole in der DDR leben und zu Beginn des Romans seit einiger Zeit eine Beziehung führen, wachsen in Zeiten religiösen Umbruchs auf. Mit gerade einmal dreißig Jahren13 sind beide Zeugen eines nationalen religiösen Transformationsprozesses, in dem sich die Rolle von Religion vor allem durch die Vereinnahmung des Heilsgedankens durch den Staat bzw. die Nation verändert. Die Analyse von Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob hat gezeigt, wie die Selbststilisierung des ostdeutschen Staates als Religionsersatz ironisch überspitzt wird, indem den Staat vertretenden Figuren wie Direktor Siebmann oder Hauptmann Rohlfs der Duktus der Heiligen Schrift oder biblische Zitate und Anspielungen, die zum Bestandteil politischer Sprache gemacht wurden, in den Mund gelegt werden. In seinem zweiten veröffentlichten Roman erweitert Johnson diesen Aspekt durch Karschs Beschreibung von Achims Kindheit auf die Zeit des Nationalsozialismus. Auch wenn der Erzähler Zweifel an der Richtigkeit der biografischen Darstellung streut, weil Karsch die wenigen Informationen, die er von Achim erhält, »be13 Vgl. DBA, 25: »Die harte schweißige Haut Achims war dreißigjährig«. Karin hingegen ist »achtundzwanzig Jahre alt« (DBA, 28) und somit zwei Jahre jünger als Achim.

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denkenlos« ergänzt mit dem, »was er wußte aus dieser Zeit und was er für Achim wahrscheinlich glaubte«,14 erfährt der Leser aus der Schulzeit des Radrennfahrers von einem Klassenraum, in dem ein Bild des Führers »hinter dem Lehrerpult« steht (DBA, 65). Wahrheitsgemäßer erscheint die wiedergegebene schulische Bewertung des jungen Achim: »Rechnen Schreiben Lesen: gut, Religion: Strich, Betragen: zufriedenstellend bis auf einen Fall.« (DBA, 65) Karsch suggeriert in seiner biografischen Darstellung, ein Zeugnis des neunjährigen15 Achim vorliegen zu haben. Für den religiösen Diskurs ist von besonderem Interesse, dass das Zeugnis eine Spalte für den Religionsunterricht aufweist, dieser aber nicht erteilt bzw. von Achim nicht besucht wurde. Der Religionsunterricht fiel zwischen 1933 und 1945 einer zentral aus Berlin gesteuerten Kampagne zum Opfer, die die von Reichsminister Wilhelm Frick im Jahr 1935 formulierte Forderung der »Entkonfessionalisierung des gesamten öffentlichen Lebens«16 umsetzte: »Seine Geschichte in dieser Zeit ist die Geschichte seiner allmählichen Verdrängung aus der Schule und schließlich seiner endgültigen Liquidierung.«17 Die Kampagne begann 1935 mit der Anordnung Bernhard Rusts, des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, wonach nur mehr Lehrer – und nicht Geistliche – den (Religions-) Unterricht an Volksschulen erteilen durften. In den Folgejahren wurde die Zahl der Unterrichtsstunden für den Religionsunterricht erheblich reduziert. Rust verfügte, diesen auf Eckstunden zu verlegen und die Abmeldung zu erleichtern.18 Im August 1939 wurde der Religionsunterricht zunächst an beruflichen Schulen gestrichen, ein Jahr später in allen höheren Klassen, in denen keine Schulpflicht mehr galt, und 1941 schließlich in den Mittelschulen. Damit einher ging eine Entfernung des Schulfaches aus den Zeugnissen: »Es gab nun Formulare eigens für den Religionsunterricht.«19 Parallel zur Kampagne des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung forderte der Nationalsozialistische Lehrerbund (NSLB) seine Mitglieder im November 1938 auf, die 14 Karsch greift zu diesem Mittel, obwohl es ihm zunächst widerstrebt. Auf die Frage des fiktiven Lesers, »Wie dachte Karsch aber anzufangen?« (DBA, 40; Kursivdruck im Original), heißt es: »Nun ist es unzweifelhaft mißlich daß einer bloß wahrscheinliche Leute hinstellt wo sie nicht gestanden haben, und sie reden läßt was sie nicht sagen würden« (DBA, 46). 15 Vgl. DBA, 65: »die ungeheure Länge des Wegs für einen neunjährigen Jungen von der Sitzbank zur Tafel«. 16 Wilhelm Frick: Rede auf dem Gauparteitag der NSDAP in Münster, 7. 7. 1935, zitiert nach Wolfgang Michalka (Hg.): Das dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik, Bd. 1: »Volksgemeinschaft« und »Großmachtpolitik«, München 1985, S. 145; Kursivdruck im Original. 17 Vgl. Folkert Rickers: Die nationalsozialistische Ära, in: Rainer Lachmann/Bernd Schröder (Hg.): Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 233–267, hier: S. 236. 18 Vgl. ebd., S. 244. 19 Ebd.

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Lehrtätigkeit für den Religionsunterricht niederzulegen: »In erheblicher Zahl befolgten Lehrerinnen und Lehrer diese Anweisung, in manchen Gegenden bis zu 95 %!«20 Durch die Paraphrasierung des Zeugnisses wird der junge Achim, wenn auch nur beiläufig, als Zeuge einer allmählichen Beseitigung des Religionsunterrichts um das Jahr 1939 ausgewiesen. Der Protagonist des Biografievorhabens wächst in einer Zeit auf, in der eine Entkonfessionalisierung der Bevölkerung politisch bewusst vorangetrieben wird. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und mit der sowjetischen Besatzung wird Achim in einer Scheune Zeuge, wie »die Besatzungsmächte einträchtig hintereinander die deutschen Frauen aufrissen zwischen den Beinen« (DBA, 147). Den Frauen und Mädchen, die Opfer sowjetischer Vergewaltiger geworden sind, kann der Protagonist nicht ins Gesicht schauen, wenn er ihnen »auf der taghellen Straße oder beim Kirchgang wiederbegegnete« (DBA, 147). Die Erwähnung des Kirchgangs ist Teil des religiösen Diskurses im Roman und vermittelt einen Eindruck von der bestehenden Bedeutung von Religion und Kirche trotz des staatlichen Vorgehens gegen diese in der Zeit des Nationalsozialismus. Für den 15-jährigen Achim wie für andere Bewohner des Ortes gehört der Besuch des Gottesdienstes zum gängigen Ritual. Dies mag überraschen, bedenkt man, mit welchem Enthusiasmus Achims Mutter zu Lebzeiten dem »staatlichen Frauenverband in der Siedlung« (DBA, 62) vorsteht und wie regimetreu der Schüler die »Hitlerscheiße« (DBA, 83) gegenüber seinem Vater vertritt. Dass ein Nebeneinander von christlichem Glauben und politischer Gefolgschaft zwischen 1933 und 1945 möglich war, deutet auf eine Entkonfessionalisierungspolitik hin, die nur bedingt ihr Ziel erreichte. Zurückführen lässt sich dieser Umstand auf die verhältnismäßig geringe Zeitdauer, vor allem aber auf die Kriegssituation ab 1939, in der zeitweise sehr erfolgreiche Versuche, »die Zahl der Kirchenmitglieder zu verringern und die kirchlichen Feiern durch nationalsozialistische Äquivalente zu ersetzen«, an Wirkung verloren: »Angesichts einer fast jede Familie betreffenden Gefahr suchten die Menschen nun verstärkt Zuspruch bei den Kirchen, deren gesellschaftliche Rolle dadurch gestärkt wurde.«21 20 Ebd., S. 245. 21 Georg Wilhelm: Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 465. Ähnlich wie die nationalsozialistische folgte die DDR-Kirchenpolitik »keinem klaren Schema kirchenpolitischer Systematisierung oder Repression«; die Entkonfessionalisierung weiter Teile der ostdeutschen Bevölkerung gelang nicht über kirchenpolitische, sondern gesellschaftliche Maßnahmen: »Der sozialistische Staat verfügte aufgrund der sozioökonomischen Maßnahmen über weitgehende Machtmittel. Nur wer sich an die Vorgaben des Systems anpasste, hatte die Chance, mit den systemverwalteten Leistungen, seien es berufliche Aufstiegschancen, Einkommensverbesserungen, Entscheidungskompetenzen oder Einflussmöglichkeiten versorgt zu werden. Am deutlichsten sichtbar am Beispiel der Jugendweihe setzte die SED bei den Eltern den Hebel an, die in der Sorge um die beruflichen Aufstiegschancen ihrer Kinder

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Ähnlich wie bei Achim verhält es sich bei Karin, die von ihrer Mutter angehalten wird, so zu handeln, dass sie die »Erlangung der ewigen Seligkeit« (DBA, 242) erreichen könne. Für Karin ist das Christlich-Religiöse aber nicht nur mit einem Ritual verknüpft, sondern mit einer durch die Erziehung ihrer Mutter vermittelten christlich fundierten Moral, die bis in die Gegenwart der erzählten Zeit die Grundlage ihres Handelns bildet. Das politische Vorgehen gegen Kirche und Religion zwischen 1933 und 1956 hat bei Karin zumindest im Hinblick auf ihre moralischen Grundfeste seine Wirkung verfehlt. Die Folge ist der Bruch der Schauspielerin mit der Staats- und Parteiführung, und mit Achim, der eine andere persönliche Entwicklung durchläuft und nicht verstehen will, warum seine Lebensgefährtin auf »den Sätzen einer unwirksamen Religion über Recht und Sitte unter den Menschen« (DBA, 244) beharrt. Karsch und der »Kanzler der namentlich christlichen Partei« Im Gegensatz zu Achim und Karin wird Karsch an keiner Stelle des Romans mit dem Christentum oder der Institution Kirche in Zusammenhang gebracht. Dies allein lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass es sich bei ihm um eine Figur ohne religiöse Bindungen handelt. Vom Journalisten Karsch ist nicht viel mehr bekannt als sein Beruf, dass er »am Rande von Hamburg« wohnt und »nach dem Krieg mit einer Schauspielerin zusammengelebt haben [soll]« (DBA, 9), bei der es sich um Karin handelt. Diese reduzierte Biografie und die Beschränkung Karschs auf seinen Nachnamen – ganz im Gegensatz zu Achim und Karin, die in dieser Hinsicht in Das dritte Buch über Achim eine Sonderstellung einnehmen22 – steht im Einklang mit der Aussage des Erzählers: »Auf ihn kam es gar nicht an.« (DBA, 12) Entsprechend bleibt auch Karschs äußeres Erscheinen, wiederum anders als bei den beiden anderen Protagonisten, im Dunkeln. Friederike Krippner gelangt daher zu dem Schluss, dass »die Figur physisch nicht zu fassen« ist und darauf beschränkt bleibt, eine »körperlose Stimme« zu sein.23 Die Figurenzeichnung macht Karsch zu einer »Reflektorfigur«,24 beinahe zu einem »reinen Schreibmedium«.25 Es ist bereits mehrfach darüber geschrieben worden, dass Karsch trotz dieser geringen Profilschärfe eine vom Erzähler zu unterscheidende

22 23 24 25

diesen die Teilnahme an der Jugendweihe nahe legten. Gerade im Bildungsbereich, beim beruflichen Aufstieg und dem Eintritt in die Partei genügte geringer Druck, um die betreffenden Personen zum Kirchenaustritt zu bewegen. Angesichts einer beim überwiegenden Teil der evangelischen Bevölkerung nur losen Bindung an die Kirche blieben die kirchlichen Gegenmaßnahmen ohne Wirkung«; ebd., S. 463, 465f. Vgl. Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 251. Friederike Krippner: Die Dritte im Dritten Buch. Zur Geschlechterkonstruktion in Uwe Johnsons Roman Das dritte Buch über Achim, in: Johnson-Jahrbuch 14, 2007, S. 9–25, hier: S. 14. Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 81. Fries, Überlegungen zu Johnsons zweitem Buch, S. 211.

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Figur ist und die angedeutete Identität beider gegen Ende des Romans26 dem Lektüreverlauf widerspricht. Helbig etwa führt diesen Widerspruch auf eine »Schwäche der Konstruktion«, auf eine »narrative Manieriertheit« Johnsons zurück.27 Aus Karschs Rolle als »erzählerische[m] Vehikel«28 lässt sich im Hinblick auf das Thema dieses Kapitels die Überlegung anstellen, mögliche religiöse Einflüsse aus seiner Sprache, aus dem von ihm Verfassten abzuleiten. Beachtet werden muss dabei die Beobachtung Leuchtenbergers, dass der nichtdiegetische Erzähler seiner Figur Karsch »[n]iemals […] über längere Strecken das Wort« überlasst: er integriert die ästhetischen und erzähltheoretischen Überlegungen Karschs in seinen Text, referiert die fertigen Manuskripte des Journalisten jedoch häufiger, als sie vollständig wiederzugeben, und wenn er tatsächlich einmal aus Karschs Entwürfen zitiert, gibt er in der Regel nur Kostproben, um unvermittelt wieder in die kommentierende Darstellung der Arbeitssituation zurückzufallen.29

Betrachtet man die angesprochenen wenigen »Kostproben«, schimmert vereinzelt ein religiöser Duktus des Journalisten durch. So berichtet der Erzähler, dass Achim »nicht faßlich« ist, »was Karsch an einem fünfzehnjährigen Mädchen aus Ostpreußen heilige Neugier nennen wollte« (DBA, 151; Hervorhebung P. O.). Der ostdeutsche Radrennfahrer, das wird explizit betont, benutzt »eins der beiden Wörter gar nicht und das andere nicht für solche Gelegenheiten« (DBA, 151). Jenes ›heilig‹ verwendet Karsch auch für die Darstellung eines Aufmarschs, nach dessen Ende sich der 19-jährige Achim nach West-Berlin begibt, um eine Dreigangschaltung zu erwerben:

26 Vgl. DBA, 272: »– Wie war es denn? sagtest du.« Johnson führt hierzu in seinen Frankfurter Vorlesungen aus: »Zum Schluss wird Ihnen, Herr Pestalozzi, sogar ein technisches Hilfsmittel vorgeführt, benutzt von Karsch und seinen Partnern: er sitzt wieder zu Hause an seinem Arbeitsplatz, nimmt das Blatt aus der Maschine, da geht das Telefon: / – Wie war es denn? sagtest du. / Das ist der letzte Satz, hier recte statt kursiv, kenntlich nun als die erste Frage seines Berichtes, der Anfang in dem Ende.« (BU, 192) Der Angesprochene ist Karl Pestalozzi, der 1963 eine Rezension zu Das dritte Buch über Achim veröffentlichte; vgl. Karl Pestalozzi: Achim alias Täve Schur. Uwe Johnsons zweiter Roman und seine Vorlage, in: Sprache im technischen Zeitalter 6, 1963, S. 479–486. 27 Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 108. Helbig bietet einen Überblick der verschiedenen Positionen zu einer möglichen Identität von Erzähler und Karsch; vgl. ebd., S. 87– 108. Leuchtenberger macht stattdessen glaubhaft, dass Karsch noch nicht einmal die Rolle eines Co-Erzählers wie den Hauptfiguren Gesine, Jonas, Rohlfs und Jöche in den Mutmassungen über Jakob zukomme, weil Karsch »in überhaupt keinem erkennbaren Verhältnis zum Erzähler« stehe; Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 233; Kursivdruck und Kapitälchen im Original. 28 Ree Post-Adams: Uwe Johnsons Darstellungsproblematik als Romanthema in Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim, Bonn 1977, S. 77. 29 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 230f.

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Die schwingenden Mädchenröcke, die ungewohnt schmuckhafte Ausstattung der Straßenzüge, die unzählige menschliche Nachbarschaft löste Achim zu einverstandener Begeisterung, singend und steif rechts gewandten Kopfes trieb er mit im heilig ergriffenen Aufmarsch vor der sehr erhöhten und entfernten Tribüne des Sachwalters […]. (DBA, 184f.; Hervorhebung P. O.)

Für die Darstellung eines schulfreien Tages von Achim im Jahr 1940 bedient sich Karsch mit dem Verweis auf die Versuchung Jesu30 gar eines konkreten biblischen Intertextes: Über den Markt kamen drei Panzer gefahren, schwer ratternd kreuzten sie die Schloßausfahrt; ein Polizist sprang auf die Straße und sperrte mit ausgestreckten Armen das einzige Auto aus der anderen Richtung, schnell und knapp hob er eine Hand an den besternten Tschako, fröhlich winkten die Kommandanten zurück. Die hockten barhäuptig mit bloßen Armen auf den Lukenrand gestützt, überblickten lustig und geringschätzig die niedrigen Menschen auf der Straße und hatten die Macht über all das Eisen. (DBA, 70; Hervorhebung P. O.)

Von solch vereinzelten biblischen Einzeltext- und Systemreferenzen in der Figurenrede Karschs lässt sich dennoch nicht auf eine Religiosität der Figur schließen. Die Differenz zwischen Karschs und Achims Verwendung des Wortes ›heilig‹ suggeriert allerdings aufgrund der mutmaßlichen Stellvertreterfunktionen der beiden Charaktere für die beiden deutschen Staaten einen grundlegenden Unterschied im Umgang mit biblischer Sprache und damit mit Religion insgesamt. Diese Differenz wird manifestiert, indem Achim im Streitgespräch mit Karsch den »Kanzler der namentlich christlichen Partei« als einen Politiker charakterisiert, der »mit den Machthabern von Industrie und Gewerkschaft und Standesgruppen feilschte und tauschte hinter dem Rücken des Parlaments« (DBA, 252). Ohne an dieser Stelle den sich anschließenden Mediendiskurs zwischen den beiden Figuren zu verfolgen, wird deutlich, dass Achim an der Rolle des Christentums in der BRD, das nur mehr als Fassade diene, Kritik übt. Statt christlichen folge das Leben in der BRD, das zeige der Kanzler einer CDUgeführten Regierung, allein kapitalistischen Maximen. Konrad Adenauer entpuppe sich, so wäre die Argumentation Achims weitergedacht, als ein Wolf im Christuspelz. Was damit implizit verhandelt wird, ist die Frage, was ›christlich‹ ist und inwieweit sich politisches und wirtschaftliches Handeln mit religiösen Maximen vereinbaren lässt.

30 Vgl. Lk 4,5f. parr: »5Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick 6und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will.«

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Ein Bauer und die evangelische Kirche Neben den Protagonisten kommt einem Bauern im Romangeschehen eine zentrale Bedeutung zu. Karin und Karsch erfahren beim Mittagessen im Gespräch mit einem befreundeten Journalisten Karschs, »nennen wir ihn Hans« (DBA, 173), von jenem Bauern, der sich »[w]egen der Kollektivierung« (DBA, 173) erhängt habe. Karin veranlasst diese Nachricht zum Nachfragen. Vor allem aber versetzt es sie infolge ihrer Betroffenheit in eine regelrechte Starre: »– … sich jemand umgebracht: fragte Karin hartnäckig. Sie hatte sich nicht bewegt aber schien starrer zurückgelehnt und entfernt.« (DBA, 173) Umgehend steht sie vom Tisch auf und fährt mit Karsch in »wenigen Stunden« in den Ort, »dessen Name als Gedächtnis oder Empörung oder Stolz über die westlichen Grenzen des Landes gegangen war« (DBA, 174). Von den Einwohnern des Dorfes erfahren sie Details zur (Zwangs-)kollektivierung: Nachdem auf einer Dorfversammlung keine Einigung darüber erzielt werden konnte, den bäuerlichen Besitz »zu einer Genossenschaft umzubilden«, nötigt eine »Brigade von Chemiearbeitern aus der Stadt […] namens des Sachwalters« zehn von elf Wirtschaften des Dorfes, den Vertrag zum Beitritt in die LPG zu unterzeichnen (DBA, 175). Ein Bauer aber weigert sich und erscheint erst auf der Bürgermeisterei, als die Brigadisten ihm »tagelang nicht von der Seite gegangen waren«, ihm die »frisch gepflügten Furchen wieder zudrückten und hartfuhren« (DBA, 175). Als er bei der Unterzeichnung des Vertrags jedoch »das Wort Freiwilligkeit in versicherter Form« (DBA, 175) entdeckt, zerreißt er den Vertrag mit seiner und allen übrigen Unterschriften der Bauern des Ortes. Er verlässt die Bürgermeisterei, wird aber umgehend festgenommen. Vom Lastwagen, der ihn abtransportieren soll, springt der Bauer und flüchtet in Richtung seines Hofes. Als die Verfolger den Hof in der Annahme umstellen, er würde zu diesem zurückkehren wollen, hat er ihn längst betreten: »Die Posten standen lange und immer noch, als die Frau ihren Mann schon am Strick gefunden und abgeschnitten hatte.« (DBA, 176) Relevant für den religiösen Diskurs des Romans sind die Charakterisierungen des Bauern, die der Erzähler aus den Berichten der Dorfbewohner zusammenfügt. Jener wird beschrieben »als einer, der Freude hatte an der Arbeit, der evangelischen Kirche einige Behauptungen glaubte und mitten im Dorf lebte vertraut und vertraulich und nicht einmal achtenswerter als der Nachbar« (DBA, 176). Neben der Information, dass der Bauer evangelischen Glaubens ist, was im Hinblick auf seine Beerdigung als Suizident von Bedeutung ist,31 erzeugt die Aussage, er habe »der evangelischen Kirche einige Behauptungen geglaubt«, das Bild eines skeptischen und die Dinge hinterfragenden Bauern. Plausibler erscheint es aber, die Einschränkung auf »einige Behauptungen« auf den Erzähler zurückzuführen, der die Berichte der Dorfbewohner zusammenfasst und seine Sichtweise in die 31 Vgl. hierzu das nachfolgende Kap. 3.2.

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Darstellung einfließen lässt. Statt die Betonung auf den Glauben des Bauern und seine Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche zu legen, richtet er den Fokus auf die Glaubensaussagen und suggeriert, diese seien zum Teil unglaubwürdig. Damit einher geht die Beurteilung der evangelischen Kirche als einer Institution, der man höchstens teilweise Glauben schenken könne. Die Sichtweise des Erzählers gewinnt dadurch an Plausibilität, dass der Pastor im Gespräch mit Karin und Karsch erst auf eine uneinheitliche Praxis der evangelischen Kirche bei der Beerdigung von Suizidenten hingewiesen werden muss (vgl. DBA, 176). Neben dem Pastor ist der Bauer die einzige Figur im Roman, die als religiös charakterisiert wird. Die allein vom Umfang her geringe Bedeutung dieser beiden Figuren vermittelt einen Eindruck von der marginalen Relevanz, die dem religiösen Diskurs innerhalb des Romans zukommt. Für die drei Protagonisten spielen der christliche Glaube und entsprechend auch die Institution Kirche keine bedeutende Rolle, obwohl sie in ihrer Kindheit und Jugend durchaus präsent gewesen sind. Während für Karin die christliche Ethik bis in die Gegenwart der erzählten Zeit handlungsleitend ist, lehnt Achim das Religiöse als unwirksam ab. Deutlich wird daran zweierlei: Die Themen Religion und Kirche werden stets in politischen Zusammenhängen verortet. Als Ursache dieser Darstellung finden sich implizite Hinweise auf eine gegen Kirche und Religion gerichtete Politik, die in der Zeit des Nationalsozialismus begann und in der SBZ und DDR nach 1945 ihre Fortsetzung fand. Weitergehend ausgeführt wird das Wechselverhältnis von Politik und Religion durch die Integration eines theologisch-kirchengeschichtlichen Diskurses in den Roman.

3.2

Theologisch-kirchengeschichtlicher Diskurs: »und wo er liegt ist nicht die Selbstmörderecke«

Wie soll mit Suizidenten umgegangen werden? Dürfen sie kirchlich bestattet werden? Muss ihnen eine Bestattung aus christlicher Sicht verweigert werden? Ist eine christliche Bestattung möglich, wenn sich ein Suizid auf bestimmte Ursachen zurückführen lässt? Diese und ähnliche Fragen beschäftigen Vertreter der christlichen Kirchen seit Jahrhunderten. Lange Zeit prägend war das Nein Augustinus zum Suizid. In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, einer Zeit, in der der religiöse Suizid als eine spezielle Form des Martyriums angesehen wurde, argumentierte Augustinus für ein rigoroses Verbot des Suizids:32

32 Vgl. Anna Christ-Friedrich: Suizid. II. Theologisch, in: TRE, Bd. 32: Spurgeon–Taylor, Berlin 2001, S. 445–453, hier: S. 447.

Theologisch-kirchengeschichtlicher Diskurs

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Gewiß wird kein menschliches Gefühl zögern, solchen Frauen Verzeihung zu wünschen, die, um nicht derartiges [= Schändungen, P. O.] zu erleiden, sich selbst ums Leben gebracht haben. Und andererseits wäre es sehr unverständig, denen einen Vorwurf zu machen, die sich nicht umbrachten, weil sie nicht mit einem eigenen Verbrechen ein fremdes vermeiden wollten. Es ist ja nicht einmal erlaubt, aus eigener Vollmacht einen Verbrecher umzubringen, solange nicht das Gesetz seine Tötung gestattet. Deshalb ist auch, wer sich selbst umbringt, unweigerlich ein Mörder.33

Augustinus führt diese uneingeschränkte Gültigkeit auf das biblische Tötungsverbot aus Ex 20,13 zurück und konstatiert: »›Du sollst nicht töten‹, weder den andern also, noch sich selbst. Denn wer sich selbst tötet, der tötet nichts andres als den Menschen.«34 Dennoch relativiert er unmittelbar im Anschluss, dass »[d]er gleiche göttliche Wille […] gewisse Ausnahmen zugelassen« habe, in denen ein Befehl zum Töten erteilt werde, »sei es durch ein gegebenes Gesetz, sei es in bezug auf eine bestimmte Person zu gegebener Zeit durch ausdrücklichen Befehl«.35 Mehr als 700 Jahre später bekräftigte Thomas von Aquin die theologische Absage des Augustinus an den Suizid und führt hierfür, so Anna Christ-Friedrich, drei Hauptargumente an: »Selbsttötung verstößt individualethisch gegen die natürliche Neigung der Selbsterhaltung (inclinatio naturalis), gegen die Gemeinschaft (iniuria communitati) und ist theonom eine Sünde gegen Gott.«36 Die theologische Beweisführung, wonach es einzig Gott als dem Schöpfer des Lebens zustehe, über dessen Ende zu verfügen, bestimmte über mehrere Jahrhunderte die christliche Ethik zum Umgang mit dem Thema ›Suizid‹.37 Noch eine Handreichung für Lehre und Ordnung in Taufe, Trauung und Bestattung aus dem Jahr 1953 hält fest, dass ein Suizid »in jedem Fall Versündigung gegen den Herrn über Leben und Tod ist«,38 weil Gott allein das Richteramt zustehe. Auch wenn die rigorose Ablehnung seit dem Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit durch den verstärkten Blick auf die Motive von Suizidenten zunehmend relativiert wurde,39 blieb die kirchliche Praxis bis ins 20. Jahrhundert durch die 33 Aurelius Augustinus: Der Gottesstaat. De civitate Dei, Bd. 1: Buch I–XIV, aus dem Lateinischen übers. von Carl Johann Perl, Paderborn 1979, S. 39. 34 Ebd., S. 49. 35 Ebd. Als Beispiel für einen Suizid auf Gottes Befehl hin führt Augustinus Simson an, der den Tempel mitsamt seinen Feinden über sich einstürzen lässt; vgl. Ri 16,28–30. 36 Christ-Friedrich, Suizid, S. 448; Kursivdruck im Original. 37 Vgl. ebd. 38 Pastoralkolleg Ilsenburg (Hg.): Wasser, Ring und Erde. Handreichung für Lehre und Ordnung in Taufe, Trauung und Bestattung, Berlin 1953, S. 157. 39 Luther etwa diskutiert in einer Tischrede den Unterschied zwischen satanisch verursachtem und aus der Not heraus begangenem Suizid: »Ego non sum in ea sententia, ut penitus damnandos eos censeam, qui se ipsos occidunt; ratio est, quia sie thun es nit gern, sed superantur Diaboli potentia, wie einer yn eim walt on einem latrone ermordet wurdt. Non tamen hoc vulgo docendum est, ne Satanae occasio praebeatur caedium faciendarum […].

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Verweigerung einer kirchlichen Bestattung bestimmt.40 Noch gemäß der Ordnung des kirchlichen Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) von 1955 musste ein christliches Begräbnis verweigert werden, sofern der Verstorbene »zwar Glied der evangelischen Kirche war, aber das Bekenntnis zu Jesus Christus offensichtlich verworfen oder öffentlich geschmäht hat, oder wenn er trotz ernster persönlicher Mahnung und Warnung in mutwilligem Ungehorsam gegen die Gebote Gottes verharrt hat«.41 Explizit auf die Bestattung von Suizidenten bezogen, heißt es wenig später: »Wo das kirchliche Begräbnis eines Selbstmörders für zulässig erachtet wird, ist jedes Gepränge zu vermeiden.«42 Der Konditionalsatz gewährt im Umkehrschluss die Möglichkeit, eine kirchliche Bestattung zu verweigern. Auch wenn durch die Berücksichtigung einer möglichen Mitschuld der Gemeinde, die sich fragen lassen müsse, »ob diese Sünde nicht auch ihre Schuld ist, weil sie es an Trost, Rat und Hilfe hat fehlen lassen«,43 die Notlage eines Suizidenten in Rechnung gestellt wird, so bleibt die Tat doch der Ordnung nach Sünde. Erst die Leitlinien des kirchlichen Lebens der VELKD von 2003 halten ausdrücklich fest, dass keinem Gemeindemitglied »aufgrund seiner Todesumstände eine kirchliche Bestattung verwehrt werden«44 dürfe. Für den im Roman geschilderten Fall des Todes eines Bauern hätte gemäß der Ordnung des kirchlichen Lebens der VELKD von 1955 die Möglichkeit bestanden, ein kirchliches Begräbnis zu verweigern. Diesen theologisch-kirchengeschichtlichen Diskurs stellt der Erzähler in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang der (Zwangs-)Kollektivierung in den Jahren 1959/60. Einen ungefähren Eindruck, wie dezidiert Johnsons Beschäftigung mit theologischen Beurteilungen des Suizids gewesen sein muss, vermittelt die Attribuierung jenes Bauern. Von den Einwohnern des Dorfes, so jedenfalls stellt es der Erzähler dar, wird er »nicht beschrieben als ein Eigensinniger« (DBA, 175), gezeigt haben soll er sich »kaum je ratlos« (DBA, 176). Stattdessen wird er charakterisiert als jemand, »der Freude

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Fiunt autem huiusmodi exempla, das uns unser Herrgott damit weysen will, das der Teuffel ein herr sey, item, das man vleissig sol betten. Nisi enim haec exempla fierent, non timeremus Deum; ergo mus er uns so lernen«; Martin Luther: Tischrede. Nr. 222, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 2: Tischreden. 1531–46, Bd. 1: Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, Weimar 1912, S. 95. Vgl. hierzu Frank-Michael Kuhlemann: Suizid. II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, Bd. 7: R–S, Tübingen 2004, Sp. 1851f., hier: Sp. 1851. Vgl. ebd. Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Berlin 1955, S. 21. Ebd. Ebd. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (Hg.): Leitlinien des kirchlichen Lebens der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Handreichung für eine kirchliche Lebensordnung, Gütersloh 2003, S. 89.

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hatte an der Arbeit« und »mitten im Dorf lebte vertraut und vertraulich und nicht einmal achtenswerter als der Nachbar« (DBA, 176). Die Charakterisierung des Bauern rekurriert, so scheint es, auf eine Differenzierung, mit der sich bereits Augustinus konfrontiert sah: Der Bauer und der Handwerker erhängen sich, um dem Elend und dem Leiden zu entrinnen; der Ritter und der Geistliche lassen sich töten, um der Demütigung zu entgehen und den Ungläubigen um seinen Triumph zu bringen – direkter, nach den Kategorien der Soziologie ›egoistischer‹ Selbstmord im ersten Fall; indirekter und ›altruistischer‹ Selbstmord im zweiten. Das Ziel ist das gleiche, auch wenn die Mittel und Motive differieren.45

Entsprechend dieser Standesunterscheidung wäre der Suizid des Bauern ein egoistischer. Die Charakterisierung mit nicht-egoistischen Attributen aber zeigt, dass eine stereotype Differenzierung wie diese vor dem zeitgeschichtlichen Kontext ins Leere läuft. Der Erzähler begründet die Tat als direkte Folge staatlicher Repression, die mit der (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft einhergeht. Den Bauer treiben die staatliche Willkür und die Ausweglosigkeit seiner Lage in den Tod. Dass der Erzähler die Figur als Beispiel eines zeitgeschichtlichen Phänomens zeichnet, wird anhand einer historischen Studie von Udo Grashoff zu Selbsttötungen in der DDR deutlich. Auf Grundlage von Zahlen zu Suizidenten in den Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg gelangt Grashoff in einer Hochrechnung zu dem Ergebnis, dass sich infolge der (Zwangs-)Kollektivierung mehr als 400 Bauern das Leben nahmen.46 Ebenso dokumentarischen Charakters ist die Beschreibung der staatlichen Repression im Roman. Das Vorgehen, eine »Dorfversammlung« einzuberufen, um die Bauern davon zu überzeugen, »ihren Besitz zu einer Genossenschaft umzubilden«, und anschließend mit einer »Brigade von Chemiearbeitern aus der Stadt« die unwilligen Bauern zu bedrängen (DBA, 215), ähnelt in erheblichem Maße der Dokumentation Grashoffs: Während die SED-Führung offiziell durchgängig verlautbarte, der Eintritt in die LPG solle stets freiwillig erfolgen, sah die Praxis vor Ort oft anders aus. Werbekolonnen belagerten regelrecht die Gehöfte und versuchten, die Bauern, nicht nur mit Argumenten, zu überzeugen. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt waren Agitatoren schon im Oktober 1959 im Einsatz, im Februar 1960 wurde der Einsatz massiv verstärkt. In Bauernver45 Georges Minois: Geschichte des Selbstmords, aus dem Französischen übers. von Eva Moldenhauer, Düsseldorf/Zürich 1996, S. 25f. 46 Vgl. Udo Grashoff: »In einem Anfall von Depression …«. Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, S. 216. Grashoff berücksichtigt dabei sowohl den Umstand, dass eine exakte Erfassung der bäuerlichen Suizide erst spät erfolgte, als auch die Schwierigkeit, einen jeden Suizid unmittelbar als Folge der (Zwangs-)Kollektivierung zu typisieren. Demnach gelangt er auf eine ähnliche Zahl wie der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ), der »von 1958 bis 1960 insgesamt 484 Selbsttötungen von Bauern in der DDR« zählte; ebd., S. 214.

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sammlungen wurde deutlich gemacht, dass das Ziel darin bestand, alle Bauernwirtschaften in genossenschaftliches Eigentum zu überführen. Lautsprecherwagen fuhren durch die Dörfer und gaben die Namen der Bauern bekannt, die nicht in die LPG eintreten wollten. Gehöfte von widerständigen Bauern wurden nachts mit Scheinwerfern angestrahlt. Mehrfach wurde mit Verhaftung gedroht […].47

Eine staatlich forcierte, repressive Kollektivierung der Landwirtschaft, in deren Folge sich mehr als 400 Landwirte das Leben nehmen, zwang die Kirchen in der DDR zur (Neu-)Bewertung des Suizids unter Berücksichtigung der politischen Situation. Die Entscheidung für oder gegen ein christliches Begräbnis für einen solchen Suizidenten war mittelbar nicht nur eine theologische, sondern ebenfalls eine politische Entscheidung. Sowohl apolitisch als auch atheologisch scheint sich hingegen der Pfarrer des Dorfes zu verhalten, der die Frage bzw. den Konditionalsatz, »[w]enn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden« (DBA, 176), nicht versteht. Kaum vorstellbar, dass sich ein Kirchenvertreter des »kritischste[n] Fall[s]«48 kirchlicher Bestattungspraxis nicht bewusst ist. Die Beschreibung des Gesprächskontextes durch den Erzähler, wonach sich der Pfarrer »mit wortkarger Würde« (DBA, 176) beträgt, deutet jedoch auf die Möglichkeit hin, das Verhalten des Geistlichen sehr wohl als ein politisches zu interpretieren. Der Pfarrer macht nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch, dem Bauern eine kirchliche Bestattung zu verweigern. Stattdessen habe »ein regelmäßiges Begräbnis stattgefunden, und wo er liegt ist nicht die Selbstmörderecke. […] Andere Geistliche haben sich anders verhalten; es gab auch Bauern, die über die Grenze liefen; und die meisten blieben zu Hause unter dem neuen Vertrag.« (DBA, 176) Die Gegenüberstellung lässt sich einerseits als Vorwurf interpretieren, der sowohl an den Pfarrer, der sich der christlichen Dogmatik, die durch Dietrich Bonhoeffer trotz der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges bestätigt wurde,49 als auch an andere Geistliche, die trotz des zeitgeschichtlichen Kontextes an eben jener Dogmatik festhalten, gerichtet ist. Andererseits kann die 47 Ebd., S. 211. 48 Pastoralkolleg Ilsenburg (Hg.), Wasser, Ring und Erde, S. 157. 49 Bonhoeffer, Ethik, S. 193f.: »Der Selbstmord ist der Versuch des Menschen einem menschlich sinnlos gewordenen Leben einen letzten menschlichen Sinn zu verleihen. […] Wenn nun dennoch von der Verwerflichkeit des Selbstmordes gesprochen werden muß, so gilt das nicht vor dem Forum der Moral oder der Menschen, sondern allein vor dem Forum Gottes.« Bonhoeffer selbst dachte während seiner Inhaftierung in Tegel über die Möglichkeit eines Suizids nach und notierte auf einem Zettel: »Selbstmord, nicht aus Schuldbewußtsein, sondern weil ich im Grunde schon tot bin, Schlußstrich, Fazit«; Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, in: ders.: Werke, hg. von Eberhard Bethge u. a., Bd. 8, hg. von Christian Gremmels, Eduard Betghe und Renate Betghe, Gütersloh 1998, S. 64. Vgl. hierzu Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, 5. Aufl., München 1983, S. 934.

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Aussage als ein Indiz für eine Kirche gewertet werden, deren Vertreter in sich inkonsistent agieren. Setzt man die Aussage des Erzählers, dass sich andere Geistliche anders verhalten haben, mit den nachfolgenden Teilsätzen in Beziehung, ändert sich das Bild. Nicht nur andere Pfarrer haben sich anders verhalten, sondern auch andere Bauern. Eine Bewertung des Verhaltens von Geistlichen wird damit relativiert, wenn nicht gar negiert. Angesichts staatlicher Repressalien erscheinen die Kategorien Richtig und Falsch als unzureichend. In der persönlichen Not bestehen vielmehr verschiedene Möglichkeiten, sich zur politischen Situation zu verhalten. Inwieweit ein solches Verhalten richtig oder falsch ist, lässt der Erzähler an dieser Stelle wie schon in den Mutmassungen über Jakob unbeantwortet. Neben der Möglichkeit, einem Suizidenten ein christliches Begräbnis zu versagen oder aber dieses ›still‹, ohne »jedes Gepränge«,50 zu gewähren, verweist der Erzähler mit der Erwähnung der »Selbstmörderecke« auf eine gängige Bestattungspraxis. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurden Suizidenten an besonderen Orten, »außer der Reihe«,51 beigesetzt. Aufgrund unterschiedlicher Begräbnisvorschriften in den Landeskirchen lässt sich nur schwer zurückverfolgen, bis wann diese Form der Bestattung erlaubt war bzw. praktiziert wurde. Johnson erwähnt in seiner Rede zum Bußtag, dass die mecklenburgische Landeskirche im Jahr 1922 den Gebrauch von Arme-Sünder-Ecken bzw. Selbstmörderecken untersagte (vgl. BS, 50). In einem Artikel des Spiegel vom 13. November 1957, der Johnson als Quelle für seine Rede diente, wird jedoch beschrieben, wie sich der Probst Otto Maercker aus dem mecklenburgischen Pampow bei der Bestattung der 19-jährigen Edeltraut Andersson über diese Bestimmung hinwegsetzte. Da ihre Teilnahme an der Jugendweihe seiner Meinung nach »gleichbedeutend mit einer Absage an die Kirche« zu verstehen sei, verfügte er, die junge Frau »nicht ›in der Reihe‹, sondern abseits der anderen Gräber, am Zaun des Friedhofs« beizusetzen.52 Ähnliches ist über den wahrscheinlich aufsehenerregendsten Suizidfall bekannt, der sich in der ehemaligen DDR ereignete: Oskar Brüsewitz, Pastor der Gemeinde von Rippicha im Süden des Bezirks Halle, verbrannte sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche in Zeitz. In einem an seine Familie gerichteten Abschiedsbrief bestimmte er, auf dem Friedhof seiner Gemeinde in der sogenannten Selbstmörderecke begraben zu werden.53 Vorkehrungen hierzu

50 Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 42. 51 Thomas K. Kuhn: Suizid. III. Kirchliche Praxis und Stellungnahmen, in: RGG4 7, Sp. 1852f., hier: Sp. 1852. 52 Das Grab in der Reihe, in: Der Spiegel, Nr. 46 vom 13. 11. 1957, S. 23–26, hier: S. 24f. 53 Vgl. Helmut Müller-Engbers/Heike Schmoll/Wolfgang Stock: Das Fanal. Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz und die evangelische Kirche, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 80.

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hatte er getroffen, indem er sein eigenes Grab auszuheben begann.54 Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Selbstmörderecken, wie sie Johnson in Das dritte Buch über Achim erwähnt, zumindest in der Praxis noch bis in die 1970er Jahre existierten. Der Bauer in Johnsons Roman erhält ein reguläres christliches Begräbnis und wird entsprechend nicht in der Selbstmörderecke des Friedhofes begraben. Einzig mit den Kränzen soll etwas »geschehen sein oder nicht geschehen sein« (DBA, 176). Immerhin beschreibt der Erzähler, wie an einer »niedrigen Mauer zwei frische Grabhügel« lagen, »einen deckten Blumen und Kränze, der andere lag blank und lehmig« (DBA, 174f.). Aufgrund der Reaktion des Pastors lässt sich dieser Hinweis dahingehend interpretieren, dass die Blumen und Kränze vom Grab des Bauern auf staatliche Anordnung hin nicht zugelassen oder entfernt wurden. Die Bestattung eines Bauern als mittelbare Folge des massiven Eingriffs des Staates in das Grundrecht seiner Bürger auf Eigentum55 veranschaulicht die Konfrontation der Kirche und ihrer Dogmatik mit dem staatlichen Vorgehen. Der theologisch-kirchengeschichtliche Diskurs zum Umgang mit Suizidenten trifft mit der (Zwangs-)Kollektivierung auf einen politischen Diskurs, der die christliche Dogmatik auf die Probe stellt. Verhandelt werden dabei nicht nur Fragen der Bestattung, sondern wie schon in Johnsons ersten beiden Romanen die Problematik, wie viel von der staatlichen Obrigkeit verursachtes Leid die Kirche ihren Gemeindemitgliedern qua paulinischen Erbes zumutet. Deutlich impliziter als in Ingrid Babendererde und in den Mutmassungen über Jakob wird auch in Das dritte Buch über Achim auf die Zwei-Regimente-Lehre Luthers angespielt. Die Bemerkung des Erzählers, dass sich andere Bauern anders verhalten hätten, wird dabei, so scheint es, bewusst nachgeordnet. Nicht das Verhalten des Gemeindemitglieds steht im Zentrum, sondern die Kirche steht vor der Herausforderung, wie sie die Konfrontation von kirchlicher Dogmatik und staatlicher Repression moralisch löst. Der theologisch-kirchengeschichtliche ist zugleich ein ethischer Diskurs, in dem die Kirche angesichts ihres disparaten Verhaltens in dieser konkreten Frage nach ihrer zentralen Aufgabe befragt wird.56 54 Vgl. Gerhard Haase: Die auf Gott vertrauen …, in: Die Welt vom 17. 8. 2011. URL: https://www. welt.de/print-welt/article468417/Die-auf-Gott-vertrauen.html [Zugriff vom 31. 5. 2020]. 55 Vgl. Art. 22 I Verf. DDR von 1949: »Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen und den sozialen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft«; vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 23. 56 Johnson macht den Umgang der Kirche mit dem menschlichen Tod acht Jahre später zum zentralen Thema seiner Rede zum Bußtag und fällt ein vernichtendes Urteil: »Vorderhand ist es in den meisten Fällen der Tod selbst, der seine Würde herstellt, und nicht die Kirche, so passende Dekorationen sie liefert. Meine Erfahrungen – und es steht Ihnen frei, mir ihre Verallgemeinerungen zu verbieten; es wird nicht möglich sein, sie mir wegzunehmen – meine Erfahrungen mit Beerdigungen, die ich selbst besorgt habe, sind in der Tat nur meine Erfahrung. Der eine Pfarrer sagte bei der Vorbesprechung für seinen Auftritt am Sarg: Ja, wenn

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Auf die Probe gestellt sieht sich auch Karin, für die die Ereignisse im Dorf ein Schlüsselerlebnis darstellen. Die Folgen der (Zwangs-)Kollektivierung offenbaren ihre ethische Grundhaltung, auf die an späterer Stelle näher eingegangen wird.57 Als Aushängeschild des Staates weigert sich die »junge und viel versprechende Schauspielerin« (DBA, 133), eine Erklärung zu unterzeichnen, nach der es »glückhaft gewesen [sei] wie der Sachwalter die bäuerlichen Eigentumsformen hatte verändern lassen« (DBA, 244). Infolge eines Zeitungsberichts zum Vorfall im Dorf versagt sie auch ihre Unterschrift unter eine »Empörung gegen die gaunerhaften Methoden westdeutscher Berichterstattung« (DBA, 179). Achim geht ihr daraufhin aus dem Weg, was die Trennung der beiden einleitet. Insofern lässt sich die (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft mit dem Suizid eines Bauern als Wendepunkt des Romans bestimmen. Bevor der zentrale Konflikt zwischen den beiden ostdeutschen Protagonisten näher dargestellt wird, soll zunächst der sprachliche Diskurs untersucht werden. In ihm werden die politischen Maximen des ostdeutschen Staates ausgestellt, von denen sich Karin zu emanzipieren beginnt.

3.3

Sprachlicher Diskurs: »verstellte Sprache«

Mit ihrem Anruf bei Karsch, versehen mit der Bitte, »ohne Freundlichkeit und erklärt mit nichts« (DBA, 10), zu ihr zu kommen, unternimmt Karin einen letzten Versuch,58 die zunehmende Distanz zwischen Achim und sich zu überbrücken. Hierzu soll der Radrennfahrer, über den es schon zu Beginn des Romans heißt, »[d]er Staat liebte ihn, er liebte den Staat« (DBA, 39), mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden, um so sein gegenwärtiges Leben zu überdenken. Aus dem persönlichen Vorhaben der Freundin erwächst ein Biografievorhaben, das zunächst einen Beitrag auf der »sonntäglichen Seite für Kunst und Literatur« (DBA, 37) der örtlichen Zeitung, später eine Biografie in Buchform (vgl. DBA, 39f.) zum Ziel hat. Das Vorhaben scheitert aufgrund nicht miteinander vereinbarer Vorstellungen, wie eine Biografie über Achim auszusehen habe. Doch dieses Scheitern wird nicht erst gegen Ende des Romans deutlich, als Karsch resignierend feststellen muss, »[i]ch kann es mir nicht vorstellen« und »[m]ir fällt nichts mehr ein« (DBA, 267). Bereits zu Beginn des Romans verweist der Erzähler auf Umstände, die das Unterfangen unmöglich erscheinen lassen. Statt östlich der Grenze »GemeinSie eine Spende geben wollen? Der andere sagte: Wo denken Sie hin, uns für Beerdigungen bezahlen zu wollen! Dafür sind wir doch da. Das mag ja sein.« (BS, 50f.) Vgl. hierzu Erster Teil, Kap. 1.2. 57 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3.4.2. 58 Vgl. hierzu auch Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 214.

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samkeiten der deutschen Nation« (DBA, 36) wahrzunehmen, bemerkt Karsch schon in den ersten Tagen nach seiner Ankunft, dass er sich selten »an die gemeinsame Vorgeschichte der beiden deutschen Staaten« (DBA, 21) erinnert fühle. Der Journalist erkennt, dass die Grenze, die der Erzähler gleich zu Beginn des Romans beschreibt, für mehr steht als nur die territoriale Trennung innerhalb seines Landes. Der östliche Teil Deutschlands lässt sich in die »Ähnlichkeit aller Städte seiner Welt« (DBA, 21) nicht integrieren, bildet folglich eine andere Welt. Die Grenze wird so auch zur »literatische[n] Kategorie« (BS, 10), die das Schreiben des Autors, des Erzählers wie auch Karschs maßgeblich beeinflusst. Leuchtenberger hat darauf hingewiesen, dass mit der Integration dieses erzähltheoretischen Diskurses »auch die Sprache selbst zum Darstellungsgegenstand avanciert«.59 Auf der Erzähler-Ebene wird die Reflexion der Sprache bereits im ersten Satz zum Gegenstand des Romans gemacht, indem der Prozess und das Mittel des Erzählens, die Sprachwahl, hervorgehoben werden: »da dachte ich, schlicht und streng anzufangen so: sie rief ihn an, innezuhalten mit einem Satzzeichen, und dann wie selbstverständlich hinzuzufügen: über die Grenze, damit du überrascht wirst und glaubst zu verstehen.« (DBA, 7) Auf der ErzählEbene reflektiert der Erzähler bei Karschs Ankunft in der DDR darüber, dass es eine gemeinsame Sprache in den beiden deutschen Staaten nicht gebe,60 ihre Vergleichbarkeit nur mehr eine Täuschung sei: Die Sprache, die er verstand und mit der er verständlich über den Tag gekommen war, redete ihn noch oft in die Täuschung von Zusammengehörigkeit hinein, wieder hielt er beide Staaten für vergleichbar, wollte in Gedanken sie reinweg zusammenlegen, da doch ein vergessenes Ladenschild oder die Sprache oder das vertraute Aussehen öffentlicher Gebäude in einem Land an das andere erinnerten; dann aber gingen die Ähnlichkeiten nicht auf in einander: die golden und schwarz aufgemalte Zigarettensorte hatte man dort vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal kaufen können, die öffentlichen Gebäude regierte ein anderes Gesetz, dessen Sprache nämlich ordnete das Bild der Straße und nicht das Gespräch der Leute, die da gingen oder hier aus den Häusern niederblickten in der kühlen ruhigen Luft des Abends auf Kissen gestützt und redend: die Sprache der staatlichen Zeitungen verstand Karsch nicht. (DBA, 22)

Dass Karsch nicht in die Sprache des Landes findet (vgl. DBA, 18), führt der Erzähler auf deren Politisierung im ostdeutschen Staat zurück. Folgerichtig findet Karsch zur Sprache der als politisches Sprachrohr fungierenden Zeitung keinen Zugang. Es ist die »verstellte Sprache« (DBA, 39), die ihn beim Lesen eines Artikels über Achim den Entschluss treffen lässt, aus dem zunächst geplanten Zeitungsbeitrag ein drittes Buch über den Radrennfahrer schreiben zu wollen: 59 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 217. 60 Vgl. DBA, 10: »als wohnten sie in einer Stadt nebeneinander und hätten gleiche Worte für Vergleichbares.«

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»Das muß doch herauszukriegen sein.« (DBA, 39) Nachrichten, die über die Grenze der beiden deutschen Staaten hinausgehen, erreichen Karsch über die »städtisch regierende Zeitung« kaum, denn sie »berichtete nur von der kriegerischen Rüstung des westdeutschen Staates, sprach von ungerechten Gerichtsurteilen gegen Volksredner und von der zunehmenden Verrohung der Sitten« (DBA, 172f.). Doch auch ein Großteil der »westdeutschen Zeitungen« spricht »unüberhörbar von der kriegerischen Aufrüstung des ostdeutschen Staates, von ungerechten Gerichtsurteilen gegen Volksredner und wachsender Verrohung der hiesigen Sitten« (DBA, 173). Trotz der Parallelität der Zeitungsmeldungen in Ost- und Westdeutschland gibt es zwischen ihnen zwei zentrale Unterschiede: Für die DDR erwähnt der Erzähler zum einen nur ein Publikationsorgan, die »städtisch regierende Zeitung«, während die »westdeutschen Zeitungen« im Plural stehen. Karsch wird überdies als ein westdeutscher Journalist charakterisiert, der sich von den »viele[n], die das schrieben« (DBA, 173), abgrenzt. Die Pluralität von Zeitungen in der BRD ermöglicht trotz der ebenso anzutreffenden ideologisch-propagandistischen Berichterstattung eine Meinungsbildung, die bei nur einer Zeitung östlich der Grenze unmöglich erscheint. Zum anderen ist die ostdeutsche Zeitung nicht nur eine städtische, sondern eine »städtisch-regierende«. Die Attribuierung, die für die westdeutschen Zeitungen fehlt, verweist auf den Entstehungskontext ihres Inhalts: Dieser wird von der Regierung kontrolliert, wenn nicht verordnet, und fungiert primär als Medium der politischen Erziehung und nur bedingt der Information der Leser. Obwohl die politische Propaganda auch in den westdeutschen Medien an der Tagesordnung ist, wird diese weder staatlich verordnet noch beschränkt sich ihr Inhalt in einer breiter gefächerten Medienlandschaft auf nur eine didaktische Aussage. Dementsprechend konzentriert sich die Kritik des Erzählers und Karschs in erster Linie auf die politisch instrumentalisierte Sprache in der DDR, die wie schon in Johnsons vorherigen Romanen einer grundlegenden Kritik unterzogen wird. Dass zu dieser Kritik maßgeblich Verweise auf die Heilige Schrift beitragen, soll im nächsten Abschnitt gezeigt werden. Im darauffolgenden Kapitel wird sowohl die Sprache des Erzählers, als auch die der Figuren Karsch und Achim noch einmal genauer in den Blick genommen, um neben der Sprachkritik mögliche weitere Facetten eines biblischen Tonfalls in Das dritte Buch über Achim aufzuspüren.

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Das dritte Buch über Achim

3.3.1 Sprachkritik: »Menschen guten Willens« Nach etwas mehr als einer Woche in der DDR tritt »[e]ines Mittags« ein Mann an Karschs Tisch, der als ein »Magerer Langer« beschrieben wird (DBA, 35). Jener stellt sich als ein Journalistenkollege vor, von der »Zeitung für Stadt und Bezirk, deren Redaktion er vertrete« (DBA, 36). Er fragt Karsch nach seinen ersten Eindrücken im Land, woraufhin dieser ihm antwortet, dass eine Woche nicht ausreiche, weil er »immer nur das Straßenbild« (DBA, 36) zu sehen bekomme. Mit der Metapher des Straßenbildes leitet Karsch eine implizite Kritik am Sprachgebrauch östlich der Grenze ein. Nur wenige Seiten zuvor charakterisiert er diese Sprache als eine, die »das Bild der Straße und nicht das Gespräch der Leute« (DBA, 22) ordne. Der Journalistenkollege, Herr Fleisg, geht auf die Allegorie Karschs ein und antwortet ebenso sinnbildhaft: »Sie müßten die Oberfläche des Straßenbildes abheben können! Das Wichtigste geschieht unter ihr! […] Und selbst das Straßenbild gibt Aufschlüsse, wenn man nämlich an früher denkt!« (DBA, 36) Die sarkastisch anmutende Aufforderung, die Oberfläche abzuheben und ihr Darunter aufzuspüren, wird gesteigert bis zum Verweis auf den nationalsozialistischen Sprachgebrauch im ›Früher‹. Als Journalist der »Zeitung für Stadt und Bezirk« repräsentiert Herr Fleisg die Oberfläche, das Straßenbild. Seine Legitimation bezieht er aus dem Glauben, nicht nur die Redaktion zu vertreten, sondern »die Interessen der regierenden Partei nicht weniger wahrzunehmen als die der gesamten Bevölkerung« (DBA, 36). Auf Grundlage dieses ›Auftrags‹ sieht er im Aufenthalt von Karsch »einen Gast aus dem westlichen Bruderland […] den guten Willen zeigen« (DBA, 36). Herr Fleisg verspricht sich von der Begegnung Karschs, einem Vertreter der westdeutschen Publizistik, mit Achim, dem »Sinnbild für die Kraft und Zukünftigkeit des Landes«, ein »bedeutsames Schriftstück« (DBA, 36f.). Folgt man der Aufforderung, unter bzw. hinter die Oberfläche von Herrn Fleisgs Sprache zu schauen, erblickt man zweierlei. Zum einen werden Achim und seine Biografie im Sinne des sozialistischen Realismus als Mittel zum (politischen) Zweck funktionalisiert.61 Besonders deutlich wird dies während des zweiten Treffens zwischen Karsch und Herrn Fleisg, in dessen Verlauf Letzterer betont, wie die sozialistische Vorstellung einer Biografie über den Radrennfahrer Achim aussehe: mit der Beschreibung sämtlicher Radrennen nach dem Krieg und mit Anekdoten aus Achims Kindheit und dem Rennfahrerleben (nun ja! sagte er: die Bücher erfüllen ihren Zweck!) sei nicht die ganze Person gegeben. Die ganze Person aber sei der Einmarsch der sowjetischen Armee und der Aufbau einer neuen Wirtschaft und die neue Zufrie-

61 Vgl. Fries, Überlegungen zu Johnsons zweitem Buch, S. 215.

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denheit des Lebens und die fahnenschwenkenden Zuschauer am Rande der Rennstrecken alles in allem! (DBA, 49)

Keine Biografie im herkömmlichen Sinne, in der etwas über das Leben des Biografierten zu erfahren ist, sondern die Funktionalisierung von Achims Lebensgeschichte ist das erklärte Ziel des Staates, als dessen Vertreter Herr Fleisg auftritt. Im Rahmen der didaktischen Funktionalisierung, der Erziehung des Lesers einer solchen Biografie zum Sozialismus, wird Achims Popularität genutzt, um das »kulturelle[] Selbstbild«62 des ostdeutschen Staates, in dem immer wieder die Bedeutung des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen betont wurde,63 zu bestätigen.64 Die eigentliche Lebensgeschichte des Biografierten wird so zweitrangig und Achim zum bloßen Vehikel, zum Sinnbild der Staatspropaganda. Zum anderen verweist Herr Fleisg auf das ethische Selbstverständnis des Staates, indem er Karsch durch dessen Besuch den »guten Willen« zeigen sieht. Beim Entfernen der Oberfläche zeigt sich, dass die entsprechende phraseologische Wendung der ›Menschen guten Willens‹ eine indirekte Bibelreferenz auf das ›große Gloria‹ der lukanischen Weihnachtsgeschichte ist. Herr Fleisg führt an dieser Stelle ein geflügeltes Bibelwort ein, das in leichter Varianz zehn Mal in-

62 Michael Hofmann: Fremd und befremdlich. Die DDR in Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim, in: Hagestedt/ders. (Hg.), Uwe Johnson und die DDR-Literatur, S. 163–183, hier: S. 177. 63 Der aus dem Russischen entlehnte Begriff ›Kollektiv‹, der auf das lateinische collectivus zurückgeht, gehört zum politischen Wortschatz der DDR sowie anderer sozialistischer Länder und ist die Bezeichnung für eine Arbeits- und Produktionsgemeinschaft, die »auf gemeinsamen Zielvorstellungen, Überzeugungen und Präferenzen oder auf Zwang« beruht; Manfred G. Schmidt: Wörterbuch zur Politik, 3., überarb. und akt. Aufl., Stuttgart 2010, S. 406f. Vgl. auch Schlosser, Die deutsche Sprache in der DDR, S. 23f., 87. Eingang fand der Begriff auch in die Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik, die Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED verkündete: »Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen«; Walter Ulbricht: Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat. Referat und Schlußwort auf dem V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin, 10. bis 16. Juli 1958, Berlin 1958, S. 121. 64 Die Funktionalisierung Achims wird vom Erzähler persifliert, indem er auf die Frage, wer Achim war, antwortet: »Er war ein Rennfahrer, denn er fuhr mit anderen auf dem Rade und versuchte schneller zu sein als sie. Aber hatte er nicht Freunde? er war ein Freund von Leuten. War sein Beruf nicht der eines Bauzeichners? er arbeitete mit am Aufbau des Staates. Würde er eine Familie gründen? er würde die Gemeinschaft des Volksteils vermehren. Zeigte er der Welt sein Fahrrad, nicht auch seine Bürgerschaft? Was ist an einem solchen zu beachten für den Verein des Sachwalters: alles, vergiß nichts.« (DBA, 89) Vgl. hierzu weiter Paul Onasch: Erinnerung und Gedächtnis in geschlossenen Gesellschaften. Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim (1961), in: Michael Schmitz (Hg.): Literatur und Politik. Zwischen Engagement und »Neuer Subjektivität«, Trier 2017, S. 31–52.

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nerhalb des Romans vorkommt.65 Der Umstand, dass die Wendung an einigen Stellen erst als Korrektur zur ersten Fassung in den Text eingefügt wurde, zeugt von der Bedeutung, die Johnson genau dieser Wendung beimisst. Bevor auf den programmatischen Hintergrund des geflügelten Bibelwortes und ihre politische Verwendung in der DDR eingegangen wird, sollen zunächst der theologische Kontext und die Rezeptionsgeschichte skizziert werden. In der Weihnachtsgeschichte im Evangelium des Lukas wird von der Geburt Jesu in Bethlehem, der »Stadt Davids«,66 erzählt. Durch einen Engel des Herrn werden einer Gruppe von Hirten die frohe Botschaft und die Zeichen verheißen, an denen sie den Heiland erkennen werden. Das unmittelbar darauf einsetzende Ereignis ist innerhalb der biblischen Erzählungen einzigartig. Neben dem Engel des Herrn kommt die »Menge der himmlischen Heerscharen«,67 der »gesamte himmlische Hofstaat, der Gottes Thron umgibt«,68 auf die Erde herab, um Gottes Lobpreis zu verkünden: »14Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«69 In dieser heute als gesichert geltenden Übersetzung ist das griechische ευδοχίας, bei Luther mit ›Wohlgefallen‹ übersetzt, auf Gott bezogen. Dessen Wohlgefallen stifte durch Jesus Christus Frieden auf Erden und damit zwischen den Menschen. In der Vulgata wurde das ›große Gloria‹ hingegen mit »gloria in altissimis Deo et in terra pax (in) hominibus bonae voluntatis« übersetzt. Das bonae voluntatis kann grammatikalisch auf Gott (Deo) als auch die Menschen (hominibus) bezogen werden. Seit der Spätantike wurde der gute Wille, das Wohlgefallen anthropologisch gedeutet: Der göttliche Friede gelte den ›Menschen guten Willens‹70 – eine Wendung, die im Laufe der Zeit idiomatisiert wurde. In der gegenwärtigen Bibelexegese wird ευδοχίας wie in Luthers Bibelübersetzung auf Gott bezogen, der den Menschen Frieden in dreifacher Hinsicht stifte: mit Gott, zwischen den Menschen und mit sich selbst.71 Dieser im Lukasevangelium entwickelte eschatologische Frieden ist dabei in Abgrenzung zum irdischen Frieden, dem Pax Romana (zunächst auch Pax Augustana), zu verstehen. Die Phase des Pax Romana bestand seit der Herrschaft Kaiser Augustus, der infolgedessen als »Friedensbringer[]«72 verherrlicht wurde, bis in die zweite 65 Neben der bereits zitierten Stelle in DBA, 36 findet sich die Wendung in DBA, 47, 53, 67, 123, 133, 167, 179, 203 und 215. Klaus weist auf die Häufung der Formel hin, berücksichtigt jedoch nicht die erste Erwähnung im Roman und die intertextuelle Beziehung zum Lukasevangelium; vgl. Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 207f. 66 Lk 2,4. 67 Lk 2,13. 68 Michael Wolter: Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, S. 130. 69 Lk 2,14. 70 Vgl. Bovon, Evangelium nach Lukas 1, S. 128. 71 Vgl. Wiefel, Evangelium nach Lukas, S. 74. 72 Ebd., S. 74, Anm. 15.

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Hälfte des zweiten Jahrhunderts, dem Ende der antoninischen Dynastie.73 Aufstände innerhalb der römischen Bevölkerung oder in Landesteilen des Römischen Reiches wurden aufgrund des ›von oben‹ verordneten Friedens niedergeschlagen, darunter auch das Wirken der jüdischen Sekte um Jesus von Nazareth. Jesus und die frühen Christen hätten, so Klaus Wengst, dem Pax Romana, der durch »Gegensätze und Feindschaft« geprägt gewesen sei, einen Frieden gegenüberstellen wollen, in dem diese Gegensätze aufgehoben seien und der eine »neue Schöpfung« bedeute, »die am Rande der Gesellschaft Gestalt gewinnt«.74 Diese frühchristliche Intention wird im lukanischen Doppelwerk aufgegriffen, das zwischen 80 und 90 n. Chr. abgefasst wurde und damit ebenso in die Zeit des Pax Romana fällt.75 Die biblische Wendung der ›Menschen guten Willens‹ entwickelte sich zum geflügelten Wort, ohne dass ihr religiöser Gehalt im Verlauf der Idiomatisierung verloren ging. Noch heute handelt es sich bei ihr um eine kirchliche Wendung. Zurückführen lässt sich dies auf den Eingang des ›großen Gloria‹ in die christliche Liturgie im vierten Jahrhundert. Im frühen Mittelalter wurde Lk 2,14 als liturgischer Standard kanonisiert, blieb bis zum zwölften Jahrhundert der päpstlichen Verwendung vorbehalten, wurde aber spätestens mit der Reformation in ihrem Gebrauch demokratisiert. Heute bildet das ›große Gloria‹ ein »prominentes Stück Liturgie«.76 Die kirchliche Wendung der ›Menschen guten Willens‹ wird durch Herrn Fleisg außerhalb eines kirchlichen Kontextes gebraucht. Die Verwendung durch den Vertreter eines staatlichen Publikationsorgans legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den ›Menschen guten Willens‹ um eine in die politische Sprache des ostdeutschen Staates überführte Formel handelt. Der Blick in das Zentralorgan der SED, das Neue Deutschland, bestätigt diese These. Die erste Nennung der ›Menschen guten Willens‹ im Neuen Deutschland erfolgte in der Ausgabe vom 27. Februar 1948 durch ein Zitat aus der tschechoslowakischen Zeitung Svobodné noviny (Lidové noviny) im Zusammenhang mit ˇ um Klement Gottwald.77 Am 16. September desdem Februarputsch der KPC 73 Vgl. Klaus Wengst: Pax Romana: Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986, S. 17. 74 Ebd. 75 Die Entstehung des Lukasevangeliums wird zwischen 80 und 90 n. Chr., die der Apostelgeschichte kurz nach Abschluss des Lukasevangeliums angenommen; vgl. Dietrich Rusam: Das Lukasevangelium, in: Ebner/Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, S. 184–207, hier: S. 198f.; ders., Apostelgeschichte, S. 240. 76 Thomas Klie: Glorifizieren. Liturgiedidaktik am Beispiel des Hymnus angelicus, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 60, 2008, S. 37–47, hier: S. 43. 77 Vgl. Der Sieg der Demokratie in der Tschechoslowakei, in: Neues Deutschland, Nr. 49 vom 27. 2. 1948, S. 1: »Anstatt des Chaos und der Zwietracht sind wir Zeuge einer spontanen nationalen Erhebung gewesen, die, ohne Rücksicht auf parteipolitische Differenzen, alle

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selben Jahres wird in der Zeitung Alexander Abusch, inzwischen Bundessekretär des Kulturbundes und Mitglied des Parteivorstandes der SED, zitiert.78 Er habe auf dem vom 26. bis 30. August 1948 in Wrocław (Breslau) stattgefundenen Weltkongress der Kulturschaffenden zum Schutz des Weltfriedens auf die entscheidende Quintessenz des Kongresses hingewiesen: Das Gespräch der Menschen guten Willens habe begonnen, und die deutsche Delegation habe als gleiche unter gleichen auftreten dürfen. Der Kongreß müsse zum Ausgangspunkt einer starken Friedensbewegung, einer Internationale der freien Geister in aller Welt werden. Prüfstein des freiheitlichen Geistes sei heute die Freundschaft mit der Sowjetunion und den Volksdemokratien.79

Das Redaktionskollegium des Neuen Deutschland appelliert als Reaktion auf einen externen Beitrag zum Verhältnis von Christentum und Sozialismus im Juni 1949 gar an »alle Gutwilligen über diese Schranken hinweg zur großen Nationalen Front zusammen[zu]finden«.80 In den 1950er Jahren erhöht sich die Frequenz des geflügelten Bibelwortes im Zentralorgan der SED bis hin zur Nennung in 49 Artikeln im Jahr 1951. Am 24. September 1958 wird die Rede des ersten Sekretärs des Zentralkomitees der Partei auf dem III. Kongress der Nationalen Front abgedruckt. Angesichts der am 16. November 1958 stattfindenden Wahl zur dritten Volkskammer ruft Ulbricht zur »Einigung aller Menschen guten Willens in der DDR«81 auf. Für das Jahr 1960, in dem Johnson an der ersten Fassung des Romans arbeitete und die erzählte Zeit der Gegenwartshandlung auf der Erzähl-Ebene sowie auch der Erzähler-Ebene spielt, lassen sich 36 Artikel nachweisen, in denen die Wendung von den ›Menschen guten Willens‹ gebraucht wird. Für das Jahr 1961, in dem der Roman fertiggestellt und veröffentlicht wurde, 29 Artikel. Am Neujahrstag 1960 wird das geflügelte Bibelwort gleich in drei Artikeln verwendet. Der Präsident der Republik, Wilhelm Pieck, äußert in einem Rückblick auf das vergangene Jahr seine Freude darüber, dass die »Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sowie alle Menschen guten Willens in Westdeutschland« glücklich seien, weil sie »das Jahr 1959 in Frieden verleben konnten«.82 Für den Generalsekretär des Deutschen

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Menschen guten Willens vereint hat. Es hat keine Zusammenstöße und keine Unruhen gegeben«. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 124. Internationale der freien Geister. Bericht der deutschen Delegation über Breslau im Kulturbund, in: Neues Deutschland, Nr. 215 vom 16. 9. 1948, S. 3. Nachwort des Redaktionskollegiums, in: Neues Deutschland, Nr. 133 vom 10. 6. 1949, S. 4. Walter Ulbricht: Die Gemeinschaft des Volkes schafft Wohlstand und Glück im Sozialismus. Rede des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees, Genossen Walter Ulbricht, auf dem III. Kongreß der Nationalen Front, in: Neues Deutschland, Nr. 230 vom 24. 9. 1958, S. 1, 3–5, hier: S. 4. Wilhelm Pieck: Ihnen allen Prosit Neujahr!, in: Neues Deutschland, Nr. 1 vom 1. 1. 1960, S. 1.

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Friedensrates, Hein Willmann, zeige der Düsseldorfer Prozess gegen Mitglieder des westdeutschen Friedenskomitees83 die Vorgehensweise, wie in der BRD »die um Verständigung und Frieden bemühten Menschen mundtot gemacht werden«.84 Die Friedensbewegung in der DDR werde hingegen »in engster Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens in Westdeutschland das Ihre tun, um diese Pläne zu durchkreuzen«.85 Ein drittes Mal findet sich der Aufruf an »alle Menschen guten Willens« im Zusammenhang mit der »Großbaustelle« im Ostteil Berlins: »Ran an den Aufbau des Zentrums unserer Deutschen Demokratischen Republik, wo für ganz Deutschland der Frieden und Freiheit, der Humanismus und Sozialismus seine Hauptstadt haben.«86 Diese Beispiele aus dem Neuen Deutschland vermitteln einen Eindruck, dass durch den Redakteur der Zeitung für Stadt und Bezirk eine phraseologische Wendung in Das dritte Buch über Achim eingeführt wird, die seit Anfang der 1950er Jahre fester Bestandteil der politisch-ideologischen Terminologie in der DDR war. Die politische Programmatik der Wendung und die damit verbundene Sprachkritik im Roman soll anhand einiger Bezugnahmen auf die ›Menschen guten Willens‹ verdeutlicht werden. Karschs Versuch, Achims Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland darzustellen, endet mit den resümierenden Worten: »und im übrigen sei dies eben für die Familie: wie für alle Menschen guten Willens: eine harte Zeit gewesen« (DBA, 53). Die phraseologische Wendung der ›Menschen guten Willens‹ ist Bestandteil eines Einschubs, der von Johnson erst nachträglich in die erste Fassung eingefügt wurde.87 Die typografische Abgrenzung des Einschubs durch Doppelpunkte hebt die Wendung hervor und lässt sie als etwas »Mechanisches, Auswendiggelerntes«88 erscheinen. Darüber hinaus deutet die Hervorhebung darauf hin, dass es sich um einen Einschub des Erzählers handelt, der die Darstellung von Achims Kindheit in den »vorhandenen Bücher[n]« (DBA, 53) mithilfe des durch Herrn Fleisg eingeführten geflügelten Bibelwortes ironisch 83 Von November 1959 bis April 1960 standen in Düsseldorf sechs Mitglieder des Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland vor Gericht. Der Prozess erregte vor allem außerhalb der Bundesrepublik Aufsehen, da das Friedenskomitee zu einer kommunistischen und verfassungsfeindlichen Vereinigung erklärt wurde. Die Angeklagten, die die Vereinigung repräsentierten, wurden verurteilt und erhielten Haftstrafen von sechs Wochen bis zu einem Jahr. Vgl. hierzu Friedrich Martin Balzer (Hg.): Justizunrecht im Kalten Krieg. Die Kriminalisierung der westdeutschen Friedensbewegung im Düsseldorfer Prozess 1959/60, mit einer Einleitung von Heinrich Hanover, Köln 2006. 84 Heinz Willmann: Ein Prozeß mahnt, in: Neues Deutschland, Nr. 1 vom 1. 1. 1960, S. 3. 85 Ebd. 86 Paul Verner: Großbaustelle Zentrum Berlin, in: Neues Deutschland, Nr. 1 vom 1. 1. 1960, S. 4f., hier: S. 5. 87 Vgl. Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim, 1. Fassung, 17. 5. 1960–2. 3. 1961, in: UJA Rostock, UJA/H/000014, Mappe 1–5, hier: Mappe 2, Bl. 12. 88 Klaus, Weibliche Hauptfiguren im Werk Uwe Johnsons, S. 207.

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kommentiert. Inhaltlich suggeriert die Verwendungsweise der Wendung, dass es zur Zeit des Nationalsozialismus Menschen gab, die an den geschehenen Verbrechen unschuldig gewesen seien. Eine (Mit-)Verantwortung von Achims Familie wird durch die phraseologische Attribuierung ausgeschlossen. Die Fragwürdigkeit eines solchen kollektiven Freispruchs wird wenig später durch Karschs Darstellung, wie Achim aufwuchs, ad absurdum geführt. Die Mutter Achims wird darin beschrieben als eine Frau, die »[m]it herzlichen Reden und betulich […] den staatlichen Frauenverband in der Siedlung zusammen[hielt]«, der es ankam »auf den Zusammenhalt des deutschen Volkes gegen seine Feinde« und die die Reden Hitlers »ergeben bisweilen mit Kopfschütteln« vor dem Radio verfolgte (DBA, 62). Auf den ideologischen Gebrauch verweist der Erzähler beim nächsten Auftreten des geflügelten Bibelwortes. Die Frage des »textinhärenten Lesers«,89 was Karsch hatte »wissen wollen über 1940«, beantwortet der Erzähler unter Verweis auf die beiden bereits verfassten Biografien über Achim: »Es stand aber nicht in seinen Büchern ob er da in den vormilitärischen Kinderverband der Führerjugend gekommen war wie jeder Zehnjährige in dieser Zeit, die den Büchern nach schwer gewesen war für einen Menschen guten Willens und sonst nichts« (DBA, 67; Kursivdruck im Original). Die Antwort des Erzählers offenbart, dass die den ›Menschen guten Willens‹ zugrunde liegende Vorstellung zum festen Bestandteil des sozialistischen Menschenbildes und einer damit verbundenen Geschichtsschreibung gehört, sodass sie in Achims Biografien eingegangen ist. Die auf Lk 2,14 zurückgehende, christliche Vorstellung eines universalen Friedens zwischen den Menschen fungiert als eine Grundlage der sozialistischen Propaganda, die um den »zum Mythos erhobene[n] Antifaschismus«90 ergänzt wird. Der ironische Gebrauch der phraseologischen Wendung dient dem Erzähler entsprechend als metonymische Kritik an der Friedenspropaganda in der DDR, die im Roman allgegenwärtig ist. Wahlplakate tragen die Aufschrift, »DAS KANN JEDER WISSEN DASS DU FÜR DEN FRIEDEN BIST« (DBA, 239; Versalien im Original), oder die Aufforderung, »SEID OFFEN FÜR DEN FRIEDEN« (DBA, 240; Versalien im Original). Der Sport, das lernt Achim im Rennfahrverein, sei »nur im Frieden möglich« (DBA, 210), und selbst die (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft wird von der Brigade von Chemiearbeitern, die den Suizid begehenden Bauern bedrängt, als eine »Tat des Friedens« (DBA, 175) deklariert. Die Beispiele zeugen sowohl von der dogmatischen (Ent-)Politisierung91 verschiedener Lebensbereiche wie hier dem Sport als auch von einer ideologischen Legitimierung selbst exekutiver Zwangsmaßnahmen gegen die 89 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 205. 90 Schroeder, SED-Staat, S. 133. 91 Zum Verhältnis von Politisierung und Entpolitisierung vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 369.

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Bevölkerung. Möglich erscheint die Duldung eines derartigen staatlichen Vorgehens vor dem Hintergrund der noch präsenten Kriegserinnerungen vieler Bürger des Landes, die mit Frieden etwas abstrakt Gutes assoziierten und dafür bestimmte Abstriche in Kauf nahmen. Der Erzähler jedoch hebt durch die bloße Auswahl und Anordnung und ohne explizite Kommentierung der politischen Slogans die Instrumentalisierung einer Friedensabsicht für politische Ziele hervor. Dass diese Absicht reine Makulatur und leere Worthülse ist, davon zeugt ihr agitatorischer Gebrauch wie im Zuge der (Zwangs-)Kollektivierung, die mit dem vorgegebenen Zweck nur schwer vereinbar ist. Die phraseologische Wendung, die in ihrem biblischen Kontext für eine universale Friedensabsicht steht, wird aus ihrem Kontext gelöst und stattdessen in ein dualistisches Weltbild integriert: Hier ein sozialistischer Staat mit antifaschistischen ›Menschen guten Willens‹, dort ein kapitalistischer Staat und seine »klerikalfaschistische Regierung« (DBA, 257) mit überwiegend (post-)faschistischen Bürgern oder ›Menschen bösen Willens‹. Ursprung dieses Dualismus in der innerdeutschen Gegenwart ist die Abgrenzung von der faschistischen Vergangenheit, die die Lektorin im »staatlichen Verlag für Junge Literatur« (DBA, 101), Frau Ammann, im Gespräch mit Karsch betont: – das Jahr des Kriegsendes in unserem Staat, verstehen Sie: […] eine Wende war, eine Umkehr. Was hier anfing mußte früher begonnen haben, wer inzwischen fünfzehn Jahre gearbeitet hat für unseren Sozialismus muß dazu bereit gewesen sein und geeignet, Veränderung ist möglich aber nicht Vertauschung, wer auf unserer Seite steht muß da längst gestanden haben, der Verteidiger der sozialistischen Ordnung muß es schon gewesen sein zur Zeit der Verbrechen […]. (DBA, 111)

Die Aussage der zweiten Figur, die als Vertreterin des ostdeutschen Staates im Roman auftritt, offenbart ein Geschichtsbild, nach dem die DDR und seine Bürger als Teil eines homogenen Kollektivs qua antifaschistischer Staatsdoktrin in Opposition zum Faschismus standen und stehen. Eine Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wird als überflüssig erklärt, die Bürger werden von einer ›deutschen Schuld‹ a priori freigesprochen und es wird ihnen ein »rigides Selbstverständnis«92 antifaschistischer Identität vermittelt. Die innerdeutsche Grenze bestätigt diese Dogmatik, denn nur durch sie konnte der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden seine Bürger vom Faschismusvorwurf freisprechen und ein »neue[s] Leben« in einem »einmaligen Staat[]« proklamieren (DBA, 133), der alle feudalen, faschistischen und kapitalistischen Herrschaftsformen überwunden habe. Wie sehr es sich bei dieser Konzeption um Geschichtsklitterung handelt, davon zeugen Achim und seine Familie: Die Mutter engagiert sich für den nationalsozialistischen, staatlichen Frauenverband und zeigt sich begeistert von 92 Hofmann, Fremd und befremdlich, S. 164.

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Adolf Hitler. Achim tritt während einer Hausdurchsuchung und gegenüber seinem Vater als ein führertreuer Junge auf, der Mitglied im Deutschen Jungvolk wird. Achims Vater, der den Sohn für die »Hitlerscheiße« (DBA, 83) verachtet, die dieser in der Schule aufnimmt, wird charakterisiert als einer, der sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges verhält »wie die meisten: mit dem guten Willen« (DBA, 123). Ein weiteres Mal wird die Wendung mittels Doppelpunkten vom Rest des Satzes abgetrennt und erscheint so als appositioneller Kommentar des Erzählers. Dieser kritisiert auf ironische Weise jene Geschichtskonzeption, wonach sich Bürger wie Achims Vater hinter einer »kollektive[n] Unschuldsmiene«93 verbergen könnten, ohne sich mit ihrer (Mit-)Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzen zu müssen. Dass dieses Geschichtsbild nicht seinem Selbstverständnis entspricht, offenbart Achims Vater durch die Bewunderung für einen Kollegen, der in seinem Flugzeugbaubetrieb ein Triebwerk sabotiert, durch die Denunziation seines Bruders gefasst und zum Tod verurteilt wird: »mit dem hätt ich auch was angefangen« (DBA, 123). Nach dem Ende des Krieges begibt er sich auf die Suche nach dessen Familie: »Ich wollt immer mal wissen was für eine Frau so ein Mensch hat, ich hab sie dann nicht finden können.« (DBA, 124) Achims Vater steht stellvertretend für jenen Teil der Bevölkerung, der zwar stillen Widerstand leistete,94 den aber trotzdem Schuldgefühle plagen. Insofern ließe er sich als ein ›Mensch guten Willens‹ im eigentlichen, dem christlichen Sinne bezeichnen, der sich kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzt und sich nicht hinter der propagandistischen Unschuldsmiene eines proklamierten antifaschistischen Kollektivs versteckt. Der agitatorische Gebrauch des geflügelten Bibelwortes von den ›Menschen guten Willens‹ wird aber nicht nur vom Erzähler suggeriert, sondern durch Herrn Fleisg selbst betont. Karins ›aktive‹95 Weigerung, eine »Empörung gegen die gaunerhaften Methoden westdeutscher Berichterstattung« (DBA, 179) zu unterzeichnen, führt den Redakteur zu der »redlich verbitterte[n] Frage wie ein Mensch (der in diesem Staat für Geld hatte arbeiten und leben dürfen) sich dieser 93 Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 208. 94 Vgl. DBA, 123: »Hab ausländische Sender gehört, hab auch Geld geschickt an Leute, bei denen der Mann weg war, zweimal, hab auch jemand über Nacht bleiben lassen, als es sicher war. Als der Junge in Thüringen war: Achim.« 95 Klaus weist auf den Umstand hin, dass Karins ›aktive‹ Gegenwehr in politischer Passivität gründe und abstrahiert im Hinblick auf die gegensätzlichen Gesellschaftsformen in Ost- und Westdeutschland: »In Demokratien westlich-kapitalistischer Prägung wird ›Passivität‹, eine schlichte Ablehnung der Beteiligung am System, nicht als ›aktive Opposition‹ begriffen. Wie anders ist da die Situation im Osten, wo eine solche Verweigerung – und genau dies zeigt sich im Falle von Karin – bereits als politisch aufreizende und als zu sanktionierende Handlung gilt. Ein Nein im real existierenden Sozialismus hat andere Qualitäten, andere Voraussetzungen und andere Konsequenzen, als Karschs Umzug nach Mailand an seine fürderhin feindliche Haltung dem alten Umfeld gegenüber«; Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 231f.

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Art abseits stellen könne zu den Menschen eines besseren Gewilltseins« (DBA, 179). Der von Herrn Fleisg verwendete Komparativ ließe sich als Differenzierung verschiedener moralischer Stufen von ›Menschen guten Willens‹ interpretieren. Eine solche Komparation der phraseologischen Wendung unterstreicht deren willkürliche und inhaltsentfremdende Aneignung und Nutzbarmachung, die nicht auf einen universalen Frieden, sondern auf politische Konformität zielt. Jede Abweichung von der staatlich verordneten Linie wird als Widerstand deklariert und wie hier von Herrn Fleisg mit dem Ausschluss aus dem Kollektiv sanktioniert. Im Gespräch mit zwei Herren, mutmaßlich Beamte der Staatssicherheit, äußert sich Karin »[ü]ber die neuerlich wegweisenden Maßnahmen des Sachwalters […]: darüber sei sie sicherlich einer Meinung mit allen Menschen guten Willens« (DBA, 133). Ihre Aussage ist in doppelter Hinsicht zu verstehen: Durch die Verwendung der »ideologische[n] Worthülse«96 gibt Karin einerseits eine politisch erwünschte Antwort, die ihre politische Konformität vortäuscht. Der Einsatz des geflügelten Bibelwortes verweist damit, wie Klaus herausarbeitet, auf »etwas Bekanntes, Paralleles«: »Wer damals still hielt, hält auch heute still und ist in seinem Schweigen für die Propagandamaschinerie des jeweiligen totalitären Systems ein willkommener Spielball.«97 Andererseits deutet das Mechanische ihrer Antwort auf die Distanz zum Gesagten hin. Neben dem Erzähler deckt auch Karin die Instrumentalisierung einer Wendung auf, die in ihrer ursprünglich christlichen Bedeutung für den Frieden auf Erden, zwischen den Menschen und zu Gott steht, aber in ihrer Entfremdung zur Legitimation politischer Entscheidungen missbraucht wird. Eine Politik, die, das wird in Das dritte Buch über Achim vom Erzähler wie von den Figuren vorgeführt, nicht im Zeichen des Friedens steht, sondern vielmehr Zwang zur Konformität ausübt, der in Suizid, Identitätsverlust oder Isolierung endet.

96 Ebd., S. 208. 97 Ebd. Vgl. hierzu Schroeder, SED-Staat, S. 134: »Mindestens in einem wesentlichen Punkt konnte die SED an die Erfahrungen der Sozialisation und der kulturellen Muster im Nationalsozialismus anknüpfen: Die meisten Menschen beugten sich den Anordnungen der Obrigkeit. Die Formen der bewussten oder erzwungenen Unterordnung der Bevölkerung unter die Weisungen von Partei und Staat wiesen in beiden Diktaturen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Zwar ging es jetzt um ›Klassenkampf‹ und nicht mehr um ›Rassenkampf‹, aber wieder diente ein Feindbild der Mobilisierung der Massen und der Legitimation der Herrschaft.«

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3.3.2 Folgen der Sprachkritik: »und allen wird heilig zumute« Aus der Kritik des Erzählers und auch Karins an der politisch-ideologisierten Sprache in der DDR ergeben sich in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman wie schon in Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob Fragen an die Verwendung von Sprache: Welche Folgen hat diese Sprachkritik für die beiden Erzählprojekte des Romans, das Biografievorhaben Karschs auf der ErzählEbene und die Erzählung des nichtdiegetischen Erzählers auf der ErzählerEbene? Wie verhalten sich der Erzähler und Karsch zur floskelhaften und sinnentleerten politischen Sprache in der DDR? Vor allem aber: Welchen Einfluss hat die politische Funktionalisierung von Sprache auf ihr eigenes Erzählen? Für Leuchtenberger ist auch in Das dritte Buch über Achim jener »unverkennbare ›Johnson-Ton‹«98 präsent, der sich u. a. aus dem Duktus der Lutherbibel konstituiere. Einen Beleg ihrer These liefert sie allerdings nicht. Um dieser nachzugehen, wird wie bei den beiden ersten Romanen Johnsons die Sprache des Romans im Hinblick auf jenen biblischen Tonfall, aber auch auf andere bibelsprachliche Einzeltext- und Systemreferenzen untersucht. Aufgrund der »bis zur Unkenntlichkeit vollzogenen Verschränkung der verschiedenen Text- und Zeitebenen«99 erfolgt diese Annäherung im ersten Schritt systematisch nach den Kategorien Einzeltext- und Systemreferenz. Im zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, die Verschränkungen aufzulösen, um die Folgen der Sprachkritik für das Erzählen des Erzählers als auch Karschs zu differenzieren. Bibelsprachliche Sytsemreferenzen Während »eines Ruhetags im großen Rennen durch die befreundeten Länder des ostdeutschen Teilstaats« (DBA, 149f.) in Prag besprechen Karsch und Achim zwanzig Manuskriptseiten der Biografie. Mit der Darstellung seines Lebens nach dem Krieg ist Achim unzufrieden, denn er wollte nicht gelebt haben, »wie ein anderer das aufschrieb« (DBA, 151). So kann er nicht verstehen, was Karsch »an einem fünfzehnjährigen Mädchen aus Ostpreußen heilige Neugier nennen wollte«, denn er verwende »eins der beiden Worte gar nicht und das andere nicht für solche Gelegenheiten« (DBA, 151). Dass es sich bei dem Wort, dass Achim vorgibt, nicht zu gebrauchen, um das Lexem ›heilig‹ handelt, lässt sich aus der religionskritischen Ideologie des ostdeutschen Staates ableiten, von der Achim zwangsläufig beeinflusst ist. Das Lexem ›heilig‹ ist Teil der biblischen Sprache und verweist auf Gott und dessen Offenbarung. Entsprechend ist derjenige heilig, der danach strebt, »durch sein Leben Gott Ehre zu machen«.100 Friso Melzer stellt 98 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 215. 99 Ebd., S. 187. 100 Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 319.

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darüber hinaus fest, dass ›heilig‹ im Gegensatz zu ›heiligen‹ und ›Heiligung‹ verweltlicht wurde: »In der Dichtersprache des achtzehnten Jahrhunderts wurde es zunächst im allgemein-religiösen, später ganz im weltlichen Sinn zum Ausdruck für ein Letztes und Höchstes.«101 Karsch gebraucht das Lexem mit eben dieser weltlichen Bedeutung, während Achim in seiner Reaktion auf die religiöse Semantik des Wortes verweist und auf einer Metaebene auf den, wenn auch unbewussten, Gebrauch religiöser Sprache durch Karsch rekurriert. Im Gegensatz zu seiner Figur verzichtet der Erzähler bei der Darstellung der Beziehung zwischen Achim und dem Hirtenmädchen wenige Seiten zuvor auf Karschs Wendung von der »heiligen Neugier«.102 Stattdessen beschreibt er, dass Achim »glücklich« war, als »seine Finger die Haut unter ihren Augen berührten« (DBA, 143). Kurz darauf ist von einem »springenden Gefühl[] in den Schläfen« (DBA, 143) die Rede, auf dessen Wiederkehr Achim in der eineinhalb Jahre dauernden Beziehung zum Mädchen wartet, das sich aber kein weiteres Mal einstellt. Das Lexem ›heilig‹ wird innerhalb des Romans drei weitere Male verwendet. Bei der ersten Erwähnung gibt der Erzähler nach einem kurzen, summarischen Bericht von Karschs Beschreibung über »das verbotene Baden in dem seichten aber schnellen Fluß vor der Stadt« (DBA, 65) vor, einen Textbaustein des westdeutschen Journalisten wiederzugeben. Eingeleitet wird der Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenrede sowie Erzähler- und Erzähl-Ebene durch ein Semikolon.103 In der folgenden Passage wird die Kindheit Achims im Zweiten Weltkrieg beschrieben und wie er mit seinen Freunden beim Betrachten vorüberfliegender Flugzeuge auf ihre Berufswünsche kam: was wollten sie alles werden in dem Krieg, den sie spielten, weil er vom Hitler versprochen war, aber Hitler mochten sie nicht werden: es war fremd und heilig wie er gering und bescheiden erschien zwischen mächtig rauschenden Fahnenwolken und glücklich schluchzenden Frauen und den kräftigen Männern gestrafft in der militärisch auszeichnenden Uniform, denen der Speichel die Speiseröhre außen sichtbar verkrampfte im Angesicht des deutschen Retters, denn so nannten sie ihn. (DBA, 65; Hervorhebung P. O.)

Neben ›heilig‹ greift Karsch in dieser Passage mit »im Angesicht des deutschen Retters« auf eine weitere bibelsprachliche Wendung zurück, mit der Luther im

101 Ebd., S. 320. 102 Vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 230, Anm. 177. 103 Vgl. DBA, 65: »Er beschrieb das verbotene Baden in dem seichten aber schnellen Fluß vor der Stadt und wie sie nackt und glücklich schreiend in den jungen Bäumen umherkletterten; die Jungen lagen im Gras über das Verzeichnis der deutschen und ausländischen Flugzeugtypen gestützt«.

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Neuen Testament die Verklärung Jesu betont.104 Ähnlich verklärt wurde das Bild Hitlers in der Öffentlichkeit, indem man ihn, dem jesuanischen Schema vergleichbar, als »Mann, aus kleinen Verhältnissen kommend, […] zum Retter einer Personengruppe«105 stilisierte. Körperliche Schwächen des Diktators wurden verschwiegen, »um so dem Bild eines Heiligen zu entsprechen«.106 Karsch zeichnet den instrumentalisierenden Gebrauch religiöser Sprache im nationalsozialistischen Deutschland nach und integriert auf parodierende Weise politische Sprache in sein Biografiemanuskript. Wenig später gibt der Erzähler ein Gespräch zwischen Karsch und Achim wieder, in dem letzterer mit seiner Kindheit im Nationalsozialismus konfrontiert wird. Der Erzähler wechselt dabei zwischen erzählter und zitierter Rede, sodass in autonomer direkter Rede wiedergegeben wird, wie sich Karsch an Achim wendet, um die Verantwortung des »Fähnleinführer[s]«, der Achim geworden war, zu betonen: – Verstehst du, daß man es weiß: daß den andern beim Fahnenaufziehen oder in der Feierstunde trocken im Mund wird, sie sind mitten im Glauben und ganz ausgeliefert. Der vor dem Glied kann aber befehlen daß es anfängt, daß die Fahne aufgezogen wird und allen wird heilig zumute – ihm nicht, denn er macht es ja. Er kann befehlen, daß es aufhört. (DBA, 75f.; Hervorhebung P. O.)

Erneut gebraucht Karsch ›heilig‹ im bibelsprachlichen Sinne. Auf ironische Weise betont er damit den naiven Glauben an die Macht und die Ritualität der nationalsozialistischen Politik, die er in die Nähe der Heiligenverehrung rückt. Ein viertes Mal ist das Lexem ›heilig‹ Teil eines Manuskriptauszuges, einer »schriftlich durchgeformten Episode«107 über die »Geschichte mit der Dreigangschaltung« (DBA, 183), den der Erzähler dem fiktiven Leser präsentiert. Karsch beschreibt darin die Teilnahme des 19-jährigen Achim an einem Aufmarsch in Ostberlin: Die schwingenden Mädchenröcke, die ungewohnt schmuckhafte Ausstattung der Straßenzüge, die unzählige menschliche Nachbarschaft löste Achim zu einverstandener Begeisterung, singend und steif rechts gewandten Kopfes trieb er mit im heilig ergriffenen Aufmarsch vor der sehr erhöhten und entfernten Tribüne des Sachwalters […]. (DBA, 185f.; Hervorhebung P. O.)

104 Vgl. Mt 17,1f.: »1Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrus und Jakobus und Johannes, seinen Bruder, und führte sie beiseits auf einen hohen Berg. 2Und er ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie ein Licht.« Vgl. hierzu Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 43. 105 Dube, Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, S. 27. 106 Ebd. Zum Wortfeld ›heilig‹ in den Reden Hitlers vgl. ebd. S. 179–181. 107 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 231, Anm. 180.

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Die Einfühlung des Biografen in die Gefühle des Biografierten und der »heilig ergriffenen Menschenmenge« wirkt ironisch überzeichnet. Der wiederholte Gebrauch des Lexems ›heilig‹ rückt den Ritus des politischen Aufmarsches in der sozialistischen DDR in die Nähe zur nationalsozialistischen Propaganda und wird so zum Signalwort,108 das den Leser auf die Parallelen der ›politischen Hagiografie‹ vor und nach 1945 verweist. Ein weiteres bibelsprachliches Signalwort gebrauchen Karsch und der Erzähler, um das Hörigkeitsverhältnis gegenüber staatlichen Herrschaftsmechanismen wiederum vor und nach 1945 zu parodieren. Nach der Ankunft Karschs in Ostdeutschland gibt der Erzähler dessen Gedanken zur Grenzkontrolle wieder, zu den Auflagen während des Aufenthalts und den von ihm vermuteten Beobachtern seiner Person: »er hatte auch Freude an der Erfindung einer Lesemaschine aus Stahl und edlen Hölzern, die saß fromm und reizbar auf einem Stuhl im Keller des Rathauses und war bemüht sich seinen Namen zu merken« (DBA, 23; Hervorhebung P. O.). Die Wortwahl der Attribuierung der Lesemaschine als »fromm und reizbar« kann entweder auf den Erzähler, der bei der Paraphrase des Gesprächs zwischen Karsch und Karin seinen eigenen Wortschatz gebraucht, oder auf Karsch, dessen Wortwahl der Erzähler in den Gesprächsbericht integriert, zurückgeführt werden. Beim zweiten Auftreten des Lexems ist es Karsch, der im Gespräch mit Frau Ammann »glaubte zu wissen nicht was sie meinte aber wie sie dazu kam« (DBA, 111). In der folgenden Darstellung wird der jugendliche Achim vor »neunzehnhundertfünfundvierzig« (DBA, 111) als einer von den »hartmäuligen Uniformjungen« (DBA, 111) charakterisiert, die »lernbegierig und unbelehrbar das Henken ansahen mit unbewegt jugendklaren Gesichtern als künftige Henker zwischen den Erwachsenen die still und fromm die Hinrichtung als Schauspiel nahmen« (DBA, 112; Hervorhebung P. O.). Zwei weitere Male wird ›fromm‹ gegen Ende des Romans vom Erzähler auf Achims Verhältnis zur DDR angewandt. Dessen Reaktion auf das Abspielen der westdeutschen Nationalhymne während einer Siegerehrung in Österreich hinterfragt der Erzähler: »Ja was mochte denn da nicht nach seiner Nase sein und was hingegen stieg ihm lieblicher hinein? Was wählte er aus, indem er vergleichen durfte; was machte ihn fromm gegen einen Staat, der …« (DBA, 251; Hervorhebung P. O.) Die rhythmisch gestaltete erste Frage109 leitet die Parodie auf

108 Leuchtenberger führt näher aus, wie Signalwörter und Topoi der Verdichtung der Textur dienen, indem sie »die zentralen Diskurse und Handlungsstränge des Romans auf den Plan rufen und dabei zuweilen implizite Überschriften setzen, wo sie durch die Makrostruktur verweigert werden«; ebd., S. 214. 109 Zur Klangwirkung der Sprache in Das dritte Buch über Achim bis hin zur Stilisierung vgl. ebd., S. 217, Anm. 134. An dieser Stelle ist die Klangwirkung nicht dem Hang Johnsons zur

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Achims Verhalten ein, die bis zur Beurteilung des Verhältnisses zum ostdeutschen Staat als »fromm« gesteigert wird. Achim wird als politisch indoktriniert und obrigkeitshörig bloßgestellt. Am Ende derselben Passage, in die der Erzähler gleich mehrere Bibelreferenzen integriert,110 bleiben letztlich die Bilder eines Dokumentarfilms als beschreibbar: »Es scheint undenkbar die zu Ausdruck bewegte Haut abzulösen von der Absicht, die das Gehirn zu einer Nationalhymne schaltet. Sie ist selbst nicht aber macht den Betrachter fromm.« (DBA, 260; Hervorhebung P. O.) Der Erzähler entkoppelt die Absicht der Reaktion von deren Wirkung auf den Betrachter der Szenerie. Achims Verhalten wird zur Geste der staatlichen Gefolgschaft, zum Obrigkeitsgehorsam, auch wenn die Wirkung der Geste unbewusst hervorgerufen sein mag. Der Erzähler kritisiert damit die nachträgliche politische Funktionalisierung, die Achim aus einem Missgeschick ein Politikum machen lässt. Mit dem bibelsprachlichen Lexem ›fromm‹ parodieren sowohl Karsch als auch der Erzähler Formen politischer Hörigkeit. Beginnend mit einer Lesemaschine, die als Metonymie für die Überwachungsmechanismen in der DDR dient, die nur gewährleistet werden können, indem sich Bürger in den Dienst des Staates stellen und dieses System mittragen, fungiert bei den drei folgenden Nennungen Achim als Ausgangspunkt und damit als Exempel eines blinden Obrigkeitsgehorsams. Mithilfe des Lexems wird eine Parallele hergestellt zwischen der ›politischen Frömmigkeit‹ im Nationalsozialismus, in der Achim in seiner Kindheit unterwiesen wurde, und in der DDR, in der er sich trotz dieser Kindheitserfahrungen »fromm gegen einen Staat« verhält. Achim wird zum Sinnbild für die ausbleibende Entwicklung einer kritischen politischen Urteilsfähigkeit; das Lexem ›fromm‹ ebenso wie ›heilig‹ zum bibelsprachlichen Signalwort, mit dem politische Parallelen vor und nach 1945 betont und durch den bibelsprachlichen Duktus parodierend kritisiert werden. Ob sich der Befund wiederholt, dass Karsch und der Erzähler auf dasselbe bibelsprachliche Stilmerkmal, hier das Lexem ›fromm‹, zurückgreifen, soll im Folgenden auf der syntaktischen Ebene untersucht werden. Der Biblizismus ›(und) siehe‹, der für den biblischen Tonfall in Ingrid Babendererde konstitutiv war, nahm in den Mutmassungen über Jakob eine untergeordnete Rolle ein. In Das dritte Buch über Achim fand die syntaktische Wendung hingegen keinen Eingang. Alle imperativischen Formen von ›siehe‹

sprachlichen Überformung geschuldet, sondern dient ganz bewusst der Kommentierung und damit der Leserlenkung. 110 Vgl. die Einzeltextreferenzen auf das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18 im folgenden Abschnitt zu bibelsprachlichen Einzeltextreferenzen.

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werden in der Figurenrede111 und auch in der Ansprache des fiktiven Lesers112 konjungiert. Zentraler Bestandteil der Romansprache in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman ist hingegen die adversative Partikel ›aber‹ in Satzzeitstellung. Sie kommt allein im ersten Drittel des Romans mehr als zwanzig Mal vor, wobei das Verhältnis zwischen Satzzweit- und alternativer Stellung eins zu zwei beträgt. In der Folge verringert sich dieses Verhältnis, der Biblizismus wird aber weiterhin pointiert eingesetzt. In allen Fällen ist es der Erzähler, der sich des Biblizismus bedient und damit einen archaischen Tonfall erzeugt. Funktional unterbricht der Einschub der adversativen Partikel den Erzählfluss und exponiert das in der Erststellung befindliche Satzglied: »Gegen Karin aber war er [= Achim; P. O.] freundlich und schüchtern wie ein Hund.« (DBA, 29; Hervorhebung P. O.) In seiner Antwort auf die Frage des fiktiven Lesers zu Karschs »vier Seiten für Herrn Fleisg« (DBA, 47; Kursivdruck im Original) kombiniert der Erzähler mehrere biblische Einzeltextreferenzen mit der syntaktischen Systemreferenz des ›aber‹ in Satzzweitstellung: Seine gesamten irdischen Güter113 wollte Karsch lieber einzeln zusammensetzen, da der ahnungslose Blick des ersten Abends sie nicht erfaßte: denn was Karsch mit dem guten Willen114 dieser Meinung aus Achim fragen wollte, das fiel wieder und abermals ab wie ins Leere, war gar nicht vorhanden. […] Die Notwendigkeit des Buches aber wollte ich dir nicht an den Kopf schmeißen als Geschrei der Fünftausend115 […]. (DBA, 47f.; Hervorhebung P. O.)

Der Biblizismus bleibt auch in diesem Beispiel auf die Stimme des Erzählers beschränkt. In Passagen, die vom Erzähler als Rede Karschs ausgewiesen werden, wie die »Geschichte mit der Dreigangschaltung« (DBA, 183), ist der Biblizismus nicht integriert. Daneben greifen der Erzähler, punktuell auch Karsch und andere Figuren, wie in Johnsons beiden ersten Romanen auf ein in Luthers Bibelübersetzung zu findendes Stilmittel der gesprochenen Sprache und der formalen Ungebundenheit zurück: die syntaktische Konstruktion von Relativpronomen mit parataktischer Fügung. Den rund 550 Relativpronomen im Roman folgen in etwas mehr als einhundert Fällen parataktische Fügungen statt Relativsätze. Das Verhältnis zwischen Relativsatz und parataktischer Fügung ist über die Genera 111 Vgl. etwa DBA, 85: »Sieh mal: ich hab das Pausenzeichen des Londoner Rundfunks nicht ein einziges Mal gehört zu der Zeit, als es etwas bedeutete, nicht ein einziges Mal: Gawrit Moskwa.« 112 Vgl. etwa DBA, 134: »Sieh mal wie er strahlt.« 113 Vgl. Mt 6,25–34 (Warnung vor irdischen Sorgen); Lk 16,1–13 (Gleichnis vom ungerechten Haushalter und Von der Treue im Gebrauch der irdischen Güter) [Zürcher 1931]. 114 Vgl. Lk 2,14. 115 Vgl. Mt 14,13–21 parr.

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Das dritte Buch über Achim

hinweg relativ konstant. Auch wenn das Verhältnis unter dem in Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob liegt, setzt der Erzähler dieses syntaktische Stilmittel regelmäßig ein, um die Rede von Figuren zu paraphrasieren. Auf dem Heimweg nach einem Abend bei einem mit Karin befreundeten Ehepaar erzählt diese Karsch, was sie über den Mann weiß: »Der lange mit den dicken Haaren in der knochigen Stirn, der immer so abwesend aussah: der hatte sich nach dem Aufstand in Ungarn öffentlich für etwas entschuldigen müssen. Er soll einen Aufsatz geschrieben haben; er sei auch schweigsam von Natur, der liebt eine, die bringt er nie mit.« (DBA, 233; Hervorhebung P. O.) Unabhängig vom möglicherweise autointertextuellen Verweis auf die Figur Jonas Blach der Mutmassungen über Jakob, der um die Zeit des Ungarn-Aufstands einen Aufsatz verfasst, verwendet der Erzähler ein Relativpronomen mit parataktischer Fügung und akzentuiert paradoxerweise eine abwesende Figur, die den Charakter des Geheimnisvolles verliehen bekommt, in seinem Redebericht.116 Aber nicht nur zur Wiedergabe von Figurenrede bedient sich der Erzähler dieses Stilmittels. Gleich zu Beginn des Romans beschreibt er die innerdeutsche Grenze, an der »scharf geladene Geschütze reichen bis zu dem Stacheldrahtzaun, der heranzieht zum freundlichen Strand der Ostsee« (DBA, 7; Hervorhebung P. O.). Die syntaktische Konstruktion des Relativpronomens mit parataktischer Fügung, die für den Leser überraschend statt eines Relativsatzes folgt, wird vom Erzähler exakt an der Schnittstelle zwischen der Beschreibung der Grenzvorrichtungen und dem »freundlichen Strand« in den Roman eingeführt. Ähnlich geht der Erzähler bei der Beschreibung der Bildnisse im Rathaus vor, die nach dem Einmarsch der Roten Armee ausgestellt werden: Die untere Fensterreihe des Rathauses trug in sich die Bildnisse von Herren in Schlips und Kragen, die regierten den Staat des okkupierenden Heeres, darüber hingen die Porträts von Herren in Uniform, die hatten den Sieg geleitet, unter dem Dach hervor blickten Herren mit altertümlichen Bärten in den blauhohlen Himmel, die hatten vorausgesagt, daß die arbeitenden Klassen die Macht und die Welt gewinnen würden […]. (DBA, 139f.; Hervorhebung P. O.)

Der Gebrauch der parataktischen Fügung unterbricht auch an dieser Stelle den Erzählfluss, weil die Teilsatzpaare durch die parataktische Reihung nebeneinandergestellt statt in kausaler Abhängigkeit voneinander präsentiert werden. Durch das Relativpronomen bleibt das Kausalitätsverhältnis an-, nicht aber ausgedeutet 116 Dass es sich hierbei um einen Redebericht des Erzählers und keine direkte Wiedergabe von Karins Rede handelt, ist als wahrscheinlich anzunehmen, weil die direkte Redewiedergabe von Karsch und Karin kurz darauf mit Spiegelstrichen typografisch angezeigt wird: »– Da sah sie sehr sanft aus: sagte Karsch verblüfft. / – Siehst du: sagte Karin.« (DBA, 233) Aufgrund der Verschränkung der Textebenen ist dennoch nicht auszuschließen, dass eine Wiedergabe der direkten Rede von Karin vorliegt, die vom Erzähler lediglich eingeleitet wird.

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– Transfer und Reflexion werden dem Leser überlassen. In der Sprache der Erzählinstanz löst Johnson seine Forderung ein, den Leser ernst zu nehmen und ihm zu ermöglichen, die angebotene »Version der Wirklichkeit zu vergleichen mit jener, die Sie [= der Leser; P. O.] im Kopf haben«.117 Wie eingangs angedeutet ist es nicht nur der Erzähler, der die parataktische Satzkonstruktion gezielt einsetzt. Auch Karsch greift bei der Darstellung von Achims Kauf der Dreigangschaltung auf die syntaktische Konstruktion zurück. Nach dem Erwerb der Schaltung in Westberlin wird Achim auf der Rückfahrt mit der Berliner Stadtbahn beschrieben, wie er sich über die Haare streicht, »denn früher war ein Scheitel, wo er inzwischen den dichten Blondwuchs modisch und gewaltsam nach hinten gekämmt hatte, der stand auf wie bucklig und wurde schnell gestreckt und kam doch wieder bucklig« (DBA, 185). Die Leserlenkung wird auch an dieser Stelle deutlich. Die parataktische Fügung unterbricht den Erzählfluss, weil die Frisur Achims für mehr steht als dessen Haartracht; sie fungiert als äußeres Merkmal eines politischen Wandels. Fasst man die Beobachtungen zusammen, lässt sich im Vergleich zu Johnsons ersten beiden Romanen in Das dritte Buch über Achim ein Weniger an bibelsprachlichen Systemreferenzen feststellen. Mit ›heilig‹ und ›fromm‹ sind nur vereinzelt Lexeme des biblischen Wortschatzes in den Roman integriert. Es konnte aber gezeigt werden, dass der pointierte Gebrauch ihren diskursiven Charakter verstärkt. Die Lexeme fungieren als Signalwörter, über die der Erzähler sowie Karsch Kohärenz stiften. Im Gegensatz dazu sind die syntaktischen Konstruktionen der adversativen Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung und des Relativpronomens mit parataktischer Fügung auch in Das dritte Buch über Achim hochfrequent. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie dem Erzähler und seiner Sprache vorbehalten und werden als Mittel der Leserlenkung eingesetzt. Damit kommt Johnson einmal mehr der Forderung nach einem ethischen Erzählen nach – einem Erzählen, das den Leser zum aufmerksamen und reflexiven Lektüreprozess animiert. Auch wenn das Netz der bibelsprachlichen Systemreferenzen in Johnsons drittem Roman nicht so eng ist wie in seinen beiden ersten Romanen, so erzeugen sie in Verbindung mit der im ersten Abschnitt herausgearbeiteten Sprachkritik einen biblischen Tonfall. Angesichts dessen, dass die Sprachkritik insbesondere durch den Erzähler geübt wird, ist es nur folgerichtig, dass er auch für die bibelsprachlichen Systemreferenzen überwiegend verantwortlich zeichnet. Durch Lexeme wie ›fromm‹, vor allem aber durch syntaktische Konstruktionen, die fester Bestandteil biblischer Sprache bzw. der Bibelübersetzung Luthers sind, begründet der Erzähler auch in Johnsons drittem Roman eine Kunstsprache, die der politischen Sprache auf der Erzähl-Ebene entgegengesetzt ist. Indem auch 117 Johnson, Wenn Sie mich fragen, S. 62.

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Karsch Lexeme wie ›fromm‹, insbesondere aber das Signalwort ›heilig‹ in seine Entwürfe zu einer Biografie Achims einfließen lässt, trägt er ebenfalls als Erzählinstanz mit seiner Stimme zum biblischen Tonfall im Roman bei. Bibelsprachliche Einzeltextreferenzen Inwieweit neben Lexemen biblischer Sprache und syntaktischen Biblizismen auch Allusionen auf einzelne biblische Texte zu einer Kunstsprache beitragen, die als Konsequenz der Kritik an einer politisch funktionalisierten Sprache zu denken ist, soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels untersucht werden. Daneben gilt es, die Beobachtung für die bibelsprachlichen Systemreferenzen, dass sich die Kunstsprache bis auf wenige Ausnahmen auf der Erzähler-Ebene konstituiert, ebenso für die bibelsprachlichen Einzeltextreferenzen zu verifizieren. Verweise auf biblische Einzeltexte, die Bestandteil der Figurenrede von Achim und Karin sind, wie Karins Verweis auf den Sprachduktus des Dekalogs118 oder die in Achims Gedankenrede integrierte Anspielung auf den Sündenfall,119 bleiben zunächst unberücksichtigt, werden aber im folgenden Kapitel zum politisch-ethischen Rahmendiskurs erörtert. Die erste Romanpassage, die als Beispiel einer bibelsprachlichen Einzeltextreferenz dienen soll, führt erneut die Problematik der ineinander verschränkten Erzählebenen vor Augen: Der Erzähler paraphrasiert, wie Karsch die Biografie anzufangen gedenkt, und kommentiert die Schwierigkeiten des Journalisten.120 Karschs Gedanken zur Besetzung Deutschlands durch die alliierten Truppen, »die Geschehnisse des Zwischenraums« (DBA, 43), werden durch einen Doppelpunkt eingeleitet. Nach einer Reihe stichpunktartiger Notizen folgt ein Resümee, das in seinem Duktus womöglich an die Landgabe/-nahme121 des Volkes Israel angelehnt ist:122 »nach fünf Jahren Krieg drang die verbündete Welt über den deutschen Staat und zerschlug ihn und teilte Land und Menschen und Vieh auf an die nunmehr entstandene östliche Hälfte der Welt und die westliche« (DBA, 43). Die Ähnlichkeit zu Jos 11,14, in der die Kinder Israels bei der Eroberung des Westjordanlandes »allen Raub dieser Städte und das Vieh«123 unter sich teilen wie die Alliierten das vom Naziregime befreite Deutschland, wurde 118 Vgl. DBA, 24, 40: »Du sollst nicht über mich lachen sondern über ihn«; DBA, 108: »Du sollst mich wundern«. 119 Vgl. DBA, 271: »auf dem Bauch sollt ihr liegen, nicht mehr kriechen können sollt ihr«. 120 Vgl. etwa DBA, 43: »Aber schon hier war Karsch nicht wohl.« 121 Georg Hentschel weist darauf hin, dass im Zentrum des Josua-Buches »nicht die Landnahme, sondern die Landgabe« JHWHs stehe; Georg Hentschel: Das Buch Josua, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 203–212, hier: S. 209; Kursivdruck im Original. 122 In meinem Aufsatz für das 21. Johnson-Jahrbuch nahm ich noch eine Anspielung auf den ersten Schöpfungsbericht an, in dem Gott »das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste« scheidet; Gen 1,7; vgl. Onasch, Zum Umgang mit dem biblischen Kanon, S. 74f. 123 Vgl. Jos 11,14.

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von Johnson im Verlauf der Korrektur der ersten Fassung noch verstärkt. Während es in der ersten Fassung zunächst »zerschlug ihn und teilte ihn« hieß, ersetzte Johnson das zweite ›ihn‹ zu »Land und Menschen und Vieh«.124 Die alliierte Eroberung wird durch den intertextuellen Verweis auf das Buch Josua als Ereignis biblischen Ausmaßes charakterisiert. Vor allem aber erhält die Besetzung Deutschlands durch den Bezug zur Eroberung des gelobten Landes eine erzwungene und nicht agitatorische Konnotation. Wie die Stämme Israels aus einer Not heraus, die den Auszug aus Ägypten und die sich anschließende Wüstenwanderung bedingt, von JHWH das Land Kanaan zugesprochen bekommen, werden die alliierten Mächte durch die Kriegspolitik Adolf Hitlers zur ›Landnahme‹ gezwungen. Der stichwortartige Charakter der Passage und die anschließende Kommentierung des Erzählers, »Karsch war nicht sehr glücklich über diesen Zwischenraum und war nicht sicher wie er in einem Zugriff zu sagen war« (DBA, 44), suggeriert, dass diese Bibelreferenz auf die Figur des Journalisten zurückgeht. Wenig später gibt der Erzähler an, eine Arbeitsprobe Karschs über »einen schulfreien Tag« (DBA, 70) wiederzugeben. Hierbei lässt er offen, ob er das Manuskript nach der anfänglichen Paraphrase125 direkt in den Erzähltext integriert – und wenn ja, ab wann – oder weiterhin paraphrasiert. Bestandteil der Passage über den schulfreien Tag kurz nach dem Ende des Krieges sind drei über den Markt fahrende Panzer, die einen Polizisten veranlassen, die Straße für den Autoverkehr zu sperren: schnell und knapp hob er eine Hand an den besternten Tschako, fröhlich winkten die Kommandanten zurück. Die hockten barhäuptig mit bloßen Armen auf den Lukenrand gestützt, überblickten lustig und geringschätzig die niedrigen Menschen auf der Straße und hatten die Macht über all das Eisen. (DBA, 70)

Die Beschreibung der Kommandanten verweist bis auf die Wortebene auf die Darstellung der Versuchung Jesu in Lk 4,1–13 parr in der Lutherbibel: 5

Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick 6und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. […] 9 Und er führte ihn gen Jerusalem und stellte ihn auf des Tempels Zinnen und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß dich von hinnen hinunter; 10denn es steht geschrieben:

124 Vgl. Johnson, Das dritte Buch über Achim (1. Fs.), Mappe 2, Bl. 3: »nach fünf Jahren Krieg drang die verbündete Welt über den deutschen Staat und zerschlug ihn und teilte ihn [Land und Menschen und Vieh; hs. Korrektur Johnsons am Rand, P. O.] auf«. 125 Vgl. DBA, 70: »Er nahm also ein neues Blatt von denen, die Karin auf unerfindliche Weise herantrug, und machte darauf Versuche: Achims schulfreien Tag auf dem Bahnhof, im Wald, in der Stadt unterzubringen; besonders entsann er sich einer engen Straße aus Katzenkopfsteinen vor einem Schulgebäude«.

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»Er wird befehlen seinen Engeln von dir, daß sie dich bewahren 11und auf den Händen tragen, auf daß du nicht etwa deinen Fuß an einen Stein stoßest.«126

Die Formulierung »Macht über all das Eisen« rekurriert explizit auf den Verführungsversuch des Teufels, Jesus »[a]lle diese Macht« geben zu wollen. Überdies lässt sich eine implizite intertextuelle Beziehung über den Lukenrand des Panzers, von dem die Kommandanten auf die »niedrigen Menschen« hinabblicken, zu den Zinnen des Tempels herstellen. Im Gegensatz zu Jesus, der den vierzig Tage andauernden Versuchungen des Teufels widersteht, überblicken die sowjetischen Kommandanten »lustig und geringschätzig die niedrigen Menschen«. Dass sie dabei nicht belustigt, sondern lustig blicken, hebt den parodistischen Charakter hervor, den Karsch bzw. der Erzähler durch den intertextuellen Bezug auf die Versuchung Jesu erzeugen. Ein zweites Mal verweist der Erzähler auf jene Erzählung aus den synoptischen Evangelien bei der simulierten Ausgestaltung dessen, wie Achim »sich neuerlich verstand« und was letztlich bei Karsch stehen könnte »auf dem Papier und käuflich […] als Achims Leben in Worten« (DBA, 192). Als eine Möglichkeit bietet der Erzähler dem Leser eine Episode aus den »Versammlungen in der Gewerkschaft Bau, oder Streit wegen der Arbeitsnorm«, an: fünf auf halbhoch gemauerter Wand sitzend in der Frühstückspause reden gehässig ein auf den sechsten, der möchte sie überreden zu willentlich vermehrtem Fleiß zu Gunsten des Staates (der war vielleicht ein Mal auch Achim gewesen?) und war unversehens allein ohne Anrede oder Gefälligkeit inmitten stiller Verachtung oder hämischer Stichelei, der will sich anschmieren bei der Partei; das würde zu machen sein mit dem hohen Blick über die Stadt, die ausgebreitet lag unter den Rändern des Neubaus mit dämmerig verlaufenden Straßenzügen und rußgeschwärzten Außenseiten und wüsten Lücken, die sie alle noch bebauen mußten ihr Leben lang, und unter schmalem Bündel Sonnenlicht in der septemberlichen Ferne leuchten vergoldete Spitzen, die aus der Nähe nicht zu sehen sind. (DBA, 195)

Erneut dient der intertextuelle Verweis auf die Versuchung Jesu, der sich über das Bild der »halbhoch gemauerten Wand« mit der vor den Arbeitern »ausgebreitet[en]« Stadt herstellen lässt, der Parodie des Dargestellten. Die Arbeitsnorm suggeriere ein Ziel und damit ein Ende, wo infolge des Zweiten Weltkrieges nur »wüste[] Lücken« sind, die die Arbeiter noch in Jahren werden bebauen müssen. Neben der Parodie auf die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR äußert der Erzähler immer wieder auch offen Kritik an den staatlichen Repressionen im ostdeutschen Staat und spielt in diesem Zusammenhang auf einen der zentralen Texte christlicher Ethik an. Achims politischen Botschaften, »die Leute haben eine Wirtschaft in den Staat gebaut zum eigentlichen Ruhm des

126 Lk 4,5f., 9–11; Hervorhebung P. O.

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Vereins« und »[s]ie begnügen sich mit dem geringeren Anteil, weil sie nicht lassen können vom Antlitz127 des Sachwalters« (DBA, 259), begegnet der Erzähler mit schonungsloser Kritik. Den Alltag halten sie »am Gehen« – nicht am Laufen! –, um die Staatspartei nicht zu beschämen, einzeln seien sie über die innerdeutsche Grenze gegangen, »denn darauf steht Gefängnis«, und gegen die sowjetischen Panzer stehen sie nicht auf, »nachdem sie erfahren haben was Sozialismus ist nach diesem Krieg« (DBA, 259). Vom real existierenden Sozialismus zeichnet der Erzähler ein Bild, das durch Negationspartikel und negativ konnotierte Verben geprägt ist: mit dem Lohn die Dinge des Wohlstands nicht zu kaufen, den Sachwalter zu loben, den Kriegsdienst zu leisten, die Justiz zu fürchten, dem Nächsten nicht zu trauen, gegen den Kapitalismus zu handeln, die Wahrheit zu verleumden, und alles in der Gefahr der strafweisen Einsperrung für mehr als drei Jahre manchmal des Todes […]. (DBA, 259f.)

In den Katalog von Aufzählungen integriert ist das Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18, das Jesus im Doppelgebot der Liebe in Mt 22,34–40 parr zu einem der zwei zentralen Gebote des Gesetzes erklärt: 36

Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? 37Jesus aber sprach zu ihm: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.«128 38Dies ist das vornehmste und größte Gebot. 39Das andere aber ist ihm gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 40In diesen zwei Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.129

Die christliche Forderung nach Nächstenliebe, die »›[n]atürlich‹, menschlich und vernünftig einsichtig«130 ist, sieht der Erzähler durch die staatlichen Einrichtungen der DDR außer Kraft gesetzt. Statt Liebe, die »Voraussetzung menschlicher Gemeinschaft, der Kommunikation«131 ist, herrscht unter der Bevölkerung im ostdeutschen Staat Misstrauen gegenüber dem Nächsten. Gesteigert wird die Wirkung der Stellungnahme des Erzählers durch eine parallele Konstruktion einige Seiten zuvor. Auf die Kritik Achims an den west127 Im Deutschen Wörterbuch heißt es zum Lexem ›Antlitz‹: »Luther verwendet das wort in der bibel sehr oft und schrieb unhochdeutsch andlitz«; Antlitz, in: DWB 1, Sp. 501; Kapitälchen und Kursivdruck im Original. Friso Melzer bemerkt darüber hinaus, dass Luther das Lexem »in seiner Bibelübersetzung sechsundachtzigmal gebraucht und damit den neuhochdeutschen Sprachgebrauch bestimmt« habe, relativiert diese These aber in der Folge: »Durch den (biblischen?) Sprachgebrauch ist ›Antlitz‹ zum edleren Wort geworden, und wir haben diese Reihe: Antlitz – Angesicht – Gesicht – Visage«; Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 48. Durch den meliorisierenden Ausdruck ›Antlitz‹ versieht der Erzähler Achims Rede mit einer gewissen Ironie. 128 Dtn 6,5. 129 Mt 22,36–40. 130 Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, S. 154. 131 Ebd.

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deutschen Zeitungen und am Bundeskanzler der Bundesrepublik reagiert der Erzähler, der sie um den Außenminister Heinrich von Brentano, die »namentlich sozialdemokratische Partei«, die westdeutsche Wiederbewaffnung und die EURATOM sowie EWG erweitert,132 mit offenen Gegenfragen: »über so viele wollte er nicht froh sein und die Bürger zudem verachten, weil es ihnen gefiel und sie es bezahlten? Hätt er nicht doch erst versuchen sollen zu leben mit ihnen in Freiheit« (DBA, 253)? In die zweite Frage integriert ist jene Attribuierung, bezogen auf die Bundesrepublik: mit seiner Arbeit die Dinge des Wohlstands zu kaufen oder nicht, den Kanzler zu loben oder nicht, den Wehrdienst zu leisten oder nicht, der Justiz zu trauen oder nicht, dem Nächsten zu schaden oder nicht so sehr, gegen den Kommunismus zu handeln oder nicht, die Wahrheit zu verleumden oder nicht, und alles ohne Gefahr der strafweisen Einsperrung für mehr als drei Wochen? der Tüchtige schafft es. (DBA, 253)

Der Unterschied in der Darstellung der beiden deutschen Staaten ist offensichtlich. Während die Attribute für die Bundesrepublik als Optionen dargestellt werden, sind sie für die DDR als Zustände abgebildet. Darüber hinaus beschreibt der Erzähler die Folgen eines möglichen ›Widerstandes‹ gegen die staatlichen Vorgaben in Opposition zueinander. Während dieselben Handlungen im einen Teil Deutschlands die »Gefahr der strafweisen Einsperrung für mehr als drei Jahre manchmal des Todes« mit sich bringe, zögen sie im anderen Teil keinerlei juristische Konsequenzen nach sich. Der Erzähler zeichnet mit dieser zugespitzten parallelen Konstruktion das Bild zweier in Opposition zueinander befindlicher Gesellschaften. Der Unterschied ergibt sich nicht in erster Linie aus der Differenz der Wirtschaftsordnung, sondern aus dem Grad persönlicher Freiheit, der den Bürgern in ihren jeweiligen Staaten gewährt wird. In der Konsequenz entsteht das Bild einer repressiv-geschlossenen und einer freiheitlich-offenen Gesellschaft im geteilten Deutschland. 132 Vgl. DBA, 253: »– Das ist ja klar: sagte Achim: Daß eure nicht schreiben wie der / der die Bestechlichkeit seiner Beamten tröstete? der zum Gesicht des Staates vor der Welt einen Irgend bestellte, der nämlich den Bertolt Brecht verglichen hat mit einem Zuhälter und Schläger? der die Meinung der Wähler fälschte mit Renten und Raten vor dem Tag der Wahl? Über den sich ärgern tat er ungerecht: denn der war wieder und wieder gewählt in ungehindert geheimen Kabinen, und abermals lief die namentlich sozialdemokratische Partei ihm nach in die atomare Armee, und die Abgeordneten der westdeutschen Länderunion hatten Übles nicht an dem gefunden in all den Jahren«. Heinrich von Brentano hatte am 9. Mai 1957 im Deutschen Bundestag die späte Lyrik Brechts mit der Horst Wessels vergleichen: »Sie [= der SPD-Bundestagsabgeordnete Georg Kahn-Ackermann; P. O.] waren der Meinung, daß Bert Brecht einer der größten Dramatiker der Gegenwart sei. Man mag darüber diskutieren. Aber ich bin wohl der Meinung, daß die späte Lyrik des Herrn Bert Brecht nur mit der Horst Wessels zu vergleichen ist«; Heinrich von Brentano, zitiert nach Roland Koch/Frank-Lothar Kroll: Heinrich von Brentano. Ein Wegbereiter der europäischen Integration, München 2004, S. 278.

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Dieser grundlegende Unterschied schließt keineswegs politisches Fehlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland aus. So integriert der Erzähler offene Kritik an politischen Entscheidungsträgern der historischen Gegenwart Johnsons in sein Erzählen.133 Der biblische Intertext zur Nächstenliebe suggeriert überdies eine Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die ein Handeln im Geiste der christlichen Nächstenliebe ausschließe. Was bleibt sind die Möglichkeiten, dem Nächsten »zu schaden oder nicht so sehr«. Bereits an früherer Stelle konnte gezeigt werden, dass aus den gesellschaftlichen Unterschieden zwischen den beiden deutschen Staaten Sprachschwierigkeiten erwachsen, die Karsch nicht nur das Verfassen der Biografie erschweren. Sie führen auch regelmäßig zu Konflikten mit Achim, Frau Ammann und Herrn Fleisg. Schon nach der ersten Hälfte des Romans deutet der Erzähler das Scheitern des Biografievorhabens an: »Da wollte Karsch froh sein, wenn Achim seine Person und die Geschichte dieser Person überhaupt mitbrachte zu dem Treffpunkt, den der verständigende Gebrauch von Sprache zwischen ihnen verabredete […]. Ja wären sie ein Herz gewesen und eine Seele!« (DBA, 152; Hervorhebung, P. O.) Von einer innigen Gemeinschaft, als welche die urchristliche Gemeinde Jerusalems in der Apostelgeschichte beschrieben wird,134 kann zwischen Biograf und Biografiertem keine Rede sein; selbst von einer Zweckgemeinschaft nicht. Stattdessen ist das Verhältnis von Differenzen und Misstrauen geprägt, sodass Karsch »nur die sprachliche Außenseite von Achims Leben« (DBA, 152) zugänglich erscheint. Gelingt es Karsch dennoch, einzelne Kapitel zu Papier zu bringen, muss er sich mit den Anforderungen Frau Ammanns auseinandersetzen, wie die Biografie Achims gemäß der staatlichen Kunstdoktrin, dem sozialistischen Realismus, konzipiert sein müsse. Die Diskussionen reichen dabei bis in die Syntax des Geschriebenen, wenn Frau Ammann feststellt, dass man Widerstandshandlungen während des Nationalsozialismus »nicht in einem Relativsatz« (DBA, 117)135 darstellen könne. Karsch reagiert auf diesen Einwand mit Sarkasmus und unter Verwendung eines weiteren biblischen Intertextes: – Und die größere Menge dieser schluchzenden Verehrung oder mürrischer Billigung ins Verhältnis gesetzt zu den anderen? die Granaten zu Wurfgeschossen fälschten und

133 Dieser Umstand verliert selbstverständlich auch durch die von Walter Busse im Dezember 1961 geäußerte Erwartung nicht an Bedeutung, dass Heinrich von Brentano vor seiner Thematisierung der Kesten-Affäre im Deutschen Bundestag Das dritte Buch über Achim genauso wenig gelesen habe, wie Brechts Lyrik vor seiner 1957 getroffenen Äußerung; vgl. Walter Busse: Haltet aus!, in: Der Spiegel 52, 1961, S. 22. 134 Vgl. Apg 4,32: »32Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein.« 135 Vgl. DBA, 117: »jedermann, der mit hinderlichen Handgriffen oder Zetteln an der Wand oder Übernachtung mit Frühstück für fremde Personen die Wirklichkeit ändern wollte und zumindest die Meinungen von ihr«.

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ungebrauchte Bombenflugzeuge anfällig machten für die anziehende Kraft der Erde […]; wer aber hielt das verdorbene Leben in Gang, wer gab den Verbrechern Brot und Werkzeug zum Töten und Verbrennen als deutsche Wertarbeit, gehören nicht die in den Hauptsatz? (DBA, 117f.; Hervorhebung P. O.)

Innerhalb seiner kritischen Nachfragen, die strukturell an Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters angelehnt sind136 und in ihrer Weiterführung die Kritik an der klassischen Historiographie137 auf die Frage nach den Verbrechen im Nationalsozialismus übertragen, verweist Karsch auf das geflügelte Bibelwort ›Schwerter zu Pflugscharen schmieden‹, das auf Jes 2,4 bzw. Mi 4,3 zurückgeht.138 Damit deutet er den Akt des Widerstandes als Ausdruck einer Friedensabsicht.139 Die Adaption der phraseologischen Wendung verweist auf den sprachlichen Hintergrund des Biografen, denn »[i]n der Bundesrepublik gab es teils ernsthafte, teils ironisch gemeinte Varianten« des Bibelwortes wie »›Panzer zu Schulbussen‹, ›Uniformierte zu Menschen‹, ›Patronen zu Lockenwicklern‹«.140

136 Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht u. a., Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938–1956, bearb. von Jan Knopf, Berlin/Weimar/Frankfurt am Main 1988, S. 29. 137 Vgl. Ulrich Kittstein: Das lyrische Werk Bertolt Brechts, Stuttgart/Weimar 2012, S. 175f. In dem im Jahr 1935 entstandenen Einleitungsgedicht der Chroniken in den Svendborger Gedichten wird die klassisch-bürgerliche Geschichtsschreibung kritisiert, die sich u. a. in Treitschkes Diktum, »Männer machen die Geschichte«, oder Hegels Vorstellung von »Geschäftsführer[n] des Weltgeistes« ausdrückt: »Unter dem Eindruck der NS-Diktatur brachte Brecht diese Sichtweise direkt mit dem verhängnisvollen ›Führerglaube[n] der Mittelschichten‹ in Verbindung. In Fragen eines lesenden Arbeiters hebt das Rollen-Ich mit den sprachlich produzierten ideologischen Effekten, die in der Tradition Hegels und Treitschkes stehen, zugleich die Grundlagen eines jeden Führerkults auf. Wie im ersten Teil bringt es auch hier wieder die Massen, die Kollektive zum Vorschein, mit deren Hilfe und auf deren Kosten seit jeher Weltgeschichte gemacht worden ist, die aber eine aus der Perspektive der Mächtigen entworfene Geschichtsschreibung durch die suggestive metonymische Verdichtung den Blicken entzieht«; Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Neue Ausg., Leipzig 1927, S. 28; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Werke, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausg., Bd. 12, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1992, S. 46; Kittstein, Das lyrische Werk Bertolt Brechts, S. 176; Kursivdruck im Original. 138 Vgl. Jes 2,4: »4Und er wird richten unter den Heiden und strafen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben, und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen«; Mi 4,3: »3Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden strafen in fernen Ländern. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden nicht mehr kriegen lernen.« 139 Röhrich führt hierzu aus, dass ›Schwerter zu Pflugscharen‹ ein gängiger Spruch der internationalen Friedensbewegung ist; vgl. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, S. 1449. 140 Ebd.

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Eine weitere Referenz auf ein geflügeltes Bibelwort integriert der Erzähler in die Beschreibung eines »der ersten Nachmittage nach dem Einzug« der Roten Armee, an dem Achim an das andere Ende der Stadt fährt, um das ehemalige, zerbombte Wohnhaus der Familie anzuschauen: Er ging lange parallel der Straße in einer anderen, weil er um die Apothekenecke genau auf das Haus zukommen wollte. Alles flog ihm wieder zu: das Transformatorenhaus in den Büschen an der Kreuzung kannte er, das Gesträuch war damals niedriger gewesen, die Apothekentür stand offen wie immer wenn er um Lakritzen betteln gegangen war, die Häuser waren nicht da. Der offene Himmel schlug ihn einen halben Schritt zurück. (DBA, 77f.; Hervorhebung P. O.)

Die phraseologische Wendung, ›den offenen Himmel sehen‹, bringt ein »großes Glücksgefühl«141 zum Ausdruck und geht auf eine Ankündigung Jesu an seine Jünger aus Joh 1,51 zurück: »51[…] Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.«142 Der Erzähler resemantisiert das geflügelte Bibelwort und erzeugt dadurch einen doppelten Effekt. Die Wendung des ›offenen Himmels‹ lässt sich zunächst in einem wörtlichen und nicht transzendentalen Sinne lesen: Durch die Zerstörung des Hauses ist der Himmel nicht mehr dem Blick entzogen, sondern geöffnet. Setzt man dieses wörtlich-säkulare Verständnis der Wendung im Wissen um das geflügelte Bibelwort mit der Heiligen Schrift ins Verhältnis, lässt sich die Umdeutung von transzendental zu säkular semantisch weiter auffüllen. Der offene Himmel verweist in der beschriebenen Szene nicht auf ein bevorstehendes Glücksgefühl, sondern auf einen Moment, in dem Achim ein weiteres Mal die Folgen des Krieges spürt: Er steht vor den Trümmern seines zerstörten Familienhauses. Mit dieser Umdeutung einher geht ein Verfremdungseffekt, der die Verkündigung Jesu angesichts der einschneidenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, angesichts der industriellen Vernichtung millionenfachen Menschenlebens zumindest infrage stellen lässt. Für den jungen Achim jedenfalls kommt der »offene Himmel« einem Schock gleich, der ihn »einen halben Schritt zurück« schlagen lässt. Die genannten Beispiele bibelsprachlicher Einzeltextreferenzen haben die auf den Ergebnissen der bibelsprachlichen Systemreferenzen gründende Beobachtung bestätigt, dass die Kunstsprache, die Teil eines biblischen Tonfalls ist, vorwiegend durch den Erzähler konstituiert wird. Doch auch in die wiedergegebenen Biografieentwürfe Karschs sind punktuell Anspielungen auf die Heilige Schrift integriert, die den gesellschaftlichen Hintergrund des Biografen andeuten 141 Heinrich Krauss: Geflügelte Bibelworte. Das Lexikon biblischer Redensarten, München 1993, S. 94. Vgl. auch Büchmann, Geflügelte Worte, S. 83. Büchmann verweist darüber hinaus auf Schillers Lied von der Glocke: »Das Auge sieht den Himmel offen«; ebd. 142 Joh 1,51.

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und Gesellschaftskritik beinhalten. Dass diese Kritik wie beim Verweis auf die Landgabe/-nahme auch an die westdeutsche Bevölkerung gerichtet ist, unterstreicht die Offenheit Karschs, seine geradezu »ethnologische[] Neugier«,143 mit der er das Biografieprojekt angeht. Ebenso wie Karsch nutzt der Erzähler bibelsprachliche Einzeltextreferenzen nicht nur zur Ironisierung/Parodie und Leserlenkung, sondern nimmt unter Zuhilfenahme biblischer Intertexte politische Bewertungen vor und begründet diese wie unter Verweis auf das Gebot der Nächstenliebe ethisch. Die ausgewählten Bibelstellen dienen dabei zum einen als archetypische Projektionsfläche, die den Leser dazu anregt, politische Botschaften kritisch zu prüfen. Zum anderen wird durch den Verweis auf das Gebot der Nächstenliebe der »Inbegriff christlicher Ethik«144 in den politisch-ethischen Rahmendiskurs integriert. Für den Roman ist dieser Diskurs von zentraler Bedeutung und soll den Abschluss der Betrachtungen zu Das dritte Buch über Achim bilden.

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Politisch-ethischer Rahmendiskurs: Real existierender Sozialismus und christlich fundierte Ethik

Die Bedeutung der christlichen Ethik für den Roman bleibt nicht auf den zweimaligen Verweis des Erzählers auf das Gebot der Nächstenliebe beschränkt. Sie ist vielmehr mit Karins Verhalten gegenüber dem ostdeutschen Staat und Achim verknüpft. Um dieser These nachzugehen, erscheint es hilfreich, Achims Rolle im ostdeutschen Staat über das bereits Erwähnte hinaus zu beleuchten. Bei der Charakterisierung des Verhältnisses der Titelfigur zum Staat und seinen Vertretern greift der Erzähler wiederholt auf biblische Intertexte zurück. Die Grenzen zum sprachlichen Diskurs des Romans sind fließend, der zentrale Konflikt des Romans zwischen Karin und Achim begründet es aber, die biblischen Einzeltext- und Systemreferenzen zu beiden Figuren gesondert darzustellen. Mithilfe der Interpretation der biblischen Intertexte, die Karin und Achim charakterisieren, soll es gelingen, die Gründe für den Konflikt nachzuvollziehen, die Karin letztlich dazu bewegen, Karsch um eine Reise nach Ostdeutschland zu bitten.

143 Hofmann, Fremd und befremdlich, S. 165. 144 Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, S. 152.

Politisch-ethischer Rahmendiskurs

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3.4.1 Achim: Ein Prophet im Zeichen des Sozialismus »[V]on einem Tag auf den anderen« (DBA, 9) macht sich Karsch auf einen Anruf Karins hin auf den Weg nach Ostdeutschland, um seine zugesicherte »Hilfe in Notfällen« (DBA, 11) einzulösen. Kurz nach seiner Ankunft im sowjetischen Sektor der geteilten Stadt Berlin nimmt Karin ihren westdeutschen Freund mit auf eine »Veranstaltung zu Ehren des Radsports« (DBA, 12). Im »gewaltigen Hohlraum« der Sporthalle kommt es, eingeleitet von einer »Geräuschramme aus Blasinstrumenten«, zu einem unvorstellbaren Aufschrei: Unmenschlich fiel aus der Dachwölbung die vergrößerte Summe aller Laute des Erstaunens und des freudigen Aufatmens in den Hohlraum zurück. Der nächste Einsatz war allen gemeinsam, weit hinten in der Kehle bildeten sie die erste Silbe von Achims Namen, erschöpft nach dem Anstieg sank die zweite ab, in beschleunigtem Rhythmus verfolgten sie einander, zweite Silbe überlagerte erste, erste in zweiter umschlossen, Beine schwangen über die hohen schwarzen Buchstaben, Armschwenken sprengte die Sitzreihen hoch, der Stimmenlärm kam als Getrampel zurück. (DBA, 12–14)

Doch anders als es in einer Sporthalle zu erwarten wäre, tritt Achim, dem die Zuschauer huldigen, nicht als Radrennfahrer in Erscheinung, sondern in einer Menge von »schwarzen Anzügen« (DBA, 14). Anlass dieser Ehrerbietung von Zuschauern, Reportern und Offiziellen ist Achims »dreißigste[r] Geburtstag« (DBA, 14), der im öffentlichen Raum begangen wird. Individuelle Geburtstage aber, darauf weist Thomas Schmidt ihn, »feiert man im privaten Raum«.145 Einzig solche von »sozial exponierten Persönlichkeiten werden öffentlich oder halböffentlich begangen und begreifen in solch einem Fall mehr mit ein als nur das Individuum«.146 Bereits Karschs erste Begegnung mit Achim führt ihm die gesellschaftliche Funktion Achims als »Sinnbild für die Kraft und Zukünftigkeit des Landes« (DBA, 36) vor Augen. Das Individuum, das deutet der Erzähler gleich zu Beginn des Abschnitts an, indem er eine »Veranstaltung zu Ehren des Radsports« ankündigt, bleibt hinter der Rolle als Verkörperung eines »kulturellen Selbstbildes«147 verstellt, wie Karsch der Blick auf Achim von Beginn an »verstellt« ist.148 Als Folge dieser Maskerade, die Achims Leben als Sinnbild des sozialistischen Aufschwungs stilisiert und in einer neuerlichen Biografie das betont wissen 145 Thomas Schmidt: Jenseits der Jahrestage. Zur Vorgeschichte des kalendarischen Erinnerns in Uwe Johnsons Werk, in: Johnson-Jahrbuch 7, 2000, S. 35–55, hier: S. 45. 146 Ebd., S. 45f. 147 Hofmann, Fremd und befremdlich, S. 177. 148 Als Attribut sowohl für die in ihrer Rolle als Radrennfahrer politisch funktionalisierte Titelfigur als auch für die politische Sprache in der DDR nimmt das Lexem ›verstellt‹ den Charakter eines Signalwortes ein; vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 192f., Anm. 44.

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möchte, »was ihn mit unserer neuen Zeit verbindet« (DBA, 120), unternimmt Karsch den Versuch, sich der Persönlichkeit und dem Leben von Karins Freund von außen anzunähern. Ein Fotoalbum der Familie schreibt Karsch in Bildbeschreibungen um (vgl. DBA, 229) und dessen gegenwärtiges Leben versucht er, sich über die »irdischen Güter« Achims zu erschließen, um zu erfahren, ob er »es wirklich gebracht [hatte] zu allem was der Mensch sich wünscht« (DBA, 47). Die Antwort des Erzählers, in die die figurale Perspektive Karschs integriert ist, enthält bibelsprachliche System- und Einzeltextreferenzen149 und nimmt auf die Parade zu Achims Geburtstag Bezug. Dem fiktiven Leser wolle er die Notwendigkeit des Buches […] nicht an den Kopf schmeißen als Geschrei der Fünftausend, dazu mußt du nicht auch noch über die Barriere springen die schräge Rennbahn hinab und Achim auf die Schultern heben, vier trugen ihn schon, vier reichten für ihn, auch mußte die Bahn wieder geräumt werden für den nächsten Lauf […]. (DBA, 48)

Der Erzähler, und mit ihm auch Karsch, der sich den Aufforderungen widersetzt, »die Hysterie von Massenveranstaltungen klarer darzustellen« (DBA, 127), betont, dass es für die Relevanz einer Biografie Achims eines Kults, wie er um dessen Rolle als erfolgreicher Radrennfahrer veranstaltet wird, nicht bedürfe. Der Effekt ist doppelter Natur: Einerseits kündigt der Erzähler an, dass auch Achims irdische Güter für Karschs Biografie keinen Ausgangspunkt zu bilden vermögen.150 Andererseits parodiert der Erzähler mit der Anspielung auf die Speisung der Fünftausend,151 die den wunderhaften Charakter des Wirkens Jesu bezeugt, den Kult um Achim, der geradezu »christologische Züge«152 annimmt. Der Erzähler verweigert Achim aber eine Überhöhung als Transfiguration Jesu, denn anders als Christus ist Achim nicht Agens der Handlung, sondern lediglich Patiens. Er ist kein »Quasi-Heiland«,153 sondern die Euphorie um seine sportlichen Erfolge wird von staatlicher Seite verwendet, um ihn als Propheten der sozialistischen Idee zu stilisieren. Ein Mittel dieser Stilisierung soll eine Biografie über Achim sein, die »die Einheit von Sport und Politik« (DBA, 127) zur Darstellung bringe und die ›ganze Person‹ berücksichtige (vgl. DBA, 49). Diese Stilisierung zum Ziel, wird Achims dreißigstem Geburtstag mit einer staatlich organisierten Zeremonie bedacht. Ähnlich wie die Zuschauer Achim hier zujubeln und die Silben seines Namens überschwänglich zum Überlagern bringen, beschreibt der Erzähler das Gesche-

149 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 3.3.2. 150 Wie ein »Fremder« verhält sich Achim in seiner »vorzüglichen sehr begehrten Wohnung« (DBA, 47). 151 Vgl. Mt 14,13–21 parr. 152 Alfons Kaiser: Für die Geschichte. Medien in Uwe Johnsons Romanen, St. Ingbert 1995, S. 60. 153 Ebd., S. 61.

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hen in einem Lokal, das Karsch mit Frau Liebenreuth aufsucht, um ein Radrennen Achims zu verfolgen: In der vollgedrängten Gaststube riß das fieberige Gespräch entzwei zu Stücken von Ruf und Schrei, wie anwesend setzte Achims Name sich um, bis endlich Lautsprecher und Eigenakustik der Gastwirtschaft wie erlöst zusammenfielen in der schweren Schwingung des gezerrten A zum zuschlagenden chim und trotz mehrmaliger Überlagerung den innigen Anschluß hielten; Karsch hörte Frau Liebenreuths kleine Stimme andächtig sagen und wehrlos: ja. Ja. Ja. (DBA, 168; Kursivdruck im Original)

Wie bei Achims Geburtstagszeremonie handelt es sich um eine Veranstaltung, auf der Achim den Mittelpunkt des Geschehens bildet. Karsch beobachtet in beiden Situationen das Vorgehen, mit Karin auf der Tribüne und mit Frau Liebenreuth vor einem Fernsehapparat. Die aufkommende Geräuschkulisse unterbindet jeweils das Gespräch zwischen Karsch und seiner Begleiterin, woraufhin der Erzähler die phonetischen Elemente der Rufe von Achims Namen wiedergibt. Kaiser interpretiert die Lautkombination ›A-chim‹ als eine Analogie zum biblischen ›A-men‹, lässt dabei aber die lautliche Kombination ›Ach-im‹ unberücksichtigt, die die Zuschauer während der Geburtstagszeremonie rufen.154 Die Integration von Adverbien der biblischen Sprache, wodurch »Lautsprecher und Eigenakustik der Gastwirtschaft wie erlöst«155 zusammenfallen und Karsch Frau Liebenreuth »andächtig156 sagen« hört, erzeugen dennoch einen Bibelton, der dem Erscheinen Achims messianische Züge verleiht.157 Die Stilisierung Achims als ein Messias des Sozialismus greift der Erzähler wenig später erneut auf. Auf den Wunsch des Biografierten, den Kauf der Dreigangschaltung samt »Grenzübertritt und Vergehen gegen die Währung des eigenen Staates« (DBA, 191) für die Biografie auszusparen, parodiert er die an Achim herangetragene Rolle durch den Verweis auf die Nachfolge Jesu und das Hohelied der Liebe:

154 Vgl. DBA, 13: »weit hinten in der Kehle bildeten sie die erste Silbe von Achims Namen, erschöpft nach dem Anstieg sank die zweite ab«. 155 Vgl. Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 173–175. Melzer zufolge diente ›erlösen‹ der »Übersetzung biblischer Wendungen, wurde dadurch kirchlich geprägt und trat dem weltlichen Wort ›befreien‹ gegenüber«; ebd., S. 173. 156 Vgl. ebd., S. 39f.; andächtig, in: DWB 1, Sp. 303. Vgl. hierzu auch Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3. 157 Vgl. Kaiser, Für die Geschichte, S. 60. Kaiser verweist darauf, dass der Text auch die Möglichkeit zulasse, das andächtige Sprechen als Reaktion Frau Liebenreuths auf das Fernsehen zu interpretieren: »In dieser Szene vor dem neuen Medium, die eine frühere Szene ›einer orgiastischen, gleichsam kultischen Massen-Verehrung‹ (vgl. DBA, [13f.]) fortführt, wird ein sakraler Kontext geschaffen, aus der liturgischen wird eine mediale Akklamation: […] Wenn aber Frau Liebenreuth, die sich für den Kneipenbesuch ›ihr Feiertagskleid‹ (DBA, [167]) angezogen hat, ›andächtig‹ ein dreifaches ›Ja‹ murmelt, dann lässt der Kontext offen, ob sie ihr Ja und Amen der Person Achims oder dem neuen Medium gibt«; ebd.

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Wer ihm zujubelte am Rand der Straße oder ihn unterwies in den Fragen der staatlichen Wohlfahrt oder ihm Ehe Verehrung Nachfolge anbot in Briefen mengenhaft, der sollte aber Den meinen von heute in grauem Anzug in ehrendem Empfang bei der Macht des Staates und in lächelnder Verbeugung und beim kameradschaftlichen Händedruck […]. (DBA, 193; Hervorhebung P. O.)

Die biblische Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe wird in der Übertragung auf Achim zu Ehe, Verehrung und Nachfolge angepasst und enthält mit ›Nachfolge‹ ein Lexem der biblischen Sprache.158 Ähnlich der Liebe im Bibelwort ist die Nachfolge innerhalb der Trias von zentraler Bedeutung. Nachfolge meint dabei mehr, als es Achim gleich zu tun und Radrennfahrer zu werden. Die Stilisierung Achims erfolgt mit dem Ziel der Erziehung der Bürger hin zu einem Denken, Sprechen und Handeln im Geiste des Sozialismus. Der Sport, so verkünden es bei Achims Geburtstagszeremonie die schwarzen Buchstaben auf der weißen Trennwand, »IST EIN MITTEL ZUR SOZIALISTISCHEN ERZIEHUNG« (DBA, 39; Versalien im Original). Achim nachzufolgen meint demnach, sich Achim zum Vorbild zu nehmen, der dem propagierten Bild zufolge sein Leben voll umfänglich in den Dienst des sozialistischen Staates stellt.159 Der Erzähler parodiert diese Stilisierung, indem er sie über das biblische Signalwort mit der Nachfolge Jesu in Beziehung setzt: »21Denn dazu seid ihr berufen; sintemal auch Christus gelitten hat für uns und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen«.160 Karsch geht sogar noch einen Schritt weiter und zeichnet »auf dem Papier« (DBA, 192) ein Bild des Radrennfahrers, der die staatliche Stilisierung internalisiert hat. Als Mittel der Darstellung wählt Karsch die Transfiguration eines biblischen Propheten: Seht euch an. Ich, Achim T., war jung nach dem Krieg und wollte nur noch leben irgend wie. Ich habe euch Häuser gebaut, von euch bekam ich etwas auf den Leib und zu essen. Ich habe gearbeitet und hinterher gelebt wie ihr, ich hatte nichts gegen euch, ich habe mich nicht gekümmert um euch, wir haben Geld getauscht und Anstrengung. Dann kam der Staat in der Partei des Sachwalters und sagte: Es genügt nicht. Da tat ich mehr. Da half mir der Staat zu meinem Vergnügen und machte es mir zum Beruf, da gab er mir etwas zu tun und Verantwortung für die besondere Art unseres Zusammenlebens, da hatte ich etwas für euch und kümmerte mich. Ihr, ehe ihr den Sachwalter so sehr

158 Vgl. Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 396: »Das Zeitwort ›nachfolgen‹ ist im Deutschen durch die biblische Sprache geprägt.« 159 Als Bauzeichner habe Achim »am Aufbau des Staates« (DBA, 89) mitgewirkt, als erfolgreicher Radrennfahrer repräsentiere er den Aufstieg der Nation, als Mitglied der Volkskammer gebe er sich als »Vertreter des Volkes gegenüber der regierenden Partei des Volkes« (DBA, 46) und mit einer Familie würde er die »Gemeinschaft des Volksteils vermehren« (DBA, 89). 160 1 Petr 2,21.

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befeindet und seinen Staat, bedenkt doch was er für euch tut und setzt einen Radfahrer in seine Vertretung des Volkes und spricht mit ihm. Das sollte es sagen. (DBA, 192f.)

In Aufbau und Duktus ähnelt die Rede einer biblischen Parabel, was durch den Nachtrag, »[d]as sollte es sagen«, unterstrichen und zugleich parodiert wird. Eingeleitet durch eine modifizierte Form des im Ingrid-Roman häufig anzutreffenden appellativen Biblizismus ›(und) siehe‹, folgt Achims Lebensgeschichte, aus seiner eigenen Perspektive wiedergegeben, als nachahmenswertes Beispiel und endet in einer appellativen Moral, die Taten des Staates genauestens zu bedenken. Vergleicht man diesen Aufbau etwa mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lk 10,25–37, werden die strukturellen Ähnlichkeiten deutlich: 25

Und siehe, [appellative Eingangsformel] Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. […] 35Des anderen Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. [Erzählung] 36 Welcher dünkt dich, der unter diesen Dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? 37Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihn tat. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin und tue desgleichen! [appellative Moral] 30

Der Vergleich verdeutlicht, dass Karsch Achim als einen sozialistischen Propheten karikiert, der sich durch die Unterstützung der Staatsmacht berufen fühlt, seine manipulierte und funktionalisierte Lebensgeschichte als nachahmenswertes Beispiel unters Volk zu bringen. Durch die biblische Systemreferenz werden »der Vorgang bzw. das dahinterliegende Selbstverständnis des Staates und der (Irr-)Glaube des Rennfahrer-Propheten […] der Lächerlichkeit preisgegeben«.161 Dass es sich bei dem von Karsch gezeichneten Bild Achims nicht um ein Phantasma handelt, wird bereits zu Beginn des Romans angedeutet: »Er war da und lebte öffentlich, die staatliche Hochschule für Körperkultur bezahlte ihn. Der Staat liebte ihn, er liebte den Staat: er hatte es selbst gesagt.« (DBA, 39) In der ihm zugedachten Rolle, ein öffentliches Leben als sozialistisches Sportleridol zu führen, geht Achim zunehmend auf. Die Folge ist eine Selbstentfremdung, die mit der Wahl in die Volkskammer ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dort hebt er »billigend die Hand […] für die Maßnahmen des Sachwalters in der Landwirtschaft« und bedankt sich »im Namen der Bauern, die ihn kaum hatten kennenlernen können« (DBA, 181); vor allem aber: die er nicht kennt. Seine Beteiligung am Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 bestreitet er trotz Beweisen, sodass sich Karin und Karsch spätestens zu diesem Zeitpunkt einge161 Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 207.

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stehen müssen, dass ihr Versuch, Achim durch die Konfrontation mit Karsch zu einer Auseinandersetzung mit seinem derzeitigen und vergangenen Leben zu bewegen, gescheitert ist. Seinen Wahrheitsbegriff hat Achim mit den gesellschaftlichen Umwälzungen um 1945 verloren,162 mit seiner Selbstentfremdung hat er jegliche Wahrheitssuche eingestellt. Er ist nur mehr ein Vehikel staatlicher Propaganda. Karsch hingegen ist nicht bereit, von seinem Wahrheitsanspruch abzusehen, und beendet das Biografievorhaben. Karin als die einzige Figur, die in einer privaten Beziehung zu Achim steht, ist nicht gewillt, ihrem Partner in die Selbstaufgabe zu folgen. Sie trennt sich von ihm, und somit auch von ihren »politischen Zwängen«.163 Nach der Abreise Karins drückt Achim im abschließenden Gespräch mit Karsch sein Bedauern aus: »– Vielleicht hätt ich das Buch gern lesen mögen, es war doch wirklich über mich« (DBA, 268). Auf diese Aussage hin folgt ein Bewusstseinsstrom Achims, in dem ein Radrennen als Parabel für den Konflikt zwischen den beiden deutschen Staaten dient. Im Medium der »radikalen Subjektivität«164 wird das Ausmaß von Achims Selbstentfremdung deutlich: »dieser Achim ist das Produkt der Verhältnisse«.165 Dennoch zeigt sich im Bewusstseinsstrom ein Achim, der im Verlauf des Romans nicht zu sehen war. Motive wie der Antisemitismus166 oder das Freund-Feind-Schema,167 die im Roman bereits zur Sprache gekommen sind, finden sich in Achims Rede wieder und zeugen von einer mangelnden Aufarbeitung seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Helbig folgert daher, dass in dieser Passage »Material« präsentiert wird, »das in jeder Hinsicht mit der geforderten Biographie unvereinbar gewesen wäre. Nicht nur, daß derartiges nicht hätte erwähnt werden dürfen: Es gibt gar keinen neuen Menschen, der zu beschreiben gewesen wäre.«168 Zu solchem ›Material‹ gehört auch ein biblisches Einsprengsel. Achim rekurriert auf das Motiv der Bestrafung der Schlange in Gen 3,14 und überträgt es auf den ›Klassenfeind‹: »auf dem Bauch sollt ihr liegen, nicht mehr kriechen können sollt ihr« (DBA, 271). Achim steht in dieser Aussage »zugleich für sich und stellvertretend«.169 Als Stellvertreter agitiert 162 Vgl. Birgit Möller: »Die Geschichte sucht sich ihre Form«. Erzählstruktur und Geschichte in Uwe Johnsons Roman »Das dritte Buch über Achim«, Magisterarbeit im Fachbereich Neuere Deutsche Literatur der Christian-Albrechts-Universität Kiel, unveröffentlicht, Kiel 1992, S. 82. 163 Krippner, Die Dritte im Dritten Buch, S. 25. 164 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 240. 165 Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 197; Kursivdruck im Original. 166 Vgl. DBA, 270: »hau uns übers Ohr wir schlagen deinen Juden«. Im Gespräch mit seinem Vater hatte der 15-jährige Achim auf die rhetorische Frage, »Und wer hat den Krieg angefangen!«, geantwortet: »Die Juden« (DBA, 83). 167 Vgl. DBA, 270: »meine Feinde sie sind in der Überzahl«; DBA, 62: »Zusammenhalt des deutschen Volkes gegen seine Feinde«. 168 Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, S. 198; Kursivdruck im Original. 169 Ebd.

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er im Sinne eines Freund-Feind-Schemas gegen das kapitalistische Westdeutschland. Der Gebrauch des biblischen Intertextes verweist überdies auf eine Bibelkenntnis, die als ein weiterer Ansatzpunkt für Achims religiöse Sozialisation gedeutet werden kann.170 Im Verhalten gegenüber Karin bringt er seine gegenwärtige Haltung zur Religion, die wenig überraschend der des Staates entspricht, unmissverständlich zum Ausdruck.

3.4.2 Karin: Die »Erlangung der ewigen Seligkeit« Achims erste Reaktion auf die Mitteilung von Karsch, dass Karin die Stadt und damit auch ihn verlassen habe, zeugt von dessen Unverständnis für das Verhalten der ehemaligen Freundin: Zu allen diesen Vorfällen hätte sie sich anders verhalten können als sie sagt: nicht notwendig mußte sie Furcht empfinden vor schußbereiten Stahlungetümen in den viel zu biederen Sträßchen einer Landstadt, nicht unumgänglich mußte sie festhalten an den Sätzen einer unwirksamen Religion über Recht und Sitte unter den Menschen […]. (DBA, 244)

Es ist nicht das erste Mal, dass Achim mit einer Trennung von Karin konfrontiert wird. Bereits zuvor waren sich beide zwei Mal aus dem Weg gegangen. Beide Male bildet Karins gesellschaftliches Verhalten die Ursache für den vorübergehenden Kontaktabbruch des Paares. Dieser Umstand verdeutlicht einmal mehr Achims Selbstentfremdung und sein Aufgehen in der ihm zugedachten staatlichen Rolle. Selbst in seiner Beziehung zu Karin, der einzigen Figur, die in einem persönlichen Verhältnis zu ihm steht, schlüpft Achim in seine Rolle als Stellvertreter des Staates und sanktioniert ihr Verhalten mit dem Ziel der politischen Erziehung. Entsprechend bezieht er sich in seiner Reaktion auf die endgültige Trennung nicht auf die Liebesbeziehung der beiden, die im gesamten Roman konsequenterweise ausgespart bleibt, sondern auf die moralischen Grundsätze Karins »über Recht und Sitte unter den Menschen«. Es ist Achim, der Karin das erste Mal aus dem Weg geht, weil sie »der Person des Sachwalters einen Händedruck verweigert hatte« (DBA, 244). Karins Beweggrund trägt der Erzähler nach, indem er sie in autonomer direkter Rede und damit so unmittelbar wie möglich zu Wort kommen lässt: »ich will nicht noch anfassen was ich schuld sein werde« (DBA, 244). In Anspielung auf die alttestamentliche Vorstellung, der zufolge sich Unreinheit durch Berührungen übertragen lasse,171 wird Karins Verhalten mit einer Moral begründet, die auf reli170 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3.1. 171 Die Vorstellung der Übertragung von Unreinheit durch Berührung gründet auf der Moralisierung von Reinheitsgeboten, wie sie etwa in Lev 11–15 festgehalten sind, ab dem achten

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giösen Vorstellungen beruht. Ein zweites Mal geht Karin Achim »freiwillig«, und damit vorsorglich, aus dem Weg, nachdem sie »nicht hatte unterschreiben mögen es sei glückhaft gewesen wie der Sachwalter die bäuerlichen Eigentumsformen hatte verändern lassen« (DBA, 244). Während bis zur Trennung Karins von Achim, und damit über beinahe die gesamte Länge des Romans, die Haltung des Radfahreridols zum subversiven Verhalten der Schauspielerin ausgespart bleibt,172 wird sie nach Karins Abfahrt nachgetragen und liefert einen Erklärungsansatz für die bis dahin so unplausibel erscheinende Romanhandlung.173 In seiner Reaktion spricht Achim die divergierenden moralischen Werthaltungen der Partner an, die nach zwei Phasen der zeitweiligen Distanz mit der Abfahrt Karins in der endgültigen Trennung enden. Als Quelle ihrer Moralvorstellungen verweist Achim auf »Sätz[e] einer unwirksamen Religion«, was durch Karins Begründung, warum sie dem Sachwalter den Handschlag verweigert, gestützt wird. Achims Aussage vorangestellt ist eine »›echte‹ Teilbiografie« Karins, deren ›Lebenslauf‹ bis dahin »aus Filmrollen« und den spärlich wiedergegebenen Erinnerungen Karschs zusammengesetzt ist.174 Auf etwas mehr als drei Seiten wird Karins Leben nach der Trennung von Karsch chronologisch nacherzählt und anhand ihrer Liebesbeziehungen gegliedert. Den Abschluss bildet die Darstellung ihrer Beziehung zu Achim mit den beiden Phasen der vorübergehenden Distanz. Die Beziehungen Karins sind allerdings nur der strukturelle Rahmen der Teilbiografie.175 In deren Zentrum steht der Wunsch der Protagonistin, ein Leben »in diesem Lande aber für die Kunst« (DBA, 242) zu führen. Nach der Trennung von Karsch kann sie Kurse in einer Schauspielschule geben, in die »der Staat noch nicht eindrang mit blauen Hemden und nächtlichem Türenschlagen« (DBA, 242). Sie empfindet eine (künstlerische) Freiheit, die ihr trotz der »Umzäunung« (DBA, 242) nicht eingeschränkt scheint. Diese persönlich empfundene Idylle löst sich jedoch im Laufe der Zeit auf. Als Angestellte am Theater einer Kleinstadt weigert sie sich noch, von Oberschülern in die »Einzelheiten des Widerstands

172 173 174 175

Jahrhundert v. Chr. Als Folge dieser Moralisierung der Reinheitsvorschriften kommt es zur Vorstellung einer Herzensreinheit des Menschen (vgl. Spr 29,9; Ps 26,6; Ps 51,3f.). Jesus wendet sich gegen die alttestamentlichen Reinheitsvorstellungen, von den Speisegeboten bis hin zur Moralisierung mit der Trennung reiner und unreiner Menschen, und setzt die Ablehnung mit der Heilung von Kranken (vgl. Mt 8f.) in die Tat um; vgl. Bernhard Maier u. a: Reinheit, in: TRE, Bd. 28: Pürstinger–Religionsphilosophie, Berlin 1997, S. 473–497, bes. S. 478f., 481, 487f., 495. So wird auf ihre fehlende Unterschrift unter der »Empörung gegen die gaunerhaften Methoden westdeutscher Berichterstattung« (DBA, 179) mit keinem Wort Achims Reaktion erwähnt, sondern einzig die Herrn Fleisgs. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 3.3.1. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 9. Krippner, Die Dritte im Dritten Buch, S. 17. Krippner leitet aus der Struktur der Teilbiografie ab, dass Karin »jenseits dieser Beziehungen nicht zu existieren« scheine; ebd.

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gegen den Sachwalter« (DBA, 242) hineingezogen zu werden. Gleichwohl muss sie erkennen, dass ein Leben allein für die Kunst und fern der politischen Einflüsse (in diesem Land) nicht zu führen ist. Den Auslöser für diese Erfahrung bildet ihr Unrechtsempfinden, das Erkennen der Unvereinbarkeit staatlich ergriffener Maßnahmen mit ihren moralischen Grundsätzen: »Der Sachwalter zerrüttete die notdürftig reparierte Wirtschaft, vergitterte die Grenze, vereinigte den überlegten wie den tölpelhaften Widerstand in den Zuchthäusern und tat alles, was ihr die tote Mutter beschrieben hatte als hinderlich für die Erlangung der ewigen Seligkeit.« (DBA, 242) Die durch ihre Mutter vermittelte Maxime der »Erlangung der ewigen Seligkeit« geht auf die kirchliche Lehre von der Seligkeit des ewigen Lebens zurück. Sie basiert auf der Vorstellung der »Wahrheitsgewißheit des Glaubens«,176 dem Bewusstsein, durch den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus mit Gott versöhnt zu sein, und der Zuversicht, die Gemeinschaft mit Gott vollenden zu können. Die Seligkeit des ewigen Lebens lässt sich als eine »›Schau‹« bzw. als »›Anschauung‹ Gottes« umschreiben und geht über »alle irdisch mögliche Gotteserkenntnis und Gottesliebe hinaus«.177 In seinen Ablassthesen betont Luther unter Verweis auf Apg 4,12 und Apg 15,11, dass der Glaube an Jesus Christus für die Erlangung der ewigen Seligkeit maßgeblich ist.178 Der Mensch kann sie nicht bewirken, sondern lebt in ihrer Hoffnung, sodass die Seligpreisungen zu Beginn der Bergpredigt179 indikativischer und nicht imperativischer Natur sind. Dennoch handelt es sich bei den acht Seligpreisungen um »Einlaßgebote nach Art eines ›christlichen Tugendkatalogs‹«,180 sodass die Erlangung der ewigen Seligkeit neben dem Glauben an Jesus Christus »nur im Rahmen einer vielfältigen verantwortlichen Lebenspraxis«181 denkbar ist. Der Verweis des Erzählers auf die Erziehung der Mutter als Quelle des ethischen Grundverständnisses von Karin,182 aber auch die Begründung für den 176 Konrad Stock: Seligkeit. III. Dogmengeschichtlich und dogmatisch, in: RGG4 7, Sp. 1180– 1183, hier: Sp. 1180. 177 Ebd. 178 Vgl. Martin Luther: Resolutiones Disputationum de indulgentiarum virtute, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 1, Weimar 1883, S. 530– 628, hier: S. 587: »Non est enim nobis ulla fiducia salutis, nisi unus Ihesus Christus, nec aliud nomen sub caelo datum, quo nos oporteat salvos fieri.« 179 Vgl. Mt 5,3–12. 180 Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, S. 269. 181 Stock, Seligkeit, Sp. 1184. 182 Wie in Ingrid Babendererde ist es die Mutter, die das »innere Gespür für das ›richtige Leben‹« auf ihre Tochter überträgt; Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 212. Während Ingrids Vater beim Segeln ums Leben kommt, bleibt das Schicksal von Karins Vater ausgespart. In ihrer Teilbiografie wird die Protagonistin nur mit den Worten zitiert: »Ich bin eine Waise, für mich sorgt keiner.« (DBA, 243) Innerhalb von Johnsons zweitem veröffentlichten Roman bildet Achims Vater den Antipoden zu Karins Mutter. Ihm

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verweigerten Händedruck mit den moralisierten Reinheitsvorschriften des Alten Testaments sprechen gegen eine Motivation zur Erlangung der ewigen Seligkeit, die im christlichen Glauben gründet. Stattdessen legt der Text ein ethisches Selbstverständnis Karins nahe, das christlich fundiert, aber säkularisiert ist. Ihr Ziel ist es, ein vielfältig verantwortliches Leben nach den Maßgaben ihrer mütterlichen Erziehung zu führen. Inwieweit Karin die Bibel mit dem alttestamentlichen Dekalog und der neutestamentlichen Bergpredigt als Quelle der mütterlichen ethischen Grundhaltung bewusst ist, bleibt im Roman offen. Als Hinweis auf eine christliche Sozialisation, die über den Einfluss der Mutter hinausgeht, ließe sich einzig Karins Sprachgebrauch interpretieren, der im Roman an gleich drei Stellen eine Systemreferenz auf das ›du sollst‹ des Dekalogs enthält.183 Unabhängig davon wird deutlich, dass Karins christlich fundierte Moralvorstellungen mit der politischen Gegenwart im Widerspruch stehen und zu einer inneren Zerrissenheit der Protagonistin führen. Aus Karins Teilbiografie erfährt der Leser, dass sie schon einmal in einer solchen Situation war und »viel Lust [hatte] umzuziehen in das andere Land, in dem das Leben unparteiisch behandelt schien« (DBA, 242). Der Relativsatz ergänzt den Wunsch der Protagonistin um ihre Vorstellung von einer Alternative zum Leben in Ostdeutschland. Fundamental hierfür ist ein Leben in Freiheit, ohne ein staatliches System, das das Leben seiner Bürger in beinahe allen Lebensbereichen mit seiner Staatsdoktrin zu durchdringen versucht. Das Modalitätsverb bzw. Halbmodal »schien« bringt aber auch die Zweifel Karins zum Ausdruck, ob der westdeutsche Staat seinem demokratischen Anspruch gerecht wird und damit eine wirkliche Alternative für ein ›anderes‹ Leben darstellt. Ihre Zweifel und die Perspektive, mit einem ehemaligen Mitschüler ein Kabarett zu eröffnen, bewegen sie zu einem Verbleib in Ostdeutschland. Mit dem Kabarett gelingt es nach dem Tod seiner Frau nicht, Achim eine ethische Grundhaltung zu vermitteln: »– Wenn er doch einmal mit mir geredet hätte! aber er hat mich der Schule und der Hitlerscheiße völlig ausgeliefert. […] Wenn mein Vater es mir doch zusammengebracht hätte! dann hätte ich doch um meine Mutter weinen können wie ein Mensch. […] Vielleicht war das Leben damals so richtig. Ist mir nicht gesagt worden.« (DBA, 83–85) Diesen textuellen Befund wie Klaus feministisch zu interpretieren geht höchstens für Das dritte Buch über Achim auf. In Ingrid Babendererde stehen sich Ingrids und Jürgens Mutter in ihrem Verhältnis zu ihren Kindern gegenüber. In den Mutmassungen über Jakob und den Jahrestagen ist es Gesines Vater, der die Protagonistin in ihrem moralischen Verhalten maßgeblich beeinflusst. Überlegungen zu Johnsons Ausgestaltung des Rollenverhaltens der Elterngeneration hat Gary Lee Baker angestellt; vgl. Gary L. Baker: Väterlichkeit und die Spuren von Heinrich Cresspahls Stärke, in: Johnson-Jahrbuch 21, 2014, S. 102–113. 183 Vgl. DBA, 24: »Du sollst nicht über mich lachen sondern über ihn: sagte sie«; DBA, 39f.: »Der unkenntliche Ton in ihrer Stimme, der etwas bezeichnen sollte, was Karsch noch nicht verstand: Du sollst nicht über mich lachen sondern über ihn«; DBA, 108: »Du sollst mich wundern: sagte sie.« Im wiederholten Gebrauch der dekalogischen Sprachform ›du sollst‹ ähnelt Karin Gesine aus den Mutmassungen über Jakob; vgl. Zweiter Teil, Kap. 2.5.2.

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planen sie, eine »Brücke über den Abstand zwischen dem Sachwalter und seinen Bürgern« zu errichten, und Karin lernt, »daß das Leben weitergehen müsse und verbesserbar sei, warum nicht im Scherz« (DBA, 243)? Hier kann sie Rollen spielen, die ihr »ähnlich« sind, »gegen die regierende Partei« (DBA, 243). Ein jähes Ende findet dieses Leben, als das Kabarett aufgrund eines Liedes geschlossen wird, »dessen Refrain einer Eigentümlichkeit in der Sprechweise der Sachwalterperson ähnelte« (DBA, 243). Ihr Freund flieht »in der Not und nicht aus Überlegung« (DBA, 243) nach Westdeutschland, wohingegen Karin in Ostdeutschland verbleibt. Ihr wird von der Staatsmacht ›verziehen‹, sie bekommt »namhafte Arbeiten« (DBA, 243) aufgetragen und wird in der DDR zu einer bekannten Schauspielerin. Klaus leitet aus der Begründung für die Flucht des Freundes ab, dass Karin Ostdeutschland nur »aus durchdachter Überzeugung«184 verlassen würde. Der Text legt aber eine andere Lesart näher, denn für Karin besteht nicht die existenzielle Not, der ihr Freund ausgesetzt ist. Sie wird vom Staat hofiert und versucht ihre moralischen Skrupel zu verdrängen: »Sie glaubte kaum zu lügen, wenn sie lobte was wohltätig war am Staat des Sachwalters und verschwieg was du nicht selbst erleben möchtest. Ja. Nein. Vielleicht.« (DBA, 243) Aber nicht nur als staatlich geförderte Schauspielerin, als die sie »das Verhalten verschiedener Personen glaubwürdig zeigen konnte« (DBA, 243), ist sie eine Rollenspielerin. Ihr Engagement im Kabarett begreift Karin als ein »kündbares Bündnis« (DBA, 243), in dem sie verschiedene Rollen bekleidet, nicht aber ihre politische Überzeugung offenbart. Statt ihre Maskerade als notwendiges Taktieren zu interpretieren, um die eigene Identität wahren zu können,185 lässt sich Karins Verhalten ebenso als Ausdruck einer politischen Unmündigkeit deuten. Durch das Verdrängen ihrer moralischen Zweifel droht sie in den politischen Ansprüchen aufzugehen, die an sie als staatliches Aushängeschild gestellt werden. Mit der Beziehung zu Achim, in dem sie den Sozialismus zu erkennen glaubt, »wo sein Name genannt wird« (DBA, 243f.), läuft sie Gefahr, wie ihr Freund zu einer politischen Projektionsfläche zu werden. Trotz der Einsicht in das wiederholt zu beobachtende politische Unrecht und ihrer differenzierten Einsicht, »Westdeutschland ist nicht gerecht Ostdeutschland ist nicht gerecht«, führt sie die Hoffnung, »vielleicht werden wir es eher« (DBA, 244), immer wieder in die Arme der ostdeutschen Staatsmacht. Beispielhaft dafür steht nicht nur Karins Verbleib im Land nach der Schließung des Kabaretts, sondern auch ihre Liaison mit Herrn Fleisg, der sie 184 Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 213. 185 Nur dadurch, dass Karin »beruflich wie privat ständig in andere Rollen schlüpft«, könne sie »sie selber bleiben«; ebd. Felsner betont, dass Karin sich einerseits wiederholt gegen die Regierung wendet, sie sich nicht anpasst, und andererseits »geschickt zu taktieren und mit der Staatsmacht zu spielen« weiß; Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 329.

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kurz zuvor öffentlich diskreditiert. Karins Taktieren basiert auf einer inneren Zerrissenheit zwischen moralischer Unvereinbarkeit und dem Wunsch: »Ich will auch überleben.« (DBA, 244) In einen unvereinbaren Gegensatz gerät dieses Verhältnis für Karin durch das Unrecht der (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft und deren Folgen. Die in ihr durch den Suizid eines Bauern ausgelöste Betroffenheit lässt das politische Ereignis zu einem Schlüsselerlebnis werden, das von zentraler Bedeutung für den Verlauf der Romanhandlung ist. Während Karin von Filmaufnahmen aus Rumänien zurückkehrt, wird sie von zwei Herren, bei denen es sich mutmaßlich um Stasi-Beamte handelt, in ein Gespräch verwickelt und zu »ihren weiteren Plänen« (DBA, 133) befragt. Statt auf diese Frage zu antworten, äußert sie sich über die »neuerlich wegweisenden Maßnahmen des Sachwalters« und bedient sich der politisch funktionalisierten Wendung aus Lk 2,14: »darüber sei sie sicherlich einer Meinung mit allen Menschen guten Willens« (DBA, 133). Karins Antwort, das wurde bereits ausgeführt, zeugt von einem Taktieren zwischen politischer Erwünschtheit und einer Distanz zum Gesagten durch die Übernahme fremder, politischer Rede. Die phraseologische Wendung von den ›Menschen guten Willens‹ steht an dieser Stelle aber nicht allein für die Friedenspropaganda im ostdeutschen Staat. Sie repräsentiert darüber hinaus den Gegensatz zwischen der christlich fundierten Moralvorstellung Karins und der politischen Realität im real existierenden Sozialismus. Sie fungiert als Symbol für die Prüfung, der die Protagonistin ausgesetzt ist: Fügt sie sich der politischen Umdeutung oder besinnt sie sich des ethischen Gehalts des biblischen Intertextes? Karin entscheidet sich zugunsten ihrer moralischen Grundvorstellungen, die mit der politischen Gegenwart unvereinbar sind. Die (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft bringt das Fass zum Überlaufen, denn der Zwiespalt zwischen den politischen Idealen und der politischen Praxis, zwischen dem Sprechen und dem Handeln im ostdeutschen Staat hat eine Dimension erreicht, über die sie sich nicht mehr hinwegtäuschen kann. Die politischen Widersprüche bestimmen aber nicht nur Karins öffentliches Leben als Schauspielerin, sondern auch ihr privates Leben in ihrer Beziehung zu Achim. Dieser lässt sich in die Volksvertretung wählen und stimmt für die (Zwangs-)Kollektivierung. Als Karin gewahr wird, dass Achim noch einige Jahre zuvor am Aufstand des 17. Juni 1953 beteiligt war und diesen Umstand trotz einer Fotografie verleugnet, sieht sie sich zum Handeln gezwungen. Als Handelnde wird sie zugleich Subjekt186 und ähnelt damit in ihrer Verhaltensweise einer Figur, deren Rolle sie als Schauspielerin durch eine »seelische Spannung« (DBA, 133) verkörpert.

186 Vgl. Krippner, Die Dritte im Dritten Buch, S. 25.

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Krippner warnt zu Recht davor, dass Karins Tätigkeit als Schauspielerin den Leser dazu verleiten könnte, das Leben einzig vor dem Hintergrund ihrer gespielten Rollen zu interpretieren und damit den Unterschied zwischen Rolle und Realität zu verwischen.187 Dennoch kann nicht unbeachtet bleiben, dass Karins Rolle als Emilia Galotti die einzige im Roman ist, die namentlich erwähnt wird. Dass der Erzähler den Hinweis auf diese Rolle unmittelbar im Anschluss an Karins Äußerung zu den »neuerlich wegweisenden Maßnahmen des Sachwalters« platziert, lässt sich als Signal deuten. Die Wortwahl einer aus ihrem Spielen abgeleiteten Vermutung offenbart, dass der Erzähler die staatlich-offizielle Perspektive zu Wort kommen lässt: »daß sie seit dem vorigen Jahr in persönlicher Auseinandersetzung mit dem neuen Leben unseres einmaligen Staates gereift und somit wurde was sie ist« (DBA, 133). Der Effekt der Integration der staatlichen Perspektive besteht zum wiederholten Male darin, die systematische (Ent-)Politisierung und sozialistische Funktionalisierung beinahe aller Lebensbereiche in der DDR zu parodieren. Bekanntlich fällt Emilia Galotti im gleichnamigen bürgerlichen Trauerspiel Gotthold Ephraim Lessings einer Intrige zum Opfer, für die der von ihrer Schönheit besessene Prinz Hettore Gonzaga und sein Kammerherr Marinelli verantwortlich zeichnen. In einer Welt der staatlichen Willkür, in der sich der herrschende Prinz seiner »moralischen Normen, die seinen Launen entgegenstehen«,188 enthoben sieht, erkennt Emilias Vater Odoardo nur eine Möglichkeit, um das Leben seiner Tochter gemäß ihren moralischen Grundsätzen zu ermöglichen: »Ich denke, ich weiß es, was meiner Tochter in ihren itzigen Umständen einzig geziemet. – Entfernung aus der Welt; – ein Kloster, – so bald als möglich.«189 Emilia Galotti stimmt ihrem Vater indirekt zu, indem sie ihn auffordert: »Lassen Sie uns fliehen, mein Vater!«190 Erst, als sie erkennt, dass sie auf Befehl des Prinzen von ihren Eltern getrennt werden soll, begreift sie den Tod als den letzten ihr verbliebenen Ausweg aus der »gesellschaftlichen Ausgeliefertheit und der grundsätzlich anerkannten Verführbarkeit des Menschen«.191 Ganz ähnlich zu den Verweisen auf Schillers Die Bürgschaft und Brechts Adaption der Ballade in Johnsons Erstling Ingrid Babendererde fungiert der literarische Intertext auch an dieser Stelle als Parabel. Die Figur der Emilia Galotti weist Karin einen Weg, ihre moralische Integrität zu bewahren. Ihr späteres Handeln wird vor dem Hintergrund von Lessings Trauerspiel in eine literarische Tradition der weiblichen Tugend gestellt: 187 Vgl. ebd., S. 15. 188 Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, 6. Aufl., München 1998, S. 208. 189 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 7: Werke. 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt am Main 2000, S. 291– 371, hier: S. 362. 190 Ebd., S. 368. 191 Barner u. a., Lessing, S. 213.

372 Odoardo. Emilia. Odoardo.

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Ich meine, du bist ruhig, mein Kind. Das bin ich. Aber was nennen Sie ruhig sein? Die Hände in den Schoß legen? Leiden, was man nicht sollte? Dulden, was man nicht dürfte? Ha! wenn du so denkst! – Lass dich umarmen, meine Tochter! – Ich hab es immer gesagt: das Weib wollte die Natur zu ihrem Meisterstücke machen. Aber sie vergriff sich im Tone; sie nahm ihn zu fein. Sonst ist alles besser an Euch, als an Uns.192

Die weibliche Tugend zeichnet sich bei Emilia Galotti wie auch bei Karin durch eine »Moral der Verweigerung«193 aus. Diese gründet darin, die moralische Integrität, die bei beiden christlich fundiert ist, und somit das eigene Ich zu wahren. Im Unterschied zu Emilia Galotti ist Karins Situation noch nicht ausweglos, sodass ihr nur der Tod bliebe, um ihre Identität zu wahren. Wie von Odoardo gewiesen, wählt sie die Flucht; nicht über die Grenze, sondern ins Private – die »Entfernung aus der Welt«. Es ist keine Flucht in das andere Deutschland, in dem sie erneut Gefahr liefe, sich einem nur anderen politischen System auszuliefern,194 sondern in die »ostdeutsche Provinz, weg vom Zentrum der Macht«.195 Für ein Leben, wie Karin es anstrebt, bietet der Roman in Frau Liebenreuth ein vermeintliches Vorbild. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie zurückgezogen; den populären Radrennfahrer Achim kennt sie nicht (vgl. DBA, 182) und die Gastwirtschaft in der Nähe ihrer Wohnung hat sie »zum letzten Mal vor dreißig Jahren« (DBA, 167) besucht. Kontakt unterhält sie stattdessen zu Durchreisenden wie Karsch, dem sie »einmal in zwei Wochen auszureden« (DBA, 130) versucht, was der Regierung an seiner Arbeit missfallen könnte. Frau Liebenreuth lebt seit langer Zeit zurückgezogen und doch deutet der Erzähler eine Veränderung an, auf die sie zustrebt. Von den Mieten der durchreisenden Besucher lebend, spart sie die staatliche Rente »für etwas« (DBA, 34), das sich aus einzelnen Hinweisen nur andeutungsweise erschließen lässt. Ihr Kontakt zu Durchreisenden und ihre Hinweise an Karsch verweisen auf eine oppositionelle Haltung zum 192 Lessing, Emilia Galotti, S. 368. 193 Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 240. 194 Vgl. DBA, 172f.: »Die städtisch regierende Zeitung berichtete nur von der kriegerischen Rüstung des westdeutschen Staates, sprach von ungerechten Gerichtsurteilen gegen Volksredner und von der zunehmenden Verrohung der Sitten […], aber die westdeutschen Zeitungen sprachen unüberhörbar von der kriegerischen Aufrüstung des ostdeutschen Staates, von ungerechten Gerichtsurteilen gegen Volksredner und wachsender Verrohung der hiesigen Sitten.« 195 Fries, Überlegungen zu Johnsons zweitem Buch, S. 214. In seinen Frankfurter Vorlesungen bekundet Johnson, dass er einen Rückzug und Verbleib in der DDR auch für sich noch bis kurz vor Veröffentlichung der Mutmassungen über Jakob präferierte: »– Sobald das gedruckt wird, gehst du in den Westen: war die Übersetzung des Befehls. Der Verfasser weigerte sich. Er zog das Land D.D.R. vor. Schreibend meinte er es endgültig erworben zu haben wie ein Eigentum. Er glaubte, es werde sich verändern, er wollte anwesend sein bei Veränderungen.« (BU, 152)

Annäherung an eine ethische Orientierung

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DDR-Regime. Die Wahl des Figurennamens ›Liebenreuth‹ deutet im Determinans auf die ›Liebe‹ als eine zentrale Charaktereigenschaft, im Determinatum auf eine schicksalhafte Vergangenheit hin,196 womöglich den Tod ihres Mannes, der ihr Leben grundlegend verändert hat. Ob Frau Liebenreuth eine Veränderung ihrer Lebensumstände anstrebt – vielleicht mit einer Flucht in die BRD –, bleibt aber offen. Dass sie sich allerdings in einer ›stillen‹ Opposition zum ostdeutschen Staat befindet, unterstreicht der Erzähler, indem er sie mit einem wahren ›guten Willen‹ charakterisiert: »– Ich weiß jetzt auch wer Sie [= Achim; P. O.] sind: sagte sie, ihr knittriges Gesicht strahlte von gutem Willen. Er stand vor ihr in seiner langen verlegenen Gestalt und lächelte wie er es gelernt hatte.« (DBA, 167) Während Frau Liebenreuths Gesicht von gutem Willen strahlt, setzt Achim ein erlerntes Lächeln auf. Die beiden Figuren könnten gegensätzlicher kaum sein: Achim als nicht authentischer Staatsdiener und Frau Liebenreuth als zurückgezogen lebende und aufrichtige Privatperson. Für Karin kann sie so als Vorbild dienen, um ihre religiös fundierte moralische Integrität trotz der politischen Umstände zu wahren. Ob ihr dies mit dem Rückzug ins Private gelingt, bleibt innerhalb des Romangeschehens jedoch offen. Die Teilbiografie, die Klaus als das »kontrafaktische Finale der Biographiebemühungen Karschs«197 und des Erzählers bezeichnet, gibt Aufschluss über die christlich fundierten moralischen Grundsätze Karins, die wiederum einen Schlüssel zum rätselhaften Plot des Romans zur Verfügung stellen. Ihr Handeln, das sie aus dieser Moral ableitet, bietet dem Leser eine »Denkfigur«, die sich »jenseits der binären Pole Ost und West« bewegt.198 In Karin die »eigentliche[] Zentralfigur«199 des Romans zu sehen, ist insofern nur konsequent.

3.5

Annäherung an eine ethische Orientierung

Die Beziehung zwischen Karin und Achim bildet das Zentrum der auf der ErzählEbene wiedergegebenen Geschichte. Während die Beziehung zwischen Gesine und Jakob in den Mutmassungen über Jakob emotionaler Natur ist, bleiben Momente privater Zweisamkeit zwischen der Schauspielerin und dem Radrennfahrer in Das dritte Buch über Achim vollständig ausgespart. Private Krisen sind überdies aufs Engste mit politischen Situationen verknüpft, sodass die 196 Das Suffix ›-reuth‹ in Ortsbezeichnungen verweist auf einen Ort, der auf einer gerodeten Fläche entstand. Krappmann gibt darüber hinaus Liebenreut bei Passau als vermeintliche Quelle des Figurennamens an; vgl. Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 251. 197 Klaus, Weibliche Hauptfiguren in den Werken Uwe Johnsons, S. 212. 198 Krippner, Die Dritte im Dritten Buch, S. 25. 199 Ebd.

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Das dritte Buch über Achim

(Liebes-)Beziehung nur mehr den Rahmen für das bildet, was in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman verhandelt wird.200 Erneut geht es dabei um das Verhalten gegenüber der staatlichen Obrigkeit. Während die Protagonisten von Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob mit Schülern, Arbeitern und Intellektuellen ›einfache Personen‹ waren, sind sie in Das dritte Buch über Achim zwei Aushängeschilder des DDR-Staates in der Kunst und im Sport. In ihren jeweiligen Rollen werden beide politisch funktionalisiert, verhalten sich gegenüber dem staatlichen Übergriff aber letztlich gänzlich verschieden. Achim gibt sich den an ihn herangetragenen Erwartungen zunehmend hin und geht mit der Wahl in die »Volksvertretung seines Landes« (DBA, 44) in seiner Funktion als Prophet des Sozialismus auf. Karin hingegen, der vor dem Beginn der erzählten Zeit ein ähnliches Schicksal droht, bewahrt sich ihre Individualität und bricht mit ihrer staatlich erwünschten Rolle. Ursächlich für ihre Emanzipation sind ihre christlich fundierten moralischen Wertvorstellungen, die sie das Unrecht der politischen Gegenwart erkennen lassen. Achim dagegen wird als eine Figur charakterisiert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges moralisch orientierungslos ist und somit leicht ein Opfer staatlicher Funktionalisierung wird. Aufgedeckt werden diese Zusammenhänge durch den Erzähler und durch Karins ehemaligen Geliebten, den westdeutschen Journalisten Karsch. Er fährt auf Bitten der Schauspielerin über die innerdeutsche Grenze, um Achim seine sukzessive Selbstentfremdung vor Augen zu führen. In seiner Rolle als Reflektorfigur versucht Karsch die verschiedenen an ihn herangetragenen Erwartungen miteinander zu vereinen, woraus das Bestreben erwächst, ein drittes Buch über den Radrennfahrer Achim zu verfassen. Eingebettet in die politisch-gesellschaftliche Situation zweier deutscher Staaten vermag er es letztlich nicht, ein Buch über die verschiedenen Grenzen hinweg, in der Sprache, in den Vorstellungen von einer Biografie sowie in den Wahrheitsvorstellungen von ihm und Achim, zu verfassen. Das Biografievorhaben scheitert, fördert aber auf der Erzähler-Ebene die Ursachen zutage, die zu Achims Selbstentfremdung und moralischer Orientierungslosigkeit geführt haben. Die Darstellung von Karschs Recherchen deckt die ideologischen Widersprüche und Funktionalisierungen auf, die östlich der innerdeutschen Grenze auf der politischen Tagesordnung stehen. Als Mittel zum politischen Zweck wird eine biblische Wendung wie 200 Marcel Reich-Ranicki bezeichnet die Figuren demgemäß als »Demonstrationsobjekte«: »Nicht um Charaktere geht es, sondern um die Verhältnisse, nicht um Aktionen, sondern um den Hintergrund. Wichtiger als die Gedanken, die geäußert werden, sind für Johnson die Umstände, die sie verursacht haben«; Marcel Reich-Ranicki: Ein Mann fährt ins andere Deutschland. Uwe Johnsons »Das dritte Buch über Achim« – Das erste wirklich wichtige Werk über unsere große Frage«, zitiert nach Riedel (Hg.), Uwe Johnsons Frühwerk, S. 126– 130, hier: S. 127.

Annäherung an eine ethische Orientierung

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›Menschen guten Willens‹ für die eigene Propaganda umgedeutet, werden Lebensläufe gefälscht und Idole funktionalisiert – und alles vor dem Hintergrund der sozialistischen Erziehung der eigenen Bevölkerung. Einher geht diese Propaganda mit politischen Repressionen, die im Roman exemplarisch an der (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft vorgeführt werden. Inwieweit in einer solchen politischen Situation eine christliche Ethik als Grundlage des Verhaltens gegenüber dem Staat dienen kann, wird im Roman am Beispiel Karins und vor dem Hintergrund des Umgangs der christlichen Kirchen mit Suizidenten verhandelt. Zumindest die Kirche als Institution wird durch die impliziten Hinweise auf diesen theologisch-kirchengeschichtlichen Diskurs nicht per se als Instanz ethischer Orientierung akzeptiert. Stattdessen wird auf der Methode des Hinterfragens als zentralem ethischen Verfahren insistiert. Hinterfragt werden ideologische Narrative, aber auch das eigene Erzählen und das der Figur Karsch vor dem Hintergrund der politischen, sozialen und situativen Bedingtheit einer jeden Sichtweise und eines jeden Sprechens. Berücksichtigung findet diese Prämisse in der Auswahl der Protagonisten, die in ihrer Beziehung letztlich als Antipoden auftreten, in der Makrostruktur einer fragenden Leserinstanz, in der Präsentation von Entwürfen für Achims Biografie, die teilweise als Varianten gegenübergestellt werden, und im Aufbrechen sprachlicher Engführungen und Kausalitäten. Letzteres erfolgt u. a. durch biblische System- und Einzeltextreferenzen, die den Erzählfluss unterbrechen, scheinbare Kausalitäten lösen und sogar in Antithesen umformen. Wie in Johnsons ersten beiden Romanen werden die intertextuellen Beziehungen zur Heiligen Schrift in Das dritte Buch über Achim beinahe ausschließlich über Anspielungen erzeugt. Zitatcharakter haben lediglich vereinzelte geflügelte Bibelworte wie der Verweis auf Apg 4,32, »ein Herz gewesen und eine Seele« (DBA, 152), und einzelne Signalvokabeln wie die »irdischen Güter« (DBA, 47) aus 1 Kor 9,11f. Einen Sonderfall stellt die kirchliche Wendung ›Menschen guten Willens‹ dar, die auf die Übersetzung von Lk 2,14 aus der Vulgata zurückgeht. Mit den Anspielungen auf den theologisch-kirchengeschichtlichen Diskurs zur christlichen Bewertung des Suizids enthält der Roman überdies einen sekundären biblischen Intertext, der über die Bestattungspraxis aufgerufen wird. Insgesamt sind die biblischen Intertexte in Johnsons zweitem veröffentlichten Roman von einer verhältnismäßig geringen Selektivität. Ihr biblischer Kontext wird wie schon in den Romanen zuvor nicht thematisiert, sondern sie werden möglichst nahtlos in den Erzähltext integriert. Funktional ist für Das dritte Buch über Achim die intertextuelle Form der Signalvokabel dominant. Durch biblische Einsprengsel erhält die Entscheidung, die Karin und Achim hinsichtlich ihrer staatlichen Funktionalisierung zu treffen haben, eine ethische Fundierung. Überdies wird über kurze Anspielungen mit Signalvokabeln pointiert Kritik geäußert oder es werden Verhaltensweisen pa-

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Das dritte Buch über Achim

rodiert wie bei den Verweisen auf die Versuchung Jesu (vgl. DBA, 70, 195) und die Speisung der Fünftausend (vgl. DBA, 48). Ähnlich punktuell wird das Aufgehen Achims in seiner staatlich zugeordneten Rolle als Prophet des Sozialismus in seiner Sprache abgebildet. Referenzielle Folien, die wie noch in den Mutmassungen über Jakob über biblische Bezugnahmen in den Text eingespielt werden, kommen im Achim-Roman nicht mehr zur Anwendung. Neben Signalvokabeln werden durch Systemreferenzen auf biblische Sprachformen Brechungen im Erzählen erzeugt, die eine Erzähler-Sprache konstituieren, die sich in Opposition zu einer staatlich funktionalisierten und entfremdeten Sprache verortet. Im Vergleich zu seinen ersten beiden Romanen hat Johnson die Verweisformen auf die Heilige Schrift in Das dritte Buch über Achim reduziert. Ein biblischer Tonfall, der ganz verschiedene Diskurse stiftet und bereits bestehende erweitert, lässt sich aber auch für den ersten Roman nachweisen, den der zwei Jahre zuvor Übergesiedelte in seiner neuen Heimat »unter einer Einflugschneise der westberliner Luftbrücke«201 verfasste. Gerade vor dem Hintergrund von Krellners These, dass sich mit der Arbeit an diesem Roman das Material erschöpfte, das Johnson aus Leipzig mitbrachte,202 wird es interessant zu beobachten sein, wie sich der Einsatz biblischer Intertexte in Zwei Ansichten gestaltet.

201 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 1. 202 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 6.

4.

Zwei Ansichten

Eine Kleinstadt in der »norddeutsche[n] Tiefebene« (IB, 9), Jerichow und die Elbestadt, eine sächsische Stadt und nun die »Städte Berlin«.1 Johnsons vierter Roman, die 1965 veröffentlichten Zwei Ansichten, ist der erste in seinem Romanwerk, in dem neben einer konkreten historischen Zeit ein historischer Schauplatz in den Mittelpunkt rückt.2 Ursächlich für diese Entscheidung sind die historischen Umstände, aufgrund derer der »Name Berlin« nicht mehr nur als »Schema für eine Groß-Stadt« (BS, 7), sondern als Paradigma für eine geteilte Stadt fungiert. Noch in seinem Aufsatz Berliner Stadtbahn bezeichnet Johnson das Berlin bis zum August 1961 als »Modell für die Begegnung der beiden Ordnungen« (BS, 10). Für ihn erscheint es »unmöglich eine Schneise durch eine lebende Stadt zu schlagen und ihre Verbindungen gänzlich abzuklemmen« (BS, 10). Nur wenige Tage nach dem Erscheinen im August 1961 verlor der Text an Aktualität: Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 19613 nahm die Begegnung der beiden Ordnungen ein jähes Ende. Die vormals durchlässige Grenze inmitten Berlins wurde zu einem undurchlässigen Bollwerk. Johnson versah seinen Aufsatz fortan mit dem Untertitel (veraltet). In Zwei Ansichten bildet eben jene Berliner Mauer den Mittelpunkt des Geschehens. Ihre Errichtung am 13. August 1961 ist Teil der erzählten Zeit des Romans, sodass »der diachrone Vergleich von Vorher und Nachher«4 die Veränderungen vor Augen führt, die die Absperrung der Grenze für das Leben in den nunmehr beiden Städten Berlins zur Folge hat. Erzählt wird in Johnsons viertem 1 Uwe Johnson: Zwei Ansichten, Frankfurt am Main 1965, S. 40. Im Folgenden mit der Sigle ›ZA‹ zitiert. 2 Vgl. Westphal, Literarische Kartografie, S. 186. 3 Der Text ist das Ergebnis eines Vortrags auf der Forth Annual McGregor Detroit Adventure Conference, die Johnson vom 21. bis 30. April 1961 besuchte. Der englische Text wurde im August 1961 im Merkur in deutscher Sprache veröffentlicht; vgl. Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn, in: Merkur 15, 1961, H. 162, S. 722–733; ders.: Berlin, Border of the Divided World, aus dem Deutschen übers. von Ursule Molinaro, in: Evergreen Review 5, 1961, S. 18–30. Vgl. hierzu Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 5. 3. 1961, in: JUB, 118–120. 4 Westphal, Literarische Kartografie, S. 151.

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Zwei Ansichten

Roman die (Liebes-)Geschichte einer ostdeutschen Krankenschwester D. und eines westdeutschen Fotografen B. Nach einer kurzen Liaison vor dem Mauerbau fügen sich beide angesichts der veränderten (politischen) Situation und weiterer äußerer Einflüsse in ihre Rolle als »gewaltsam getrennte[] Liebende[] – B. aus Selbstmitleid und diffusem Pflichtgefühl, D. aus Einsamkeit und weil sie eine Kontaktperson im Westen braucht«.5 Sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene wird die vermeintliche Liebesgeschichte karikiert. Ein nichtdiegetischer Erzähler, der in seinem Erzählen zwischen narratorialer und figuraler Perspektive wechselt,6 präsentiert in zwei in sich geschlossenen Erzählsträngen mit den Ansichten von B. und D. »zwei Stadtbilder, die sich unvermittelt gegenüberstehen«.7 Das dominierende Thema ist nicht die Beziehung zwischen B. und D., sondern »die Frage nach den Auswirkungen der geschlossenen Grenze auf die geteilte Großstadt Berlin«.8 Der Umfang des vorliegenden Kapitels lässt bereits vermuten, dass die poetologische Entscheidung, die Mauer zum eigentlichen Agens des Romans zu machen,9 nicht nur Auswirkungen auf die Anlage und Beziehung der Figuren, sondern auch auf die Bibelrezeption in Johnsons viertem Roman hat. Während Paasch-Beecks These, Das dritte Buch über Achim als auch Zwei Ansichten würden ohne einen biblischen Tonfall auskommen,10 für den Achim-Roman relativiert werden konnte, kann sie für Zwei Ansichten bestätigt werden. So lässt es sich auch erklären, dass bislang keine Studie zu biblischen Intertexten im Roman vorliegt; weder als Einzelstudie noch in den Gesamtveröffentlichungen zum Œuvre Johnsons. Hierbei muss aber in Rechnung gestellt werden, dass es sich bei Zwei Ansichten um den »am wenigsten untersuchte[n] Roman«11 des Mecklenburger Autors handelt. In einigen Monografien zum Roman- und Gesamtwerk Johnsons wird der Text überhaupt nicht berücksichtigt,12 in anderen wird er einer

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Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 262. Vgl. hierzu ebd., S. 282–286. Ebd., S. 310. Westphal, Literarische Kartografie, S. 154. Vgl. ebd., S. 184: »Die Mauer, das topografisch sichtbare Merkmal für den ›Riß zwischen den Städten‹ (ZA, 58), als die Berlin sich in den Zwei Ansichten darstellt, wird im Roman zum Agens, zum ›wichtigsten Auslöser und Beweggrund‹ für das Geschehen.« 10 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 5. 11 Greg Bond: Zwei Ansichten: »The Structure of a Deceased Organism« und wie es zu den Jahrestagen gekommen ist, in: Johnson-Jahrbuch 15, 2008, S. 9–21, hier: S. 10. 12 Vgl. Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 17: »Die Studie geht anhand der Romane chronologisch vor; die ›Doppelerzählung‹ Zwei Ansichten bekommt kein eigenes Kapitel«. Vgl. auch Born, Wie Uwe Johnson erzählt, S. 9: »Es lässt sich mithin zwischen Das dritte Buch auf der einen und Karsch sowie Zwei Ansichten auf der anderen Seite eine begründete Zäsur setzen. Die ersten drei Romane entwicklen eine Erzählweise, die als Voraussetzung für das

Zwei Ansichten

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»Übergangsphase«13 zwischen den frühen Romanen und den Jahrestagen zugeordnet. Mit einer solchen Entscheidung verbunden sind zumeist qualitative Urteile. Für Mecklenburg stehen Zwei Ansichten und der ein Jahr zuvor veröffentlichte Prosaband Karsch, und andere Prosa »im doppelten Schatten der künstlerisch kühneren Romane Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim und des überragenden Großepos Jahrestage«.14 Sie seien lediglich »Nebenarbeiten, und zwar in zweifachem Sinn: als geringer gewichtige Arbeiten und als erzählerische Vor- und Nachstudien zu den größeren Werken«.15 Ähnlich sieht Krellner in den Zwei Ansichten den »einzigen literarisch problematischen Text Johnsons«.16 Durch seine »inhaltliche Stereotypie, formale Schlichtheit und die Diskrepanz zum sich herausbildenden narrativen Gesamtkonzept« sei der Roman ein »Fremdkörper in Johnsons Werk« und markiere »die letzte Station einer Krise, die Johnson schließlich in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre überwindet«.17 Selbst Bond, der die letzten Einzeluntersuchungen zu Zwei Ansichten vorgelegt hat, stimmt in diesen Ton ein und bezeichnet die Geschichte des Romans als »nicht spannend«, den Text als »Johnsons sprödestes Buch, es fehlt an Leben«.18 Zu verdanken ist es insbesondere Leuchtenbergers grundlegender Studie zu den Zwei Ansichten, das »Stiefkind«19 der Johnson-Forschung rehabilitiert zu haben.20 In den Gesamtdarstellungen der letzten Jahre von Westphal und Kleihues haben die Zwei Ansichten breiten Raum eingenommen. Auch in diesen

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Hauptwerk gelten kann. Dagegen knüpft Johnson nach 1965 an die vereinfachte Perspektive von Karsch und Zwei Ansichten nicht mehr an.« Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 196. Vgl. auch Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 158–172. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 196. Ebd. Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 170. Ebd., S. 171. Wenig später setzt Krellner gar dazu an, den Zwei Ansichten die Gültigkeit als Text Johnsons abzuerkennen, indem er Das dritte Buch über Achim als »letzte[n] gültige[n] Text vor der Schreibkrise Anfang der sechziger Jahre« klassifiziert; ebd., S. 187. Es genügt an dieser Stelle, diese Anmaßung für sich stehen zu lassen. Bond, Zwei Ansichten, S. 11. Leuchtenberger spricht hingegen von einer »zuweilen sehr spannende[n] Geschichte einer Flucht«; Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 311. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 311. Dass die Aufwertung der Zwei Ansichten allerdings auf Kosten von Johnsons drittem Roman erfolgt, da das »im Achim-Roman bis zum formalen Kollaps potenzierte erzähltechnische und rezeptionslenkende Repertoire […] hier [= in Zwei Ansichten; P. O.] nicht etwa preisgegeben, sondern durch radikale Reduktion für die formale Gestaltung eines literarischen Themas zurückgewonnen« und somit der »Horizont für die Jahrestage« geöffnet werde, wird der Stellung von Das dritte Buch über Achim in Johnsons Œuvre nicht gerechnet; ebd., S. 317f. Gerade in der Anlage der dialogischen Erzählhaltung, den Gesprächen zwischen Gesine und ihrer Tochter sowie Gesine und dem Genossen Schriftsteller gleichen die Jahrestage vielmehr dem Erzählen im Achim-Roman als in den Zwei Ansichten.

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Zwei Ansichten

Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Bernd W. Seilers These von 1997, dass eine Beschäftigung mit dem Text wohl deshalb ausbleibe, weil ihm »formal nicht viel ab[zu]gewinnen«21 sei und die Anbindung an die Mecklenburger Erzählwelt fehle, zwanzig Jahre später nicht mehr dem Forschungsstand entspricht. Auch aus diesem Grund soll an dieser Stelle nicht nur der Befund mitgeteilt werden, dass durch biblische Intertexte gestiftete kirchengeschichtliche, politisch-gesellschaftliche und ethische Diskurse im Gegensatz zu den ersten drei Romanen Johnsons in die Zwei Ansichten nicht integriert sind. Die etwa für die ersten Romane konstitutiven Religionsmetaphern, mit denen das Selbstverständnis des DDR-Staates und seiner Vertreter wiederholt persifliert wird, werden lediglich an zwei Stellen angedeutet. In einem kurzen biografischen Abriss über D. heißt es, sie »war aufsässig geworden gegen die Lehrer, die den Staat verteidigten, hatte gläubige Mitschüler geneckt mit der flotteren Musik der westdeutschen Sender« (ZA, 46). Später hingegen habe sie »fast unbefangen in der folgenden Gewerkschaftsversammlung als siebente das geforderte Bekenntnis abgeben« (ZA, 113).22 Biblisch-symbolhaft ist darüber hinaus eine Datierung, mit der der Erzähler den Fotografen B. parodiert. Jener beschließt ausgerechnet an einem »Adventssonntag«, einer Kirchenjahreszeit, in der der Ankunft bzw. Wiederkunft Christi gedacht wird, die Kneipe am Henriettenplatz »das letzte Mal« aufzusuchen (ZA, 161). Als diskursstiftende Signalvokabel wie die Erwähnung des Pfingstfestes in Ingrid Babendererde dient die Datierung hingegen nicht. So interessant bereits der Befund ist, dass in Zwei Ansichten keine biblischen Diskurse integriert sind, sollen darüber hinaus die Gründe erschlossen werden, die dieses Ergebnis bedingen. Hierzu wird wie schon in den vorherigen Romanen in einem ersten Schritt analysiert, welche Rolle das Christentum und die Institution Kirche im Leben der Figuren spielen. In Johnsons ersten Romanen war der religiöse Diskurs durchweg politisiert. Verhält sich dies in Zwei Ansichten ähnlich oder sind bereits hier Unterschiede festzustellen?

21 Bernd W. Seiler: Uwe Johnsons »Zwei Ansichten« – oder: Zielloses Fahren und aufrechter Gang, in: Internationales Uwe-Johnson-Forum 6, 1997, S. 109–128, hier: S. 109. 22 Dass D. ausgerechnet »als siebente« das Bekenntnis abgibt, erwähnt Neumann im zweiten Teil seiner Studie zur Zahlenmystik bei Johnson. Er verortet die Stelle aber nicht in einem religiösen Kontext, der durch »Bekenntnis« als Lexem der biblischen Sprache aufgerufen wird; vgl. Uwe Neumann: Dem Zufall aus dem Wege gehen. Weitere Funde zur Zahlenmystik bei Uwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch 23, 2016, S. 154–181, hier: S. 163; Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 80f.

Religiöser Diskurs

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Religiöser Diskurs: »übel zugerichtet von der geistlichen Handreichung für Zeiten der Not« Der westdeutsche Fotograf B. wird gleich zu Beginn des Romans als einer beschrieben, der »hielt sich nicht für abergläubisch« (ZA, 8). Der Erzähler nimmt sich durch die Wahl des Verbs der Perspektive seiner Figur an, drückt aber zugleich seine Distanz zur figuralen Perspektive aus. Eröffnet wird so ein Deutungsraum, der es dem Leser erlaubt, B. für einen abergläubischen Menschen zu halten. Eine geistliche Deutung dieser Aussage, der zufolge zwischen »wahrem Glauben und Aberglauben«23 unterschieden werden könne, wird durch den Text hingegen nicht gestützt. B. wird an keiner Stelle des Romans als im christlichen Sinne gläubig oder ungläubig charakterisiert. Religion und Kirche spielen in seinem Leben vor dem Horizont der Romanhandlung keinerlei Rolle. Anders verhält es sich bei der ostdeutschen Krankenschwester D. Infolge des Mauerbaus entbrennt zwischen ihr und ihrer Mutter ein Streit, nachdem jene »aus der Kirche zurückkam, übel zugerichtet von der geistlichen Handreichung für Zeiten der Not, und gefühlsselig Anstalten machte, flennend der Tochter um den Hals zu fallen« (ZA, 48). D. lässt ihre Mutter jedoch »in der offenen Wohnungstür stehen« und ergreift auch beim anschließenden Mittagessen, bei dem ihr jüngster Bruder »hart aufgezogen [wurde] mit den Vorzügen dieses Staates, die er noch gestern von seiner Oberschule hatte weitersagen dürfen« (ZA, 48f.), die Initiative. Als der Jüngste sich wehren und zuschlagen will, »knallte sie nicht dem andern, sondern ihm eine Ohrfeige und schickte ihn vom Tisch, damit es still war. Als Älteste durfte sie keine Schwäche zeigen.« (ZA, 49) Auffällig ist zunächst, dass die Mutter allein aus der Kirche zurückkehrt, neben D. auch ihre Brüder den Gottesdienst nicht besuchen. Wie in Das dritte Buch über Achim scheint mit der Figurenkonstellation ein Prozess der Entkonfessionalisierung angedeutet zu sein, der infolge politischer Maßnahmen entlang von Generationengrenzen verläuft. Noch augenfälliger ist die Rollenverschiebung zwischen Mutter und Tochter. Nicht nur weist D. ihre Mutter zurecht, auch ist sie es, die die Erziehungsmaßnahme für den jüngeren Bruder ergreift. Bereits vor der Schilderung dieser Szene spricht der Erzähler die Rolle des ältesten Bruders in der Familie an, der zwar inzwischen mit seiner Familie in Ostberlin lebt, sich vor seiner Hochzeit aber mit D. die Aufgabe geteilt habe, »die Mutter zu erziehen« (ZA, 47). Vor diesem Hintergrund lässt sich eine mögliche Abkehr der Protagonistin vom Christentum aus der familiären Situation heraus erklären – die politisch forcierte Entkonfessionalisierung gerät in den Hintergrund. Die Mutter ähnelt in ihrem Verhalten der verwitweten Tante der neuen Wirtin in Eine Kneipe geht verloren.24 23 Ebd., S. 17. 24 Vgl. Erster Teil, Kap. 1.2.

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Zwei Ansichten

Jene wird als eine Frau beschrieben, die »bald nach der Beerdigung angefangen [hatte], die Dinge der Welt mehr und öfter nach religiösen Gesichtspunkten zu beurteilen, so daß sie keine rechte Hilfe war und im Grunde der Aufsicht bedurfte, wenn sie abends allein an einem Ecktisch neben dem Windfang saß« (BS, 65). Hier wie in der Reaktion D.s auf die Rückkehr der Mutter aus dem Gottesdienst wird neben den verwitweten Frauen, denn auch der Vater der Protagonistin ist verstorben,25 die Rolle der Institution Kirche bzw. deren Vertreter kritisiert. Diese Kritik lässt sich in den Zwei Ansichten trotz der überwiegend narratorialen Erzählperspektive nicht allein auf den Erzähler zurückführen, denn auch in D.s Reaktion manifestiert sich eine kirchenkritische Haltung. Der Umstand, dass D. im Anschluss an ihre Ausbildung zur Krankenschwester ein Praktikum in einem »konfessionellen Krankenhaus« (ZA, 110) absolviert, deutet ein zweites Mal auf eine christliche Sozialisation der Figur hin. Allerdings wird die Protagonistin vom Erzähler einer Kollegin gegenübergestellt, die sie seit der Praktikantenzeit kennt und durch Zufall bei ihren Fluchtvorbereitungen überrascht. So werden die Patienten, die D. nach der Flucht ihrer ehemaligen Kollegin übernimmt, als »verweichlicht durch die mehr christlichen Auffassungen der Vorgängerin von Dienst und Hilfe« (ZA, 114) charakterisiert. Im Gegensatz zur Barmherzigkeit ihrer Vorgängerin wirkt D. »bei allen als zu ernst im Vergleich zu ihren jungen Jahren« (ZA, 115). Die ehemalige Kollegin nahm auch »an den Veranstaltungen der evangelischen Kirche« teil, saß aber ebenso »bei Konzertgastspielen im Kombinat dicht unterhalb des Podiums […], jedenfalls in der Tracht« (ZA, 110). Durch die Gegenüberstellung von Kirche und Kombinat wird eine authentische politische Haltung der ehemaligen Kollegin infrage gestellt. Indem eine Teilnahme D.s an solchen Veranstaltungen mit keinem Wort erwähnt wird, entsteht darüber hinaus der Eindruck, dass sie bereits vor dem Bau der Mauer begonnen hat, sich zurückzuziehen. Nach dem Verlust ihres Zimmers (vgl. ZA, 95) intensiviert sich diese Haltung einer inneren Emigration: aber die D. ließ sich nicht mitnehmen nach draußen, nicht ins Kino und nicht ins Dorfcafé und nicht zum Tanzen, sie wollte nicht mehr tun als an Kameradschaft üblich, sie mochte nicht noch einmal sich befreunden mit jemand. Sie ging kaum je aus dem Kombinat, – wenn de vierzehn Stunden gearbeitet hast bis acht, bleibste auch bis zehn […]. (ZA, 181)

Die Haltung D.s kann man wie Leuchtenberger als »politisch undifferenziert«26 deuten. Der sukzessive Rückzug der Figur aus dem öffentlichen Leben lässt sich aber auch als ein hochpolitischer Akt, als Widerstand interpretieren, mit dem 25 Vgl. ZA, 46: »Später wurde sie ausgeschlossen von den höheren Klassen der Schule und vom Studium, weil der Staat sie nach dem militärischen Rang ihres Vaters, so tot er war, für die Tochter eines Verbrechers ansah«. 26 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 281.

Religiöser Diskurs

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sich D. dem politischen Diskurs mit seiner ideologischen Funktionalisierung aller Lebensbereiche zu entziehen versucht.27 Dass der Erzähler mit der Gegenüberstellung der Konzertabende in Kirche und Kombinat nicht einen musikalischen Zusammenhang herstellt, zeugt von eben dieser (Ent-)Politisierung.28 Neben den beiden Erwähnungen der Institution Kirche, beim Streit D.s mit ihrer Mutter und der Charakterisierung der ehemaligen Kollegin, werden im Roman an zwei weiteren Stellen Kirchengebäude erwähnt. Zum einen wird die holsteinische Stadt, in der B. seit fast acht Jahren lebt, als eine beschrieben, die »saß auf der ebenen Erde um den Kirchturm wie ein Nest« (ZA, 23). Der Kirchturm dient als Kulisse eines kleinstädtischen Bildes, das sich dichotomisch zu den Ansichten auf die Großstädte Berlin verhält.29 Zum anderen dient eine Kirche in Ostberlin D. bei ihrer Flucht als Schutzraum, in dem sie ihren Identitätswandel, symbolisiert durch einen Mantel, vornehmen kann: »In einer Kirche, deren palastmäßige Front von großfenstrigen Bürofassaden eingeschlossen war, in einem schattigen Seitenschiff, zog die Fremde sich den hellen Trenchcoat der D. an« (ZA, 227). Im Gegensatz zur holsteinischen Kleinstadt bildet die Kirche trotz ihrer palastmäßigen Front nicht den Mittelpunkt des Straßen- oder gar Stadtbildes. Vielmehr ist sie von Bürogebäuden umgeben, die den Blick auf sie einschränken. Die Zwei Ansichten verfügen über einen religiösen Diskurs, der der Darstellung des religiösen Lebens in den ersten drei Romanen Johnsons ähnelt. Der christliche Glaube und die Institution Kirche sind für die Protagonisten des Romans nicht vordergründig. Während B. mit keinerlei religiösen Lebensformen in Verbindung gebracht wird, wächst D. in einer Familie auf, in der die Mutter zur Kirche geht. Der Mutter bieten die Glaubensaussagen den scheinbar letzten Halt in ihrem Leben, für D. wirkt die religiöse Hingabe der Mutter hingegen abschreckend, weil sie der Bewältigung des praktischen Lebens im Wege steht. Dass die Krankenschwester darüber hinaus ein Praktikum in einem konfessionellen Krankenhaus absolviert, verstärkt den Eindruck einer christlichen Sozialisation in der Familie, von der sie sich wie insgesamt vom öffentlichen Leben sukzessive abwendet. Wie schon in Johnsons früheren Romanen wird das religiöse Leben der Figuren wie bei der Gegenüberstellung der Veranstaltungsbesuche von D.s ehemaliger Kollegin in einen politischen Kontext gestellt. Ebenso steht die Schilderung des Gottesdienstbesuchs der Mutter unter dem Eindruck der Errichtung der Mauer und selbst das Kirchengebäude, in dem sich D. einen neuen 27 Vorgeführt wird die politische Funktionalisierung der Lebensbereiche in der DDR im Kindergarten (vgl. ZA, 124), in der Schule (vgl. ZA, 46), im Berufs- und im Privatleben mit den Bereichen Kultur und Kirche. 28 Zum Verhältnis von Politisierung und Entpolitisierung vgl. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 369. 29 Zum Antagonismus von Provinz und Großstadt vgl. Westphal, Literarische Kartografie, S. 162–164.

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Zwei Ansichten

Mantel anzieht, dient als Schutzraum auf dem Weg zum unerlaubten Grenzübertritt der Krankenschwester. An diese Beobachtung anknüpfend soll in einem zweiten Schritt der politische Diskurs der Zwei Ansichten untersucht werden. In den ersten Romanen Johnsons bestand eine zentrale Funktion biblischer Diskurse darin, die politischen Zustände einer mehr oder weniger direkten Kritik zu unterziehen.

Politischer Diskurs: »Als sie anfing zu denken, war die Schwesternlehre dringlicher gewesen« Es ist bereits betont worden, dass der Bau der Berliner Mauer nicht nur Teil der erzählten Zeit ist, sondern als politisches Ereignis im Mittelpunkt des Romangeschehens steht. Trotz aller Synchronisation der Kapitel der beiden Protagonisten wird das Ereignis als solches aber nur im Erzählstrang D.s beschrieben: Am nächsten Morgen erklärten die ostdeutschen Sender die Grenzen Westberlins für gesichert, und die Rundfunksender der verbotenen Stadt übersetzten: daß ihr Gebiet gesperrt war für alle gewöhnlichen Leute aus Ostberlin und Ostdeutschland, ob einer dort einkaufen wollte oder Freunde besuchen, ins Kino gehen oder in das Lager für Flüchtlinge und durch die Luft kommen nach Westdeutschland in die offene Welt und eine andere Art zu leben. (ZA, 45)

Auch wenn der nachgeahmte Berichtstil mithilfe von »semantische[n] und syntaktische[n] Inversionsfiguren«30 konterkariert wird, findet das Ereignis als solches Erwähnung. Im vorhergehenden B.-Kapitel wird der Bau der Mauer als bereits gegebener Zustand beschrieben, den sich der Fotograf zunutze macht, um eine Einnahme zu generieren: »Es gelang ihm, eine seiner Aufnahmen von der zwischen die beiden Berlin gezogenen Mauer an die Zeitung loszuwerden, außer der Reihe.« (ZA, 23) Wie lange die Grenze zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen ist, spart der Erzähler aus und trägt es erst im darauffolgenden Kapitel nach, das auf D. hin perspektiviert ist: »einem Sonntag, an dem der Staat mit 30 Kleihues, Medialität der Erinnerung, S. 115. Kleihues führt hierzu aus, dass »[d]ie offizielle Rede von der ›Sicherung der Grenze‹ […] durch die falsche Verknüpfung mit den ›Grenzen Westberlins‹ als Hohlformel entlarvt [wird], die einer Übersetzung bedarf. Diese wird eingeführt mit einer ironischen Anspielung auf den prunkvollen Palast in der chinesischen Hauptstadt, zu dem die ›gewöhnlichen Leute‹ zur Kaiserzeit ebenfalls keinen Zugang hatten. Die zeugmatische Verbindung von Kino und Flüchtlingslager einerseits sowie geographischem und politischem Westen andererseits bringt in ihrer rhetorischen Verkürzung das Problem der ostdeutschen Grenzwächter auf den Punkt: Ebendiese Undurchsichtigkeit der Motive ließ sie zur Maßnahme der generellen Sperrung greifen. Johnson setzt also nicht auf Selbstentlarvung durch Zitatmontage, sondern greift zurück auf das Stilmittel der hybridisierenden Rede, um die Legitimationsstrategien der ostdeutschen Regierung ihrer Haltlosigkeit zu überführen«; ebd.

Politischer Diskurs

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Vorliebe seine größeren Eigensuchten durchsetzte« (ZA, 47f.).31 Mit dieser für Johnson so typischen Form analytischen Erzählens32 gewichtet der Erzähler die Bedeutung des Mauerbaus für seine beiden Protagonisten. Während B. nur mittelbar von der Errichtung betroffen ist,33 hat die Schließung der Grenze für D. noch am selben Tag unmittelbare Folgen. Ihre beiden jüngeren Brüder denken direkt über eine Flucht nach – der eine offen, der andere im Stillen (vgl. ZA, 48) – und der Weg von Potsdam nach Ostberlin nötigt ihr eine bedeutend längere Fahrt ab: »Die doppelstöckigen Züge, die jetzt Westberlin in weitem Bogen umfahren mußten, brauchten mehr als zwei Stunden bis zum Ostbahnhof, warteten lange unterwegs, waren überfüllt und heiß.« (ZA, 49) Insofern überrascht es nicht, dass sich B. in seiner Reaktion auf den Mauerbau nicht auf das politische Ereignis, sondern auf den veränderten Zustand D.s bezieht: »Er fühlte sich selbst gekränkt durch die Einsperrung der D. in ihrem Berlin, er hatte eine private Wut auf die Sperrzonen, Minenfelder, Postenketten, Hindernisgräben, Sichtblenden, Stacheldraht, Vermaurung, Schießbefehle und Strafandrohung für den Versuch des Übergangs.« (ZA, 25f.) Die Begriffsakkumulation, mit der versucht wird, die Mauer zu umschreiben, drückt die Wirkung des veränderten Zustands aus, für den »einfache Benennungen […] offenbar nicht mehr aus[reichen]«.34 Das Verfahren geht allerdings auf den Erzähler zurück, der das Ausmaß der politischen Entscheidung auf ganz ähnliche Weise auch in einem Kapitel, das auf D. perspektiviert ist, zu verbalisieren versucht (vgl. ZA,

31 Kleihues spricht von einem »[d]iffusen […] Gefühl für die kalendarische Zeit« bei B.; ebd., S. 118. 32 Vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 268f. In der »diskontinuierliche[n] Präsentation der Geschichte« mit dem jeweils nachgetragenen Erzählstrang D.s erkennt Leuchtenberger eine »variierte[] Form« des analytischen Erzählens der ersten drei Romane, »weil sie nicht den Paukenschlag am Romanbeginn markiert, sondern das Verhältnis der zusammengehörenden Kapitel untereinander organisiert und dem Leser nur schrittweise Einblick in das weitere Geschehen gewährt«; ebd. Westphal hingegen spricht sich dagegen aus, die makrostrukturelle Erzählkonstruktion der Zwei Ansichten als analytisches Erzählen zu bezeichnen, und führt sie vielmehr auf die Funktion des klassischen Spannungsaufbaus zurück; Westphal, Literarische Kartografie, S. 160, Anm. 9. Das Verfahren des analytischen Erzählens und die Funktion des Spannungsaufbaus schließen sich aber keineswegs aus – ganz im Gegenteil. Die vorliegenden Textstellen aber zeigen, dass die Form analytischen Erzählens in den Zwei Ansichten, die sich aus der Makrostruktur des Romans ergibt, nicht zwangsläufig darauf ausgerichtet ist, Spannung zu erzeugen. 33 Kleihues deutet die »umständliche Partizipialkonstruktion«, »zwischen die beiden Berlin gezogene Mauer« (ZA, 23), als Ausdruck eines Verdrängungsvorgangs bei B., als »Weigerung des Protagonisten, sich mit den politischen und privaten Konsequenzen der Abriegelung Ostberlins bewusst zu konfrontieren«; Kleihues, Medialität der Erinnerung, S. 118. Alternativ ließe sich die syntaktische Konstruktion auf das Bemühen des Erzählers zurückführen, die Mauer entideologisiert zu umschreiben. 34 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 309.

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58). Ähnlich wie B. nimmt auch D. die Schließung der Grenze als einen »persönliche[n] Affront«35 wahr: Sie hatte unter diesem Staat gelebt wie in einem eigenen Land, zu Hause, im Vertrauen auf offene Zukunft und das Recht, das andere Land zu wählen. Eingesperrt in diesem, fühlte sie sich hintergangen, getäuscht, belogen; das Gefühl war ähnlich dem über eine Kränkung, die man nicht erwidern kann, es drückte auf die Kehle, erschwerte das Atmen kaum merklich, wollte sich ausdrücken. (ZA, 47)

Leuchtenberger attestiert beiden Figuren aufgrund ihrer rein privaten Entrüstung einen fehlenden »Blick für die politisch-historischen Zusammenhänge«.36 Die ostdeutsche Krankenschwester scheint sich dessen gar bewusst zu sein, wenn ihr beim Nachdenken über ihren Staat offenbar wird, dass sie »ihre Staatsmacht nicht genauer als namentlich« kennt und ihr die »Inhaber der Macht […] nicht gezeigt worden [waren] bei ihrer Ausübung, sondern halb verdeckt durch Rednerpulte, geschützt durch die Brüstung von Opernbalkonen« (ZA, 45f.). So naiv diese Aussage sein mag, weil ihr nicht erst der Mauerbau vor Augen führt, wie unmittelbar sie die politischen Entscheidungen ihrer Staatsmacht betreffen, ist sie doch Ausdruck einer Distanz zwischen Staatsvertretern und Bürgern sowie eines damit im Zusammenhang stehenden Rückzugs von D. aus allen Formen des öffentlichen Lebens, in denen es ihr möglich ist, sich zurückzuziehen. Dass ihr dies trotz der politischen Durchdringung beinahe aller Lebensbereiche auch für den Bereich der Politik gelingt, lässt sich darauf zurückführen, dass sich ihr Widerstand »gegen eine Sache richte[t] und nicht gegen ein konkretes verantwortliches Gegenüber«.37 Staats- und Parteivertreter sind im Gegensatz zu den vorherigen Romanen Johnsons nicht Teil der erzählten Welt. Ein Äquivalent zu den Herren Siebmann, Rohlfs und Fleisg gibt es in den Zwei Ansichten nicht. Das Zerwürfnis mit der Oberin wird auf eine »personalpolitische Intrige« (ZA, 180) zurückgeführt, als Parteivertreterin wird die Oberschwester hingegen nicht charakterisiert. Ihr Chef unterstützt D. gar bei ihrer Flucht, indem er sie bei sich aufnimmt und am nächsten Morgen zum Bahnhof fährt (vgl. ZA, 225f.). Der Staatschef der DDR und sein Vertreter sind lediglich als Abbilder auf einer Postkarte38 und auf Fotografien39 präsent. Der einzige Parteivertreter begegnet D. während ihrer Flucht und seine Funktion erschöpft sich darin, zur Steigerung der Spannung beizutragen: »Sie bekam den Blick nicht los von dem 35 36 37 38

Westphal, Literarische Kartografie, S. 160. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 299. Westphal, Literarische Kartografie, S. 185. Vgl. ZA, 105: »In der Mittagspause des nächsten Tages beschaffte sie sich eine Ansichtenpostkarte, die ein Porträt des Staatschefs zeigte.« 39 Im Krankenhaus stehen »steife[] Flechtsessel[] im Flur unter dem Bild des Staatschefs und seines Vertreters« (ZA, 118) und auch im Kindergarten, in den die Nichte D.s geht, hängen »Bilder des Staatschefs« (ZA, 124).

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Abzeichen der Partei an der Jacke ihres Gegenübers, seiner gewissenhaft strengen Miene.« (ZA, 228) Das Politische bleibt im Roman ausgespart, es gibt in ihm »keine Welt, keine Weltpolitik, keine Öffentlichkeit«.40 Bond hebt das Außergewöhnliche dieses Umstands hervor: »Das sollte man wiederholen: In einem Roman, in dem der Mauerbau eine zentrale Rolle spielt, fällt kein einziges Mal ein Politikername und es wird kein einziges Mal eine öffentliche politische Meinung aus Ost oder West zitiert.«41 Westphal gelangt zu einem ähnlichen Schluss und sieht die explizite politische Diskursivität der vorangegangenen Romane […] in den Zwei Ansichten ersetzt durch die ausführliche Darstellung psychologischer Mechanismen, ausgelöst durch ein politisches Ereignis, das aber von den Figuren nicht als politisch interpretiert wird. Eine solche Darstellung ist nicht ahistorisch, sondern konzentriert sich auf einen anderen als politischen Aspekt von Geschichtlichkeit, nämlich auf die privaten Erfahrungen im Alltag.42

Bond führt die Aussparung des Politischen hingegen auf das politische Desinteresse »›d[er] kleinen Leute‹ B. und D.«43 zurück. Der Erzähler scheint diese Sichtweise für den westdeutschen Fotografen zu bestätigen, indem er beschreibt, wie B. am »Tag der westdeutschen Armee« Aufnahmen vom »Rathaus mit seinen messingnen Fensterzierbänken […], d[er] Auffahrt der Geschütze, Feldküchen, Amphibienwagen […], de[m] halbherzigen Aufmarsch der Bürger mit Fahnen der verlorenen Ostgebiete« anfertigt – »zu Zwecken der Werbung; es war nicht Langeweile allein« (ZA, 129). Mit einem sarkastischen Kommentar, durch ein Semikolon als solcher hervorgehoben und von der zunächst angegebenen Motivation getrennt, stellt der Erzähler die vorgebliche Begründung für das Handeln B.s infrage. Stattdessen attestiert er dem Fotografen ein Desinteresse am politisch-historischen Hintergrund der Veranstaltung. Verstärkt wird diese Wertung durch die Anordnung der fotografierten Motive, beginnend mit dem Rathaus und seinen Fensterzierbänken. Der Erzähler vermittelt den Eindruck, B. würde die Fotografien aufgrund des Ereignischarakters der Veranstaltung für die Kleinstadt und nicht ihrer politischen Brisanz wegen erstellen. Diese gezielt eingesetzte Wertung korrespondiert mit dem Bild B.s als Fotograf »einer mittelgroßen Landstadt Holsteins«, der seine Fotografien »täglich an den lokalen Teil der Kreiszeitung verkaufte« (ZA, 7). Als solcher fertigt er Bilder von der Bergung eines Sportwagens aus dem städtischen Schleusenbecken an (vgl.

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Bond, Zwei Ansichten, S. 17. Ebd. Westphal, Literarische Kartografie, S. 185. Bond, Zwei Ansichten, S. 17. Als weitere Ursachen für das Ausklammern alles Politischen nennt Bond die Absage an die Rhetorik des Kalten Krieges und die allegorische Grundform des Textes; vgl. ebd.

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ZA, 8) und verkauft die »Fotografien zweier Jahre zum zweitenmal […] als einen Sammelband, den die Stadtverwaltung an Touristen, Kurgäste, langjährige Ehepaare, scheidende Bürgermeister und Abgesandte der Industrie verteilte« (ZA, 7). B. folgt damit den Gesetzen des kapitalistischen Marktes, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Erwähnung des von ihm abverlangten Verzichts auf »einige Bilder, die die städtischen Hilfen für Alte und Bedürftige zeigten« (ZA, 7), für den Sammelband und die daraus entstandenen moralischen Skrupel44 können aber nicht über den sozialkritischen Blick hinwegtäuschen, den B. neben aller Konsumorientierung besitzt. Ein ums andere Mal muss dieser Blick aber den gesellschaftlichen Anforderungen weichen, die an B. gestellt werden. So verzichtet er andernorts darauf, von seinen Aufnahmen der Mauer das Motiv eines »von schlampigen Mörtelfugen gerahmte[n], rißscharfe[n] Feld[es] eines einzelnen Steines, das dem Betrachter die Fingerkuppen schmerzen machte« (ZA, 23), an die Zeitung zu senden. Vermeiden möchte er die Notwendigkeit, sich erklären zu müssen, wie auch den »Spott hinter seinem Rücken« (ZA, 23). Die beschriebenen Motive vermitteln einen Eindruck davon, dass B. die Sphäre des Politischen über ihre Auswirkungen auf das alltägliche Leben zu erfassen versucht. Auf ganz ähnliche Weise plant er, »ein ganzes Buch mit Fotografien aus Westberlin zu verkaufen« (ZA, 145), die er während seines Aufenthalts von »technischen Ansichten« (ZA, 140) der Grenze und Schicksalen an ihr (vgl. ZA, 142), aber auch von Begebenheiten »abseits der Grenze« (ZA, 144) anfertigt. Im Zentrum aller dieser Aufnahmen steht das politische Betonwerk inmitten Berlins mitsamt seinen Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen in Westberlin.45 B. partizipiert an den politischen Auswirkungen und offenbart hierbei durchaus ein politisches Bewusstsein. Verdeckt wird es aber wie auch im Falle des Bildbandes, den er in erster Linie »verkaufen« möchte, durch eine starke Konsumorientierung. Diese wiederum ist nicht allein Makel des B., sondern Folge und Ausdruck der gesellschaftlichen Bedingungen in der Bundesrepublik. Bereits die schulische Ausbildung B.s ist unmittelbar mit wirtschaftlichen Bedingungen verknüpft. Oberschüler kann er nur »ein dreiviertel Jahr« sein, »gleichberechtigt mit den Kindern von Unternehmern, Hausbesitzern, Beamten, bis nur noch für eine Lehre Geld genug aufkam und er nun hinter den Vitrinen der Drogerie für die früheren Mitschüler Vertrauensperson wurde« (ZA, 129). Seine soziale Anerkennung erwirbt er in der Folge auf rein monetäre Weise, die ihn in die Lage versetzt, mit einem ausgefallenen Sportwagen ein Statussymbol zu erwerben. Jegliche Formen von Kommunikation im politischen Diskurs bleiben ihm hingegen durch die Mechanismen des kapitalistischen, journalistischen 44 Vgl. ZA, 7: »Tage danach noch beim Rasieren wandte er den Kopf, wenn er im Spiegel auf die eigenen Augen traf.« 45 Vgl. Westphal, Literarische Kartografie, S. 169.

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Marktes versagt. Letztlich bleibt auch der geplante Bildband im Rahmen der erzählten Zeit eine Vision. Ähnlich verhält es sich bei D. Aus der Perspektive eines westdeutschen Fluchthelfers wird sie als eine Frau charakterisiert, deren (un-)politische Haltung im Zustand der Angst in doktrinären, inhaltsleeren Phrasen mündet: »Die kennen wir doch! […] Das ist die, die sagt immer, wenn sie Angst hat, sagt sie: Der Sozialismus wird schon siegen!« (ZA, 172) Eines der wenigen politischen Gespräche im Roman unterbindet D. gar, als sie während der Arbeit im Krankenhaus einen Besucher zurechtweist, der seinem kranken Sohn »in beiläufigem, überhörbarem Ton etwas von den Leichenschauhäusern der Oststadt, die von Selbstmorden über die Platzzahl hinaus gefüllt seien«, mitteilt: »– Regen Sie mir die Kranken nicht auf! sagte sie, sie sagte auch etwas von Quatsch.« (ZA, 61) Neben dieser angepassten, öffentlichen Rolle wird aber eine kritische Haltung D.s zu ihrem Staat mehrfach angedeutet. Zwar sei ihr bei ihren Aufenthalten in Westberlin das »Westgeld regelmäßig zu schade gewesen für Zeitungen«, habe sie aber einmal eine gefunden, habe sie »meist doch nur gesucht nach Nachrichten über den eigenen Staat, die denen ihres Staates widersprachen« (ZA, 42). Dadurch habe sich ein Bewusstsein in ihr entwickelt, dass sie »[d]urch Gerüchte […] ihre Lage zuverlässiger als aus den Zeitungen ihres Staates« (ZA, 58) erfahre.46 Über den Kindergartenbesuch ihrer Nichte, die die politische Indoktrination sogleich mit einem auswendig gelernten Spruch vorführt, in dem sich »Staat auf Saat reimte«, echauffiert sich D. gegenüber ihrem Bruder, auch wenn der Erzähler zu betonen versucht, dass sie »nur« sagt: »Das hätte nu doch nich sein müssen. Die Plätze sind doch knapp genuch.« (ZA, 124) Der Ablehnung der staatlichen Erziehungseinrichtung lässt die Krankenschwester sogleich eine politisch erwünschte Antwort folgen, die ihre Angst selbst gegenüber ihrem Bruder spürbar werden lässt. Einer möglichen politischen Auseinandersetzung geht sie aus dem Weg, indem sie »aufgestanden und hinter ihm in die Küche gegangen war« (ZA, 125). Grund für diese Angst sind wie schon für B.s Konsumfixierung die gesellschaftlichen Bedingungen, die sich bis zur schulischen Sozialisation D.s zurückverfolgen lassen. Nachdem sie von der Oberschule und dem Studium ausgeschlossen wird, »war [sie] aufsässig geworden gegen die Lehrer, die den Staat verteidigten, hatte gläubige Mitschüler geneckt mit der flotteren Musik der westdeutschen Sender, der modernen Bekleidung in den Schaufenstern Westberlins, mit dem Schulgeld, das auf dem Papier der Verfassung abgeschafft war« (ZA, 46). Sind es bei B. die wirtschaftlichen, so sind es bei D. die politischen Bedingungen, die eine höhere 46 Inwieweit diese Aussage auf D. oder den Erzähler zurückgeht, bleibt an dieser Stelle offen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die hohe Kompetenz des Erzählers mit dem Profilverlust der Figur verknüpft ist; vgl. hierzu Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 288f.

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Bildung verhindern. Ihr Vertrauen in den Staat ist unterlaufen, doch »[a]ls sie anfing zu denken, war die Schwesternlehre dringlicher gewesen, auch die Flucht vor der Familie, auch der gefühllose Vergleich zwischen den beiden Arten in Deutschland zu leben« (ZA, 47). Ihre Verhaltensweise resultiert aus rein pragmatischen Gründen, die sie ebenso wie B. zum Opfer des politisch-wirtschaftlichen Systems werden lassen. Die Entpolitisierung scheint östlich der Grenze mit dem Bau der Mauer ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Der politische Diskurs kommt zum Erliegen. Was bleibt, sind Angst – und Solidarität. Formen der Solidarität bilden sich in beiden Teilen Berlins aus. In den ersten Tagen nach dem Bau der Mauer beobachtet D. im Krankenhaus eine Entwicklung, »für die sie den Namen Solidarität gelernt hatte« (ZA, 59).47 Doch bereits eine Woche nach dem ereignishaften Sonntag, »als die Zeitungen des Staates ihren Ton nicht geändert hatten und Versorgung wie Betrieb des Kombinats fast wieder liefen wie gewöhnlich« (ZA, 60), wandelt sich dieses Klima erneut in einen Zustand von gegenseitiger Überwachung und Denunziation, Misstrauen und Angst. Solidarität entwickelt sich nur noch vereinzelt und hinter vorgehaltener Hand.48 Ausdruck der Solidaritätsbemühungen in Westberlin sind Fluchthilfeorganisationen, genauer gesagt die im Roman dargestellte »altruistische Fluchthilfeorganisation«,49 die einer kommerziellen Fluchthilfeorganisation ge-

47 Vgl. ZA, 59f.: »Die beiläufigen Gespräche am Ende des Korridors fanden keinen Weg in die Akten der Verwaltung. Die Schwestern ließen einander nicht allein mit den Funktionären der Gewerkschaft, die zur Einberufung der regelmäßigen Versammlungen nicht Lust hatten und nun in Einzelgesprächen die Auffassung von der Lage verändern wollten; ehe sie noch ihr Thema angehen konnten, waren die Rufzeichen schon eingeschaltet, und man hatte die Antwort vermeiden können. Frau S., die früher der D. kräftig die Erste Schwester herausgekehrt hatte, war am Morgen nach der Absperrung aus Westberlin zurückgekommen und erklärte ihre Familienverhältnisse, damit die D. den Entschluß verstand. Regelmäßig am Abend wurde einer die Aufgabe gegeben, die Oberin vom Betreten des Schwesternhauses abzuhalten, damit die anderen in den Nachrichten des Westfernsehens die Sperrbauwerke kennen lernen konnten, denen sie nahe genug nicht kommen würden. Der allgemeine Ton war vertraulich.« 48 Zu nennen ist hier insbesondere die Unterstützung des Professors, der D. in der Nacht vor ihrer Flucht bei sich aufnimmt (vgl. ZA, 225f.) und sie bereits im Zuge der Intrige der Oberschwester unterstützt: »Sie hatte danach nur einmal den Professor abgepaßt, als sein Gefolge ihn von der Visite zum Fahrstuhl geleitete, und störrisch bestanden auf der Frage, ob sie sich eines Fehlers schuldig gemacht habe; der Alte hielt sie, den Kopf in den Nacken gelegt, prüfend im Blick, während er höflich, wenngleich ohne Mitleid, antwortete: Eines Fehlers, nein. Haben Sie sich nicht. Schuldig! wo denken Sie hin –, und mit einem Mal, hinterm Rücken der Oberschwester, war sein Ausdruck von Neugier in einen spöttischen übergegangen, die Augen hatten verschwörerisch gezwinkert, der eben noch zugeschnappte Mund war lustig verzogen« (ZA, 179). 49 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 305. Leuchtenberger weist überdies darauf hin, dass die BRD »[i]n keinem anderen Werk Uwe Johnsons […] im Vergleich zum Osten derart positiv gezeichnet [ist], nirgends sonst wird einer spontanen Solidarität im

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genübergestellt wird.50 Äquivalent zu den beiden Protagonisten werden die Solidaritätsbemühungen in Ost- und Westberlin einerseits durch den staatlichen Repressionsapparat und andererseits durch den kapitalistischen Markt maßgeblich beeinflusst. Für die Fragestellung dieses Abschnitts ist darüber hinaus bemerkenswert, dass die Fluchthilfe als ein »hochpolitische[r] Akt«51 in keinerlei politisches Licht gerückt wird. Eine persönliche Motivation für das altruistische Vorgehen der Fluchthelfer, die mit Ausnahme der Wirtin »unterbeleuchtet« sind und als »lakonische, kaum ausgefertigte Figuren« in Erscheinung treten,52 erfährt der Leser nicht. Im Gegensatz zum kommerziellen Fluchthelfer interessieren sie sich auch nicht für die Beziehung zwischen B. und D.,53 »[d]ie Mechanismen der Fluchtvorbereitung und -durchführung stehen in keinem Bezug zu den Figuren«.54 Der Akt der Fluchthilfe wird zu einem entemotionalisierten, rein solidarischen Reflex auf die Errichtung der Mauer. Eine politische Kommunikation findet auch im Rahmen der Fluchthilfe nicht statt, die so nicht nur die nötige Distanz zu den Klienten wahrt, sondern auf das Wenige konzentriert ist, was angesichts der politischen Lage veränderbar erscheint: der Alltag von »vierhundertfuffzich« (ZA, 173) Bürgern der DDR, als deren letzte D. im Rahmen der erzählten Zeit die Flucht in die BRD antritt.

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Osten soviel dauerhaftes und selbstloses politisches Engagement im Westen gegenübergestellt«; ebd., S. 305f. Vgl. ZA, 158–160: »In einem Zimmer, das mit den teureren Polstermöbeln der ersten Nachkriegsjahre vollgestellt war, wurde B. ein Platz gegenüber dem Hoflicht angewiesen […]. Er legte unterhalb des Kinns eine Handkante an die andere und begann in lehrhaftem Ton von der wechselhaften Geschäftslage zu sprechen, von Risiko und Kalkulation, als lese er das ab aus den Innenhänden. Er verzog das Gesicht, als schmerze ihn Kopfrechnen, und nannte eine Summe, die den halben Gegenwert eines mittleren Wagens ausmachte, und nannte die Summe ein Entgegenkommen. B. ging mit einem niedrigeren Gebot darauf ein, nur noch um seinen Abgang vorzubereiten, aber der andere hebelte ihn schon vom Stuhl, führte ihn durch den Korridor zur Außentür, laut schimpfend auf Hosenscheißer, Aushorcher, Hausfriedensbrecher, kam aber gar nicht außer Atem, sah B. noch blank und abschätzend an, bevor er ihn in dem lautlosen, nach Seifenwasser und Bohnerwachs stinkenden Treppenhaus stehen ließ.« Westphal, Literarische Kartografie, S. 178. Bond, Zwei Ansichten, S. 19, Anm. 24. Von Michael Hofmanns Deutung der Fluchthelfer als »leuchtende[] Helden« grenzt sich Bond hingegen ab und bezeichnet diese Lesart als »zu überschwänglich«; Hofmann, Uwe Johnson, S. 144; Bond, Zwei Ansichten, S. 19, Anm. 24. Beide Interpretationen sind aber durchaus miteinander vereinbar: Aus der altruistischen können in Gegenüberstellung zur kommerziellen Fluchthilfeorganisation a priori idealistische Motive abgeleitet werden, die das Handeln der Fluchthelfer prägen, ohne, dass persönliche Motivationen für ihr Handeln bekannt wären – u. a. weil sie als Fluchthelfer »Distanz zu B. und D. halten« müssen; ebd. Die Figuren sind aufgrund nicht benannter persönlicher Motive insgesamt unterbeleuchtet, in ihrem Handeln aber leuchtend zugleich. Vgl. ZA, 159: »– Warum: sagte er, – warum! warum rausholen!, immer heftiger, als sein Besucher nichts sagen wollte von Verwandtschaft, Schwangerschaft, Verlöbnis, immer nur: Bloß so …, nicht mehr als: Befreundet …« Westphal, Literarische Kartografie, S. 178.

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Zwei Ansichten

Setzt man die Beobachtungen für die Fluchthilfeorganisation mit denen für die Figuren B. und D. in Beziehung, so lässt sich für alle Figuren des Romans trotz eines hochpolitischen Kontextes eine politische Kommunikationslosigkeit konstatieren: »Anders als in den früheren Romanen wird Politik unter den Figuren nicht diskutiert und ist auch nicht Teil eines intertextuellen Diskurses.«55 Damit ist ein zentraler Grund für die Aussparung biblischer Intertexte in Johnsons viertem Roman benannt. Eine Vielzahl der durch biblische Intertexte erweiterten und gestifteten Diskurse in Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim werden durch die Figuren der Romane ausgelöst und sind das Ergebnis politischer Kontroversen. Bleiben diese Diskussionen aus, fehlen biblische Intertexte. Ursächlich für die politische Kommunikationslosigkeit der Figuren in Zwei Ansichten ist nicht ein politisches Desinteresse der beiden Protagonisten und der Nebenfiguren. Auch auf ein fehlendes politisch-historisches Bewusstsein, das ebenso Jakob Abs und Achim T. bescheinigt werden kann und wird, lässt sich dieser Umstand nicht zurückführen. Die Ursache für die politische Kommunikationslosigkeit liegt vielmehr in einem Erzählkonzept, das bereits in Das dritte Buch über Achim angedeutet und in Zwei Ansichten vollständig umgesetzt ist.

Narrativer Diskurs: Initialen und Isolation Es ist bereits viel darüber geschrieben worden, warum Johnson die (Nach-) Namen seiner beiden Hauptfiguren auf deren Anfangsbuchstaben beschränkt. Wiederholt wurden die Namenskürzel B. und D. als Chiffren für die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik gelesen, zuerst von ReichRanicki,56 zuletzt von Krellner: »Denn die Protagonisten ›D.‹ und ›B.‹ werden nicht nur als ›Repräsentanten‹ Ost- und Westdeutschlands entworfen, sondern auch in ihren Lebensumständen auf beiden Seiten des geteilten Staates repräsentiert.«57 Mit Verweis auf die amerikanische Übersetzung, in der B. den Namen ›Dietbert‹ trägt und D. ›Beate‹ heißt, hat Johnson einer solchen Deutung in den Frankfurter Vorlesungen vehement widersprochen. Bezogen auf einen Artikel 55 Ebd., S. 160. 56 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Dichter der beiden Deutschland? Uwe Johnsons neuer Roman »Zwei Ansichten«, in: Die Zeit, Nr. 39 vom 24. 9. 1965, S. 26f. (21. 11. 2012). URL: http://www. zeit.de/1965/39/dichter-der-beiden-deutschland/komplettansicht [Zugriff vom 31. 5. 2020]: »Denn nicht zwei Menschen, die zufällig in diesem oder in jenem Teil Deutschlands wohnen, will Johnson zeigen, sondern Individuen, die Produkte ihrer Umwelten sind, also einer erkennbaren Erziehung, einer bestimmten Denkart und Lebensweise. Daher der Buchstabe B. für den Bundesrepublikaner und der Buchstabe D. für die Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik.« 57 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 169; Kursivdruck im Original.

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Heinrich Vormwegs in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, in dem der Autor die Initialen »ganz zweifelsfrei« und »ebenso offensichtlich« als Chiffren für die beiden deutschen Staaten deutet,58 entgegnet Johnson: Lieber traut er [= Vormweg; P. O.] dem Autor einen so verächtlichen Umgang mit seinen Personen zu, als dass er sich aufhielte bei der Überlegung, dass ›die D.‹ die Abkürzung eines Familiennamens signalisiert, und es demnach ein anderes Bewenden haben müsse mit den Vornamen der beiden, die immerhin als Liebesleute mit einander zu tun haben, und das obendrein zumeist in der Erinnerung und der hoffenden Spekulation. So muss ihm die Einsicht verschlossen bleiben, mit der Beschränkung auf zwei Initialen habe der Leser dieser ›Zwei Ansichten‹ gehindert werden sollen an einer allzu sentimentalen Identifizierung mit den Partnern einer probat betrübenden Geschichte. Wenn das das gute Recht des Kritikers ist, wird es zweifelhaft spätestens im darauf folgenden Jahr 1966, nämlich sobald die amerikanische Ausgabe erscheint als ›Two Views‹ und darin die Namen, eingefahrenen Lesegewohnheiten in Übersee zuliebe, vollständig angegeben werden als Beate, als Dietbert, ohne dass ein einziges Mal die dazugehörigen Familiennamen erscheinen, auf denen die kritische Deduktion überhaupt aufgebaut ist. Kunststück. (BU, 395)

Dass Johnson eine solche Deutung mit der Wahl seiner Initialen provozierte, lässt sich nicht von der Hand weisen. Dennoch greift eine ideologische Dechiffrierung gleich aus mehreren Gründen zu kurz. Erstens ist die Romanwelt nicht auf B. und D. beschränkt, sodass auf beiden Seiten der Mauer weitere Vertreter existieren, die sich von den beiden Protagonisten zum Teil erheblich unterscheiden. Zweitens weißt Seiler darauf hin, dass D. die »weiterhin existente DDR schließlich verläßt«.59 Drittens schließlich müsste in eine solche Deutung auch die vorübergehende Identität D.s als österreichische Touristin F. einfließen. Wofür stünde dieses ›F.‹? Lässt sich diese Initiale in Anlehnung an Seilers These als Chiffre für die Freiheit bzw. das »Frei-Werden«60 D.s deuten? Statt die Initialen dechiffrieren zu wollen, schließen Gillett und Köhler von den abgekürzten Nachnamen auf das Verhältnis zwischen dem Erzähler und seinen Figuren sowie der Figuren untereinander:

58 Heinrich Vormweg: Prosa in der Bundesrepublik seit 1945, in: Dieter Lattmann (Hg.): Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, Bd. 1: Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland, 2., neu durchges. Aufl., Zürich/München 1973, S. 141–343, hier: S. 296. 59 Seiler, Uwe Johnsons »Zwei Ansichten«, S. 120. 60 Ebd., S. 121: »Das Thema, mit einem Satz gesagt, ist das Zu-Sich-Selber-Kommen, das FreiWerden, das Erwachsen-Werden eines Menschen, eben dieser Krankenschwester, die sich zuerst aus der familiären, dann aus der beruflichen und schließlich auch aus der staatlichen Bevormundung löst.« Dagegen argumentiert etwa Leuchtenberger, dass von einer »bewußten Emanzipation […] weder auf familiärer noch auf beruflicher Ebene die Rede sein [kann], vielmehr ist eine wachsende Isolation zu verzeichnen, die von der Krankenschwester durch die ihr angestammte, im Laufe der Zeit zunehmende Lethargie zwar beschleunigt, nicht aber aktiv gesteuert wird«; Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 297.

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Zwei Ansichten

Wenn in dem einen Text Vornamen eingesetzt werden, so entspricht das eher der Figurenperspektive von zwei Menschen, die, auch wenn sie sich nicht heiß und innig lieben, doch eine gewisse Zuneigung füreinander verspüren. Abgekürzte Nachnamen hingegen wirken literarischer, sind eher einem Erzähler zuzuordnen, der überdies eine gewisse Distanz wahren möchte. Wenn also in der amerikanischen Übersetzung die eine Figur Dietbert heißt anstatt B. und die andere Beate statt D., so hat diese schlichte Tatsache für fast alle Ebenen des Textes und der Interpretation Folgen.61

Überdies setzen Gillett und Köhler die Initialen der Zwei Ansichten in eine intertextuelle Beziehung zu den Romanfragmenten Franz Kafkas mit den Protagonisten K. in Das Schloß und Josef K. in Der Proceß.62 Während die Initiale im Roman des 18. Jahrhunderts dazu diente, Figuren »als historisch verbürgte Personen erscheinen zu lassen, die durch die Verschleierung des Namens vor der neugierigen Namensforschung des Lesers geschützt werden müssen«, ist sie in den Romanen Kafkas Ausweis einer sich auflösenden Persönlichkeit: Die Auslieferung des einzelnen an anonyme institutionalisierte Mächte, in deren Apparat die individuelle Existenz zerrieben wird, ist das Grundthema der Kafkaschen Romane. Da die Helden Kafkas nur anonyme Partner finden, scheitert auch die Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Zudem fehlt dem Josef K. des Prozeß-Romans und dem K. des Schloß-Romans weitgehend die Innendimension […]. Der Initiale bei Kafka entspricht also auf der Bedeutungsebene des Textes ein entpersönlichtes ›ich‹, ein unpersönliches ›man‹.63

Verfolgt man diesen Hinweis in den frühen Romanen Johnsons, so lässt sich zunächst eine kontinuierliche Abnahme von Figurennamen feststellen. Sind in Ingrid Babendererde siebenundvierzig Figuren mit einem Namen versehen, so sind es in Zwei Ansichten nur mehr dreizehn.64 Die für Johnsons vierten Roman zentrale Wahl der Initiale für seine Protagonisten findet sich in abgewandelter Form bereits an früherer Stelle: Auch der Nachname der beiden ostdeutschen Protagonisten aus Das dritte Buch über Achim wird lediglich mit einer Initiale angegeben – Achim T. und Karin S. Zwar nehmen beide Figuren innerhalb des Romans eine »Sonderstellung«65 ein, weil sie über die einzig verbürgten Vornamen verfügen, die auf die Nähe des Erzählers, vor allem aber Karschs zu ihnen hindeuten.66 Ihr abgekürzter Nachname hingegen spiegelt ihren drohenden 61 Robert Gillett/Astrid Köhler: Ansichten über Ansichten. Rezeptionsanalytische Überlegungen zu Johnsons Königskindern, in: Ulrich Fries u. a. (Hg.): So noch nicht gezeigt. Uwe Johnson zum Gedenken. London 2004, Göttingen 2006, S. 281–307, hier: S. 305. 62 Ebd. Bond hält diese Lesart für denkbar, aber nicht naheliegend; vgl. Bond, Zwei Ansichten, S. 15. 63 Johanna Kahr: Entpersönlichende Personenerwähnung im modernen französischen Roman. Untersuchungen zur Grammatik und Poetik narrativer Texte, Amsterdam 1976, S. 194–196. 64 Vgl. Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 251. 65 Ebd. 66 Vgl. ebd., S. 252.

Narrativer Diskurs: Initialen und Isolation

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Identitätsverlust wider: Beide Figuren laufen Gefahr, in ihren Rollen als staatlich funktionalisiertes Aushängeschild aufzugehen. Abbild dieses Zustands ist das Beziehungsgeflecht, in das die Figuren integriert sind. In seinem Vortrag Wenn Sie mich fragen …, den Johnson im Dezember 1975 im ehemaligen Jugoslawien hielt, benennt er als ein Mittel, »einen Roman einzuschätzen«, folgendes Vorgehen: Zu zählen wären die Beziehungen zwischen den Personen, Vorfällen, Schauplätzen, Zeiteinheiten, Motiven, Techniken der Substruktur und, abermals, den Personen. Versuchen Sie die Beziehungen innerhalb des Romans darzustellen, indem Sie sie durch Linienziehung verbinden. Jedoch sind simple Erwähnungen untauglich. […] Nein, solche Beziehungen müssen fest sein, vielfältig verwirklicht, lebensfähig, gleich denen im tatsächlichen Leben. […] Je dichter das Netz verbindender Linien ist, desto mehr haben sie [sic!] von einem und an einem Roman. Mehr noch als auf die Menge der Beziehungen sollten Sie achten auf deren Beschaffenheit. Es genügt nicht, dass wir sie für möglich halten. Sie sollten von neuer Art sein.67

Insbesondere Achim verfügt in Das dritte Buch über Achim über nahezu keine Beziehungen zu Figuren, die außerhalb der Partnerschaft zu Karin liegen. Karin besitzt in Karsch einen Kontakt, der über die innerdeutsche Grenze hinweg losen Bestand hat und in der erzählten Zeit wieder auflebt. Die für Ingrid Babendererde so zentralen Freundschaften sind bei Achim und Karin nur mehr Teil der Vergangenheit.68 Politische Kommunikation erfolgt bereits in Das dritte Buch über Achim beinahe ausschließlich im Rahmen dieses Beziehungsdreiecks, mit Karsch als konstitutivem Gesprächspartner. Für die Zwei Ansichten hat Bond unter Verweis auf die oben zitierte Passage aus Johnsons Vortrag festgestellt: »B. scheint gar keine Familie zu haben und nur flüchtige, unwichtige Freundschaften. D. hat keine Freunde, und ihre Mutter und Brüder sind einander entfremdet, sprechen kaum mit D. Hier leben die Personen fast ohne Beziehungen zueinander.«69 Gerade B.s Kontakte lässt der Erzähler als Bekanntschaften ohne feste Bindungen erscheinen, die sich auf das Sexuelle70 67 Johnson, Wenn Sie mich fragen, S. 57. 68 Vgl. DBA, 10, 71, 144. Bezogen auf Achim wird dieser Umstand durch den Erzähler parodiert, indem es in dessen Nachahmung der staatlichen Funktionalisierung heißt: »Aber hatte er nicht Freunde? er war ein Freund von Leuten.« (DBA, 89) Zwei Ausnahmen bilden ein junges Ehepaar, »das Instituten der Universität assistierte« (DBA, 231) und mit dem Karin befreundet ist, und die Freunde »in einer anderen Stadt« (DBA, 246), zu denen Karin letztlich fährt, die aber im vorherigen Romanverlauf keine Rolle spielen. 69 Bond, Zwei Ansichten, S. 17. 70 Beispielhaft hierfür ist die Beziehung zu D., die er im Januar 1961 bei einem Lehrerehepaar in Westberlin kennenlernt und mit der er wenige Tage später eine Nacht verbringt (vgl. ZA, 91– 93). Seine »aufgegebene[] Freundin« (ZA, 24), der er seinen alten Wagen geschenkt hat, bittet er »im Herbst um eine gemeinsame Fahrt zur Spielbank […], in dem töricht verschenkten Auto, in der Hoffnung, sie möchte ihn ans Steuer lassen, seine Hände unter ihren Rock« (ZA, 131). Überdies werden Freundinnen erwähnt, die er »das eine und andere Mal in die Kneipe«

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Zwei Ansichten

oder Geschäftliche71 konzentrieren. Zutraulichkeit zeigt B. einzig gegenüber der Wirtin, mit der er »gern bis in den Morgen erzählt [hätte], selig vor Vertrauen« (ZA, 169) – dies aber im Zustand der Trunkenheit, des Rausches, den die Kneipe neben der Fluchthilfe repräsentiert.72 Während B. als eine Figur ohne familiäre und freundschaftliche Beziehungen, mithin ohne emotionale Bindungen, gezeichnet wird, steht D. in einer engen Beziehung zu ihrer Familie, bestehend aus ihrer Mutter und ihren drei Brüdern. Darüber hinaus pflegt sie eine Freundschaft zu einem Westberliner Lehrerehepaar (vgl. ZA, 104). Der Mauerbau führt allerdings zu einer zunehmenden Vereinsamung der Krankenschwester. Ein stetiger Kontakt zu den Freunden aus dem westlichen Teil der Städte Berlin ist durch die Schließung der Grenze und auch, weil sich beide »auf einer wissenschaftlichen Reise in Westeuropa« (ZA, 104) befinden, nicht mehr möglich. Folglich beschränkt sich die dargestellte Kommunikation mit beiden seit Beginn der erzählten Zeit auf eine »Ansichtenpostkarte«73 mit dem »Porträt des Staatschefs« und dem Hilferuf: »es geht mir schlecht […] es gilt jetzt […] das miese Wetter wird wohl so bleiben« (ZA, 105). Mit ihrer Mutter überwirft sich D. am Tag des Mauerbaus, vom jüngsten Bruder, »der wegging, abhaute, verschwand ohne einen Mucks« (ZA, 98), erhält sie Postkarten aus München (vgl. ZA, 123). Der (ZA, 154) mitnimmt. Auf die Spitze getrieben wird B.s sexuelle Fixierung in einer der wenigen Situationen, in denen eine politische Diskussion angedeutet wird. Während B. vom Westberliner Lehrerehepaar besucht wird, spricht der betrunkene Ehemann »seine wüsten Verfluchungen gegen die Kommunisten« aus, während sich B. auf »schwermütige Blickwechsel mit der Frau« konzentriert und sie schließlich im Hotelzimmer und auf dem -korridor verführt (ZA, 93). 71 Nach »fast acht Jahre[n]« in der holsteinischen Provinzstadt wird sein Verhältnis zu den Bewohnern über seine Beschäftigung in der Drogerie definiert, als deren Mitarbeiter er auch für seine ehemaligen Mitschüler »Vertrauensperson wurde, wollten sie nun Empfängnis verhüten oder Filme entwickelt, die sie ihm nicht im Laden, sondern im Hausflur in die Hand schoben« (ZA, 129). Nachdem er seine Entschädigung für den gestohlenen Sportwagen zur Bank bringt, werden ihm »schon auf dem Rückweg von der Bank […] Anzugstoff, ein Mittelklassewagen aus erster Hand, ein Jagdgewehr zu einem Vorzugspreis angeboten« (ZA, 131). Auch der Kontakt zum schwäbischen Ehepaar, dessen Sohn den Sportwagen gestohlen und zerstört hat, beruht auf rein wirtschaftlichen Interessen: »Die unbezweifelbare Sorge der beiden um den Sohn, Tränen im unbewegten Gesicht der Frau verkleinerten seinen Mut, vom ordinären Geldwert eines bestimmten Sportwagens anzufangen […]; ihm gelang aber kein anderes Benehmen als das von ihm erwartete, und so entwaffnet hörte er auf die Geschichte der Liebe des Bürschchens zu einem Mädchen in Ostberlin, von dem übrigens nur der Vorname bekannt war; B. log ohne Hoffnung, als er gefragt wurde, wie lange der Wagen in seinem Besitz gewesen sei. – Nicht länger als fünf Wochen: sagte er, und verschwieg die Umstände des Kaufs.« (ZA, 87–89) 72 Vgl. hierzu Westphal, Literarische Kartografie, S. 177f. 73 Kleihues sieht in diesem Begriff eine »Wortschöpfung«; Kleihues, Medialität der Erinnerung, S. 125, Anm. 63. Allerdings handelt es sich lediglich um eine Pluralisierung des Determinans von ›Ansichtspostkarte‹, die ähnlich dem Verfahren des Wörterbrechens einen Reflexionsraum über das Verhältnis von Ansicht(en) und Bedeutung(en) eröffnet.

Narrativer Diskurs: Initialen und Isolation

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mittlere Bruder sondert sich von der Familie ab74 und auch mit dem ältesten »kam sie auseinander« (ZA, 124). Die »wachsende Isolation«75 D.s vergleicht Westphal mit der Entwicklung Jakobs in den Mutmassungen über Jakob, denn wie der Eisenbahner scheint sich auch die Krankenschwester »in ihrer Umgebung aufzulösen«.76 Das Beziehungsgeflecht beider Protagonisten ist auffallend minimiert, sodass auch die Kommunikation zwischen den Figuren auf ein Mindestmaß reduziert bleibt. Hinzu kommt, dass der politische Dialog, der in beiden Teilen Deutschlands durch den politischen Diskurs in Ost- und den medialen Diskurs in Westdeutschland stark determiniert ist, durch den Bau der Mauer praktisch zum Erliegen kommt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Umgang des Erzählers mit den Protagonisten B. und D. Von einem »erstaunlich lieblosen Umgang«77 spricht Leuchtenberger und leitet ihr Urteil aus der Beobachtung ab, dass die (Haupt-)Figurengestaltung einer radikalen Reduktion unterliegt.78 Neben einer im Vergleich zu den vorherigen Romanen, in denen immer mindestens drei Protagonisten agieren, reduzierten Figurenkonstellation und einem stark eingeschränkten Beziehungsgeflecht der beiden Protagonisten tritt der Erzähler in eine signifikante Distanz zu seinen Figuren. Zwar suggeriert die Makrostruktur des Romans mit seiner Aufteilung in zwei den Hauptfiguren zugeordneten Erzählsträngen eine figurale Erzählperspektive,79 allerdings macht der nichtdiegetische Erzähler in zahlreichen Passage, in denen aus narratorialer Perspektive erzählt wird, »seine eigene Sichtweise geltend und besitzt hohe narrative Kompetenz, die er jedoch nur begrenzt ausnutzt«.80 Er gebraucht sie nicht, um die Eindrücke von B. und D. in erlebter Rede oder in der Form eines inneren Monologs wiederzugeben.81 Damit einher geht eine massive Reduktion der Darstellung von direkter Rede: »Dialogsituationen werden bestenfalls fragmentarisch wiedergegeben, wie überhaupt in den seltenen Passagen der wörtlichen Rede meistens gerade das Wesentliche ausgespart bleibt.«82 Leuchtenberger leitet aus diesen Beobachtungen eine »Sprachlosigkeit der Figuren«83 ab, wogegen Westphal einwendet, dass es sich genau genommen um 74 Vgl. ZA, 124: »er hatte nicht mehr nach Hause oder an die Geschwister geschrieben, seit er in die Baubaracken umgezogen war, antwortete nicht auf einen Brief der D.« 75 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 297. 76 Westphal, Literarische Kartografie, S. 176. 77 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 317. 78 Vgl. ebd. 79 Entsprechend geht Born von einem »durchgehend personal erzählten« Text aus; Born, Wie Uwe Johnson erzählt, S. 9. 80 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 283. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd., S. 286. 83 Ebd., S. 288.

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Zwei Ansichten

eine »Besonderheit des Erzählers« handelt, »der dem Leser nur sehr selten einen mimetisch-direkten und damit ungefilterten Zugang zu den Figuren erlaubt«.84 Die Protagonisten erscheinen als sprachlose und unpolitische Figuren. Die Analyse des politischen Diskurses hat aber gezeigt, dass sowohl D. als auch B. über ein historisch-politisches Bewusstsein verfügen. In ihrer Wirkung eingeschränkt wird dieses Bewusstsein durch die in Ost- und Westdeutschland dominierenden Machtmechanismen, die den politischen Diskurs regulieren, und durch einen Erzähler, der in Distanz zu seinen Hauptfiguren den politischen Diskurs innerhalb des Romans auf den Rahmen der Handlung beschränkt. Ausdruck dessen ist auch der Verzicht auf biblische Intertexte, die wie in den ersten drei Romanen Johnsons politisch-gesellschaftliche Diskurse erweitern und konstituieren. Zurückführen lässt sich eine solche Erzählerhaltung wiederum auf den politischen Rahmen, die außerordentliche Situation mit dem Bau der Berliner Mauer. Der politische Dialog kommt, wie anhand der Figuren vorgeführt wird, mit der Schließung der innerdeutschen Grenze zum Erliegen. Bond fragt daher: »Zeigt Zwei Ansichten ein Bild einer Zeit, ein Bild von Berlin und von Deutschland kurz nach dem Mauerbau, ein Bild eines der dunkelsten Kapitel im Kalten Krieg? Ein allegorisches, ein melancholisches Bild einer blinden, beklemmenden, dumpfen Gesellschaft ohne Zukunft?«85 Die Protagonisten jedenfalls scheinen Sinnbild einer bzw. zweier solcher Gesellschaften zu sein. Wo im Dialog zwischen Klaus und Jürgen, Jonas und Jakob, Karsch und Achim noch die Utopie eines dritten Weges, eines menschlichen Sozialismus, präsent ist, kommt die politische Kommunikation nach dem Mauerbau in Zwei Ansichten zum Stillstand. Das Handeln von B. und D. gewinnt nur mehr privaten Charakter und vermag an der politischen Situation nichts zu ändern. Die Beschränkung der Figurennamen auf ihre Initialen spiegelt neben der Distanz des Erzählers zu ihnen ihre von Ohnmacht geprägte Rolle in den Gesellschaften der beiden Deutschland wider.86

84 Westphal, Literarische Kartografie, S. 180f., Anm. 55. 85 Bond, Zwei Ansichten, S. 19. 86 Vgl. hierzu Westphal, Literarische Kartografie, S. 156: »Politisch machtlos sind, vielleicht mit Ausnahme Rohlfs’, alle Johnsonschen Protagonisten, aber das Ausmaß und der Umgang mit der Machtlosigkeit variiert. B. und D. sind nicht zuletzt deshalb die ohnmächtigsten und handlungsunfähigsten Figuren von allen, weil die Auswirkungen des Mauerbaus auf das Berliner Alltagsleben beiderseits der Grenze immens sind.«

Sprachlicher Diskurs: Kein biblischer Tonfall?

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Sprachlicher Diskurs: Kein biblischer Tonfall? Die kritisch-ironische Distanz des Erzählers zu seinen Hauptfiguren lässt sich darüber hinaus auf das Bestreben zurückführen, jegliche Parteinahme für die beiden Staaten, aus denen B. und D. stammen, zu vermeiden.87 Dieses Vermeiden von »jedweder Form von Einseitigkeit« schlägt sich in der Figurenkonstellation und im weitgehenden Verzicht auf die Darstellung von Figurenrede ebenso wieder wie in der Sprache des Erzählers: »Sie musste sowohl die Welt der D. als auch die Welt des B. wiedergeben können und sorgfältig vermeiden, jemals in die Sprachen der beiden entgegengesetzten Systeme zu verfallen. Gleichzeitig musste die Gefahr deutlich gemacht werden, die sich in solcher einseitigen Sprache verbirgt.«88 Das Streben des Erzählers respektive Johnsons nach einer möglichst ideologiefreien Sprache schlägt sich in der Schreibung »Westberlin« (ZA, 9) und »Ostberlin« (ZA, 11) nieder, die an den »Sprachgebrauch vor dem Mauerbau«89 anknüpft. Werden die beiden »Städte Berlin« (ZA, 40) noch konkret beim Namen genannt, werden politische Entscheidungsträger und politisch-ideologische Begriffe umschrieben und sprachlich verfremdet: Es gibt hier keine Bundesrepublik und keine DDR, sondern nur einen ›ostdeutschen‹ und einen ›westdeutschen‹ Staat (ZA 12, 45f. u. ö.), keine politischen Instanzen oder Institutionen, sondern nur die ›Staatsmacht‹ oder ›Behörden‹ (ZA 160, 175), kein

87 Damit soll nicht gesagt werden, dass B. und D. Stellvertreter ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnungen sind. Allerdings sind sie geprägt durch ihre jeweiligen Systeme und repräsentieren diese zumindest unterbewusst. So wird B.s Ansicht über eine mögliche Flucht D.s, die er »für gar nicht möglich« hält, auf »[e]ine öffentliche Meinung, de[n] politische[n] Unterricht bei der Bundeswehr, was ihm in die Finger gekommen war an Illustrierten, Spionageschmökern, auch Filme« zurückgeführt (ZA, 160). Ähnlich werden D.s »Verdachte gegen den Westen« aus ihrem politischen Schulunterricht abgeleitet: »sie sagte, sie dachte: es lohnt nicht da anfangen zu leben, da dauert es nicht, es geht da einmal alles kaputt, und jeder auf sich allein gestellt« (ZA, 195). 88 Gillett/Köhler, Ansichten über Ansichten, S. 307. 89 Westphal, Literarische Kartografie, S. 154, Anm. 5. Westphal stellt darüber hinaus die These auf, dass sich die Wahl Johnsons der westlichen Schreibung – ›Berlin (West)‹ und ›Berlin (Ost)‹ bzw. West-Berlin und Ost-Berlin – demonstrativer verweigere als der östlichen – ›Berlin. Hauptstadt der DDR‹ bzw. ›Berlin (Ost)‹ und ›Westberlin‹; vgl. ebd. Wolfgang Ribbe, auf den sich Westphal mit ihrer These stützt, betont aber gerade, dass die Bezeichnung ›Westberlin‹ in der ostdeutschen Binäropposition nach der Drei-Staaten-Theorie Chruschtschows vom November 1958 nicht mehr »ohne eine politische Absicht« wie in der von Johnson gewählten Binäropposition gebraucht wird, sondern um ›Westberlin‹ in Opposition zu ›Berlin. Hauptstadt der DDR‹ bzw. ›Berlin (Ost)‹ als »nicht (mehr) zum alten Berlin gehörendes Gebilde« zu deklarieren; Wolfgang Ribbe: Vom Vier-Mächte-Regime zur Bundeshauptstadt (1945–2000), in: ders. (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, 3., erw. und aktual. Aufl., Berlin 2002, S. 1025–1208, hier: S. 1151. Vgl. auch ders.: Berlin 1945–2000. Grundzüge der Stadtgeschichte, Berlin 2002, S. 135.

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Zwei Ansichten

›Bonn‹, sondern nur die ›Stadt der westdeutschen Regierung‹ (ZA 207), keine SED, sondern nur eine ›staatliche Partei‹ (ZA 54), keinen Tag der Republik, sondern nur einen ›Jahrestag des Staates‹ (ZA 183), keine Selbstschußanlagen, sondern nur ›maschinelles Erschießen‹ (ZA 196), keinen Verfassungsschutz, sondern nur ein ›Büro für Befragungswesen‹ (ZA 84), keinen Staatssicherheitsdienst, sondern nur eine ›geheime Polizei‹ (ZA 206) […].90

Das Resultat ist wie schon in Johnsons ersten drei Romanen eine Kunstsprache, die sich dem Zugriff einer politisch indoktrinierten Sprache zu entziehen versucht. Bestandteil dieser Kunstsprache sind aber in einem viel geringeren Maße als noch in Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim biblische System- und Einzeltextreferenzen. Während Letztere in den Zwei Ansichten nicht vorkommen, gebraucht der Erzähler vereinzelt Lexeme der biblischen Sprache. Mit ironischer Distanz charakterisiert er seine Figuren wie B., der im Gespräch mit der Wirtin als »selig vor Vertrauen« (ZA, 169)91 beschrieben wird.92 D.s triumphierend ironische Frage gegenüber der leitenden Schwester, die zu einer Rüge ausholend die geschmuggelten Medikamente in der Pralinenschachtel entdeckt, kommentiert der Erzähler als »mit Absicht nicht bußfertig« (ZA, 193).93 Darüber hinaus wird die »frömmliche Art« betont, mit der D.s Mutter ihre Neujahrswünsche »aufsagte« (ZA, 210).94 Auch syntaktische Biblizismen bilden in Johnsons viertem Roman eine Ausnahme. Die appellative Partikel ›(und) siehe‹ kommt im gesamten Text auch in deklinierter Form kein einziges Mal vor. Zweigliedrige Verbalausdrücke 90 Seiler, Uwe Johnsons »Zwei Ansichten«, S. 116. 91 Johnson intensivierte die Reaktion B.s in der ersten Fassung unter Rückgriff auf die biblische Sprache und änderte »schlafwandlerisch unaufhaltsam« zu »selig vor Vertrauen«; Uwe Johnson: Königskinder. Zwei Ansichten von Berlin, 1. Fassung, 7. 8. 1963–25. 4. 1965, in: UJA Rostock, UJA/H/000404, Mappe 1–3, hier: Mappe 2, Bl. 43. 92 Melzer zufolge sei ›selig‹ »im achtzehnten Jahrhundert als ›glückselig‹ menschlich-seelisch mißverstanden und mißdeutet worden. Seitdem gilt es für jede Gemütsverfassung, wo der Mensch fröhlich oder glücklich ist«; Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 445. Im Deutschen Wörterbuch wird hingegen betont, dass ›selig‹ »in activer und in passiver bedeutung, die beide seit alter zeit bezeugt sind«, verwendet wurde: »die kirche stellt es früh in ihren dienst, und die kirchliche anwendung drängt die weltliche zurück. in neuerer zeit wird es von ihr aus dann wieder in verstärktem sinn auf anderes bezogen, meist in passiver bedeutung, die überhaupt die reichste entfaltung zeigt«; selig, in: DWB, Bd. 16: Seeleben–Sprechen, bearb. von Moriz Heyne, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. 1905, München 1991, Sp. 514–528, hier: Sp. 515; Kursivdruck im Original. 93 Die Lexemfolge »nicht bußfertig« fügte Johnson ebenfalls erst in der erste Fassung des Romans als Ersatz für das Adverb »hochnäsig« ein; Johnson, Königskinder (1. Fs.), Mappe 3, Bl. 11. 94 Vgl. hierzu Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 231f.: »Der ›Fromme‹ tut ›Werke der Frömmigkeit‹, läuft aber Gefahr, daß seine Frömmigkeit in ›Frömmelei‹ entartet. Die Endung ›-eln‹ hat einen abwertenden Sinn: ›frömmeln‹ meint ein Fromm-Scheinen, ohne wahrhaft fromm zu sein«.

Sprachlicher Diskurs: Kein biblischer Tonfall?

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bleiben ebenso eine Ausnahme95 wie die Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung.96 Ganz ähnlich verhält es sich bei den Relativpronomen mit parataktischem Anschluss. Bei den insgesamt knapp fünfhundert Relativpronomen kommt es in lediglich achtzehn Fällen zu einem Rückfall in die Parataxe.97 Doch worauf lässt sich zurückführen, dass der Erzähler der Zwei Ansichten in seiner Kunstsprache anders als die Erzähler in den vorherigen Romanen Johnsons auf einen biblischen Tonfall verzichtet? Hier gilt es zu differenzieren: Das Fehlen biblischer Einzeltextreferenzen lässt sich wie die nur vereinzelten Einsprengsel biblischer Sprache auf das Fehlen politischer Kommunikation in Zwei Ansichten zurückführen. Auf beide Formen biblischer Intertexte greifen die Erzähler der ersten drei Romane vor allem in politisch geprägten Diskursen zurück. So charakterisiert der Erzähler in Ingrid Babendererde die Titelfigur im Moment der Begegnung mit Hannes Goretzki auf dem Oberen See unter Verweis auf Lk 2,1998 als eine Figur, die die politische Situation um die Junge Gemeinde realistisch einzuschätzen vermag und dennoch aufgrund ihrer moralischen Bedenken gegen die staatliche Politik opponiert. In Das dritte Buch über Achim gebraucht der Erzähler zwei Bezugnahmen auf die Versuchung Jesu aus Lk 4,1–13 parr, um die Entkoppelung der Staatsmacht von der Bevölkerung offenzulegen und zu kritisieren.99 Das Lexem ›fromm‹ als Element biblischer Sprache verwendet der Erzähler in Johnsons Erstling und in seinem dritten Roman zur Übertragung von einer religiösen, wie noch bei Marianne Stuht (vgl. IB, 22), auf eine politische Haltung gegenüber der Obrigkeit, die sich gar im Spitznamen von Direktor Siebmann widerspiegelt.100

95 Vgl. ZA, 202f.: »Sie schwamm und verschob einen Winkel nach vorn, den gedachte Linien zu einem einzeln stehenden Brückenpfeiler und einem Bohrturm bildeten.« 96 Vgl. ZA, 204: »Er aber liegt erschlagen in dem Zimmer, sie wird es mit Sicherheit noch nie gesehen haben.« 97 Allein fünfzehn Mal folgt der parataktische Anschluss auf das Relativpronomen ›die/deren‹, das mit einem Verhältnis von 1:18 über den höchsten Wert in den Zwei Ansichten verfügt. Beim Relativpronomen ›der/dessen/dem‹ stehen drei parataktische Anschlüsse mehr als einhundert Relativsätzen gegenüber, auf das Relativpronomen ›das/dessen‹, das im Roman mehr als sechzig Mal vorkommt, folgt kein parataktischer Anschluss. 98 Vgl. IB, 44: »Ingrid betrachtete ihn von der Seite und bewegte dies alles in ihrem Herzen; indessen sie sagte: Das geht am Ende in die Binsen.« Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.4.3.3. 99 Vgl. DBA, 70: »Die hockten barhäuptig mit bloßen Armen auf den Lukenrand gestützt, überblickten lustig und geringschätzig die niedrigen Menschen auf der Straße und hatten die Macht über all das Eisen«; DBA, 195: »das würde zu machen sein mit dem hohen Blick über die Stadt, die ausgebreitet lag unter den Rändern des Neubaus mit dämmerig verlaufenden Straßenzügen und rußgeschwärzten Außenseiten und wüsten Lücken, die sie alle noch bebauen mußten ihr Leben lang«. Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 3.1, 3.3.2. 100 Vgl. IB, 86: »›Pius‹ ist lateinisch und bedeutet ›Der Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der Sozialistischen Einheitspartei«. Vgl. auch DBA, 112, 251.

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Zwei Ansichten

Mit dem Fehlen politischer Kommunikation allein lässt sich jedoch nicht der weitgehende Verzicht auf die genannten syntaktischen Biblizismen erklären. Der Verzicht auf die Partikel ›(und) siehe‹, die auch in den Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim nur vereinzelt anzutreffen ist, lässt sich möglicherweise auf das Bestreben des Erzählers zurückführen, den Leser in eine »distanzierte Haltung zum Geschehen«101 zu versetzen. Der Verzicht auf appellative Ansprachen korrespondiert mit dem Bestreben, dem Leser die Identifikation mit den Protagonisten zu erschweren. Die Relativierung der subjektiven Ansichten von B. und D. rückt die außerordentliche Situation des Spätsommers 1961 in den Blick und führt zur Aktivierung des Lesers. Dieser ist angehalten, die im Text vorhandenen »Lücken aus dem Kontext heraus selbst zu schließen«102 und sich so eine Ansicht zu verschaffen. Die lediglich geringe Bedeutung der intensivierenden Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung und des parataktischen Anschlusses infolge eines Relativpronomens lässt sich auf eine veränderte Syntax im Roman zurückführen. Viel stärker als in den vorherigen drei Romanen gebraucht der Erzähler in den Zwei Ansichten Reihungen und Aufzählungen, in denen Sachverhalt an Sachverhalt, Begriff an Begriff einzig durch Kommata angeordnet werden. Beispielhaft hierfür ist die Beschreibung B.s beim Aufsuchen der Mauer.103 Die mehr als zwei Seiten umfassende Satzreihung ist Ausdruck eines erzählerischen Bestrebens, kausale Strukturen zwischen einzelnen Sachverhalten möglichst aufzulösen und sie in einer parallelen Anordnung zu präsentieren. Der Erzähler der Zwei Ansichten verfolgt wie die Erzähler der vorherigen Romane Johnsons das Ziel eines ethischen Erzählens. Das Primat der Satzreihung geht mit der Einschränkung anderer parataktischer Formen einher, die sich wie die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung, die (dreigliedrige) Parataxe mit ›und‹ oder das Relativpronomen mit parataktischem Anschluss u. a. auf die Heilige Schrift zurückführen lassen. Die »radikale Reduktion in der Figurengestaltung«104 korreliert in Johnsons viertem Roman mit einer syntaktischen Reduktion. So werden kausale Bezie101 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 289. 102 Ebd. 103 Vgl. ZA, 139–142: »Niedergeschlagen, weil die Suche Geld geradezu verschlungen hatte, auch weil er für den düsteren, verwohnten Raum mehr als das Doppelte des erhofften Betrags (der Miete für seinen Schuppen von Atelier) auf den Tisch legen mußte, insbesondere weil die hohen, vielleicht verlorenen, Ausgaben in seiner Stadt für geschäftliche Dummheit gegolten hätten, kleinlaut machte er sich auf Wege in das schmalere Gebiet, in dem er arbeiten wollte, den Rand der Stadt gegen Ostberlin, und begann da zu fotografieren, […] und kam er einmal, wenn ein Flüchtling im Grenzkanal schon erschossen war, ein Flüchtling schon vom Dach zu Tode gestürzt, fotografierte er die verbliebene Zuschauermenge, die im Wasser stochernden Soldaten auf den Wachbooten oder die Löcher im Dach, die der Tote bei seinem Sturz gerissen hatte, konnte das verkaufen und auch noch die Wolke der Tränengasbombe, die die Horde der Fotografen von der Szene zurücktrieb.« 104 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 289.

Der Verzicht auf biblische Intertexte

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hungen, die etwa im politischen Diskurs erzeugt werden, nicht nur aufgebrochen, sondern in der (Kunst-)Sprache des Erzählers weitgehend vermieden: »wie sich sprachlich dieser Erzähler von allem bloß Konventionellen fern hält, traut man ihm auch zu, sich politisch, moralisch, menschlich von unseren Konventionen fernzuhalten, und das gibt seinen Urteilen ein ganz eigenes Gewicht«.105

Der Verzicht auf biblische Intertexte Kein biblischer Tonfall. Keine biblischen Diskurse. Das Ergebnis der analytischen Auseinandersetzung mit den Zwei Ansichten könnte für den Themenkomplex der biblischen Intertexte knapper kaum ausfallen. Doch nicht weniger aufschlussreich als die Ergebnisse für Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim sind die Beobachtungen, die sich aus der Analyse von Johnsons viertem Roman ergeben, schärfen sie doch die aus den ersten Texten gezogenen Schlüsse. Die Integration eines biblischen Tonfalls, biblischer Intertexte insgesamt steht in Johnsons frühen Romanen in unmittelbarem Zusammenhang mit politischer Kommunikation und der Ausgestaltung eines politischen Diskurses. Der Verzicht auf durch biblische Intertexte erweiterte und konstituierte Diskurse in den Zwei Ansichten korreliert mit dem Verzicht auf politische Kommunikation. Im Zentrum des Geschehens stehen die Mauer und deren Auswirkungen auf das »Berliner Alltagsleben beiderseits der Grenze«.106 Die Möglichkeit des Austauschs, für den stellvertretend die Beziehung zwischen B. und D. steht, kommt mit dem 13. August 1961 praktisch zum Erliegen. Greift man Bonds These auf und liest die Zwei Ansichten als zeithistorische Allegorie,107 dann lässt sich das Ausbleiben der politischen Kommunikation im Roman als Abbild der Teilung Berlins deuten. Der »Riß zwischen den Städten« (ZA, 58) beendete einen zuvor bestehenden (politischen) Austausch zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt, deren Teilung sich Johnson wenige Monate zuvor noch nicht vorstellen konnte: Alle anderen Territorialgrenzen zwischen den verfeindeten Armeen sind zu militärischen Demarkationen erstarrt und sperren den Verkehr. Das Leben der beiden Seiten durchblutet sie nicht. Berlin hingegen ist ein Modell für die Begegnung der beiden Ordnungen. Es scheint unmöglich eine Schneise durch eine lebende Stadt zu schlagen und ihre Verbindungen gänzlich abzuklemmen, immer noch nicht ist die eine Hälfte das Ghetto der anderen. (BS, 10)

105 Seiler, Uwe Johnsons »Zwei Ansichten«, S. 119. 106 Westphal, Literarische Kartografie, S. 156. 107 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 4, Anm. 43, 85.

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Zwei Ansichten

Das Erzählen in zwei voneinander getrennten Erzählsträngen, die faktische Isolation der Protagonisten und die Kunstsprache des Erzählers sind erzählerische Mittel, mit denen die Teilung und das daraus folgende Ende der politischen Kommunikation gestalterisch vorgeführt werden.108 Folglich lässt sich der Verzicht auf biblische Intertexte in Johnsons viertem Roman auf »gestalterische, sprich ästhetische Gründe«109 zurückführen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Inhalt des Textes stehen. Die Form des Romans ist seinem Inhalt erneut auf den Leib gezogen. Der mehrfach konstatierte Bruch in Johnsons Schreiben lässt sich vielmehr auf eine politische, als auf eine persönliche Zäsur zurückführen. Er ist eine Reaktion »auf den Schock der Mauer, der im Jahr 1961 allen Hoffnungen auf eine wie auch immer geartete Entspannung des deutschdeutschen Konflikts ein jähes Ende setzte«.110

108 Vgl. auch Westphal, Literarische Kartografie, S. 154. 109 Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 326. Die von Paasch-Beeck aufgeworfene Frage, ob Johnsons Distanz zur Kirche oder ästhetische Gründe oder die Thematik des Romans für den Verzicht auf einen biblischen Tonfall in Zwei Ansichten verantwortlich ist, lässt sich demnach mit einem Zusammenspiel aus Inhalt und gestalterischen Mitteln beantworten. Johnsons kirchenkritischer Hintergrund scheint hierbei keine vordergründige Rolle gespielt zu haben, dient doch der biblische Tonfall in den ersten drei Romanen der Konstitution einer Kunstsprache des Erzählers, die der politisch indoktrinierten staatlichen Sprache gegenübergestellt wird. 110 Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken«, S. 317.

5.

Fünf Thesen zur Bibelrezeption in den frühen Romanen Uwe Johnsons

Mit der vorliegenden systematischen Analyse konnte gezeigt werden, dass sich der für die ersten beiden Romane Johnsons mehrfach attestierte biblische Tonfall nicht allein auf Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob beschränkt. Auch für Das dritte Buch über Achim ist ein solcher Bibelton von erheblicher Bedeutung. Einzig in den Zwei Ansichten hat Johnson auf die Integration biblischer Intertexte aus poetologischen Gründen verzichtet. Nach der Interpretation von vier der insgesamt fünf Romane Johnsons lassen sich die Ergebnisse in fünf Thesen zusammenfassen. Erstens hat die Gegenüberstellung der vier Romane erkennen lassen, dass die biblischen Intertexte in den frühen Romanen Johnsons in die politische Kommunikation innerhalb der Texte eingebunden sind. Bleibt diese Kommunikation wie in den Zwei Ansichten aus, fehlen biblische Intertexte. Damit wird deutlich, dass die biblischen Intertexte nicht Teil eines übergeordneten religiösen, sondern eines politischen (Rahmen-)Diskurses in den jeweiligen Romanen sind. Entsprechend hat die Analyse der religiösen Diskurse in allen vier Romanen gezeigt, dass diese politisch determiniert sind. Bestätigung findet die These auch durch die Funktionen, die für die Bezugnahmen auf die Heilige Schrift in den ersten drei Romanen herausgearbeitet wurden. Biblische Signalvokabeln und die Parabeln dienen in Ingrid Babendererde in erster Linie der bisweilen auch ironischen Kritik an politischen Zuständen und den dafür verantwortlichen Entscheidungsträgern. Referenzielle Folien und sprachliche Brechungen fungieren darüber hinaus als ethisch-moralische Alternativen, die in den Texten über die Figuren- und vor allem Erzählerrede angeboten werden und zu einer Erweiterung des Bewertungsspielraumes ethischer Reflexion beitragen. Vorgeführt wird eine Form narrativer Ethik, für die das kritische Hinterfragen konstitutiv ist. Zweitens sind die biblischen Einzeltext- und Systemreferenzen innerhalb der frühen Romane nicht singulär in den Text integriert. Einzelne Signalvokabeln ziehen sich wie ein Netz durch die Romane und stiften in ihren Zusammenwirken innerhalb der politischen Kommunikation, in der vor allem die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat, Persönlichkeitsrechten

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Fünf Thesen zur Bibelrezeption in den frühen Romanen Uwe Johnsons

und Staatsräson verhandelt wird, neue Diskurse oder erweitern bereits bestehende. Der archetypische Charakter der biblischen Schriften, deren Kontexte durch die intertextuellen Beziehungen in den Romantexten aufgerufen werden, bewirkt, dass die entworfenen »Konflikt- und Machtkonstellationen« vielleicht nicht »unabhängig von vergleichbaren historischen Festlegungen«1 sind, in ihrer zeithistorischen Bedingtheit aber relativiert werden. Insbesondere die durch biblische Intertexte erzeugte Parallelführung zwischen nationalsozialistischen und sozialistischen Herrschaftsformen, die mit dem Verweis auf die Stuttgarter Erklärung bereits in Ingrid Babendererde implizit angelegt ist, lenkt den Fokus auf historisch wiederkehrende (autokratische) Machtstrukturen. Darüber hinaus erweitern die kirchengeschichtlichen Diskurse, die wie die Anspielungen auf Luthers Zwei-Regimente-Lehre teilweise in mehreren Romanen aufgegriffen werden, die Perspektive auf die politische Kommunikation um die Rolle der Institution Kirche. Von besonderer Relevanz ist die Kirche aber nicht wegen ichrer machtpolitischen Position, sondern aufgrund »ihre[s] Anspruch[s] als Sachwalterin des Lebens, des Schutzes von Leben« (BS, 48) und den aus diesem Anspruch abgeleiteten ethischen Maximen. Mit den Verweisen auf die Stuttgarter Erklärung in Johnsons Erstling, dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in den Mutmassungen über Jakob, der Frage nach der kirchlichen Bestattung von Suizidenten in Das dritte Buch über Achim und den Auswirkungen von Luthers Zwei-Regimente-Lehre in den ersten beiden Romanen werden christliche Dogmatik und deren praktische Umsetzung vor dem zeithistorischen Kontext auf eine ethische Probe gestellt. Die Kritik an der Institution Kirche kommt dabei nicht einer Ablehnung christlicher Ethik gleich, das verdeutlichen die hagiografischen Züge Cresspahls in den Mutmassungen über Jakob oder die christlich fundierten Moralvorstellungen Karins in Das dritte Buch über Achim. Vielmehr führen die Diskurse vor Augen, dass scheinbar unumstößliche Lehrsätze einer fortwährenden Überprüfung und Reflexion bedürfen, vor allem aber, dass eine ethische Lebensführung im starren Gehorsam von Lehrformeln und Obrigkeiten unmöglich erscheint – seien sie staatlicher oder kirchlicher Natur. Drittens nimmt neben dem kirchengeschichtlichen der sprachliche Diskurs in allen vier Romanen eine exponierte Stellung ein, weil in ihm die Perspektive des Erzählten um die des Erzählens erweitert wird. In ihm wird dem ideologisch funktionalisierten Sprachgebrauch – in der DDR in allen frühen Romanen Johnsons, im nationalsozialistischen Deutschland in Das dritte Buch über Achim sowie in der BRD im Achim- und Ansichten-Roman – eine Kunstsprache gegenübergestellt, die verschiedene Töne in sich vereint. Bestehende sprachliche Engführungen werden auf diese Weise aufgebrochen. Bestandteil der Kunstsprache sind in den ersten drei Romanen biblische Einzeltext-, vor allem aber 1 Paefgen, Jakob als biblischer und literarischer Quergänger, S. 93.

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Systemreferenzen, die den so häufig genannten biblischen Tonfall maßgeblich prägen. Insofern stehen sich innerhalb des sprachlichen Diskurses in Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim (Sprach-)Kritik und ethisch-moralische Alternative in Form eines ethischen Erzählens der Erzählinstanz direkt gegenüber. Viertens gilt nicht nur für die Einzeltext- und Systemreferenzen des sprachlichen Diskurses, sondern für alle biblischen Intertexte in den frühen Romanen Johnsons, dass sie weitgehend nahtlos in die Texte integriert sind. Bis auf wenige Ausnahmen erfolgen die Bezugnahmen auf die Heilige Schrift implizit, teilweise sogar sekundär wie im Falle der Spirituals in Ingrid Babendererde oder der auf die Vulgata zurückgehenden Wendung der ›Menschen guten Willens‹ in Das dritte Buch über Achim. Ein markierter Intertext wie das Zitat aus Mt 5,44 im Schaukasten der Jungen Gemeinde in Johnsons Erstling bildet eine Ausnahme.2 Aufgrund der fehlenden Markierungen müssen die biblischen Intertexte vom Leser dechiffriert werden, um den Bedeutungshorizont der intertextuellen Beziehungen in den Texten erfassen zu können. Die Funktion dieser nahtlosen Integration in den Erzähltext kann für Johnsons frühe Romane nicht darauf zurückgeführt werden, den Erzählfluss zu erhalten.3 Eben dieser Erzählfluss wird insbesondere durch Brechungen in der Erzählersprache fortwährend beeinträchtigt, um den Text für Reflexionen und Informationen, die nur angedeutet, ausgespart und nachgetragen werden, zu öffnen. Eine solche Öffnung des Deutungshorizonts bewirken häufig auch die auf Einsprengsel reduzierten, teilweise verfremdeten und unmarkierten biblischen Intertexte. Deutlich wird dieser Aspekt insbesondere in den Mutmassungen über Jakob, in denen die biblischen Namen von Jonas, vor allem aber von Jakob ganz unterschiedlich interpretiert werden. Diese vier Thesen – die Einbettung biblischer Intertexte in die politische Kommunikation, ihr diskurserweiternder und -stiftender Charakter, ihre funktionale Gegenüberstellung von Kritik und ethisch-moralischer Alternative sowie die nahtlose Integration der Intertexte in den Erzähltext – bilden ein vorläufiges Fazit der Analyse biblischer Intertexte in den Romanen Johnsons. Ob diese Thesen auch auf die Jahrestage übertragen werden können, wird im folgenden Abschnitt untersucht. Es lässt sich aber bereits an dieser Stelle sagen, dass das Spektrum intertextueller Formen in Johnsons letztem Roman um ein Vielfaches erweitert ist. Nahtlos in den Erzähltext integrierte biblische Intertexte stehen Seite an Seite mit solchen, die explizit markiert sind oder von denen nur die

2 Die gewählte Form des Intertextes rekurriert dabei in erster Linie nicht auf die Heilige Schrift, sondern auf die Sonderausgabe der Jungen Welt vom April 1953; vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.1. 3 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Referentialität in Erster Teil, Kap. 2.2.2.

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Bibelstelle genannt wird, ohne sie zu zitieren. Die Aufgabe wird sein, diesen Wandel zu deuten und die ersten drei Thesen zu überprüfen. Zu guter Letzt soll die zu Beginn der Arbeit aufgeworfene Frage, ob sich mit der Übersiedlung Johnsons nach Westberlin auch dessen Umgang mit der Bibel in seinem schriftstellerischen Schaffen wandelte, aufgegriffen werden. Grundsätzlich könnte man diesen Eindruck gewinnen, nimmt doch die Frequenz biblischer Intertexte zwischen den in der DDR verfassten Romanen Ingrid Babendererde und Mutmassungen über Jakob sowie den in der BRD entstandenen Prosawerken Das dritte Buch über Achim und Zwei Ansichten signifikant ab. Allerdings korreliert diese Veränderung mit weiteren poetologischen Modifikationen wie der stetigen Reduktion der Figurenanzahl4 oder der zunehmenden Distanz zwischen den Erzählern und ihren jeweiligen Figuren. Durch die Analyse der Romane konnte gezeigt werden, dass sich diese Veränderungen in der Erzählanlage in erster Linie auf das Bestreben zurückführen lassen, dem Inhalt mit ihrer spezifischen politischen Situation eine passende Form an die Seite zu stellen. Gestützt wird diese Annahme durch eine Vielzahl biblischer Intertexte in den Jahrestagen. Nichtsdestotrotz hat die Analyse der frühen Romane Johnsons neben vielen Diskursen, die über die Buchdeckel hinweg wieder aufgegriffen werden, und weiteren Gemeinsamkeiten fünftens eine Zäsur in der Bibelrezeption zutage gefördert. Die für den Ingrid-Roman und die Mutmassungen über Jakob zentralen Formen uneigentlichen Sprechens finden sich in Das dritte Buch über Achim und in den Zwei Ansichten nicht mehr. Dieser Wandel lässt sich womöglich auf Vorsichtsmaßnahmen des Autors zurückführen, solange er in der DDR lebte. Beim Abfassen seines dritten und vierten Romans konnte er auf diese Maßnahmen verzichten. Sieben Jahre nach dem unfreiwilligen ›Umzug‹ nach Westberlin siedelte Johnson im Frühjahr 1966 freiwillig für zwei Jahre an den Riverside Drive 243 in Manhattan über.5 Krellner betont, dass der zweite ›Umzug‹ für das Erzählen des Mecklenburgers eine »thematische[] Expansion« und »Ausdehnung an WeltErfahrung« bedeutete.6 Inwieweit die Bibelrezeption Johnsons von dieser Erfahrungserweiterung beeinflusst wurde, soll die Analyse der beinahe zweitausend Seiten umfassenden Jahrestage zeigen. Deren ersten Band veröffentlichte Johnson im September 1970, fünf Jahre nach seinem letzten Roman Zwei Ansichten.

4 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 4, Anm. 78. 5 Vgl. Leuchtenberger, Uwe Johnson, S. 40. 6 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 188.

Dritter Teil: Biblische Intertexte in Uwe Johnsons Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

1.

Ein Opus magnum in vielerlei Hinsicht

Wenige Wochen vor der vereinbarten Lieferung des dritten und letzten Teils der Jahrestage wandte sich Johnson im September 1973 mit einer unvermeidlich gewordenen Offenheit an seinen Verleger. In einem Brief gesteht er Unseld, dass von den noch ausstehenden einhundertzwanzig Tageskapiteln die in der Zwischenzeit abgefassten so umfangreich seien, dass der dritte Band »nach meiner Schätzung ein Buch von 800 Seiten«1 ergeben würde. Ausgehend von der Frage, ob man ein solches Buch noch halten könne »mit einer Hand«, unterbreitet er den Vorschlag, jenen dritten Band zu teilen: »in einen dritten, der die Tage vom 20. April bis 19. Juni 1968 enthält, samt Vergangenheit«, und einen »›vierten‹, die Tage bis zum 20. August 1968, samt Vergangenheit, Oberschule, Liebschaften, Flüchtlingslager, Westen Westen Westen bis zum Hafen von New York City«.2 Unseld stimmte dem Vorschlag in einem Telefonat am 4. Oktober 1973 zu,3 verbunden mit der Hoffnung, der vierte Band werde zu Beginn des darauffolgenden Jahres veröffentlicht.4 Neun Jahre später, am 8. Oktober 1982, schrieb Johnson, dass er tagsüber damit beschäftigt sei, »eine störrische Gesine Cresspahl auf den Weg zu einer verspäteten, nachgeholten Konfirmation zu ziehen in den Zeiten des neu aufgelegten Kirchenkampfes in Mecklenburg«.5 Der Beschreibung nach arbeitete der mittlerweile an der Themsemündung lebende Autor am Tageskapitel vom 22. Juli 1968, das für die Themen ›Kirche und Religion‹ von zentraler Bedeutung für den Roman ist.6 Rund zwei Drittel des vierten Bandes waren bis zu diesem 1 2 3 4

Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 21. 9. 1973, in: JUB, 801f., hier: S. 801. Ebd., S. 801f. Vgl. JUB, 803, Anm. 1. Anfang Januar 1974 unternahm Unseld den Versuch, einen Ablieferungstermin für den vierten Band zu vereinbaren, auf den sich Johnson allerdings nicht festlegen lassen wollte, und sandte am 25. Januar einen Andruck des Umschlags für den vierten Band an seinen Autor; vgl. JUB, 814f., Anm. 3; Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 25. 1. 1974, in: JUB, 812f. 5 Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 8. 10. 1982, in: JUB, 1028–1031, hier: S. 1028f. 6 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 3.2, 4.2.

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Zeitpunkt verfasst, das noch fehlende Drittel vervollständigte Johnson in den darauffolgenden sechs Monaten. Im Oktober 1983 erschien 13 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten schließlich der vierte Band der Jahrestage. Angesichts des Gesamtumfangs von knapp 1.900 Seiten und einer Entstehungsdauer von mehr als 15 Jahren7 erscheint es durchaus berechtigt, Johnsons letzten Roman als ein Opus magnum zu bezeichnen. Am Ende dieses für den Leser, vor allem aber für den Autor langen Weges steht ein »literarische[s] Kunstwerk«,8 das zu den bedeutenden deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts gezählt werden kann. Ihren Anteil an der außergewöhnlichen literarischen Qualität des Werkes haben auch zahlreiche biblische Intertexte, die in ihrer Frequenz und Formenvielfalt mit der Bibelrezeption in den frühen Romanen Johnsons kaum vergleichbar sind. Ausdruck dessen ist eine ganze Reihe von Arbeiten, in denen im Rahmen der Untersuchung von Figuren wie Lisbeth Cresspahl, Arthur Semig oder Wilhelm Brüshaver biblische Intertexte berücksichtigt wurden. In anderen Studien wurden ganz gezielt die Bibelrezeption und mit ihr verbundene Themen wie die Rolle des Judentums oder der (mecklenburgischen) evangelischen Kirche im Roman in den Blick genommen. Ihren Anfang nahm diese Beschäftigung Anfang der 1990er Jahre mit einer Studie Dieter Breuers, die von der These geleitet wird, dass die Jahrestage ein religiöser Diskurs durchziehe.9 Demnach setze Gesine Cresspahls Absage an den christlichen Glauben, die der bekennenden Religiosität Anita Gantliks gegenüberstehe, einen religiösen Diskurs mit ihrer Tochter Marie Cresspahl in Gang, der im Tageskapitel vom 22. Juli 1968, an dem Johnson am 8. Oktober 1982 arbeitete, ihren Höhepunkt finde. In den darauffolgenden Jahren veröffentlichten Auerochs, Hofmann, Wolfgang Wittkowski und Paasch-Beeck vier Aufsätze zum religiösen Diskurs im Roman. Auerochs und Hofmann analysieren die herausgehobene Bedeutung der Shoah für das Erinnerungsprojekt der Titelfigur Gesine Cresspahl und gehen dabei Spuren jüdischen Lebens in Jerichow und New York nach.10 Während Auerochs dabei zu dem Schluss gelangt, dass die Shoah 7 Johnson begann am 29. Januar 1968 mit der Niederschrift des ersten Kapitels der Jahrestage und beendete seine Arbeit am 14. April 1983; vgl. Uwe Johnson: [ohne Titel; Jahrestage 1], 1. Fassung, 29. 1. 1968–9. 3. 1970, in: UJA Rostock, UJA/H/000262, Mappe 1–10, hier: Mappe 1, Bl. 5; Uwe Johnson: [ohne Titel; Jahrestage 4], 1. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/ 000302, Mappe 1–10, hier: Mappe 10, Bl. 28. 8 Rolf Becker: Eine Bitte für die Stunde des Sterbens, in: Der Spiegel, Nr. 42 vom 17. 10. 1983, S. 256–259, hier: S. 259. 9 Vgl. Dieter Breuer: Die unerledigte Sache mit Gott. Zum religiösen Diskurs in Uwe Johnsons Romanwerk Jahrestage, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch (N. F.) 32, 1991, S. 295–305. 10 Vgl. Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«; Michael Hofmann: Dr. med. vet. Arthur Semig: Ein Jude in Jerichow. Zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 114, Sonderheft: Vom

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eine Zäsur im Verhältnis zwischen Deutschen und Juden konstituiert habe, der unterschiedliche Perspektiven der Erinnerung an diesen Zivilisationsbruch hervorrufe, richtet Hofmann den Fokus auf den moralischen Wert des Erzählprojektes für Gesine und ihre Tochter Marie. Wittkowski wiederum vergleicht mit den Tageseinträgen vom 17. Januar 1968, in dem die Zeugenaussage Lisbeth Cresspahls erzählt wird, und vom 21. Februar 1968, das die Trauerrede Pastor Brüshavers zum Tod von Gesines Mutter zum Thema hat, zwei Kapitel anhand der darin vorkommenden biblischen Verweise.11 Dabei geht er der Frage nach, inwieweit das Verhalten Lisbeth Cresspahls und Wilhelm Brüshavers als religiöses Heldentum bezeichnet werden könne. Leider weist diese Arbeit erhebliche Ungenauigkeiten auf – beispielhaft nennen ließe sich die Verortung der Reichspogromnacht in das Jahr 1937 –, auch schreckt der Verfasser nicht davor zurück, die Ergebnisse seiner literarischen Analyse direkt auf den Autor Johnson zu übertragen.12 Einen ersten Überblick über die Bibelrezeption in den Jahrestagen legte Paasch-Beeck in seiner im Jahr 1997 veröffentlichten Studie Bißchen viel Kirche, Marie? vor, in der er den Höhepunkt der Lisbeth-Handlung, die drei Jerichower Pastoren sowie die auffällige Präsenz jüdischer Feiertage in einen Zusammenhang stellt und Funktionen biblischer Bezugnahmen im Roman herausarbeitet.13 Bis heute handelt es sich hierbei um die grundlegende Untersuchung zur Bibelrezeption in Johnsons Hauptwerk. Paasch-Beeck machte sich in der Folge mit fünf weiteren Aufsätzen zum religiösen Diskurs in den Jahrestagen verdient. In diesen widmet er sich vor allem der Rolle der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg-Schwerins bzw. Mecklenburgs im Roman. So gelang es ihm in einer 2011 veröffentlichten Arbeit auf der Grundlage einer Analyse der drei Jerichower Pastorenfiguren, Methling, Wallschläger und Brüshaver, intertextuelle Verweise auf kirchengeschichtliche Dokumente nachzuweisen und ein differenziertes Bild der Mecklenburgischen Landeskirche vom Aufkommen des Nationalsozialismus bis zum

Umgang mit der Shoah in der deutschen Nachkriegsliteratur, hg. von Norbert Oellers, 1995, S. 65–84. 11 Vgl. Wolfgang Wittkowski: Zeugnis geben. Religiöses Helden- und Pseudo-Heldentum in Uwe Johnsons Jahrestagen (Bd. 2), in: Internationales Uwe-Johnson-Forum 4, 1996, S. 125– 142. 12 Vgl. ebd., S. 125: »Wir erfahren Näheres über das Verhältnis eines modernen Autors zur Religion.« 13 Vgl. Rainer Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? Bibelrezeption in Uwe Johnsons Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch 4, 1997, S. 72–114. Im Jahr 2014 hat Paasch-Beeck die Ergebnisse in der Zeitschrift Pastoraltheologie für ein theologisches Publikum zusammengefasst und mit der Bibelrezeption in weiteren Werken Johnsons in Beziehung gesetzt; Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 326–333.

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Ende des Zweiten Weltkrieges zu zeichnen.14 Diese im Zusammenhang der Johnson-Forschung veröffentlichten Ergebnisse greift Paasch-Beeck in zwei weiteren Studien für ein theologisches Publikum auf und spezifiziert sie hinsichtlich der ›Beziehung‹ zwischen Wilhelm Brüshaver und Martin Niemöller als einem ranghohen Mitglied der Bekennenden Kirche und der EKD, auf den innerhalb des Romans an drei Stellen Bezug genommen wird.15 Den kirchengeschichtlichen Komplexen in den Jahrestagen widmet sich überdies Katharina Wörn in einem 2017 erschienenen Aufsatz für die Anthologie Pfarrhausbilder. Der Titel des Sammelbandes gibt bereits Aufschluss darüber, dass sich Wörn in ihrer überwiegend textimmanenten Analyse, die punktuell auf die Ergebnisse aus Paasch-Beecks Studien zurückgreift, den drei Pastorenfiguren in der Jerichower Petrikirche widmet.16 Zwei Jahre zuvor hat der Verfasser dieser Arbeit in der Anthologie Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert ausgewählte kirchengeschichtliche Diskurse in den Jahrestagen analysiert und diese mit früheren Romanen Johnsons in Verbindung gebracht.17 Mit der Bedeutung der Shoah und der ›deutschen Schuld‹ als der »Kernzone«18 des Romans setzen sich in der Folge von Auerochs und Hofmann auch PaaschBeeck und Mecklenburg auseinander.19 Beide rücken dabei die Vergangenheitserzählung um Arthur Semig und die Familie Tannebaum ins Zentrum ihrer Untersuchungen, wobei Mecklenburg eine Analyse der Jerichower Pastoren anschließt und die Rolle Brüshavers differenziert in den Blick nimmt. Einen anderen Ansatz verfolgt Schmidt, der die Kalenderstruktur und den Titel des 14 Vgl. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms. 15 Vgl. Rainer Paasch-Beeck: »Trinken Pastoren Cola?« Pastoren in der deutschen Literatur nach 1945 [Literaturbericht], in: Pastoraltheologie 102, 2013, S. 168–197; ders.: »Luzifer in Gestalt der mecklenburgischen Landeskirche«. Der evangelische Kirchenkampf in Uwe Johnsons Roman Jahrestage, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 11, 2017, S. 55– 81. 16 Katharina Wörn: Pfarrer- und Pfarrhausbilder in Uwe Johnsons Jahrestage, in: Christian Albrecht/Eberhard Hauschild/Ursula Roth (Hg.): Pfarrhausbilder. Literarische Reflexe auf eine evangelische Lebensform, Symposium anlässlich des 70. Geburtstags von Herrn Prof. em. Dr. Wolfgang Steck, Tübingen 2017, S. 177–192. 17 Vgl. Onasch, Kirchengeschichtliche Diskurse. 18 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 301. 19 Vgl. Rainer Paasch-Beeck: Zwischen »Boykott« und »Pogrom«. Die Verdrängung und Ermordnung der jüdischen Bevölkerung Mecklenburgs im Spiegel der Jahrestage, in: Text + Kritik. Uwe Johnson, H. 65/66, 2. Aufl., Neufass., München 2001, S. 119–134, hier: S. 126–128; Norbert Mecklenburg: Jude, Christ, Judenchrist? Zu einer Figur in Uwe Johnsons »Jahrestage«, in: Jan Badewien/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Mutmaßungen über Uwe Johnson. Heimat als geistige Landschaft, Karlsruhe 2005, S. 127–147. Seine Überlegungen nutzte Mecklenburg einige Jahre später für einen Vergleich der Werke Johnsons und Walter Kempowskis, um auf zugespitzte Art und Weise den »künstlerischen Rangunterschied beider Erzähler« herauszustellen; ders.: Johnson, Kempowski. Eine Geschichte, zwei Versionen, in: Johnson-Jahrbuch 20, 2013, S. 144–163, hier: S. 159.

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Romans zum Anlass nimmt, die Funktion von Jahrestagen im eigentlichen Sinne als Tage des Erinnerns bzw. Gedenkens in den Jahrestagen zu untersuchen. Das umfangreichste Kapitel seiner beeindruckenden Dissertationsschrift widmet er dem jüdischen Festkreis, der nicht nur den Gegenstand kurzer Sequenzen aus der New York Times bildet, sondern das Erinnerungsprojekt der Protagonistin maßgeblich prägt.20 Daneben sind in einigen Studien zu den Jahrestagen, in denen keine ausdrückliche Beschäftigung mit der Bibelrezeption im Roman stattfindet, Analysen biblischer Intertexte enthalten. Im Zentrum stehen dabei Arbeiten zur Figur Lisbeth Cresspahl. So gelangt Hille Haker in ihrer Dissertationsschrift zu dem Schluss, dass Gesine die Lebensgeschichte ihrer Mutter Lisbeth als Geschichte einer verweigerten bzw. gescheiterten Entwicklung einer moralischen Identität erzählt.21 Auch Matthias Bormuth und Tanja Winkler erörtern in ihren Aufsätzen die übersteigerte Religiosität von Gesines Mutter.22 Während Bormuth den Suizid Lisbeths psychologisch einordnet, geht Winkler noch einen Schritt weiter und führt die Flucht der erwachsenen Frau ins Religiöse auf die Moralentwicklung in ihrer Sozialisation zurück. Ausgehend von der Beobachtung der wiederholten Integration biblischer Intertexte und den die Makrostruktur der Jahrestage zum Ausgangspunkt nehmenden Überlegungen Schmidts soll in der Folge ein Ansatz entwickelt werden, der die verschiedenen Diskurse und Teildiskurse in Johnsons Opus magnum, die durch Bezugnahmen auf die Heilige Schrift erweitert und gestiftet werden, möglichst umfassend berücksichtigt. Dabei soll Breuers Beobachtung, dass den Roman ein religiöser Diskurs durchziehe, auf das Erinnerungsprojekt der Protagonistin hin konkretisiert werden: Welche Rolle nehmen die verschiedenen biblischen Intertexte hierbei ein? Welche Funktion erfüllt die übersteigerte Religiosität von Gesines Mutter innerhalb des Romans? In welchem Zusammenhang stehen die intensive kirchengeschichtliche Auseinandersetzung der Protagonistin und die Sozialisation ihrer Tochter mit der Religiosität von Lisbeth Cresspahl? Aufgrund der Fülle an biblischen Intertexten kann die Analyse nur exemplarisch erfolgen. Dabei berücksichtigt wird die im Uwe Johnson-Archiv über-

20 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 232–353. 21 Vgl. Hille Haker: Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson, Tübingen 1999, bes. S. 234–243. 22 Vgl. Matthias Bormuth: Der Suizid als Passionsgeschichte. Zum Fall der Lisbeth Cresspahl in den Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch 12, 2005, S. 175–196; Tanja Winkler: »Ungeschickt, wie ein Kind. Als hätte sie es nicht gelernt«. Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, in: JohnsonJahrbuch 20, 2013, S. 237–250.

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lieferte Textfassung der Jahrestage, die Johnson zwischen Januar 1968 und April 1983 anfertigte.23

23 Vgl. Dritter Teil, Anm. 7.

2.

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»Sie ist nicht sicher, ob Juden vor 1933 noch mieten durften in dem Fischerdorf vor Jerichow, sie kann sich nicht erinnern an ein Verbotsschild aus den Jahren danach.« (JT, 7) Es ist der zwölfte Satz des knapp zweitausend Seiten umfassenden Romans, der innerhalb des ersten undatierten Kapitels, des Chapter without a date,1 eine Zäsur bildet. Die zunächst verwendete narratoriale Erzählperspektive, die sukzessive mit einer figuralen verschmilzt,2 geht an dieser Stelle das erste Mal vollständig in die figurale Perspektive über. Das Subjekt, auf das mit dem Personalpronomen ›sie‹ rekurriert wird, ist die wenige Sätze zuvor eingeführte »Schwimmende« (JT, 7). Sie wird in den folgenden Sätzen als eine Urlauberin mit Namen »Miss C.«, »Mrs. Cresspahl« oder »Ge-sine Cress-pål« (JT, 7f.) identifiziert. Auf die Figur hin perspektiviert, wird die zuvor durch die Nennung der Ostsee und der Verwendung des Perfekts3 lediglich angedeutete Vergangenheitsebene anhand der Datierung auf das Jahr 1933 sowie der Loka1 Vgl. Ulrich Fries: Uwe Johnsons Jahrestage. Erzählstruktur und Politische Subjektivität, Göttingen 1990, S. 19. 2 Krellner sieht einen Perspektivenwechsel bereits vom vierten auf den fünften Satz (»Jenseits der Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreckten Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen«; JT, 7) realisiert, »erkennbar am verwendeten Perfekt«; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 196. Fries weist hingegen darauf hin, dass »[a]uch wenn es sinnvoll ist, das Ende des Absatzes ›der Schwimmenden‹ als erlebte Rede aufzufassen, […] dies nicht bedeuten [würde], daß ein Wechsel in der Erzählsituation stattgefunden haben muß. Zwar ändert sich das in der Folge, doch hier fungiert ›die Schwimmende‹ noch nicht eindeutig als Reflektor-Figur: wenig deutet darauf hin, daß die dargestellte Wirklichkeit tatsächlich aus ihrer Sicht vorgeführt wird«; Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 23; Kursivdruck im Original. Erst mit der Verbform ›lümmeln‹ im achten Satz (»Die Gemeinde hat den breiten Sandstrand abgezäunt und verkauft Fremden den Zutritt für vierzig Dollar je Saison, an den Eingängen lümmeln uniformierte Rentner und suchen die Kleidung der Badegäste nach den Erlaubnisplaketten ab«; JT, 7) macht Fries den »Markierungsposten« für die komplizierte Erzählsituation aus, in der »personale und auktoriale Momente ununterscheidbar sich verschmolzen haben«; ebd., S. 26. 3 Vgl. JT, 7: »Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen.«

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lisierung des Fischerdorfes in der Nähe von Jerichow, dem zentralen Ort der Vergangenheitserzählung, genauer bestimmt. Der Wechsel von einem Dorf »auf einer schmalen Nehrung vor der Küste New Jerseys« zu einem »Fischerdorf vor Jerichow« (JT, 7) wird über den Komplex der sozialen Diskriminierung, konkret über Rassismus und vor allem Antisemitismus, initiiert. Das Wiederaufgreifen des Lexems ›Juden‹ aus dem vorherigen Satz führt den Antisemitismus als eines der zentralen Themen in den Roman ein. Die Datierung auf der Vergangenheitsebene stellt überdies eine indirekte Verbindung zur Shoah und der damit verbundenen ›deutschen Schuld‹ her. Das Verfahren, mit dem der Assoziationsraum zwischen Gegenwart und Vergangenheit eröffnet wird, ist das des Erinnerns. Gleich zwei Mal wird das Erinnern betont und die Protagonistin als ein Erinnerungssubjekt herausgestellt: »Sie ist nicht sicher […], sie kann sich nicht erinnern«. Es soll nicht der Eindruck entstehen, als könnte ein einziger Satz das Erzählprogramm eines zweitausend Seiten umfassenden Romans mit seiner Vielzahl an Themen, Motiven und Diskursen vorwegnehmen. Zumindest aber deutet dieser Satz, setzt man ihn mit den vorherigen elf Sätzen in Beziehung, das Erzählprogramm in seinen Grundzügen an: Eine sich in der Nähe von New York aufhaltende Frau erinnert sich ausgehend von Beobachtungen in der gegenwärtigen US-amerikanischen Gesellschaft ihrer Vergangenheit an der deutschen Ostseeküste, in deren Zentrum die deutsche Schuldgeschichte zwischen 1933 und 1945 steht.4 Im weiteren Verlauf des undatierten ersten Kapitels kristallisiert sich heraus, dass jene Schwimmende die mit ihrem Kind in New York lebende Gesine Cresspahl ist, als Protagonistin durch den Untertitel des Romans exponiert. Der historische Rahmen der Vergangenheitsebene wird über das Motiv der Ferien, in denen sich Gesine auf der Gegenwartsebene befindet, um die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert.5 Überdies werden narrative Elemente wie die New York Times in den Roman eingeführt. Auch wenn sich die Exposition, wie Fries 4 Vgl. hierzu Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 301: »Das subjektiv-objektive Schuldkontinuum liefert den roten Faden des ganzen Werkes. Es verbindet beide Ebenen, Gegenwart und Vergangenheit. Seine Kernzone aber ist die ›deutsche Schuld‹, die Verantwortung der Deutschen vor der Welt ›für 55 000 000 Tote, die sechs Millionen Opfer in den Vernichtungslagern noch dazu‹ ([JT, ] 798).« 5 Vgl. JT, 9: »Am nächsten Morgen ist der früheste Küstenzug nach New York auf dem freien Feld vor der Bucht aufgefahren […]. Die verstriemten Fenster rahmen Bilder, weißgetünchte Holzhäuser in grauem Licht, Privathäfen in Lagunen, halbwache Frühstücksterrassen unter schweren Laubschatten, Flußmündungen, letzte Durchblicke zum Meer hinter Molen, die Ansichten vergangener Ferien. Waren es Ferien? Im Sommer 1942 setzte Cresspahl sie in Gneez in einen Zug nach Ribnitz und erklärte ihr, wie sie da vom Bahnhof zum Hafen gehen sollte. […] 1942 im Sommer wollte Cresspahl das Kind eher aus dem Weg haben. Aus seinem Weg hatte er sie 1951 geschickt, in den Südosten Mecklenburgs, fünf Stunden von Jerichow.«

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überzeugend darlegt,6 noch über die nächsten drei Tageskapitel erstreckt, in denen Gesine als eine in einer Bank arbeitende Frau von »vierunddreißig Jahre[n]« und ihr Kind als »fast zehn Jahre alt« vorgestellt werden (JT, 12), erhebt der zwölfte Satz den mnemologischen Rahmendiskurs zum Programm. Gesines sich über 367 Tageskapitel erstreckende »Erinnerungsreise«7 wird von einem Erzähler präsentiert, der die New Yorker Gegenwarts- assoziativ mit der mecklenburgischen Vergangenheitsebene verknüpft. Hierzu changiert die Erzählhaltung, wie bereits gezeigt, zwischen narratorialer und figuraler Perspektive. Die Erzählinstanz wechselt aber nicht nur zwischen den Perspektiven, sondern ebenso zwischen den Stimmen. Ein erstes Anzeichen hierfür liefert die Verbform ›lümmeln‹ im achten Satz, durch die eine Erzählsituation entsteht, in der sich nichtdiegetisches und diegetisches Erzählen überlagern: »die beiden Sprachebenen lassen sich in dem Bewußtsein einer Person nicht zusammendenken«.8 Deutlicher wird das Verschmelzen verschiedener Stimmen im vierten Tageskapitel vom 23. August 1967, in dem ein erstes Ich-Signal und damit die Stimme Gesines in den Erzählertext integriert wird: »Er hatte einen aufmerksamen, nicht deutbaren Blick, und die Lippen waren leicht vorgeschoben, wie auf dem Bild in seinem Reisepaß, den ich ihm zwanzig Jahre später gestohlen habe.« (JT, 16) Hier wie an vielen weiteren Stellen fallen die Stimme einer erzählenden Instanz, die im Tageskapitel vom 28. Oktober 1967 als »Genosse[] Schriftsteller« (JT, 230) ›figuriert‹, und der Protagonistin Gesine zusammen. Gemeinsam zeichnen sie für den Erzählertext verantwortlich, wobei »sowohl Struktur des Textes wie auch dessen Sprache […] auf das Konto des Genossen Schriftsteller«9 gehen. Fries nimmt daher statt zweier Erzähler einen gekoppelten bzw. doppelten Erzähler an: »Der Erzähler […] erzählt durchgängig mehr oder weniger aus Gesines Sicht, aber er hat die Freiheit, die Perspektive zu wechseln: er kann sich in andere Personen – auch in Gesine – hineinversetzen«.10 Für Matthias Wilde rekurriert diese doppelte Erzählweise »auf das Ausgeklammerte«, sodass deutlich wird, dass die Art, »[w]ie gerade erzählt wurde, […] nicht die einzige Möglichkeit« darstellt, sondern »[ j]ede Form, jede Wahrnehmung und Ver6 Vgl. Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 19–50. Krellner nimmt die Arbeit von Fries zwar wahr, übergeht aber dessen Argumentation und versucht stattdessen den »Nachweis [zu] erbringen, daß die ›Wandung aus Erwartung‹, die im undatierten ersten Kapitel der Jahrestage aufgerichtet wird, abermals als ein ›Behälter‹ für das ganze Erzählwerk angesehen werden kann«; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 192. 7 Ebd., S. 204. 8 Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 26. Fries deutet die Passage als Zusammentreffen von auktorialer/nichtdiegetischer Stimme und figuraler Perspektive; vgl. ebd., Anm. 20. Überdies erscheint es möglich, dass der Perspektivenwechsel innerhalb der parataktischen Reihung mit einem Stimmenwechsel einhergeht. 9 Ebd., S. 53. 10 Ebd., S. 59.

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mittlung«11 immer auswählt und Ereignisse auf ihre spezielle Art liefert. Beide, der »Genosse Schriftsteller und Gesine[,] beobachten einander beim Erzählen« und »zeigen auf die blinden Flecken des anderen«.12 Diese komplexe Erzählhaltung der Jahrestage lässt sich mit Krellner wiederum auf den Rahmendiskurs des Romans zurückführen. Mit der Verdoppelung der Erzählerstimme geht eine mnemotechnische Doppelstrategie einher.13 Die Rekonstruktion von Vergangenheit im Roman erfolgt auf zwei Wegen und wird gemeinhin mit dem auf Proust zurückgehenden Begriffspaar der mémoire involontaire und mémoire volontaire beschrieben:14 Die unbewusst-assoziativen Erinnerungen Gesines bilden den Ausgangspunkt für einen bewusst rekonstruierenden und reflektierenden Erinnerungsprozess, in dem die Protagonistin vom Genossen Schriftsteller unterstützt wird. Der vollständige Name der Protagonistin etwa wird im Chapter without a date in einer unbewusst-assoziativen Gedankenrede wiedergegeben, die in der niederdeutschen Mundart verfasst und typografisch vom übrigen Erzähltext abgesetzt ist: »Ge-sine Cress-pål / ick peer di dine Hackn dål« (JT, 8). Jenes Treten in die Hacken rekonstruiert Gesine mithilfe des Genossen Schriftsteller und dechiffriert die niederdeutsche, »traumhaftunbewußte[] Erinnerung[]«15 an die Kindheit in eine mechanische Beschreibung: »Beim Strandlaufen an der Ostsee gab es ein Spiel, bei dem die Kinder dem Vordermann jenen Fuß, der eben nach vorn anheben wollte, mit einem raschen Kantenschlag hinter die Ferse des stehenden Beins hakten, dem Kind das sie war, und der erste Fall war unbegreiflich.« (JT, 8) Der Versuch, »das Gefühl zwischen Stolpern und Aufprall« wiederzufinden, scheitert jedoch, obwohl Gesine bemüht ist, sich beim Strandspaziergang »[a]lle paar Schritte […] von den Wellen aus dem Stand schubsen zu lassen« (JT, 8f.). Mit dem Verweis auf die Kindheit wird eine Erinnerungssuche der Protagonistin evoziert, die auf eine »Verständigung 11 Matthias Wilde: Die Moderne beobachtet sich selbst. Eine narratologische Untersuchung zu Uwe Johnsons Jahrestage, seinem Fragment Heute Neunzig Jahr und zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 2009, S. 14. 12 Ebd. 13 Krellner leitet diese Doppelstrategie allerdings aus der »zeitlichen, räumlichen und perspektivischen Doppelkonstruktion der Jahrestage« ab; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 223. Die zeitliche und räumliche Doppelstruktur des Romans gewährleistet jedoch lediglich, dass überhaupt ein Erinnerungsprozess in Gang gesetzt wird. Erst das Zusammenspiel aus Figuren- und doppelter Erzählerstimme konstituiert jene mnemotechnische Doppelstrategie des Romans. 14 Zuletzt von Matthias Attig, der in seiner Studie zu Textuellen Formationen von Erinnerung und Gedächtnis den Erinnerungsprozess in den Jahrestagen einer linguistischen Analyse unterzieht und so den Nachweis erbringt, dass das im Roman vorgeführte »Ringen um die mémoire volontaire« für diesen strukturgebend ist; Matthias Attig: Textuelle Formationen von Erinnerung und Gedächtnis. Linguistische Studien zum Erzählen in Uwe Johnsons Jahrestagen, Berlin 2015, S. 282; Kursivdruck im Original. 15 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 201.

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über ihre Identität im Spannungsfeld zwischen familiärer und gesellschaftlicher Existenz«16 zielt. Entsprechend reagiert sie auf ihre Unsicherheit, »ob Juden vor 1933 noch mieten durften in dem Fischerdorf vor Jerichow« (JT, 7), mit einem Brief an die »Gemeindeverwaltung in Rande bei Jerichow« und bittet »höflichst um Auskunft, wie viele Sommergäste jüdischen Glaubens vor dem Jahr 1933 in Rande gezählt wurden« (JT, 8). Beide Beispiele zeigen, dass es sich bei den biografischen Erinnerungen der Protagonistin um »ein Mittel der Selbstvergewisserung«17 handelt. Folglich differenziert Krellner unter Berufung auf Aleida Assmann zwischen identitätsstiftenden Strategien auf der einen und rekonstruktiven Techniken der Erinnerungsbildung, »vermittels derer das ›kulturelle Gedächtnis‹ des Romans im umfassenden, d. h. die individuellen Intentionen Gesines transzendierenden Sinne hergestellt wird«,18 auf der anderen Seite. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Ausprägungen der Erinnerungsbildung berührt unmittelbar die Relation zwischen Form und Inhalt des Textes in den Jahrestagen. So weist Schmidt die Interpretation des mnemologischen Rahmendiskurses mit dem Proust’schen Inventar der mémoire involontaire und mémoire volontaire zurück, weil er die kalendarische Basisstruktur als Ausgangspunkt der Erinnerungsbildung im Roman deutet.19 Folglich ziehe sich die Geschichte der Jahrestage entgegen dem Johnson’schen Diktum20 nicht die Form auf den Leib, sondern »hier zieht sich die Form die Geschichte auf den Leib. Oder anders und genauer: Hier wird die Geschichte in die Form eingepaßt, die damit einen Eigenwert gegenüber den Erzählinhalten behauptet.«21 Als Ausgangspunkt dieser These dient Schmidt die Beobachtung, dass die Datumsangabe den 367 Segmenten des Textes als Zwischentitel dient – mit nur einer Ausnahme.22 Das Chapter without a date lässt sich in diese Basisstruktur nicht einordnen.23 Ent16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 198. Ebd. Ebd., S. 223. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 305, Anm. 181. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 2, Anm. 271. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 87. Ebd., S. 76. Als Notausgang wählt Schmidt die wenig plausible These, dass Johnson von den Ereignissen des Prager Frühlings eingeholt worden sei und den Beginn der Datierung im Nachhinein korrigiert habe: »Also half der Autor, der nach eigenen Angaben im August 1968 erste [sic!] 47 Manuskriptseiten fertiggestellt hatte (vgl. BU, 426), ein wenig nach und verschob die Anfangsdatierung entgegen der ursprünglichen Konzeption um einen Tag nach hinten – die Anfangsdatierung, nicht aber den Anfang selbst. Daher ist der 20. August 1967 zwar der erste Tag der Jahrestage; aber nicht das erste Datum«; ebd., S. 73. Unabhängig von der Plausibilität lässt sich die These Schmidts, in der Johnsons mehrfach wiederholte Aussage aufgegriffen wird, es sei Zufall gewesen, dass das zuvor konzipierte Ende des Romans mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Prag zusammenfiel, anhand der überlieferten Fassung der Jahrestage widerlegen; vgl. Barbara Bronnen: »Beauftragt, Eindrücke festzuhalten.« Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Büchner-Preisträger Uwe Johnson (Am 30. 11. 1971 in Erlangen), in:

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scheidender ist aber, dass die Erinnerungsbildung der Protagonistin bereits auf diesen ersten knapp vier Seiten des Romans beginnt und nicht erst mit dem ersten datierten Kapitel. Entsprechend stellt Krellner die Protagonistin »als treibende ›Kraft‹ des Unternehmens«24 ins Zentrum der Erinnerungsbildung, womit Johnsons Diktum der Form-Inhalt-Kausalität gewahrt bleibt. Die von Attig aus dem Romantext entwickelten drei Formen der Korrespondenz – die semantische, thematische und rhetorisch-stilistische25 –, mit denen die mikrostrukturelle Erinnerungsbildung in den Textsegmenten organisiert wird, werden durch den Kalender ergänzt, der den Erinnerungsprozess als makrostrukturelle Technik lenkt. Insofern erscheint es konsequent, die Typologie Attigs um die kalendarische Korrespondenz anzureichern. Angelegt ist die kalendarische Struktur des Romans bereits im Titel Jahrestage. In einem Brief an Unseld vom März 1971 betont Johnson die Homonymie des von ihm gewählten Titels: Erlaube, dass ich noch einmal die zweifache Erklärung des Titels wiederhole. Es sind Tage eines Jahres im Leben einer Person Gesine Cresspahl auf der Ebene familiären, beruflichen, städtischen Alltags zu unserer Zeit, in New York. Es sind zum anderen wiederholte Tage, Jahrestage (erwarteter Massen nicht Jubiläen) aus der Vergangenheit der Person, im Mecklenburg des Grossdeutschen Reiches. Es ist demnach ein Bestandteil des Versuchs, dass eine der wichtigsten Funktionen des Erzählens, die Erinnerung, in ihren Wirkungen vorgeführt wird, also wie so genannte

Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 257–262, hier: S. 258. Sofern man Johnson nicht eine nachträgliche Manipulation seiner Manuskriptvorstufen unterstellen möchte, begann er am 29. Januar 1968 mit der Niederschrift eines ersten Textsegments, das bis auf geringfügige Abweichungen dem Chapter without a date entspricht; vgl. Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 1] (1. Fs.), Mappe 1, Bl. 5–8. Das erste datierte Kapitel, das bereits den Zwischentitel »21. August, 1967 / Montag« trägt, begann Johnson am 9. Mai 1968 zu schreiben; ebd., Bl. 9. Bis zum 9. August 1968 verfasste Johnson einschließlich des Chapter without a date die ersten achtzehn Tageskapitel bis zum 6. September 1967 auf exakt 47 Manuskriptseiten. Eine nachträgliche Korrektur der Datumsangaben wurde nicht vorgenommen. Die Arbeit fortgesetzt hat Johnson erst im März 1969 mit dem Tageskapitel vom 7. September 1967; vgl. ebd., Mappe 2, Bl. 1. 24 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 224. 25 Vgl. Attig, Textuelle Formationen, S. 95–123. Die ›semantische Korrespondenz‹ werde in seiner Grundform durch ein Lexem eröffnet, »das als Scharnier zwischen zwei unterschiedlichen Inhaltsebenen des Textes – im Falle der ›Jahrestage‹ sind dies insbesondere die voneinander abgehobenen Sequenzen der Gegenwarts- und Vergangenheitserzählung – figuriert«; ebd., S. 95. Eine ›thematische Korrespondenz‹ entstehe dagegen durch »paradigmatische Relationen zwischen inhaltlich-thematischen Einheiten unterschiedlichen Umfangs«, während ›rhetorisch-stilistische Korrespondenzen‹ durch »formale Homologien« erzeugt werden; ebd., S. 106, 116. Neben diesen drei Formen der Korrespondenz führt Attig mit dem Vergleich einen Sonderfall an, in dem der »Brückenschlag zwischen den beiden narrativen Systemen explizit [ge]macht« werde; ebd., S. 121.

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Fakten beschädigt, verunstaltet, mindert, verschönt und in der unwahrscheinlichen Version zuverlässig reproduziert.26

So sehr die erste von Johnson angegebene Bedeutung des Titels angesichts der Romanstruktur auf der Hand zu liegen scheint, weist Schmidt doch darauf hin, dass der Terminus technicus ›Jahrestag‹ seine Bedeutung gerade in Abgrenzung zum Alltag gewinnt: »Jahrestage sind per definitionem nicht alle Tage des Jahres, sondern nur jene, die sich durch ihre Exzeptionalität von den Tagen unterscheiden, die nicht diesen exponierten Status haben.«27 Demnach sei die Homonymie des Titels »lediglich virtuell in den Nomen«, weil es für die von Johnson zuerst angeführte Bedeutung einer »entidiomatisierenden Dekomposition in Tage des/eines Jahres«28 bedürfe. Aus dieser terminologischen Annäherung wiederum leitet Schmidt seine These ab, dass das Konzept ›Jahrestag‹ im Zentrum der Erinnerungsbildung im Roman stehe. Die Datierungen erzeugen ihren Sinn nicht aus ihrer stetigen Abfolge vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968, sondern »aus dem vom Titel eröffneten Feld der Fest- und Gedächtniskultur«.29 Johnson hat diese Deutung in der Korrespondenz mit seiner Übersetzerin Leila Vennevitz, die vor das Problem gestellt war, die deutsche Homonymie nicht ins Englische übertragen zu können,30 am 25. Januar 1971 bestätigt: What my title ›Jahrestage‹ tries to convey is that every present day keeps, by way of memory, days or one day in the past; in this sense the 365 days in the book are a technicality. […] As to me, I thought of this book always with the English Anniversaries and never doubted this would be its name in an English translation.31

Hinweise auf diese Deutung der Kalenderstruktur bieten vor allem die insgesamt neununddreißig Ergänzungen der Datumsangabe. Diese enthalten mit dem »Beginn der Heizperiode« (JT, 131), dem »Wechsel von Sommer- auf Winterzeit« 26 27 28 29 30

Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 25. 3. 1971, in: JUB, 663–667, hier: S. 663f. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 61; Kursivdruck im Original. Ebd.; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 75. Vgl. Leila Vennewitz an Uwe Johnson, 25. 1. 1971, zitiert nach Auskünfte für eine Übersetzerin. Zum Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Leila Vennewitz, bearb. von Eberhard Fahlke und Jeremy Gaines, in: Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte«, S. 315–351, hier: S. 325: »At first, when I had seen only the first chapter of your book, it seemed to me that ›Anniversaries‹ would be the obvious choice. Then, when I saw the whole book und understood its framework, I began to think otherwise. I felt that the word ›Anniversaries‹ fails to imply continuity, conveying rather a random assortment of, perhaps, wedding anniversaries, birthdays, etc. As soon as I hit on ›Days of the Years‹ I had a sense of the passage, or flux, of time, and I also liked the closeness of the words to the German. When Mrs. Wolff and I discussed this in New York last October, it turned out that ›Days of the Year‹ was the very thing she herself had meanwhile come up with. I would like your reaction – although I realize you may have already gone into it with Mrs. Wolff.« 31 Uwe Johnson an Leila Vennewitz, 28. 1. 1971, zitiert nach ebd., S. 325f.; Kursivdruck im Original.

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(JT, 235) und dem »Wechsel von Winter- auf Sommerzeit« (JT, 1075) drei »pragmatische[] Jahrestage[]«,32 darüber hinaus aber auch US-amerikanische33 sowie mit »Karfreitag« (JT, 980) einen christlichen und mit »Yom Kippur, Bußtag der Juden« (JT, 169) und »Purim« (JT, 862) zwei jüdische Festtage. Die Nennung von insgesamt vierzehn Jahrestagen im eigentlichen Sinne im Zwischentitel kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Datumsangabe häufiger um Angaben ergänzt wird, die keinen Jahrestag angeben. Allein dreiundzwanzig Mal ist der Anlass einer solchen Ergänzung der »Tag der South Ferry« (JT, 90 u. ö.) bzw. der »South Ferry Day« (JT, 1584, 1713). An einer Stelle kommt es zur Reflexion eines Wochentags (vgl. JT, 1663) und das letzte Kapitel schließt mit dem Hinweis auf das Zusammenfallen von Jahreszyklus und Erzählende (vgl. JT, 1888). Insofern fallen auch in den Ergänzungen zur Datumsangabe die Dimensionen von Jahrestag und Alltag zusammen.34 Der Bedeutung des Konzepts ›Jahrestag‹ für die Erinnerungsbildung in den Jahrestagen leistet dies aber keinen Abbruch. Für die vorliegende Untersuchung ist von entscheidender Bedeutung, dass sich sowohl in den Ergänzungen zur Datumsangabe als auch in den Textsegmenten unter den »mehr als 70 Jahrestage[n] in des Wortes eigentlicher Bedeutung«35 einige christliche und jüdische Festtage befinden. Von welch entscheidender Relevanz diese religiösen Jahrestage für die Erinnerungsreise der Protagonistin sind, soll in den beiden folgenden Abschnitten gezeigt werden.

2.1

Das evangelische Kirchenjahr

Verfolgt man die Spur christlicher Jahrestage ausgehend vom Karfreitag als Ergänzung der Datumsangabe zum Tageskapitel vom 12. April 1968 weiter, so wird man schnell fündig: Weihnachten, Ostern und Christi Himmelfahrt, Reformationstag und Allerheiligen, Judica, Palmarum und Quasimodogeniti. Um die 32 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 210. In der ersten Fassung des Romans hatte Johnson mit dem »Beginn der Baseballsaison« für das Tageskapitel vom 10. April 1968 noch einen weiteren pragmatischen Jahrestag vorgesehen; Uwe Johnson: [ohne Titel; Jahrestage 2], 1. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/000274, Mappe 1–9, hier: Mappe 9, Bl. 36. 33 Mit dem »Tag der Arbeit« (JT, 51), »Kolumbustag« (JT, 166), »Tag der Kriegsveteranen« (JT, 282), »kinderglut« (JT, 519), »Groundhog Day (JT, 669), »Memorial Day (JT, 1244) und »Father’s Day« (JT, 1367) sind es insgesamt sieben Jahrestage des US-amerikanischen Festkreises. Ergänzen ließe sich diese Liste um den ominösen »Tag der Public Library« (JT, 1364); vgl. hierzu Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 222, Anm. 29. 34 Inwieweit sich überdies das Konzept ›Jahrestag‹ auf Tageskapitel wie das vom 29. Dezember 1967 anwenden lässt, könnte Gegenstand einer separaten Untersuchung sein. Es fällt zumindest auf, dass bislang vor allem die Tageskapitel hinsichtlich der kalendarischen Korrespondenz untersucht wurden, in denen diese mehr oder weniger problemlos nachzuweisen ist. 35 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 76.

Das evangelische Kirchenjahr

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Korrespondenz zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsebene darzulegen, sollen zunächst nur diejenigen christlichen Jahrestage analysiert werden, die in beide Erzählebenen eingebunden sind. Die drei letztgenannten Festtage sind Gegenstand der Vergangenheitserzählung, werden aber im Rahmen des kirchengeschichtlichen Diskurses analysiert. Allerheiligen wiederum spielt nur für die Bestimmung von Halloween eine Rolle und bleibt auf die Gegenwartsebene des Romans beschränkt.36 Die erste Erwähnung eines christlichen Feiertages erfolgt im Tageskapitel vom 23. September 1967. Eröffnet wird damit das Feld der »individualpsychologischen Befangenheit«37 der Protagonistin, das im Roman unter Verweis auf das evangelische Kirchenjahr und seine Festkreise konstituiert wird. Reformationstag Lisbeth Papenbrock und Heinrich Cresspahl erblicken sich im August 1931 das erste Mal in einem »Garten an der Travemündung« (JT, 16). Nur gut zwei Monate später, am 31. Oktober 1931, heiraten sie in der Petrikirche zu Jerichow. Erzählt wird vom Hochzeitsfest, das nicht zufällig mit dem Reformationstag zusammenfällt, im Tageskapitel des 23. September 1967. Die 25-jährige Lisbeth Papenbrock trifft die Vorbereitungen für die Eheschließung in Jerichow, während ihr Verlobter im britischen Richmond weilt. Sein einziger Wunsch ist es, »daß der Schnellzug Nummer 2 ihn mit ihr um halb acht aus Gneez vor Jerichow nach Hamburg retten sollte« (JT, 113). Dafür willigt er ein in das von Lisbeth ausgesucht Prozedere der Trauung, auch hatte [er] sich gefügt in das Datum des Reformationsfestes, die aufgesetzten Anzeigen für den Rostocker Anzeiger und das Gneezer Tagblatt und den Lübecker Generalanzeiger waren ohne Striche aus Richmond zurückgekommen, er hatte ihr den Willen gelassen mit dem Motto für die Predigt (»Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der taugt nicht zum Reiche Gottes«; Lukas 9, 62), er hatte zwar auf Dr. Semig, aber nicht auf den Wulffs als Gästen bestanden, er hatte am Ende von Papenbrock einen Hut angenommen, damit er auf der Schwelle der Kirche etwas zum Abnehmen trug […]. (JT, 112)

Die bewusste Entscheidung Lisbeths, die Trauung am Reformationstag abzuhalten, ist ein deutlicher Fingerzeig für die strenge Gebundenheit der Figur an die protestantische Glaubenslehre. Die Bedeutung dieses Tages für die Mutter von Gesine wird im Roman zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass sich Lisbeth 36 Vgl. JT, 247; Hervorhebung P. O.: »Gestern beging eine Gruppe von Negern auf dem Friedhof Montefiore in Queens den Vorabend von Allerheiligen, warf auch Grabsteine um und beschmiß Autos mit kleinen Steinen und Eiern. […] Marie hatte eine eigene Party veranstalten wollen zu Halloween, All Hallows, Allerheiligen, ein Fest zu Hause, und ihre Francine sollte kommen dürfen.« 37 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 224.

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sieben Jahre später, im Herbst 1938, darüber empört, »daß die 2. Reichsstraßensammlung nicht einmal das Heilige Fest der Reformation verschonen sollte« (JT, 720). Ihr Ehemann verschiebt gar eine Reise nach Malchow, »Lisbeth und dem Gottesdienstbesuch am Reformationstag zuliebe« (JT, 721). Der Hochzeitstag der Eheleute, das deutet bereits Schmidt an, wird damit an das evangelische Kirchenjahr gekoppelt.38 Die Hochzeit indes tritt hinter den Feiertag zurück und dient vielmehr als Zeugnis des protestantischen Glaubens von Gesines Mutter.39 Durch das zweimalige Wiederaufgreifen des Reformationstags im Tageskapitel vom 14. Februar 1968, in dem vom Suizid Lisbeth Cresspahls erzählt wird, steht er als »wirklich klassischer ›Jahrestag‹ in unmittelbarem Zusammenhang mit Lisbeths Tod am 10. November 1938«.40 Neben dieser finden sich weitere Verbindungen zwischen der Hochzeit und dem Tod der Ehefrau. So werden etwa die von Lisbeth aufgesetzten Anzeigen für die drei lokalen Zeitungen von Cresspahl »ohne Striche« (JT, 112) zurückgeschickt. Nach dem Tod seiner Frau hingegen überreicht er dem Jerichower Pastor Brüshaver einen Zettel, auf dem der Text für die Bestattungszeremonie »mit ausgestrichenen Sätzen« (JT, 754) notiert ist. Für die Rekonstruktion der Ereignisse stützt sich die zum Zeitpunkt der Hochzeit noch ungeborene Gesine, und mit ihr der Genosse Schriftsteller, auf zwei Bilder. Eines dieser Bilder habe sie »nie gesehen« (JT, 114), sodass anzunehmen ist, dass es sich hierbei um eine ihr überlieferte Erzählung handelt.41 Das zweite Bild wiederum ist »eine Fotografie« (JT, 114). Aufgegriffen wird das Medium der Fotografie in den Jahrestagen wiederholt, einmal auch im Zuge eines Bildes in der New York Times, das den »Agitator Che Guevara […] im bolivia38 Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 241, Anm. 24. 39 Deutlich wird diese Gewichtung auch, wenn Albert Papenbrock jenen Tag retrospektiv als den »Reformationstag 1931« (JT, 319) erinnert. 40 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 83. 41 Fries geht hingegen davon aus, dass es sich bei den Bildern um zwei Fotografien handelt; vgl. Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 82. Dagegen spricht jedoch, dass der Fotograf Stellmann in der Beschreibung des ersten Bildes ebenfalls vorkommt, wie er »sein Stativ weiter und weiter« (JT, 113) zurückstellt. Das zweite Bild hingegen wird explizit als Fotografie ausgewiesen (vgl. JT, 113). Mit der Annahme, dass es sich beim ersten Bild um eine Erzählung handelt, wäre auch die von Fries angesprochene »erzähltechnische Problematik«, dass Gesine dieses nie gesehen habe, gelöst; Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 82. Ähnlich analysiert auch Jürgen Zetzsche, dass die beiden Bilder »nicht unbedingt Photographien sein müssen«, weil das Lexem ›Bild‹ offen lässt, »ob es geistige bzw. imaginierte oder tatsächlich photographische Bilder sind«, sodass das erste Bild vor dem Hintergrund der Erwähnung des Fotografen Stellmann die »Vorstellung eines photographischen Bildes« darstelle, »das Gesine nie gesehen hat und deshalb vermutlich ihrer Einbildungskraft entspringt«; Jürgen Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen. Zum Werk von Uwe Johnson und Jürgen Becker, Heidelberg 1994, S. 234f.

Das evangelische Kirchenjahr

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nischen Busch zeigt […] im Kreise seiner Kampfgefährten. Soll die ganze Welt zusehen, wenn er Kopf und Kragen verliert?« (JT, 115) Das hier beschriebene Bild in Verbindung mit einer ungewissen Unheilsankündigung, die nur wenige Tage später Realität wird (vgl. JT, 161), rekurriert auf das Motto der Hochzeitspredigt aus Lk 9,62. Wie Jesus im von Lisbeth gewählten Vers inmitten seiner Jünger über den Ernst der Nachfolge42 spricht, lässt sich der Revolutionsführer im Kreise seiner Kampfgefährten fotografieren. Zur Analogie dieser ›Bilder‹ trägt der nahende Tod beider bei. Für die Ehe der Cresspahls wiederum deutet sich mit dem Motto für die Traupredigt ein Passionsweg an, der bereits darin seinen Niederschlag findet, dass zwischen den Eheleuten das jeweils »größere Opfer« (JT, 113) angesprochen wird, das beide mit der Trauung eingehen. Überdies steht der Auszug aus dem Lukasevangelium »in sehr enger inhaltlicher Verbindung«43 zu einer später erzählten Gerichtsverhandlung gegen Warning und Hagemeister, in der die Parallelstelle aus dem Matthäusevangelium über die Nachfolge in den Text integriert ist. Paasch-Beeck deutet an, dass dieser Umstand »vielleicht schon als Vorausahnung bzw. Warnung vor dem Verhängnis, das Lisbeth mit ihrem konsequenten Festhalten an ihren religiösen (Wahn-) Vorstellungen über diese Ehe bringt, betrachtet werden«44 kann. Der Zusammenhang zwischen Lisbeths Zeugenaussage in besagtem Prozess und ihrem Suizid wird an späterer Stelle betrachtet. Zunächst genügt es, auf die Vielzahl an Korrespondenzen hinzuweisen, mit denen »auf verschiedenen Ebenen kommendes Unheil«45 angekündigt wird. Im Tageskapitel des 31. Oktober 1967, dem kalendarischen Reformationstag, werden die Vorbereitungen für die Taufe Gesines in Jerichow erzählt. Verschiedene Motive verknüpfen dieses Kapitel mit dem vom 23. September 1967. Während im letztgenannten mit der Auflistung der Kosten für Eier und Butter begonnen und dazu übergegangen wird, von den Gebühren der Trauung für das »Läuten bei Annäherung des Brautwagens«, »das Brennen der Altarlichter« und die »spätere Reinigung« der Kirche zu erzählen (JT, 111), endet der kalendarische Reformationstag mit dem Hinweis: »Bestellung auf eine Kirchentaufe (gebührenfrei) für Sonntag, den 12. März« (JT, 246; Hervorhebung P. O.).46 Neben dieser 42 43 44 45 46

Vgl. Lk 9,57–62. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 83. Ebd. Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 81. Die Taufe Gesines findet eine Woche später, am 19. März 1933, statt und wird im Tageskapitel vom 15. November 1967 erzählt, nur drei Tage nach der Rede auf den Tod der Mutter, die wiederum mit Lisbeths Geburtstag am 12. November 1906 korrespondiert (vgl. JT, 752). Christian Elben deutet statt der Hochzeit am Reformationstag die Taufe Gesines als »Ausgangspunkt des Leidensweges der Familie Cresspahl«; Christian Elben: »Ausgeschriebene Schrift«. Uwe Johnsons Jahrestage: Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traumas, Göttingen 2002, S. 91. Vielmehr aber weist die Taufe auf Gesines Muttertrauma voraus, was Elben

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semantischen Klammer, die die beiden Kapitel miteinander verbindet, werden die beiden Pastoren gegenübergestellt: Wilhelm Methling, der für die Trauung verantwortlich zeichnet, und Wilhelm Brüshaver, der die Taufe durchführen soll. Methling wird im Tageseintrag vom 23. September 1967 als ein Nazi-Pastor beschrieben, der »bereit gewesen war, eine Abordnung uniformierter S.A. für einen vaterländischen Auftritt zu halten« (JT, 112). Mit einer rhetorisch-stilistischen Korrespondenz zum Absatz, der Cresspahls Verhalten während der Hochzeitvorbereitungen beschreibt, beginnt der Abschnitt, der Brüshaver charakterisiert. Während sich Lisbeth an Cresspahls »nachgiebige[m] Gehabe« (JT, 112) stört, wird Brüshaver aus der Sicht des alten Papenbrock als »lasch« (JT, 244) bezeichnet. Diese Einschätzung des neuen Jerichower Pastors wird vom Erzähler sogleich durch einen Vergleich mit seinem Vorgänger ironisiert: »Er bot der Stadt nicht die Unterhaltung, in der Pastor Methling zuverlässig gewesen war« (JT, 244). Nach weiteren Gegenüberstellungen schließt der Abschnitt wiederum mit der Sicht Albert Papenbrocks: Am meisten aufgebracht war Papenbrock über die Art, in der Brüshaver den Aufruf der Evangelischen Kirche zu den Märzwahlen verlesen hatte. […] – So liest man einen Kontoauszug vor! hatte Papenbrock genörgelt. Es war ihm nicht feierlich genug gewesen, und hätte ihm beinahe die Stimmung für den Gang zur Wahl verdorben. (JT, 245)47

Die Sichtweise von Lisbeths Vater deutet in der Verschränkung von Kirche und Politik das nahende politische Unheil an, das mit dem familiären Schicksal der Familien Papenbrock und Cresspahl aufs Engste verbunden ist.48 Gesine wird in auch herausarbeitet, indem er eine thematische Korrespondenz zwischen dem Taufwasser und der Regentonnengeschichte identifiziert. Als Leitspruch für das erwünschte MutterTochter-Verhältnis dient Gesines Taufspruch, den die Protagonistin angesichts der traumatischen Realität aber nur durch die Transformation ins Englische wiederzugeben vermag: »Es hatte auch etwas Fachmännisches an sich, wie er [= Wilhelm Brüshaver; P. O.] die Lippen beim Aufschreiben des Taufspruchs bewegte, als kostete er etwas und hätte schon wieder mehr verstanden, als im 6. Vers des 71. Psalms zu lesen steht. […] – Sag es auf Englisch, wenn schon: sagt Marie. / – By thee have I been holden up from the womb: thou art he that took me out of my mother’s bowels: my praise shall be continually of thee.« (JT, 298; Kursivdruck im Original) Vgl. hierzu Elben, »Ausgeschriebene Schrift«, S. 90–93. 47 Zum Aufruf des Mecklenburg-Schwerinschen Oberkirchenrates anlässlich der Neuwahlen des Reichstages am 5. März 1933 vgl. Niklot Beste: Der Kirchenkampf in Mecklenburg von 1933 bis 1945. Geschichte, Dokumente, Erinnerungen, Berlin 1975, S. 21f. 48 Angedeutet wird dieser Komplex bereits zu Beginn des Tageskapitels, wenn es über die Vögel im März 1933 heißt: »Da waren Möven in der Luft, verspielte Flieger. Dicke fette Tauben wärmten sich in Lee der Schornsteine, ließen sich in müßige Gleitflüge abrutschen, beschissen die lange rote Fahne auf dem Rathausdach. Die Spatzen ließen alle Leute wissen, daß für sie gesorgt war.« (JT, 243) Die Erwähnung der Spatzen lässt sich als Anspielung auf Mt 10,29 par lesen: »29Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Dennoch fällt deren keiner auf die Erde ohne euren Vater.« Vgl. hierzu Holger Helbig u. a.: Johnsons Jahrestage. Der Kommentar, Göttingen 1999, S. 200. Die Bibelstelle ist Teil von Trost und Weisung Jesu an seine Jünger für die kommende Zeit der Trübsal; vgl. Mt 10,16–42.

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eine Zeit geboren, die für sie und ihre Familie keine »herrlichen Zeiten« (JT, 244) bedeuten werden. Zudem wird sie in die Gemeinschaft einer Kirche aufgenommen, die für sie mit dem persönlichen Trauma um ihre Mutter verbunden ist. Weihnachten Das im Roman »akribisch hergeleitete[] Muttertrauma«49 Gesines manifestiert sich insbesondere in ihrem Umgang mit dem Weihnachtsfest. Im Tageskapitel vom 8. Dezember 1967 wird eine erste Verbindung zwischen dem Fest der Liebe in erzählter Gegenwart und Vergangenheit hergestellt. Eine New York TimesMeldung zu einem Polizeieinsatz gegen Demonstranten unter »dem riesigen, dem strahlenden, dem bunten Weihnachtsbaum« (JT, 424) auf der Rockefeller Plaza löst in Gesine Erinnerungen bzw. Vorstellungen an die Weihnachtszeit des Jahres 1934 aus. Die Gedanken an einen »gegenüber dem Altar« (JT, 424) aufgestellten Tannenbaum in der Jerichower Petrikirche münden in die Erzählung von Lisbeths Bindung an die evangelische Kirche und deren kirchenpolitische Auseinandersetzungen mit dem nationalsozialistischen Regime. Lisbeth begegnet diesem Konflikt mit einer infantilen Naivität und erinnert dabei an ein »kleines Kind, das mit Dingen spielt, die zu groß sind, um sie in die eigene Welt integrieren zu können«:50 Für Lisbeth war das zu aufregend. Die Aufregung konnte heiter sein, weil es ja um einen Kampf ging und der Sieg für die rechte Seite längst beschlossen; die Aufregung war manchmal von einer kopflosen, verzweifelten Art, weil die Behörden des Österreichers nicht daran dachten, ihr Unrecht einzusehen; dann wieder albern, wenn sie einen halben Tag lang eine Phrase des Pfarrernotbundes nach einer ausgedachten Melodie singen konnte, ob sie nun Wasser pumpte oder Kartoffeln schälte. […] Sie sah so töricht aus dabei. Cresspahl mochte es nicht, daß sie sich das Gewissen so voll lud mit den Sorgen der Kirche. Ihm schien nicht einmal, daß sie begriff, was sie da vor sich hinsang. (JT, 426f.)

Die Assoziationskette der Protagonistin zum Komplex ›Weihnachten‹ stellt eine Verbindung zwischen beiden Erzählebenen her, gibt aber noch keinen Hinweis auf ein etwaiges Trauma. Dieses wird erst vier Tage später angedeutet, wenn sich Gesine gegenüber ihrer Tochter »eine Überraschung zu Weihnachten« (JT, 442) verbittet. Gegen die Beteuerung Maries, es sei nicht zu Weihnachten, sondern zu Neujahr (vgl. JT, 442), hat sie hingegen nichts einzuwenden. Wiederum nur zwei Tage später verfasst Gesine einen Brief an ihre Freundin Anita Gantlik, der das Tageskapitel vom 14. Dezember 1967 bildet. Hierin gesteht sie, dass sie [z]u Weihnachten […] Jemand brauchen könne[] wie dich. Jemand der das Nachtgebet der Fische aufzusagen vermag, exempli gratia. Weihnachten kann ich nicht aushalten. 49 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 256. 50 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 240.

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Ich weiß nicht was da ist. Ich habe keine Todesfälle in dieser Zeit, und doch werde ich Träume von Todesfällen nicht los. Und Marie erwartet die Routine des Festes, and I have to go through all the motions. (JT, 450)

Bei Gesines Träumen von Toten handelt es sich um posttraumatische Wiederholungen, deren Hintergrund zunächst unklar bleibt. Ihre Aussage, sie wisse nicht, was da ist, gewinnt durch die enge Beziehung zur Adressatin des Briefes an Glaubwürdigkeit. Während dem Leser die assoziative Verbindung der Weihnachtsbäume in New York und Jerichow im Tageskapitel vom 8. Dezember 1967 bereits als erster Hinweis dient, dass Gesines Weihnachtstrauma in direktem Zusammenhang mit ihrer Mutter steht, scheint ihr diese Einsicht noch verschlossen zu sein. In der Folge begibt sie sich auf eine anamnetische Erinnerungsreise,51 die in den Tageskapiteln der kalendarischen Weihnachtsfeiertage vorgeführt wird. Das Tageskapitel vom 24. Dezember 1967 beginnt mit zwei Meldungen aus der New York Times, die vom Erzähler jeweils mit der Frage kommentiert werden: »Weil Weihnachten ist?« (JT, 503f.) Diese Frage wiederum korrespondiert mit dem Datum des Kapitels und löst seinerseits eine semantische Korrespondenz aus, indem die Vergangenheitserzählung mit dem christlichen Fest in den Jahren 1936 und 1937 einsetzt: »Zu Weihnachten 1936 war meine Mutter noch nicht tot. Noch Weihnachten 1937 war Lisbeth Cresspahl am Leben.« (JT, 504) Die suggerierte Erinnerung der damals zweijährigen Tochter an ihre Mutter wird durch eine Correctio um eine zweite Information ergänzt, in der sich die Perspektive durch die Nennung des Vor- und Zunamens hin zum Genossen Schriftsteller verändert und in Distanz zur genannten Figur tritt. Der Figurenname wiederum fungiert als semantisches Scharnier für die folgenden Ausführungen, in denen der Aufstieg der Familie Papenbrock in den 1920er Jahren und die Rolle Lisbeths in der Familie zur Darstellung gelangen. Lisbeth wird als »ihres Vaters liebstes Kind« (JT, 505) beschrieben. Nach einer Lehre in Wissenschaften und Haushalt gibt er sie einem Tischler aus Malchow am See und läßt sie mitgehen nach Richmond in England, 1931, damit sie rauskommt aus den schlechten Zeiten. Holt sie zurück, damit sie ihre Gesine in Jerichow auf die Welt bringt, und hält den Mann fest mit einer Tischlerei im

51 In mehreren Arbeiten, zuletzt von Attig, wurde plausibel dargelegt, dass Gesines Erinnerungsarbeit anamnetische Züge trägt; vgl. Attig, Textuelle Formationen, S. 6. Vgl. auch Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 256f. Beide wenden sich damit gegen Ingeborg Gerlachs These, wonach Gesines Erzählen »keinesfalls anamnetischen Charakter trägt, insofern das eigene Ich, wenn überhaupt, lediglich par distance erwähnt wird«, sodass eine »Loslösung von ›Jerichow‹ durch das bloße Erzählen kaum zu erwarten« sei; Ingeborg Gerlach: Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Studien zu Uwe Johnsons Jahrestagen, Königstein i. Ts. 1980, S. 13.

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Lande, 1933, als er den Zeitläuften traute. Und sieht drei Jahre lang zu, wie seine Tochter in einer Stadt mit ihm lebt wie krank, und kann es aushalten? (JT, 508)

Das Leben von Gesines Mutter wird in dieser Kurzbiografie als vollständig fremdbestimmt beschrieben. Ihren Vorstellungen, Zielen und Wünschen wird keinerlei Raum gewährt, um eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln zu können. Für die Verfassung der Tochter, die der Erzähler in die Nähe eines krankhaften Zustandes rückt, wird Albert Papenbrock implizit verantwortlich gemacht. Eine Verantwortlichkeit, die am Ende des Kapitels mit zwei ironischen und zugleich offen gelassenen Fragen aufgegriffen wird: »Wie kann Papenbrock einmal nicht mehr weiter wissen? Kann das sein, daß Papenbrock ein Mal uns’ Lisbeth zu etwas Falschem gebracht hatte?« (JT, 508)52 Zwischen dieser semantischen Klammer wird die Verfassung der dreißigjährigen Mutter Gesines zu Weihnachten 1936 beschrieben. Dem Aussehen nach könne man sie für fünf Jahre älter halten, weil ihr »immer alles so anzusehen« (JT, 508) sei. Als ursächlich für diese äußerliche Erscheinung wird ein Bewusstseinszustand angedeutet, der in einer zunehmend übersteigerten Religiosität aufzugehen droht: »Fromm ist sie immer gewesen; aber wenn jetzt die Kinder aus ihrer Christenlehre zurückkommen, die bringen ein Gewissen mit, das kann Einer gar nicht brauchen am täglichen Tag.« (JT, 508) Die Entfernung Lisbeths aus dem Einflussbereich ihres Vaters, die mit der Hochzeit am Reformationstag 1931 beginnt, führt nicht zu einer Emanzipation der Tochter, sondern zur Bindung an ein alternatives Autoritätssystem.53 Ihre übersteigerte Frömmigkeit entfernt sie sukzessive von ihrer Lebenswelt, was sich in ihrem Aussehen widerspiegelt: »Heut magst sie gar nicht ansehen. Verkniffen. Vertückscht. Nein, vertückscht nicht; als ob sie eingesperrt wäre. […] Ihre großen Augen jetzt, daran erkennst sie noch. Am Blick nicht; sieht dich an, als wärst nicht da, als träumte sie was Ängstliches.« (JT, 508) Der körperliche und der seelische Zustand Lisbeths dienen als Abbild ihres schicksalhaften Wegs. Dieser Weg deutet in eine Richtung, die der christlichen Konnotation des kalendarischen Datums diametral entgegensteht: Statt auf die irdische Ankunft steuert Lisbeth 52 Mit der Wendung »uns’ Lisbeth« wird der Vorwurf an Papenbrock kollektiviert, nachdem der Abriss zur Familiengeschichte doch mit eben dieser Bezeichnung, die der Erzähler auf die Jerichower Bevölkerung zurückführt, eingeleitet wird: »Uns’ Lisbeth. ›Fröln Papenbrock‹, das hatten die Jerichower ihr ins Gesicht gesagt wie später ›Fru Cresspahl‹, untereinander jedoch sprachen sie von ›Lisbeth‹, mochten die doch in Lübeck das anders halten mit dem Respekt für den Namen. Respekt för’t Hus, das war so eine rostocksche Geschichte, nichts für Jerichow. Da war uns’ Lisbeth bekannt, seit der alte Papenbrock (›Albert‹) 1922 Sommerferien mit Familie in Jerichow verbracht hatte.« (JT, 504) 53 Wenig später, im Tageskapitel vom 28. Dezember 1967, erfährt der Leser, dass Lisbeth von ihrer Mutter in dieses Autoritätssystem eingewiesen wurde: »Es war also Louise Papenbrock, die mit ihrer blind frommen Erziehung bei keinem ihrer Kinder durchgekommen war, nur bei diesem.« (JT, 526)

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dem irdischen Abschied entgegen. In ihrer Symbolik wird die Frömmigkeit von Gesines Mutter durch die kalendarische Anordnung in Opposition zur christlichen Glaubenslehre gerückt. Die kalendarische Korrespondenz zwischen dem Datum der Gegenwarts- und Vergangenheitsebene setzt sich im folgenden Tageskapitel fort, deren Gegenstand für Gesine einen »ersten Höhepunkt in der Zerstörung ihrer Familie«54 bedeutet. Nachdem Lisbeth am Heiligen Abend des Jahres 1936 noch den Weihnachtsgottesdienst besucht hat, versucht sie in den Morgenstunden des ersten Weihnachtsfeiertages mit der Abtreibung ihres zweiten Kindes »auch das eigene Leben zu verlieren« (JT, 511). In der letzten Szene vor der Tat werden die Eheleute beschrieben, wie sie im Bett nebeneinander liegen. Die figurale Perspektive bleibt auf Cresspahl beschränkt und offenbart die Kluft zu seiner Ehefrau: »Er hielt sie immer noch für die, die er vor fünf Jahren geheiratet hatte, für ihn jung, für sich wie für ihn gern am Leben. […] Er hatte an vielen Morgen annehmen mögen, daß sie ihn mit den geschlossenen Augen täuschte; inzwischen mochte er sie nicht mehr fragen.« (JT, 509) Sinnbildlich verlässt Cresspahl in der Folge das Bett, um Gesine das Frühstück zuzubereiten. Seine Ehefrau hingegen versucht, sich und ihrem zweiten Kind das Leben zu nehmen. Während der Erzähler Lisbeths Perspektive auf die Tat konsequent ausspart, changieren die Blickwinkel zwischen Cresspahl, Gesine, die bemerkenswerterweise »von sich als ›das Kind‹ spricht, wohl um Distanz zu dem Erzählten herzustellen«,55 und dem von Lisbeth herbeigerufenen Dr. Berling. Letzterer hat als die Figur, die Lisbeth am entferntesten ist, Zugriff auf ihre Sichtweise. Durch den zweimaligen Einsatz der Inquitformel, »Dr. Berling sagte« (JT, 511, 513), suggeriert der Erzähler, Lisbeths Perspektive möglichst unmittelbar wiederzugeben. Die erste Rede des Arztes wird aber der Perspektive Gesines anverwandelt56 und die Rekonstruktion der Ereignisse sogleich als eine erinnernde Annäherung relativiert. Als Motiv für Lisbeths ersten Suizidversuch, dem im Herbst 1937 ein zweiter folgt,57 werden ihre übersteigerten Schuldvorstellungen angeführt. Durch die fünfundzwanzigmalige Wiederholung des Lexems ›Schuld‹ greift der Erzähler das Motiv auf und stellt die Verantwortung der Eheleute vor dem Hintergrund von Lisbeths Religiosität einander gegenüber: »Sie wußte, auf dieser Fahrt durch den Schnee und während der Operation, viele Arten von Schuld, und manche 54 Elben, »Ausgeschriebene Schrift«, S. 96. 55 Ebd. In der ersten Fassung der Jahrestage verstärkte Johnson diesen Effekt, indem er bei der zweiten Benennung Gesines – »Das Kind hatte schon oft Frühstücke mit ihm gehabt.« (JT, 509) – die ursprüngliche Verwendung des Personalpronomens »Sie« in »Das Kind« änderte; Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 2] (1. Fs.), Mappe 1, Bl. 22. 56 Vgl. JT, 511: »Meine Mutter hatte gehofft, mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld.« 57 Vgl. JT, 579f. Vgl. hierzu Kap. 4.1.

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gehörten ihr gar nicht, und gehörten doch zu den ihren.« (JT, 511) Bestandteil dieser Reflexion sind gleich mehrere explizite wie implizite biblische Intertexte, die den Eindruck erwecken, hier würde die Frage nach der Schuld von Lisbeth und Heinrich Cresspahl christlich reflektiert. Vor allem aber wird das Agieren Lisbeths, in dem sie sich auf die Bibel beruft, auf eine christliche Probe gestellt. Ihre Flucht aus Richmond, vorgeblich um ihr erstes Kind im heimatlichen Jerichow zur Welt zu bringen, im »heimlichen Wissen« aber, »daß sie mit ihm wohl leben wollte, jedoch nicht in der Fremde«, wird gleich zu Beginn unter Verweis auf ihren Glauben einer grundlegenden Kritik ausgesetzt: »Vor einer Schuld aber dürfe ein Christ nicht fliehen« (JT, 511). Dieser zunächst plausibel klingende Vorwurf des Erzählers wirkt auf den zweiten Blick paradox und rekurriert über die beschriebene Situation hinaus auf den Suizidversuch Lisbeths. Vor ihrem Ehemann Heinrich und damit vor ihrer Schuld als Ehefrau kann Lisbeth fliehen. Eine Flucht vor ihrer Schuld als Christin und damit in ihrer Beziehung zu Gott ist hingegen zwecklos – und unnötig. Als bibelkundige Christin sollte Lisbeth sich bewusst sein, dass Jesu »um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Gerechtigkeit willen auferweckt«58 ist. Voraussetzung für die Rechtfertigung, für den Zugang zur Gnade Gottes ist einzig der christliche Glaube. Dieser Glaube wird aber infrage gestellt, wenn Gesines Mutter glaubt, durch einen Suizid ihrer Schuld zu entgehen: Der Unglaube verbirgt dem Menschen in verhängnisvoller Weise die Tatsache, daß auch der Selbstmord ihn aus der Hand des Gottes, der ihm sein Schicksal bereitet hat, nicht freigibt. Der Unglaube erkennt über der Gabe des leiblichen Lebens nicht den Schöpfer und Herrn, der das alleinige Verfügungsrecht über seine Schöpfung hat. Hier stoßen wir auf die Tatsache, daß das natürliche Leben sein Recht nicht in sich selbst, sondern in Gott hat. Die dem menschlichen im natürlichen Leben gegebene Freiheit zum Tode wird mißbraucht, wo sie nicht im Glauben an Gott gebraucht wird.59

Ihre Flucht vor Cresspahl und vor Gott steht demnach im Gegensatz zur Botschaft Jesu, dessen Geburt am Weihnachtsfest erinnert wird,60 und rückt die Figur in die Nähe von Unglauben sowie Unmoral. Inwieweit im Roman der christliche Glaube, wie im Erzählerkommentar impliziert, als »moralische Form[] des Umgangs«61 mit Schuld exponiert wird, deutet die folgende biblische Bezugnahme an. Mit ihr wird Cresspahls Verhalten gegenüber der Schuld seiner Ehefrau, die »viel Verwandtschaft« (JT, 511) erhalten habe, reflektiert und sogleich mit einem ironischen Impetus versehen: »Er hatte ihr mit der Übersiedlung nachgegeben; es soll aber der Mann entscheiden. 58 59 60 61

Röm 4,25. Bonhoeffer, Ethik, S. 194. Vgl. auch Scheuermann, Funktion des Niederdeutschen, S. 195. Barbara Basting: Verwandtschaft der Schuld, in: du 52, H. 10, 1992, S. 58–61, hier: S. 59.

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Wie die Bibel sagt. Er hatte entschieden, zu Unrecht, wie sie wollte.« (JT, 511) Paasch-Beeck hat darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine von Johnsons kleinen Fallen handelt. Der Blick in die Bibel verrät zwar, dass die Frauen den Männern untertan seien wie dem Herrn,62 dass der Mann hingegen entscheiden solle, findet sich an keiner Stelle der Heiligen Schrift.63 Nun kann dieser Umstand als Ausweis für Lisbeths Instrumentalisierung der biblischen Texte gedeutet werden.64 Es spricht aber einiges dafür, die Passage auf eine mehrfach vermittelte Rekonstruktion65 des doppelten Erzählers zurückzuführen, der an dieser Stelle einen Hinweis platziert, eine Argumentation eingehend zu prüfen, die sich auf ausgewählte und aus dem Kontext gelöste Bibelstellen stützt. Wie notwendig eine kritische Exegese ist, verdeutlicht der folgende biblische Intertext, mittels dessen Cresspahl damit konfrontiert wird, dass er Lisbeth deren Versprechen, vier Kinder auf die Welt zu bringen, nicht erlassen habe: »Aber sagt nicht das Neue Testament, daß man einem schwachen Schuldner nachlassen soll?« (JT, 512) Die Anspielung lässt sich auf zwei jesuanische Gleichnisse beziehen. Im Matthäusevangelium wird Jesus von Petrus gefragt, wie oft er einem »Bruder, der an mir sündigt, vergeben«66 müsse. Auf die programmatische Antwort hin, »[n]icht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal«,67 wird das Gleichnis vom Schalksknecht erzählt. Darin wird das Himmelreich mit einem König gleichgesetzt, der einem Schuldner seine Schuld erlässt, wohingegen dieser einen verschuldeten Mitknecht ins Gefängnis wirft, bis jener seine Schulden beglichen habe.68 Im Lukasevangelium erzählt Jesus seinem Jünger Simon das Gleichnis von den zwei Schuldnern, denen ein Gläubiger einmal fünfzig und einmal fünfhundert Groschen schenkt und das in der Frage mündet: »42[…] Sage an, welcher unter denen wird ihn am meisten lieben?«69 Eingebettet ist das

62 Vgl. Eph 5,22. 63 Vgl. Paasch-Beeck, Bibelrezeption in den Werken Uwe Johnsons, S. 328, Anm. 99. 64 Entsprechend führt Paasch-Beeck den gesamten reflektierenden Abschnitt auf Lisbeths Perspektive zurück, die den Erzähler »nach den Gründen für ihre Schuld suchen lässt«; ebd. Vgl. auch Jürgen Grambow: Möglichkeiten einer intellektuellen Kritik an diesem Mecklenburg. Nuancen des Komischen in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus bei Uwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch 1, 1994, S. 73–94, hier: S. 84; Kischel, Zwei ungleiche Gleiche, S. 138. 65 Ausgehend von Lisbeths Fieberrede wird deren Inhalt über Dr. Berling, dessen Aussage Cresspahl bereits wenig später infrage stellt (vgl. JT, 525), und Cresspahl an Gesine übermittelt. Diese wiederum muss sich der Erzählung erinnern und übermittelt sie an den Genossen Schriftsteller. Das Resultat ist ein fünffach vermittelter narrativer Text, deren Verlässlichkeit damit »entscheidend relativiert« wird; Elben, »Ausgeschriebene Schrift«, S. 97. 66 Mt 18,21. 67 Mt 18,22. 68 Vgl. Mt 18,23–34. 69 Vgl. Lk 7,42.

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Gleichnis in die Erzählung über Die Salbung Jesu durch die Sünderin,70 sodass Jesus Simons Antwort, dass die Liebe bei dem Schuldner größer sei, dem fünfhundert Groschen erlassen wurden, auf die Gesprächssituation überträgt: 44

Und er wandte sich zu dem Weibe und sprach zu Simon: Siehest du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus; du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. 45Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. […] 47Derhalben sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.

Beide Gleichnisse heben hervor, dass Gott einem noch so schwachen Schuldner vergibt.71 Die Vergebung von Schuld ist aber nicht eindimensional als Gottes Gnade zu verstehen, sondern als generelle Verpflichtung zum Verzeihen: »Dem von Gott empfangenen Erbarmen muss mit gegenseitigem Erbarmen geantwortet werden, mit einem ›von Herzen‹ kommenden Verzeihen.«72 Die Voraussetzung für den Akt der Barmherzigkeit ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten.73 Lisbeths Umgang mit ihren Nächsten zeugt hingegen nicht von Liebe, sondern von »religiöse[m] Wahn«, in dem sie gegenüber ihrem Ehemann, vor allem aber gegenüber ihrem geborenen und ungeborenen Kind »gegen elementare biblische Gebote der Nächstenliebe verstößt«.74 Relativiert wird Cresspahls Schuld überdies durch die Darstellung, wie er Lisbeths Versprechen eingefordert habe: »Aber er machte ihr die Schuld fühlbar, indem er die Abende verbrachte bei Schreibarbeit und Zeichnerei bei Richtenberger Kümmel, bis er das Versprechen vergessen konnte.« (JT, 512) Es entsteht der Eindruck, als sei sich Gesines Vater seiner Schuld keineswegs bewusst, weil diese sich allein aus Lisbeths Vorstellungswelt heraus konstituiert. Hiermit korrespondiert, dass Cresspahl »nicht alles [verstand], was Berling ihm von Lisbeths fiebrigen Reden erklären wollte« (JT, 511). Deutlich wird eine gestörte Kommunikation zwischen den Eheleuten, die deren »fortschreitende Entfremdung«75 abbildet. Lisbeth ist es nur mehr möglich, im fiebrigen Zustand ihre Gedanken und Empfindungen zu verbalisieren.76 Das Christentum nimmt in ihrem Leben einen zunehmend größeren

70 Vgl. Lk 7,36–50. 71 Vgl. etwa Peter Fiedler: Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006, S. 307; Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Lukas, 20. Aufl. (3., durchges. Aufl. dieser neuen Fassung), Göttingen 1993, S. 92. 72 Fiedler, Matthäusevangelium, S. 307. 73 So wird in Lk 7,47 betont, dass die Vergebung nicht nur »Folge, sondern auch Grund der Vergebung ist«; Schweizer, Evangelium nach Lukas, S. 92. 74 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 97. 75 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 243. 76 Vgl. Elben, »Ausgeschriebene Schrift«, S. 96, 98.

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Raum ein und verdrängt Cresspahl, der einen »weltlich-pragmatischen Zugang zur Welt«77 verkörpert. Für ihn sind die religiösen Gedanken und Empfindungen seiner Ehefrau entsprechend vor und nach dem Suizidversuch »nicht deutlich, nicht faßbar, nicht ausgesprochen« (JT, 524). Das Eheleben der Familie Cresspahl, genau genommen die Weigerung Lisbeths, mit ihrem Ehemann zu schlafen, wird anhand des Verweises auf zwei weitere Bibelstellen erörtert: Ihre Schuld war, daß sie nicht mit ihm lebte, wie sie vor der Kirche auf sich genommen hatte, mit der Hand auf der Bibel. Aber sagte die Bibel nicht auch: die Männer sollen »kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden«? Galater 5, 24. Cresspahls Schuld war, daß er ihr das nicht würde abnehmen wollen; und ihre blieb, daß sie an den Worten der Heiligen Schrift zweifelte. (JT, 512)

Der Verweis auf einen Vers aus dem Brief des Paulus an die galatischen Gemeinden wird durch die Art der Integration in den Romantext besonders hervorgehoben. Der biblische Intertext wird nicht nur wörtlich nach der Lutherbibel zitiert,78 sondern darüber hinaus auf gleich doppelte Weise markiert: durch die Abgrenzung des Zitats mit Anführungszeichen und die anschließende Nennung der Bibelstelle. Trotz der Akzentuierung wird die Eignung der auf Lisbeth zurückgehenden Bibelstelle für die Situation der Eheleute in mehrfacher Hinsicht infrage gestellt. Gerahmt wird die Bezugnahme auf das fünfte Kapitel des Galaterbriefes durch den Hinweis auf das Eheversprechen Lisbeths, das sich an dieser Stelle auf Mt 19,4–679 zurückführen lässt, und ihre eigenen Zweifel an den Worten des Paulus (vgl. JT, 512). Verbunden mit der expliziten Markierung des Verses aus dem Galaterbrief fordern die Hinweise eine Auslegung der Bibelstelle geradezu heraus. Der Blick in die Heilige Schrift, darauf hat bereits Paasch-Beeck verwiesen,80 offenbart, dass in Gal 5,24 nicht allein von Männern die Rede ist. Die Adressaten der paulinischen Aussage im Galaterbrief sind vielmehr allgemein, »[w]elche aber Christo angehören«.81 Lisbeths Umgang mit der Bibel wird jedoch nicht nur an diesem ›Detail‹ deutlich, sondern auch unter Berücksichtigung des Kontextes

77 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 243. 78 In der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 wird Gal 5,24 stattdessen wie folgt übersetzt: »24Die aber, welche Christus Jesus angehören, haben ihr Fleisch samt seinen Leidenschaften und Lüsten gekreuzigt.« 79 »4Er [= Jesus; P. O.] antwortete aber und sprach zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, daß, der im Anfang den Menschen gemacht hat, der machte, daß ein Mann und ein Weib sein sollte, 5und sprach: ›Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und werden die zwei ein Fleisch sein‹? 6So sind sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.« 80 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 98. 81 Gal 5,24.

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der Stelle. Diesem lässt sich entnehmen, dass die »Werke des Fleisches« nicht auf sexuelle Handlungen wie »Ehebruch, Hurerei, […] Unzucht« beschränkt sind, sondern ebenso »Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord« umfassen.82 Zum Abschluss der Bibelpassage von Gal 5,16–26, die Albrecht Oepke mit dem Titel Vom Kampfe zwischen Fleisch und Geist versieht,83 gibt es im eigentlichen Sinne »gar keine Entscheidung mehr zwischen Pneuma und Gesetz«.84 Vielmehr stehe die Binäropposition von ›Fleisch‹ und ›Geist‹ »unter dem Zeichen des Sieges für den Geist«, weil jeder Christ sein Fleisch »als existenziellen Ort der Leidenschaften und Gelüste« bereits durch die Taufe und den Glauben gekreuzigt habe.85 Zwar wird in einer Art Tugend- und Lasterkatalog86 in Gal 5,19–23 die ›Unzucht‹ der ›Keuschheit‹87 gegenübergestellt, doch ist unter ›Unzucht‹ »illegitimer Geschlechtsverkehr und jede Art der Unreinheit und Ausschweifung«88 zu verstehen, die auf die »Abwehr der Übersteigerung der Sexualität bis in den kultischen Bereich hinein«89 zurückgeht. Mit ihrer Auslegung löst Lisbeth den Vers aus seinem Kontext, um ihr Verhalten gegenüber ihrem Ehemann zu legitimieren. Hierfür schreckt die »scheinbar so bibeltreue Lisbeth«90 auch vor der Instrumentalisierung des biblischen Wortes nicht zurück, die vor allem der Hilflosigkeit der Figur geschuldet scheint.91 Entsprechend versteht sie ihre Beziehung zu ihrem Ehemann als eine Art Handel, in dem sie Cresspahl für ihre selbstempfundene Schuld verantwortlich machen und diese auf ihn übertragen kann. Ganz ähnlich verhält es sich in ihrer Beziehung zu Gott, in der sie den versuchten Suizid als eine »Art Bezahlung« versteht: »Um so viel Schuld nicht zu behalten, und nicht zu vermehren, hatte sie eine der größten begehen wollen: 82 Gal 5,19f. 83 Albrecht Oepke: Der Brief des Paulus an die Galater, 4. Aufl., bearb. von Joachim Rohde, Berlin 1979, S. 173. 84 Heinrich Schlier: Der Brief an die Galater, 5. Aufl. der Neubearb., Göttingen 1971, S. 263. 85 Jürgen Becker: Der Brief an die Galater, in: ders./Ulrich Luz (Hg.): Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, 18. Aufl. (1. Aufl. dieser neuen Bearb.), Göttingen 1998, S. 8–104, hier: S. 91. 86 Tugend- und Lasterkataloge, die sich vor allem im antiken Griechenland großer Beliebtheit erfreuten, sind bekannt durch die »im einzelnen gelegentlich variierende Liste der vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und auf der anderen Seite die ebenfalls variablen vier Laster Unbesonnenheit, Zügellosigkeit, Ungerechtigkeit, Feigheit«; Dieter Lührmann: Der Brief an die Galater, Zürich 1978, S. 91. Im Alten Testament sind »vergleichbare Aufreihungen« in Hos 4,1 oder Jer 7,9 zu finden, während sie »im frühen Christentum zur Gemeindeunterweisung« gehörten, »ohne daß aber ein stereotyp wiederkehrender Wortlaut verbindlich [gewesen] wäre«; ebd. 87 Vgl. Gal 5,19.22. 88 Becker, Brief an die Galater, S. 90. 89 Lührmann, Brief an die Galater, S. 91. 90 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 97. 91 Vgl. hierzu Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 241f.

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zwar ein ungeborenes Kind vor Schuld bewahren, aber das eigene Leben weggeben. Zwar lasse Gott mit sich nicht handeln. Eine Art Bezahlung hätte es dennoch dargestellt.« (JT, 512) Ihr eigenes Leben, vor allem aber auch das ihres ungeborenen Kindes wird in Lisbeths ›Abrechnung‹ mit Gott zu einem Handelsgut objektiviert. Die Tragweite ihres Verhaltens, sich eines Tötungsdelikts verantwortlich gemacht zu haben, wie im Falle der Regentonnengeschichte eines versuchten, ist Lisbeth nicht bewusst – und wird es auch retrospektiv nicht, wenn sie »längst wieder den Haushalt in Gang [hielt], müde, unnachgiebig und, richtig, bleich im Gesicht wie nach Vergiftung durch Unbekömmliches« (JT, 511). Das Tageskapitel vom 25. Dezember 1967 schließt mit dem Hinweis Dr. Berlings an Cresspahl, dass er zwei Jahre warten solle: »Nach zwei Jahren hält sie es nich aus ohne das zweite Kind« (JT, 513). Zwei Jahre und zwei Suizidversuche später ist Gesines Mutter tot. Für die Tochter ist die Erinnerung an ihre Mutter mit einem für das Erinnerungsprojekt der Jahrestage zentralen Trauma verknüpft. Deutlich wird daran, dass das Bewusstsein der Protagonistin »keineswegs allein Grundlage, sondern auch – und hier vor allem – das implizite Thema der Erzählung ist«.92 Durch semantische und kalendarische Korrespondenzen zum Weihnachtsfest wird dieses erste mit der Familiengeschichte verknüpfte Trauma Gesines evoziert und findet im Tageskapitel vom 25. Dezember 1967, dem kalendarischen Weihnachtsfest, ihren Höhepunkt. Die Eintragung des ersten Weihnachtsfeiertags gewährt einen »tiefen Einblick in die Psyche und Anatomie der Schuldlogik Lisbeths«.93 Wie traumatisch die Ereignisse für Gesine sind, zeitigt der Moment, in dem die Erzählung von Lisbeths Tod im November 1938 an der Reihe wäre:94 – Am Freitag bist du mit Kopfschmerzen von der Arbeit gekommen. Am Sonnabend haben wir einen Tag der South Ferry veranstaltet, und es tut mir leid. Seit Sonnabend nacht [sic!] liegst du im Bett, und am Sonntag kam Dr. Rydz zum ersten Mal. Seit dem hast du geschlafen und im Schlaf gesprochen. – Ich sprech nicht im Schlaf, Marie! […] – Das ist das Fieber, Gesine. Dr. Rydz hat es mir erklärt, und ich hab keine Angst mehr. (JT, 751f.)

Inwiefern es Gesine gelingt, mit der über das Reformations- und Weihnachtsfest initiierten traumatischen Erinnerung an ihre Mutter, die im Suizid ihren Höhepunkt findet, umzugehen, wird im zweiten Teil der Überlegungen zum mnemologischen Rahmendiskurs betrachtet werden. Eine weitere kalendarische Korrespondenz, die durch Berlings abschließenden Wunsch eines »Godet Niejår, Cresspahl« im Eintrag vom 25. Dezember 1967 gestiftet wird, deutet bereits in die 92 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 251; Kursivdruck im Original. 93 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 246. 94 Vgl. hierzu etwa Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 253f.

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entsprechende Richtung. Im Tageskapitel des 31. Dezember 1967 tauschen sich Gesine und Marie über Vorsätze und Wünsche fürs neue Jahr aus. Ein Wunsch Gesines ist es, »[d]aß ich nicht werde wie meine Mutter« (JT, 537).95 Ostern Ein zweites Trauma ist für Gesine mit einem weiteren christlichen Fest verknüpft: Ostern. Erzählt wird es in eben jenem Tageskapitel, dessen Datumsangabe als einzige um einen christlichen Feiertag ergänzt ist: »12. April, 1968 Karfreitag« (JT, 980). Die kalendarische Kodierung wird sowohl auf der Gegenwarts- als auch auf der Vergangenheitsebene aufgegriffen. Für das New York des Jahres 1967 hält der Erzähler gleich zu Beginn fest, »[ j]edoch die Bank arbeitet« (JT, 980). Die Erzählung der mecklenburgischen Vergangenheit beginnt ebenfalls mit einem Verweis auf das Datum: »Zu Ostern vor 29 Jahren« (JT, 980). Auf die kalendarische Korrespondenz folgt ein Erinnerungssegment, das ein zweites Schlüsselerlebnis für Gesine bildet: die familiäre Hypothek an der ›deutschen Schuld‹. Während ihr individuelles Schuldempfinden für die nationalsozialistischen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 bis zu diesem Tageskapitel auf einer abstrakten Herleitung kollektiver Schuld basiert,96 wird es am 12. April 1968 konkret und erhält einen Namen: »Gronberg; der Vorname ist vergessen.« (JT, 980) Jener Gronberg, ein jüdischer Flüchtling, der »aus einem Konzentrationslager entkommen« ist, plant nach Dänemark zu entkommen und wird von Cresspahl so lange aufgenommen, wie er den Besuch noch als Erkundigung nach dem Weg ausgeben konnte, er mag ihn auch zum Essen eingeladen haben; er ging nicht mit nach Rande, einen Fischer überreden helfen. Eine Dreiviertelstunde Wegs hatte der Mann nach seiner langen Reise noch bis zur See, und Cresspahl schickte ihn allein weiter. Er erklärte mir nach dem Krieg, er habe um dieses Einen willen nicht seine Sache mit den Engländern (gegen die Deutschen) gefährden dürfen. Oft glaubte ich, dies zu verstehen. Ich wünschte sehr, Cresspahl auch hierin zu verstehen. (JT, 980f.)

95 Marie entgegnet hierauf: »Du hast Fieber, Gesine.« (JT, 537) 96 So leitet Gesine im Tageseintrag vom 28. Oktober 1967, das dem Komplex »Vergessen, Behalten« und dem Princeton-Experiment gewidmet ist, aus der Erinnerung an eine Fotografie ab: »Das Schockmittel war eine Fotografie, die die Briten im Konzentrationslager BergenBelsen gemacht hatten und abdruckten in der Zeitung, die sie nach dem Krieg in Lübeck laufen ließen. Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl (einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen). Der Schock kann nachgewiesen werden an der Verkrüppelung von Reaktionen« (JT, 232); Thomas Schmidt: Uwe Johnsons Jahrestage. Ein synoptisches Kalendarium, in: Johnson-Jahrbuch 6, 1999, S. 208–276, hier: S. 225.

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Gesine wirft ihrem Vater eine unterlassene Hilfeleistung vor, allerdings nicht, wie bereits Schmidt betont, in einem strafrechtlichen Sinne.97 Ein Blick in die kurz zuvor wiedergegebene Liste zur »Justiz in Mecklenburg während des Nazikrieges« (JT, 945) offenbart vielmehr die Gefahr, der sich Cresspahl bereits mit seinem Handeln aussetzt: Eduard Pichnitzek aus Neddemin, Arbeiter, unterhielt sich mit polnischen Kriegsgefangenen in ihrer Sprache und trank mit ihnen Bier. Er wurde am 22. April 1940 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Haft in Dreibergen-Bützow brachte ihm eine Lungentuberkulose bei, an der er am 25. Januar 1943 starb. […] Ein Schneider, ein kleiner verwachsener Mann, schleppte in Neubrandenburg zusammen mit seiner Frau einen Eimer Wasser an, um halbverhungerten, halbverdursteten Kriegsgefangenen einen Trunk zu reichen. Am nächsten Tag wurde das Ehepaar von S.S. abgeholt, ist seitdem verschollen. (JT, 946f.)

Im moralischen Sinne jedoch verstößt Gesines Vater zumindest teilweise gegen ein sich selbst auferlegtes ›Gesetz‹ aus dem Jahr 1933, wonach es »Scheiße sei, Opfer der Verfolgung im Stich zu lassen« (JT, 390).98 Objektiv betrachtet lässt Cresspahl Gronberg nicht im Stich, sondern hilft ihm, indem er ihn in seinem Haus unterkommen lässt. Wie lange diese Hilfeleistung andauert und ob sie auch ein Essen umfasst, bleibt hingegen offen – weil Gesine es scheinbar nicht rekonstruieren kann. Entscheidend ist für sie, dass die Hilfeleistung nicht bis zu dem Punkt reicht, an dem Cresspahl den »Tabakhändler aus Schöneberg in Berlin« (JT, 980f.) in Sicherheit weiß. Ein ›höheres Ziel‹ wie die Arbeit für den britischen Geheimdienst lässt sie nicht gelten. Für Gesine bildet dieses Ereignis einen Kristallisationspunkt der eigenen Identitätsbildung. Das abstrakt-kollektive Schuldempfinden wird durch dieses Ereignis zu einem konkret-familiären,99 die ›deutsche Schuld‹ zu einem Dreh- und Angelpunkt der Erinnerungsbildung der Protagonistin in den Jahrestagen. Die exponierte Bedeutung dieses ähnlich dem Muttertrauma übersteigerte Züge annehmenden Schuldempfindens100 wird durch die kalendarische Korrespondenz in besonderer Weise hervorgehoben. Diese erstreckt sich nicht allein auf die Verschränkung der Gegenwarts- mit der Vergangenheitsebene mittels eines christlichen Festtags, sondern wird darüber hinaus auf den jüdischen Festkreis erweitert: 97 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 255. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. hierzu Iris Dankemeyer: Vergangenheit heute. Geschichte und Gegenwart des Nationalsozialismus in Uwe Johnsons Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch 14, 2007, S. 49–63, hier: S. 50: »Das ist ein Hinweis auf die Akzentuierung des Erzählten; hier geht es nicht vorrangig um die Familie in der Geschichte, sondern eben um die Geschichte in der Familie. Mit der Familie wird der Blick auf Geschichte konkret.« 100 Vgl. auch Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 271.

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Für die Juden beginnt an diesem Abend die Feier zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten vor mehr als 2000 Jahren, und bei den Ferwalters wird das nur dies Mal im Jahr benutzte Geschirr stehen mit dem Gebäck und dem Wein, den Symbolen für Mörtel und Stein der ägyptischen Pyramiden, und Rebecca wird die vier Fragen zur Eröffnung des Festes stellen, viermal werden Ferwalters Wein trinken, auf die Erlösung der Juden aus der Leibeigenschaft, aus der Sklaverei, aus der Abhängigkeit von Ägypten und schließlich auf die Beförderung zum auserwählten Volk, dem selektierten […]. (JT, 981)

Die traditionelle Koinzidenz des Beginns von jüdischem Pessachfest und christlichen Osterfeierlichkeiten, die auf das Pessachmahl Jesu als letztes Abendmahl zurückgeht,101 verweist zunächst auf den Hintergrund des Christentums als eine ursprünglich jüdische Sekte. Überdies ist sie verknüpft mit einem sich u. a. wirkungsgeschichtlich aus den Texten des Neuen Testaments, wie dem Verrat Jesu durch Judas Ischariot,102 entwickelnden Antijudaismus, der seit dem 4. Jahrhundert wiederholt in gewaltsamen Ausschreitungen von Teilen der christlichen Bevölkerung gegen jüdische Mitbürger und Einrichtungen gipfelte.103 Dem Karfreitag kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil am Gedenktag an die Kreuzigung Jesu »die Ritualmordlegende immer wieder Nahrung erhielt und Pogrome gegen die Juden ausbrachen«.104 Neben den beiden Erzählebenen korrespondieren im Tageseintrag vom 12. April 1968 jüdische und christliche Tradition – eine gemeinsame Tradition, an der sich christliche Vertreter zunächst aus politischen und strategischen,105 später aus xenophoben und menschenverachtenden Gründen, mit dem traurigen Höhepunkt der Shoah, vergangen haben. Exemplarisch vorgeführt wird dieses Vergehen am »jüdischen Flüchtling« (JT, 980) Gronberg im Jerichow des Jahres 1938, wie auch an Mrs. Ferwalter. Als New Yorker Bekanntschaft bleibt sie ebenso wie der Berliner Tabakhändler

101 Vgl. Mt 26,17–30 parr. Bis ins 2. Jahrhundert orientierte sich die christliche Oster- an der jüdischen Pessachberechnung. Erst im 3. Jahrhundert gab es Bemühungen in Rom und Alexandrien, den Termin unabhängig vom jüdischen Kalender zu berechnen. Wolfgang Huber führt als einen Grund für dieses Bestreben eine neue jüdische Berechnung des 14. Nissan an, bei der seit Beginn des Jahrhunderts die Frühjahrs-Tagesundnachtgleiche für die eigene Berechnung keine Berücksichtigung mehr fand. Vor allem aber sei das Bestreben darauf zurückzuführen, Ostern als eigenständiges christliches Fest zu etablieren; vgl. Wolfgang Huber: Passa und Ostern. Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche, Berlin 1969, S. 62f. 102 Vgl. Mt 26,14–16 parr. 103 Vgl. Berndt Schaller: Antisemitismus/Antijudaismus. III. Neues Testament (Ur- und Frühchristentum), in: RGG4 1, Sp. 558f., hier: Sp. 559; ders.: Antisemitismus/Antijudaismus. IV. Christliche Antike bis zum Beginn des Mittelalters, in: ebd., Sp. 559–565, hier: Sp. 562. 104 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 607. 105 Vgl. Schaller, Antisemitismus/Antijudaismus IV, Sp. 560.

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vornamenlos106 und scheint als Überlebende des Konzentrationslagers Mauthausen nach einer mehr als zwanzig Jahre andauernden ›Wüstenwanderung‹ in New York angekommen zu sein (vgl. JT, 46, 1165–1169). Für den Ssederabend, den Beginn des Pessachfestes, verwenden die Ferwalters traditionsgemäß ein eigenes Service, ein »Passahgeschirr aus Deutschland« (JT, 981). Dieses Service der Firma Rosenthal hält Mrs. Ferwalter des Unternehmensnamens wegen »für jüdisch geführt« (JT, 981). Die perspektivische Einschränkung der Aussage lässt Zweifel aufkommen, die vom Erzähler nicht ausgeräumt werden. Mit der Auswahl der seit 1965 unter dem Namen Rosenthal AG geführten Firma werden implizit die Arisierungen von als jüdisch deklarierten Unternehmen im nationalsozialistischen Deutschland thematisiert: Gemäß der Verordnung über Firmen von entjudeten Gewerbebetrieben vom 27. März 1941 war jedes Unternehmen, das in seinem Namen einen »früheren jüdischen Inhaber[] oder Gesellschafter[] führt«, verpflichtet, »den Namen des Juden binnen vier Monaten nach Inkrafttreten dieser Verordnung aus der Firma des übernommenen Geschäfts zu entfernen und eine neue Firma zu bilden«.107 Mit dem Verweis auf den Status als »weltweit anerkannte Handelsmarke, namentlich im Ausland«,108 wandte sich der Vorstand der Rosenthal-Porzellan AG infolge der behördlichen Anordnung an das Propaganda- und Justizministerium, um eine Ausnahmeregelung zu erwirken. In einem Schreiben vom Mai 1941, das Raul Hilberg sinngemäß wiedergibt, rekonstruieren die Unternehmensvertreter die ›freiwillige‹ Arisierung109 der Firma, indem sie darauf verweisen, daß der Vorstand des Unternehmens bereits 1933 voll arisiert worden sei, daß im Aufsichtsrat seit 1934 kein Jude mehr sitze, daß der Generaldirektor verstorben sei und

106 Vgl. hierzu Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 266; Kursivdruck im Original: »Auf eine ganz spezielle Weise namenlos sind schließlich auch Mrs. Ferwalter und Mrs. Blumenroth, die Mütter von Maries Freundinnen Rebecca und Pamela. […] Mrs. Ferwalter und Mrs. Blumenroth sind jüdischen Glaubens und europäischer Herkunft. In die USA hat es sie verschlagen, nachdem sie von den Deutschen ihrer slowakischen beziehungsweise ungarischen Heimat beraubt wurden. Das alleine ist es jedoch nicht, was Gesine Cresspahl zurückscheuen lässt, denn andere europäische Juden, in deren Gegenwart sie sich der eigenen Nationalität wegen ebenso befangen fühlt – den Soziologe [sic!] Dmitri Weiszand, Gesines Lehrer fürs Tschechische Anatol Kreslil, Maries Kinderarzt Dr. Felix Rydz – nennt sie dennoch mit vollständigem Namen. Im Gegensatz zu ihnen teilen Mrs. Ferwalter und Mrs. Blumenroth ein besonderes Schicksal: Beide waren in den Lagern der Nationalsozialisten inhaftiert.« 107 Franz Schlegelberger/Friedrich Landfried: Verordnung über Firmen von entjudeten Gewerbebetrieben, in: Reichsgesetzblatt 1941, Teil 1, Nr. 35 vom 31. 3. 1941, S. 177. 108 Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, aus dem Amerikanischen übers. von Christian Seeger u. a., durchges. und erw. Ausg., Frankfurt am Main 1990, S. 138. 109 Zur Unterscheidung von Liquidierung, ›freiwilliger‹ Arisierung und Zwangsarisierung als Formen der Enteignung und Aneignung von als jüdisch deklarierten Eigentums vgl. ebd., S. 98.

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noch im gleichen Jahr seine vollarische Witwe die Nachfolge angetreten habe und daß schließlich die Familie Rosenthal 1936 ihre Anteile an arische Interessenten verkauft habe.110

Das Justizministerium stimmte schließlich einer Ausnahmeregelung zu, was nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dazu führte, dass die Firma »ihr Porzellan an so manches jüdische Warenhaus in New York« liefern konnte, das es wiederum, wie an Mrs. Ferwalter exemplifiziert, »an so manchen jüdischen Kunden weiterverkaufte, der der Überzeugung war, er kaufe ein jüdisches Produkt«.111 Über das Pessachgeschirr von der Firma Rosenthal wiederum erfolgt eine semantische Korrespondenz in die Jerichower Vergangenheit, in der Louise Papenbrock ebenfalls ein Service dieser Firma besitzt, für die »wenigen Gelegenheiten, da die Semigs zu Besuch waren« (JT, 981). Arthur Semig, der »Tierarzt von Jerichow«, der nicht jüdischen Glaubens ist, weil »schon sein Großvater […] die Taufe genommen«112 hat (JT, 299), wird »wegen des Stigmas seiner teilweise jüdischen Herkunft« im Zuge der nationalsozialistischen Herrschaft »mit Gewalt zum Juden gemacht«.113 Diese aufgezwungene Identitätskrise114 bewegt seine Ehefrau Dora Semig zu einer »merkwürdigen Überidentifikation mit der jüdischen Zwangsidentität ihres Mannes«.115 Sie erklärt sich zu einer »Jüdin, die ich bin« (JT, 982), und zeigt damit eine Solidarität, die sich Gesine, wenn auch in veränderter Form, von ihrem Vater gegenüber Gronberg gewünscht hätte. Die kalendarische (Über-)Kodierung im Tageskapitel vom 12. April 1968 dient als Ausgangspunkt für die Verschränkungen zwischen Christentum und Judentum, kollektiver und individueller Historie und deren Schuld. Neben dem 110 Ebd., S. 138. 111 Ebd. 112 Mecklenburg weist darauf hin, dass der Ausdruck ›genommen‹ andeutet, »dass jener nicht ›liegend‹, sondern ›stehend‹ getauft worden, d. h. aus dem Judentum übergetreten ist«; Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 138. 113 Ebd., S. 140. 114 Die aufgezwungene Identitätskrise spiegelt sich darin wider, dass es Arthur Semig nicht gelingt, »wegzugehen aus einem Lande, in dem alle so sprachen wie er, wenn sie auch in Manchem anders dachten« (JT, 472). Von ihrer Emigration im Dezember 1937 wollen sie wie »von einer Reise sprechen […], nicht von einer Auswanderung« (JT, 624) und von den Tannebaums, die eine »jüdische Kleiderhandlung zu Jerichow« führen, »verabschiedete sich Dr. Semig nicht«, denn er »hatte kein Mal mit ihnen zu tun gehabt; nicht einmal als Kundschaft« (JT, 626). Daran wird deutlich, dass eine ›jüdische‹ Solidarität in Jerichow nicht besteht. Mecklenburg sieht diesen Umstand darin begründet, dass die Familien Semig und Tannebaum zwei unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören, »auch wenn der NS-Antisemitismus sie mit Gewalt in eine zwingt«; Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 147. Entscheidend hierfür ist aber, dass eine jüdische Kultur in Jerichow nicht existiert, weil Semig und die Tannebaums nicht jüdischen Glaubens sind; vgl. Paasch-Beeck, Zwischen »Boykott« und »Pogrom«, S. 126–128. 115 Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 144.

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Weihnachtsfest fördert das Osterfest als zweites zentrales Fest des christlichen Kirchenjahres das zweite in der Vergangenheit der Protagonistin liegende Schlüsselerlebnis zutage, durch das das Erzählvorhaben des Romans maßgeblich beeinflusst wird. Das Muttertrauma, das sich etwa in ihrem Umgang mit der eigenen Tochter ausdrückt,116 und die ›deutsche Schuld‹, aus der eine »hypersensible politische Moral«117 resultiert, sind die beiden Grundkonstituenten der Erinnerungsreise von Gesine Cresspahl. Nachdem die Bedeutung des evangelischen Kirchenjahres als kalendarischer Intertext anhand des Reformationstages, des Weihnachts- und des Osterfestes herausgestellt werden konnte, soll eine Annäherung an die Bedeutung und Funktion dieses Intertextes nicht ausbleiben. Warum werden zwei der zentralen Ereignisse im Leben Gesine Cresspahls mit christlichen Jahrestagen verschränkt? Zunächst einmal lässt sich keine irgendwie geartete Religiosität der Figur aus den kalendarischen Korrespondenzen ableiten. Ganz im Gegenteil: Aus dem Muttertrauma Gesines resultiert eine rigorose Ablehnung des religiösen Weihnachtsfestes mit allen seinen kulturellen und kommerziellen Ausprägungen.118 Die kalendarische Kodierung kann stattdessen auf die Erzählinstanz, genau genommen auf den Genossen Schriftsteller, zurückgeführt werden und ist Teil eines kalendarischen Systems, in dem verschiedene Festkreise parallel laufen und wie im Falle von Karfreitag und Pessach miteinander verschränkt werden. Schmidt ordnet die Jahrestage in den Jahrestagen in vier Gruppen ein. Die ersten beiden Gruppen mit den biografischen und familiären Jahrestagen sowie den »wichtigsten christlichen und sporadisch solche[n] aus der kulturellen und vor allem politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert«119 veranschaulichen den kalendarischen Blick Gesines. Diese Funktion können sie einnehmen, weil sie den kulturellen Hintergrund der Protagonistin repräsentieren und damit maßgeblich identitätsbildend sind. Die Identität Gesines, das ist durch die exemplarische Auswahl der drei christlichen Festtage deutlich geworden, ist in doppelter Weise, familiär und historisch-kulturell, traumatisiert. Durch die Verzahnung von kollektiver und individueller Schuld sowie einem auf das Engste mit dem aufkommenden Na116 So lässt sich Gesines Wunsch, von Marie nicht als ›Mutter‹, sondern mit dem Vornamen angeredet zu werden (vgl. JT, 1023), als Tabuisierung des Wortes in der Beziehung zu ihrer Tochter und damit als Abgrenzung zum Verhältnis zu ihrer Mutter deuten; vgl. hierzu Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 255, Anm. 218. 117 Ebd., S. 255. 118 So konstatiert auch Haker, dass im Roman christliche Jahrestage ausgelassen werden und benennt als Beispiel das Weihnachtsfest, das als »Alptraum und Fest der Verlogenheit« erscheine; Haker, Moralische Identität, S. 243, Anm. 135. Auf die mit den Festtagen verbundenen Traumata der Protagonistin geht Haker nicht ein und assoziiert das Osterfest vielmehr mit dem Inhalt der Erzählung Osterwasser; vgl. ebd. 119 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 205.

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tionalsozialismus verknüpften Familiendrama der Cresspahls stehen beide Traumata in einem wechselseitigen Verhältnis. Abstrakt betrachtet drückt sich in ihnen das Grundverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft aus. Für Gesine bildet ihr schuldbehafteter familiärer und kultureller Hintergrund den Ausgangspunkt eines Erinnerungsprojektes, in dem mithilfe der Kulturtechnik des Erzählens, durch die Unterstützung des Genossen Schriftsteller, aber auch durch zwei weitere Festkreise die Aufarbeitung ihrer traumatischen mémoire involontaire gelingen soll.

2.2

Der jüdische Festkalender

Neben den mitreisenden Jahrestagen,120 die auf Gesines individuellen und kulturellen Hintergrund zurückgehen und diesen konstituieren, trifft die Protagonistin in New York auf zwei weitere Formen von Jahrestagen: den politischen und kulturellen Festkreis in den USA und den jüdischen Festkalender. Während die US-amerikanischen politischen und kulturellen Jahrestage, wie Schmidt herausgearbeitet hat, Gesine ermöglichen, die »Tauglichkeit dieser Mnemotechnik für ihr eigenes Erinnerungsprojekt«121 zu überprüfen, nimmt der jüdische Festkalender innerhalb des Romans eine besondere Stellung ein. Die herausgehobene Bedeutung ergibt sich erstens aus seiner beinahe vollständigen Präsenz im Roman.122 Diese Präsenz wiederum lässt sich zweitens auf Gesines Trauma der ›deutschen Schuld‹ zurückführen, wie auch drittens auf den Handlungsort der Gegenwartserzählung: New York. Es ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dass Johnson den Roman auch deshalb in New York spielen lässt, weil er in der Metropole am Hudson einen Ort gefunden hat, in dem er »wieder zu einem vorurteilslos-genauen Blick auf die Dinge«123 fand. Eine rein autobiografische Deutung, wie sie Krellner anbietet, wird dem Roman allerdings nicht gerecht. New York ist mehr als nur ein Ort, an dem Johnson sich (zufällig) für zwei Jahre aufhielt. Angesichts der Beobachtung Oliver Simons, dass die ›Bilder‹ von New York »meist so abgenutzt und marode sind, als sei ihre Zeit längst vorbei«,124 erscheint es auch fraglich, den Ort der 120 Die Terminologie geht auf Schmidts typologische Differenzierung in ›mitreisende‹ und ›angetroffene‹ Jahrestage zurück; vgl. ebd., S. 206, 218. 121 Ebd., S. 205. 122 Bis auf Schawu’ot wird im Roman mit Ro’sch ha-Schanah, Jom Kippur, Ssukkot, Chanukkah, Purim und Pessach auf alle Hauptfeste Bezug genommen. Die Transkription der Festnamen von der hebräischen in die lateinische Schrift orientiert sich hier wie im Folgenden an Efrat Gal-Ed: Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt am Main 2001. 123 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 191. 124 Oliver Simons: Uwe Johnsons »New York«. Die Jahrestage als Amerikatext, in: JohnsonJahrbuch 22, 2015, S. 195–213, hier: S. 206.

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Gegenwartshandlung in Johnsons Roman als Paradigma der Moderne zu deuten.125 Vielmehr ist New York ein Ort, der durch seine Distanz zu Jerichow die Reflexion von Erinnerungen ermöglicht,126 zugleich aber auch ein Ort, der wie kaum ein anderer für das jüdische Exilparadigma steht und den Prozess des Erinnerns initiiert: Seit den Nachkriegsjahren stellt New York einen Ort dar, an dem bis auf den heutigen Tag Deutsche, die sich dort niederlassen, sowie Touristen das jüdische Leben wiederfinden können, das in Deutschland seit 1938 ausgelöscht und verschwunden ist. Und genau aus diesem Grund ist New York in der Imagination der deutschen Nachkriegsgenerationen der Ort der Selbstbegegnung geworden wie sonst keine andere Stadt.127

Als Ort der Begegnung zwischen Opfern und Tätern wird New York zum Ort der Selbstbegegnung. Eine solche Begegnung ist in Deutschland nicht mehr möglich, woraus sich ein zentrales Problem für die Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ ergibt. Durch die nationalsozialistische Vernichtung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur ist die Erinnerung an die Shoah in Deutschland nur mehr »als problematische Fabrikation oder als Phantom«128 denkbar. In New York hingegen findet ein jüdisches Leben statt, das durch die Integration des jüdischen Festkalenders in den Roman nicht nur illustriert wird, sondern die Erinnerung 125 Vgl. Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 190. 126 Schmidt weist darüber hinaus auf den Umstand hin, dass der US-amerikanische Umgang mit Zeichen insgesamt und speziell mit Zeichen der Erinnerung beliebig sei und so keinen Hinweis auf ihre Bedeutung erlaube: »Gesine prüft, aber sie begeht nicht, keinen der amerikanischen Jahrestage, auch nicht Independence Day, der ihr zum Anlaß wird, fernab der öffentlichen Selbstinszenierungen der Nation und gegen diese ihre eigenen Erinnerungsbedingungen zu überprüfen. […] Dem Gedächtnis der amerikanischen Nation fehlt die Erinnerung. Das steht nach Gesines Inspektion unter dem Strich«; Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 228f. Vgl. hierzu auch Simons, Uwe Johnsons »New York«, S. 212. 127 Willi Goetschel: »Was wird nun mit der Vergangenheit?« Zum Erinnerungsspiel in den Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch 17, 2010, S. 116–128, hier: S. 117. Vgl. hierzu auch Bernd Brunner: Nach Amerika. Die Geschichte der deutschen Auswanderung, München 2009, S. 225f.: »Die etwa 150 000 deutschen Juden, die vor den Nazis nach Amerika fliehen konnten, […] wurden von Hilfsorganisationen unterstützt und fanden Anschluss an die bestehenden jüdischen Gemeinden, es gab sogar mindestens 30 Synagogen von Flüchtlingen, die meisten in New York. Bis in die 60er Jahre hinein wurden Gottesdienste in deutscher Sprache abgehalten. Bis in die jüngste Zeit wurde in New York die deutsch-jüdische Zeitung Aufbau gedruckt, die 1934 von jüdischen Emigranten als Vereinsblatt des German Jewish Club in New York lanciert wurde.« Die von Goetschel angedeutete »Zäsur in der Geschichte der jüdischen Deutschen«, die sich auf die Reichspogromnacht im November 1938 zurückführen lässt, führte zu einem erheblichen Anstieg (deutsch-)jüdischer Flüchtlinge: »Gingen bis Ende 1938 etwa 33.000 bis 40.000 deutsch-jüdische Flüchtlinge ins Exil, so stieg ihre Zahl im Jahr 1939 auf etwa 75.000 bis 80.000 Menschen an. […] In der zweiten Hälfte des Jahres 1938 trafen etwa 20.000 deutschsprachige Juden in den Vereinigten Staaten ein. 1939 stieg diese Zahl auf 32.000 Menschen an«; Claudia Appelius: »Die schönste Stadt der Welt«. Deutsch-jüdische Flüchtlinge in New York, Essen 2003, S. 96f. 128 Goetschel, Zum Erinnerungsspiel in den Jahrestagen, S. 122.

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der Protagonistin, die als Deutsche einer Nation angehört, die für »55 000 000 Tote, die sechs Millionen Opfer in den Vernichtungslagern noch dazu« (JT, 798) verantwortlich zeichnet, entscheidend beeinflusst. Ro’sch ha-Schanah Der Tageseintrag vom 4. Oktober 1967 beginnt mit dem Hinweis darauf, dass »mit dem Sonnenuntergang […] das jüdische Neujahrsfest, Rosch Ha-Scha’nah«, seinen Anfang nimmt und zwei Tage andauern werde:129 »Aus Anlaß des Festes und für seine Dauer hat die Stadt die Verordnung über das wechselnde einseitige Parkverbot aufgehoben. Für die Juden ist es der Anfang des Jahres 5728.« (JT, 140) Mit dem Hinweis auf das jüdische Neujahrsfest wird der jüdische Festkalender im sechsundvierzigsten Abschnitt des Romans als strukturelles Element eingeführt. Den Ausgangspunkt dieser Meldung bildet, das wird durch den Hinweis auf die »Verordnung über das wechselnde einseitige Parkverbot« deutlich, ein Artikel der New York Times. Schmidt hat bereits darauf verwiesen, dass im Uwe Johnson-Archiv für alle jüdischen Jahrestage, die Eingang in den Roman gefunden haben, »ausgeschnittene New York Times-Artikel mitsamt einiger Anstreichungen und Bemerkungen des Autors«130 überliefert sind. Der Artikel Jews to Mark Start of High Holy Days At Sundown Today vom 4. Oktober 1967 bildet die Grundlage für die Meldung zu Ro’sch ha-Schanah im entsprechenden Tageskapitel.131 Das jüdische Neujahrsfest wird am 1./2. Tischrej gefeiert und bedeutet wörtlich übersetzt ›Kopf des Jahres‹. Der im Judentum gefeierte Jahreswechsel ist als ›Tag des Gedenkens‹,132 vor allem aber als ›Tag des Gerichts‹ eine »Zeit stiller Selbstüberprüfung und ernster Sammlung«.133 Diese Konnotation steht in Verbindung mit unterschiedlichen Vorstellungen. Im Talmud werden mit der Schöpfung der Welt, die laut Überlieferung am 25. ’Elul begonnen haben soll, der Geburt der Erzväter und dem Ende der Knechtschaft in Ägypten drei Ereignisse benannt, die im Tischrej stattgefunden haben sollen.134 Der Midrasch stellt 129 Die Festdauer von zwei Tagen geht auf schwankende Neumondberechnungen vor der Einführung des konstanten Kalenders im Jahr 358 n. Chr. zurück. Der Sanhedrin ordnete aus diesem Grund an, dass die Dauer »aller biblischen Feste, mit Ausnahme des Jom Kippur, außerhalb des Landes um einen Tag verlängert wurde. Daher wird auch das Neujahrsfest Ro’sch ha-Schanah zwei Tage lang gefeiert«; Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 29; Kursivdruck im Original. 130 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 247. 131 Die entsprechenden Ausschnitte sind im Jahrestage-Kommentar wiedergegebenen; vgl. Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 131f. 132 Vgl. Peter Ortag: Jüdische Kultur und Geschichte. Ein Überblick, hg. von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, 6. Aufl., [Potsdam] 2009, S. 49. 133 Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 107. 134 Vgl. ebd., S. 115f.

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hingegen eine Verbindung zwischen der Erschaffung des Menschen und dem 1. Tischrej her, sodass »die ganze Welt und jeder Mensch jedes Jahr wieder an diesem Tag geprüft«135 werde. Der Tag des Gerichts am 1. Tischrej ist der Auftakt für eine zehn Tage andauernde Zeit der Buße (Jamim nora’im), die mit dem Jom Kippur endet. Den Hintergrund der Jamim nora’im bildet die Vorstellung, dass am Ro’sch ha-Schanah im himmlischen Gericht drei Bücher aufgeschlagen werden: das Buch der vollkommen Gerechten, das Buch der vollkommen Bösen und das Buch der Mittelmäßigen. Die Gerechten werden auf der Stelle zum Leben, die Bösen zum Sterben eingetragen, die Mittelmäßigen aber bleiben zehn Tage lang, bis zum Versöhnungstag, in der Schwebe. Kehren sie um, so werden sie in das Buch des Lebens eingetragen.136

Die Tage der Buße und Einkehr beginnen jedoch nicht erst zu Ro’sch ha-Schanah, sondern bereits einen Monat zuvor am 1. ’Elul, sodass insgesamt vierzig Tage der Umkehr im Tischrej mit dem Tag des Gerichts und dem Versöhnungstag ihren Höhepunkt finden.137 Berücksichtigt man den rituellen Hintergrund des jüdischen Neujahrsfestes, weist das Tageskapitel vom 4. Oktober 1967 in verschiedene Richtungen. Zunächst einmal deutet die exponierte Stellung des Verweises auf Ro’sch haSchanah zu Beginn des Tageseintrags auf eine semantische Korrespondenz zum Rest des Kapitels hin, an dessen Abend das Fest beginnt. Sodann dauert das Neujahrsfest bis zum 2. Tischrej, dem 6. Oktober 1967, sodass anzunehmen ist, dass den Tageskapiteln vom 5. und 6. Oktober 1967 eine besondere Bedeutung zukommt. Ähnliches gilt für die Tage der Umkehr bis zum Jom Kippur. Zu guter Letzt rekurriert der kalendarische Verweis auf die vorherigen Tageskapitel im Monat ’Elul des Jahres 5727. Die Voraussetzung für diese Überlegungen ist gleichwohl die Annahme, dass dem jüdischen Festkalender eine für den Roman zentrale Bedeutung zukommt.138 Auffallend ist, dass sich die Schilderung von Ro’sch ha-Schanah auf die kurze Paraphrase des New York Times-Artikels zu Beginn des Tageskapitels vom 4. Oktober 1967 beschränkt. Das vorübergehende Aussetzen der Parkverordnung deutet zwar die Bedeutung des jüdischen Neujahrsfestes für die Stadt New York an, eine direkte Verbindung zum Leben von Marie und Gesine wird im Tageseintrag jedoch nicht hergestellt. Stattdessen erfolgt über einen weiteren Artikel 135 136 137 138

Ebd., S. 116. Ebd. Vgl. ebd., S. 117. Der entsprechende Nachweis ist von Schmidt bereits erbracht worden und muss daher nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden; vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 232– 353.

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aus der New York Times, in dem berichtet wird, dass der schwedische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Myrdal Warns U.S. To Aid Poor Whites As Well as Negroes,139 der Bezug zum National Unemployed Workers Movement in Großbritannien im Jahr 1932 und der Angst Lisbeth Cresspahls vor dem Anblick von Armut. Deutlich wird einmal mehr, dass Gesines Mutter, vor der die »Armut in Mecklenburg […] versteckt gewesen« (JT, 142) war, über keine Möglichkeiten verfügt, sich außerhalb des elterlichen Schutzraumes zwischenmenschlichen oder gesellschaftlichen Aporien zu stellen.140 Vor allem aber leiten ihre Ängste die Rückkehr der Familie Cresspahl nach Deutschland und damit auch die Verstrickung der privaten Familiengeschichte mit der deutschen Schuldgeschichte ein: Wie sollten sie beide auf Dauer bestehen in einem Land, in dem die Kirchen und die Plätze ausgehängt und bestellt waren mit Mahnmalen an die Toten im Krieg gegen die Deutschen? Wie lange würde Cresspahl noch arbeiten dürfen in einem Land, in dem die Handwerker inserierten mit der Versicherung Nur britisches Material verwendet. Nur britische Arbeitskräfte beschäftigt, worauf konnten sie hier vertrauen? Und insgeheim dachte sie wieder und wieder: So schlimm ist es in Deutschland nicht. (JT, 143; Kapitälchen im Original)

Während Gesine im Gespräch mit Marie bereits am 30. September 1967 die Probleme Lisbeths mit der »Vielzahl der Gemeinden in Richmond« (JT, 129) beschreibt, erfolgt die implizite Initiation für ihr Trauma kollektiven Schuldempfindens als eine im nationalsozialistischen Deutschland Geborene am jüdischen Neujahrstag. Bereits einen Tag zuvor, im Eintrag vom 3. Oktober 1967, wird Gesines psychologisch motiviertes »Gebot des Erinnerns und Gedenkens«141 durch die Verschränkung verschiedener Formen des Totengedenkens vorgeführt. Den Ausgangspunkt bildet die von der »Friedhofsgärtnersgattin zu Jerichow« (JT, 137), Emmy Creutz, versandte jährliche Rechnung, der »zur Kontrolle« (JT, 138) Fotografien der Gräber von Jakob Abs, Lisbeth und Heinrich Cresspahl beigefügt sind. Mit den Beschreibungen der Fotografien und Reflexionen über die Rechnung sind spiegelbildlich Meldungen aus der New York Times verschränkt, in denen der Toten des Vietnamkriegs, der Shoah und des Stalinismus gedacht wird.142 Aus diesem Grund bezeichnet Schmidt das Tageskapitel als

139 Vgl. Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 132. 140 Vgl. JT, 142: »Für Gerechtigkeit hatte sie nicht einen Begriff mitgebracht, sondern ein Empfinden. Das Empfinden, beraten von der evangelischen Religion, ließ Unterschiede zu, allerdings nicht krasse. […] Es waren also wirtschaftliche Gesetze und wirkliche Personen, von denen ihre Lage abhing, nicht ein Schicksal. Einem Schicksal hätte sie sich womöglich überantwortet.« 141 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 49. 142 Vgl. ebd., S. 47.

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»einen Kristallisationspunkt der Todesthematik«143 und führt die Wahl des Datums auf den jüdischen Festkalender zurück: »Mag der Brief an der Textoberfläche als Auslöser des Gedenkens auftreten: Gesine Cresspahl liest durch ihn hindurch den sympathetischen Text des zu Ende gehenden jüdischen Jahres, an dessen letztem Tag die Juden auf den Friedhöfen ihrer toten Angehörigen gedenken.«144 Die Verbindung mit dem folgenden Tageseintrag und dem Verweis auf das jüdische Neujahrsfest erfolgt über eine rhetorisch-stilistische Korrespondenz, die sich über die Kapitelgrenzen erstreckt. Die apokalyptische mecklenburgische Wendung, »[w]enn de Sünn von’n Himmel föll, set wi all int Düstern« (JT, 140), verhält sich antithetisch zur Neuschöpfung, zum Neubeginn, der mit Ro’sch ha-Schanah assoziiert wird,145 und symbolisiert den ( jüdischen) Jahreswechsel, der auch für das Erinnerungsprojekt der Protagonistin eine Zäsur darstellt. Die kalendarische Korrespondenz in beiden Tageseinträgen bietet Gesine und dem Genossen Schriftsteller die Möglichkeit, die mémoire involontaire der Protagonistin durch den interkulturellen Kontakt mit dem jüdischen Festkalender in eine mémoire volontaire zu überführen. Gesines Mitbegehen der jüdischen Tradition beruht nicht auf kultureller Teilhabe, sondern dient der Aufarbeitung der traumatischen Schuldempfindungen und stellt insofern einen Neuanfang für das Erinnerungsprojekt dar. Einen Neubeginn und einen Moment der Einkehr bildet Ro’sch ha-Schanah auch für den im Roman dargestellten Überlieferungsprozess. Das Tageskapitel vom 5. Oktober 1967 beginnt mit dem Hinweis auf »1 Stück Phonopost« (JT, 143), adressiert an D. E. In diesem ersten auf Tonband gesprochenen Brief an ihren Lebensgefährten stellt Gesine Überlegungen über ihr eigenes Erzählen gegenüber ihrer Tochter an, die einen »unübersehbaren poetologischen Zweck«146 besitzen: Mein Erzählen kommt mir oft vor wie ein Knochenmann, mit Fleisch kann ich ihn nicht behängen, einen Mantel für ihn habe ich gesucht: im Institut zur Pflege Britischen Brauchtums. Es wohnt in der Madison Avenue an der 83. Straße, nicht weit von der prächtigen Todesfesthalle, wo die Leute aus dem Register der Gesellschaft New Yorks verabschiedet werden. (JT, 144)

Gleich in doppelter Hinsicht führt Gesine in dieser Passage die Schwierigkeiten des Erinnerns und Überlieferns vor. Ganz offen spricht sie mit dem Bild des Knochenmannes an, »that the dead past is beyond hope of revivification in the 143 Ebd., S. 48. 144 Ebd., S. 49. 145 Vgl. ebd., S. 48. Dagegen bezieht Scheuermann die Wendung auf den Mechanismus der im Satz zuvor erwähnten »automatischen Bank-Überweisungen« (JT, 140) für die Pflege des Grabes von Marie Abs, der »fast etwas Naturgegebenes erhält«; Scheuermann, Funktion des Niederdeutschen, S. 217, Anm. 59. 146 Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 56f.

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strict sense«.147 Teile der Familiengeschichte wie die Zeit vor ihrer Geburt oder ihrer frühen Kindheit können von Gesine nicht erinnert werden, doch auch spätere Ereignisse sind der Gefahr des Vergessens bzw. der Überformung ausgesetzt. Mit Leben kann das »Erzählgerippe der Überlieferung«148 nicht mehr erfüllt werden. Es bedarf der Rekonstruktion, die durch den Einsatz verschiedener Hilfsmittel, eines doppelten Erzählers, der Dialogsituationen im Roman, der Integration der New York Times und von Dokumenten wie Fotografien oder eines »Mikrofilm[s] der Richmond and Twickenham Times« (JT, 144), gestützt wird.149 Das fiktive »Institut für Britische Denkmalpflege« (JT, 144)150 zerstört jedoch den »realistischen Schein«151 dieser Erinnerung, denn wie im Brauch folgt auch die Rekonstruktion der eigenen Biografie oder der Familiengeschichte einer gewissen Ätiologie. Sie bleibt eine Konstruktion, die von den Mustern der Biografie Gesines entscheidend beeinflusst wird. Als Auslöser dieser poetologischen Einkehr fungiert Marie, die darauf besteht, »daß ich ihr weiter erzähle wie es gewesen sein mag, als Großmutter den Großvater nahm« (JT, 143). Die Dialoge zwischen Mutter und Tochter, darauf haben Fries und Strehlow hingewiesen, brechen die Linearität des Textes auf.152 Aus dem Abstand Maries zur erzählten Geschichte »ergibt sich ein Gegenpol zum Erzählen«, denn sie lässt sich von ihrer Mutter »nicht nur Möglichkeiten vorführen, sondern auch Möglichkeiten innerhalb dieser Möglichkeiten«.153 Eine Neuausrichtung erhält die generationenübergreifende Überlieferungssituation zwei Tage später. Im Tageseintrag vom 7. Oktober 1967 schließen Gesine und Marie ein Abkommen. Den Ausgangspunkt bildet die Erzählung über ein »versteckte[s] Schulheft« (JT, 149) von Lisbeth, in dem »viele kleine Klagen, die sie mit Verstand und Gerechtigkeit nicht aussprechen konnte«, notiert waren, »um sie zu einer späteren Zeit anzusehen, womöglich zu begreifen« (JT, 149). Ein solches »Beschwerdebuch« über das, »[w]as du jetzt gedacht hast, was ich später erst verstehe«, und auch mit Klagen wünscht sich Marie nunmehr von ihrer Mutter: – Auf Papier, mit Datum und Wetter? – Auf Tonband, wie Phonopost.

147 Riordan, Ethics of Narration, S. 101. 148 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 271. 149 Vgl. Bernd Auerochs: Erzählte Gesellschaft. Theorie und Praxis des Gesellschaftsromans bei Balzac, Brecht und Uwe Johnson, München 1994, S. 212–219; Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 261f. 150 Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 57. 151 Ebd. 152 Vgl. ebd. 153 Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 272.

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– Für wenn ich tot bin? – Ja. Für wenn du tot bist. (JT, 151)

Schmidt hebt hervor, dass dieses Abkommen ganz bewusst nicht am Anfang des Romans steht, sondern zu Beginn des jüdischen Jahres. In den zehn Tagen der Buße legt Gesine über das Erinnerungs- und Erzählprojekt Rechenschaft ab, sodass »mit dem bemäntelten Knochenmann und dem Tonband […] die Entstehungsbedingungen und die Zukunft der Erzählung als Überlieferung transparent«154 werden. Für die dritte metanarrative Reflexion während der zehn Tage zwischen Ro’sch ha-Schanah und Jom Kippur ist Gesine nur indirekt verantwortlich. Im Tageskapitel vom 7. Oktober 1967 unternehmen Gesine und Marie eine Reise mit einem Mietwagen nach Vermont. Das Ziel der Reise ist die Familie Fleury, deren Bekanntschaft die Cresspahls einem Zufall zu verdanken haben (vgl. JT, 154). Im Tageseintrag vom 8. Oktober 1967 hört Gesine die Eheleute auf Französisch miteinander streiten, bevor sich F. F. Fleury mit beißender Kritik und noch immer in französischer Sprache an die Protagonistin wendet: Restez, ne partez pas, Mrs. Cresspahl! Maintenant je vais vous dire enfin pourquoi vous m’emmerdez. Vous venez dans notre pays, avec des arriere-pensees. Là où nous tous partageons notre responsabilité, vous vous figez dans une conscience morale absolue, et vous l’exprimez par votre satané orgueil pour lequel même mon meilleur français n’est pas assez bon. (JT, 156)

Der Ehemann von Annie Fleury, die wie Gesine von der Ostsee stammt, wenn auch von »der bottnischen« (JT, 154), kritisiert Gesines Doppelmoral, bestimmten Todesopfern und damit bestimmten Menschen mehr Bedeutung beizumessen als anderen. Das Eintreten für die Opfer, seien sie jüdischen Glaubens oder vietnamesischer Staatsbürgerschaft, auf der Suche nach der ›moralischen Schweiz‹ ist lediglich ein Vehikel, denn »Handeln spielt sich immer im schwebenden Widerspruch ab und Moralisieren ist ein Privileg der Wohlhabenden«.155 Schmidt betont zwar, dass der Figurenentwurf der Protagonistin »nicht auf ein ethisch, religiös oder politisch fundiertes Gebot des Erinnerns und Gedenkens« referiert, ethisches oder politisches Gewicht, und damit auch zwangsläufig Formen der Doppelmoral, konstituiere das Erinnern aber ex negativo »in der Auseinandersetzung mit anderen mnemonischen Habitus«156 wie dem US-amerikanischen, den F. F. Fleury repräsentiert.157 154 155 156 157

Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 246. Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs, S. 282. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 49. Mr. Fleury wiederholt seine Kritik, nachdem ihm seine Frau »mit drei Kindern weggelaufen ist« (JT, 636), in einem Schreiben an Gesine, das im Tageskapitel vom 24. Januar 1968 paraphrasiert wird: »Wenn ihm eine abschließende Bemerkung erlaubt sei. Genieren Sie sich

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Die kalendarische Markierung und die metanarrative Reflexion korrespondieren mit der Vergangenheitserzählung, in der der Aufstieg der Nationalsozialisten im Jahr 1932 skizziert wird. Dabei werden die Ereignisse der kollektiven deutschen Geschichte sowie der Geschichte der Familie Cresspahl und ihrer Verwandten und Freunde in Jerichow nebeneinandergestellt und miteinander verschränkt. So ist im Tagesabschnitt vom 9. Oktober 1967 die Reichstagswahl vom 6. November 1932 in die Erzählung zu Horst Papenbrock und seiner Freundin Elisabeth Lieplow eingebunden, die auf einer Fotografie ein »ärmellose[s] weiße[s] Turnhemd« trägt, »auf dem Busen das Emblem des Bundes Deutscher Mädel, mit dem Hakenkreuz« (JT, 159). Kurz darauf folgt der Hinweis, dass Hitler in diesem Jahr »durch die Gefälligkeit eines Regierungsrates in Braunschweig erstmals die Staatsangehörigkeit des Deutschen Reiches erlangt« (JT, 160) habe. Eingerahmt von beiden Abschnitten sind die Wünsche und Überlegungen von Lisbeth und Heinrich Cresspahl, welches Geschlecht, welchen Namen und welche Heimat ihr erstes Kind haben soll. Allein die Anordnung der Erzählsegmente gibt einen Hinweis darauf, dass sich Gesine als ein Kind des Nationalsozialismus versteht und ihr Blick entsprechend determiniert ist. Das Interesse der Protagonistin am jüdischen Festkalender wird mit deren erster Erwähnung, dem jüdischen Neujahrsfest und den darauf folgenden Jamim nora’im, psychologisch motiviert. Die Subjektivität einer daraus erwachsenden Erinnerung lässt sich auch mit dokumentarischen Mitteln nicht objektivieren. Zur poetologischen Maxime des Romans wird in den Tageskapiteln des beginnenden jüdischen Jahres 5728 stattdessen das Vorführen der Entstehung von Erinnerungen und deren polyperspektivische Reflexion erhoben. Jom Kippur Die zehn Tage der Buße enden am 13. Oktober 1967. Der Titel dieses Tageskapitels trägt neben dem Datum den Zusatz »Yom Kippur, Bußtag der Juden« (JT, 169). Neben Purim ist der Jom Kippur der einzige jüdische Festtag, auf den bereits durch einen solchen Zusatz in der Datumszeile hingewiesen wird. Wähnicht, Fleury. So bemühe sich Mrs. Cresspahl um eine Lebensweise, die gewiß in Freundestreue, politischer Konsequenz, Bewußtheit allgemein Vollkommenheit anstrebe. Müßte ich mall zu sein, Fleury. Er werde nicht so undelikat sein, den Unterschied zwischen Mrs. Cresspahls Bemühen und einer Vollkommenheit zu untersuchen. Sehr freundlich, Mr. Fleury. Er fühle sich jedoch genötigt, grundsätzlich festzuhalten, daß dies lediglich ihre Art von Perfektion darstelle. Sie aber leite daraus Maßstäbe ab auch für andere, kurz, sie verlange von Freunden, daß sie so lebten wie sie. Nein. Nein. Mit einem solchen Menschen sei jedoch nicht zu leben, der unablässig durch strenges und eben nur vorgetäuscht vorbildliches Verhalten rund um sich Kränkungen und Verletzungen ausstreue. Das bin ich nicht. Das bin ich nicht. Aber es gebe jemanden, der imstande sei, sie so zu sehen, Mrs. Cresspahl.« (JT, 639)

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rend das Purim-Fest allein mit dem hebräischen Namen benannt wird,158 ergänzt der Erzähler den Hinweis auf den Jom Kippur um die Übersetzung »Bußtag der Juden«. Die Übersetzung in die Sprache einer »nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl« (JT, 232) hebt das Paradox dieses ›Festtages‹ nach 1945 hervor.159 Auf dieses Paradox wird innerhalb des Tageseintrags mehrfach implizit verwiesen, wenn »absurde Sprüche« an Manhattans Bussen oder ein Ausschnitt aus dem News Chronicle von der ersten Januarwoche 1933 erwähnt werden, in dem angekündigt wird, »Deutschland werde ein glückliches Jahr erleben, wenn die Vorzeichen nicht täuschen. Die erwartete wirtschaftliche Erholung Deutschlands werde der roten Drohung ein Ende setzen.« (JT, 169) Eine Verbindung zur Shoah wird darüber hinaus über die Verurteilung des »ehemalige[n] Soldat[en] August Jäger wegen ›Kriegsverrats‹« (JT, 170) im Januar 1933 hergestellt. Im April 1915 desertierte Jäger und verriet »den Plan eines deutschen Gasangriffs«, der Ende April desselben Jahres erfolgte und bei dem »Briten und Franzosen zu Tausenden um[kamen]« (JT, 171).160 Das Thema ›Gas‹ wird gegen Ende des Kapitels erneut aufgegriffen, indem auf den Einsatz eines Gases bei einem Raubüberfall verwiesen wird, dessen Wirkung »ähnlich der des Polizeigases Mace« ist: »Mace wird in schwarzen Dosen geliefert, aber nur an die Polizei und militärische Formationen.« (JT, 172) Im Anschluss an diese paraphrasierte New York Times-Meldung beschließt der Hinweis auf den Versöhnungstag den Tageseintrag: Heute ist Yom Kippur. Seit Sonnenuntergang sitzen die Juden und knien in ihren Synagogen und Tempeln, mit Beten, Fasten und Rechenschaftslegung beschäftigt. »Kol Nidre« beginnt das Gebet mit der Bitte um Vergebung. Marie wünscht sich seit langem, ihre Freundin Rebecca zu einer solchen Veranstaltung zu begleiten, aber Rebecca würde sie auch ohne das Verbot von Mrs. Ferwalter nicht mitnehmen. Bei Ferwalters waren wir noch nie zum Essen eingeladen. Wir sind mit ihnen befreundet. Wir bleiben für sie die Goyim. (JT, 172) 158 Vgl. JT, 862: »13. März 1968 Mittwoch Purim«. ‫ םירופ‬ist der Plural von ‫רופ‬, ›Los‹; vgl. ‫רופ‬, in: Georg Fohrer (Hg.): Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zum Alten Testament, 3., durchges. Aufl., Berlin/New York 1977, S. 219. Umschreiben ließe sich ›Purim‹ mit »Fest der leiblichen Errettung [der Juden; P. O.]«; Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 191. 159 Thomas Rahe fragt in seiner 1999 veröffentlichten Studie zu Jüdischer Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern: »Konnte angesichts dessen, was Juden in den Ghettos, den Vernichtungs- und Konzentrationslagern erlebt hatten, wirklich noch nach der Schuld des einzelnen Juden gegenüber seinem Gott gefragt werden? Mußte hier nicht eher nach der Schuld Gottes gefragt werden, der all dies zugelassen hatte und weiterhin zuließ?«; Thomas Rahe: »Höre Israel«. Jüdische Religiosität in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Göttingen 1999, S. 155f. 160 Vgl. hierzu Holger Helbig u. a.: Johnsons Jahrestage. Der Kommentar (www-Version). URL: http://www.philfak.uni-rostock.de/institut/igerman/johnson/johnkomm/6710/671013.html [Zugriff vom 31. 5. 2020]. In der Printausgabe des Kommentars ist die biografische Notiz zu August Jäger nicht enthalten; vgl. Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 155.

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Im Unterschied zu Ro’sch ha-Schanah, und zu allen weiteren jüdischen Festen, findet sich die von einem Artikel der New York Times ausgehende161 Ausführung zum Jom Kippur erst am Ende des Tageskapitels. Zusammen mit dem Titelzusatz bildet der abschließende Absatz den Rahmen für den Tageseintrag zum 13. Oktober 1967. Darüber hinaus beschließen die Ausführungen zum Jom Kippur die Jamim nora’im, die im Tageskapitel vom 4. Oktober 1967 durch den Hinweis auf Ro’sch ha-Schanah zu Beginn des Textsegments eröffnet wurden.162 Mit dem Kol Nidrej, einem Gebet, »das nur am Vorabend des Jom Kippur vorgetragen wird«,163 beginnt der »erhabenste[] aller Tage«.164 Im Mittelpunkt dieses Tages stehen die »göttliche Gnade und der Einzelne, der zu Gott, zur Umkehr gerufen wird, um geläutert zu werden«.165 Schmidt deutet das Kol Nidrej und den Jom Kippur im Kontext der Jahrestage als moralische Kontrastfolie zur übersteigerten Auslegung der protestantischen Moral durch Gesines Mutter: Kol Nidre befreit den Juden von jenen selbstauferlegten Aufgaben, die als unerfüllbare sowohl seine eigene Handlungsfähigkeit einschränken als auch sein Verhältnis zu Gott belasten könnten. […] Alljährlich einen Neuanfang einräumend, garantiert Kol Nidre damit ein gewisses Maß an Freiheit gegenüber den normativen Zwängen der Religion.166

Auch wenn Schmidt betont, dass es sich um eine »rigoristische Auslegung der protestantischen Moral« durch Lisbeth handelt, entsteht doch der Eindruck, als sei der Protestantismus für eine solche Auslegung prädestiniert, weil in ihr eine »Entlastung« wie der Jom Kippur im Judentum nicht vorgesehen sei.167 Angesichts der theologischen und ethischen Bedeutung des Kreuzestodes Jesu geht eine solche Interpretation in die falsche Richtung, weil sie Lisbeths Auslegung als möglich und legitim im Sinne des Evangeliums erscheinen lässt. Die Analyse des ethischen Diskurses in den Jahrestagen wird aber noch zeigen, dass dem nicht so ist.168

161 Der Beginn des Absatzes geht auf den Artikel Jews Will Observe Yom Kippur Tonight vom 13. Oktober 1967 zurück; vgl. Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 156. 162 Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 247. 163 Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 127; Kursivdruck im Original. 164 Ebd., S. 134. 165 Ebd. In der Läuterung vor Gott wendet man sich »vom Alltäglichen ab, verrichtet keine Arbeit und entsagt allen leiblichen Genüssen, damit seine ganze Aufmerksamkeit allein seinem Schauen vor Gott gewidmet ist. Die Enthaltung von Essen, Trinken und Sexualität und das Verbot, sich zu waschen und zu salben, sind nicht Zweck des Feiertages, sondern symbolisieren Abwendung vom Materiellen und Zuwendung zum Erhabenen, da alles Irdische ohne Bestand ist. Der Läuterungsprozess entspringt dem inneren Willen, die Fesseln des eigenen Ichs zu sprengen, seine Begrenzungen zu überschreiten, das Göttliche zu erleben und in sich zu verwirklichen«; ebd., S. 135; Kursivdruck im Original. 166 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 240. 167 Ebd., S. 241. 168 Vgl. Dritter Teil, Kap. 4.1.

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Auffällig ist überdies, dass nicht Lisbeth im Zentrum des Jom Kippur-Kapitels steht. Gesines Mutter wird nur an zwei Stellen erwähnt.169 Im Mittelpunkt der Vergangenheitserzählung zum Jahresbeginn 1933 steht ihr Ehemann Heinrich Cresspahl und dessen (Brief-)Kontakt zum in Jerichow lebenden Peter Wulff. Damit wird kurz vor der Geburt Gesines eine persönliche Beziehung Cresspahls zur Stadt an der mecklenburgischen Ostseeküste hervorgehoben, die über die Familie seiner Ehefrau hinausgeht und eine Rückkehr ins Norddeutsche auch aus seiner Perspektive verständlich erscheinen lässt – auch wenn Heinrich Cresspahl, ebenso wie Peter Wulff, »nicht an eine Besserung« (JT, 169) der politischen Zustände glaubt. Insofern bildet das Tageskapitel vom 13. Oktober 1967 das Nachdenken Gesines über die Motivation ihres Vaters zur Rückkehr nach Jerichow und in gewisser Hinsicht eine Versöhnung mit ihm ab. Ihre Mutter Lisbeth hingegen bleibt von einem solchen Aussöhnungsversuch ausgespart. Stattdessen wird ein weiteres Mal die Verbindung der Familie Papenbrock zum Nationalsozialismus hervorgehoben, indem eine Passage aus Peter Wulffs Brief zu Elisabeth Lieplow, der Freundin Horst Papenbrocks, paraphrasiert wird: Sie war eine Führerin im B. D. M., und sie war im Dorf Beckhorst bei Gut Beckhorst unliebsam aufgefallen, nicht weil sie dort ihre Mädchengruppe in der einstweilen verbotenen Uniform aufmarschieren ließ, sondern weil sie das an einem Sonntagmorgen tat und ihren Untergebenen auf dem Brink von Beckhorst das Entkleiden zur Gymnastik befahl, eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes, so daß die Kirchgänger alle vorbeimußten an einem Haufen knapp bekleideter Mädchen, die sich abzappelten mit Grätsche und Brücke rückwärts. (JT, 172)

Das Paradox des jüdischen Versöhnungstages angesichts der Shoah führt Gesine zur »Rechenschaftslegung« (JT, 172) der kollektiven wie familiären (Mit-)Schuld an den Verbrechen gegenüber Millionen Menschen jüdischen Glaubens, von denen sechs Millionen getötet wurden. Die Rechenschaftslegung am Jom Kippur wird so auch über den Tageseintrag hinaus zum Programm der Jahrestage erhoben.170 Im Unterschied zur Erwähnung von Ro’sch ha-Schanah im Tageskapitel vom 4. Oktober 1967, die sich auf die Paraphrase einer New York Times-Notiz beschränkt, wird für die Begehung des Jom Kippur ein Bezug zum persönlichen Umfeld von Gesine und Marie hergestellt. Die Bekanntschaft mit der Familie Ferwalter resultiert aus Begegnungen auf dem Spielplatz des Riverside Parks (vgl. 169 Vgl. JT, 170: »Die Westfront kam vor in Ausschnitten aus dem Daily Express, die Cresspahl an die Gastwirtschaft und Kaufhandlung Wulff schickte, zusammen mit einem Blatt, auf dem Lisbeth Cresspahl die angestrichenen Stellen übersetzt hatte«; JT, 172: »Von Horst Papenbrock sagte er in diesem Brief nichts, weil er wußte, daß Lisbeth mitlas.« 170 Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 243.

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JT, 44), aus denen sich eine Freundschaft zwischen den Töchtern Rebecca und Marie sowie den Müttern entwickelt. Angesichts der Schicksalserfahrungen von Mrs. Ferwalter, deren »Fett in ihren Schultern, ihrem Nacken, am ganzen Leibe […] Ausdruck des KZ-Syndroms« (JT, 46) ist, mag es überraschen, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Mütter miteinander »befreundet« (JT, 172) sein können. Allerdings ist der Umgang von Gesines Nachbarin mit ihrem Trauma durch eine Tendenz zur makabren Verharmlosung geprägt: Was die »guten Deutschen […] den Juden getan haben, es ist von Gott so beschlossen worden« (JT, 792). Gesine selbst nimmt diese Äußerungen, ebenso wie ihre rassistischen Kommentare über Farbige (vgl. JT, 791), mit Befremden wahr.171 Geprägt ist das Verhältnis beider Familien dennoch durch eine gewisse Distanz. Marie darf an den jüdischen Festen der Familie Ferwalter nicht teilnehmen, selbst eine Einladung zum Essen kommt aufgrund der jüdischen Speisevorschriften nicht infrage. Der interkulturelle Austausch zwischen beiden Familien macht in der Konsequenz und entgegen dem Wunsch von Marie vor den religiösen Riten der jüdischen Familie Halt. Gesine und ihre Tochter sind als Angehörige der Goyim, und damit aus kulturellen und nicht historischen Gründen,172 ausgeschlossen. Für das Erinnerungsprojekt der Jahrestage ist dieser Umstand von programmatischer Bedeutung. Die Möglichkeit, »für die Arbeit an der deutschen Schuldgeschichte mnemonisch und literarisch ›in jüdische Schuhe [zu] schlüpfen‹«,173 wird von der Protagonistin als Vorgehensweise mindestens für die eigene Erinnerungsarbeit verworfen. Ssukkot Nur fünf Tage später, im Tageseintrag vom 18. Oktober 1967 erfolgt die Referenz auf das nächste jüdische Fest. Ssukkot, das Laubhüttenfest, ist das »farbigste unter den jüdischen Festen«174 und ein ursprünglich agrarisches Fest, das am Vollmond nach der Tagundnachtgleiche im Herbst dem Dank für die eingefah-

171 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 306. Auerochs weist darauf hin, dass der Charakter des Makabren erst dadurch entstehen könne, »weil er aufgrund der Erzählstruktur der ›Jahrestage‹ immer schon vor dem Hintergrund von Gesines Bewußtsein wahrgenommen wird, in dem der Holocaust die zentrale Verstörung darstellt und eben nicht mit solchen Sätzen beiseite getan werden kann. Von Mrs. Ferwalter aus gesehen, enthalten jene Sätze durchaus ein humanes Potential«; Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 603f. 172 Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 291: »nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem an den Juden schuldig gewordenen Volk werden die Deutschen abgewiesen, sondern schlichtweg weil sie keine Juden sind«. 173 Ebd., S. 290. 174 Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 144.

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rene Ernte und der Segnung des Regens für die kommende Ernte galt.175 Durch die biblische Erzählung um den Propheten Mose wurde aus dem Ernte- ein historisches Fest, mit dem an die vierzigjährige Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten erinnert wird. Das Tageskapitel beginnt mit dem Hinweis auf das »[h]eute bei Sonnenuntergang« (JT, 187) beginnende Laubhüttenfest. Wie schon zu Ro’sch ha-Schanach und Jom Kippur geht diese Passage auf einen Artikel aus der New York Times zurück.176 Neben der für orthodoxe und reformierte Juden unterschiedlichen Dauer des Festes wird die für das Fest zentrale Bibelstelle wörtlich wiedergegeben. Für die Übertragung der englischen Übersetzung aus dem »3. Buch Mose, Levitikus XXIII, 43« (JT, 187) in der »Tante Times« (JT, 75)177 greift Gesine nicht auf die Lutherbibel, sondern die Zürcher Bibel zurück: »damit eure Nachkommen erfahren, daß ich die Israeliten in Hütten habe wohnen lassen, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte (ich, der Herr, euer Gott)« (JT, 187).178 Dass es sich um Gesines Übertragung handelt, lässt sich dem Kontext entnehmen, demzufolge die Protagonistin ihrer Freundin Anita Gantlik einen Brief schreibt. Als Adressat der Passage zum Beginn von Ssukkot wird jedoch nicht die ostdeutsche Freundin, sondern ein Neunzenjähriger jüdischen Glaubens genannt. Mit der Unterstützung von Gesine und Anita möchte der junge Mann aus der DDR fliehen. Laut Gesine soll er über entsprechendes Wissen zur jüdischen Kultur verfügen, sofern es sich nicht vermeiden lasse, einen Pass mit jüdischem Glaubensbekenntnis für seine Überführung zu verwenden. Unabhängig von Johnsons Verarbeitung persönlicher Erfahrungen mit Arendt, auf die in dieser Passage Bezug genommen wird,179 deutet Gesine einen latenten Antisemitismus

175 Als Zeichen des Danks für die eingebrachte Ernte ist der Lulaw, der Feststrauß aus einem Palmen-, drei Myrten-, zwei Bachweidenzweigen und einem Paradiesapfel, in den Festritus eingegangen; vgl. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 145f.; Simon Ph. de Vries: Jüdische Riten und Symbole, aus dem Holländischen übers. von Miriam Sterenzy, bearb. von Miriam Magal, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 106f. 176 Vgl. JT, 187: »Dies hab ich dir aus der New York Times abgeschrieben.« Bei besagtem Artikel handelt es sich um die kurze Notiz The Feast of Succoth Begins This Evening, in: The New York Times, Nr. 40.079 vom 18. 10. 1967, S. 37. 177 Vgl. ebd., S. 37: »›that your descendants may know that I caused the Israelites to live in booths when I brought them out of the land of Egypt.‹ (Leviticus, xxiii, 43)«. 178 Im Vergleich zur Übersetzung in der revidierten Zürcher Bibel von 1931 weist der Text der Jahrestage lediglich geringfügige orthografische Anpassungen an den Romantext (›daß‹ statt ›dass‹ und ›Ägypten‹ statt ›Aegypten‹) und die Einklammerung von »ich, der Herr, euer Gott« auf. 179 Vgl. Uwe Johnson: »Mir bleibt nur, ihr zu danken«. Zum Tod von Hannah Arendt, in: ders.: Porträts und Erinnerungen, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1988, S. 74–77, hier: S. 76: »Einmal durfte ich sie in einem überwiegend jüdischen Teil New Yorks spazieren führen, da erklärte sie mir an den Passanten deren gesellschaftliche Stellung und Beschäftigung (mit Wohnorten) vor der Emigration aus Deutschland; zuversichtlich wäre ich bereit

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in der DDR an. Infolgedessen wird das Fluchtunternehmen am Ende des ersten Briefteils noch einmal mit der »Überführung aus dem Lande Ägypten« (JT, 189) in Beziehung gesetzt: Die »antiisraelische Propaganda der D.D.R. nach dem Junikrieg« führte dazu, dass der Junge in der Öffentlichkeit Kritik übte, »aus der Fachschule flog und nun der Sicherheitsdienst ihn auf dem Kieker hat« (JT, 188). Die DDR wird für den Jungen, wie vormals für Gesine, zu einem »ungeliebten Land«,180 weil in ihm keine Aufarbeitung von Antisemitismus und ›deutscher Schuld‹ stattfinde, wie die Protagonistin es sich für einen Staat vorstellt, in dem diejenigen leben, die für die Shoah (mit-)verantwortlich waren. Der staatlich verordnete Antifaschismus wird an zentraler Stelle, im Umgang mit der nationalen Schuld am Tod von sechs Millionen jüdischen Mitbürgern, als Mythos entlarvt. Im New York der Jahre 1967/68 sind antisemitische Ressentiments Bestandteil der gesellschaftlichen Realität,181 in der DDR sind sie Teil der politischen Programmatik eines vorgeblich antifaschistischen Staates. Daneben rekurriert das Einzelschicksal des ostdeutschen Jungen auf Gesines Blick auf ihre gegenwärtige und frühere Heimat. Maßgeblich beeinflusst ist dieser von den Eindrücken der Shoah, für die jene Fotografie aus Bergen-Belsen182 als stellvertretendes »Schockmittel« (JT, 232) fungiert.183 Gesine beobachtet, »wie die Deutschen im westlichen und im östlichen Staat ihre historische Schuld ›bewältigen‹.«184 Dieser Umgang mit der finsteren Vergangenheit bildet auch die Ursache für ihre Entscheidung, die DDR 1953 zu verlassen: Im Januar desselben Jahres finden in der Sowjetunion Stalins Prozesse gegen jüdische Ärzte statt, die in der ostdeutschen Republik dazu führen, dass dem jüdischen Professor Ertzenberger »vom Kollegen auf den Fluren einer Universität in Halle der morgendliche Gruß verweigert worden war« (JT, 1835). Bemerkenswert erscheint, dass Gesine sich aktiv an der Organisation der Flucht beteiligt, während sie sich ansonsten, trotz eines ausgeprägten politischen

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gewesen zu einer Stichprobe. Das fiel ihr schwer zu begreifen: dass einer ausserstande ist, Jüdisches am Gesicht zu erkennen.« Vgl. auch Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 165. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 79. Vgl. JT, 983: »In den Ubahnhöfen sind Plakate ausgehängt, die einen alten Indianer zeigen, mit wettergekerbter Miene, schwarzem Zopf unter schwarzem Hut, mit funkelnden Augen vor Vergnügen, daß er eben in ein Produkt einer jüdischen Firma beißen darf: // Wer sagt denn, daß Sie jüdisch sein müssen, / Um unser jüdisches Brot zu genießen! // Auf solchen Plakaten werden mit Vorliebe Hakenkreuze angebracht. Zwar sind sie nicht korrekt nach der Mustervorlage gezeichnet, aber heute abend habe ich eins mehr gesehen als heute morgen.« Vgl. Dritter Teil, Kap. 1, Anm. 96. Gerlach bezeichnet die Fotografie daher als »Schlüsselerlebnis für die zwölfjährige Gesine«; Gerlach, Suche nach der verlorenen Identität, S. 30. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 302f.

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Interesses,185 nicht politisch engagiert. Angesichts der Kommerzialisierung des politischen Geschehens,186 »des Zusammenbruchs des ›Projekts Sozialismus‹ als spezifisch gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeit und der klanglosen Aufgabe eines historisch gesichert geglaubten Niveaus von Humanität«187 erachtet die Protagonistin politisches Engagement für sich als »weniger sinnvoll, nicht mehr identisch«.188 Das für den Jungen gezeigte Engagement ließe sich mit der Freundschaft zu Anita oder dem konkreten Einzelschicksal erklären, das zu bewältigen sie durch ihre Mithilfe unmittelbar beitragen kann. Vordergründig für Gesines Engagement ist aber, das wird durch die kalendarische Korrespondenz deutlich, die »Wirkung des Holocausts auf ihr Bewußtsein«.189 Das Fluchtvorhaben des jungen Ostdeutschen erinnert Gesine an ihre eigene, bereits zweiundzwanzig Jahre andauernde Wüstenwanderung auf der Suche nach dem gelobten Land, einer »moralische[n] Schweiz, in die wir emigrieren könnten« (JT, 382). Schmidt betont daher, dass »in dem Dreischritt Auszug aus Ägypten – Wanderung in der Wüste – Hoffnung aufs gelobte Land die letzte Position leer«190 bleibe. Die DDR stellt in ihrer Wüstenwanderung die erste Etappe dar, sodass der ›Auszug aus Ägypten‹ nicht mit dem Verlassen des ostdeutschen Staates im Jahr 1953 beginnt,191 sondern mit dem Ende des Nationalsozialismus und der Erkenntnis, dass die Ferien auf dem Fischland vor 1945 »von anderer Art waren«, denn »[n]icht weit von Althagen, auf der anderen Seite des Saaler Boddens, war das Konzentrationslager Barth« (JT, 955). Die weiteren Etappen sind Frankfurt und Düsseldorf, das Gesine 1961 zusammen mit Marie in Richtung New York verlässt, weil sie Deutschland, in dem noch immer »Synagoge[n] mit Hakenkreuzen beschmiert« werden und ein Politiker in der Regierungsverantwortung steht, der als junger Mann »im Studentenbund der Na-

185 Deutlich wird dies insbesondere an den selektierten Paraphrasen der New-York-TimesPassagen, in denen der Vietnamkrieg und die politischen Ereignisse in Europa einen großen Raum einnehmen, während Neuigkeiten aus der Kultur- sowie Wirtschafts- und Finanzwelt eine untergeordnete Rolle spielen; vgl. ebd., S. 266f. 186 Im Tageskapitel vom 27. April 1968 wünscht sich Marie die Teilnahme an der »Parade für den Frieden am Central Park« (JT, 1069), ist allerdings über deren »Begleitung durch den Kommerz« enttäuscht, denn zwischen den Demonstranten »liefen die Helfer des Paradekomitees hin und her, wollten ›originale‹ Plaketten verkaufen als Andenken an den Vormittag des 27. April 1968« (JT, 1071). Gerlach konstatiert, dass »[d]as allgegenwärtige Zweckdenken, die Kommerzialisierung des Lebens, […] kein authentisches Handeln mehr, zumindest nicht mehr als spontanen Ausdruck einer Persönlichkeit«, erlaube; Gerlach, Suche nach der verlorenen Identität, S. 103. 187 Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 161. 188 Ebd., S. 162. 189 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 601. 190 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 253; Kursivdruck im Original. 191 Vgl. ebd.

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zis« war, »für eine Weile« verlassen möchte (JT, 1872).192 Während der Auszug aus Ägypten und die anschließende Wüstenwanderung für die Israeliten im gelobten Land endet, sodass Ssukkot für die jüdischen Nachfahren in der Erinnerung an diesen von JHWH geleiteten Weg ein »freudiges Fest ersten Ranges«193 ist, bleibt für Gesine nach der Befreiung vom Nationalsozialismus die Hypothek der nationalen wie familiären Schuld an der Shoah. Die Kluft zwischen den Familien Cresspahl und Ferwalter besteht somit nicht allein in der religiösen, sondern ebenso in der mnemologischen Differenz beider Seiten. Trotz ihrer kritischen Distanz gegenüber den beiden deutschen Staaten bleibt Gesine Angehörige einer Nation, die für eine »tiefe und tödliche Kluft zwischen Juden und Deutschen«194 verantwortlich ist. Dass Gesine die Kluft im Umgang mit Mrs. Ferwalter anerkennt, ermöglicht einen interkulturellen Austausch zwischen beiden Familien. Darüber hinaus unternimmt die Protagonistin den Versuch, die Verstrickung der eigenen Familie 192 Als Figur bleibt der Politiker namenlos (vgl. JT, 1874). Durch die umfangreichen biografischen Informationen lässt sich die Figur aber als Replik auf Franz Josef Strauß lesen, der von 1956 bis 1962 Verteidigungsminister der BRD war. In der ersten bundesdeutschen Großen Koalition von 1966 bis 1969 hatte Strauß das Amt des Finanzministers inne. Johnson nutzte für seine Darstellung zur möglichen nationalsozialistischen Vergangenheit von Strauß einen Spiegel-Artikel vom 1. 6. 1981 über einen Gerichtsprozess, in dem sich der bayerische Ministerpräsident gegen den Vorwurf, ein Nazi-Lehrer gewesen zu sein, zur Wehr setzte: »Denn unstreitig war er im NS-Studentenbund, und er war auch Mitglied im NS-Kraftfahr-Korps (NSKK), wo, wer aufgenommen werden wollte, als ›politisch zuverlässig‹ ausgewiesen sein mußte. Von ihm wurde erwartet, daß er immer tiefer ›in das nationalsozialistische Gedankengut‹ (NSKK-Richtlinien) eindringe«; Einer der Schärfsten, in: Der Spiegel, Nr. 23 vom 1. 6. 1981, S. 98f., hier: S. 98. Unstreitig ist Horst Möller zufolge lediglich, dass Strauß von Februar 1938 bis Juli 1939 Mitglied im NSKK, »einer – vergleichsweise – harmlosen Organisation«, war, um sich wie viele Mitglieder »gegen den Anpassungsdruck des Regimes vor stärkerem Engagement schützen zu können«; Horst Möller: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München/Berlin 2015, S. 28. Im Fragebogen für die Entnazifizierung wurde die Mitgliedschaft im NSKK ausgewiesen, für die NSDAP und ihre Gliederungen – darunter auch den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) – aber verneint: »Allerdings stimmen diese Angaben nicht völlig mit einer Beurteilung durch einen Referenten des Bayerischen Staatsministeriums überein. Dort wird zwar im Vorschlag zur Ernennung zum Studienrat am 5. Januar 1943 die Frage nach der Mitgliedschaft in der NSDAP verneint, aber für den NSDStB ab 1. November 1937 bejaht. Dies mag auf ein ›wohlwollendes‹ Urteil des Verfassers der Beurteilung, Ministerialrat Dr. Bauerschmidt, zurückzuführen sein, ist jedenfalls aus den Unterlagen nicht zu klären, aber durchaus plausibel, war Bauerschmidt doch bereits Vorsitzender der ministeriellen Prüfungskommission gewesen, die das sehr gute Erste Staatsexamen von Strauß bewertet hatte«; ebd., S. 47f. Möller konstatiert daher, dass »[a]lle vorliegenden Zeugnisse bestätigen, dass Franz Josef Strauß die nationalsozialistische Ideologie und Diktatur ebenso entschieden ablehnte wie die Kriegsführung des Regimes«; ebd., S. 49. Johnson beteiligt sich somit, wenn auch vermutlich ungewollt, an den ›Stoppt-Strauß‹-Kampagnen, die im Bundestagswahlkampf 1980 ihren Höhepunkt fanden, aber auch in den Jahren danach kein Ende nahmen; vgl. hierzu ebd., S. 318f. 193 de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 104. 194 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 602.

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in die kollektive, nationale Schuld aufzuarbeiten. Einen ersten Hinweis hierauf bietet die Wiederaufnahme des Auszugs aus Ägypten am Ende des ersten Briefteils, die nicht nur den zu Beginn des Briefes eröffneten Rahmen schließt, sondern noch einmal die Nähe zwischen Ssukkot und Pessach hervorhebt. Im Tageskapitel vom 12. April 1968, in dem sich der Beginn des Pessachfestes mit dem christlichen Karfreitag überschneidet, wird mit der Erzählung über Cresspahls Umgang mit dem entflohenen Juden Gronberg die ›deutsche Schuld‹ innerhalb der Familie konkret. Wenn auch diese Korrespondenz im Ssukkot-Kapitel noch sehr vage bleibt, so nähert sich Gesine zusammen mit dem Genossen Schriftsteller in den folgenden Tageseinträgen, den Tagen des Laubhüttenfestes, der eigenen Familienhypothek an. Im Tageskapitel vom 19. Oktober 1967 wird Lisbeths Rückfahrt nach Jerichow erzählt, montiert mit den Hinweisen auf »fette[] Schlagzeilen« in britischen Zeitungen über die »Ernennung eines Herrn Hitler zum deutschen Reichskanzler« sowie die Schwangerschaft von Gesines Mutter »in der 31. Woche« (JT, 191). Die Verschränkung der zeithistorischen und familiären Ereignisse ist ebenso wenig zufällig wie die symbolträchtige meteorologische Bemerkung am Ende des Absatzes: »Dann war sie in die Kälte gefahren.« (JT, 191) Der darauffolgende Tageseintrag vom 20. Oktober 1967 hat die Fahrt von Heinrich Cresspahl zur Geburt seiner Tochter nach Jerichow zum Gegenstand. Ein Zwischenstopp in Lübeck erregt in ihm ein »flaues, widerwärtiges Gefühl künftiger Schuld«, das vielmehr auf den Verbleib im nationalsozialistischen Deutschland und einen beinahe aussichtslosen Kampf gegen ein schuldhaftes Leben hindeutet als auf das mögliche Verpassen der Geburt seiner Tochter: »Es war ihm lieber als die Aussicht auf Papenbrocks Haus, auf Louise Papenbrock und die verlogene Frömmigkeit, mit der sie ihn vor das Zimmer führen würde, in dem er mittlerweile ein neugeborenes Kind annehmen durfte. Er war noch nicht fertig für das Zimmer.« (JT, 194) Es ist die Zeit nach dem Reichstagsbrand (vgl. JT, 197), und während Cresspahl von Zollbeamten zur »Heimkehr nach Deutschland« (JT, 195) beglückwünscht wird, ist für die ersten Verfolgten des Hitlerregimes bereits die Zeit zum ›Auszug aus Ägypten‹ gekommen. Cresspahl wird auf dubiose Weise durch den »eingeschriebene[n] Sozialdemokraten« Erwin Plath zum geheimen Überbringer zweier Pässe »fürs Ausland« (JT, 197) – mutmaßlich für Politiker der KPD.195 Dass weder die genauen Adressaten noch der Einsatz der Papiere geschildert wird, evoziert Schmidt zufolge die Symbolik eines narrativen Musters: 195 Vgl. JT, 198: »Denn die mecklenburgischen Landtagsabgeordneten der K. P. D., Warncke, Schröder, Quandt, Schuldt, waren auf der Flucht, und es stand zu befürchten, daß demnächst Ernst Thälmann an der Tür klingelte. Es gab Berichte, nach denen Thälmann nach Dänemark unterwegs war.«

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Entscheidend ist hier nämlich, daß Gesine für diese Episode nicht auf eine eigene Erinnerung zurückgreifen kann, da sich das Geschehen am Tag vor ihrer Geburt abspielt. Eine andere Quelle, womöglich Cresspahl selbst, wird nicht ausdrücklich benannt. Indes veranschaulicht das folgende Kapitel an der Erzählung über Gesines Geburt, wie die Konstruktion der Vergangenheit vonstatten geht. Marie fragt dort skeptisch, woher denn die Mutter überhaupt von ihrer eigenen Geburt wisse. Diese antwortet: »Ich weiß es von dir.« (JT, 203) Daraufhin bittet Marie, Gesine solle lieber erzählen, als sei es ihr erzählt worden, und Gesine setzt neu ein: »Mir ist erzählt worden« (ebd.). Am Tag zuvor bleibt diese Konstruktion subkutan, und zum ›Ort der Paßübergabe‹ als einem Ort der Hoffnung gelangt nur, wer wie Cresspahl zufällig auf ein geheimes Zeichen stößt (vgl. JT, 195f., 201). Dann wäre es hier das narrative Muster aus dem Sukkoth-Brief, mit dessen Hilfe die Vergangenheit trotz aller Erinnerungs- und Wissensdefizite zur Sprache kommt. Symbolisch gelesen, steckte die Hoffnung dann in den Mitteln des Erzählens, durch die sich der Knochenmann bemänteln, oder anders: eine Version der Familiengeschichte konsistent und glaubwürdig formieren läßt.196

Das geheime Zeichen der beiden Mantelknöpfe fungiert nicht nur als ein Symbol der Hoffnung, sondern ebenso als Zeichen des Zufalls und der Ambivalenz. Dies wiederum erschwert die Rekonstruktion einer konsistenten Familiengeschichte, die als mnemologisches Artefakt im Sinne einer Aufarbeitung nur Annäherung bedeuten kann. Die »Empfindung von zwei verschiedenen Wirklichkeiten« (JT, 199) durch Cresspahl potenziert sich in der Perspektive Gesines und wiederum in der Maries. Gesines Familiengeschichte wird vor der kalendarischen Folie des Laubhüttenfestes, die durch die semantische Korrespondenz der Pässe im Tageskapitel vom 18. und 20. Oktober 1967 bekräftigt wird, mit der Rückkehr der Eltern ins nationalsozialistische Deutschland und ihrer Geburt unter dem Hitlerregime antithetisch zum jüdischen Fest der Freude präsentiert: »Im Erzählten ist zu Sukkoth keine Hoffnung.«197 Chanukkah Hoffnung ist auch für das nächste Fest des jüdischen Festkalenders von Bedeutung.198 Chanukkah erinnert, so erzählen es die beiden deuterokanonischen199 Makkabäerbücher, an die Wiedereinweihung des zweiten Jerusalemer Tempels 196 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 253f.; Kursivdruck im Original. 197 Ebd., S. 254. 198 Gal-Ed verweist auf die Bedeutung von Chanukkah als »Fest[] der Diaspora«, da das Ölwunder und der erfolgreiche Aufstand der makkabäischen Minderheit die »Hoffnung auf Erlösung« symbolisieren; Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 168. 199 Deuterokanonisch sind jene »Bücher/Schriften, die im Kanon der röm.-kath. und der östlichen Kirchen, aber weder in der Jüdischen Bibel noch im Kanon der reformatorischen Kirchen stehen« und »missverständlicherweise manchmal Apokryphen genannt werden«; Erich Zenger: Anhang: Erklärung bibelwissenschaftlicher Fachbegriffe, in: ders. u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 732–736, hier: S. 732.

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am 25. Kislew des Jahres 164 v. Chr.200 Nötig wurde die Wiedereinweihung aufgrund seiner Entweihung im Jahr 167 v. Chr. durch Antiochos IV. Epiphanes, der den Tempel dem griechischen Gottvater Zeus widmete.201 Die Entweihung war Ausdruck einer zunehmenden Zwangshellenisierung in Israel, gegen die sich die traditionalistischen Chassidim ab 167 v. Chr. zum Widerstand formierten.202 Infolge des sogenannten Makkabäeraufstandes nahm Judas Makkabi Jerusalem ein, sodass der Tempel wieder JHWH geweiht werden konnte. Die Attribuierung von Chanukkah als ›Lichterfest‹ geht allerdings nicht auf den historischen Hintergrund des Festes zurück, sondern auf eine Wundererzählung, die in der Mischna überliefert ist und dem Fest seine religiöse Bedeutung verleiht: Nachdem die Makkabäer den Tempel befreit und gereinigt hatten, kam der große Augenblick, das ewige Licht wieder anzuzünden. Doch fanden sie kein geweihtes Öl, da die Heiden alles Öl verunreinigt hatten. Beim Durchsuchen entdeckten die Hasmonäer einen einzigen kleinen, vom Hohepriester versiegelten Ölkrug, dessen Inhalt für einen Tag gereicht hätte. Der Tempelleuchter jedoch brannte acht Tage lang, bis neues, reines Öl bereitet wurde (Bawli, Schabbat 21b).203

In der Erinnerung an dieses Wunder, das die Vertreibung der Dunkelheit symbolisiert und ein »Zeichen höchster Gegenwart« ist, feiern die Juden jedes Jahr vom 25. Kisslew bis zum 2./3. Tewet Chanukkah. Vier Tage vor dem Beginn des Chanukkah-Festes im Jahr 5728 erzählt Gesine ihrem ehemaligen »Lehrer für Englisch und Anstand« (JT, 1888), Dr. Julius Kliefoth, in einem Brief, der das Tageskapitel vom 23. Dezember 1967 bildet, von ihrer Tochter Marie und »Weihnachten in New York« (JT, 500). Beide Themen korrespondieren in der Bemerkung der Protagonistin, dass Marie »[i]n einem mehr technischen Sinne« (JT, 501) lieber zusammen mit ihren jüdischen Freundinnen Chanukkah feiern würde als Weihnachten. Die Möglichkeit zur Gegenüberstellung von Weihnachten und Chanukkah geht auf den gemeinsamen Ursprung beider Feste zurück. Gal-Ed hebt hervor, dass die Aufnahme Chanukkahs als einziges nicht-biblisches Fest in den jüdischen Festkalender nicht mit dessen historischem oder religiösem Hintergrund erklärt werden könne.204 Seine 200 Vgl. 1 Makk 4,36–59. Vgl. hierzu de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 113. De Vries datiert die Wiedereinweihung des Tempels allerdings auf das Jahr 163 v. Chr.; vgl. ebd. Zur korrekten Datierung vgl. etwa S. Christian Frevel: Grundriss der Geschichte Israels, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 587–717, hier: S. 704f. 201 Vgl. de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 113. 202 Vgl. ebd., S. 112f.; Frevel, Grundriss der Geschichte Israels, S. 703f. 203 Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 167f. 204 Vgl. ebd., S. 166, 168; Kursivdruck im Original: »Für die Rabbinen der Jahrtausendwende waren die Bücher der Makkabäer nicht heilig und das Fest anscheinend nicht so bedeutsam. Auffallend ist: während in der Mischnah anderen Festen Traktate gewidmet sind, wird Chanukkah in dem Traktat Schabbat nur beiläufig erwähnt. […] Mit der Legende vom Ölkrug wurde im Talmud ein Zusammenhang geschaffen zwischen dem historischen Hin-

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Bedeutung gehe auf einen meteorologischen Hintergrund zurück: die Wintersonnenwende. Feste zur Wintersonnenwende feierte man in Persien, im alten Rom, »[d]as Christentum adaptierte das Fest und feiert die Geburt des Erlösers« und auch Chanukkah habe seinen Ursprung voraussichtlich in einer Feier zum »kürzesten und dunkelsten Tag im Jahr«.205 Bereits die Gegenüberstellung des christlichen und jüdischen Festes zur Wintersonnenwende enthält somit einen ersten Hinweis darauf, dass die kulturelle Differenz zwischen Judentum und Christentum auf einem religiösen und historischen Artefakt beruht. Statt der Unterschiede ließe sich ebenso der gemeinsame Ursprung beider Feste betonen. Dass eine kulturelle Distanz besteht, betont der Erzähler, wenn er aus der figuralen Perspektive Gesines konstatiert, »wir mögen als Ausnahme von den Deutschen der Zwölf Jahre gelten, wir bleiben die Gois für sie, und Marie wird nicht dabei sein dürfen, wenn Mr. Ferwalter seine Menorah ansteckt« (JT, 501). Auch wenn der Chanukkahleuchter, die Chanukkijah, der biblischen Menorah206 nachempfunden ist, so verfügt er doch mit acht Lichtern über eines mehr als diese.207 Die Kluft zwischen beiden Kulturen, das wird einmal mehr deutlich, wird nicht nur einseitig von jüdischer Seite begründet, sondern manifestiert sich auch in Gesines ›fehlerhaftem‹ interkulturellen Wissen. Als ursächlich für ihr mangelndes Wissen macht sie gleich zu Beginn des Chanukkah-Abschnitts ihre Sozialisation verantwortlich: »Nun weiß ich nicht, wie das deutsch geschrieben wird.« (JT, 501) Da ‫ ה ָ ּכֻנֲח‬sowohl im Deutschen wie auch im Amerikanischen von der hebräischen in die lateinische Schrift übertragen wird, lässt sich die von Gesine ins Feld geführte Orthografie als Synekdoche deuten, die durch die ihr inhärente Paradoxie an Bedeutung gewinnt. Als pars pro toto rekurriert die Orthografie auf das Verhältnis zum Judentum in Jerichow und New York: Ihre Kenntnis jüdischer Kultur stammt allein aus ihrer Anschauung in der amerikanischen Metropole, aus ihrer Nachbarschaft, aus Informationen der New York Times, aus Berichten ihrer Tochter und aus einer ›Ausstellung im Jewish Museum‹ (JT, 671). In Deutschland fand für sie keine jüdische Kultur statt. Erinnerungen an Juden fehlen ihr: ›[E]s gab sie nicht in Jerichow.‹ (JT, 231)208

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tergrund des Festes, dem Sieg der Makkabäer, und dem symbolischen Ritual des Lichteranzündens. Doch kann diese formelle Erklärung die Frage nicht beantworten, wie einem relativ marginalen historischen Ereignis so viel Bedeutung beigemessen wird, daß es einen Platz im jüdischen Kalender erhalten hat.« Vgl. ebd., S. 169. Vgl. etwa Ex 25,31–40; Num 8,1–4. Vgl. de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 116f. De Vries bezeichnet die Chanukkijah daher auch als »Menora für das Chanukkafest«; ebd., S. 117; Kursivdruck im Original. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 237.

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Gesines fehlendes Wissen über das Judentum – was wiederum auf ihr Heimatland zurückverweist, weil sie außerhalb der Grenzen des eigenen Landes, ob sie möchte oder nicht, ihre Nation in gewisser Weise repräsentiert – wird nicht in der Orthografie, sondern in der Symbolik und der kalendarischen Verortung des Festes vorgeführt. Die »neunarmige[]« (JT, 501) Menorah ist eine achtarmige Chanukkijah samt Schammasch, dem Diener der Lichter,209 und der Zeitraum von Chanukkah erstreckt sich nicht »vom 25. Tag des Monats Kislev bis zum 2. Adar« (JT, 501), sondern bis zum 2./3. Tewet. Der Adar folgt hingegen erst nach dem Schewat im Februar/März eines jeden Jahres. Im Adar wird aber ein weiteres jüdisches Fest gefeiert, das wie kein anderes auf das Schicksal der Juden verweist: Purim.210 Überdies ist der Adar der Monat, an dem sich mit dem kalendarischen auch ein kultureller Unterschied zwischen Juden- und Christentum manifestiert: Während das jüdische Jahr auf der Grundlage eines lunisolaren Kalenders berechnet wird, war der julianische und ist der gregorianische Kalender ein solarer. Zur Angleichung des jüdischen Lunisolarkalenders an das Sonnenjahr wird seit der Einführung des konstanten jüdischen Kalenders im Jahr 358 n. Chr. zyklisch ein dreizehnter Monat, der ’Adar II, eingefügt.211 So unbedeutend dieser Unterschied erscheinen mag, ist er für die Bestimmung des religiösen Festkalenders von enormer Relevanz, denn eine »falsche Festzeit bedeutet Entweihung«.212 Die falsche Datierung zeigt insofern nicht nur das fehlende Wissen der Protagonistin, sondern richtet den Blick zugleich auf den Leser: »Machen die Jahrestage mit dem falschen Chanukah-Datum eine Probe aufs Exempel? Rechnen sie mit der Unkenntnis der jüdischen Kultur?«213 Auch wenn diese Textstrategie womöglich ins Leere läuft, weil am Leser etwas vorgeführt wird, »ohne es ihm bewußt zu machen«,214 so konstituiert sich im Lektüreprozess das Verhältnis der Deutschen zum Judentum insofern neu, als es sich im Leser wiederholt – oder eben nicht. Die kulturelle Verzahnung, die durch Gesines erzählerische Aufarbeitung ihrer nationalen Schuld in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Erinnerungskultur sukzessive zum Vorschein kommt, setzt sich in einer semantischen Korrespondenz fort. Nach der Schilderung der Unterschiede zwischen europäischer und amerikanischer Bescherung, nach der es die Aufgabe »eines Individuums namens Saint Nicholas, alias Santa Claus, alias Santa« sei, einen am Abend des 24. Dezember ausgehängten Strumpf »in der Nacht mit Geschenken aufzufüllen«, wird das Lexem ›Geschenk‹ im Abschnitt zu Chanukkah erneut 209 Vgl. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 171; de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 119. 210 Vgl. den folgenden Abschnitt in diesem Kapitel. 211 Vgl. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 29. 212 Vgl. ebd., S. 31. 213 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 238. 214 Ebd.

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aufgegriffen: »an jedem seiner acht Tage bekommen die Kinder etwas geschenkt« (JT, 501). Das Chanukkah-Fest ist geprägt durch zahlreiche Bräuche, in die Kinder einbezogen werden. So dürfen die Jungen der Familie das Licht der Chanukkijah anzünden, sobald sie die Segenssprüche sagen können.215 Daneben erhalten Kinder das sogenannte Chanukkahgeld. Geschenke, wie sie von Gesine erwähnt werden, gehören nicht zum traditionellen Brauchtum, haben aber durch den Einfluss des christlichen Weihnachtsfestes zunehmend an Bedeutung gewonnen.216 Von besonderer Bedeutung für den Roman wird die Koinzidenz des Schenkens zu Weihnachten und Chanukkah durch die Ankündigung eines Geschenks von Marie an ihre Mutter. Im Tageskapitel vom 12. Dezember 1967, das mit einem direkten Verweis auf die Weihnachtszeit eingeleitet wird,217 werden Maries Vorbereitungen für das Geschenk skizziert. In indirekter Rede gibt Gesine die Ankündigung Maries wieder, wonach es »vielleicht nicht reichen [werde] für eine Freude, aber es werde einem Wunsch nahekommen, von dem ich nicht wisse, daß ich ihn habe« (JT, 442). Gesine erwähnt überdies, dass das Geschenk zu Neujahr sei, weil sie sich, angesichts ihres an dieser Stelle noch nicht aufgearbeiteten Muttertraumas, ein Geschenk zu Weihnachten verbeten habe (vgl. JT, 442). Als Goyim kann der gewählte Anlass für das Geschenk kein jüdisches Fest sein. Die »Aufmerksamkeit zu Neujahr« (JT, 538) fällt aber neben dem christlichen Neujahr, das einen Neubeginn symbolisiert, auf den sechsten Tag des Chanukkah-Festes. In ein weißes Tuch gehüllt wird das Präsent »zwischen den Flügeltüren zu Maries Zimmer« (JT, 538) aufgestellt, und damit wie die Chanukkijah an einer »besonders repräsentativen Stelle der Wohnung« dargeboten.218 Schmidt betont, dass die Inszenierung des Geschenks einer Einweihung gleicht und somit in direkter Beziehung zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels an Chanukkah steht.219 Das Geschenk selbst ist das Modell eines Hauses, des Hauses, »das Albert Papenbrock im Frühjahr [1933; P. O.] seiner Enkelin überschrieb, damit Heinrich Cresspahl tat, wie Lisbeth wollte, und 215 Vgl. de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 119; Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 174. 216 Die in Wien geborene und nach der Emigration nach Belgien und Frankreich in der Résistance kämpfende Reneé Wiener erinnert sich etwa, dass es in ihrer Kindheit »eine klare Trennung zwischen dem christlichen Weihnachten und dem jüdischen Chanukka« gab: »Wir bekamen zu Chanukka zum Beispiel nie Geschenke. Das war hart, weil die christlichen Kinder so viel bekamen und wir gar nichts. Heute versucht man ja, aus Chanukka eine Art jüdisches Weihnachten zu machen, sogar die Frommen geben Geschenke«; Renée Wiener: Von Anfang an Rebellin. Die Geschichte einer jüdischen Widerstandskämpferin, hg. und mit einem Glossar von Maria Ecker, Daniela Elmauer und Albert Lichtblau, Wien 2012, S. 55. 217 JT, 439f.; Kapitälchen im Original: »›Das Strahlen der Weihnachtszeit erleuchtet die Stadt […]‹ © by the New York Times Company«. 218 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 264. 219 Ebd., S. 265.

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zurückkam aus England nach Jerichow« (JT, 538). Im Zentrum der intertextuellen, kalendarischen Beziehung auf das Chanukkah-Fest steht somit der Tempel als Heiligtum und Wohnstätte JHWHs, der sich symbolisch im Geschenk von Marie als »Gesines ›Tempel der Erinnerung‹«220 wiederfindet. Die Attribuierung des Gesine wenige Tage nach ihrer Geburt übertragenen Hauses verdeutlicht die Assoziationen, die sie mit dem Elternhaus im »Friedhofsweg […] oder Ziegeleiweg« (JT, 273) verbindet. Aus ihrer Perspektive ist es mitverantwortlich für die Rückkehr ihres Vaters nach Jerichow und damit für die mittelbare Schuld der Familie an der Shoah. Das Elternhaus als Tempel der Erinnerung wird so zum »Haus der Schuld«.221 Die Gesine der Mutmassungen über Jakob sucht die Orte ihrer Erinnerung, Taormina und vor allem Jerichow, auf, um zu sehen »wie sie abgefallen [sind] von meiner Erinnerung« (MJ, 153). Ein ähnlicher Vorgang findet sich auch in den Jahrestagen wieder, wenn Gesine nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei ihrem letzten Besuch auf dem Fischland, auf dem sie zuvor die Ferien bei den Paepckes verbrachte, feststellen muss: Die Erinnerung verweigerte. […] Wenn Gesine Milch geholt hatte, war sie frei zu gehen, wohin sie wollte. Die Erinnerung blieb weg, es kam bloß der Anstoß an eine Minute Vergangenheit, der so sich nennt. Was aber sie meinte, war der Eintritt in die ganze Zeit der Vergangenheit, der Weg durch das stockende Herz in das Licht der Sonne von damals. (JT, 1490, 1493f.)

In der erzählten Gegenwart ist das Aufsuchen solcher Erinnerungsorte durch Gesines Entscheidung gegen ein Leben in der DDR unmöglich. Das Elternhaus, das in den Mutmassungen über Jakob noch als Schutzraum in Erscheinung tritt, weil es, wenn auch nicht rechtlich legitimiert, zugänglich und durch Cresspahl bewohnt ist, wird in den Jahrestagen zum reinen Erinnerungsort für die Verstrickung von kollektiver und familiärer Schuld an den Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland. Durch die retrospektiv erfolgte obsessive Überformung, die sich auch im Moment der Geschenkübergabe zeigt, wenn die Größe des Präsentes bei Gesine Erinnerungen an den Hund auslöst, der unter dem Schreibtisch von Lisbeths Arzt, Dr. Berling, wohnte (vgl. JT, 538),222 droht Gesine einerseits, ihre Kindheitserinnerungen zu verlieren. Andererseits läuft sie durch die Assoziation des Elternhauses mit einem Haus der Schuld Gefahr, »in der Vergangenheit«223 zu wohnen. Indem Marie aus der Erzählung ihrer Mutter, aus dem, »was ich verstanden habe« (JT, 538), ein Modell des Hauses baut, wird dieses als ein »Haus der

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Ebd. Ebd., S. 272; Kursivdruck im Original. Vgl. hierzu auch ebd., S. 271. Ebd., S. 272.

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Erzählung«,224 der Überlieferung an die Folgegeneration, zu einem Haus der Gegenwart: »Wendet man sich nämlich dem Miniaturhaus selbst zu, dann wechselt die Perspektive von Gesine auf Marie. Dann fällt auf, daß die Psychisierung mit der Enthüllung aufgegeben wird.«225 Dieses Modellhaus garantiert »weder ein Zurückfinden in die Vergangenheit noch deren Begreifen«,226 aber es »schafft andere Möglichkeiten der Perspektivierung und der Reflexion«227 der eigenen Geschichte. Während Gesine die Erinnerung an das Haus von Beginn an mit einer gemeinsamen Familiengeschichte von Mutter und Tochter verbindet, lehnt Marie eine Übertragung auf ihre Person ab: »– Es ist unser Haus, Marie. / – Es soll nicht dein Haus sein!« (JT, 538; Hervorhebung P. O.) Am Ende des Tageskapitels greift Gesine diese Vorstellung wieder auf und stellt eine direkte Verbindung zwischen der Überlieferung und dem Erbe der familiären und mit ihr verschränkten kollektiven Geschichte her: »So steht es in Jerichow, und wird dein Erbe sein. / – Das will ich nicht. Ich wollte nur einmal versuchen, was das denn wäre, wovon du erzählst. Wie das aussieht.« (JT, 540) Schmidt zufolge handelt es sich in dieser Szene nicht um eine »Zurückweisung des Erbes«, sondern um einen »Umschlag der Überlieferungssituation«.228 Marie wird von der Rezipientin der Überlieferung zu deren Mitgestalterin: »– Dann werde ich auch den Dachboden ausbauen. Für das, was nun kommt.« (JT, 540) Nicht nur, dass sie aus der Erzählung Gesines ein Modell des Elternhauses ihrer Mutter baut, sie stellt auch in Aussicht, den Status quo des Mnemotops um Zukünftiges zu erweitern. Damit wird die Zukunft nicht von der Vergangenheit entbunden, es wird aber ein Weiterleben in Aussicht gestellt, das von der obsessiven Bindung, wie sie sich in Gesine manifestiert, an die vergangene Schuld befreit. Dieses »Metaphernfeld der Hoffnung«229 wird durch die Umstände begünstigt, in denen Marie aufwächst und die es ihr erleichtern, das mnemologische Erbe der Mutter auszuschlagen. Wie Gesine es sich von ihren Eltern gewünscht hat, wächst Marie jenseits des Landes der (ehemaligen) Täter auf, spricht die deutsche Sprache, »als hätte sie Schmerzen im Hals«, und wünscht sich, »wir hätten einen richtigen Paß, einen hiesigen« (JT, 500). Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich Marie von der ihr nicht mehr zugänglichen Vergangenheit ihrer Familiengeschichte distanziert. Einige Monate später, am 4. Mai 1968, wird das Modellhaus auf dem Frühlingsbasar ihrer Schule als ein fertiggestelltes Haus der Öffentlichkeit präsentiert. Der Dachboden ist ausgebaut 224 225 226 227 228 229

Ebd., S. 273; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 272. Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 231. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 273. Ebd., S. 275. Ebd., S. 277.

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und enthält zahlreiche Hinweise auf die Überlieferung der Mutter an die Tochter. In einer Kammer befindet sich »Feuerholz zum Spielen«, auch verfügt das Haus über eine Räucherkammer, »nur daß sie leer ist« (JT, 1109). Kisten aus Holz verweisen auf das »abgestellte Flüchtlingsgepäck« (JT, 1109) und damit auf den Zeitpunkt der Vergangenheitserzählung. Mit dem Tageseintrag vom 13. April 1968 ist die Überlieferung der Jerichower Vergangenheit in der Nachkriegszeit angelangt. Nur zwei Tage später wird von der Aufnahme von Flüchtlingen im Cresspahl’schen Haus erzählt, darunter die aus Pommern geflüchteten Marie und Jakob Abs (vgl. JT, 994). Das Haus der Schuld wurde von Marie auf der Grundlage von Gesines Überlieferung um einen Dachboden ergänzt und somit vervollständigt. Als Ergebnis und Symbol einer gelungenen Überlieferung können Mutter und Tochter vom Modellhaus als einem Vehikel zur Aufarbeitung der Erinnerung an die Shoah Abschied nehmen230 und es auf kollektive Weise versteigern.231 Mit dem Hinweis auf die Fahrt an den Hafen wird auf die South Ferry als einem weiteren Erinnerungsort verwiesen. Für Gesine ist die Fähre als solche ein Teil ihrer mémoire involontaire, die Erinnerungen an Ereignisse in der Nachkriegszeit auslöst.232 Für Marie wiederum ist die South Ferry ein Teil ihrer USamerikanischen Identität: »In diesem Sinne verkörpert die Fähre für das Kind einen Erinnerungsort, an dem es mit jedem South Ferry-Tag seine amerikanische Zugehörigkeit bekräftigt.«233 Im Gegensatz zum Haus der Schuld ist die South Ferry ein Mnemotop für Mutter und Tochter. Entscheidender ist aber, dass es Gesine durch die Mithilfe Maries und in der Begegnung mit der jüdischen Kultur in ihrer gegenwärtigen Heimat gelungen ist, das Haus der Schuld erzählerisch so zu vervollständigen, dass eine für sie adäquate Form der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit unter den Vorzeichen der ›deutschen Schuld‹ möglich erscheint. Durch die kalendarischen Intertexte auf den jüdischen Festkalender 230 Vgl. hierzu ebd., S. 284. 231 Vgl. JT, 1110: »– Nicht holländisch versteigert, sondern amerikanisch«. Bei der amerikanischen Auktion (All pay-Auktion) zahlt ein Bieter umgehend die Differenz zwischen der von ihm gebotenen Summe und dem zuvor abgegebenen Gebot, sodass der Gewinner der Auktion derjenige ist, der als letztes gezahlt hat. Die Gesamtsumme setzt sich aus den Einzelbeiträgen aller Mitbieter zusammen. Ein solches Auktionsverfahren eignet sich insbesondere »als Instrument der Spendenaggregation für karitative Zwecke, ferner wenn die Bieter in der Finanzierung ihrer Gebote beschränkt sind«; Mario Martini: Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung. Möglichkeiten und Grenzen einer marktgesteuerten staatlichen Verwaltung des Mangels, Tübingen 2008, S. 325. Vgl. hierzu auch Beatrice Schulz: Lektüre von Jahrestagen. Studien zu einer Poetik der Jahrestage von Uwe Johnson, Tübingen 1995, S. 100: »Auf diese Weise entstehen hohe Beträge, ohne daß die einzelnen Käufer reich sein müßten. Das Ersteigerte aber geht damit symbolisch in der Gemeinschaft derer auf, die als Mitbietende ihr Interesse bekundet haben.« 232 Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 285f. 233 Ebd., S. 285.

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wird ein Modell der Überlieferung als Form der Aufarbeitung der Shoah exponiert – einer Überlieferung allerdings, das betont Schmidt, »ohne Gebot«.234 Purim In der Zeit zwischen der Übergabe des Hauses der Schuld an Gesine zu Chanukkah und der endgültigen Fertigstellung feiern die Juden noch zwei weitere Feste, die Eingang in die Jahrestage gefunden haben. Obwohl der Tageseintrag vom 13. März 1968 zu einem der kürzeren Kapitel des Romans gehört, deutet die um einen klassischen Jahrestag ergänzte Datumsangabe die besondere Bedeutung des Tages an. Vor dem Hintergrund des für den mnemologischen Rahmendiskurs zentralen Komplexes der ›deutschen Schuld‹ wird die Bedeutung noch einmal gesteigert, handelt es sich bei der Ergänzung um einen von nur zwei in den Zwischentiteln wiederzufindenden jüdischen Festtagen: »13. März 1968 Freitag Purim« (JT, 862).235 Der Beginn des Textsegments nimmt auf den in der Datumsangabe exponierten jüdischen Jahrestag direkt Bezug, indem auf einen wenige Tage zuvor in der New York Times veröffentlichten Artikel zurückgegriffen wird,236 um den biblischen und rituellen Hintergrund des Festes wiederzugeben: Seit die Sonne unten ist, lesen die Juden in ihren Synagogen und Tempeln die Geschichte von der Königin Esther, die sie vor dem persischen Tyrannen Haman gerettet hat. Mordechai erzählte ihr von den finsteren Machenschaften Hamans, des Ratgebers beim persischen König Ahasver, und so mußten die Juden nicht sterben an den Purim-, den Lostagen, die schon bestimmt waren. Wenn die Kinder die Geschichte hören, wirbeln sie mit Ratschen, damit der Lärm den Namen Haman verdeckt, und die Kinder bekommen Köstliches, das gibt es nur für diesen Tag. (JT, 862)

Durch den Bezug auf das Buch Esther, das im babylonischen Exil spielt und in dem die Titelfigur zum »Paradigma der jüdischen Diasporaexistenz«237 wird, 234 Ebd., S. 336; Kursivdruck im Original. 235 Der zweite ebenfalls im Zwischentitel erwähnte jüdische Festtag ist mit Jom Kippur der höchste jüdische Feiertag. 236 Vgl. Irving Spiegel: Jews Will Mark Purim Wednesday. Festival Starting at Dusk to Stress Religious Freedom, in: The New York Times, Nr. 40.223 vom 10. 3. 1968, S. 60: »In synagogues and templey, the Biblical story of Queen Esther, who saved the Jews from the Persian tyrant Haman, will be related from the Book of Esther, which is embodied in rolled scrolls called Megiloth. Queen Esther learned of the plot from her uncle Mordecai, about the machinations of Haman, the adviser to Ahasuerus, King of the Persian Empire. Purim, itself, means ›lots‹ which was the method used to select the day on which the Jews would be destroyed. […] One of the chief delights of the festival is the reading of the story to children, who twirl ratchet-like noisemakers to blot out the name of Haman each time it comes up. In homes, special delicacies will be served to the children.« 237 Erich Zenger: Das Buch Esther, in: ders. u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 302–311, hier: S. 303.

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kann Purim als das »Fest der Diaspora« bezeichnet werden.238 Wie kein anderes jüdisches Fest symbolisiert es die Ambivalenz zwischen der drohenden Zerstörung der Religionsgemeinschaft durch einen Haman, den »Prototyp des Judenhassers, de[n] Vertreter des Antisemiten«,239 und der wunderhaften Errettung »als Zeichen Gottes«240 gegenüber seinem auserwählten Volk in der Diaspora: »Was können Antisemitismus und Pogrome uns schon anhaben? Wir sterben nicht!«241 Der biblisch-kalendarische Intertext findet vor dem Hintergrund der von Gesine empfundenen Schuld an der Shoah, die in keinem jüdischen Fest so zum Ausdruck kommt wie zu Purim, in der textuellen Struktur des Tageskapitels seine Entsprechung. Die New York Times-Meldungen sind einzig auf den Gegenstand des Purim-Festes beschränkt. Die symbolische Erinnerung an die sich historisch wiederholende Verfolgung der jüdischen Religionsgemeinschaft versetzt Gesine in eine Starre, die die Fokussierung auf andere Themen zumindest an diesem Tag unmöglich erscheinen lässt. Ausdruck dessen sind fünf Absätze, die auf die Zeitungsmeldung folgend kurze sequenzartige Assoziationen der Protagonistin zum Fest und seinem Hintergrund widerspiegeln. Sie alle zeugen von einer »Beklommenheit«,242 die in Formen wie »Raus hier«, »– Night« und »Damit ich erschrecke« widerhallt (JT, 863; Kursivdruck im Original). Der Kauf von »Gefilte Fish« (JT, 862; Kursivdruck im Original) als »traditional appetizer at many Jewish holiday meals«243 wie auch die unter den jüdischen Bewohnern des Viertels übliche Bezeichnung des Riverside Parks als »Schabbes-Park« (JT, 863) zeugen von Gesines interkulturellen Kontakten zu ihren jüdischen Nachbarn und deren Leben in New York. Zugleich sind sie aber auch Ausdruck einer mit ihren Schuldgefühlen verbundenen Angst, »von den Juden als Person zurückgewiesen und allein über ihre nationale Zugehörigkeit als Täterin und Mitschuldige am Holocaust identifiziert zu werden«.244 Anders verhält sich die Situation für Marie. Am Haus der Schuld ihrer Mutter partizipiert sie nicht, weil sie mit dem interkulturellen Austausch in ihrer Heimat New York aufgewachsen ist. Die beiden jüdischen Mädchen Rebecca Ferwalter und Pamela Blumenroth gehören zu Maries Freundeskreis, ohne dass das erlittene Leid und die begangene Schuld der Großeltern- und Elterngeneration das Verhältnis der Kinder (gegenwärtig) belasten würde. Dass diese Beziehung zwischen Marie und ihren jüdischen Freundinnen für die US-amerikanische 238 239 240 241 242 243 244

Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 194. de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 125. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 201. de Vries, Jüdische Riten und Symbole, S. 125. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 232. Joyce Eisenberg/Ellen Scolnic: The JPS Dictionary of Jewish Words, Philadelphia 2001, S. 45. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 232.

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Gesellschaft nicht prototypischen Charakters ist, davon gewähren die in den Roman integrierten Beobachtungen der Protagonistin von Hakenkreuzen auf Plakaten jüdischer Firmen (vgl. JT, 983), Beschimpfungen wie »bastard of a jew« (JT, 21) oder der Umstand, dass trotz eines Bevölkerungsanteils von fünfundzwanzig Prozent »bloß 4,5 % der 2104 höheren Angestellten in den 38 größeren Konzernen der Stadt« (JT, 612) jüdischen Glaubens sind, einen Eindruck.245 Auf die Ambivalenz einer von Multikulturalität und Diskriminierung geprägten US-amerikanischen Gesellschaft deutet der in das Tageskapitel integrierte und zum Komplex Judentum und Shoah nicht gehörende Konflikt zwischen Marie und einer dritten Freundin hin. Da ihre Freundinnen Rebecca und Pamela den Abend in der Synagoge verbringen, unternimmt Marie einen zweiten Versuch, sich mit ihrer schwarzen Freundin Francine auszusöhnen. Der erste liegt vier Tage zurück und nachdem Marie mit einem Anruf im städtischen Obdachlosenhotel Francine nicht erreichen kann, macht sie sich auf, ihre Klassenkameradin »in den Slums der Oberen Westseite« (JT, 841) zu suchen. Der knappen Erwähnung, dass »Mrs. Cresspahl and her daughter went slumming this afternoon« (JT, 847) und Francine nicht zu finden war, ist ein Porträt der Slums vorangestellt, in dem die Armut der dort lebenden Schwarzen beschrieben und eine politisch-gesellschaftliche Bewertung vorgenommen wird: Keine Gruppe hat um ihre Rechte so lange kämpfen müssen wie die Neger. Die davongelaufenen und freigelassenen Sklaven, die im vorigen Jahrhundert in den lässigeren, weniger eingebildeten Norden kamen, wurden da doch isoliert in reservierten Vierteln, ausgebeutet von »weißen« Hausbesitzern und Kaufleuten, ausgeschlossen von gleichberechtigter Erziehung und Ausbildung, immer zuerst gekündigt, immer zuletzt angestellt […]. Was immer die Wurzel sein mag für die traumatische Aussperrung durch die Weißen, die Gruppe der Neger muß aus diesem Grund die höchsten Verluste im Arbeitskampf hinnehmen, konsequent stellen sie die meisten derjenigen Bürger, die die Hoffnung auf Arbeit aufgegeben haben, die zu dieser Hoffnung nie imstande waren, die sich fallen lassen in den Slum. Der Slum ist ein Gefängnis, in das die Gesellschaft jene deportiert, die sie selbst verstümmelt hat. (JT, 844f.)

Marie wächst in einer von weißen Christen, die für den Antisemitismus auf der einen wie den Rassismus gegenüber Schwarzen auf der anderen Seite verantwortlich zeichnen, dominierten Gesellschaft auf. Ein Abbild dieser gesellschaftlichen Zustände ist ihre Schulklasse, in der Francine die einzige Schwarze ist. In Maries Wahrnehmung ist sie eine »Ausnahme vom Leben in diesem Land«, eine »Alibinegerin«, weil sie kostenlos die Privatschule besuchen darf (JT, 218). Aus der zunächst empfundenen ›Strafe‹, Francine zur Tischnachbarin zu ha245 Zur Darstellung der interkulturellen Ambivalenz in der Metropole New York in den Jahrestagen vgl. etwa Norbert Mecklenburg: Nachbarschaften mit Unterschieden. Studien zu Uwe Johnson, München 2004, S. 75–96; Michael Hofmann: Uwe Johnsons Jahrestage als Text der Neuen Weltliteratur, in: Johnson-Jahrbuch 26, 2019, S. 193–213, hier: S. 202–210.

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ben,246 entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den Mädchen und ein Gefühl der Fürsorge, aus dem heraus die Cresspahls sie bei sich aufnehmen: »Heute haben wir Francine verloren. Nur zwölf Tage war sie in der Wohnung, und wir hätten es länger ausgehalten mit ihr. Sie war nun fast zu Hause gewesen mit uns.« (JT, 769) Dennoch kommt es innerhalb der Schulklasse zum Konflikt zwischen den Mädchen, weil Francine sich im Unterricht auf die Hilfe ihrer Freundin verlässt, sobald sie etwas nicht versteht: – Ich habe ihr geholfen zu etwas, das sie nicht kann. – Laß ihr doch Zeit. – Gesine, sie muß in einer fünften Klasse lernen, was sie in der sechsten braucht. Right? Right. – Also wird sie immer hinter uns anderen her sein. Du redest wie Mrs. Linus L. Carpenter III. »Wir sind von ganzem Herzen dafür, daß auch Neger in solchen Wohnungen leben dürfen wie wir. – Vielleicht sollten wir das aber nicht in unserer besonderen, verzwickt gelagerten und anders gewachsenen Hausgemeinschaft beginnen«. Gesine, ich habe nicht eine Wohnung zu vergeben, sondern eine Schuld, die ich nicht will! (JT, 731)

Die Schuldgefühle spiegeln Maries gesellschaftliche Sozialisation in einer rassistischen US-amerikanischen Gesellschaft wider. Sie bringen eine (vorläufige) Identitätskrise als Folge der Schwierigkeiten moralischer Subjektwerdung zum Ausdruck, in der Gesines Tochter zwischen der Zugehörigkeit zur Gruppe der weißen (christlichen) Mehrheit und der Freundschaft zu einem Mädchen der schwarzen, ausgegrenzten Minderheit hin- und hergerissen ist.247 Der zweite Aussöhnungsversuch im Purim-Kapitel, der nötig wird, weil Marie kein Verständnis dafür aufbringen kann, »daß Francine zu der eigenen Mutter nicht zurückkehren wollte« (JT, 831), bildet die letzte im Roman erwähnte Begegnung der beiden Mädchen. Aus der Erinnerung Maries verschwindet sie jedoch nicht. An ihrem elften Geburtstag schreibt sie Anita, wie sie Francine in den Slums erneut gesucht habe: »und selbst D. E. hat keine Spur. Francine hätte ich einladen mögen als erste. Vielleicht ist sie tot. Ein Grab würde D.E. finden.« (JT, 1591) Gleich im ersten Absatz nach der paraphrasierten New York Times-Notiz zum Purimfest erweitert der Erzähler das im Zeichen der ›deutschen Schuld‹ stehende Tageskapitel um eine generelle Reflexion zum Thema Diskriminierung durch die die westliche Welt dominierende weiße, christliche Klasse und löst den »Problemkreis des Gedächtnisses der Shoah aus einem nationalen Rahmen«248 heraus. Aufgerufen wird die Koinzidenz der Diskriminierung von Juden und 246 Marie empfindet den Akt der Lehrerin als »ungerecht«, weil sie »für alle einundzwanzig von uns die Arbeit machen soll mit der Alibinegerin« (JT, 219). 247 Vgl. hierzu Haker, Moralische Identität, S. 257f. 248 Hofmann, Jahrestage als Text der Neuen Weltliteratur, S. 209.

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Schwarzen bereits im Chapter without a date: »Die dunkelhäutige Dienerschaft des Ortes füllt eine eigene Kirche, aber Neger sollen hier nicht Häuser kaufen oder Wohnungen mieten und liegen in dem weißen grobkörnigen Sand. Auch Juden sind hier nicht erwünscht.« (JT, 7)249

Pessach Ähnlich dem Purim-Kapitel ist auch das sechste und letzte Tageskapitel, in dem ein jüdisches Fest aufgerufen wird, »so gut wie ausschließlich dem Judentum«250 gewidmet. Trotzdem ist der Tageseintrag vom 12. April 1968 als einziger mit einem christlichen Jahrestag überschrieben. Nach der Analyse des Kapitels vor dem Hintergrund des evangelischen Kirchenjahres und dem zweiten Trauma Gesines, der konkreten familiären Schuld Cresspahls am möglichen Schicksal des Juden Gronberg,251 wird die Aufgabe nachfolgend darin bestehen, die kalendarische wie inhaltliche Koinzidenz des christlichen Oster- und jüdischen PessachFestes im Kontext des jüdischen Festkalenders und des Hauses der Schuld herauszuarbeiten. Für Schmidt ist es vor allem dieser zweite kalendarische Intertext, die Bezugnahme auf das Pessach-Fest, der dem Tageseintrag seinen symbolischen Charakter verleiht: »Welche Zukunft hat die Schuld, und welche Zukunft hat die Erzählung? Diese beiden Fragen wirft jenes Tageskapitel auf.«252 Pessach, das erläutert der Erzähler unmittelbar im Anschluss an die GronbergEpisode, erinnert »an den Auszug aus Ägypten vor mehr als 2000 Jahren« (JT, 981). Das Fest in Gedenken an die Errettung der israelitischen Vorfahren aus der ägyptischen Gefangenschaft besteht aus ursprünglich zwei Festen, dem eintägigen Pessach am 14. Nissan mit dem zentralen Ritual eines Lammopfers und dem daran anschließenden siebentägigen Fest der ungesäuerten Brote, dem Mazzot-Fest.253 Beide Feierlichkeiten gehen auf archaische Naturfeste zurück, mit denen im Frühjahr der Fruchtbarkeit der Herde und des Getreides für das bevorstehende Jahr gedacht wurde.254 Sie stehen im Zeichen eines neuen Anfangs, der auch nach dem Aufgehen des Mazzot-Festes im Pessach sowie seiner historischen Umdeutung erhalten blieb und den Kern der Exodus-Erzählung bildet: Wir feiern also jeden Frühling symbolisch den Auszug aus Ägypten, gedenken der historischen Ereignisse, indem wir sie erzählen, und versetzen uns in das Erleben unserer Vorfahren. Jedes Jahr, wenn der Frühling anbricht, erinnern wir uns daran, daß wir Knechte des Materiellen waren, ohne Kenntnis und Wissen des geistigen Gesetzes, das 249 250 251 252 253 254

Vgl. hierzu Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 25. Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 607. Vgl. Dritter Teil, Kap. 1.1. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 258. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 38. Ebd., S. 39.

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Mnemologischer Rahmendiskurs: »12. April, 1968 Karfreitag«

uns befreit. Und jedes Jahr, wenn der Frühling anbricht, hoffen wir von neuem auf die endgültige Erlösung.255

Die Hoffnung auf endgültige Erlösung ist eng mit dem Propheten Elia verknüpft, der der biblischen Überlieferung zufolge die messianische Zeit ankündigt: »23Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn. 24Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, daß ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.«256 Für sein mögliches Erscheinen wird Elia auf der Ssedertafel ein Becher mit Wein bereitgestellt, teilweise sogar ein vollständiges Gedeck.257 Verschiedene Legenden erzählen, wie Elia als »Retter aus Not und Gefahr« am Ssederabend erschien und in einer Weise handelte, »die ihn zu erkennen geben könnte, doch die Gastgeber begreifen erst, nachdem der Gast verschwunden ist, daß er es war«.258 Vor diesem Hintergrund erscheint die Episode um den entflohenen KZHäftling Gronberg in einem anderen Licht. Zwar fallen Sseder und Karfreitag, anders als auf der Gegenwartsebene, neunundzwanzig Jahre zuvor nicht zusammen, doch lässt der Text offen, wann Gronberg zu Cresspahl kam. Erzählt wird nur, dass Gesines Vater ihn so lange im Haus behielt, »wie er den Besuch noch als Erkundigung nach dem Weg ausgeben konnte« (JT, 981). Aus der Bemerkung, »er mag ihn auch zum Essen eingeladen haben« (JT, 981), ließe sich schließen, dass der Aufenthalt nur wenige Stunden betragen haben muss, doch verweist die Akzentuierung des Essens vielmehr auf das Ssedermahl, das der Erzähler im folgenden Abschnitt zum Beginn des Pessachfestes ausführlich schildert: und bei den Ferwalters wird das nur dies Mal im Jahr benutzte Geschirr stehen mit dem Gebäck und dem Wein, den Symbolen für Mörtel und Stein der ägyptischen Pyramiden, und Rebecca wird die vier Fragen zur Eröffnung des Festes stellen, viermal werden Ferwalters Wein trinken, auf die Erlösung der Juden aus der Leibeigenschaft, aus der Sklaverei, aus der Abhängigkeit von Ägypten und schließlich auf die Beförderung zum auserwählten Volk, dem selektierten (JT, 981).259 255 256 257 258 259

Ebd., S. 46. Mal 3,23f. Vgl. auch Mt 11,14; 17,10–12. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 48. Ebd., S. 50. Gal-Ed gibt einige dieser Legenden wieder; vgl. ebd., S. 50–56. Als Vorlage für die ausführliche Darstellung des symbolischen Festmahls am Ssederabend dient erneut ein Artikel der New York Times. In Passover to Begin With Ritual Meal On Friday Evening werden der historische Hintergrund und das liturgische Prozedere des Ssederabends erläutert: »The week-long joyous festival of Passover, commemorating the liberation of the Israelites from Egyptian bondage more than 2,000 years ago, will start at sundown Friday. The first two evenings, the holiday is celebrated with the Seder, a ritual meal that embodies a religous service and symbolic foods. The youngest member of the family poses four traditional questions at the beginning of the Seder, which sets the stage for

Der jüdische Festkalender

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Gronberg wird durch den biblisch-kalendarischen Intertext symbolisch zu einer Transfiguration des Propheten Elia erhoben. Gesines Vater wird die Gnade nicht zuteil, die Situation zu erkennen, weil er gegen seinen eigenen moralischen Grundsatz verstößt (vgl. JT, 390).260 Aus der Perspektive seiner Tochter, die die konkrete Situation symbolisch auflädt, hat Cresspahl die Hoffnung auf Erlösung der familiären Schuld verstreichen lassen.261 Ganz im Gegenteil erkennt sie in der ›unterlassenen Hilfeleistung‹ ihres Vaters einen Wandel von der abstrakt-kollektiven zu einer konkret-familiären Hypothek, die ihren obsessiven Umgang mit der ›deutschen Schuld‹ maßgeblich beeinflusst. Die Hoffnung auf endgültige Erlösung wird am Ssederabend durch die narrative Repetition der wunderhaften Errettung der Vorfahren aus der ägyptischen Knechtschaft ausgedrückt. Angeleitet wird diese »erinnerte Erlösung«262 durch die Haggadah, die neben Gebeten, Erklärungen und Liedern die aus vier Abschnitten bestehende volkstümliche Pessach-Erzählung enthält.263 Die vier Becher Wein, von denen je zwei vor und zwei nach dem Festmahl getrunken werden, »markieren Anfang und Ende eines jeden Abschnittes der Haggadah«.264 Die Überlieferung wird durch das jüngste Kind der Familie initiiert, bei den Fer-

260 261 262 263 264

telling the Exodus story as related in the first of the five books of Moses. On the table are the symbolic foods such as matzohs, or unleavened bread, to recall the hasty provisions of the flight. There is charoseth, a pastry made of nuds, raisings, apples, cinnamon, and wine – which signifies the mortar the Israelites used to make bricks for Egyptian pyramides and monuments. Moror, or better herbs, are on the table, for the period of bondage. […] Four cups of wine are consumed, symbolizing that when Moses, the central figure in the Exodus story, was sent by God to deliver the Israelites from Egypt, Moses promised four different types of redemption: release from bondage, deliverance from servitude, redemption from dependence on Egypt, and selection as ›the people of the Lord.‹«; Passover to Begin With Ritual Meal On Friday Evening, in: The New York Times, Nr. 40.223 vom 7. 4. 1968, S. 33. Darüber hinaus kommen in diesem Artikel Sprecher verschiedener jüdischer Gruppen zu Wort, die an Freiheit und Gleichberechtigung appellieren, darunter Henry N. Rapaport, der als Präsident der United Synagoge of America »pleaded for a greater effort to help American Negroes achieve full equality«; ebd. Am Tag des Ssederabends erschien ein weiterer Artikel, in dem berichtet wird, dass »Jewish religious leaders yesterday compared the tribulations of the ancient Israelites under Egyptian rule to the American Negro’s struggle for full equality«; Irving Spiegel: Passover Begins At Sunset Today. Rabbis Compare Plight of Negroes With Israelites, in: The New York Times, Nr. 40.256 vom 12. 4. 1968, S. 44. Aufgegriffen wird damit in beiden Artikeln eine Parallele zwischen der Diskriminierung von Juden und Schwarzen, die auch im Purim-Kapitel der Jahrestage angelegt ist. Vgl. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 56: »Elia zu sehen oder zu erkennen ist eine Gnade, die nicht jedem zuteil wird. Sie hängt vor allem von der eigenen Reinheit und der Rechtschaffenheit ab.« Vgl. auch Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 258. Gal-Ed, Buch der jüdischen Jahresfeste, S. 40. Vgl. ebd., S. 36. Ebd.; Kursivdruck im Original.

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Mnemologischer Rahmendiskurs: »12. April, 1968 Karfreitag«

walters durch Rebecca,265 das so symbolisch in die gemeinsame Identität der religiösen Gemeinschaft eingeführt wird. Es lernt, dass der Auszug aus Ägypten als Erinnerungsfigur der »Gründungsakt schlechthin« ist, »der nicht nur die Identität des Volkes, sondern vor allem auch des Gottes begründet«.266 Als Ort der Überlieferung der religiösen Identität fungiert die Familie, was sich in der Überlieferungssituation der Jahrestage, das hat bereits Schmidt herausgearbeitet, spiegelt: Anhand ihrer Vorfahren erzählt Gesine »die Geschichte der Familie als Geschichte der Nation«267 vom Jahr 1888 bis zum Einsetzen von Maries Erinnerung 1961.268 Als Form der Überlieferung bleibt die Familiengeschichte aber auf die Ich– Identität beschränkt und vollzieht nicht den Schritt hin zu einer kollektiven Identität, wie sie durch die Erzählung des zum Symbol gewordenen Auszugs aus Ägypten gestiftet wird.269 Auch wenn diese Form der Überlieferung weder innerhalb des Romans gegenüber Marie noch als Roman gegenüber dem Leser einen »institutionalisierten Anspruch auf eine Annahme«270 erheben kann, stellt dies nicht die Form als solche infrage. Vielmehr wird der Fokus auf den Umstand gelenkt, dass durch die Shoah als zivilisatorische Zäsur eine ›deutsche Identität‹ grundsätzlich zur Disposition steht. Die Jahrestage sind insofern eine »Überlieferung ohne Gebot«,271 weil die ethischen und religiösen, gesellschaftlichen und politischen Regeln der Erinnerungsbildung durch deren Missbrauch in den zwölf 265 Zu den vier Fragen, die zur Eröffnung des Festes vom jüngsten Kind gestellt werden, vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 15f. 266 Ebd., S. 202. Assmann führt hierzu weiter aus, dass dies bedeute, dass das Volk, die religiöse Gemeinschaft »von allem Anfang her […] durch die Auswanderung und Ausgrenzung bestimmt« werde; ebd. 267 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 303. 268 Vgl. JT, 1875: »– In New York wurde ich vier. Endlich sind wir angekommen, wo meine Erinnerung Bescheid weiß. Welcome home!« 269 Erving Goffman zufolge konstituiert sich Ich–Identität aus dem Wechselverhältnis von sozialer und persönlicher Identität. Die soziale Identität umfasst die in der Gesellschaft verankerten normativen Erwartungen an eine Person, persönliche Identität entsteht durch die einmalige Kombination von Merkmalen und Eigenschaften einer Person; vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1975, S. 9f., 74. Sowohl die soziale als auch die persönliche Identität sind »Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht«, wohingegen Ich–Identität eine »subjektive und reflexive Angelegenheit [ist], die notwendig von dem Individuum empfunden werden muß, dessen Identität zur Diskussion steht«; ebd., S. 132. Aus dieser Herleitung wird deutlich, dass Ich–Identität »immer ein gesellschaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität« ist, sodass sich Ich- und Wir- bzw. kulturelle Identität darin unterscheiden, dass letztere nicht »auf die natürliche Evidenz eines leiblichen Substrats bezogen ist. Die Evidenz kollektiver Identität unterliegt einer ausschließlich symbolischen Ausformung«; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 270 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 303f. 271 Ebd., S. 353; Kursivdruck im Original.

Der jüdische Festkalender

479

Jahren zwischen 1933 und 1945 in ihrer Legitimation gefährdet sind. Für die Neubestimmung einer nationalen Identität nach Auschwitz führt an der Aufarbeitung der individuellen wie kollektiven Schuld im nationalsozialistischen Deutschland kein Weg vorbei. Das hierfür symbolisch durch Marie gestiftete Haus der Schuld findet mit dem Tageseintrag vom 12. April 1968 und dem intertextuellen Verweis auf das Pessachfest seinen Abschluss. Im darauffolgenden Tageskapitel ist die Vergangenheitserzählung in der Nachkriegszeit angelangt. Marie fragt ihre Mutter, wie die Sowjets zu ihr waren und Gesine entgegnet: »– Nach Jerichow kamen doch die Briten, Marie.« (JT, 983) Die kalendarische Grundstruktur der Jahrestage ordnet nicht nur die 367 Textsegmente der knapp 2.000 Seiten umfassenden Erzählung, sondern stiftet durch den Rekurs auf verschiedene Kalendersysteme den zentralen Diskurs des Romans. Zwei dieser Kalendarien sind das evangelische Kirchenjahr und der jüdische Festkalender. Ausgelöst durch die Überlieferungssituation des Romans, Gesines erzählerische Vermittlung der familiären Vergangenheit an ihre Tochter Marie, werden zwei zentrale Traumata der Protagonistin sukzessive aufgearbeitet. Zur Sprache gebracht werden beide Traumata, das gestörte Verhältnis zur verstorbenen Mutter und der obsessive Umgang mit der nationalen Schuld, durch drei Jahrestage des evangelischen Kirchenjahres. Der jüdische Festkalender hingegen prägt maßgeblich die Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹, indem Gesine dessen Feste, beginnend mit dem jüdischen Neujahrsfest, Ro’sch haSchanah, am 4. Oktober 1967 bis zum beginnenden Pessachfest am 12. April 1968, mitbegeht und in diesem Zeitraum von etwas mehr als einem halben Jahr die nationalsozialistische Vergangenheit im mecklenburgischen Jerichow erzählt. Die religiösen Jahrestage dienen dabei als initiierende Intertexte, die die Erinnerung der Protagonistin auslösen (mémoire involontaire) und strukturieren (mémoire volontaire). Dass auch das Muttertrauma Gesines unmittelbar mit den historischen Ereignissen im nationalsozialistischen Deutschland verknüpft ist, wird durch die kalendarische Anordnung innerhalb der sechseinhalb Monate des jüdischen Festkalenders deutlich. Im Ergebnis konstituieren die religiösen kalendarischen Intertexte einen Abschnitt von Gesines Erinnerungsreise, die die Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ zum Gegenstand hat. Möglich wird die Aufarbeitung von Gesines Traumata durch die erzählerische Überlieferung an ihre Tochter. Die Familie wird zum Ort, die Erzählung zum Mittel der Überlieferung. Die kalendarische Korrespondenz dieser Überlieferungssituation zum Ssederabend, für den die familiäre Erzählung der Errettung aus der ägyptischen Knechtschaft zum Symbol einer kollektiven Identität im Zeichen der Hoffnung auf die zukünftige Erlösung geworden ist, erzeugt ihrerseits Hoffnung. Diese Hoffnung besteht in der Möglichkeit einer nationalen Identität nach Auschwitz und auf eine Normalisierung des deutsch-jüdischen

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Mnemologischer Rahmendiskurs: »12. April, 1968 Karfreitag«

Verhältnisses.272 Zumindest letzteres ist im Roman in der Freundschaft Maries zu Rebecca Ferwalter und Pamela Blumenroth angelegt. In der Folge soll entlang des Romanverlaufs nachvollzogen werden, inwieweit andere »traditionelle Überlieferungsinstitutionen wie Kirche und Schule«273 für einen Erinnerungsprozess im Zeichen einer schonungslosen Aufarbeitung der (deutschen) Vergangenheit geeignet bzw. ungeeignet erscheinen. Gemäß dem Gegenstand dieser Arbeit liegt der Fokus dabei auf der Institution Kirche und ihrer gemeindlichen Praxis – vor, aber auch nach 1945, in Jerichow und New York.

272 Vgl. hierzu ebd., S. 288. 273 Ebd., S. 325.

3.

Religiöser Diskurs: Die »zwei Deutschen ohne Konfession«

Um der Rolle der Kirche als einer traditionellen Überlieferungsinstitution nachgehen zu können, soll zunächst das Profil des religiösen Diskurses in den Jahrestagen skizziert werden. Im Vergleich zu Johnsons vorherigen Romanen ist die ausgesprochen umfangreich und komplex. Beinahe alle zentralen Figuren des Romans werden hinsichtlich ihrer konfessionellen Bindung oder Nichtbindung charakterisiert. Neben der für die Vergangenheitshandlung bedeutenden Petrikirche in Jerichow werden diverse weitere Kirchengebäude erwähnt, in Gneez, Rerik, Rostock und Schwerin, in New York, Newark, Prag und Berlin. Bereits auf der ersten Romanseite wird eine Kirche genannt, um die Größe der Gruppe der schwarzen Bewohner in Gesines Ferienort zu umschreiben (vgl. JT, 7). Und selbst das Spektrum religiöser Gruppierungen erstreckt sich auf unterschiedliche Konfessionen.

3.1

Die New Yorker Gegenwart

Eine religiöse Vielfalt wird insbesondere für das New York der erzählten Gegenwart der Jahre 1967 und 1968 betont. In der Wohngegend von Gesine und Marie leben »Juden zu dreißigtausend unter der doppelten Zahl von angelsächsischen Protestanten, irischen und italienischen Katholiken und den zwei Deutschen ohne Konfession« (JT, 574). Neben dem Hinweis auf ihre Konfessionslosigkeit entsteht der Eindruck, als würden Gesine und Marie in einer rundum konfessionellen Welt leben. Neben der jüdischen Kolonie am Riverside Drive und an der West End Avenue (vgl. JT, 52) befinden sich in der Nähe ihrer Wohnung christliche Einrichtungen wie »die Kirche des Unfertigen Johannes und die von Rockefeller, genannt Riverside, dann noch das Krankenhaus des Heiligen Lukas, auch besucht von New Yorkern, für die es noch lange nicht Matthäi am Letzten ist« (JT, 573). Über die erstgenannte, die »Kirche des Heiligen Johannes von Gottes Gnaden«, erfährt der Leser, sie sei die

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Religiöser Diskurs: Die »zwei Deutschen ohne Konfession«

größte gotische Kathedrale der Welt, drei Blocks breit, von der 111. bis zur 113. Straße an der Amsterdam Avenue, begonnen 1891, nicht weitergebaut seit 1941, nicht fertig ohne die geplante Mittelkuppel und die beiden Türme zum Westen hin. Wir haben sie schon immer die Kathedrale des Unvollendeten Johannes genannt. Jetzt soll sie es bleiben, solange Horace W. B. Donegan Bischof von New York ist (JT, 239).1

Die zweite erwähnte Kirche, die interkonfessionelle Rockefeller Church, »die Gott von einem Rockefeller zum Andenken an seine Mutter gestiftet war«,2 beherbergt Maries Kindergarten: »Für dein Kind, Gesine Cresspahl, mußte es gleich ein privater Kindergarten sein, und es machte dir nichts aus, daß er veranstaltet wurde in einer Kirche« (JT, 99; Kursivdruck im Original). Auch für die schulische Bildung ihrer Tochter wählt Gesine nicht eine städtische Schule aus »in eine[m] der schäbigen Ziegelkästen, die stinken nach fiskalischem Geiz«, sondern eine »Privatschule auf den nördlichen Höhen am Riverside Drive, und eine katholische dazu« (JT, 99f.; Kursivdruck im Original).3 Angesichts der Vorstellung der beiden Cresspahls als die »zwei Deutschen ohne Konfession« ist es überraschend, dass mit dem Kindergarten und der Schule die beiden Institutionen, die maßgeblich zu Maries Sozialisation beitragen, konfessionell gebunden sind. Dass es sich hierbei mitnichten um einen Zufall handelt, wird deutlich, wenn man das jüdische und christliche Leben in New York mit dem Beziehungsgeflecht Gesines und insbesondere Maries in der US-amerikanischen Großstadt in Beziehung setzt. Als Freundinnen Maries werden in erster Linie Rebecca Ferwalter und Pamela Blumenroth vorgestellt. Beide sind jüdischen Glaubens und repräsentieren mit ihren Familien »sozialgeschichtlich relevante[] Teilgruppen des Judentums«.4 Auf der einen Seite die »kleinbürgerlichen Ferwalters«,5 mit einer engen Bindung, 1 Die Kathedrale St. John the Devine trägt auch heute noch mit 601 ft (ca. 183 m) das Attribut der »largest Cathedral in the world, meaning a church that is also the seat of a Bishop«, und ist die Mutterkirche der New Yorker Diözese der anglikanischen Episkopalkirche der Vereinigten Staaten von Amerika; The Cathedral Church of Saint John the Devine: About the Cathedral. URL: https://www.stjohndivine.org/visit/history/ [Zugriff vom 31. 5. 2020]. 2 John D. Rockefeller jr. unterstützte den Bau der Kirche und stiftete in Gedenken an seine Mutter Laura Spelman Rockefeller ein Glockenspiel im 392 ft (ca. 119 m) hohen Glockenturm; vgl. Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 104; The Riverside Church: History and Architecture. URL: https://www.trcnyc.org/history/ [Zugriff vom 31. 5. 2020]. 3 Als Vorbild für diese Schule diente die St. Hilda’s and St. Hugh’s School, »eine 1949 gegr. Privatschule, die Kindergarten, Vorschule und die Klassen 1–12 umfaßte und von Episkopalischen Schwestern geleitet wurde«; Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 105. 4 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 604. 5 Ebd., S. 605. Zunächst wird Mrs. Ferwalter als eine Frau vorgestellt, die sich »Freiheiten mit ihrem Gott« (JT, 47) nehme. Im Tageskapitel vom 28. Februar 1968 wird sie hingegen als eine orthodoxe Jüdin charakterisiert: »Sie hält die Feste streng ein, oft genug werden Rebecca und Marie auseinandergebracht. Am Sonnabend ist für Rebecca schon das Spazierengehen, das Besuchemachen im Grunde verboten. Am Freitag ist der Hausputz, wird das Essen vorgekocht und warm gehalten, damit sie am nächsten Tag Gas nicht anzünden muß. Am Sabbath darf Rebecca nicht baden. Sie muß mit Vater und Bruder in die Synagoge, und wenn sie eher

Die New Yorker Gegenwart

483

einem »scharfen Vertrag« (JT, 791) zu ihrem Gott, auf der anderen Seite die »vermögenderen Blumenroths« mit einem liberaleren Glauben,6 sodass der Erzähler explizit erwähnt, dass Purim ein Fest ist, »an dem nicht nur Rebecca Ferwalter teilnimmt; auch Pamela Blumenroth kam an diesem Abend nicht in das Schwimmbad unter dem Hotel Marseille« (JT, 862). Wie an dieser Stelle werden gemeinsame Aktivitäten der Freundinnen beinahe ausschließlich ex negativo und vor dem Hintergrund von Gesines obsessivem Schuldempfinden geschildert. Selbst das gemeinsame Spielen von Marie und Rebecca auf einem Spielplatz im Riverside Park dient lediglich als Kulisse für die Einführung von Mrs. Ferwalter in die Erzählung (vgl. JT, 44–48). Dass die Wahrnehmung von Maries Freundschaften maßgeblich durch ihre Mutter bestimmt ist, veranschaulicht ein Brief Maries an Anita Gantlik: »Es war mein erster Geburtstag ohne eine Gesellschaft. Zehn Gäste hätt ich leicht haben können.« (JT, 1591) Von diesen potentiellen Gästen des Kindergeburtstags ist dem Leser allerdings nur noch eine weitere Freundin namentlich bekannt: Francine. Als einzige Mitschülerin Maries erhält sie ein Gesicht und einen Namen – und das bereits, bevor sie für einige Tage bei den Cresspahls unterkommt. Alle anderen Mitschülerinnen subsumiert Maries Mutter hingegen unter dem semantischen Kollektivum der »weißen Freundinnen« (JT, 730). Ganz ähnlich verhält es sich in Maries Kindergarten. Neben ihrer Freundin Pamela Blumenroth erhält aus ihrer Kindergartenklasse noch »Mark der Küsser« (JT, 435) einen Namen. Im Zentrum des Tageseintrags vom 11. Dezember 1967 steht aber Maries erster (männlicher) Freund »in diesem Lande« (JT, 434), der schwarze Junge Edmondo Barrios. Als Achtjähriger aus Ost Harlem, einem »Ghetto«, ist er vier Jahre älter als Marie und in ihrer Klasse nur wegen der vierjährigen Verspätung in der Entwicklung seines Gemüts, und Edmondo besuchte den Kindergarten mit dem Stipendium der Kirche selbst und galt als erstes Objekt eines Experiments, und vor einer Verweisung aus dem Haus schützte ihn dann noch seine Hautfarbe. Die Kirche hätte ihren guten Willen nicht gern ohne äußerste Not verdächtigt gesehen. (JT, 436)

Der Verweis auf die ›Menschen guten Willens‹ aus Lk 2,147 verortet die christlichen Kirchen in der New Yorker Gegenwart im Kontext eines ethischen Disversehentlich in der Imbißhalle ein Eis gegessen hat, vor Gott fürchtet sie sich dann weniger als vor der Mutter. Rebecca ist lange erzogen worden nach finsteren Prinzipien des Alten Testaments: züchtige ich nicht mein Kind? beweise ich nicht, daß ich es liebe?« (JT, 791) Vgl. hierzu Spr 19,18; 23,24. In Heute Neunzig Jahr überträgt die diegetische Erzählerin den biblischen Intertext auf ihre Mutter Lisbeth: »Da hat meine Mutter mich hungern lassen. Wer aber sein Kind liebhat, der züchtiget es und errettet seine Seele von der Hölle.« (HNJ, 95) Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 5.2. 6 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 605. 7 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3.3.1.

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Religiöser Diskurs: Die »zwei Deutschen ohne Konfession«

kurses. Aufgegriffen wird der »gute[] Wille[] der Kirchen zu Gunsten der Neger« (JT, 608) im Tageseintrag vom 18. Januar 1968 und auch die Kathedrale St. John the Devine soll den Beinamen »des Unvollendeten Johannes« nicht nur solange tragen, wie Horace W. B. Donegan Bischof New Yorks ist, sondern »bis die Qual der benachteiligten Bürger in den umgebenden Slums gelindert ist« (JT, 239). Sich für die Benachteiligten und Armen des Landes einzusetzen, wird wiederholt als eine zentrale Aufgabe der christlichen Kirchen (in den USA) hervorgehoben. Die Fokussierung auf diese Funktion ist auf die Perspektive der Protagonistin zurückzuführen. So findet sich im New York Times-Artikel Church Council Bids Court Bar Bias Big Housing Developers vom 18. Januar 1968, auf den mit dem »guten Willen der Kirchen zu Gunsten der Neger« verwiesen wird, an keiner Stelle ein Hinweis auf die kirchliche Wendung aus Lk 2,14.8 Gleichwohl zeigt dieses Beispiel, dass Gesines Erwartung nicht von außen an die Kirchen herangetragen wird, sondern auf ein genuines Selbstverständnis zurückgeht, das aus dem Doppelgebot der Liebe9 und den Werken der Barmherzigkeit10 abgeleitet werden kann. Können die Kirchen ihrer ureigenen Verantwortung nachkommen? Der Hinweis darauf, dass sie ihren ›guten Willen‹ »nicht gern ohne äußerste Not verdächtigt gesehen [hätten]«, lässt zumindest Zweifel an der Aufrichtigkeit ihres Verantwortungsbewusstseins aufkommen. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn der »gute[] Wille[] der Kirchen zugunsten der Neger« mit dem des Enkels eines Firmengründers enggeführt wird, der neben der Perfektionierung der Fließbandarbeit auch für seine Verstrickungen in den Nationalsozialismus und eigene antisemitische Schriften bekannt geworden ist: »in welch selbem Henry Ford II. nicht übertroffen werden will« (JT, 608).11 In dieses Bild fügt sich der Hinweis auf eine weitere New York Times-Notiz zu Neujahr des Jahres 1968: »Zum Jahreswechsel läßt die Protestantische Kirche der Stadt uns ausrichten, es sei wohl über jeden Zweifel erhaben, daß die Religion 1968 ebenso versagen werde wie 1967. ›Da 8 Church Council Bids Court Bar Bias Big Housing Developers, in: The New York Times, Nr. 40.171 vom 18. 1. 1968, S. 1, 29, hier: S. 1: »The national council of churches urged the supreme court today to bar large housing developers from refusing to sell homes to negroes. In a friend-of-court brief filed in support of an interracial St. Louis couple the council of Protestant churches declared: ›Jim Crowism is alien to American municipalities whether operated directly by the state or operated privately with the assistance of the state.‹ A group of 24 Roman Catholic bishops, two of them Cardinals, announced in Chicago that they would file a similar brief with the Court tomorrow, contending that open housing is the law of the land under an 1866 civil rights law implementing the abolition of slavery.« Vgl. hierzu Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 362. 9 Vgl. Mt, 22,34–40 parr. 10 Vgl. Mt 25,31–46. 11 Vgl. etwa Reinhold Billstein/Nicholas Levis: Henry Ford and Adolf Hitler, in: dies. u. a.: Working for the Enemy. Ford, General Motors, and Forced Labor in Germany during the Second World War, New York/Oxford 2000, S. 103–105.

Die New Yorker Gegenwart

485

sind so viele Dinge, die sie tun sollte aber nicht tut …‹« (JT, 538). Der hier wörtlich übersetzte Ausschnitt einer Rede Reverend Norman Vincent Peales, dem Präsidenten des Protestant Council of the City New York, erzeugt den Eindruck einer resignierenden Kirche. Das Zitat, das wird durch die Auslassungspunkte markiert, endet an dieser Stelle jedoch nicht, sondern wird von Reverend Peales mit dem adversativen Anschluss ›but‹ fortgesetzt: But religion has some successes to its credit also. The ecumenical spirit is growing enormously. Men of good will are increasingly and effectively active in behalf of justice and humanitarianism. Compassion, always the hallmark of religion, is becoming consistently more practical, being implemented currently on a major attack on ghetto conditions. Interracial relationships in the religious community has proceeded to a point where it has long ceased to be a novelty or a genial brotherly expression. It is now a realistic and creative fact of life in religious circles … So, despite failure when evaluated against the enormous problems of our time, religion can chalk up some successes too.12

Dem resignativen ersten steht ein zweiter Teil des in der New York Times wiedergegebenen Ausschnitts der Rede gegenüber, in dem eine Reihe von Errungenschaften und Fortschritten angeführt wird, die auf eine christliche Ethik der »men of good« zurückgeführt werden könne. Die Haltung der Hauptfigur zu dieser kirchlichen Sicht bildet der Erzähler durch die selektive Präsentation der in der Zeitung wiedergegebenen Redeteile ab. Es bleibt das Bild einer resignativen Kirche stehen, die als Lösung für Gesines Probleme nicht herhalten kann. Stattdessen leitet der Erzähler die Übergabe jenes Hauses an die Protagonistin ein, das als Metapher für den Erinnerungsprozess in Form der erzählerischen Überlieferung fungiert.13 Den zweiten Teil von Reverend Peals Rede greift der Erzähler erst siebzig Seiten und damit siebzehn Tageseinträge später auf. Durch die thematische Korrespondenz zu Henry Ford II. wird das Bild, das die Kirchen – nicht die Religion als solche, die Peals in seiner Rede in Anspruch nimmt – im Kampf gegen die Diskriminierung von Schwarzen, der »major attack on ghetto conditions«, von sich zeichnen, als scheinheilig bewertet. Die entlarvte Scheinheiligkeit der Kirchen basiert auf der Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem: Die Institution agiere in vielerlei Hinsicht nicht auf der Grundlage jener Werte, die ihren Namen ausmachen. Diese Kritik wiederholt der Erzähler, wenn er aus der Perspektive Gesines eine Fotografie auf der ersten Seite der New York Times vom 14. Oktober 1967 be-

12 Murray Schumach: World Bids Adieu To a Violent Year; City Gets Snowfall, in: The New York Times, Nr. 40.154 vom 1. 1. 1968, S. 1, 31, hier: S. 31; Hervorhebung P. O. 13 Vgl. Dritter Teil, Kap. 1.2.

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schreibt,14 die »im Vordergrund den allbekannten Antifaschisten Willy Brandt als Außenminister der Westdeutschen zeigt und, weniger scharf, hinter und über ihm den Chef der so genannten Christlichen Demokraten« (JT, 173). Durch das relativierende Adjektiv werden zunächst beide Teile des Signifikanten, ›christlich‹ und ›demokratisch‹, infrage gestellt. Der anschließende Relativsatz, der Vorsitzende dieser Partei, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, sei »während der Herrschaft der Faschisten blind, taub und lahm« (JT, 173) gewesen, betont durch den Verweis auf Mt 11,515 die Diskrepanz zum Attribut ›christlich‹. Die Kritik wiederholt der Erzähler im Laufe der Erzählung mehrfach, indem er etwa die Bezeichnung ›Christdemokraten‹ mit dem ironischen Zusatz versieht, »was für ein Ausdruck« (JT, 1864). Gänzlich unvereinbar erscheint die Attribuierung der Partei als ›christlich‹ vor dem Hintergrund einer fehlenden Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹, die zu Beginn des Tageskapitels vom 28. Februar 1968 thematisiert wird: Immer noch haben sie in Westdeutschland einen Greis zum Staatspräsidenten, der im Jahre 1944 Baupläne für Konzentrationslager unterzeichnet haben soll. Er glaubt nicht, daß er es tat; einen Eid könnte er nicht darauf ablegen. Ein amerikanischer Schriftensachverständiger hat die Signatur auf den Plänen als die des Staatspräsidenten erkannt. Ein bonner Student, der neben dem Namen des Staatspräsidenten in einer Ehrenrolle die Berufsbezeichnung ›K.Z.-Baumeister‹ eintrug, wurde von der Universität gewiesen. Die Christlich-Demokratische Union, der die Sozialdemokraten beim Regieren helfen, antwortet auf Forderungen nach dem Rücktritt des Belasteten: Wer das verlange, wolle nur die Koalition unter Druck setzen und die Weichen für die Wahl einer anderen stellen; das ist der Stellenwert von Konzentrationslagern in der westdeutschen Politik; ein solches Land ist das […]. (JT, 788)

Ein weiteres Mal wird die nationalsozialistische Vergangenheit Heinrich Lübkes, dem zweiten Bundespräsidenten der BRD, und die fragwürdige Reaktion seiner Parteikollegen auf deren Enthüllung im Tageseintrag vom 2. März 1968 aufgegriffen: »Der Generalsekretär der Christlichen Demokraten, deren Mitglied Herr Lübke ist, hat den Mann angegriffen, der die Sache noch einmal in seiner Illustrierten aufgebracht hat. Der sei ja ein begeisterter Anhänger Hitlers gewesen.« (JT, 809)16 Die Kritik des Erzählers an christlichen Institutionen wie Kirchen und Parteien verweist von der US-amerikanischen und bundesdeutschen Gegenwart der 14 David Binder: Soviet Reported Taking Initiative on German Split, in: The New York Times, Nr. 40.075 vom 14. 10. 1967, S. 1f., hier: S. 1. 15 Vgl. Mt 11,4f., Hervorhebung P. O.: »4Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und saget Johannes wieder, was ihr sehet und höret: 5die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt«. 16 Vgl. hierzu Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 451f.

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Erzählung in die deutsche Vergangenheit. Als Vehikel dient ihm die New York Times, durch die einerseits der Eindruck eines globalen Blicks auf das Zeitgeschehen erzeugt, andererseits die Perspektivierung des vom Erzähler Dargestellten deutlich wird. Die Auswahl der Zeitungsbeiträge geht auf die Protagonistin zurück und repräsentiert einmal mehr ihren Fokus auf die ›deutsche Schuld‹.17 Der Schlüssel zur Sensibilisierung für die in christlichen Institutionen herrschende Diskrepanz zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem ist in deren Vergangenheit und in der Quelle ihres Selbstverständnisses, den biblischen Schriften, zu suchen.

3.2

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Innerhalb der mecklenburgischen Vergangenheitserzählung ist die Institution Kirche durch die evangelische Gemeinde der Petrikirche zu Jerichow und deren Pastoren geprägt. Wilhelm Methling, Wilhelm Brüshaver und der vornamenlose Wallschläger repräsentieren drei Typen von Pastoren zwischen 1927 und 1945, mithilfe derer die »Frage nach der Schuld der Kirche(n)«18 an den nationalsozialistischen Verbrechen gestellt wird. Der »wetternde und wütende Nazipastor«19 Methling, der Deutsche Christ Wallschläger und Brüshaver als Mitglied des Pfarrernotbundes und der Bekennenden Kirche bilden eine Figurenserie, die die »typischen Richtungen der evangelischen Kirche der damaligen Zeit kaum exakter«20 hätte rekonstruieren können. Die drei prototypischen Pastorenfiguren aus dem mecklenburgischen Jerichow sind in den zeitgeschichtlichen »hitlerschen Kirchenkampf« (JT, XIV) eingebettet. Ihren Ausdruck fand dieser Kirchenkampf vor allem in der Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche zwischen den führertreuen ›Deutschen Christen‹, die das Ziel »eine[r] einzige[n] Evangelischen Reichskirche« (JT, 426) verfolgten, und der sich unter Berufung auf das Evangelium widersetzenden Bekennenden Kirche, die nach der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 193421 aus dem Pfarrernotbund hervorging. In die fiktive Handlung der Jahrestage wurden zeithistorische Do17 Zum Komplex der Übernahme von New York Times-Artikeln in den Roman vgl. Isabel Plocher: »Wenigstens mit Kenntnis zu leben.« Der Mediendiskurs in Uwe Johnsons Jahrestage am Beispiel der New York Times, Würzburg 2004, S. 69–73. 18 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 115. 19 Wörn, Pfarrer- und Pfarrhausbilder, S. 181. Mecklenburg bezeichnet Methling hingegen lediglich als einen »statistisch typisch« deutschnationalen Pastor; Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 127. Vgl. hierzu auch Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 61. 20 Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 127. 21 Die Bekenntnissynode zu Barmen fand vom 29. bis 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen statt und nicht, wie von mir fälschlicherweise an früherer Stelle angegeben, im März 1934; vgl. Onasch, Kirchengeschichtliche Diskurse, S. 554.

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kumente des Kirchenkampfes ebenso integriert wie Verweise auf reale Personen der innerkirchlichen Auseinandersetzung. So wird mit dem Rücktritt des Landesbischofs Heinrich Rendtorff, als dessen Nachfolger im Mai 1934 der Landeskirchenführer und »Gauleiter der ›Deutschen Christen‹« (JT, 426) in Mecklenburg, Walther Schultz,22 gewählt wird, die sukzessive Gleichschaltung am Beispiel der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs vorgeführt. Überdies wird mit Martin Niemöller als dem Begründer des Pfarrernotbundes und einem der führenden Vertreter der Bekennenden Kirche einer der Stellvertreter des kirchlichen Widerstandes im Nationalsozialismus in die Erzählung integriert, um aus der Perspektive Brüshavers die Motivation und das wahre Ausmaß des Widerstandes kritisch zu hinterfragen. Johnson hält der evangelischen Kirche damit überaus »genau und manchmal fast unerbittlich«23 den Spiegel ihrer Verfehlungen vor. Zugleich ist er aber um eine differenzierte und (selbst-)reflexive Sicht auf die Sache bemüht, was an der Figurenserie der Pastoren, aber auch an der differenzierten Darstellung der Pastorenfigur Brüshaver und seiner changierenden Rolle in Gesines Wahrnehmung deutlich wird (vgl. JT, 1402, 1526). Ähnlich inhomogen ist das Spektrum der Bindungen an die Institution Kirche innerhalb von Gesines Familie. Entscheidend für ihre Einstellung gegenüber der Kirche ist ihre Mutter, die es entschieden »zu ernst mit der Kirche« (JT, 525) nimmt. Lisbeths »übersteigerte Religionsausübung«,24 aus der die Körperverletzung an ihrer Tochter Gesine, die Tötung ihres ungeborenen Kindes und schließlich ihr Suizid resultieren, lässt sich zumindest teilweise auf ihre Sozialisation zurückführen, in der sie es »als Kind so gelernt [hatte], in einem Haus wie dem von Papenbrock konnte ein Kind lange damit großwerden« (JT, 530). Auch als erwachsene Frau bleibt Lisbeth »das Kind, das sie war«,25 und klammert sich verzweifelt an biblische Lehrsätze, die sie aus ihrem Kontext reißt und für sich funktionalisierend auslegt. Die Ohnmacht gegenüber den Aporien der (Er22 Im Jahrestage-Kommentar wird die Funktionsbezeichnung »Gauleiter der ›Deutschen Christen‹« als eine Verwechslung Johnsons ausgewiesen: »Bischof Walther Schultz war niemals Gauleiter. Johnson verwechselt ihn mit dem Gymnasialprofessor Walther Schultz (1874– 1953), der 1926 bis 1928 Gauleiter von Hessen-Nasssau war«; Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 277f. Allerdings waren nicht nur die Mitglieder der NSDAP, sondern auch die der ›Reichsbewegung Deutsche Christen‹ in Gauen organisiert, die von Gauobmännern geführt wurden. Schultz übernahm die Leitung des Gaues Mecklenburg der ›Deutschen Christen‹ im Februar 1934 und hatte sie bis Juli desselben Jahres inne; vgl. Beste, Kirchenkampf in Mecklenburg, S. 79; Karl-Heinz Fix/Carsten Nicolaisen/Ruth Pabst (Bearb.): Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Personen, Bd. 2: Landesund Provinzialkirchen, Göttingen 2017, S. 315. 23 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 115. 24 Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung und Erfahrung. Geschichtsphilosophie und ästhetische Erfahrung in Uwe Johnsons Jahrestagen, München 1988, S. 198. 25 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 239.

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wachsenen-)Welt unterscheidet Lisbeth diametral von ihrer Tochter Gesine, jedoch nicht von ihrer Mutter, Louise Papenbrock. Gesine bezeichnet ihre Großmutter als »das Schaf«, weil sie »wie in der Kirche [sagte]: Ja, Albert. Gewiß, Albert.« (JT, 18) Den Verrat eines Waffenlagers im Papenbrock’schen Haus durch die Tochter entschuldigt Louise mit der »Liebe des Christen zur Wahrheit« (JT, 57) und gewährt dadurch einen Einblick in ihre Unfähigkeit, aus biblischen Geboten eine christliche Moral abzuleiten. Beinahe folgerichtig gelangt auch ihre Tochter in ihrer Moralentwicklung nicht über das Niveau der »Rollenkonformität« hinaus, »in dem der Handelnde seine moralischen Grundsätze lediglich an Autoritäten orientiert, ohne eigene Handlungsmaßstäbe zur Verfügung zu haben«.26 Dass auch Lisbeths Vater, Albert Papenbrock, der mütterlichen Erziehung seiner Tochter nicht entgegenwirken kann, offenbart seine pragmatisch-naive Bindung an die evangelische Kirche. Die Reaktion seiner Frau auf den Verrat der Tochter während des Kapp-Putsches verleitet Papenbrock dazu, »den Sommer über nicht in die Kirche« (JT, 57) zu gehen – als wäre diese für das Verhalten seiner Ehefrau und seiner Tochter verantwortlich. Ähnlich vordergründig und dabei im Kern wenig christlich reagiert Lisbeths Vater auf die Art und Weise, wie Brüshaver den Aufruf der evangelischen Kirche zu den Märzwahlen 1933 präsentiert: »Es war ihm nicht feierlich genug gewesen, und hätte ihm beinahe die Stimmung für den Gang zur Wahl verdorben.« (JT, 245) Das hinter dieser Darbietung stehende Credo Brüshavers, »Parteipolitik glaubte er unvereinbar mit geistlichem Amt« (JT, 1357), erkennt Papenbrock nicht. Heinrich Cresspahl reagiert geradezu abwehrend auf die übersteigerte Religionsausübung seiner Ehefrau. Die sich daraus ergebenden Konflikte der Eheleute sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.27 Lisbeths Wahrnehmung, dass es »grausam« sei, »daß er schon bei dem Wort Kirche aus dem Gespräch ausscherte, ohne Aufhebens und gutmütig, als sei hier nur für sie ein Raum ausgespart, den zu betreten ihm nicht zustand« (JT, 148), zeigt aber, dass Gesines Mutter die alternative Sichtweise ihres Ehemannes auf den Komplex ›Kirche und Religion‹ nicht als Möglichkeit zur Emanzipation wahrzunehmen vermag. Wie differenziert Cresspahl diesen Komplex betrachtet, wird darin deutlich, dass er Mitglied der evangelischen Kirche ist und es auch nach dem Tod seiner Ehefrau bleibt – »Lisbeth zuliebe«, aber auch mit der Einsicht, »mochte zwar Wallschläger die Kirche sein, Brüshaver war es auch« (JT, 808). In der Gegenüberstellung der Pastoren Wallschläger und Brüshaver äußert sich Cresspahls Fähigkeit, zwischen den religiösen Botschaften des Christentums und den Predigten unterschiedlicher Vertreter der Institution Kirche differenzieren zu 26 Ebd., S. 241. 27 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4.1.

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können. Nur so lässt sich das in religiöser Hinsicht konfliktfreie Zusammenleben mit Marie Abs und deren »altlutherische[r] Extrawurst« (JT, 1601) erklären. Jakobs Mutter lässt es zu, sich von Cresspahl mit eben jener altlutherischen Extrawurst »necken« zu lassen, »kommen geistliche Gegenstände so doch wenigstens zur Sprache« (JT, 1601). Das Verb ›necken‹ deutet auf einen scherzenden und vertrauten Umgang der beiden hin, der zweite Teilsatz auf das Interesse von Marie Abs, sich über geistliche Gegenstände auszutauschen, ohne daraus das Ziel einer Missionierung Cresspahls und der Kinder abzuleiten. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den nachfolgenden Teil des Satzes: »sie geht aber in diesem Herbst zum ersten Mal in Brüshavers Kirche, sie nimmt von ihm das Abendmahl« (JT, 1601). Trotz eines »vereinsrechtliche[n] Streit[s]« zwischen Lutheranern und Altlutheranern28 ist es Jakobs Mutter letztlich wichtiger, jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen, denn »zu den Altlutheranern in Gneez oder Wismar schaffte sie es einmal im Monat« (JT, 1605). Auch die kirchenkritische Sicht ihres Sohnes scheint sie zu tolerieren. Stattdessen ist es Aggie Brüshaver, die Frau des nach dem Ende des Nationalsozialismus wieder eingesetzten Pastors Brüshaver, die »kam […] und tat […] und hatte sich, als lese sie ihm die Leviten« (JT, 1599). Mit der Adaption von Caesars Klimax veni, vedi, vici in Verbindung mit dem geflügelten Bibelwort ›die Leviten lesen‹, das auf eine Anordnung von Bischof Chrodegang von Metz im achten Jahrhundert anspielt,29 ironisiert der Erzähler das Selbstverständnis der Pastorenfrau, bevor er Jakobs ›Verfehlung‹ paraphrasiert: Jakob war zu Ostern 1949 in die Petrikirche gegangen, zur Predigt in Sachen Auferstehung, und sie hielt ihm vor, daß er, wenn auch in einer hinteren Bank, bis zum Ende mit verschränkten Armen dagesessen habe. – Als ob Sie sich ein Angebot machen lassen! rief sie, worauf Jakob nach einer Weile nickte, als habe es so sich verhalten. (JT, 1599f.)

Trotz der Religiosität seiner Mutter wird Jakob als ein kirchenkritischer, wenn nicht ungläubiger junger Mann charakterisiert, der seine Haltung offen zur Schau stellt. In beidem stimmt er mit der Figur überein, die er als »die kleine Schwester« (JT, 1450) nahm und später als Geliebte. Gesines kirchenkritische Haltung wird erstmals im Tageskapitel vom 8. Oktober 1967 deutlich, in dem erzählt wird, wie sie die evangelische Kirche gegenüber Annie Fleury einmal als »Firma mit beschränkter Haftung« (JT, 154) 28 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4, Anm. 128. 29 Um das Jahr 760 verfügte Bischof Chrodegang von Metz »zur Besserung der verwilderten Geistlichkeit«, dass sich diese im Anschluss an die Morgenandacht vor dem Bischof oder dessen Stellvertreter zu versammeln hatten, woraufhin dieser ihnen ein Kapitel aus der Bibel, insbesondere aus dem Buch Leviticus mit seiner Vielzahl an religiösen Gesetzen vorlas und daran seine »nötigen Rügen und Ermahnungen« knüpfte; Büchmann, Geflügelte Worte, S. 653.

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bezeichnete. Auf den Wunsch ihrer Mutter hin wird Gesine am 12. März 1933 durch Pastor Brüshaver in der Jerichower Petrikirche getauft (vgl. JT, 245f.). Bis zu ihren Jugendjahren bleibt es einer der wenigen Besuche in eben jener Kirche, die sie für die Beerdigung von Amalie Creutz im Oktober 1945 erst zum »vierten Mal nach ihrer Taufe« (JT, 1401) aufsucht. Durch die Nummerierung wird einerseits eine Distanz zur Institution Kirche hervorgehoben. Andererseits werden die wenigen in den Jahrestagen erwähnten Kirchenbesuche bis zum Oktober 1945 akzentuiert. Von diesen fünf werden drei im Roman angeführt, und sie alle stehen in einem mehr oder weniger unmittelbaren Zusammenhang mit politisch begangenem Unrecht vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bereits Gesines Taufe wird durch Aggie Brüshaver in einen kalendarischen Zusammenhang mit einer Beerdigung gestellt, die auf einen nicht natürlichen, gewaltsamen Tod zurückgeht: – Mittwochmorgen haben wir die Beerdigung Voss. Voss in Rande, den die Nazis zu Tode geprügelt haben. Danach ginge es, Mittwoch um elf: sagte sie. Jetzt sah sie ihn nicht an, blickte in den Kalender, ließ den Bleistift in den Tagesspalten springen, trug dann ohne Aufblicken Lisbeths Bestellung auf eine Kirchentaufe (gebührenfrei) für Sonntag, den 12. März ein. (JT, 246)

Was hier noch wie eine zufällige erzählerische Inszenierung wirkt, fügt sich mit der Beerdigung von Amalie Creutz im Oktober 1945 zu einem Bild zusammen. Amalie Creutz wird, »im dritten Monat schwanger, von irgend einem der elf Sowjetsoldaten, die sie im Gräfinnenwald vergewaltigt hatten« (JT, 140), als Opfer des von der sowjetischen Besatzungsmacht begangenen Unrechts, das durch die Ablehnung ihres Gesuchs einer Abtreibung noch gesteigert wird, zu einer Art Märtyrerin. Durch die thematische Korrespondenz der beiden Kirchenbesuche wird Gesines Bild der Institution Kirche retrospektiv als von Beginn an politisch determiniert beschrieben. In den Blick rücken statt der metaphysischen die moralisch-ethische Rolle der Kirchen und deren Reaktion auf staatlich begangenes oder toleriertes Unrecht, das mit zentralen christlichen Werten wie dem der Nächstenliebe unvereinbar erscheint. Entsprechend sensibilisiert versteht die »Schülerin Cresspahl […], warum der Neue Staat mit seiner Neuen Zeit die Aufmärsche, Versammlungen, Arbeitseinsätze mit Vorliebe ansetzte auf die Termine der kirchlichen Feiern« (JT, 1600). Obwohl sie sich in diesem »Zweikampf« (JT, 1600) entbehrlich glaubt und unparteiisch fühlt, ist ihr Erscheinen im Pastorat der Petrikirche im Oktober 1948 als Zeichen der Parteinahme zu verstehen. Vorstellig wird sie, »um eine zweite Zulassung für den Unterricht zur Konfirmation« (JT, 1601) zu erhalten. Notwendig wird diese zweite Zulassung, weil Gesine im Frühjahr 1947 ihre erste Konfirmationslehre bei Pastor Brüshaver, den sie für das Verschwinden ihres Vaters durch die Sowjets mitverantwortlich macht und ihn auf der Straße hinter

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sich lässt »wie ein leeres Schaufenster« (JT, 1402),30 lediglich zwei Stunden besucht: »da setzte er mich schon vor die Tür« (JT, 1456). Eineinhalb Jahre später bemüht sie sich, »das bescheidene Kind darzustellen, das bereuen will mit Fleiß« (JT, 1602). Die katechetischen Grundlagen erlernt sie und kann sie wiedergeben, »aber daran zu glauben, es mißlinge ihr« (JT, 1603). Der zweite Versuch endet in einer Flucht aus dem Konfirmationsunterricht und dem religiösen Freispruch des Vaters: Sprach’s und lief so blindlings zur Tür auf die Bühne des Waggons, sie wäre fast gestürzt von der hohen Treppe, lief durch die naßkalte Bahnhofsstraße in den finsteren Abgrund des Marktplatzes, versteckte sich in der zerschlagenen, lichtlosen Telefonzelle, geschüttelt von keuchendem Weinen, mit Furcht vor der Dämmerung, in der alle sie sehen würden. Cresspahl erinnerte sich an den Winter 1944, als sie in eben dieser Kabine Schutz gesucht hatte vor Schule und Behörde, er kam sie schon zur Abendbrotzeit retten. Er führte sie ab wie ein Kind, einen Arm um ihre Schulter, und der Weg ersparte ihr das Licht im Haus und den Blick von Jakobs Mutter, die dunklen vom Brillenglas vergrößerten Augen; ins Bruch ging die Reise, wo nur Hasen und Füchse unbesorgt hören durften, daß ihr die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl kannibalisch vorkomme. Es war das letzte Mal, daß er sie hielt und führte wie ein Vater; von seinen Tröstungen hat sie die behalten, die sie freisprach: You gave him a chance. Versucht hast du’s, Gesine. (JT, 1603)

Mit der Gewissheit eines ›fehlenden‹ (evangelisch-lutherischen) Glaubens schwindet in Gesine aber nicht das Bewusstsein für das Christentum als moralisch-ethischer Instanz. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der kirchengeschichtliche Diskurs in den Jahrestagen einen solch großen Raum einnimmt. Paasch-Beeck spricht davon, dass Johnson vor allem mit seinem Opus magnum der mecklenburgischen Kirche ein »nachhaltiges literarisches Denkmal gesetzt [habe]: ein kritisches, ein oft zwiespältiges, insgesamt aber ein angemessenes und ein Stück weit sogar ehrenvolles«.31 Ein Teil dieses kirchengeschichtlichen Diskurses, der im nachfolgenden Abschnitt ausführlich analysiert wird, ist der ausgesprochen kirchenkritische Blick der Protagonistin. Dieser richtet sich vor allem auf die ›Geschäftsbeziehungen‹ der Institution Kirche mit der Politik und nimmt ihren Anfang am 17. November 1938: Am Donnerstag waren viele Jerichower nach Gneez gefahren. Stoffregen hatte anderthalb Eisenbahnwaggons für die Schule bestellt. In Gneez wurden neue Rekruten vereidigt. Jerichow hatte beim Einzug der Luftwaffe alle Abordnungen gehabt, die auch in Gneez auftraten, bis auf die N.S.-Jägerkameradschaft. Es hieß allgemein, die Feier in 30 Vgl. auch JT, 1403; Kursivdruck im Original: »Er machte Politik mit den Sowjets. Die Sowjets hatten meinen Vater. Brüshaver hat Cresspahl nicht weggeholt von den Sowjets. Nicht versucht hat er es.« 31 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 115.

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Jerichow sei mehr erhebend gewesen. Es wurde auch gesagt, es sei Brüshavers Schuld, wenn der jerichower Feier etwas abgegangen war. In Gneez läuteten die Kirchen vor der Vereidigung. Da waren ein evangelischer und ein katholischer Heerespfarrer, die auf die Bedeutung des Fahneneides eigens hinwiesen. Dann wurde gesungen ›Wir treten zum Beten‹. Das Siegheil hatte auf dem jerichower Marktplatz pünktlicher eingesetzt, und zu Hause sei das Echo besser gewesen. (JT, 782)

Dreißig Jahre später greift D. E. diese Szene in einem Brief an Gesine auf und hebt sie als ein Schlüsselerlebnis in ihrer Beziehung zur Kirche hervor, denn »bis heute kannst du der Kirche nicht vergessen, daß die Segnung der Rekruten auf dem Kasernenhof in Gneez auch das Gerät zum Kriege einschloß« (JT, 818). Vergessen kann und will Gesine nicht, weil sie erkennt, dass sich solche ›Geschäftsbeziehungen‹ nicht auf das nationalsozialistische Deutschland beschränken. Als ein weiteres Beispiel, mit dem ihre Kritik gewissermaßen generalisiert wird, dient ihr jener »lutherische[] Feldgeistliche[] der U.S.-Luftwaffe« (JT, 1600), Hauptmann William B. Downey,32 der vor dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima ein Gebet für die Besatzung des Flugzeuges spricht. Es spricht für die Qualität des Romans, dass sich der Blick auf den Komplex ›Kirche und Religion‹ nicht in Gesines Perspektive erschöpft. So ist es ihre Freundin Anita Gantlik, die schon zu Schulzeiten neben guten Noten in den »naturwissenschaftlichen Fächern (Mathematik: 1; Chemie: 2; Biologie: 1) […] unterm Strich unbeirrt einen Gott herausbekam, der anwesend ist im Molekül, im Atom und in den Sperlingen, die er vermittels Kernwaffen vom Dache schießt«33 (JT, 1612). Trotz der diametralen Unterschiede in ihrem Verhältnis zu Gott entwickelt sich zwischen beiden eine Freundschaft, die auch über die Entfernung zwischen Berlin und New York Bestand hat. Im Falle von Gesines Tod soll Anita gar als Ziehmutter für Marie fungieren, nachdem sie »seit zwanzig Jahren gewogen und für gut befunden« (JT, 1739f.) wurde.34 Darüber hinaus wird Anita als eine Freundin beschrieben, die sich »[m]issionarische Anwandlungen versagte« und Gesine, wenn auch »mühsam«, den Austritt aus der evangelischen Kirche verzieh (JT, 1621). Dennoch erwartet sie, dass Marie christlich getauft werde.35 Es bleibt offen, ob sich Anitas Wunsch erfüllen wird. Marie hegt den Plan, sich taufen zu lassen, »[w]enn sie fünfzehn ist« (JT, 23), die erzählte Zeit der Jahrestage endet kurz nach Maries elftem Geburtstag. 32 Vgl. William L. Laurence: Dämmerung über Punkt Null. Die Geschichte der Atombombe, München/Leipzig 1948, S. 175. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4.2. 33 Vgl. Mt 10,29: »29Kauft man nicht zwei Sperlinge um einen Pfennig? Dennoch fällt deren keiner auf die Erde ohne euren Vater.« 34 Vgl. Dan 5,25–28. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 5.2. 35 Der Kommentar der Protagonistin, »wenn sie enttäuscht war und betrübt, so unseretwegen« (JT, 1621), korrespondiert lexikalisch mit dem Betrübtsein Annie Fleurys infolge des Vergleichs der evangelischen Kirche mit einer Firma mit beschränkter Haftung: »aber sie war nicht betrübt ihretwegen, sondern über uns« (JT, 154).

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Insgesamt lässt sich für die Vergangenheitsebene der Jahrestage ein überaus differenziertes Bild religiöser Beziehungen der einzelnen Figuren feststellen. Das Spektrum reicht von übersteigerter Religionshörigkeit bei Louise und Lisbeth Papenbrock über eine reflektierte und tolerante Religiosität bei Marie Abs und Anita Gantlik bis hin zu einer sukzessiven Ablehnung religiöser Ideen durch Jakob Abs, Heinrich und Gesine Cresspahl, verbunden mit Kritik an der Institution Kirche. In diesem Gefüge lassen sich auch weitere Figuren verorten wie Avenarius Kollmorgen, der sich in seinem Testament eine »Mitwirkung der Kirche« (JT, 890) an seiner Bestattung verbittet, oder Julius Kliefoth, der »von der Kirche nie etwas gewollt [hatte], seit er in Jerichow war« (JT, 1172). Im Gegensatz zur Gegenwartsebene des Romans definieren alle diese Figuren ihre religiöse Identität über ihre Beziehung zum Protestantismus, allgemein zum Christentum. Auch der Tierarzt Arthur Semig und der Einzelhändler Oskar Tannebaum sind evangelisch getauft. Eine jüdische Identität wird ihnen erst durch den gesellschaftlichen und nach 1933 staatlich forcierten Antisemitismus aufgezwungen, sodass Tannebaum nach dem Tod seiner Tochter entscheidet: »Sie is nu gestorben wie ne Jüdin; so soll sie denn ne jüdische Beerdigung kriegen« (JT, 757).36 Ins Absurde gewendet wird dieser »soziohistorische[] Prozeß der langsamen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft«,37 indem sich Dora Semig, »von Natur evangelisch« (JT, 544), erklärt »zu einer ›Jüdin, die ich bin‹« (JT, 982). Deutlich hervorgehoben wird, dass die Bestimmung als ›Jude‹ zwischen 1933 und 1945 keine konfessionellen, sondern politische und rassistische Motive hatte. Was für die Familie Tannebaum nur implizit erfolgt,38 wird für Arthur Semig explizit betont: »Herr Semig ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen« (JT, 299).39 Die Familie Semig fungiert einerseits als Vertreter des Bildungsbürgertums – aber eben nicht des »jüdische[n] Bildungsbürgertum[s]«40 –, andererseits als 36 Vgl. Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 605. 37 Ebd. 38 Die Zugehörigkeit der Familie Tannebaum zur evangelischen Gemeinde lässt sich nur über Indizien wie Oskar Tannebaums Festlegung zur jüdischen Beerdigung seiner Tochter erschließen. Dass Pastor Brüshaver stattdessen mit einer christlichen Bestattung gerechnet habe, lässt sich aus dem Hinweis ableiten, dass ihm durch die Festlegung des Vaters der »Anstand mit der Superintendentur und der Gestapo« (JT, 757) erspart bleibe. Auch zählt Brüshaver die Ereignisse in der Reichspogromnacht vor dem Tannebaum’schen Laden zu den Gräueltaten, aufgrund derer er konstatiert: »Gleichgültigkeit. Duldung. Gewinnsucht. Verrat. Der Egoismus auch eines Pfarrers, der gesehen habe nur auf die Verfolgung der eigenen Kirche, der geschwiegen habe entgegen seinem Auftrag« (JT,761). 39 Vgl. auch JT, XIV: »Wenn es so etwas wie Christentum gebe, habe er das seine in einer ordentlichen Art unterhalten.« Vgl. hierzu auch Paasch-Beeck, Zwischen »Boykott« und »Pogrom«, S. 126–128. 40 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 605. Vgl. hierzu Paasch-Beeck, Zwischen »Boykott« und »Pogrom«, S. 127.

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Beispiel einer Mischehe nach nationalsozialistischer Definition, deren Neuschließungen mit den Nürnberger Rassengesetzen vom 15. September 1935 verboten wurden. Arthur Semig sieht sich aber vor allem in seinem Beruf als Veterinärmediziner mit der antijüdischen Gesetzgebung konfrontiert, die in einem stufenweisen Berufsverbot und der Bedrohung der familiären Existenz gipfelt. An den Tannebaums als einer kleinbürgerlichen Einzelhandelsfamilie werden dagegen die Auswirkungen des Judenboykotts vom 1. April 1933 und die »tödlichen Konsequenzen«41 der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 exemplarisch vorgeführt. Paasch-Beeck leitet hieraus ab, dass mit dem Schicksal Marie Tannebaums akzentuiert werde, »dass die Ermordung von über einer Million jüdischer Kinder auch mitten in Mecklenburg begann und geschah«42 – in den Großstädten wie in der Provinz, im Süden wie im Norden, im Osten wie im Westen des ehemaligen Reichsgebiets. Im Gegensatz zu Johnsons früheren Romanen verfügen die Jahrestage über einen ausgesprochen differenzierten religiösen Diskurs. Die Themen ›Kirche‹ und ›Religion‹ rücken verstärkt ins Zentrum der Erzählung. Zurückführen lässt sich diese Entwicklung auf das Erzählprojekt des Romans, in dem es sich die Protagonistin zur Aufgabe macht, die deutsche Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mithilfe ihrer Familiengeschichte aufzuarbeiten. Aufgrund ihrer Konfessionslosigkeit ist Gesines Blick, und mit ihr auch der des Erzählers, auf die Institution Kirche nicht durch ein theologisch-dogmatisches, sondern vielmehr durch ein kulturtheoretisches, politisch-ethisches Interesse geprägt. Deutlich wird dies vor allem an den in den Roman eingegangenen gottesdienstlichen Handlungen Brüshavers und Wallschlägers, die überwiegend im Kontext des (politischen) Kirchenkampfes zwischen 1933 und 1945 stehen.

41 Auerochs, »Ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick«, S. 605. 42 Paasch-Beeck, Zwischen »Boykott« und »Pogrom«, S. 131.

4.

Kirchengeschichtlicher Diskurs: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen«

Das ausgesprochen umfangreiche und differenzierte Profil des religiösen Diskurses in den Jahrestagen ist eng verknüpft mit einem kirchengeschichtlichen Diskurs, den Johnson in sein Hauptwerk integriert hat. Im mit Personen und Dokumenten der Zeitgeschichte angereicherten fiktiven Stück Kirchengeschichte werden innerhalb des Romans die Verstrickungen des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes (DEKB) und der DEK in die nationalsozialistischen Verbrechen, vor allem aber deren (moralische) Verfehlungen aufgearbeitet. Neben der Darstellung des Kirchenkampfes zwischen 1933 und 1945 rückt auch die Phase der Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ in der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegründeten EKD in den Blick. Das im Roman entworfene Bild der evangelischen Kirche vor und nach 1945 wird dabei helfen, Schmidts These nachzugehen, wonach die Institution Kirche durch ihre Vergangenheit für einen Erinnerungsprozess im Sinne einer schonungslosen Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹, wie er in den Jahrestagen praktiziert wird, wenig geeignet sei.

4.1

Nationalsozialistischer Kirchenkampf und ›Judenfrage‹

Wie prägend die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und die damit verbundene ›deutsche Schuld‹ für die Vergangenheitserzählung im mecklenburgischen Jerichow sind, wird am kirchengeschichtlichen Diskurs deutlich, der in den Roman integriert ist. Dessen Kern bildet die literarische Übertragung des evangelischen Kirchenkampfes auf das fiktive Jerichow. Mit Brüshaver und Wallschläger hat die Gemeinde der Jerichower Petrikirche zwischen 1932 und 1945 zwei Pastoren, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Dass moralisch-ethische Verfehlungen, die zu einer sukzessiven Spaltung der evangelischen Kirche beitrugen, nicht erst mit der Machtergreifung Hitlers begann, demonstriert der Erzähler anhand einer dritten Pastorenfigur, die in der Zeit vor Gesines Geburt der Jerichower Gemeinde vorstand.

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Kirchengeschichtlicher Diskurs

4.1.1 Jerichower Pastoren Vom Herbst 1927 bis 1932/33 ist Wilhelm Methling Pastor in Jerichow. Auf ihn folgt Wilhelm Brüshaver, der erstmals zu Beginn des Jahres 1933 in Erscheinung tritt, indem er den »Aufruf der Evangelischen Kirche zu den Märzwahlen« (JT; 245) verliest. Nachdem Brüshaver im November 1938 verhaftet wird, übernimmt für kurze Zeit der Vikar Pelzer die Jerichower Kirchengemeinde, der »allgemein für Verfolgte und Bedrängte beten« lässt, »nicht namentlich für Brüshaver, einmal aus Vorsicht, zum anderen aus Mißbilligung für Brüshavers Mangel an Vorsicht« (JT, 806). Im Jahr 1939 übernimmt Wallschläger das Pastorenamt und hat es bis 1945 inne. Wilhelm Methling und der »Stammbaum Jesu im Buch Lukas« Die erste der drei Pastorenfiguren, Wilhelm Methling, ist geprägt von der Vorstellung einer Symbiose zwischen Kirche und Politik. Der Mann »von bald zwei Metern und noch fast zwei Zentnern« (JT, 235) begeht in der Kirche Feste, »die sein Vorgänger zu Hause begangen hatte: Tag der Reichsgründung, Kaisers Geburtstag, Schlacht bei Tannenberg« (JT, 236). Neben dieser deutschnationalen Prägung ist Methling ein Antisemit, der »von der Kanzel herab über die völkische Forderung nach reinrassigen Ehen« spricht und diese für »berechtigt« hält (JT, 238). Die Kategorie der ›Menschenrasse‹, die in den Rassetheorien und Rassegesetzen der deutschen Nationalsozialisten ihren unwissenschaftlichen und vor allem menschenverachtenden Tiefpunkt erreichte, hält er »für eine irdische Schranke, die in der Ewigkeit aufgelöst werde« (JT, 238). Unter Verweis auf Röm 2,11, »11[d]enn es ist kein Ansehen der Person vor Gott«, leitet Methling eine christliche Begründung für seinen Antisemitismus her, den er von der Kanzel aus predigt. Eine Differenzierung von Wertmaßstäben zwischen Gottes- und Erdenreich vorausgesetzt, legitimiere das Bestreben nach dem Erhalt einer christlichen Ordnung ein Vorgehen gegen Juden, denn auch Methling wollte die Juden achten und lieben und zum rechten Glauben bekehren – regiert werden wollte er nicht von ihnen, (das sei nicht christlich). Er sagte den Juden Geldgier nach, und seine Gemeinde entsann sich Methlings Vorliebe, kirchliche Dienstleistungen in Bargeld zu beziehen. Dr. Semig hatte oft genug im Preis nachgelassen. Er sprach von der jüdischen Gleichgültigkeit gegen die Idee der Nation, aber er hatte in der Heimat gepredigt, als Semig im Graben lag. Er meinte gar nicht Semig selbst, er meinte nicht den Kleiderhändler Taunebaum in der Kurzen Straße, obgleich er beiden Kaufgräber auf seinem Friedhof nur mit 100 % Aufpreis abgelassen hätte; er meinte Volkstum, germanisches Erbe, Rassenehre. (JT, 238f.)

Paasch-Beeck ist es gelungen nachzuweisen, dass sich Johnson für die Gestaltung dieser deutschnationalen und antisemitischen Pastorenfigur in Teilen einer realen Vorlage bediente und damit ein reales Stück Kirchengeschichte in seinen

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Roman integrierte.1 Karl Friedrich Wilhelm Timm war »von 1927 bis 1933 zuerst Pfarrverweser und dann Pastor im nordwestmecklenburgischen Städtchen Klütz«2 und begründete 1928 das Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz.3 Die im Herbst 1932 erschienene zweiundzwanzigste Ausgabe des Gemeindeblattes enthält die Vorlage jener Aussagen, die der Erzähler seiner Pastorenfigur in den Mund legt: »Jeder trägt Verantwortung gegenüber dem Volksganzen, und darum haben die völkischen Forderungen nach Schließung reinrassiger Ehen ihre wirkliche Berechtigung, und man kann sie nicht eindringlich genug unterstützen.«4 Auf die Frage, inwieweit die »Forderung nach Gesetzen zur Reinerhaltung der Rasse, wie sie heute von völkischen Kreisen erhoben wird, nun christlich« sei und ob man solche Forderungen als Christ unterstützen könne, antwortet Timm: Man wisse als Christ, daß der Leib und das Blut nicht das Höchste und Letzte sind, wir wissen, daß Rasse eine irdische Schranke ist, die einst in der Ewigkeit aufhören wird. Im Reiche des Geistes hat die Rasse keine Bedeutung. Und da wir auf Erden als geistliche Wesen auch schon im Reiche des Geistes leben, so gibt es auch vom christlichen Standpunkt aus schon die Tatsache der Geichwertigkeit aller Menschen der verschiedenen Rassen. Sie sind alle Gottes Geschöpfe, für Gottes Reich bestimmt und von Gott in Christus geliebt. Aber diese Tatsache hindert uns keineswegs, für die Reinerhaltung unserer Rasse nach Möglichkeit Sorge zu tragen. […] Selbstverständlich haben wir einen in Deutschland wohnenden Juden zu achten und nicht zu verachten, wir haben ihn als Christen sogar so zu achten und zu lieben, daß wir an ihm Mission treiben, um ihn zu Christus zu bringen, wir haben in diesem Sinne für ihn Opfer zu bringen, ja er steht uns so nahe, daß wir um ihn traurig sind – wie um jeden Menschen –, wenn er im Unglauben verloren geht. Wenn Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, so muß das auch unser ernster Wille sein. – Aber der Jude bleibt ein Jude und ist ein Fremdkörper in unserm Volk dem Blut nach, und es ist unchristlich, wenn er als solcher in unserm Volk bestimmen und regieren will. Es ist unchristlich dies nicht zu sagen, es ist unchristlich, sich selbst aufzugeben und wegzuwerfen, weil es gegen die Schöpferordnung Gottes ist.5

Methlings antisemitische Aussagen werden durch Kommentare des Erzählers unterbrochen, mit denen sich die Argumentation des nationalsozialistischen 1 Vgl. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 88–90; ders., Der evangelische Kirchenkampf, S. 61f. 2 Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 61. Zur Biografie Karl Friedrich Wilhelm Timms und deren Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede zum Leben der Figur des Pastor Methling vgl. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 91–93. 3 Das erste der in zwangloser Reihenfolge herausgegebenen Gemeindeblätter wurde zu Palmsonntag 1928 veröffentlicht; vgl. Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 1, 1928. 4 Karl Timm: Etwas von Bäumen, in: Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 16, 17, 22, 23, 1931–33, S. [1–316], [3f.17], [1–322], [1–323], hier: S. [222]. In Ergänzung zur Seitenzahl sind die Heftnummern hochgestellt. 5 Ebd., S. [2f.22]; Hervorhebungen im Original fett gedruckt.

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Pastors bereits beim Vergleich seines eigenen Verhaltens mit dem von Arthur Semig, einem ›Juden‹ im Sinne der antisemitischen Rassentheorien, als haltlos herausstellt. Die durch Einklammerung hervorgehobene Paraphrase »das sei nicht christlich«, die in Pastor Timms Beitrag in leicht abgewandelter Form drei Mal wiederholt wird, weist auf den Kern der Verfehlung von Methling hin. Als wäre es nicht schlimm genug, dass seine Haltung von antisemitischem Gedankengut geprägt ist, missbraucht er seine Stellung als Pastor der Jerichower Petrikirche, um seine inhumanen und unchristlichen Gedanken christlich zu legitimieren. Die Bibel als Quelle der Argumentation wird politisch funktionalisiert und, wie das folgende Beispiel zeigt, notfalls gegen den Strich gelesen. Auch nach seiner Verabschiedung als Pastor der Jerichower Petrikirche und seinem Umzug nach Gneez ist Methling weiterhin in Jerichow präsent. Mit der Unterstützung des Lehrers Stoffregen redigiert er »sein Blatt rund um den Turm der Petrikirche« (JT, 239).6 Während Otto Stoffregen »kleine Aufsätze über Ortsgeschichte in der Umgebung von Jerichow« verfasst, schreibt Methling »über Bäume, Bäume im Volkslied, in der Sage, notfalls an der Chaussee, und kam von jedem auf die Stammbäume, auf Staemmlers Gesetzentwurf zur Rassenscheidung, auf Eheverbot und Vorfahrenforschung (siehe den Stammbaum Jesu im Buch Lukas)« (JT, 239). Die Ausführungen Methlings gehen erneut auf den bereits zitierten Beitrag Etwas von Bäumen zurück, den Pastor Timm über vier Ausgaben verteilt zwischen 1931 und 1933 veröffentlichte.7 Angefangen in der sechzehnten und weitergeführt in der siebzehnten Ausgabe, in denen Timm u. a. auf Die Schönheit der Bäume8 und Die Bäume im Volkslied9 zu sprechen kommt, folgt in der zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten Ausgabe das »längste und zentrale Kapitel«10 seines Beitrags: Der Stammbaum.11 Darin werden Martin Staemmlers12 Überlegungen zur ›Rassenhygiene‹ mit seinen Gesetzesentwürfen 6 7 8 9 10 11 12

Das Gemeindeblatt trägt den Namen Rund um die Petrikirche (vgl. JT, 236). Vgl. hierzu auch Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 93–96. Vgl. Timm, Etwas von Bäumen, S. [116]. Vgl. ebd., S. [3f.17]. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 94. Vgl. Timm, Etwas von Bäumen, S. [1–322], [123]. Martin Staemmler gehörte zu den »bekannteren Vertretern der ›Rassenhygiene‹« im nationalsozialistischen Deutschland und veröffentlichte 1933 mit Rassenpflege im völkischen Staat ein hierfür »grundlegendes Werk«; Gereon Schäfer/Carola Döbber/Dominik Groß: Martin Staemmler – Pathologe und Hochschullehrer im Dienst der nationalsozialistischen »Rassenpolitik«, S. 7, 5. URL: https://www.ukaachen.de/fileadmin/files/sonstige/ medizinische-ge sellschaft-aachen/Staemmler__Martin__Aufsatz_.pdf [Zugriff vom 31. 5. 2020]. Die am 18. April 1972 verliehene Ehrenmitgliedschaft der Medizinischen Gesellschaft Aachen an Staemmler wurde 2006 widerrufen, nachdem dessen umfangreiches und vielfältiges Engagement für die nationalsozialistische ›Rassenpflege‹ bekannt wurde: »Neben einer Referententätigkeit für das ›Rassenpolitische Amt‹ war er auch Mitherausgeber der ›rassenhygienischen‹ Zeitschrift ›Volk und Rasse‹. Ausschlaggebend für den Widerruf der Ehrenmitglied-

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»zur Scheidung der Rassen« und »zur Reinerhaltung der Rassen«,13 die dieser 1932 in der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes veröffentlichte, als »[s]ehr beachtliche Ausführungen und Vorschläge zu diesem Gebiet«14 gelobt. In der dreiundzwanzigsten Ausgabe des Gemeindeblattes aus dem Jahr 1933 befasst sich Timm »auf zum Teil sehr fragwürdige und ausgesprochen gewundene Art«15 mit den Stammbäumen Jesu in den Evangelien nach Matthäus16 und Lukas. Er gelangt zu dem Schluss, dass »[a]uch im Stammbaum Jesu […] Sünderinnen und Andersstämmige und Schwächlinge ebenso ihren Beitrag des Blutes bringen [müssen] wie Heilige und Edle«,17 um schließlich im impliziten Aufruf zu Spenden und zur Übernahme eines Kirchenamtes zu enden. Die Referenz auf den Stammbaum Jesu im dritten Kapitel des Lukasevangeliums, formal durch die Einklammerung als Erzählerkommentar gekennzeichnet, kann als Parodie des Erzählers auf die rassentheoretischen Ausführungen Methlings verstanden werden. Durch die Integration des biblischen Intertextes mit dem Hinweis auf Lk 3,23–38 wird Jesus als Ahne des Levi18 in die Traditionslinie des Tanach bzw. des Alten Testaments integriert. Ätiologisch wird der Sohn Gottes in eine Linie mit König David gestellt, um ihn als den ›wahren Christus‹ zu verkündigen.19 Damit geht jedoch der Schluss einher, dass das Christentum seinen Ursprung in einer jüdischen Sekte hat, sodass sich christliche zwangsläufig mit jüdischen Stammbäumen überschneiden müssen. Durch den bloßen Hinweis auf den Stammbaum Jesu werden antijudaistische Rassentheorien als irrational und theologisch unfundiert entlarvt. Dass darüber hinaus Angehörige anderer Ethnien innerhalb des Stammbaums durch einen Kirchenvertreter wie Methling instrumentalisiert werden, um die absurden Theorien von

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schaft in der Medizinischen Gesellschaft Aachen im Oktober 2006 waren vor allem die Inhalte von Staemmlers 1933 erstmals erschienenem Buch ›Rassenpflege im völkischen Staat‹«; ebd., S. 1. Vgl. Martin Staemmler: Rassenhygiene im Dritten Reich, in: Ziel und Weg 2, 1932, H. 1, S. 7– 22, hier: S. 19f. Timm, Etwas von Bäumen, S. [322]. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 95f. Vgl. Mt 1,1–17. Timm, Etwas von Bäumen, S. [223]. Vgl. Lk 3,29. Vgl. Jes 7,13f.: »13Da sprach er: Wohlan, so höret, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, daß ihr die Leute beleidigt, ihr müßt auch meinen Gott beleidigen? 14Darum so wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie heißen Immanuel.« Christus/Christos leitet sich aus dem Griechischen her und bedeutet ›Gesalbter‹; im Neuen Testament kommt der Begriff »als Übersetzungswort von Μεσσίας ausschließlich personenbezogen, entweder auf die erwartete unbekannte Messiasgestalt oder auf Jesus von Nazaret als den gekommenen Messias« vor; Ferdinand Hahn: xριστός, in: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 3: παγιδεύω–ὠφέλιμος, Register, 2., verb. Aufl. mit Literatur-Nachträgen, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, Sp. 1147–1165, hier: Sp. 1147f.

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›Rassenhygienikern‹ wie Staemmler zu stützen, erzeugt ein »treffendes Bild christlicher Mitschuld«20 an den Folgen des latenten Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zugleich rückt aber auch die Frage nach der Botschaft und den Grenzen der Auslegung der Heiligen Schrift in den Blick, die an dieser Stelle nur angesprochen werden soll. Wallschläger und die »Erlösung von diesem Fluchvolk« Noch bedeutend weiter als Methling geht der ›Deutsche Christ‹ Wallschläger, der bezeichnenderweise keinen Vornamen trägt.21 Physiognomisch als ein Mann mit »Halbglatze, Hakennase, Breitmund« beschrieben, ist Wallschläger ein »überzeugter Gefolgsmann einer nationalsozialistischen Christenheit«.22 Bereits durch die Beschreibung mit einer Hakennase wird die Figur zur Parodie eines nationalsozialistischen Geistlichen. Gesteigert werden die parodistischen Züge Wallschlägers im Tageskapitel vom 1. März 1968, in dem von seinem Versuch erzählt wird, »frohen Tones« die Jerichower Gemeinde »vor der sittlichen Verrohung« zu bewahren, die mit seinem Vorgänger Brüshaver Einzug gehalten habe: Er machte es theologisch. Was nun der christliche Glaube überhaupt sei. Na? Aus dem Judentum stamme er nicht. Jesus habe ein jüdisches Verstehen des Alten Testamentes unmöglich gemacht, und wer ihn als jüdischen Vergifter unseres Volkes bezeichne, solle sich nur umsehen! Luther und Bismarck und Hindenburg seien Deutsche gewesen, und was für welche, und Christen. Nun lasset uns beten. Er machte es geschichtlich. Er erzählte etwas von einem Überfall in der Heide bei Mölln im Jahre 1638, und sogar Heimatforscher Stoffregen schüttelte den Kopf. Schon vor dreihundert Jahren seien die Juden Hehler und Auftraggeber für marodierende Soldaten gewesen! Und nun schlagen wir auf das Buch Richter. Er hatte begriffen, daß seine Gemeinde zu großem Teil von Landwirtschaft lebte, und machte es heimatverbunden. Die Juden seien schuld an der Hungersnot im Kriege in Schleswig-Holstein […]. (JT, 806f.; Hervorhebung P. O.)

Mit aller Macht versucht Wallschläger, seiner Gemeinde sein antisemitisches Gedankengut zu vermitteln – theologisch, geschichtlich und heimatverbunden –, doch bei den Jerichowern stößt er damit auf taube Ohren. Für sie ist er nur ein »hergelaufene[r] Jubelpastor«, sodass die Zahl der Kirchenaustritte Jahr für Jahr steigt: »Es lohnte sich nicht für solche Art von Abendmahl, bei dem der Wein nicht das Blut alter Art war, sondern das der nationalsozialistischen Märtyrer bedeuten sollte.« (JT, 807)23 Zu einer vollends »satirische[n] Karikatur«24 oder gar 20 Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 128. 21 Jene (Vor-)Namenlosigkeit deutet, folgt man den Ausführungen Krappmanns, auf ein distanziertes Verhältnis der Protagonistin zum Pastor, aber auch des Pastors zu seiner Gemeinde hin; vgl. Krappmann, Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, S. 250–267, bes. 252, 262f. 22 Wörn, Pfarrer- und Pfarrhausbilder, S. 182. 23 Wörn zufolge werden die Predigten Wallschlägers jedoch nicht abgelehnt, »weil man der Gesinnung des Pastors unbedingt kritisch gegenüber steht, sondern weil man sich der Aus-

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»›Karikatur einer bereits bestehenden Karikatur‹«25 wird Wallschläger, weil er auch dann »feurig Heil Hitler [rief], wenn er in ein Zimmer trat, in dem Leute um ein Bett herumstanden, in dem einer gestorben war« (JT, 807). Wirft man einen genaueren Blick auf die Predigten Wallschlägers, fällt neben typisch antisemitischen Motiven – Juden als Wucherer bzw. Hehler, Brunnenvergifter und Verräter – der Verweis auf das Buch der Richter aus dem Alten Testament auf; den einzigen konkreten biblischen Intertext. Folgt man als Leser der Aufforderung Wallschlägers an seine Gemeinde und öffnet das Richterbuch, in dem der Zeitraum »[n]ach dem Tod Josuas«26 und vor der Zeit der Könige erzählt wird,27 stellt man schnell fest, dass die biblische Anspielung nicht allein auf die landwirtschaftlich geprägten Einwohner Jerichows bezogen sein kann.28 Das Buch der Richter, das trotz seines geschichtsschreibenden Charakters nicht als historische Quelle gelesen werden kann, ist geprägt durch den erzählerischen Zyklus von »Abfall, Strafe und Rettung«.29 Zu Beginn steht jeweils der Abfall der Israeliten von JHWH, verbunden mit dem (Götzen-)Dienst an anderen Göttern. Infolgedessen gibt JHWH sein auserwähltes Volk in die »Gewalt von Räubern«,30 um sie aus ihrer großen Not durch den Einsatz eines Richters zu erretten. Mit dem anschließenden Tod dieses Richters beginnt der Zyklus von vorn und mit ihm eine Zeit, in der »ein jeglicher tat, was ihn recht deuchte«.31 Gerade hierin scheint die Intention zu liegen, mit der Wallschläger seine Gemeinde das Buch der Richter öffnen lässt: Die Geschichte Israels soll als ein ständiger Abfall von Gott deklariert werden, der erst mit Jesus von Nazareth in einer »Erlösung von diesem Fluchvolk« (JT, 807) endete. Ergänzt wird der theologisch hergeleitete Antisemitismus mit der Erhöhung des eigenes Volks: »Gott habe schon gewußt, warum er Jesus nicht in Deutschland auf die Welt geschickt habe« (JT, 807). Eingebettet ist Wallschlägers politischer Antisemitismus in die theologische Vorstellung von Jesus als dem Überwinder des Judentums, der ein »jüdisches Verstehen des Alten Testaments unmöglich gemacht« habe. Eine genealogische

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einandersetzung mit der eigenen Verantwortung zu entziehen sucht«; ebd., S. 183. Nur schwer in Einklang bringen lässt sich diese Deutung mit der Rolle seines Vorgängers Brüshaver in der Gemeinde, mit dem trotz seiner Mahnungen und Appelle keine Kirchenaustritte verbunden werden. Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 127. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 99. Ri 1,1. Vgl. Ri 21,25: »25Zu jener Zeit war kein König in Israel«. Der Intertext wird im Jahrestage-Kommentar damit erläutert, dass im Buch der Richter »Einzelheiten des dörflichen Lebens geschildert [werden], die für die Zeit von 1200–1000 v. Chr. typisch waren«; Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 451. Georg Hentschel: Das Buch der Richter, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 213–221, hier: S. 215. Ebd. Ri 21,25.

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und theologische Traditionslinie zwischen Judentum und Christentum wird negiert und das Judentum stattdessen als Antipode deklariert. Für Wallschlägers theologische Rechtfertigung eines christlich begründeten Antisemitismus griff Johnson ein weiteres Mal auf das Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz zurück. Seit dem Jahr 193432 wurde dieses von Karl Timms Nachfolger in der Klützer Marienkirche, Willy Wömpner, einem »leidenschaftliche[n] und überzeugte[n] Nationalsozialist[en]«,33 herausgegeben. In der vierzigsten Ausgabe aus dem Jahr 1936 wird die Frage erörtert, inwieweit der christliche Glaube aus dem Judentum hervorgehe.34 Für den Artikel zeichnet aber nicht Wömpner verantwortlich, sondern der Theologe Otto Stroh,35 aus dessen Schrift Deutschglaube? der Ausschnitt entnommen ist. Stroh führt zu der Frage aus, dass es geradezu unverständlich sei, wie ausgerechnet der Mann, der jegliches jüdische Verstehen des Alten Testaments in der christlichen Kirche ein für allemal in einem gigantischen Kampf unmöglich gemacht hat, als ein jüdischer Vergifter unseres Volkes angeprangert werden kann. Wenn es keine schlimmeren Vergifter unseres Volkes gäbe, wäre es um uns wohl bestellt.36

Interessant ist zunächst, dass Stroh mit »der Mann« nicht auf Jesus von Nazareth rekurriert, sondern auf Paulus. Paasch-Beeck hat Überlegungen angestellt, ob es sich um einen Übertragungsfehler »angesichts der langen und theologisch differenziert formulierten Quelle« oder um einen bewussten Austausch handelt, um die theologische Aussage zu erhöhen: »Durch eine solche ›Erhöhung‹ – der Apostel Paulus wird durch Jesus, den Messias ersetzt – wird auch die Dramatik im innerkirchlichen Kampf noch einmal zugespitzt.«37 Für den Versuch einer bewussten Erhöhung spricht der agitatorische Gestus von Wallschlägers Predigt, 32 Die erstmals von Pastor Wömpner herausgegebene achtundzwanzigste Ausgabe trägt zwar die Datumsangabe »Hartung 1933«, aufgrund der vorherigen und nachfolgenden Ausgaben muss hier aber ein Druck- bzw. Übertragungsfehler vorliegen; Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 28, 1934, S. [1]. 33 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 101. Willy Wömpner wurde im Oktober 1933 mit 26 Jahren zum Pastor der Gemeinde in Klütz berufen und bekleidete das Amt bis 1973, sechs Jahre vor seinem Tod im Februar 1979; vgl. ebd.; Immatrikulation von Willy Wömpner, in: Martrikelportal Rostock, hg. im Auftrag des Rektors der Universität Rostock von Kersten Krüger. URL: http://purl.uni-rostock.de/matrikel/200027088 [Zugriff vom 31. 5. 2020]; Personalien, in: Kirchliches Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs 6, 1979, S. 47f., hier: S. 48. 34 Vgl. Otto Stroh: Stammt der christliche Glaube aus dem Judentum?, in: Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 40, 1936. 35 Otto Stroh war seit 1927 Professor und Direktor des Theologischen Seminars in Friedberg (Hessen); vgl. Annemarie Smith-von Osten: Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1980, S. 341, Anm. 20. 36 Otto Stroh: Deutschglaube? Frage und Antwort, Dresden 1936, S. 8. 37 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 103.

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in der er Strohs polemische Bemerkung, »[w]enn es keine schlimmeren Vergifter unseres Volkes gäbe, wäre es um uns wohl bestellt«, in eine Drohung umformuliert: »wer ihn als jüdischen Vergifter unseres Volkes bezeichne, solle sich nur umsehen!« Wallschläger spricht aus einer Position der Macht und Stärke heraus, wohingegen Stroh, aus dessen Beitrag Deutschfrage? in der darauffolgenden Ausgabe des Gemeindeblattes erneut zitiert wird38 – und mit ihm auch Wömpner, der ein Flugblatt zu der Frage Kann ein Deutscher Christ sein? an den Anfang der dreiundvierzigsten Ausgabe seines Gemeindeblatts stellt39 –, ihre christliche Position innerhalb der völkisch-antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus zu behaupten versuchen.40 Paasch-Beeck sieht in Wallschläger eine Pastorenfigur, in der die Grenzen »zwischen radikalen antisemitischen und theologischen Positionen einer so genannten ›anständigen‹ oder ›intakten‹ Kirche und Theologie«41 verwischen. Die pointierte Auswahl aus Strohs Beitrag, die dessen theologische Überlegungen nur andeuten, um stattdessen antisemitische Ressentiments hervorzuheben, lässt in Wallschläger eher das Bild eines ›Deutschen Christen‹ erkennen, der der Idee eines christlichen Deutschlands in der Tradition von Luther, Bismarck und Hindenburg folgt:42 »Wallschläger, Verkünder der 38 Vgl. Otto Stroh: Verbiegt und entstellt der christliche Glaube unsere deutsche Art?, in: Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 41, 1936, S. 63. Vgl. hierzu Stroh, Deutschglaube, S. 12–14. Stroh geht in diesem Abschnitt auf verschiedene Vorwürfe ein, wonach der Glaube an Gott und der Glaube an die Nation nicht miteinander vereinbar seien, und weist sie am Ende zurück: »Man sagt, der Christ könne sein Vaterland gar nicht so recht lieben, da ja sein Sinnen und Trachten gar nicht auf diese Welt, sondern auf eine andere Welt gerichtet sei. […] Man sagt, das Christentum sei international. […] Man sagt, das Christentum mache weichlich, weil es die Liebe predige, und zersetze daher die Kraft der Nation. […] Man sagt, das Christentum sei tolerant, weil es den Anspruch auf letzte Wahrheit erhebe, und gefährde daher die deutsche Neigung zur Toleranz. […] Man sagt, wir hätten kein Verständnis für das, was Ehre heißt, weil das Christentum den Menschen als Sünder hinstelle und ihn somit herabwürdige. […] Was bleibt von allen Vorwürfen? Vor allem eine ehrliche Verwunderung, daß man es immer wieder wagt, in Zeitschriften, Zeitungen und Vorträgen die Frage aufzuwerfen, ob man als Christ Deutscher und als Deutscher Christ sein kann. Wenn man sich auch hütet, diese Frage rundweg und allgemeingültig mit einem Nein zu beantworten, so weiß man es doch so hinzustellen, als ob unser Glaube unsere deutsche Art zum mindesten knicke und verbiege und daher unter allen Umständen für unser Volk eine Gefahr bedeute. Aber wir meinen: die ganze Frage ist schon kränkend und paßt nicht ins Dritte Reich. Längst ehe sie jemand stellen konnte, ist sie durch das Blut unserer Verwundeten und Gefallenen beantwortet mit Ja«; ebd. 39 Vgl. H. Hauck: Kann ein Deutscher Christ sein?, in: Gemeindeblatt für die Kirchgemeinde Klütz 43, 1937, S. 73f. 40 Wörn beschreibt den Ton Wallschlägers ebenfalls als »provokativ«, nimmt aber eine apologetische Absicht an, womit der Jerichower Pastor mit Stroh übereinstimmen würde; vgl. Wörn, Pfarrer- und Pfarrhausbilder, S. 182. 41 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 106. 42 Dirk Schuster: »Führer von Gottes Gnaden«. Das deutsch-christliche Verständnis vom Erlöser Adolf Hitler, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 68, 2016, S. 277–285, hier:

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Freude, gerade mit Adolf Hitler zusammen und gleichzeitig ein Christ zu sein.« (JT, 806) Wilhelm Brüshaver und »Daniels Bußgebet« Innerhalb der verschiedenen Strömungen im evangelischen Kirchenkampf ist Pastor Wallschläger der größtmögliche Antipode zu seinem Vorgänger Wilhelm Brüshaver. Diese Distanz zwischen den beiden Pastorenfiguren wird im Roman kompositorisch markiert. Bevor sich der Erzähler im Tageseintrag des 1. März 1968 der Charakterisierung Wallschlägers widmet, resümiert er das Schicksal seines Vorgängers im Amt des Pastors der Jerichower Petrikirche: Aber Brüshaver hatte dem Staat zuviel zugemutet mit Daniels Bußgebet am Tag vor Lisbeths Beerdigung. Statt die Äußerung abzustreiten, es gehe der Teufel (dein Feind) umher wie ein brüllender Löwe, Petrus 1,5, hatte er seinen Vernehmern nicht nur dafür die Stellenangabe geliefert, auch für die anderen, die ein aufmerksames Mitglied seiner Gemeinde seit 1936 mitgeschrieben hatte. Nach der Verbüßung der Strafe war ihm Schutzhaft in einem Konzentrationslager verordnet, von der ein Ende nicht abzusehen war. Die gleichberechtigte Begräbnisfeier für die Leiche Cresspahl war dem Oberkirchenrat über die Hutschnur gegangen, von daher konnte sie nicht Hilfe erwarten oder daß Brüshaver einmal von neuem in Jerichow eingesetzt wurde. Er war im Amt nicht nur suspendiert; die Behörde war sich für eine Exmission nicht zu gut gewesen. (JT, 805)

Neben dem Konflikt mit dem nationalsozialistischen Staat, vor dem Brüshaver seine Gemeinde durch den Bezug auf 1 Petr 5,8 mahnt,43 wird der Dissens mit ›seiner‹ Kirche erwähnt, der für ihn in der (vorübergehenden) Exmission endet. Bereits mit dem folgenden Satz wird das kirchliche Urteil jedoch relativiert, denn Brüshavers Frau erhält von der »illegale[n] Kirchenleitung, de[m] Landesbruderrat« (JT, 805), eine finanzielle Zuwendung. Neben der Hilfe für Aggie Brüshaver und ihre Kinder ist die Spende Ausdruck einer in sich gespaltenen Kirche – einer Spaltung, die 1938 schon seit einigen Jahren Bestand hat. Bereits in den Monaten nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers ist Brüshaver unmittelbar von den »Streitigkeiten der evangelischen Kirche mit dem Österreicher« (JT, 425) betroffen. Für die kirchenpolitischen Einzelheiten dieses Konflikts greift der Erzähler überwiegend auf die Perspektive von Gesines Mutter zurück, die durch Aggie Brüshaver aus erster Hand von den Streitigkeiten erfährt, S. 279. Die Forderung der ›Deutschen Christen‹ basierte auf der Annahme einer »Sonderstellung des deutschen Volkes im göttlichen Weltenplan als Gegenvolk zu dem von Gott verstoßenen Judentum« und der »göttlichen Sendung des ›Führers‹« Hitler; ebd., S. 279f. Vgl. hierzu auch Doris L. Bergen: Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996, S. 21–43. 43 »8Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge.« 1 Petr 5,8 ist Bestandteil eines Abschnitts zur Ermahnung an die Aeltesten [Zürcher 1931] bzw. zu den Pflichten der Gemeindevorsteher [Luther 1912]; vgl. 1 Petr 5,1–9.

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verzichtet aber nicht auf eigene Kommentare und weitere Figurenperspektiven wie die Cresspahls.44 Im April 1933 kommt es zu einer ersten »Diktatur« in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg-Schwerins, weil der Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin, Walter Granzow, eigens einen Staatskommissar einsetzt, um den Oberkirchenrat »unter polizeiliche Bedeckung« (JT, 426) zu nehmen.45 Zu Beginn des Jahres 1934 wird Heinrich Rendtorff, der sich als Landesbischof zunächst als »Vorkämpfer für das Zusammengehen zwischen Kirche und Nationalsozialimus«46 verstand und Mitglied der NSDAP wurde, aus seinem Amt gedrängt und schließlich durch den Landeskirchenführer und ›Deutschen Christen‹ Walther Schultz ersetzt.47 Jener Schultz ist »so thüringisch erzogen, daß er statt mit Wasser mit Erde taufen wollte, weil er wie die Nazis eine Wolke aus Blut und Boden im Kopf hatte« (JT, 426). Im Januar 1934 positioniert sich Brüshaver innerhalb des Konflikts zwischen Pfarrernotbund und ›Deutschen Christen‹, indem er die Erklärung des Pfarrernotbundes vom 7./14. Januar 1934 vor der Jerichower Gemeinde verliest.48 Die Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes, der sich als Reaktion auf Ludwig Müllers Wahl zum Reichsbischof formiert hatte,49 richtete sich gegen die 44 Vgl. JT, 426f.: »Ob es nun um die Verweigerung des Fragebogens mit dem Arierparagraphen ging, oder um eine kirchliche Trauung unter einem nicht kirchlichen Motto […] oder um die Reinheit der Verkündigung des Evangeliums, für sie war die Kirche im Recht. Die Kirche durfte nicht gekränkt werden. Die Kirche wurde gekränkt. […] Sie sah so töricht aus dabei«. 45 Zur Auseinandersetzung um die zwischenzeitliche Einsetzung Walter Bohms zum Staatskommissar für die Landeskirche Mecklenburg-Schwerin im April 1933 vgl. Beste, Kirchenkampf in Mecklenburg, S. 25–32. 46 Ebd., S. 54. Rendtorff erklärte am 4. Mai 1933 seinen Eintritt in die NSDAP, »[n]achdem der Reichskanzler die innere Unabhängigkeit der Kirche zugesichert hat[te]«, wurde aber bereits ab August 1933 sukzessive aus seinem Amt als Landesbischof gedrängt, nachdem er nicht den ›Deutschen Christen‹ beitrat und sich für eine freie Kirche einsetzte; Heinrich Rendtorff, zitiert nach ebd., S. 34; vgl. ebd., S. 50–54. Spätestens ab Dezember 1933 wandte sich Rendtorff dem im September 1933 gegründeten Pfarrernotbund zu und bekannte sich als späterer Pastor in Stettin »entschieden zur Bekennenden Kirche«; ebd., S. 55. Dass diese für die Bewertung der Ablösung Rendtorffs wichtigen Details im Roman ausgespart bleiben, führt Paasch-Beeck auf die figurale Perspektivierung des Erzählten zurück; vgl. Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 59. 47 Zum Aufstieg Walther Schultz’ innerhalb der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg-Schwerin bzw. Mecklenburg vgl. Beste, Kirchenkampf in Mecklenburg, S. 56– 92. Am 13. Oktober 1933 fand die Vereinigung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirchen Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz zur Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg statt, die zum 1. Januar 1934 offiziell vollzogen wurde; vgl. Beste, Kirchenkampf in Mecklenburg, S. 65. 48 Durch die Integration der Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes wird der Fokus über die Mecklenburgische Landeskirche hinaus auf den gesamtdeutschen evangelischen Kirchenkampf gerichtet, zugleich aber durch das Verlesen vor der Jerichower Gemeinde zurückgekoppelt und exemplarisch konkretisiert. 49 Vgl. Klaus Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934: Barmen und Rom, Berlin 1985, S. 37.

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wenige Tage zuvor von Müller erlassene Verordnung betreffend die Wiederherstellung geordneter Verhältnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche – besser bekannt unter dem Namen ›Maulkorberlass‹ für alle Pfarrer des Deutschen Reiches.50 Mit Nachdruck protestiert der Pfarrernotbund darin gegen »den neuen Gewaltstreich«51 der ›Deutschen Christen‹ und endet unter Berufung auf das Augsburger Bekenntnis von 1530 mit einem Zitat aus dem fünften Kapitel der Apostelgeschichte, das in den Jahrestagen im Konjunktiv der indirekten Rede wörtlich wiedergegeben wird: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen« (JT, 426). Obwohl Brüshaver wenige Wochen später vor die Superintendentur in Gneez geladen und »schwer verwarnt« (JT, 426) wird, erfolgt im Roman eine doppelte Relativierung seiner Courage. Einerseits handelt es sich um eine Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes, als deren Mitglied Brüshaver durch das Verlesen der Erklärung ausgewiesen wird, sodass seine Courage von einem Kollektiv gestützt wird. Andererseits ist die vorgebrachte Kritik rein innerkirchlich motiviert. In einem anderen Punkt waren sich der Pfarrernotbund und später auch die Bekennende Kirche hingegen »eher unschlüssig«52 – in der sogenannten ›Judenfrage‹. Zwar weist Brüshaver die Mitglieder seiner Gemeinde im April 1933 »nach dem Judenboykott auf die christliche Pflicht zur Nächstenliebe« hin, doch war dies »ja der Beruf von dem Mann, dazu war er da und dafür bezog er sein Geld« (JT, 425). Dass es diesem Pflichtbewusstsein an der letzten Überzeugung fehlt, wird im unmittelbar folgenden Satz deutlich: »Arthur Semig hatte es nicht geholfen, und Brüshaver ging selbst nicht zu Tannebaum und kaufte ihm was ab.« (JT, 425)53 Durch sein ambivalentes Verhalten wird der Jerichower Pastor als ein typischer Geistlicher im Pfarrernotbund zu Beginn des Nationalsozialismus 50 Vgl. Ludwig Müller: Verordnung betreffend die Wiederherstellung geordneter Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche, zitiert nach Joachim Beckmann (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. 1933–1944, Gütersloh 1948, S. 36f. Gemäß dieser Verordnung durfte der Gottesdienst »ausschließlich der Verkündigung des lauteren Evangeliums« gelten und die »Freigabe sowie Benutzung der Gotteshäuser und sonstige[r] kirchliche[r] Räume zu kirchenpolitischen Kundgebungen jeder Art« wurden untersagt; ebd., S. 36. 51 Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes vom 7. und 14. Jan. 1934, zitiert nach ebd., S. 37. 52 Bernd Moeller: Geschichte des Christentums in Grundzügen, 9., überarb. Aufl., Göttingen 2008, S. 377. 53 Unter den Begriff ›Judenboykott‹ subsumiert der Erzähler durch die Erwähnung Semigs sowohl den Judenboykott vom 1. April 1933, der im Tageskapitel vom 24. November 1967 thematisiert wird, als auch den erst im weiteren Verlauf des Tageseintrags erwähnten sogenannten ›Arierparagrafen‹ (vgl. JT, 426) – § 3 I des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, wonach »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, […] in den Ruhestand (§§ 8 ff.) zu versetzen« seien; Adolf Hitler/Wilhelm Frick/Johann Ludwig von Krosigk: Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, in: Reichsgesetzblatt 1933, Teil 1, Nr. 34 vom 7. 4. 1933, S. 175–177, hier: S. 175.

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charakterisiert. Auch wenn deren Mitglieder im innerkirchlichen Widerstand gegen die ›Deutschen Christen‹ und die Gleichschaltung der Evangelischen Landeskirchen »schwere Verfolgungen, mühsam zu bewältigende sachliche Herausforderungen und dramatische Zerreißproben zu bestehen«54 hatten, kann eine gewisse Mitschuld auch dieser, dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstehender Christen, an der Shoah nicht geleugnet werden.55 Die Bekennende Kirche war keine in sich homogene Gruppe von Pastoren. Im Tageskapitel vom 26. Januar 1968, in dem eine zweite Kanzelabkündigung in den Roman integriert ist, wird dieser Umstand expliziert, indem einige theologische Positionen vom Begründer des Pfarrernotbundes und eines führenden Vertreters der Bekennenden Kirche skizziert werden. Mit seinem Pastorenkollegen Martin Niemöller ist sich Brüshaver einig, »daß es von der Schrift her nicht angehe, die Taufe durch den Stammbaum auszuwechseln. Jesus sei nun einmal in dem Juden Jesus von Nazareth geworden« (JT, 645). Allerdings ist der Jerichower Pastor der Auffassung, dass Niemöller sich »zur Arierfrage in der Kirche [hätte] anders verhalten können« (JT, 645). Angesichts seines eigenen zurückhaltenden Auftretens zur ›Judenfrage‹ überrascht diese Kritik Brüshavers an seinem Amtskollegen. Die Begründung folgt jedoch auf dem Fuße: »Daß die Juden ihm unsympathisch und fremd vorkämen, das war seine Sache, nicht die der Kirche.« (JT, 645) Die Haltung Brüshavers basiert in erster Linie auf einem Pflichtbewusstsein als Pastor und nicht auf einer politischen Überzeugung. Trotz seines guten Willens offenbart Brüshaver damit eine gewisse Naivität im politisch geführten Kirchenkampf. Den Anlass für die intensive Auseinandersetzung mit Niemöller bildet das gegen diesen gesprochene Unrechtsurteil. Nach seiner Verhaftung am 1. Juli 1937 wird Niemöller im März 1938 zu »7 Monaten Festungshaft und 2.000,– RM Geldstrafe verurteilt«.56 Gleichzeitig stellte das Gericht fest, »daß die 7 Monate Festungshaft und 500,– RM von der Geldstrafe«57 durch die Untersuchungshaft bereits verbüßt waren. Doch Niemöller wird »am 2. März weder in Freiheit gesetzt noch auf eine Festung, sondern verschleppt in das Konzentrationslager Sachsenhausen« (JT, 645), wo er als ›persönlicher Gefangener des Führers‹ interniert ist.58 Die ›Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche‹, wie sich die 54 Moeller, Geschichte des Christentums, S. 377. 55 In seinem Urteil bedeutend weiter geht Mecklenburg, der in der ›Judenfrage‹ »zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche und auch katholischer Kirche mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede« sehe; Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 130f. 56 Martin Albertz u. a.: Kanzelabkündigung. 13. März 1938, in: Beckmann (Hg.), Kirchliches Jahrbuch 1933–1944, S. 235f., hier: S. 235. 57 Ebd. 58 Der Status bedeutete für Niemöller »Schutz, insofern der Gefangene nicht der Willkür des Lagerkommandanten ausgeliefert war. Entscheidungen über ihn wurden vom Sicherheitsdienst in Berlin gefällt. […] Er bekam, allerdings nur gegen Entgelt, bessere Verpflegung; die

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führenden Vertreter der Bekennenden Kirche bezeichneten, verfasste daraufhin eine Kanzelabkündigung für den 13. März 1938. Der Erzähler gibt nicht nur wieder, dass Brüshaver die Kanzelabkündigung vor seiner Gemeinde verliest, sondern montiert einen Abschnitt daraus in den Roman, der seinerseits zwei biblische Zitate enthält: »Diese Maßnahme ist mit dem Urteil des Gerichts nicht vereinbar. Es steht geschrieben: Recht muß doch Recht bleiben; und: Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.« (JT, 645f.) Markiert werden die beiden Zitate durch die einleitende Formel »Es steht geschrieben«. Der zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch »Recht muss doch Recht bleiben« ist die Kernaussage von Psalm 94,59 dem Hilferuf gegen die Unterdrücker des Volkes Gottes.60 Die Wendung »Gerechtigkeit erhöht ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben« entstammt hingegen dem 14. Kapitel der Sprüche Salomos.61 Der Vers aus Spr 14,34 ist eingebettet in einen Rahmen um die Verse 28 bis 35 im 14. Kapitel des Sprüche-Buches, die Arndt Meinhold in seinem Kommentar mit Hinweisen zur rechten Herrschaft eines Königs überschreibt.62 Innerhalb dieses Abschnitts wird in Vers 34 eine »außenpolitische Sicht«63 eingenommen, in der ein Volk gemäß seiner Verhaltensethik als gerecht oder sündhaft klassifiziert wird. Eingebettet in den Gesamtkontext der Verse 28 bis 35 verweist der Begriff des ›Volkes‹ in erster Linie auf die herrschende Klasse, von deren Leitung der Grad an Gerechtigkeit abhänge.64 Bei Psalm 94 handelt es sich um das Klagelied eines einzelnen Gläubigen, der sich in seiner Verzweiflung über Unrecht und Gewalt im Volk Israel an JHWH wendet und an dessen Intervention appelliert: »Erhebe dich, du Richter der Welt; vergilt den Hoffärtigen, was sie verdienen!«65 Die Klage mündet in der Gewissheit »auf eine grundsätzliche Wiederherstellung des Rechtszustandes, der universal für alle Menschen gilt, die nach Art der Armen ›redlichen Herzens‹ sind«.66 Insofern folgen auf den »Notschrei des Bedrängten« die Gewissheit der göttli-

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Haare wurden ihm nicht kahlgeschnitten und er musste keine Sträflingskleidung tragen. Stattdessen bekam er eine alte Polizeiuniform mit schwarzer Hose und blauem Mannschaftsrock, auf der linken Brustseite das rote Stoffdreieck eines politischen Häftlings. Im Zellenbau, dem von einer Mauer umgebenen Gefängnis des Lagers, wurde Niemöller konsequent isoliert. Eingeschlossen in seine Zelle, durfte er mit niemandem sprechen«; Michael Heymel: Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer, Darmstadt 2017, S. 93. Vgl. Ps 94,15. Unter diesem Titel steht Ps 94 in der Lutherbibel nach der Revision von 1912. In der revidierten Zürcher Bibel von 1931 trägt der Psalm den Titel Gott der Rächer. Vgl. Spr 14,34. Vgl. Arndt Meinhold: Die Sprüche, Bd. 1: Sprüche Kapitel 1–15, Zürich 1991, S. 242. Ebd., S. 245. Vgl. Hans H. Fuhs: Sprichwörter, Würzburg 2001, S. 103. Ps 94,2. Frank-Lothar Hossfeld/Erich Zenger: Die Psalmen II. Psalm 51–100, Würzburg 2002, S. 508.

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chen Errettung – »auch wenn alle sichtbaren Gegebenheiten noch dagegen sprechen«67 mögen – und ein »auf den einzelnen ausgerichtetes Bekenntnis«68 auf ein befreiendes Urteil hin. In der Hoffnung auf ein solch befreiendes Urteil für Niemöller zielt die Kanzelabkündigung darauf, den Gemeindemitgliedern unter Berufung auf die biblische Autorität das Unrecht der Naziherrschaft vor Augen zu führen und den Widerstand gegen die Willkürherrschaft zu vergrößern – und sei es nur in Form stillschweigender Missbilligung. Dass Brüshaver dabei mit Niemöller einen der führenden Vertreter der Bekennenden Kirche ausgesprochen differenziert beurteilt, zeugt von einer zunehmenden Loslösung des Jerichower Pastors von institutionellen Zwängen hin zu einem christlich fundierten Humanismus. Mit seiner Emanzipation geht das Überdenken des eigenen Handelns als Christ im Allgemeinen und als Pastor im Speziellen einher. Auch in Brüshavers Verhalten kommt anfangs »zwar etwas verklemmt, aber dennoch unangenehm sichtbar dessen christlicher Antisemitismus zum Vorschein«.69 Auf Cresspahls Wunsch nach Arthur Semig als Taufpaten seiner Tochter bedenkt er den Tischlermeister mit einem seiner Blicke […], als habe er vor lauter Hinhören und Hinsehen sich verhört und versehen, bis Cresspahl in einer wiederholenden Art zu Protokoll gab: Herr Semig ist kein Jude, schon sein Großvater hat die Taufe genommen […] –, alles in dem gelassenen, verbindlichen Ton, in dem er sonst eine Schlägerei anbot, und Brüshaver nickte […]. (JT, 299)

Sieben Jahre später, im März 1938, richtet er nicht nur an Niemöller den Vorwurf, er hätte sich »zur Arierfrage in der Kirche« (JT, 645) anders verhalten können, sondern stellt zugleich sein eigenes Handeln auf den Prüfstand. Für ihn war Arthur Semig »ein Glied seiner Gemeinde gewesen, nicht ein Jude« und »noch 1934« hatte er ihm »das Abendmahl gegeben; danach war er ja nicht mehr gekommen« (JT, 645). Der durch ein Semikolon vom Rest des Satzes getrennte Nachtrag verdeutlicht durch die Verwendung der Interjektion ›ja‹, dass ein Pastor seine indirekte Beteiligung an der sukzessiven Ausgrenzung eines von den Nationalsozialisten als jüdisch definierten Gemeindemitglieds zu rechtfertigen versucht. Nach 1934, das impliziert dieser Nachtrag, hat sich Brüshaver um Semig nicht mehr gekümmert, obwohl er wusste, warum dieser seinem Gottesdienst fernblieb. Zuletzt hat Paasch-Beeck plausibel dargelegt, dass der Tod von Brüshavers Sohn im Spanischen Bürgerkrieg (vgl. JT, 562) eine Zäsur in dessen

67 Hans-Joachim Kraus: Psalmen, Teilbd. 2: Psalmen 60–150, 5., grundlegend überarb. und veränd. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1978, S. 826. 68 Klaus Seyboldt: Die Psalmen, Tübingen 1996, S. 374. 69 Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 136.

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Beurteilung staatlichen Handelns einleitet und so maßgeblich für seine Emanzipation von Kirche und Staat verantwortlich zeichnet.70 Besonders deutlich wird Brüshavers Wandel im Anschluss an die Ereignisse der Reichspogromnacht. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kommt es in Jerichow nicht nur zur Verwüstung von Oskar Tannebaums Tuchgeschäft. Um vor den Schaulustigen für Ruhe zu sorgen, feuert Bürgermeister Friedrich Jansen zwei Schüsse ab, von denen vermutlich einer die achtjährige Marie Tannebaum tödlich verwundet (vgl. JT, 724, 740). Nur wenige Stunden darauf nimmt sich Lisbeth Cresspahl das Leben, indem sie mit Stricken die Knöchel und Handgelenke fesselt und die Futterkammer des Cresspahl’schen Hauses in Brand setzt (vgl. JT, 741–744).71 Seine (Mit-)Verantwortung an diesen Ereignissen führt Brüshaver zu einem überaus selbstkritischen Schluss: Duldung. Gewinnsucht. Verrat. Der Egoismus auch eines Pfarrers, der gesehen habe nur auf die Verfolgung der eigenen Kirche, der geschwiegen habe entgegen seinem Auftrag, unter dessen Auge ein Gemeindemitglied sich einen eigenen, unentwendbaren, gnadenlosen Tod habe suchen können. (JT, 761)

Eingebettet sind die Worte Brüshavers in seine Predigt zum »22. Sonntag nach Trinitatis« (JT, 759), den 13. November 1938. Den biblischen Bezug bildet das 18. Kapitel des Matthäusevangeliums, in dem das »Zusammenleben in der Gemeinde«72 und die »Bedingung für den Eintritt in das Königreich des Himmels« (JT, 760) thematisiert werden. Zu Beginn seiner ›Strafpredigt‹ zitiert Brüshaver den dritten Vers in einer Form an, die an den Wortlaut der revidierten Zürcher Bibel von 1931 angelehnt scheint: »wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder« (JT, 760).73 In dieser gleichnishaften Antwort Jesu auf die Frage, wer der Größte im Himmelreich sei, ersetzt Johnson die Verbform ›umkehren‹ durch ›wandeln‹; obwohl der Ausdruck ›umkehren‹ bereits gewichtig ist, indem er den Jüngern eine »grundsätzliche ›Wende‹«74 auferlegt. Die Modifikation verstärkt den Ausdruck noch einmal dadurch, dass von den Gemeindemitgliedern nicht nur eine Umkehr, sondern eine grundlegende Veränderung gefordert wird. Der Aufforderung zum Wandel schließt sich der Vergleich zum Verhalten »der Kinder« an, der eine zentrale Frage zum Verständnis der Bibelreferenz aufwirft: Welche Verhaltensweise prädestiniert Kinder als Vorbild für die Jünger Jesu in 70 Vgl. Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 68. 71 Zum nur mittelbaren Zusammenhang zwischen Lisbeths Suizid und der Reichspogromnacht vgl. Dritter Teil, Kap. 4.1. Vgl. hierzu auch Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 248; Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 241. 72 Fiedler, Matthäusevangelium, S. 302. 73 In der Zürcher Bibel heißt es: »3[…] Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Reich der Himmel kommen.« 74 Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, Teilbd. 2: Mt 8–17, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1990, S. 12.

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der Heiligen Schrift bzw. für die Jerichower Gemeindemitglieder in der Aktualisierung durch Brüshaver? Es ist nicht die Un-Schuld von Kindern, die sie zum Vorbild macht, sondern das Verhalten von Kindern gegenüber ihren Eltern oder allgemein gegenüber Erwachsenen. Übertragen auf die Beziehung zwischen Gott und den Menschen geht damit die Forderung einher, »zurückzukehren in die Unmündigkeit und Abhängigkeit«75 von Gott. Mit seiner Predigt fordert Brüshaver seine Gemeindemitglieder auf, sich auf christliche Glaubensinhalte zu besinnen. Im weiteren Verlauf seiner Predigt spricht Brüshaver von der Warnung vor Verführung zum Abfall.76 Der Erzähler paraphrasiert sowohl Vers sechs77 als auch den von Brüshaver ausgelassenen siebten Vers, in dem die »Notwendigkeit solcher Übel in der Welt« angesprochen und dem Elend angedroht wird, »der es bewirkt« (JT, 760). Der Jerichower Pastor setzt stattdessen mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf in Form einer rhetorischen Frage fort: »Wenn eins sich verläuft, läßt man nicht die neunundneunzig zurück, um dies eine zu suchen?« (JT, 760) 78 Diesem impliziten Bezug auf das verloren gegangene Gemeindemitglied Lisbeth Cresspahl folgt zum Abschluss eine spielerische Umkehrung der Zahlenangaben im Gleichnis vom Schalksknecht: »Und sieben mal siebzig Male sollst du vergeben.« (JT, 760) 79 Jesu Antwort auf die Petrusfrage, wie oft jemandem zu vergeben sei, der an einem sündigt, schließt aufgrund der Symbolik der Zahl Sieben eine »Einschränkung der Vergebungspflicht«80 aus. In seiner programmatischen Antwort steigert Jesus die Vollkommenheit noch, indem er von Petrus als dem Sprecher des Jüngerkreises »vollkommen-vollkommenste, grenzenlos-unendliche, unzählbar-wiederholte Vergebung«81 einfordert. Brüshaver lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Predigt explizit für Gesines Mutter hält. Er betont, dass es die Bürger von Jerichow nichts angehe, wie Lisbeth gestorben sei, denn es war »eine Sache zwischen Lisbeth und Gott« 75 Ulrich Luck: Das Evangelium nach Matthäus, Zürich 1993, S. 201. 76 Vgl. Mt 18,6–11. In der Zürcher Bibel trägt dieser Abschnitt den Titel Verführung zur Sünde. 77 Die Wendung, »der das Kind zum Stolpern bringt«, scheint hierbei an den Wortlaut der Lutherbibel angelehnt zu sein: »6Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.« In der Zürcher Bibel lautet die Übersetzung: »6Wer aber einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zur Sünde verführt, für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde« [Zürcher 1931]. Die vom Erzähler gewählte Nominalisierung korrespondiert mit Luthers ›ärgern‹ eher als mit der in der Zürcher Bibel gewählten Wendung ›zur Sünde verführt‹. 78 Vgl. Mt 18,12–14. 79 Vgl. Mt 18,22: »22Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.« Im Gegensatz dazu heißt es in der Zürcher Bibel von 1931: »22[…] Ich sage dir: Nicht bis zu siebenmal, sondern bis 77mal.« 80 Fiedler, Matthäusevangelium, S. 307. 81 Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 62.

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(JT, 769). Es gehe sie aber sehr wohl etwas an, dass sie gestorben war, denn immerhin hätten sie »mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte« (JT, 760f.). Mit den folgenden Worten, die die »Grundlage des Urteils gegen Brüshaver« bilden werden, spricht er verschiedene Schicksale seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten an: Er fing an mit Voss, der in Rande zu Tode gepeitscht worden war, er vergaß weder die Verstümmelung Methfessels im Konzentrationslager, noch den Tod des eigenen Sohns im Krieg gegen die spanische Regierung, bis er in der Mitternacht vor dem Tannebaum’schen Laden angelangt war. (JT, 761)

Für die Predigt ließe sich wohl keine bessere Umschreibung finden, als sie durch den Erzähler im Anschluss an die Verhaftung Brüshavers angeboten wird: »Daniels Bußgebet« (JT, 805). Sie enthält einerseits einen Hinweis auf das Datum der Predigt, »drei Tage vor dem Bußtag«,82 und somit auf eine kalendarische Korrespondenz. Andererseits rekurriert die Bezeichnung auf Dan 9,1–19.83 Dieser Verweis auf die Danielerzählung mit »seinen düsteren Prophezeiungen und Schreckensvisionen«84 dient als intertextuelle Folie, um auf die zurückliegenden und noch bevorstehenden Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland zu verweisen, aber »genau wie Daniel […] die Endlichkeit auch einer solchen Schreckensherrschaft wie die der Nazis«85 zu betonen. Brüshaver beginnt in seiner Besinnung auf einen christlich fundierten Humanismus, »das Vermächtnis der Toten zu erfüllen oder genauer: ihren Tod zu einem Vermächtnis zu erheben«,86 und bekennt gleichzeitig sein persönliches Versäumnis in seinem geistlichen Amt. Mit den drei Jerichower Pastoren zeichnet Johnson ein vielschichtiges Bild evangelischer Kirchenvertreter am Ende der Weimarer Republik und in der Zeit der Hitler-Diktatur zwischen 1933 und 1945. Während die Pastoren Methling und Wallschläger in ihrem Auftreten ihre antisemitische, nationalistische und nationalsozialistische Gesinnung erkennen lassen, distanziert sich Brüshaver vom Gedankengut des NS-Regimes und emanzipiert sich ebenfalls sukzessive von seiner (Bekennenden) Kirche, deren Widerstand primär kirchenpolitisch begründet war. Auch wenn Brüshaver damit kein »wahrer, ethisch makelloser

82 Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 70. Paasch-Beeck führt hierzu weiter aus, dass es angesichts des Beginns der Shoah im nationalsozialistischen Deutschland »nicht polemisch und kaum strittig« sei, »wenn man sagt, dass die Kirche und die große Mehrheit ihrer Pastoren in dieser Woche und an diesem Tag versagt haben«; ebd. 83 Die Bezeichnung bezieht sich hingegen nicht, wie Wittkowski annimmt, auf einen Psalm Davids; vgl. Wittkowski, Zeugnis geben, S. 135. 84 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 87. 85 Ebd., S. 86. 86 Wittkowski, Zeugnis geben, S. 139.

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Held und Christ«87 ist, kann er doch mit Paasch-Beeck als die wohl »eindrucksvollste Figur eines Pastors in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«88 bezeichnet werden.

4.1.2 Der kirchliche Umgang mit Suizidenten Den Anlass für Brüshavers Strafpredigt bildet der Suizid von Lisbeth Cresspahl in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938. In dem Bewusstsein, Gesines Mutter habe mit ihrem Tod »ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind« (JT, 760), entscheidet sich der Pastor, sein Kreuz auf sich zu nehmen und sein Gewissen als ein bekennender Christ vor den nationalsozialistischen Peinigern zu bewahren. Auch wenn sich der Nexus zwischen Lisbeths Suizid und den politischen Ereignissen um die Reichspogromnacht nicht so stringent darstellt, wie Brüshaver ihn propagiert,89 wird der bereits zuvor eröffnete theologisch-kirchengeschichtliche Komplex um das kirchliche Verbot des Suizids in einen politischen, konkret auch kirchenpolitischen Kontext gestellt. Im Vergleich zu Johnsons drittem Roman, Das dritte Buch über Achim, in dem das Thema durch den Suizid eines Bauern schon einmal aufgegriffen wurde, wird die theologische Reichweite des Komplexes in den Jahrestagen um ein Vielfaches erweitert. Eröffnet wird das theologisch-kirchengeschichtliche Feld des Suizids jedoch nicht erst mit der Selbsttötung Lisbeths. Infolge ihrer übersteigerten Vorstellung von Schuld versucht Gesines Mutter bereits im Vorfeld ihren Wunsch, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, mit der Heiligen Schrift zu legitimieren. Gegenüber Aggie Brüshavers behauptet sie, die Bibel verbiete »an keiner Stelle den Selbstmord« (JT, 643). Während es die Frau des Jerichower Pastors kaum glauben kann, kommt auch ihr Ehemann zu dem vorläufigen Schluss: »Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel.« (JT, 646) In diesem Zusammenhang zeigen sich eindringlich Lisbeths oberflächliche Lektüre und ihr banales Verständnis der Heiligen Schrift. Die Erkenntnis, wonach die Bibel nicht ausdrücklich in Form eines Gebots den Suizid verbietet, verleitet sie »zu dem doch etwas simplen, für sie aber verhängnisvollen Umkehrschluß, daß ihr Selbstmord dann wohl erlaubt ist«.90 Trotz dieser wenig tiefgründigen Auslegung darf an dieser Stelle nicht unbeachtet bleiben, dass Lisbeths Aussage als eine Art Rückversicherung gelesen werden muss. Diese kann 87 88 89 90

Ebd., S. 140. Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 112. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4.1. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 106.

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wiederum als »versteckter Hilferuf an ihren religiösen Beistand, ihren Seelsorger«91 verstanden werden. In einer für sie so entscheidenden Frage ist Lisbeth an einer Exegese interessiert, weil sie auf die Diskrepanz zwischen biblischer Grundlage und christlicher Dogmatik stößt. Von Brüshaver erfährt sie nicht, »daß es diesen Zaun gab« (JT, 646), den der Suizident zwischen sich und Gott errichtet. Stattdessen greift der Jerichower Pastor wie sein Gemeindemitglied selbst zur Bibel – wodurch Lisbeths Vorgehen als durchaus plausibel ausgewiesen wird – und arbeitet heraus, dass »Samson den Tempel nicht nur über den vornehmen Philistern eingerissen [hatte], sondern auch über sich« (JT, 646).92 Nach einer eingehenden Bibelrecherche notiert er schließlich »neun Stellen«93 auf einem Zettel und schläft darüber ein. Er vergisst aber, »was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott« (JT, 646). Brüshaver muss sich eingestehen, dass Lisbeth, hätte sie von jenem »Zaun« erfahren, »vielleicht nicht daran gedacht [hätte], ihn zu übersteigen« (JT, 646). Aus diesem Grund überrascht es nicht, wenn der Pastor sich mitschuldig am Tod seines Gemeindemitglieds fühlt: »Es mochten andere in der Stadt sein, von denen sie Beruhigung, Stütze, Auskunft erhofft hatte; die mußten das nicht zugeben. Der Pastor hatte die Pflicht, das einzugestehen« (JT, 756). Erst nachdem sich Lisbeth das Leben genommen hat, nimmt Brüshaver eine »erneute[] Abwägung der Selbstmordfrage«94 vor; jetzt in Form einer grundlegenden theologischen Reflexion. Die von ihm hierbei geäußerten Überlegungen sind, darauf hat Paasch-Beeck hingewiesen, »inhaltlich und sprachlich sehr eng an den Abschnitt Der Selbstmord in Bonhoeffers Ethik angelehnt«.95 Auch Dietrich Bonhoeffer betont die Komplexität des Themas und konstatiert, dass es »eine merkwürdige Tatsache [ist], daß die Bibel an keiner Stelle den Selbstmord ausdrücklich verbietet, sondern daß dieser immer wieder nur als (Übrigens nicht ausschließlich vgl. ……) die Folge schwerster Sünde auftritt, so bei den Verrätern Ahithopel und Judas«.96 In beinahe wörtlicher Übereinstimmung mit Bonhoeffer 91 Ebd., S. 105. 92 Vgl. Ri 16,29f. 93 Neben dem Tod Simsons werden noch weitere biblische Suizide benannt: »Abimelech hatte seinen eigenen Tod besorgt, damit er der Schande entging, von einer Frau getötet worden zu sein [vgl. Ri 9,53–54; P. O.]. Ahithophel [vgl. 2 Sam 17,23; P. O.] und Judas [vgl. Mt 27,5; P. O.] hatten sich erhängt. Siehe auch Apostelgeschichte 16,27; Offenbarung 9,6. Simri hatte sich verbrannt, und es war als eine Folge seiner Sünden gegen Gott erklärt [vgl. 1 Kön 16,18f.; P. O.]« (JT, 646). 94 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 106. 95 Ebd., S. 107. 96 Bonhoeffer, Ethik, S. 195f. Die in Klammern gesetzt Anmerkung wurde von Bonhoeffer im Manuskript ergänzt; die sechs Punkte dienten als Merkzeichen für noch zu ergänzende Bibelstellen.

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gelangt Brüshaver schließlich zu dem Schluss, dass »an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt« ist, weil »der Selbstmord die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung« (JT, 757).97 Inhaltlich ist es unerheblich, dass Johnson nicht direkt auf Bonhoeffers Ethik zurückgriff.98 Für die Werkgenese und das Verständnis von Johnsons Arbeitsweise ist es jedoch bedeutsam, dass die Passage auf die Expertise Bodo-Eberhard Köhlers zurückgeht. Die im Uwe Johnson-Archiv überlieferte Korrespondenz Johnsons mit dem studierten Religionswissenschaftler und späteren Redenschreiber von Klaus Schütz99 beinhaltet u. a. eine neun Seiten umfassende Abhandlung zum Themenkomplex ›Suizid‹.100 Teil dieser Ausarbeitungen sind »Theologische Bemerkungen und Überlegungen zum Selbstmord«,101 in denen die Ausführungen Bonhoeffers in dessen Ethik paraphrasiert sind. Wiederum in Anlehnung an Bonhoeffer findet sich in Köhlers Ausführungen im Anschluss an die theologischen Überlegungen eine Abwägung der ›Suizidfrage‹, die Johnson in die Jahrestage einfließen ließ. Brüshaver lässt keine Zweifel an einer »grundsätzliche[n] Verurteilung des Selbstmordes«102 aufkommen, dennoch kann er Lisbeth die Vergebung Gottes »nicht absprechen vor versammelter Gemeinde«, weshalb er zunächst nach einem Beweis sucht, »daß Gott sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten habe, weil ihm allein bekannt sei, zu welchem Ende er dies Leben führen werde« (JT, 757). In seiner daran anschließenden Predigt am »22. Sonntag nach Trinitatis« (JT, 759) verkündet der Jerichower Pastor, dass Gesines Mutter »zum Sterben so frei gewesen [sei] wie zum Leben« (JT, 760).103 Auch in diesem Punkt weisen die Ausführungen Brüshavers erhebliche Parallelen zu denen Bonhoeffers auf. Jener differenziert 97 Die Tatsache, dass die Bibel den Suizid nicht ausdrücklich verbietet, lässt Bonhoeffer zufolge nicht den Umkehrschluss zu, »daß die Bibel den Selbstmord billigt, sondern daß sie an die Stelle des Verbotes des Selbstmordes den Gnaden- und Bußruf an den Verzweifelten treten lassen will«; ebd., S. 196. 98 Ein erstes Indiz liefert Johnsons Arbeits- und Privatbibliothek. In den mehr als 8.000 Bänden befindet sich kein Werk Bonhoeffers; vgl. Onlinekatalog der Universitätsbibliothek Rostock. URL: katalog.ub.uni-rostock.de [Zugriff vom 31. 5. 2020]. Durch die Eingabe von »prv johnson« in das Suchfeld können die Bestände von Johnsons Arbeits- und Privatbibliothek eingesehen werden. 99 Schütz war als Regierender Bürgermeister von Berlin Nachfolger von Heinrich Albertz, der im September 1967 infolge des Todes von Benno Ohnesorg zurücktrat. Schütz übte das Amt bis 1977 aus; vgl. Wilfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins. 1948–1990, München 2009, S. 250. 100 Vgl. Bodo-Eberhard Köhler: [ohne Titel], o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/250002, Bl. 2–10. 101 Ebd., Bl. 8. 102 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 107. 103 Winkler hat darauf hingewiesen, dass Brüshaver nicht in dem Maße Einblick in Lisbeths Psyche hat, wie es seine Predigt suggeriert: »Lediglich Lisbeths Anfrage nach einem biblischen Selbsttötungsverbot bietet ihm einen Anhaltspunkt für die Motive ihres Selbstmordes«; Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 247. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4.1.

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zwischen dem Suizid als Form der Selbsttötung, bei der es »um ein bewußtes Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen geht«, und dem Suizid, der »ausschließlich und bewußt in Rücksicht auf die eigenen Person« begangen wird.104 Auch wenn erhebliche Zweifel bestehen, inwieweit Lisbeths Suizid aus theologischer Sicht als Opfer anerkannt werden kann, so bedeutet die Tat aus Lisbeths Perspektive doch eine »Bezahlung der eigenen Schuld und damit die Rechtfertigung ihres eigenen Lebens«.105 Bestärkt wird dieser Eindruck durch den Bibeltext, den Cresspahl für die Zeremonie an Lisbeths Grab auswählt: »Es war der 39. Psalm mit ausgestrichenen Sätzen« (JT, 754). Johnson folgt auch an dieser Stelle der Empfehlung Köhlers, der unter Verweis auf jenen Psalm mit dem Titel Bittruf angesichts der menschlichen Vergänglichkeit106 handschriftlich an den Rand notierte: »So könnte die Grabesrede anfangen«.107 Psalm 39 lässt sich »nicht in die bekannten Gattungen einordnen; obwohl er Motive des Klagelieds aufweist, kann er doch nicht als eigentliches Klagelied angesprochen werden«.108 Für Klaus Seybold ist er ein Hiobpsalm,109 »weil die besondere Situation des Psalmisten durch die Hioberzählung beleuchtet wird«, und ein Koheletpsalm,110 »weil er ein weisheitliches Gedicht über die Hinfälligkeit des Menschen […] zitiert, um seine Hilfsbedürftigkeit zu demonstrieren«.111 Der Psalm beinhaltet das Gebet eines Todkranken zu JHWH, der »sein nahes Ende als unabwendbares Verhängnis vor sich (5–7.14112)« sieht und von Gott den Zuspruch erwartet, »daß sein Leben sein Ziel gefunden hat«.113 Der Vorsatz des 104 Bonhoeffer, Ethik, S. 197. 105 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 108. 106 In der Zürcher Bibel nach der Revision von 1931 trägt Ps 39 den Titel Hilferuf eines hart Angefochtenen. 107 Köhler, [ohne Titel], Bl. 7. 108 Artur Weiser: Die Psalmen, Bd. 1: Psalm 1–60, Göttingen 1950, S. 211. 109 Die Theologie des Hiobbuches kursiert grundlegend »um die Frage nach dem rechten Verhalten des Menschen im Leid und […] um die Frage nach Ursache und Zweck des Leids«; Ludger Schwienhorst-Schönberger: Das Buch Ijob, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 335–347, hier: S. 344. 110 Die Theologie des Buches Kohelet »wird in der Forschung […] sehr kontrovers diskutiert«; eine Forschungsrichtung hebt »den pessimistischen Zug des Buches hervor«, während eine andere »im Aufruf zur Freude (5,17–19; 9,7–10; 11,9) den Schlüssel zu seinem Gesamtverständnis« sehe; Ludger Schwienhorst-Schönberger: Das Buch Kohelet, in: Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, S. 380–388, hier: S. 388; Kursivdruck im Original. 111 Seyboldt, Psalmen, S. 162f. 112 »5Aber, Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. 6Siehe, meiner Tage sind einer Hand breit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben! (Sela.) 7Sie gehen daher wie ein Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe; sie sammeln, und wissen nicht, wer es einnehmen wird. […] 14Laß ab von mir, daß ich mich erquicke, ehe denn ich hinfahre und nicht mehr hier sei.« 113 Kraus, Psalmen 2, S. 455.

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Psalmsängers, »schweigend und geduldig sein Leiden zu tragen (2–4114)«, wird »von der Verzweiflung und vom flehenden Rufen« durchbrochen, wodurch der Beter »um Hoffnung und Hilfe in dem als vergänglich, hohl und sinnlos erscheinenden Leben« ringt.115 Verzweifelt bricht das Lied letztlich ab: »es ist hineingetaucht in ein Dunkel ohnegleichen«, sodass angesichts des Todes »das ganze Leben fragwürdig« wird und sich »nach der einzigen Hoffnung (8116)«117 ausstreckt. Für Manfred Oeming berührt der Psalm in erstaunlicher Weise »Grundanliegen des Existenzialismus des 20. Jahrhunderts n. Chr.: Die prägenden Merkmale der Existenz sind Mangel, das Schuldigwerden und Scheitern sowie der Tod.«118 Er gelangt zu dem Schluss, dass man angesichts »all der negativen Grenzsituationen des Menschen« sagen müsse: »Das Leben ist absurd.«119 Aus Köhlers Aufzeichnungen, in denen die Verse fünf bis zehn sowie dreizehn aus der Lutherbibel zitiert werden,120 lässt Johnson Pastor Brüshaver im ersten Teil der Grabrede den fünften Vers zitieren, »in dem es heißt, daß ›mein Leben ein Ziel hat‹« (JT, 763). Dass dieser als vierter Vers ausgegeben wird,121 ist der Verszählung der englischsprachigen King James Bible geschuldet, »die den Einleitungsvers (›Ein Psalm Davids‹) nicht mitzählt und deshalb als ihren 4. Vers […] den entsprechenden 5. Vers der Lutherbibel zählt«.122 Auch die Verse fünf bis neun fließen in die Predigt Brüshavers ein, ohne jedoch in den Jahrestagen direkt zitiert zu werden. Paradoxerweise werden die Verse zehn bis zwölf paraphrasiert, obwohl sie in der Predigt ausgespart bleiben: »danach fehlte Lisbeths Versprechen zu schweigen, ihre Bitte um ein Ende der Quälerei und ihr Geständnis, sie sei erschöpft von Gottes Schlägen« (JT, 763; Hervorhebung P. O.). Dass genau diese Verse in Brüshavers Predigt fehlen, erscheint naheliegend, legen sie doch das eigene Schicksal des Psalmisten in die Hände Gottes – auf Lisbeth trifft dies hingegen nicht zu. Ihr Schicksal kann kaum ein Vers besser abbilden als der vorletzte des 39. Psalms: »Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien und schweige nicht über meinen Tränen, denn ich bin dein Pilgrim und dein 114 »2Ich habe mir vorgesetzt: Ich will mich hüten, daß ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich will meinen Mund zäumen, weil ich muß den Gottlosen vor mir sehen. 3Ich bin verstummt und still und schweige der Freuden und muß mein Leid in mich fressen. 4Mein Herz ist entbrannt in meinem Leibe, und wenn ich daran gedenke, werde ich entzündet; ich rede mit meiner Zunge.« 115 Kraus, Psalmen 2, S. 456. 116 »8Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich.« 117 Kraus, Psalmen 2, S. 456. 118 Oeming, Buch der Psalmen 1–41, S. 213f. 119 Ebd., S. 214. 120 Köhler hat hierbei auf zwei verschiedene Fassungen der Lutherbibel zurückgegriffen. Während die Verse fünf bis zwölf auf die revidierte Lutherbibel von 1912 zurückgehen, ist Vers dreizehn der Lutherbibel von 1892 entnommen. 121 Vgl. JT, 763: »Er begann mit dem 4. Vers […]. Von Vers 4 ging es bis Vers 8«. 122 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 112.

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Bürger wie alle meine Väter. O spare me, that I may recover strength, before I go home, and be no more.« (JT, 763) Die Wiederholung von Ps 39,13 in englischer Sprache erklärt nicht nur die Verszählung zu Beginn der Passage, sondern weist über die Jerichow-Ebene hinaus nach New York. Das Ende des Tageskapitels suggeriert, dass der Erzählverlauf des gesamten Tageskapitels das unterbewusste Erzählen Gesines im Schlaf abbildet,123 sodass die Sprache von Gesines gegenwärtiger ›Heimat‹ mit der Erinnerung an ihre Mutter Lisbeth verbunden wird. Im unterbewussten Erzählen kommt Gesines Trauma zur Sprache, das aus dem frühen Suizid der Mutter resultiert.124 Für den kirchenrechtlichen Komplex des Umgangs mit Suizidenten ist insbesondere die damit verbundene Bestattung bedeutsam. Cresspahl bestellt für die Beisetzung seiner verstorbenen Ehefrau »Votum, Lektion, Gebet, Vaterunser, Einsegnung, Segen« (JT, 755), woraufhin der Erzähler bemerkt: »Das waren drei Handlungen mehr als die Mecklenburgische Landeskirche Selbstmördern gewährte.« (JT, 755) Paasch-Beeck hat bereits nachgewiesen, dass die Aussage der Erzählinstanz einer Überprüfung nicht standhält.125 Sowohl in einem Entwurf der Formulare für die kirchlichen Handlungen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1916126 als auch in der Kirchlichen Verwaltungsordnung für Mecklenburg-Schwerin von 1931 wird hervorgehoben, dass die »(liturgische) Ordnung bei Begräbnissen […] für die einzelnen Kirchengemeinden durch besondere Begräbnisordnungen geregelt«127 ist. Auch enthalten 123 Vgl. JT, 768: »– Gesine wach auf. / – Warum? / – Du sprichst im Schlaf.« 124 Hierfür spricht auch, dass Johnson das Zitat aus Ps 39,13 in der ersten Fassung an den Text der King James Bible anpasste, nachdem er zunächst aus der New English Bible zitiert hatte; vgl. Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 2] (1. Fs.), Mappe 5, Bl. 47. Breuers These, wonach die Sprachwahl »auf das Bemühen der Erzählerin [verweist], einmal ihrer Tochter im New Yorker Milieu sprachlich entgegenzukommen, zum anderen den Vater gleichsam zu zitieren«, erscheint hingegen wenig plausibel, wenn man die Überarbeitung berücksichtigt, vor allem aber der Erzählintention folgt, wonach das Kapitel die Wiedergabe eines Traums von Gesine ist; Breuer, Die unerledigte Sache mit Gott, S. 305. Wittkowski ist hingegen der Auffassung, dass Lisbeth die Stelle gewiss so zitiert hätte, und fragt: »Sollen hier vielleicht Lisbeth und Brüshaver – hörbar oder still – zusammen sprechen, schweigen? Fällt eins in den Text des anderen mit? Denn wahrhaftig: Lisbeth hat im Tode Kraft benötigt; der Pfarrer braucht sie jetzt, im Leben«; Wittkowski, Zeugnis geben, S. 136. So schlüssig diese Interpretation klingen mag, lässt sie doch ebenfalls die Erzählkonstellation des Traums unberücksichtigt. 125 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 108–112. 126 Die beiden Evangelisch-Lutherischen Landeskirchen Mecklenburgs waren bis zum Inkrafttreten der Weimarer Verfassung am 14. August 1919 Staatskirchen unter der Hoheit der Großherzöge von Mecklenburg(-Schwerin) und Mecklenburg(-Strelitz). Im Jahr 1920 gab sich zuerst die Landeskirche von Mecklenburg-Strelitz, ein Jahr später die Landeskirche von Mecklenburg-Schwerin eine eigene Verfassung; vgl. Beste, Kirchenkampf in Mecklenburg, S. 13. 127 Kirchliche Verwaltungsordnung für Mecklenburg-Schwerin 1931, S. 160; Kursivdruck im Original. Vgl. auch Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs: Formulare für die

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beide Ordnungen keine spezifischen Bestimmungen für die Bestattung von Suizidenten. Ausführungen hierzu finden sich hingegen in der Ordnung des kirchlichen Lebens von 1930, wonach die kirchliche Mitwirkung, sofern sie nicht »wegen offenkundiger Verachtung des göttlichen Wortes oder der evangelischen Kirche durch den Verstorbenen oder wegen seines Lebenswandels« versagt werden müsse, davon abhängig zu machen sei, »daß der Verantwortung der Kirche für die Geltung des göttlichen Wortes nicht Eintrag geschieht. Handelt es sich um offenkundige geistige Umnachtung, so ist diese Voraussetzung als gegeben anzusehen. In allen diesen Fällen soll die Bestattung in schlichten Formen erfolgen.«128 In der vom Evangelischen Preßverband Mecklenburg herausgegebenen Ordnung des kirchlichen Lebens auf der Grundlage der Lebensordnung der evangelisch-lutherischen Landeskirche von Mecklenburg-Schwerin vom 18. Juni 1931 heißt es hierzu ausführlicher: Selbstmördern wird eine kirchliche Bestattung ( jedoch möglichst ohne auffallendes Gepränge) dann gewährt, wenn der Selbstmord zwar noch als bewußte Handlung anzunehmen ist, aber auf Zermürbung des sittlichen Widerstandes durch Sorge, Not, Verzweiflung zurückgeführt werden muß. Kirchliche Bestattung ohne jede Einschränkung wird Selbstmördern gewährt, wenn nach Maßgabe aller Umstände, womöglich auch nach Ausweis eines ärztlichen Zeugnisses, eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit angenommen werden muß oder wenn der Verstorbene zwischen Tat und Tod aufrichtige Reue bekundet hat.129

Nähere Bestimmungen, wie die »schlichten Formen« und der Verzicht auf ein »auffallendes Gepränge« konkret auszusehen haben, finden sich in den Ordnungen des kirchlichen Lebens nicht. In der Agende für die Evangelische Landeskirche von 1924 wird zwischen einer ausführlichen und einer kürzeren Form des Begräbnisses (mit oder ohne Leichenrede) differenziert, allerdings für den Fall der »Feier in der Kirche, wenn dieselbe der Grabfeier nachfolgt«.130 kirchlichen Handlungen. Entwurf, Schwerin 1916, S. 49: »Die Begräbnishandlung (häusliche Feier am Sarge, Prozession, Feier am Grabe und in der Kirche bezw. Kirchhofskapelle) ist in der Landeskirche nicht einheitlich geordnet, sondern ihre liturgische Form für jede einzelne Gemeinde durch eine oberbischöflich bestätigte, örtliche Überlieferung und Brauch berücksichtigende ›Begräbnisordnung‹ gegeben, die in den örtlichen Begräbnisordnungen in verschiedener Weise verwandt und angeordnet sind.« 128 Evangelischer Oberkirchenrat: Sonderdruck der Ordnung des Kirchlichen Lebens vom 12. März 1930, des dazu gehörigen Kirchengesetzes von demselben Tage, der Verordnung über das Inkrafttreten vom 4. November 1930 sowie der Ansprache und Ausführungsanweisung vom 4. November 1930, Berlin 1930, S. 10f. 129 Evangelischer Preßverband Mecklenburg (Hg.): Ordnung des kirchlichen Lebens. Auf Grund der Lebensordnung der evangelisch-lutherischen Landeskirche von MecklenburgSchwerin vom 18. Juni 1931, 2. Aufl., Schwerin [1932], S. 20. 130 Vgl. Agende für die Evangelische Landeskirche, vom Evangelischen Oberkirchenrat veranstaltete Handausgabe für die Kirchlichen Handlungen, unveränd. Neudruck, Berlin 1924, S. 48f.

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Als Quelle für die Beisetzung Lisbeths griff Johnson einmal mehr auf die Expertise von Köhler zurück, der für die Ausgestaltung der Bestattung die Überlegung anstellt, ob nicht »dieser Pfarrer, seinem ›Widerständischen‹ Denken entsprechend, [die Handlung] am Grabe der Form eines ›normalen‹ Begräbnisses (möglichst) angleicht«.131 Hierzu schlägt er drei Stufen vor: Erstens (die harmlose, ohne weiteres denkbare und machbare Form): die Grabesrede (in die, ich gehe davon aus, der Lebenslauf eingeschlossen ist – wenn nicht auf ihn verzichtet wird) wird im Anschluß an einen Bibeltext gehalten; Zweitens: der Pfarrer spricht am Grabe die Einsegnung (die für Selbstmörder nicht vorgesehen ist). […] Drittens: Ohne Frage würde die Ausführung dieser oder jener (oben so genannten) problematischen Einzelheit die »Situation« für den Pfarrer noch verschärfen; die Kirche würde sich wohl melden, und der »Konflikt« wäre ((auch) diesbezüglich) da. Allerdings: die Anwendung bestimmter »Einzelheiten« würde die Änderung bzw. Umstellung des Formulars zur Folge haben.132

Mit der Lektion aus Ps 39, einer der sieben in den Formularen für die kirchlichen Handlungen empfohlenen alttestamentlichen Lektionen, und der Einsegnung, in der Brüshaver die Wendung »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube«133 aus Gründen der Pietät um ›Asche zu Asche‹ verkürzt,134 integriert Johnson zwei der drei Empfehlungen Köhlers in seinen Text. Darüber hinaus lässt Brüshaver zu Beginn und am Ende der Beisetzung die Glocke läuten (vgl. JT, 762, 764), was gemäß der Ordnung des kirchlichen Lebens nicht gewährt werden dürfe, sofern die Bestattung, wie im vorliegenden Fall, »ohne kirchliche Feier«135 erfolgt.136 Überdies spricht er den Schlusssegen, »der Lisbeth auch nicht gewährt werden sollte« (JT, 764). Die in eben jener Ordnung erwähnte »geistige Umnachtung« des Suizidenten ließe sich aufgrund der pathologischen Züge von Lisbeths suizidalem Verhalten durchaus diagnostizieren. Allerdings stellt Brüshaver in seiner Predigt am 13. November 1938 unzweideutig einen Zusammenhang her zwischen der Tat von Gesines Mutter und dem politischen Kontext: Hingegen ging es die Bürger von Jerichow sehr wohl an, daß Lisbeth Cresspahl gestorben war. Sie hatten mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte. […] Wo 131 Köhler, [ohne Titel], Bl. 3. Johnson hat das Objekt ›die Handlung‹ am linken Blattrand handschriftlich ergänzt. 132 Ebd., Bl. 4. 133 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs, Formulare für die kirchlichen Handlungen, S. 49. 134 Vgl. hierzu auch Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 109. 135 Evangelischer Oberkirchenrat, Ordnung des Kirchlichen Lebens 1930, S. 11. 136 In Heute Neunzig Jahr wird dieser ›Verstoß‹ Brüshavers explizit hervorgehoben: »Votum, Lektion, Gebet, Vaterunser, Einsegnung, Segen, drei Handlungen mehr als die Mecklenburgische Landeskirche für Selbstmörder erlaubte, auch das Grosse Läuten bekam sie und das Abendläuten für sie allein« (HNJ, 98).

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alle Gottes immerwährendes Angebot zu neuem Leben nicht angenommen hätten, habe ein Mensch allein darauf nicht mehr vertrauen können. (JT, 760f.)

Theologisch müsste der Pastor folglich zu dem Schluss gelangen, dass Lisbeths Suizid eine »offenkundige[] Verachtung des göttlichen Wortes« darstellt. Die wenn auch laienhafte Exegese der Suizidentin im Vorfeld ihrer Tat führt dem Pastor allerdings die theologischen Schwierigkeiten des Themenkomplexes ›Suizid‹ vor Augen. Politisch deutet Brüshaver den Tod von Gesines Mutter nicht vor dem Hintergrund einer differenzierten Diagnose, sondern der eigenen politischen Oppositionshaltung als altruistischen Suizid.137 Wenn auch auf Cresspahls Wunsch hin initiiert, ist die umfassende kirchliche Bestattung Lisbeths zusammen mit der Predigt am Sonntag vor der Zeremonie Ausdruck des Widerstandes eines Pastors, der im Bekenntnis zum Evangelium den Weg des irdischen Martyriums auf sich nimmt. Den Höhepunkt seiner Emanzipation von Kirche und Staat bildet der offene Widerstand, der innerhalb des Romans kompositorisch durch die Fieberträume Gesines gerahmt und zugleich akzentuiert wird. Die Trennung des Erzählabschnitts in zwei Tageskapitel gliedert das Erzählte nach den liturgischen Zeremonien – sonntägliches Abendmahl und Bestattung –, wie auch den Adressaten des Widerstandes: »Nun hatte er es nicht nur mit der weltlichen Obrigkeit verdorben, sondern auch noch mit der Kirche.« (JT, 764) Bevor auf die hierin enthaltene Bezugnahme auf Luthers Zwei-Regimente-Lehre eingegangen wird, soll Brüshavers innerkirchlicher Widerstand näher ergründet werden. Bildet der kirchenrechtliche Komplex der Bestattung von Suizidenten nur den Anlass, um die kirchenpolitischen Verwerfungen angesichts der politischen Okkupation der evangelischen (Landes-)Kirche zu kritisieren? Oder welche Bedeutung kommt dem Suizid im Zusammenhang der kirchenpolitischen Fragen zu? Wie schon in Das dritte Buch über Achim zielt der kirchenrechtliche Komplex auch in den Jahrestagen darauf ab, die Diskrepanz zwischen christlicher Dogmatik und christlicher Barmherzigkeit gegenüber den Gemeindemitgliedern zu problematisieren. Gesteigert wird dieses Missverhältnis durch die tiefe Religiosität der Betroffenen, vor allem aber durch die politischen Rahmenbedingungen des Zivilisationsbruchs im nationalsozialistischen Deutschland. Insofern verweist der Komplex der Bestattung von Suizidenten implizit auch auf die Frage nach der Rolle der Kirche(n) in den ›zwölf Jahren‹, die eine außerordentliche Prüfung für jeden Christen bedeutete.

137 Vgl. Zweiter Teil, Kap. 3, Anm. 45.

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4.1.3 Verhalten gegenüber der Obrigkeit Die Figurenserie der drei Jerichower Pastoren und der kirchenrechtliche Umgang mit Suizidenten angesichts des politischen Kontextes rückt einmal mehr die Frage nach dem Verhalten gegenüber der (staatlichen) Obrigkeit ins Zentrum des kirchengeschichtlichen Diskurses in einem von Johnsons Romanen. Doch anders als noch in Ingrid Babendererde und den Mutmassungen über Jakob ist es in Johnsons letztem Roman die Geistlichkeit in der Nachfolge Luthers, anhand derer die Schwierigkeiten einer adäquaten Umsetzung der für das obrigkeitsstaatliche Denken im deutschen Protestantismus fundamentalen Zwei-Regimente-Lehre verhandelt werden. Johnson integriert damit den essenziell und existenziell138 gewichtigsten Themenkomplex des evangelischen Kirchenkampfes in sein Opus magnum, der »[s]chon bald nach der Etablierung des NS-Regimes […] verstärkt ins Zentrum von kirchenpolitischen Debatten und Neuordnungsinitiativen«139 geriet. Die Spaltung der deutschen evangelischen Kirche zeugt davon, wie fundamental verschieden einzelne Kirchenvertreter die Rolle der Kirchen gegenüber dem Staat wahrnahmen. Doch selbst unter der Bedingung, dass man das Hitler-Regime nach Röm 13,1 als eine von Gott eingesetzte Ordnung angesehen hätte, stellte die Politisierung und Gleichschaltung der Kirchen, die im Kirchengesetz über den Diensteid der Geistlichen und Beamten vom 9. August 1934 ihren Höhepunkt fand,140 nach eben jener Zwei-Regimente-Lehre unzweifelhaft eine Überschreitung des Zuständigkeitsbereichs der weltlichen Obrigkeit dar. Die Kirchen waren demnach zum passiven Widerstand gegen die staatlichen Eingriffe in ihre Hoheit verpflichtet, denn »wo du yhm nicht widdersprichst und gibst yhm raum, das er dyr den glawben odder die buecher nympt, so hastu warlich Gott verleucket«.141 138 In einem Schreiben vom 6. November 1934 hebt Bischof Hans Meiser, Vorsitzender des Lutherischen Rates der Deutschen Evangelischen Kirche als Teil der Bekennenden Kirche, gegenüber dem Reichsbischof Ludwig Müller die existenzielle Bedrohung der Kirchen aufgrund der von Müller praktizierten und geduldeten Kirchenpolitik hervor: »So ist durch Sie die Kirche in schwerste Bekenntnisnot gestürzt. Der Lutherische Rat, zu dem Zweck gebildet, dem lutherischen Bekenntnis innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche die ihm gebührende Geltung zu verschaffen, sieht durch die von Ihnen geduldete Bekenntnisgefährdung eine tödliche Gefahr für den Bestand der Deutschen Evangelischen Kirche. Denn eine Kirche, die um ihr Bekenntnis gebracht ist oder in der nicht mehr nach dem Bekenntnis gehandelt wird, hört auf, Kirche zu sein«; Hans Meiser an Ludwig Müller, 6. 11. 1934, zitiert nach Stiftung Topographie des Terrors (Hg.), »Überall Luthers Worte …«, S. 35. 139 Stiftung Topographie des Terrors (Hg.), »Überall Luthers Worte …«, S. 83. 140 Vgl. hierzu etwa Assel, Theologische Diskussion, S. 191: »Dieser Versuch einer abschließenden Gleichschaltung der Pfarrerschaft durch einen persönlichen Treueid auf Hitler war nichts weniger als der Versuch, Hitler zum obersten Rechtsherren oder ›höchsten Bischof‹ (summepiskopus) einer Nationalkirche zu machen.« 141 Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 164.

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Dass beide Kirchen dieser Pflicht nicht in ausreichendem Maße nachkamen, stellt eine ihrer zentralen Verfehlungen in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Diktatur dar. Die Schicksale von Niemöller und Brüshaver, Friedrich Stellbrink und der katholischen Kapläne Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller (vgl. JT, 948) geben aber auch ein Zeugnis ab für das Martyrium, das Geistlichen infolge ihres (passiven) Widerstandes drohte. Die Kanzelabkündigung des Pfarrernotbundes vom 7./14. Januar 1934 rekurriert auf den ›Maulkorberlass‹ und führt die Bibelstelle an, die Luther in seiner 1523 veröffentlichten Schrift Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei über Röm 13,1 stellt: »man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen« (JT, 426).142 Mit der nahezu wörtlich wiedergegebenen Antwort von Petrus und den weiteren Aposteln auf die Frage des Hohepriesters, warum sie sich seiner Weisung widersetzt hätten, wird eine der »wichtigsten Bibelstellen in der evangelischen Auseinandersetzung um das rechte Obrigkeitsverständnis«143 in den Roman integriert. Die »›clausula Petri‹«144 aus Apg 5,29 kann auf eine umfangreiche Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Schon Platon lässt Sokrates in seiner Apologia Socratis sagen: »Meine Mitbürger, euere Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch«.145 Eingebettet ist die Antwort von Petrus und den übrigen Aposteln in einen Abschnitt, bei dem es sich um eine Dublette zu Apg 4,1–22 handelt. Während Petrus und Johannes in Apg 4 nach ihrer Gefangennahme vor den Hohen Rat geführt und anschließend freigelassen werden, wiederholt sich dieses Ereignis in Apg 5,17–42. Erneut werden die Apostel inhaftiert und müssen sich vor dem Hohen Rat rechtfertigen. Wie schon in Apg 4,19146 bekennen sie auch in Apg 5,29, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, und werden letztlich in Freiheit gesetzt. Lukas folgt mit dieser parallelen Konstruktion seinem »›Gesetz der Zweiheit‹«147 und steigert das Er-

142 Vgl. Apg 5,29. Vgl. auch Luther, Von weltlicher Oberkeit, S. 266. 143 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 88. 144 Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte, Teilbd. 1: Apg 1–12, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1986, S. 224. 145 Platon: Apologie des Sokrates, aus dem Griechischen übers. und erl. von Otto Apelt, in: ders.: Sämtliche Dialoge, hg. von Otto Apelt, Bd. 1: Vorwort und Einleitung zur Gesamtausgabe – Protagoras – Laches und Euthyphron – Apologie und Kriton – Gorgias, Hamburg 1993, S. 1– 71, hier: S. 44. 146 In Apg 4,19 ist die clausula Petri »in die äußerlich konziliante Form einer rhetorischen Frage gekleidet«: »19Petrus aber und Johannes antworteten und sprachen zu ihnen: Richtet ihr selbst, ob es vor Gott recht sei, daß wir euch mehr gehorchen denn Gott«; Jürgen Roloff: Die Apostelgeschichte, 17. Aufl. (1. Aufl. dieser neuen Fassung), Göttingen 1981, S. 301; Apg 4,19. 147 Walter Schmithals: Die Apostelgeschichte des Lukas, Zürich 1982, S. 59.

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Kirchengeschichtlicher Diskurs

zählte, indem neben Petrus und Johannes alle Apostel verhaftet werden und härtere Strafen erhalten.148 Inwieweit die clausula Petri als Grundsatz einer christlichen (Staats-)Ethik fungiert, ist bisweilen umstritten. Weiser etwa spricht ihr den Status einer »allgemeinen Maxime«149 ab, da sie im Kontext der biblischen Erzählung eine situationsbezogene Antwort auf den Vorwurf des Hohen Rates darstellt. In Verbindung mit dem folgenden Jesuskerygma150 sei in Apg 5,29 »nicht nur von Gott in einem allgemeinen Sinn die Rede, sondern vom ›Gott unserer Väter‹«.151 Dagegen spricht Josef Zmijewski von der clausula Petri als einer »(zu allen Zeiten, auch in der Kirche, verpflichtenden) Grundmaxime«,152 was durch deren Rezeptionsgeschichte unterstrichen wird.153 Neben der durch die Kanzelabkündigung als sekundärer Intertext in den Roman integrierten clausula Petri wird an zwei Stellen auch auf die Bibelstelle rekurriert, die für das Obrigkeitsverständnis in der Tradition der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre maßgeblich ist. In beiden Fällen sind es keine kirchlichen oder staatlichen Vertreter, wie Rohlfs in den Mutmassungen über Jakob, die auf Röm 13,1 Bezug nehmen. Im Tageseintrag vom 25. November 1967 wird die räumliche Trennung der frischgebackenen Eltern Gesines aus der Perspektive Lisbeths erzählt. Infolge der politischen Entwicklungen des Jahres 1933 kommen in Lisbeth Zweifel auf, ob ihre Entscheidung für das mecklenburgische Jerichow mit ihren (übersteigerten) christlichen Moralvorstellungen vereinbar ist: »Hätte sie den fremden Pastor Brüshaver nur besser gekannt, sie hätte zu ihm gehen mögen und ausdrücklich fragen, ob die Kirche ausreichend Unrecht erkannte für ein Leben in einem anderen Land.« (JT, 364) Lisbeth geht es aber nicht um »Unrecht im bürgerlichen Sinne« (JT, 364), um diejenigen ihrer Mitbürger, die sich am ›Judenboykott‹ und am Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 1933 bereicherten.154 Vielmehr treibt sie die »Ungerechtigkeit« um, »was die Vorschriften 148 Vgl. ebd. Alfons Weiser macht insgesamt vier Elemente der Steigerung ausfindig; vgl. Alfons Weiser: Die Apostelgeschichte. Kapitel 1–12, Gütersloh 1981, S. 155. 149 Weiser, Apostelgeschichte 1–12, S. 160. 150 Vgl. Apg 5,30: »30Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, welchen ihr erwürgt habt und an das Holz gehängt.« 151 Weiser, Apostelgeschichte 1–12, S. 160. 152 Josef Zmijewski: Die Apostelgeschichte, Regensburg 1994, S. 274. 153 Vgl. Pesch, Apostelgeschichte 1, S. 222–224. Rudolf Pesch zeichnet die Bedeutung der clausula Petri von den alten Märtyrerakten und Dionysius von Alexandrien im 3. Jahrhundert n. Chr. über die mittelalterliche Rezeption und die Bedeutung in der Reformationszeit (Zwei-Regimente-Lehre) bis ins 20. Jahrhundert nach, in dem »im Widerstand gegen marxistische und nationalsozialistische Tyrannei […] die Maxime ihre Schärfe« zurückgewann; ebd., S. 224. 154 Beide Ereignisse sind Gegenstand der vorherigen Vergangenheitserzählung dieses Tageskapitels (vgl. JT, 356, 359).

Nationalsozialistischer Kirchenkampf und ›Judenfrage‹

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der Bibel untersagten und mit Strafe belegten« (JT, 365). Einen Zusammenhang zwischen beiden Formen des Unrechts vermag Lisbeth nicht herzustellen und erkennt das ›bürgerliche Unrecht‹ unter Verweis auf Röm 13,1 als legitim an: »jenes Unrecht war von der Obrigkeit, also rechtens« (JT, 365).155 Der zweite Verweis auf Röm 13,1 fällt in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und verdeutlicht einmal mehr die für das protestantische Staatsdenken zentrale Vorstellung der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre. Dass auch nach den Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 kein radikales Umdenken einsetzte, wird an einer der reflektiertesten Figuren in den Jahrestagen vorgeführt und lenkt den Fokus auf die (mangelnde) Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Im Tageskapitel vom 10. Juli 1968 kommentiert Gesine gegenüber Marie die Sorge ihres Vaters kurz nach seiner Entlassung aus Fünfeichen, »er könne gegen die Vorschriften verstoßen haben«, mit dem Verweis auf eben jenen Beginn des 13. Kapitels im Römerbrief: »als sei die Obrigkeit im Recht, bloß weil sie ins Recht gesetzt war« (JT, 1525). Durch die Verwendung des konjunktivischen »als sei« hebt Gesine ihre Distanz zur Sichtweise des Vaters hervor. Verstärkt wird die Distanzierung durch Maries anschließenden Kommentar, es handele sich bei den Sorgen Cresspahls um »Haftfolgen« (JT, 1525). Sowohl in Bezug auf Lisbeth als auch auf Heinrich Cresspahl wird einem auf Röm 13,1 und Luthers Zwei-Regimente-Lehre zurückgehenden Obrigkeitsgehorsam in den Jahrestagen eine Absage erteilt, weil er auf Staaten, die sich »als solch[e] nicht als ›Diener-Gottes‹, sondern als rein säkulare Größe«156 verstehen, nicht angewandt werden kann. Darüber hinaus ist es unvereinbar, einem Staat Gehorsam zu gewähren, der gegen göttliche Gebote wie den Dekalog oder die Nächstenliebe verstößt. Mit der Integration der clausula Petri durch das Pastorenkollektiv des Pfarrernotbundes in den Roman wird eine in der Zwei-Regimente-Lehre dem Beginn des dreizehnten Römerbrief-Kapitels übergeordnete Bibelstelle aufgerufen und so eine differenzierte theologische Exegese literarisch inszeniert. Pastor Brüshaver kommt damit einer Forderung Ulrich Wilckens nach, wonach es eine gewichtige Aufgabe der Kirchen sei, »darauf hinzuwirken, daß die Verantwortung vor Gott ein Faktor im politischen Volksbewußsein bleibt«.157

155 Denkbar erscheint es auch, den durch ein Semikolon vom vorherigen Teilsatz getrennten Nachtrag als ironischen Kommentar des Erzählers zu Lisbeths naiver Unterscheidung zu deuten. 156 Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer, Teilbd. 3: Röm 12–16, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1982, S. 42. 157 Ebd.

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4.2

Kirchengeschichtlicher Diskurs

Sozialistischer ›Kirchenkampf‹ und Stuttgarter Erklärung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Ende Juni 1945, kehrt Brüshaver »nach drei Tagen Fußmarsch«158 nach Jerichow zurück, »ausgemergelt und verstaubt« (JT, 999). Trotz der Torturen im Lager, die sich u. a. in den körperlichen Folgen niederschlagen,159 kehrt Brüshaver nicht als gebrochener Mann nach Jerichow zurück. Vielmehr findet er seine Ehefrau im von Wallschläger geräumten Pfarrhaus vor und denkt »nicht an die Flucht vor den Russen, sondern an die Sonntagspredigt« (JT, 999). Brüshaver übernimmt umgehend das Pfarramt in Jerichow, gerät aber auch mit der neuen staatlichen und kirchlichen Obrigkeit in Konflikt. Im Tageskapitel 158 Im Tageskapitel vom 22. Juli 1968 wird erzählt, dass Brüshaver in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau interniert war (vgl. JT, 1596, 1600). Ein Fußmarsch, auf dem die rund zweihundert Kilometer vom KZ Sachsenhausen bis in das im Nordwesten Mecklenburgs gelegene Jerichow zurückgelegt werden, erscheint in drei Tagen unrealistisch. Wahrscheinlicher ist es, dass Brüshaver, wie in der ersten Romanfassung erwähnt, aus Raben Steinfeld, am südlichen Ende des Schweriner Sees gelegen, nach Jerichow zurückkehrt – eine Strecke von rund fünfzig Kilometern; vgl. Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 4] (1. Fs.), Mappe 5, Bl. 8. 159 Ausführlich veranschaulicht werden die Folgen von Brüshavers Inhaftierung erst ein gutes Jahr nach der Rückkehr, im Herbst 1946. Beschrieben wird der Pastor als ein Mann, den »die Lager der Nazis […] am ganzen Leibe umgebaut zu haben [schienen] in eine Fassung von zierlicher Dürftigkeit, die Hosen und Jacken von 1937 schlotterten auch von seinen vorsichtigen, fast steifen Bewegungen« (JT, 1400). Im eigenen Wohnhaus und beim Konfirmationsunterricht hütet sich Gesine vor ausführlichen Blicken auf den geschundenen Brüshaver, der »nun drei Jahre lang aufgetreten [war] ohne Zähne, die waren ihm ausgeschlagen zu Sachsenhausen; endlich redete ihm Aggie sein Mißtrauen gegen ›deutsche Ärzte‹ aus, er erschien mit gelblichen Kunststoffgebilden im Munde und kaute lange leer wie ein Mensch, dem schmeckt etwas schlecht. […] Brüshaver schien in einem fort zu lächeln. Es waren bloß verrenkte Muskeln, gezerrte Sehnen, die zogen ihm die Mundwinkel nach unten, hielten ihm die Falten neben den Augen starr in einer Grimasse unwissentlichen Grienens. Auch tat er, als sei ihm der vierte Finger der Rechten immer so piel von der Handfläche weggestanden, steifer Haken eines Bogens aus Schmerz, der ihm die Schulter nach unten zwang. Wenn er das Buch anhob mit Zeige- und Ringfinger, bis er den Daumen darüber schob wie von ungefähr, schien die Hand künstlich, schlimm. Er stöhnte achtlos, wenn er den Unterarm bemühte; da kann einem das Zusehen weh tun.« (JT, 1600, 1602) Mit dem Hinweis auf das »Mißtrauen gegen ›deutsche Ärzte‹« spielt Johnson womöglich auf die Rolle von Ärzten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, ihre Schuld aufgrund des Verstoßes gegen den hippokratischen Eid und die Richtlinien für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen angesichts der von ihnen geleiteten medizinischen Versuche und dem systematischen Mord an Millionen von Menschen an; vgl. hierzu etwa Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2015, S. 493–512, bes. S. 495: »Die vermutlich ersten derartigen Experimente fanden im Krankenrevier von Sachsenhausen statt, wo zwei Ärzte der Lager-SS zwischen Oktober und Dezember 1939 Dutzende Häftlinge mit dem Kampfgas Lost vergifteten. Der Befehl dazu stammte von Himmler, gepackt von einer weitverbreiteten Hysterie wegen möglicher Giftgasangriffe auf deutsche Truppen, die traumatische Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg weckten.«

Sozialistischer ›Kirchenkampf‹ und Stuttgarter Erklärung

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vom 22. Juli 1968 erzählt Aggie Brüshaver dem zu Hilfe gerufenen Cresspahl, wie ihr Ehemann in »seinem Eigensinn« (JT, 1597) die Gunst der weltlichen wie der geistlichen Obrigkeit160 verwirkt habe. Auf der Darstellungsebene fungiert diese Aussage, indem sie mit der Erzähleraussage am Ende von Lisbeths Beisetzung korrespondiert,161 als Signal für die Erzählung von Brüshavers Konflikten mit der neuen Staatsmacht und Landeskirchenleitung, die in auffallender Ähnlichkeit zu denen vor 1945 konstruiert sind. Das Angebot von den »Kommunisten in der Regierung«, ihn in das Amt des Staatssekretärs für Kirchenfragen von Mecklenburg-Vorpommern zu berufen, »als Belohnung […], weil sie ihn als Genossen zu führen meinten in Sachsenhausen und Dachau« (JT, 1596),162 suggeriert zunächst einen grundlegenden politischen Wandel. Brüshaver lehnt das ihm angetragene Amt aber ab, weil auch unter der neuen Führung Gemeindemitglieder »verschwunden waren und wegblieben nach dem Belieben der sowjetischen Freunde« (JT, 1597). Sein Vorsprechen wird »wieder und abermals« (JT, 1597) abgewiesen, sodass sich der propagierte politische und gesellschaftliche Wandel für ihn als eine inhumane Fortsetzung unter anderen Vorzeichen herausstellt. Wie verhandelbar die (sozialistischen) Vorzeichen dabei sind, wird an der Beisetzung Herbert Vicks exemplifiziert. Der bekennende Nationalsozialist – »Weil ich ein aufrichtiger Nationalsozialist bin!«163 – darf auch nach 1945 als »Kriminaloberobermeister«164 weiterarbeiten: »Die demokratische Zivilverwaltung von Mecklenburg habe von Herbert Vicks Künsten wenigstens die kriminalistischen nützen wollen, auch zu Lehrzwecken, beim K 5 im Raum Neubrandenburg« (JT, 1597). Nach seinem Tod soll Vick in Jerichow kirchlich beigesetzt werden und eine »christliche[] Aussegnung« erhalten, »als wär das Drum und Dran und Schaufenstergestaltung« 160 Aus der figuralen Perspektive Aggies heraus spricht der Erzähler nicht von Obrigkeit, wie bei der Darstellung von Lisbeths Beisetzung (vgl. JT, 764), sondern von einer »Behörde« (JT, 1597). Durch die Deklaration der Kirche als eine staatliche Einrichtung hebt die Ehefrau des Pastors die Abhängigkeit der Kirche vom Staat hervor. 161 Vgl. JT, 764: »Nun hatte er es nicht nur mit der weltlichen Obrigkeit verdorben, sondern auch noch mit der Kirche«; JT, 1597: »Und wie mit der weltlichen Behörde, habe Brüshaver in seinem Eigensinn es verschüttet mit der geistlichen«. 162 Darüber hinaus wird Brüshaver auch mit dem KZ Buchenwald in Verbindung gebracht: »Gesine hielt sich besessen vor, daß dies seine Mitbringsel waren aus sechs Jahren in Oranienburg und bei Weimar« (JT, 1602f.; Hervorhebung P. O.). 163 Im Verhör von Cresspahl nach Lisbeths Tod nimmt Vick eine ambivalente Rolle ein. Einerseits verhehlt er nicht seinen Antisemitismus und spricht vom »Judenbalg […] Marie Sara Tannebaum« (JT, 740). Andererseits grenzt er sich zwei Mal ausdrücklich von der Gestapo ab (vgl. JT, 743f.) und sucht nach Indizien, dass Lisbeth womöglich durch eine Gewalttat Friedrich Jansens ums Leben gekommen sei (vgl. JT, 738–744). Vgl. auch Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 176. 164 Das zweite ›ober‹ wurde von Johnson nachträglich in das Manuskript eingefügt und persifliert die Bedeutung der Figur im neuen Staat; vgl. Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 4] (1. Fs.), Mappe 5, Bl. 10.

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Kirchengeschichtlicher Diskurs

(JT, 1597). Brüshaver aber besinnt sich »seiner Pflicht« und verweigert ihm die kirchliche Beisetzung, weil »jener verdiente Ordnungshüter sein Lebtag sich enthalten habe von Gottesdienst und Abendmahl, als Deutscher wie als Antifaschistischer Christ; Jerichow als Ort der Taufe hin oder her« (JT, 1597). Berufen kann er sich für diese Entscheidung auf die im Jahr 1948 noch gültige Ordnung des kirchlichen Lebens von 1930, in der unter Punkt VIII.3 festgehalten ist: Die kirchliche Feier muß versagt werden, wenn wegen offenkundiger Verachtung des göttlichen Wortes oder der evangelischen Kirche durch den Verstorbenen oder wegen seines Lebenswandels anzunehmen ist, daß die Mitwirkung des Geistlichen in der Gemeinde Ärgernis erregen oder das Interesse der Kirche verletzen würde.165

Doch statt von der Landeskirche Unterstützung zu erhalten, wird Brüshaver wie schon im März 1934 (vgl. JT, 426) von der Landessuperintendentur verwarnt – wenn auch dieses Mal nur leicht und versehen mit der Begründung, »[d]ie Mecklenburgische Landeskirche wünsche einen Kollisionskurs zu vermeiden« (JT, 1597). Mit seiner als christliche Pflicht empfundenen Ethik steht Brüshaver auch nach 1945 allein; es bleibt »seine[] Pflicht«. Auch wenn sich diese auf die Ordnung des kirchlichen Lebens zurückführen lässt, wird Vick die kirchliche Beisetzung im Nachbarort Gneez gewährt. Begründet wird die von der Landeskirche angewiesene Entscheidung aber nicht mit kirchlichem Recht, sondern allein politisch. Die Kirche befindet sich, das deutet der Grund für Brüshavers Verwarnung durch die Landeskirche an, in einem neuerlichen ›Kirchenkampf‹ mit der staatlichen Obrigkeit. Die strukturellen Parallelen in den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat vor und nach 1945 werden durch die parallel geführten Beisetzungen von Lisbeth Cresspahl und Herbert Vick symbolisiert. Die Beisetzungen wiederum führen in zwei Grenzfällen, in denen letztlich auch Brüshaver nach kirchlichem Recht nicht konsistent, sondern politisch und moralisch unter Ansehung der Personen und ihrer Umstände entscheidet, die Folgen für einen Pastor vor, der in die Konfliktlinien zwischen Kirche und Staat gerät. Die Mecklenburgische Landeskirche tritt dabei trotz oder gerade wegen ihrer zurückliegenden Erfahrung im nationalsozialistischen Deutschland als Institution auf, die angesichts der staatlichen Repression ein weiteres Mal ihre christlichen Grundwerte zugunsten der politischen Beruhigung aufzugeben droht. Der in Brüshavers Verwarnung nur angedeutete sozialistische ›Kirchenkampf‹ wird im Verlauf des Tageseintrags vom 22. Juli 1968 konkretisiert. Die politische Zielstellung der staatlichen Obrigkeit und die Auswirkungen der repressiven Maßnahmen gegen die Kirchen spiegeln sich in der Arbeit des Jerichower Pastors 165 Evangelischer Oberkirchenrat, Ordnung des Kirchlichen Lebens 1930, S. 10f.

Sozialistischer ›Kirchenkampf‹ und Stuttgarter Erklärung

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wider. Für die Durchführung von Gottesdiensten muss Brüshaver bei Bürgermeister Cresspahl im Rathaus erscheinen, »zwecks Genehmigung einer Versammlung« (JT, 1599).166 Die administrative Auflage, die Johnson in der ersten Fassung noch den Briten zuordnet,167 wird in der Druckfassung in den Kontext eines im Entstehen begriffenen sozialistischen ›Kirchenkampfes‹ gestellt. Unmittelbar im Anschluss, verbunden durch eine koordinierende Konjunktion, schildert der Erzähler die Einschränkungen des Religionsunterrichts im neugegründeten Staat der Arbeiter und Bauern: Oder, wir haben nunmehr Mai wie auch eine neue Staatsverfassung, deren Artikel 44 den Religionsunterricht in weltlichen Schulklassen gewährleistet, außer vielleicht in Jerichow, wo Brüshaver seine Mündel wartend findet vor einer verschlossenen Tür in der Schulstraße und der Kreisschulrat benimmt sich in seinen Schriftsätzen, als sei die evangelische Kirche für einen aufrechten Kommunisten eine entbehrliche unter den gesellschaftlichen Gruppierungen und ihr Pastor in Jerichow eher ein lästiger Bittsteller denn ein Genosse im Antifaschismus. (JT, 1599)

Einmal mehr zeichnet Johnson mit dieser Beschreibung ein exaktes Bild des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat in der SBZ und zu Beginn des neugegründeten ostdeutschen Staates. In der Phase der ›antifaschistisch-demokratischen Umwälzung‹ zwischen 1945 und 1949, die durch eine Atmosphäre der Versöhnung geprägt war, kam es auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung zu ersten Auseinandersetzungen. Dennoch wurde den Kirchen in der politisch bestimmten Einheitsschule, gegen die sie sich verwehrten, weil sie eine vollständige Trennung der Schule von den Kirchen bedeutete, der Religionsunterricht zugestanden. Dessen Durchführung war aber vielerorts kaum möglich, »weil sich die Schulbehörden weigerten, den Kirchen öffentliche Schulräume für ihre Unterweisung zur Verfügung zu stellen«.168 Dennoch wurde in der am 30. Mai 1949 vom 3. Deutschen Volkskongress bestätigten Verfassung, mit deren Inkrafttreten am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wurde, in Artikel 44 das Recht der Kirche »auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der

166 Diesem Zustand der Behinderung des kirchlichen Lebens geht eine Situationen voraus, in der K. A. Pontij, charakterisiert als »Major der Roten Armee und Inhaber der Wissenschaft vom Atheismus«, in Begleitung von vier sowjetischen Soldaten im sonntäglichen Gottesdienst erscheint, »winkte gütig zur verstummten Orgel hinauf, ärgerlich bis sie wieder einsetzte, und ging wohlwollend umher zwischen den Bänken voller singender Leute und vollführte so lange Bewegungen eines Dirigenten, bis Pastor Brüshaver anfing zu predigen« (JT, 1063f.). 167 Vgl. Johnson, [ohne Titel; Jahrestage 4] (1. Fs.), Mappe 5, Bl. 8: »Brüshaver war abends aufs Rathaus gekommen, um bei den Briten eine genehmigungspflichtige Versammlung anzumelden, wenn ich bitten darf, Herr Bürgermeister Cresspahl, Gottesdienst nächsten Sonntag.« 168 Goeckel, Die evangelische Kirche und die DDR, S. 62.

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Kirchengeschichtlicher Diskurs

Schule«169 festgehalten. Doch durch die mit der Staatsgründung beginnende Stalinisierung und den Versuch der SED, ihre marxistisch-leninistische Ideologie auf alle Lebensbereiche zu übertragen, ging eine massive Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat einher.170 Der Religionsunterricht an den Schulen wurde in dieser Phase »so gut wie abgeschafft«.171 Parallel hierzu begann seit Mitte 1949 das Vorgehen gegen christliche Jugendgruppen wie die Junge Gemeinde, die dem Monopolanspruch der FDJ im Weg standen.172 Als eine der ersten administrativen Maßnahmen trat am 1. Juli 1949 eine Versammlungsverordnung in Kraft, wonach alle (kirchlichen) Zusammenkünfte erneut anmeldepflichtig wurden.173 Im Dezember desselben Jahres wurde der Vorwurf erhoben, die kirchliche Jugendarbeit sei als Organisation eine politische Interessengruppe und gefährde das Monopol der Jugendeinheitsorganisation.174 Mit beiden administrativen Maßnahmen wird Pastor Brüshaver während seines Konfirmationsunterrichts im Jahr 1949 konfrontiert. Auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten – »im unmäßigen Gewölbe der Kirche waren sie zu wenig, sich aneinander zu wärmen« (JT, 1601) – bestellt er das Hinterzimmer des Ratskellers und wird vom Pächter darauf hingewiesen, dass »Versammlungen […] angemeldet und genehmigt werden [müßten], gerade die eines Vereins« (JT, 1602). Der Antrag des Pastors wird in der Bürgermeisterei von Jerichow mit dem Gemeindevorsteher Schettlicht, einem »blankäugige[n] Agnostiker aus Sachsen«, abgelehnt, weil »die Nutzung weltlicher Räume für religiöse Propaganda« untersagt sei (JT, 1602). Abhilfe schaffen kann erst Jakob, der einen Werkstattwagen der Deutschen Reichsbahn »auf Papenbrocks nunmehr staatlichen Gleisanschluß« schieben lässt, »mit Bänken wie zu einer Beratung aufgestellt, auch einem Ofen, für den das Gaswerk eine Schubkarre Kohlen stiftete« (JT, 1602). 169 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 32. 170 Goeckel, Die evangelische Kirche und die DDR, S. 63. Zentral für die systemimmanente Legitimation einer gegen die Verfassung agierenden Kirchenpolitik ist das Verständnis von Grundrechten in der DDR. Diese konnten, anders als nach dem Grundrechtsverständnis in der BRD, »lediglich kraft staatlicher Gewährung Geltung beanspruchen«, womit es sich bei den in der Verfassung der DDR festgehaltenen Grundrechten nicht um Menschenrechte, sondern um »bloße durch einen Akt staatlicher Verleihung gewährte Bürgerrechte« handelte; Holger Kremser: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD, Tübingen 1993, S. 7. Diese waren anders als die Grundrechte in der BRD keine Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern vielmehr »Inhalt der Volksmacht« und konnten durch die »Suprematie der marxistisch-leninistischen Parteiführung immanent beschränkt« werden; ebd., S. 8. 171 Goeckel, Die evangelische Kirche und die DDR, S. 64. Vgl. auch Raimund Hoenen: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung: Deutsche Demokratische Republik, in: Lachmann/Schröder (Hg.), Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts, S. 299–330, hier: S. 316f. 172 Vgl. Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 98. 173 Vgl. ebd. 174 Vgl. Ueberschär, Junge Gemeinde im Konflikt, S. 176.

Sozialistischer ›Kirchenkampf‹ und Stuttgarter Erklärung

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Das weitere Schicksal der Jungen Gemeinde deutet der Erzähler im Zusammenhang mit einem Kommuniqué des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom 9. Juni 1953 an, mit dem »der Sachwalter der ostdeutschen Republik seiner Bürgerin Gesine Cresspahl einige Vorschläge, ihre Rückkehr unter seine Fuchtel betreffend« (JT, 1848), unterbreitet. Hierfür bedient sich Johnson eines autointertextuellen Verweises auf seinen Erstling Ingrid Babendererde:175 Sie [= Gesine; P. O.] waren ergrimmt auf uns [= die Partei; P. O.] bei ihrem letzten Besuche in Wendisch Burg, weil wir da ein Mädchen namens E. Rehfelde so lange getriezt haben wegen ihres evangelischen Glaubens und ihres Festhaltens an der Kirche, bis dann auch Klaus Niebuhr und seine Ingrid Babendererde auf ihr Abitur verzichteten, aus dem Lande gingen, damit doch für ihre Teile eine Gleichheit gewahrt bliebe vor der Verfassung. Die Rehfelde soll wieder zugelassen werden zum Unterricht, Frl. Cresspahl. Wenn die Schüler Niebuhr und Babendererde sich entschließen zu einer Rückkehr nach Wendisch Burg, ihnen soll verstattet sein, die versäumten Prüfungen zur Reife nachzuholen. Na, wie wärs? (JT, 1848)

Ausgelöst durch ein Dokument der neuen sowjetischen Staatsführung Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik kam es Anfang Juni 1953 zu einer Kursänderung der ostdeutschen Behörden im Umgang mit der Jungen Gemeinde.176 Nach dem im April desselben Jahres begonnenen Versuch der »›Liquidierung‹ der Jungen Gemeinde«177 mit Schülerversammlungen und Relegationen an den Oberschulen wurden alle verwiesenen Schüler »sofort wieder zum Unterricht zu[ge]lassen« und es wurde ihnen die Möglichkeit gewährt, »die versäumten Prüfungen nachzuholen«.178 175 Auch dem zeitgenössischen Leser der Jahrestage konnte diese autointertextuelle Bezugnahme bewusst sein, nachdem Johnson den Inhalt der zweiten Fassung seines Erstlings in der zweiten seiner Frankfurter Vorlesungen zusammengefasst hatte (vgl. BU, 75–86). Diese wurden 1980 und damit drei Jahre vor der Veröffentlichung des letzten Bandes der Jahrestage herausgegeben. Es handelt sich überdies nicht um den einzigen autointertextuellen Verweis dieser Passage. Bereits mit der ersten Ausführung zum Kommuniqué, »[s]eine Partei gedenke nunmehr zu verzichten auf eine unmenschliche von ihren Tugenden, die Unfehlbarkeit: sie habe in der Tat Fehler begangen« (JT, 1847), wird auf die Erwähnung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit in den Mutmassungen über Jakob (vgl. MJ, 98) rekurriert; vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 2.4. In der Zusammenfassung des Kommuniqués im Neuen Deutschland heißt es hierzu: »Das Politbüro des ZK der SED ging davon aus, daß seitens der SED und der Regierung der DDR in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden, die ihren Ausdruck in Verordnungen und Anordnungen gefunden haben, wie z. B. der Verordnung über die Neuregelung der Lebensmittelkartenversorgung, über die Übernahme devastierter landwirtschaftlicher Betriebe, in außerordentlichen Maßnahmen der Erfassung, in verschärften Methoden der Steuererhebung usw.«; Kommuniqué, S. 1. 176 Vgl. hierzu Zweiter Teil, Kap. 1.1. 177 Wentker, »Kirchenkampf« in der DDR, S. 96. 178 Kommuniqué, S. 1.

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Kirchengeschichtlicher Diskurs

Doch nicht erst retrospektiv registriert Gesine das Vorgehen des Staates gegen die Kirche(n).179 Als Teilnehmerin am Konfirmationsunterricht nimmt die junge Gesine sehr genau wahr, »warum der Neue Staat mit seiner Neuen Zeit die Aufmärsche, Versammlungen, Arbeitseinsätze mit Vorliebe ansetzte auf die Termine der kirchlichen Feiern« (JT, 1600). Sie weiß selbst zu berichten, dass sie »an Sonntagmorgenden im blauen Hemd die städtischen Anlagen durchharkten oder ein Drittel Schulhof umgruben für einen Mitschurin-Garten« (JT, 1612). Innerhalb der EKD, die bis 1969 die evangelischen Landeskirchen aus allen Besatzungszonen und später aus beiden deutschen Staaten vereinte, führte die Kirchenpolitik der ostdeutschen Staatsgewalt zu erheblichen Verwerfungen. Repräsentiert werden diese in den Jahrestagen durch die Namen Schwartze und Dibelius. Otto Dibelius, Leiter der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und seit Januar 1949 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, hatte am 1. Juni 1949 einen Hirtenbrief verfasst, der am darauffolgenden Pfingstsonntag »als Kanzelabkündigung in den meisten Kirchen Ost-Berlins und der Mark Brandenburg«180 verlesen wurde. Darin kritisiert er, daß in zahllosen Dörfern und Städten dem kirchlichen Leben durch Maßnahmen der politischen Gewalt aller mögliche Abbruch geschieht […]: immer wieder werden die arbeitsfähigen Dorfbewohner, oft auch die Fabrikarbeiter in der Stadt, am Sonntag zur Arbeit kommandiert; die Jugend muß am Sonntag vormittag [sic!] zu Vorführungen oder zu Arbeit antreten, obwohl dies alles genau so gut an einem Wochentag erledigt werden könnte. Der Gottesdienst der Gemeinde wird auf diese Weise zwar nicht verboten, aber praktisch unmöglich gemacht.181

In seiner Stellungnahme zum Hirtenbrief wandte sich Heinrich Schwartze, Leiter des Stifts Bethlehem in Ludwigslust und seit 1946 Mitglied des Mecklenburgischen Landtages für die SED,182 gegen den Vorwurf von Dibelius:

179 Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Erzählers im Tageseintrag vom 2. Juni 1968 zur Sprengung der Leipziger Universitätskirche St. Pauli am 30. Mai 1968 (vgl. JT, 1262). Vgl. hierzu A Historic Church In Leipzig Is Razed In Spite of Protest, in: The New York Times, Nr. 40.305 vom 31. 5. 1968, S. 7; Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 675. 180 Christian Halbrock: Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961. Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat?, Berlin 2004, S. 178. 181 Vgl. Otto Dibelius: Hirtenbrief des Evangelischen Bischofs von Berlin an die evangelischen Gemeinden in Berlin und Brandenburg. Pfingsten 1949, zitiert nach J. Jürgen Seidel: ›Neubeginn‹ in der Kirche? Die evangelischen Landes- und Provinzialkirchen in der SBZ/ DDR im gesellschaftspolitischen Kontext der Nachkriegszeit (1945–1953), Göttingen 1989, S. 274–277, hier: S. 276. 182 Grete Grewolls: Wer war wer in Mecklenburg-Vorpommern? Ein Personenlexikon, hg. von der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern, DVD-Rom-Version, Rostock 2011, S. 9267. In der Buchausgabe des Personenlexikons von 1995 wird Heinrich Schwartze hin-

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Wenn an Sonntagen zu Arbeiten aufgerufen wird, wenn an Sonntagen zur Stunde der Gottesdienste politische Veranstaltungen stattfinden, so würde allerdings ein Bischof überfordert werden, wollte man verlangen, er müsse imstande sein, zu beurteilen, ob solche Arbeiten und Veranstaltungen auch sehr gut auf eine andere Zeit verlegt werden können. Er kann es nicht beurteilen.183

In den Jahrestagen geht der Erzähler im Tageskapitel vom 23. Juli 1968 allerdings nicht auf diese Passage aus Dibelius’ Hirtenbrief ein, sondern zitiert die Beanstandungen des Berliner Bischofs an der »Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone und ihrer K 5 […] als einem ›Staatsgebilde‹, auch von / Gewalt / die über alles Recht hinweggeht, / innerer Unwahrhaftigkeit und / Feindschaft gegen das christliche Evangelium« (JT, 1612).184 Der typografisch durch Absätze hervorgehobenen und wörtlich wiedergegebenen Kritik von Dibelius stehen die ausgesparten Worte Schwartzes gegenüber. Dieser hatte seinem Amtskollegen erwidert: Wer die Abteilung K 5 der Volkspolizei der nationalsozialistischen Gestapo gleichsetzt, kann das nur tun, wenn er sehr wenig von der Abteilung K 5 und der Gestapo weiß. Es ist unwahrscheinlich, daß der bischöfliche Ankläger über Aufgabe und Verfahrensweise der Gestapo nicht unterrichtet ist. Aber es ist sicher, daß Bischof D. Dr. Dibelius das Opfer verleumderischer Informationen über die Volkspolizei geworden ist, und daß seine Gewährsleute ein politisches Interesse daran haben, den Bischof zu einem Werkzeug der Gegner der demokratischen Ordnung in unserer Zone zu machen.185

Gekoppelt werden die zeithistorischen Auseinandersetzungen in der EKD an die Jerichower Figurenwelt. Die in Gneez wohnhafte Anita fährt jeden Sonntag in die Jerichower Petrikirche, »weil der Dompfarrer von Gneez es mit dem Landespastor Schwartze (Ludwigslust) hielt und seinen ureigenen Bischof Dibelius gegen noch nicht aufgeführt; vgl. Grete Grewolls: Wer war wer in Mecklenburg-Vorpommern? Ein Personenlexikon, Bremen 1995, S. 402. 183 Heinrich Schwartze: Landespastor Schwartze an Dr. Dibelius. Stellungnahme eines protestantischen Geistlichen zu dem sogenannten Hirtenbrief vom 1. Juni 1949, in: Neues Deutschland, Nr. 144 vom 23. 6. 1949, S. 4. 184 Vgl. Dibelius, Hirtenbrief, S. 275; Hervorhebungen P. O.: »Gegenwärtig bedrückt uns mehr als alles andere die Sorge, daß das Staatsgebilde, das um uns herum entsteht, so viel von den Zügen zeigt, denen in der nationalsozialistischen Zeit unser Widerstand um Gottes Willen gegolten hat: Gewalt, die über alles Recht hinweggeht, innere Unwahrhaftigkeit und Feindschaft gegen das christliche Evangelium. In der Abteilung K 5 der sogenannten Volkspolizei ist die Gestapo unseligen Angedenkens wieder erstanden. Es wird mit denselben Methoden gearbeitet wie damals. Es tut nicht not, das im Einzelnen zu schildern. Dies Sammeln von Material durch Spitzel und Denunzianten, die nächtlichen Verhaftungen, die Zermürbung der Menschen in Gefängnisräumen, die oft der Beschreibung spotten, die Verhöre, bei denen der Angeschuldigte keine Möglichkeit hat, sich wirksam zu verteidigen, die unbestimmte Dauer der Haft, die Ungewißheit über das, was aus den Angehörigen wird – wir kennen das aus zwölfjähriger bitterer Erfahrung«. 185 Schwartze, Stellungnahme eines protestantischen Geistlichen, S. 4.

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(West-Berlin) als einen Kriegshetzer, auch ein ›Instrument der amerikanischen Aggression‹ verteufelte, als ›Atom-Dibelius‹« (JT, 1612). Die Attribuierungen des Vorsitzenden des Rates der EKD reichen dabei über die erzählte Zeit der Vergangenheitserzählung hinaus. Während die Bezeichnungen ›Kriegshetzer‹ und ›Instrument der amerikanischen Aggression‹ auf die Kontroverse um den Hirtenbrief vom Juni 1949 zurückgehen,186 konnte ein Hinweis auf die Attribuierung ›Atom-Dibelius‹ zuerst in einem Artikel des Spiegel vom Januar 1951 nachgewiesen werden, im Neuen Deutschland findet sich die Bezeichnung erstmals im Oktober 1958.187 186 In einem Artikel des Spiegel werden beide Bezeichnungen unter Verweis auf das Zentralorgan der SED genannt: »Im ›Neuen Deutschland‹ muß sich Bischof Dibelius als ›Kriegshetzer und Instrument der amerikanischen Aggression‹ brandmarken lassen. Ausgelöst wurde die SED-Kampagne durch den Hirtenbrief des Bischofs, in dem er Gewalt und Unwahrheit als die hervorragenden Merkmale der Sowjetzone bezeichnet hatte«; Panorama. Instrument, in: Der Spiegel, Nr. 30 vom 21. 7. 1949, S. 4. Der Vorwurf, Dibelius sei ein »Instrument der amerikanischen Aggression«, geht auf Wilhelm Girnus zurück, der in einem Antwortschreiben an Probst Heinrich Grüber den Vorwurf erhärtet, Dibelius habe am sogenannten ›Tag von Potsdam‹ am 21. März 1933 eine Predigt zum Staatsakt gehalten und darin erklärt: »Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen alle, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, den Glauben verächtlich machen, den Tod für das Vaterland begeifern, soll er in Gottes Namen seines Amtes walten«; Otto Dibelius, zitiert nach Wilhelm Girnus: Es bleibt dabei: Eure Rede aber sei ja, ja, nein, nein. Fortsetzung des Briefwechsels zwischen dem Probst von Berlin, D. Heinrich Grüber, und dem Mitglied unseres Redaktionskollegiums W. Girnus, in: Neues Deutschland, Nr. 168 vom 21. 7. 1949, S. 4. In seiner Funktion als Generalsuperintendent der Kurmark leitete Dibelius am 21. März 1933 den Auftaktgottesdienst für die evangelischen Reichstagsabgeordneten in der Potsdamer St. Nikolai-Kirche. Der eigentliche Staatsakt fand im weiteren Verlauf des Tages in der Potsdamer Garnisonskirche statt; vgl. Hartmut Fritz: Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur, Göttingen 1998, S. 387, Anm. 121. Dibelius verband in seiner von einem »hin- und herschwankenden Zauderrhythmus des ›Einerseits – Andererseits‹, des ›Zwar – Aber‹« geprägten Predigt »die Sehnsucht nach Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft, wie sie in den Augusttagen von 1914 lebendig geworden war und die immer noch Bestandteil bürgerlich-nationaler Ideologie war, mit dem neuen nationalen Aufbruch und stellte doch den in diesem Aufbruch politisch Handelnden den ekklesiologischen Vorbehalt des ›Jahrhunderts der Kirche‹ entgegen«, indem er die von Girnus zitierten Sätze um die Worte ergänzte: »Aber wir wären nicht wert, eine evangelische Kirche zu heißen, wenn wir nicht mit demselben Freimut, mit dem Luther es getan hat, hinzufügen wollten: staatliches Amt darf sich nicht mit persönlicher Willkür vermengen! Ist die Ordnung hergestellt, so müssen Gerechtigkeit und Liebe wieder walten, damit jeder, der ehrlichen Willens ist, seines Volkes froh sein kann. […] Herr, laß uns wieder werden, was unsere Väter waren: durch Gottes Gnaden ein geheiligtes Volk«; ebd., S. 396f., 401; Otto Dibelius: Festpredigt des Generalsuperintendenten der Kurmark, D. Dr. Otto Dibelius, zur Eröffnung des Reichtags am 21. März 1933, zitiert nach Günther van Norden: Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, Gütersloh 1979, S. 52–55, hier: S. 54f.; Kursivdruck im Original. 187 Vgl. Niemöller. Der mit Benzin löscht, in: Der Spiegel, Nr. 3 vom 17. 1. 1951, S. 9–14; Günther Wendekamm: Die Straße ist unsere Bühne. Erstes Treffen der Agitpropgruppen im Bezirk

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In Jerichow predigt hingegen Brüshaver, der zum einen Herbert Vick, weil dieser die K 5 im Raum Neubrandenburg unterrichtete, die kirchliche Beisetzung verweigert. Zum anderen will es der Jerichower Pastor »noch einmal versuchen mit seinem Martin Niemöller, im Rat der E.K.i.D., Unterzeichner der Schulderklärung von Stuttgart und Verfasser der Meinung, sämtliche Besatzungsmächte sollten abziehen aus Restdeutschland und es durch die Vereinten Nationen am Frieden halten« (JT, 1612). Die Teilbiografie Niemöllers bis zu seiner Internierung im KZ Sachsenhausen wird an dieser Stelle um dessen Rolle in der evangelischen Kirche nach 1945 ergänzt. Mit der Erwähnung der Stuttgarter Erklärung rückt die Auseinandersetzung der evangelischen Kirche in Deutschland mit der eigenen Vergangenheit in den zwölf Jahren des Nationalsozialismus in den Blick. Am 19. Oktober 1945 bekannte der Rat der EKD gemeinsam mit Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen, sich in einer »Solidarität der Schuld« zu befinden und daher die Anklage über sich zu erheben, »dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben«.188 Die Stuttgarter Erklärung, die Brüshaver für sich ablehnt, indem er »nicht allgemein Buße predigte für die deutschen Verbrechen im Krieg« (JT, 1357; Hervorhebung P. O.), wurde neben Hans Christian Asmussen von Martin Niemöller und Otto Dibelius unterzeichnet. Verfasst wurde sie von Dibelius, während sich Niemöller dafür einsetzte, die Erklärung um den Satz aus einem weiteren Entwurf Asmussens zu ergänzen, »[…] daß durch uns Deutsche unendliches Leid über viele Völker gebracht worden sei«.189 Vermittelt durch die theologische Expertise des Jerichower Pastors wird die bereits in Johnsons Erstling anklingende Kritik an der Stuttgarter Erklärung190 verstärkt und auf den Aspekt der Kollektivierung hin konkretisiert. Auch wenn es insbesondere Niemöller war, der in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mit der Stuttgarter Erklärung in Verbindung gebracht wurde,191 so werden mit Niemöller und Dibelius zwei führende Vertreter der Bekennenden Kirche und der EKD, zwei Unterzeichner der Stuttgarter Erklärung trotz eines gemeinsames Wegs und

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Karl-Marx-Stadt mit der Bezirksleitung, in: Neues Deutschland, Nr. 260 vom 29. 10. 1958, S. 4. Niemöller hatte am 4. Oktober 1950 einen offenen Brief an Bundeskanzler Adenauer verfasst, den die ostdeutschen Behörden, mit einem Begleittext versehen, am Vorabend der Einheitswahlen in der DDR am 15. Oktober 1950 unter der Bevölkerung verteilten. Aus jenem Begleittext wiederum wird im Spiegel-Porträt Niemöllers zitiert, das Johnson vermutlich als Vorlage diente: »Im Begleittext werden dem ›fortschrittlichen Kirchenführer‹ ›Kriegshetzer-Bischöfe‹ und ›Atombomben-Bischöfe‹ vom Schlage des Berliner Bischofs Dibelius gegenübergestellt«; Der mit Benzin löscht, S. 14. Zweiter Teil, Kap. 1, Anm. 95. Otto Dibelius, zitiert nach Robert Stupperich: Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeit, Göttingen 1989, S. 380. Vgl. Zweiter Teil, Kap. 1.3. Der mit Benzin löscht, S. 12.

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einer sich daraus enwickelnden Freundschaft unter dem Dach der Bekennenden Kirche192 im Tageseintrag vom 23. Juli 1968 direkt einander gegenübergestellt. Abgebildet werden damit die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend zutage tretenden Differenzen, die beide in ihrem theologischen Denken unterschied. Dibelius wurde zum »Widersacher und Rivalen«193 Niemöllers. Während Dibelius, der Mitglied der CDU war, wiederholt Stellung gegen die Politik in der SBZ und DDR bezog, vor allem aber um die Einheit der evangelischen Kirche bemüht war,194 trat Niemöller als Kritiker der christdemokratischen Politik in der BRD auf und setzte sich vehement für eine deutsche Wiedervereinigung ein – und sei es unter kommunistischer Herrschaft.195 »Die größte Gefahr für den Frieden«, so nennt es der Spiegel in einem Porträt Niemöllers im Januar 1951, »sieht er im Zonenvorhang. Aus seiner Verzweiflung rettet er sich in Illusionen: Er ruft die UNO, sie möge die verschiedenen Besatzungen ablösen und unter ihrem Schirm die Deutschen frei wählen lassen«.196 Seine politisch fundamentalen und zunehmend pazifistischen Stellungnahmen wie der vehemente Einsatz gegen eine westdeutsche Remilitarisierung brachten ihm den Ruf des Mahners ein, isolierten ihn aber zunehmend innerhalb der EKD.197 Dibelius hingegen stand als Vorsitzender des Rates der EKD trotz seiner Bemühungen um eine innerkirchliche und politische Einheit in Deutschland spätestens seit der Unterzeichnung des Militärseelsorgevertrags am 22. Februar 1957 symbolisch für die bundesdeutsche Remilitarisierung.198 192 Stupperich, Otto Dibelius, S. 465. 193 Heymel, Martin Niemöller, S. 152. 194 Ausdruck dieser Bemühungen ist ein Brief von Dibelius an Niemöller vom Juli 1955: »Jedenfalls sollten wir der Welt nicht das Schauspiel sich streitender christlicher Brüder vor Augen stellen. Wenn wir nicht die Kraft haben, das alte Erbübel der Deutschen in unseren Reihen zu überwinden und wenn wir nicht gütige Gesinnung gegenüber denen aufbringen, die uns im Rahmen unseres Volkslebens die Nächsten sind, dann haben wir keine Vollmacht mehr, das Evangelium zu verkündigen. Und darum glaube ich nicht, daß man die Einheit der deutschen Christenheit auf einem anderen Wege suchen kann als auf dem der EKiD. Die anderen Wege führen immer nur zu neuer Zersplitterung. Das habe ich aus der Kirchengeschichte gelernt«; Otto Dibelius an Martin Niemöller, 6. 7. 1955, zitiert nach Stupperich, Otto Dibelius, S. 474f., hier: S. 474. 195 Vgl. Heymel, Martin Niemöller, S. 150f. Vgl. auch Claudia Lepp: Tabu der Einheit? Die OstWest-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969), Göttingen 2005, S. 102. 196 Der mit Benzin löscht, S. 9. 197 Neben Niemöllers wiederholten öffentlichen Äußerungen zu politischen Fragen entbrannte innerkirchlich eine Auseinandersetzung um die Amtsführung des Kirchlichen Außenamts, das Niemöller seit 1945 inne hatte und dem er seit Juni 1956 nicht mehr vorstand; vgl. hierzu Stupperich, Otto Dibelius, S. 469–480; Heymel, Martin Niemöller, S. 150–152. 198 Vgl. hierzu Stupperich, Otto Dibelius, S. 498–503. Mit der Annahme des Militärseelsorgevertrags eng verknüpft ist das innerhalb der EKD kontrovers diskutierte Problem, wie sich Militärseelsorger im Falle des Einsatzes atomarer Waffen verhalten sollten. Martin Niemöller, der nicht grundsätzlich gegen die Militärseelsorge war, bezog hierzu auf der Synode

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Auch wenn dieser Kontext für die Figur Brüshaver im Jahr 1949 noch ohne Bedeutung ist, muss er für die Darstellung des Erzählers auf der Gegenwartsebene des Jahres 1968 mitgedacht werden. Der Zusammenhang zwischen der Stuttgarter Erklärung auf der einen und dem Militärseelsorgevertrag sowie der Stellung der EKD zu atomaren Waffen auf der anderen Seite wird durch die Gegenüberstellung der Positionen und Attribuierungen von Dibelius und Niemöller zumindest angedeutet. In seiner Rede zum Bußtag hat Johnson die Verbindung, den Rückfall der evangelischen Kirche in »Geschäftsbeziehungen mit der jeweils regierenden Gewalt« trotz ihrer Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland und trotz ihres Schuldbekenntnisses aus dem Jahr 1945, ausbuchstabiert: Ihre Funktionäre kommen nach dem Ende des Krieges zusammen zu einem Stuttgarter Sühnebekenntnis und legen schriftlich nieder, sie hätten »nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht brennender geliebt«, was ins Gemeindeutsch und ins Positive übersetzt bedeutet, daß sie dem Hitler die Soldaten kampfesmutig gehalten haben mit ihrem Segen, und wenn da militärisches Gerät auf dem Kasernenhof stand, galt der Segen eben auch dafür, und für die Feldkriegsordnung. Und richtig, kaum waren ein paar Jährchen vergangen, da bestellten sie einen Bischof für die Militärseelsorge in der westdeutschen Bundeswehr, der heißt Hermann Kunst. 1959 hieß es noch nur, in theologischer Sprache, es sei eine »heute noch mögliche christliche Handlungsweise«, »durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern«, durch das Dasein von Atomwaffen (8. Heidelberger These). (BU, 48; Kursivdruck im Original)199

Mit Brüshaver steht eine Pastorenfigur im Mittelpunkt des kirchengeschichtlichen Diskurses, die eine beispielhafte Emanzipation von einem deutschnationalen, latent auch antisemitischen Pastor hin zu einem christlich-humanistivon Berlin-Spandau im März 1957 Stellung und verwies auf die Rolle des Feldgeistlichen William B. Downey (vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 4.2 zum Tageskapitel vom 22. Juli 1968): »haben wir das Recht, dem für Atomwaffen auszubildenden Soldaten ein gutes Gewissen zu machen für das, was zu tun er sich anschickt? Haben wir da irgend etwas mit dem Evangelium zu sagen? Ich habe mir immer die Frage vorgelegt, wenn damals am Ende des Krieges 1945 jener Flugzeugführer, der die Atombombe nach Hiroshima tragen sollte, zu mir gekommen wäre als zu einem Feldprediger mit der Frage: Father, what shall i do? Was soll ich tun? Ich würde ihm sagen: Laß die Finger davon. Das heißt nicht, daß ich sage: jeder muß das sagen. Aber wer das verantworten will, dem Mann zu sagen, du tust da deinen Dienst am Nächsten, laß 30 000 oder 200 000 Menschen beim ersten Schuß umkommen und die ganze Sache zur Wüste werden und dann trage getrost die Flüche der vielleicht noch ungeborenen Kinder, die dir verdanken, daß sie als Krüppel geboren werden! – wer das kann, der tue es! Ich kann nur sagen, ich kann das nicht«; Martin Niemöller: [ohne Titel; Wortbeitrag am Vormittag des fünften Verhandlungstags, 7. 3. 1957], in: Berlin-Spandau 1957. Bericht über die 2. Tagung der 2. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 3. bis 8. März 1957, hg. im Auftr. des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1957, S. 269–277, hier: S. 276; Hervorhebung im Original gesperrt gesetzt. Vgl. hierzu Heymel, Martin Niemöller, S. 234–237. 199 Vgl. hierzu Erster Teil, Kap. 1.2.

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schen Amtsträger vollzieht. Brüshaver erkennt nicht nur seine Schuld, er leitet aus diesem Sehen ein zukünftiges Handeln ab, dass in seiner Konsequenz für einen Pastor vor und nach 1945 beispielhaft ist. Auffallend sind in diesem Zusammenhang die erheblichen Parallelen der Figur mit Niemöller,200 etwa die Maxime, dass kein Pastor Mitglied einer politischen Partei sein solle.201 Doch während Niemöller durch seine politischen Parteinahmen wiederholt Gefahr lief, seinem selbst auferlegten Credo nicht zu entsprechen, lehnt Brüshaver in aller Konsequenz das Angebot ab, sich politisch als Staatssekretär für Kirchenfragen zu betätigen (vgl. JT, 1596). Insbesondere durch diese Pastorenfigur ist es Johnson gelungen, einen kirchengeschichtlichen Diskurs in sein Hauptwerk zu integrieren, der »in zeitgeschichtlicher deutscher Erzählkunst nicht seinesgleichen hat«202 und mit dem er selbst der damaligen Wissenschaft einen »großen Schritt voraus«203 war. Der Mecklenburgischen Landeskirche hat er damit ein, wenn auch nicht rühmliches, so doch »nachhaltiges Denkmal«204 gesetzt. Vor allem aber hat Johnson erreicht, die Frage der Verstrickungen des DEKB und der DEK wie auch der Vertreter der Bekennenden Kirche in die ›deutsche Schuld‹ aufzuarbeiten. Die drei Jerichower Pastoren Methling, Brüshaver und Wallschläger stehen für drei typische Geistliche ihrer Zeit. Sie vermitteln in ihrem jeweils schuldbehafteten Handeln aber einen Eindruck davon, dass es nicht die kollektive Schuld der Institution Kirche gibt, hinter der sich einzelne Geistliche in ihrem Fehlverhalten verstecken können. Jeder Einzelne ist dazu aufgefordert, sein Handeln vor dem Hintergrund des Evangeliums zu rechtfertigen, seinen Anteil an den Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland kritisch zu prüfen und das Kreuz auf sich zu nehmen, wie Pastor Brüshaver es in seiner Bußpredigt am 13. November 1938 und in der Folge getan hat. Durch ihre (Mit-)Schuld an diesen Verbrechen haben die Kirchen zweifelsohne ihre moralische Autorität eingebüßt. Mithilfe des zeitgeschichtlichen Rahmens der Jahrestage wird des Weiteren hervorgehoben, dass in der Institution Kirche nicht erst seit 1933 und nicht nur bis 1945 gegen eigene Grundsätze christlicher Ethik verstoßen wurde. Anhand der Zwei-Regimente-Lehre und des Verhaltens gegenüber Suizidenten wird der Fokus auf die Praxis einer dogma200 Vgl. Paasch-Beeck, Der evangelische Kirchenkampf, S. 72. Daneben macht Paasch-Beeck Facetten der Biografie von Pastor Heinrich Grüber in der Figur des Wilhelm Brüshaver aus; vgl. ebd., S. 72f. 201 Vgl. Der mit Benzin löscht, S. 9. Niemöller begründete diese Maxime damit, dass »[…] in Deutschland alle Parteien weltanschaulich belastet sind und der Mann von der anderen Partei gleich als Gegner betrachtet wird«; Martin Niemöller, zitiert nach ebd. Vgl. hierzu JT, 1357: »Parteipolitik glaubte er unvereinbar mit geistlichem Amt«. 202 Mecklenburg, Jude, Christ, Judenchrist, S. 127. 203 Paasch-Beeck, Aus dem Schatten des Güstrower Doms, S. 115. 204 Ebd.

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tischen, unreflektierten Übernahme christlicher Lehrsätze gerichtet und diese kritisiert. Die unterschiedlichen Auslegungen solcher Lehrsätze, etwa die Entscheidungen über die Bestattung Herbert Vicks in Jerichow und Gneez, verweisen darauf, dass auch sie einer gewissen Dynamik unterliegen können, die sich an einer situationsangemessenen Auslegung des Evangeliums orientiert. Dieses Plädoyer für eine reflexive christliche Ethik im Zeichen des Evangeliums gewinnt durch die Figur des Wilhelm Brüshaver in den Jahrestagen im Vergleich zu Johnsons früheren Romanen an zusätzlicher Bedeutung. Zurückgewiesen wird hingegen einmal mehr die Funktionalisierung des Christentums zu politischen Zwecken, die mit dem Evangelium nicht in Einklang steht.

5.

Ethischer Diskurs: »Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt.«

Aus den Beobachtungen des kirchengeschichtlichen Diskurses um die Figur des Pastor Brüshaver ergibt sich die Frage, welche Bedeutung christliche Ethik für das Erinnerungsprojekt der Protagonistin einnimmt. Schmidt konstatiert, dass der Entwurf der Figur »nicht auf ein ethisch, religiös oder politisch fundiertes Gebot des Erinnerns und Gedenkens zu referieren«1 scheine. Ihr ethisches wie politisches Gewicht erlange Gesines Überlieferung ohne Gebot erst »ex negativo in der Auseinandersetzung mit anderen mnemonischen Habitus im zunächst selbstreferentiell gefaßten Gedächtnisdiskurs des Romans«.2 Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Hofmann, wenn er den moralischen Wert des Erzählprojektes auf die im Roman genannte Maxime beschränkt, »[w]enigstens mit Kenntnis zu leben« (JT, 210; Kursivdruck im Original). Diese enthalte »das Wissen um die Aporien des Handelns«, die nicht »moralisch einwandfrei und politisch unanfechtbar« sein können: Die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus führt demnach nicht zu eindeutigen politischen oder moralischen Handlungsmaximen; der Roman behält einen tief pessimistischen Grundzug, der wenig Raum für Hoffnung läßt. Keine Hoffnung, aber doch ein bißchen Zuversicht läßt sich aus der Tatsache ableiten, daß Marie, die Adressatin von Gesines Erzählung, in den dargestellten Widersprüchen lebt und in der Lage ist, mit den skizzierten Aporien als den Voraussetzungen ihrer Existenz praktisch umzugehen.3

Folgt man beiden Interpretationen ließe sich der Schluss ziehen, dass ein ethischer Diskurs in den Jahrestagen nicht essenziell, womöglich gar nicht existent ist. Die Integration des kirchengeschichtlichen Diskurses in die Erinnerungsreise Gesines lässt aber Zweifel an einem solchen Schluss aufkommen. Verstärkt werden diese Zweifel durch die Ergebnisse, die sich aus der Analyse des religiösen Diskurses in den Jahrestagen ergeben haben. Welche Bedeutung also hat eine 1 Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 49. 2 Ebd. 3 Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 84.

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Ethischer Diskurs: »Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt.«

christlich fundierte Ethik für die Protagonistin des Romans und ihr Erinnerungsprojekt? Um sich dieser Frage anzunähern, soll in einem ersten Schritt der Umgang von Gesines Mutter mit christlichen Moralvorstellungen und das damit verbundene Trauma der Tochter ergründet werden. In einem zweiten Schritt wird insbesondere unter der erneuten Berücksichtigung des Tageskapitels vom 22. Juli 1968 Gesines Haltung zur christlichen Ethik untersucht.

5.1

Lisbeth Cresspahl: »unnötig kirchenzahm«

Der Suizid von Lisbeth Cresspahl in der Reichspogromnacht legt ein politisches Motiv der Tat nahe. Dass der Entscheidung von Gesines Mutter allerdings zwei Suizidversuche vorausgehen und sie vor der Todesnacht religiösen Beistand sucht, macht Lisbeth zu einer der »dunkelsten und rätselhaftesten Figuren des Romans«.4 Maßgeblich für eine solche Wahrnehmung wie die Krellners ist die Erzählsituation des Romans, die auf dem Bewusstsein der Tochter Gesine beruht. Das Muttertrauma macht es der Protagonistin, und damit auch dem Leser, unmöglich, mit den Augen Lisbeths auf die Umstände zu blicken und eine plausible Motivation aus ihrem Handeln abzuleiten. Einen Ansatz zur Interpretation der Figur, auf dem vor allem die Arbeiten Bormuths und Winklers basieren, hält ein Hinweis im Tageseintrag vom 17. August 1968 bereit. Gesine empfängt einen Brief aus Frankfurt am Main »vom Forschungsinstitut für Psychoanalyse« (JT, 1856), dem ein eigener Brief vorausgegangen ist. In diesem wendet sich die Protagonistin an den Psychoanalytiker »A. M.« (JT, 1857), Alexander Mitscherlich, um zu eruieren, warum sie Stimmen von Toten hört. Mitscherlich als in den Roman integrierte Figur antwortet ihr, »hier wirkten Folgen von Verletzungen fort, von Verlusten; sie irrt sich, wenn sie da an Jakob denkt, an Cresspahl; angefangen hat es in der Tat mit der Mutter, die sich aus der Welt ›ver-rückt‹ hat. Wir reden von dir, du Lisbeth geborene Papenbrock! Entfremdung ja; keine Wahnbildung.« (JT, 1856) Die im Verb ›verrücken‹ implizierte Bedeutung des Adjektivs ›verrückt‹ wie auch der Hinweis auf die Entfremdung der Mutter deuten auf eine Persönlichkeitsstörung hin. Lisbeth bestätigt eine solche Diagnose indirekt, indem sie bekennt: »You know, I have secrets in my head, but I do not know them. Only my head can get at them.« (JT, 775)5 4 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 236. 5 Im unvollendet gebliebenen Erzählprojekt Heute Neunzig Jahr wird diese Diagnose offen ausgesprochen: »Sie war krank im Kopf.« (HNJ, 95) Auch von einer »ärztlich erzwungenen Einlieferung in die Anstalt auf dem Sachsenberg bei Schwerin« erzählt Gesine, die ihr Vater aber verhindert habe: »Sie zu entbehren war undenkbar, obwohl er ihre gefährdeten Zeiten nun

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Dass aber selbst ein psychologischer Interpretationsansatz Schwierigkeiten in sich birgt, lässt sich auf die in Lisbeth wie in kaum einer anderen Figur der Jahrestage zu beobachtende Verknüpfung von persönlichem und zeitgeschichtlichem Schicksal zurückführen. Eine Anamnese ihrer Persönlichkeitsstörung läuft dabei stets Gefahr, einen dieser beiden Aspekte zu wenig zu berücksichtigen. So überschneiden sich ihr Eintritt ins Erwachsenenleben durch die Hochzeit mit Heinrich Cresspahl im Oktober 1931 und die Geburt der Tochter im März 1933 mit dem aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland. Ihr Suizid in der Nacht des 9. November 1938 korrespondiert mit den Ereignissen der Reichspogromnacht. Dieser Umstand fordert eine allegorische Deutung geradezu heraus, wie sie Krellner anbietet. Demnach sei Lisbeths Suizid kein stellvertretendes Opfer für die an jüdischen und als jüdisch deklarierten Deutschen verübten Verbrechen,6 sondern verknüpfe »in allererster Linie die pathologischen Tendenzen der nationalsozialistischen deutschen Gesellschaft direkt mit der Familie Cresspahl«.7 Der Anlage des Romans scheint es aber zu widersprechen, eine Figur mit einer allegorischen Funktion für eine insgesamt außerordentlich disparat auf die ›Machtübernahme‹ Hitlers reagierende deutsche Gesellschaft auszustatten. Auch wenn Lisbeth im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft in einen Zirkel von Schuldgefühlen verfällt,8 deutet sich ihr Verhalten bereits vor dem Jahr 1931 an. Lisbeth wird, wenn auch rückblickend aus der kritischen Perspektive ihrer Tochter, als das »liebste Kind« (JT, 50; Kursivdruck im Original), die »Vorzugstochter« (JT, 72) ihres Vaters Albert Papenbrock beschrieben. Von ihm wird sie wie ihre anderen Geschwister zum Gehorsam gegenüber Autoritäten erzogen,9 sodass sie selbst mit 26 Jahren von ihm noch »lieber Befehle bekam[] als selber [zu] entscheiden« (JT, 367). Entsprechend wäre es ihr »recht gewesen, hätte Papenbrock ihr befohlen, nach England abzureisen« (JT, 366) zu ihrem Verlobten. Durch die patriarchalisch-autoritäre Prägung des Vaters wird auch die »blind fromme[] Erziehung« (JT, 526) der Mutter bei Lisbeth wirksam. Sie führt zu einer »genuin christlichen Gewissenshaltung«,10 die auf einer »tiefgehende[n] Gottesund Obrigkeitsfürchtigkeit«11 basiert. Angesichts dieser Sozialisation gelingt es Lisbeth nicht im Ansatz, eine eigene Persönlichkeit auszubilden, die es ihr er-

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schon erkannte an der Haltung, in der sie gedankenlos vor dem offenen Feuerloch stand, oder vor dem Wasserfass.« (HNJ, 95) Vgl. Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 77f. Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 243. Vgl. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 184. Auch Lisbeths Bruder Robert zeichnet eine Form des Obrigkeitsgehorsams aus, indem er sich dem Nationalsozialismus mit seinem Führerprinzip verschreibt. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 181. Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 239.

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möglicht, die moralischen Grundsätze einer christlichen Ethik auf ihre eigene Lebenswelt zu übertragen.12 Vielmehr bindet sie sich ohne Rücksicht auf Verluste an (biblische) Lehrsätze wie das Verbot der falschen Aussage,13 selbst wenn sie damit eigene Familienangehörige wie ihren Vater während des Kapp-Putsches verrät (vgl. JT, 57). Überwiegt in dieser Situation für Lisbeth die Liebe zur Wahrheit, die sich mitnichten in einem solch grundsätzlichen Sinne aus dem achten Gebot ableiten lässt, gegenüber der Barmherzigkeit zu einem Familienmitglied, zeigt sie gegenüber einem Pferd, das ihr Bruder zu Tode zu reiten droht (vgl. JT, 58, 524), aber auch gegenüber den Vögeln im Garten, denen sie sich »[m]anisch verantwortlich« (JT, 775) fühlt, ein »hypersensibles Gewissen«.14 Diese rätselhafte Ambivalenz in ihrem Verhalten lässt sich auf ein Verständnis von Gerechtigkeit zurückführen, für das Lisbeth »nicht einen Begriff mitgebracht [hatte], sondern ein Empfinden« (JT, 142). Cresspahl bemerkt, dass Lisbeth noch vor der Ehe vom »nötigen Wohlwollen Gottes« spricht, hält es aber für »harmlos« (JT, 72). Von Meta Wulff wird er »gewarnt«, weil Lisbeth »an jedem Kirchentag in der zweiten Reihe unter der Kanzel saß« und Bibelstunden für Kinder »über die Christenpflicht hinaus im Gemeindehaus abhielt« (JT, 87f.).15 Doch erst nach der Eheschließung erkennt Cresspahl, dass sie zwar immer fromm gewesen sei, »aber wenn jetzt die Kinder aus ihrer Christenlehre zurückkommen, die bringen ein Gewissen mit, das kann Einer gar nicht gebrauchen am täglichen Tag« (JT, 508). Auch die Loslösung von den Eltern durch die Beziehung zu ihrem Ehemann, der sich weigert, die elterliche Autorität auszufüllen,16 befähigt Lisbeth nicht zur Emanzipation hin zu einem autonomen moralischen Handeln. Vielmehr verharrt sie auf der »Entwicklungsstufe eines Kindes«,17 was im Roman mehrfach aufgegriffen wird, und bindet sich in zunehmendem Maße an christliche Autoritäten: ihre evangelische Kirche in Jerichow, vor allem aber die Bibel.

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Vgl. Dritter Teil, Kap. 1.1. Vgl. Ex 20,16; Dtn 5,20. Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 239. Auf der Darstellungsebene ist die Warnung bereits mit dem Tod Lisbeths verknüpft, indem Swetlana Stalina zitiert wird, wie sie in der New York Times über den Suizid ihrer Mutter spricht: »In jener Zeit waren die Menschen ein Stück ehrlicher und gefühlstreuer. Wenn ihnen das Leben nicht gefiel wie es war, erschossen sie sich. Wer tut dergleichen heutzutage?« (JT, 88) 16 Vgl. JT, 365: »Cresspahl aber hatte ihr zugehört und sie an ihren eigenen Wünschen hineingezogen in eine Lage, an der sie ihren Teil hatte. Er nahm einfach die Verantwortung für sich allein. Das mochte Respekt vor ihrer Person sein; das war von ihr zu viel verlangt.« 17 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 240.

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Noch einmal: Die Hochzeit von Lisbeth und Heinrich Cresspahl Bereits mit dem Reformationstag als Datum, vor allem aber mit Lk 9,62 als Motto der Trauung betont Lisbeth ihr Credo eines Lebens in der Nachfolge Jesu.18 Der in Lk 9,62 angesprochene bedingungslose Einsatz für die zukünftige Gottesherrschaft, ohne den Blick zurückzuwenden und »ohne jegliche Rückkoppelung an die Familie«,19 richtet sich im Komplex von Nachfolgeworten20 in erster Linie an Nachfolgende im Sinne einer missionarischen Tätigkeit.21 Auch wenn sich Lisbeth in der Christenlehre engagiert, so steht ihr Handeln nicht im Zeichen eines Gottes-Dienstes. Vielmehr wirkt sie auf einen stetigen Handel mit Gott hin, um ihre Vorstellung eines Lebens in der Sünde bzw. Schuld zu sühnen.22 Entsprechend fällt Lisbeths Bindung an konkrete christliche Vorstellungen »relativ oberflächlich aus, da sie sachlich sehr heterogene Inhalte annehmen kann, wenn sie nur mit entschiedenem Pathos vertreten werden«.23 Austauschbar werden die Inhalte und die Vorstellung von Beziehungen als ein immerwährendes Handelsgeschäft durch die Art der Bindung an das Christentum, steht diese doch ganz im Zeichen eines »Anlehnungsbedürfnis[ses] an eine unbedingte Autorität«.24 Die Autoritätsbindung und das Bilanzieren des eigenen Handelns dienen Lisbeth als Hilfsmittel, um den Schwierigkeiten der privaten und vor allem politischen Veränderungen begegnen zu können, denen sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung nicht gewachsen ist. Eine übergeordnete (christliche) Idee, aufgrund derer sie zu moralischen Urteilen gelangen und ihr Verhalten ableiten könnte, besitzt sie nicht. Entsprechend unterscheidet sich Lisbeths Verhältnis zu Gott in einem Punkt nicht wesentlich von den Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Auch ihnen gegenüber versucht Gesines Mutter ihr Handeln »aufzuwiegen und abzuwägen, um in einer Art ›Rechnung‹ eine Bilanz daraus zu ziehen«25 und das eigene Vorgehen zu legitimieren. Dies führt bereits im Vorfeld der Hochzeit zu Kompromissen, die Cresspahl eingehen muss, damit seine Verlobte für ihre ›Rechnung‹ eine Kompensation für den Umzug nach Richmond erhält: 18 19 20 21 22

Vgl. Dritter Teil, Kap. 1.1. Klein, Lukasevangelium, S. 370. Vgl. Lk 9,57–62; 14,25–35. Klein, Lukasevangelium, S. 365. Vgl. JT, 512: »Zwar lasse Gott mit sich nicht handeln. Eine Art Bezahlung hätte es dennoch dargestellt. Auch für die Schuld von Cresspahl.« 23 Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 181. Vgl. hierzu JT, 426: »Im Januar 1934 hatte Brüshaver die Erklärung von Niemöllers Pfarrernotbund verlesen: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen; das war ein Ton, der dieser Tochter von Louise Papenbrock unter die Haut ging. Ob es nun um die Verweigerung des Fragebogens mit dem Arierparagraphen ging, oder um eine kirchliche Trauung unter einem nicht kirchlichen Motto […] oder um die Reinheit der Verkündigung des Evangeliums, für sie war die Kirche im Recht.« 24 Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 181. 25 Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 241.

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er hatte zwar auf Dr. Semig, aber nicht auf den Wulffs als Gästen bestanden, er hatte am Ende von Papenbrock einen Hut angenommen, damit er auf der Schwelle der Kirche etwas zum Abnehmen trug, all dies in Verrechnung gegen die Zusicherung und das Vertrauen darauf, daß der Schnellzug Nummer 2 ihn mit ihr um halb acht aus Gneez vor Jerichow nach Hamburg retten sollte. Wenn aber er einen Handel wollte, warum legte er ihr nichts obenauf für den Willen zum Umzug ins fremde Land, der doch das größere Opfer blieb? Dat dau ick föe di, Cresspahl. Föe di dau ick dat. Öwe sühst du dat? (JT, 112f.)

Das Eheleben der Cresspahls Bereits das erste Tageskapitel, in dem über das frisch vermählte Paar berichtet wird, zeugt von den negativen Vorzeichen, unter denen die Ehe zwischen Lisbeth und Heinrich Cresspahl von Beginn an steht. Im Tageseintrag vom 27. September 1967 berichtet der Erzähler von den Sprach- und Integrationsschwierigkeiten Lisbeths in Richmond. Noch viel schwerer wiegt aber, dass Cresspahl nicht wahrzunehmen vermag, »daß sie getröstet werden wollte«, und stattdessen »vergnügt zu den Mahlzeiten« erscheint (JT, 123). Was wie eine Unbedarftheit wirkt, macht Lisbeth als eine neue Eigenschaft ihres Ehemannes aus: er vermochte seine Ohren zu verschließen. Was er nicht hören wollte lief ab wie Wasser an seiner wachsamen freundlichen Miene. Er sah sie an, er erbaute sich in den Mundwinkeln über den Anblick, er sah um ein Winziges an ihren Augen vorbei, er hörte sie nicht klagen. Das hatte er nicht gemacht, als sie noch Lisbeth Papenbrock war. Auf die Art konnte sie einen Streit nicht bestehen. (JT, 123)

Auch wegen ihres Verhältnisses zur Kirche sucht Cresspahl erstmals die Konfrontation mit seiner Ehefrau. Ihre Bemerkung, dass »was Schlimmes« passiert sein müsse, weil Pastor Methling mit 68 Jahren in Pension gehen wolle – »der ist sicherlich krank« –, begegnet Cresspahl mit der lapidaren Entgegnung: »Angestellter ist er. Mit seiner Pension, was soll er länger arbeiten als er muß.« (JT, 123; Kursivdruck im Original) Für Lisbeth ist es eine unmögliche Vorstellung, denn »[s]eine Arbeit ist um Gotteslohn« (JT, 123; Kursivdruck im Original). Dennoch muss sie auf eine Nachfrage hin wenig später eingestehen, »Pastor Methling hatte sein Amt nicht wegen Krankheit aufgegeben« (JT, 129). Lisbeths infantile Strategie im Umgang mit Ambiguitäten gelangt auch in dieser Situation zum Vorschein. Nach diesem »ersten Streit über die Kirche« (JT, 123) kündigt sie ihrem Ehemann vorübergehend die Gemeinschaft auf, indem sie nicht mit ihm isst und das Haus verlässt; verbunden mit dem Ziel, »ihn zu strafen« (JT, 123). Nur so glaubt sie, ihre ›Bilanz‹ ausgleichen zu können, gerät dabei aber mit ihrer Bindung an die christliche Autorität in Konflikt, die ihr »vorschrieb, Cresspahl zu verzeihen«: »Es fiel ihr schwer, das ihm zuliebe zu tun. Sie fühlte sich übervorteilt. Cresspahl dachte: es reicht, wenn Einer sich mit Umarmen entschuldigt. (Er ahnte auch nicht wofür.)« (JT, 124) Der in Klammern ergänzte Kommentar des

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Erzählers, der im Gegensatz zur übrigen Passage die Perspektive Cresspahls berücksichtigt, deutet auf die frühe Entfremdung der Eheleute hin. Diese steigert sich sukzessive und mündet in Lisbeths Weigerung, mit ihrem Ehemann zu schlafen. Die Verweigerung gegenüber Cresspahl beruht aber nicht auf der Ablehnung des sexuellen Aktes als solchem, sondern vielmehr auf einer Persönlichkeitsstörung. Lisbeth ist hin- und hergerissen zwischen dem Versprechen, mit Cresspahl nicht nur ein Kind, sondern noch drei weitere Kinder in die Welt zu setzen (vgl. JT, 511f.), und dem Gefühl, mit jedem Neugeborenen ihre Schuld »zu vermehren« (JT, 512). Infolge dieses Zwiespalts schreckt sie auch vor einer Instrumentalisierung biblischer Worte wie jenen aus Gal 5,24 im Rahmen ihrer ›Schuld‹-Rechnung im Tageseintrag vom 25. Dezember 1967 nicht zurück (vgl. JT, 512).26 Nur kurze Zeit später, im Tageskapitel vom 28. Dezember 1967, berichtet der Erzähler, wie Cresspahl manchmal so weit war, »er hätte Pastor Brüshaver aus dem Schlaf klopfen mögen und ihn zur Rede stellen wegen dieses Paulus, der angeblich geglaubt hatte, es tue dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre« (JT, 526). Es ist anzunehmen, dass dieses Bibelwort, das nach der Lutherbibel zitiert wird, auf Lisbeth zurückgeht. Es rekurriert auf den ersten Vers des siebten Kapitels im 1. Korintherbrief: »1Wovon ihr aber mir geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib berühre.«27 Die Äußerung des Apostels Paulus bezieht sich »auf eine schriftliche Anfrage der Korinther«, wobei Uneinigkeit darüber herrscht, ob die Aussage »als eine These (Parole) der Korinther28 oder als These (Grundsatz) des Paulus zu verstehen ist«.29 Doch selbst wenn man 1 Kor 7,1 als Grundsatz des Apostels liest, wird dieser bereits im unmittelbar folgenden Vers relativiert: »Aber um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eigen Weib, und eine jegliche habe ihren eigenen Mann.«30 Aus diesem Grund konstatiert August Strobel, dass Paulus »trotz des anfänglichen Vorbehaltes ganz hin auf die eheliche Gemeinschaft«31 argumentiert. Nach Schrage versteht Paulus das Postulat, kein Weib zu berühren, »im Sinne von wünschenswert und vorteilhaft«,32 für Helmut Merklein aber unter 26 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 1.1. 27 1 Kor 7,1. In der Zürcher Bibel von 1931 wird 1 Kor 7,1 dagegen übersetzt mit: »1Was aber das betrifft, wovon ihr mir geschrieben habt, so ist es für den Menschen gut, kein Weib zu berühren.« 28 So argumentiert etwa Wolfgang Schrage, dass viel für die Annahme spricht, dass Vers eins »als korinthische Parole zu gelten hat und Paulus dieses Ideal hier – zustimmend oder mir Reserve – zitiert«; Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther, Teilbd. 2: 1 Kor 6,12–11,16, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1995, S. 53. 29 Helmut Merklein: Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1–11,1, Gütersloh 2005, S. 103. 30 1 Kor 7,2. 31 August Strobel: Der erste Brief an die Korinther, Zürich 1989, S. 118. 32 Schrage, Der erste Brief an die Korinther 2, S. 59.

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der Maßgabe, »daß es nicht auf die Ehe anzuwenden und nicht als Prinzip zu beanspruchen«33 sei. Dagegen argumentiert Schrage, dass die Korinther durchaus »die geschlechtliche Enthaltsamkeit überhaupt propagieren, nach den folgenden Versen zu schließen selbst innerhalb der Ehe (was Bevorzugung der Ehelosigkeit einschließt)«.34 Doch sofern es für Paulus wünschenswert ist, dass alle Menschen so wären wie er,35 sei »sein Votum nicht aszetisch oder rituell, sondern eschatologisch bzw. christologisch motiviert«.36 Selbst ohne dieses theologische Hintergrundwissen stößt Cresspahl auf die Diskrepanz, die sich aus dem von Lisbeth als maßgeblich für die Beziehung zwischen Mann und Frau propagierten Bibelwort und dem »tatsächlichen Leben eines ihrer Ausleger«37 ergibt: »Brüshaver mit seinen drei neuen Kindern« (JT, 526); neben einem Sohn aus erster Ehe. Lisbeths Bibellektüre zeugt von einer gewissen »Haltlosigkeit und Willkür«.38 Willkürlich ist sie insofern, als relativierende oder anderslautende Aussagen, die sich bereits aus dem Kontext der Bibelstellen ergeben, schlicht ignoriert werden. Insofern kann nicht von einer »gläubig-hörige[n] Unterwerfung« Lisbeths unter einen »Kanon unmenschlicher Gebote« gesprochen werden.39 Die kontextuelle Berücksichtigung des biblischen Intertextes hat gezeigt, dass es sich wie bei Gal 5,24 keineswegs um ein unmenschliches Gebot handelt. Vielmehr werden beide Bibelstellen von Lisbeth ›benutzt‹, indem sie aus ihrem Kontext gelöst werden.40 Entscheidend hierfür ist, dass Gesines Mutter nicht auf die Heilige Schrift zurückgreift, um eine Lösung für einen ihr als Problem erscheinenden Sachverhalt zu finden. Vielmehr versucht sie, ihre Vorstellungen unter Rückgriff auf passende Bibelworte zu legitimieren. In diesem funktionalisierenden Umgang gleicht sie in frappierender Weise den politischen Akteuren im NS-Staat – wie auch in der SBZ und DDR.41 Von der politischen Instrumentalisierung unterscheidet sie aber, dass sie nicht über das entsprechende Machtmonopol verfügt. Ihr funktionalisierender Gebrauch der Bibel ist Ausdruck einer Persön-

33 Merklein, Der erste Brief an die Korinther 5–11, S. 104. 34 Schrage, Der erste Brief an die Korinther 2, S. 59. Demnach ist »απτεσθαι […] ein in der LXX (für ‫ )נגע‬und auch sonst bekannter Euphemismus und meint die geschlechtliche Berührung bzw. den Geschlechtsverkehr«, sodass für die Negation »eine Abstinenz von jeder Ausübung der Sexualität« naheliege; ebd. 35 Vgl. 1 Kor 7,7. 36 Merklein, Der erste Brief an die Korinther 5–11, S. 104. 37 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 99. 38 Ebd. 39 Wittkowski, Zeugnis geben, S. 129. 40 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 98. 41 Vgl. etwa die Bezugnahme auf Ps 94,15 im Tageseintrag vom 12. August 1968: »Über dem Eingang zum Saal des Sowjetischen Militärtribunals zu Schwerin waren die Worte angebracht: ›Recht muß doch Recht bleiben‹.« (JT, 1795)

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lichkeitsstörung, die auf einer »überwertigen Vorstellung von Schuld«42 basiert und in einer als ausweglos empfundenen Verzweiflung in suizidalen Absichten mündet. Zurückführen lässt sich die Eskalation des Zirkels von Schuldgefühlen nicht allein auf Lisbeths Sozialisation, auf die Erziehung »einer verbitterten alten Frau, ihrer Mutter Louise Papenbrock, die die Bibel niemals verstanden hat«.43 Zwar bindet sich Lisbeth infolge ihrer Erziehung zunehmend an die Autorität der Bibel. Diese subjektiv empfundene Notwendigkeit resultiert aber in erheblichem Maße aus der politischen Situation im nationalsozialistischen Terrorregime. Folglich konstatiert Cresspahl, dass seine Frau es zwar »zu ernst mit der Kirche« nahm, dies aber darauf zurückzuführen sei, dass sie »mit beidem nicht über die Jahre kam, mit den Lehren der Kirche und mit den Anforderungen der Nazis« (JT, 525). Entscheidend für die sich verfestigenden überwertigen Schuldvorstellungen sind die Verstrickungen der Familie in die politischen Verbrechen seit 1933: Ihre Schuld hatte dann viel Verwandtschaft bekommen. Sie war nicht nur zurückgegangen zu der vielfältigen Schuld ihres Vaters, der verarmten Leuten Darlehen gab und als Rückzahlung ihre Häuser forderte, so daß sie nun bei ihm angestellt waren. (Damit könnte sie Tischlermeister Zoll meinen, den Papenbrock »ausgekauft« hatte; wen aber noch?) Sie hatte dann bleiben wollen in einem Land, dessen neue Regierung die Kirche bedrängte, bei einer Familie, der man weiterhin Verdienst an der neuen Herrschaft nachsagen konnte und dem eigenen Bruder einen Totschlag an Voss in Rande. (JT, 511)

Insofern ist Gesines Mutter wie beinahe alle Jerichower Figuren »unmittelbar und real in politische«44 Konflikte verstrickt und versucht diesen mit der Orientierung an der biblischen Autorität zu begegnen. Dass sie sich dabei, wie schon

42 Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 180. Der von Bormuth verwendete Begriff der ›überwertigen Vorstellungen/Ideen‹ geht auf Karl Jaspers zurück und beschreibt »Überzeugungen, die von einem sehr starken, aus der Persönlichkeit und ihrem Schicksal verständlichen Affekt betont sind und infolge dieser starken Affektbetonung dadurch, daß gleichsam die Persönlichkeit sich mit der Idee identifiziert, fälschlich für wahr gehalten werden«; Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Für Studierende, Ärzte und Psychologen, 2., neubearb. Aufl., Berlin 1920, S. 64. Psychologisch unterscheiden sie sich nicht von der »intensiven Verfolgung einer wahren Idee durch einen Forscher, einer leidenschaftlichen Vertretung einer politischen oder ethischen Überzeugung«, allerdings werde die »Falschheit […] mit dieser Bezeichnung gegenüber jenen anderen Phänomenen herausgehoben. Überwertige Ideen treten bei psychopathischen, aber auch bei im übrigen gesunden Menschen als Erfinderwahn, als Eifersuchtswahn, als Querulantenwahn usw. auf«; ebd. Somit sind sie »von echten Wahnideen auf das strengste zu unterscheiden. Überwertige Ideen sind tatsächlich vereinzelte Ideen, die sich verständlich aus Persönlichkeit und Situation entwickeln«; ebd.; Hervorhebung im Original gesperrt gesetzt. 43 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 100. 44 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 296.

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in Jugendjahren, ausgerechnet gegen eine ihr vertraute Person wendet, zeugt von ihrer Unfähigkeit zu autonomem moralischen Handeln. Gerichtsverhandlung gegen Warning und Hagemeister Besonders eindrücklich ist Lisbeths Orientierung an der biblischen Autorität im Verlauf der Gerichtsverhandlung gegen den Landarbeiter Warning und den Forstaufseher Hagemeister »über den Umgang eines hochgestellten Parteigenossen mit einem jüdischen Tierarzt« (JT, 570). Gesines Mutter hört den beiden Männern auf einer Zugfahrt bei einem Gespräch zu, in dem »Warning gesagt [hatte]: Früher hatte er ganz dicke Brühe mit Semig, konntest du gar nicht umrühren. Jetzt ist Griem Oberfeldmeister oder sonst was beim Reichsarbeitsdienst« (JT, 571). Von dieser Unterredung berichtet Lisbeth ihrem Bruder Horst. Dieser trägt das Berichtete weiter, woraufhin der älteste Bruder Robert Papenbrock eine Anzeige erstattet wegen der »Verunglimpfung eines nationalsozialistischen Amtsträgers durch den Vorwurf, er habe Gewinn aus dem Umgang mit einem jüdischen Staatsbürger gezogen« (JT, 571). Die Ankunft der amtlichen Vorladung »[i]m September« (JT, 571)45 und der Prozesstag, der 29. Oktober 1937, werden in unmittelbaren Zusammenhang mit der jeweiligen Bibelstelle des Mecklenburgischen Christlichen Hauskalenders gestellt. Am Tag der Vorladung empfiehlt dieser »aus Paulus Briefen46 an die Römer Vers 1 bis 5 des 5. Kapitels« (JT, 571). Der Zusammenhang zwischen der Vorladung und dem Tagesmotto wird zunächst nicht weiter expliziert und bleibt rein syntaktischer Natur, indem die im Mecklenburgischen Christlichen Hauskalender benannte Bibelstelle im Nebensatz der Ankunft des amtlichen Schreibens im Hauptsatz beigeordnet wird. Da auch der Inhalt des Bibelwortes nicht wiedergegeben wird, ist der Leser dazu aufgefordert, den Brief des Paulus an die Römer aufzuschlagen und den Zusammenhang selbstständig herzustellen: 1

Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus, 2durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darin wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll. 3Nicht allein aber das, sondern wir rühmen 45 Für Montag, den 6. September, ist im Mecklenburgischen Christlichen Hauskalender des Jahres 1937 in der Spalte ›Bibellesetafel‹ die Bibelstelle Röm 5,1–5 notiert; vgl. August Schröer: Mecklenburger Christlicher Hauskalender auf das Jahr Christi 1937. Ein Gemeinjahr von 365 Tagen, 62. Jg., hg. vom Mecklenburgischen Landesverein für Innere Mission, Schwerin 1936, S. 20. 46 Auffallend ist, dass der Erzähler von den »Briefen an die Römer« spricht, obwohl in der Bibel nur ein Brief des Paulus an die Römer überliefert ist. Die Forschung ist sich zwar aufgrund der ältesten überlieferten Handschriften einig, dass Röm 16,24–27 deuteropaulinischen Ursprungs ist, doch wird die »Einheitlichkeit von Röm 1,1–16,23 […] heute weitgehend angenommen«; Stefan Schreiber: Der Römerbrief, in: Ebner/ders. (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, S. 277–302, hier: S. 286.

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uns auch der Trübsale, dieweil wir wissen, daß Trübsal Geduld bringt; 4Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung aber bringt Hoffnung; 5Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden. Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist.47

Im Beginn des fünften Kapitels des Römerbriefes sieht Wilckens »ein kleines Kompendium christlichen Lebens«,48 in dem der ›Friede mit Gott‹ thematisiert und gezeigt werde, »wie sich die Rechtfertigung durch Christi Tod und Auferstehung in der Praxis christlicher Existenz auswirkt«.49 Nach dem Anführen der Rechtfertigung in Röm 5,1 wird dargelegt, »was die Gerechtfertigten […] zu erwarten haben«.50 Zentral ist das Motiv der »Hoffnung auf endzeitliche Errettung«,51 wodurch deutlich wird, dass »Rechtfertigung und Versöhnung für Paulus untrennbar«52 zusammengehören. Durch den Glauben treten die Menschen ein in den »Stand der von Gott für gerecht Erklärten«.53 Nach Wilckens entstehe hierdurch das Bewusstsein, »daß ihnen die Zukunft der Endvollendung gehört, daß sie ihre Identität in Gottes Identität mit sich selbst, in Gottes ›Herrlichkeit‹ haben werden«.54 Dadurch vermögen »sie alle ›Bedrängnisse‹ ihres gegenwärtigen irdischen Daseins durchzustehen«.55 Der Glaube erfahre hierbei eine Sprache, »die kompetent ist, der ganzen Wirklichkeit gegenwärtigen Leidens die überlegene Wirklichkeit des künftigen Heils entgegenzusingen«,56 denn der Glaubende wisse um die Kraft der bereits realisierten Auferstehung Christi durch das Wirken des Geistes, »der sein Leben von innen her trägt und bestimmt«.57 Trotzdem appelliert Karl Barth daran, dass man sich als Christ in jedem Augenblick verdächtig sein müsse, »wo wir es wagen, damit zu rechnen, dass wir 47 Röm 5,1–5. In Heute Neunzig Jahr wird die Bibelstelle auszugsweise nach der Zürcher Bibel zitiert – unter Veränderung des Prädikats: »Dass die Trübsal Geduld wird, die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung.« (HNJ, 91; Kursivdruck im Original) Vgl. Röm 5,3f. [Zürcher 1931]; Hervorhebung P. O.: »3Aber nicht nur das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsale, da wir wissen, dass die Trübsal Geduld wirkt, 4die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung«. 48 Ulrich Wilckens: Der Brief an die Römer, Teilbd. 1: Röm 1–5, 2., verb. Aufl., Zürich/Neukirchen-Vluyn 1987, S. 300. 49 Ebd. 50 Dieter Zeller: Der Brief an die Römer, Regensburg 1985, S. 106. 51 Peter Stuhlmacher: Der Brief an die Römer, 15. Aufl. (2., durchges. und akt. Aufl. dieser neuen Fassung), Göttingen/Zürich 1998, S. 73. 52 Ebd., S. 76; Kursivdruck im Original. 53 Karl Barth: Der Römerbrief. (Zweite Fassung) 1922, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von HansAnton Drewes, Abt. 2: Akademische Werke, Bd. 47, hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja, Zürich 2010, S. 204. 54 Wilckens, Brief an die Römer 1, S. 300. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd. Den Geist bestimmt Wilckens »als die überzeugende Stimme der Liebe Gottes, die in Tod und Auferstehung Christi ihr ewiges Werk als iustificatio impii getan hat«; ebd.

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glauben«, denn »Gewohnheit, Gemütlichkeit, Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit an diesem Wendepunkt58 ist die Lüge, der Urfluch, der kaum auszurottende Giftkeim in aller, fast aller Dogmatik, Predigt, Seelsorge und religiösen Beteuerung jeder Art«.59 Vielmehr könne man »nur immer und überall, und immer und überall aufs Neue – glauben, auch glauben, dass wir glauben«; Glaube aber »in den Bedrängnissen und im Bedrängtsein, nicht daneben, nicht erst nach äußerlich oder innerlich glücklich überwundenen, gedämpften oder doch ertragenen Bedrängnissen«.60 Einen festen Grund, eine unerschütterliche Kraft verleihe dem Glaubenden, so Eduard Lohse, »allein das Geschenk der göttlichen Liebe – und keinerlei wie immer geartetes Handeln von Menschen«.61 Ähnlich gelangt auch Peter Stuhlmacher zu dem Schluss, dass es allein Gott ist, »der aus freiem Willen und freier Gnade heraus Sühne schafft, Rechtfertigung zuspricht und Versöhnung stiftet«.62 Der Gnadenstand, das betont Heinrich Langenberg, bestehe aber nicht im »tatenlose[n] Genießen, sondern [im] freudige[n] Dienen im Heiligtum Gottes als Königspriester«.63 Aus dem Kontext des biblischen Intertextes und dessen Einbettung in das Erzählte lässt sich ein Bezug zu Lisbeths Reaktion in der Sache Warning/Hagemeister herstellen. Überdies wird die Stelle aus dem Römerbrief wenig später ein weiteres Mal aufgerufen. Im Tageskapitel vom 11. Januar 1968 werden die versuchten Einflussnahmen auf Lisbeth im Vorfeld des Prozesses geschildert: »Es kam nicht nur die Verwandtschaft von Warning oder Hagemeister und wollte Lisbeth ins Gewissen reden« (JT, 578); es kommen noch andere, unter ihnen Avenarius Kollmorgen, der alte Papenbrock, gegenüber dem sich seine Tochter verbittet, angeschrien zu werden, und Brüshaver. Dem Jerichower Pastor gelingt es – sofern man von gelingen sprechen kann –, »daß Lisbeth die Lüge nun nur noch von ihrer Mutter abhängig machte« (JT, 579). Im Gespräch mit Brüshaver und Cresspahl erfasst Louise Papenbrock zwar das Anliegen der beiden Männer, »aber dann fühlte sie sich zu wichtig in der Gelegenheit und erwischte in Gedanken einen falschen Zug und fuhr ab zu den Römern fünf, 1–5« (JT, 579). Lisbeths Entscheidung, im Prozess auszusagen, wird somit unmittelbar an den Inhalt der Bibelstelle gekoppelt. In den Begriffen ›Trübsal‹ und ›Bewährung‹ aus Röm 5,3f. scheint sie eine Aufforderung zu erkennen, »Trübsal auf sich zu 58 Als Wendepunkt bezeichnet Barth den Umstand, dass wir als Mensch durch den Glauben ein »neue[r] Mensch« sind, »das Subjekt des Prädikats ›Glauben‹«; Barth, Römerbrief, S. 205. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 206, 212; Kursivdruck im Original. 61 Eduard Lohse: Der Brief an die Römer, 15. Aufl. (1. Aufl. dieser Auslegung), Göttingen 2003, S. 169. 62 Stuhlmacher, Brief an die Römer, S. 77. 63 Heinrich Langenberg: Der Römerbrief. Der heilsgeschichtliche Missionsberuf der Gemeinde und der paulinische Lehrtypus, 2. Aufl., Hamburg 2003, S. 124.

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nehmen, um sich darin zu bewähren«.64 Während Kollmorgen bereit ist, »sich an nichts zu erinnern«, und der alte Papenbrock »gern wirklich betrunken gewesen sein« wollte, ist Lisbeth nicht davon abzubringen, »daß sie es gehört hatte« (JT, 571f.). Ein weiteres Mal sieht sie sich der Diskrepanz zwischen dem biblischen Gebot aus Ex 20,16, kein falsch Zeugnis zu reden wider den Nächsten, und der Gesetzmäßigkeit einer Diktatur ausgesetzt.65 Lisbeth entscheidet sich in »ihrem realitätsfernen Starrsinn«,66 insbesondere aber in ihrer Unfähigkeit, eine eigenständige Entscheidung zu fällen, erneut für die biblische Autorität mit dem achten Gebot des Dekalogs. Zu der Einsicht, »dass in einer Diktatur nicht jede bekannte Wahrheit auch ausgesprochen werden sollte«,67 gelangt sie hingegen nicht. Der Tag des Prozesses gegen Warning und Hagemeister wird im Tageseintrag vom 17. Januar 1968 erzählt, der ganz im Zeichen der Frage steht, »wie Gerichtsverhandlungen in totalitären Systemen geführt werden«.68 Den Ausgangspunkt bilden Aussagen von Swetlana Stalina in der New York Times, wonach sie sich »von Protesten gegen die Verurteilung von vier jungen Moskauern wegen Schreibens ohne Erlaubnis« (JT, 601) angesprochen fühle. Während die Tochter Stalins daran appelliert, dass »angesichts der Unterdrückung fundamentaler Menschenrechte« (JT, 601) nicht geschwiegen werden dürfe, entgegnet der Erzähler mit Zynismus, dass ihr ein solches Urteil nicht zustehe, auch wenn sie recht habe.69 Er macht damit auf den Unterschied zwischen der Wahrheit mit einer intersubjektiven Vorstellung von Recht und der politisch-gesellschaftlichen Bedingtheit von Rechtsprechungen aufmerksam. Ausgehend von dieser Differenzierung wird deutlich, warum die Überleitung zum Prozess gegen Warning und

64 Wittkowski, Zeugnis geben, S. 130. 65 Zum Ausdruck gebracht wird die Art und Weise der Gesetzmäßigkeit im Nationalsozialismus dadurch, dass der Richter Dr. Wegerecht den Prozess »hinter sich haben« (JT, 602) will, weshalb er ihn bereits am 29. Oktober 1937 eröffnet. Wilde weist auf die »für Johnson typische paradoxe Formulierung« hin, etwas hinter sich haben zu wollen und es zu eröffnen, denn wer »eine Sache hinter sich bringen will, der eröffnet sie nicht, sondern beendet sie«; die implizite Aussage dahinter lautet: »Wenn im Nationalsozialismus ein Verfahren begonnen wurde, dann stand das Urteil bereits fest«; Wilde, Moderne beobachtet sich selbst, S. 76. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. Entsprechend wählt Attig das Tageskapitel als Beispiel für eine thematische Korrespondenz; vgl. Attig, Textuelle Formationen, S. 113, Anm. 185. 69 Vgl. JT, 601: »Womöglich will sie Väterchens Patentrechte auf die von ihm erfundene sozialistische Gesetzlichkeit verteidigen; daran sind Menschen ums Leben gekommen mehr als zu zählen sind; hier war die höchste Strafe sieben Jahre […]; soll sie doch über Dial-A-Flower Blumen schicken auf die Gräberfelder, wo die Genossen ihres Vaters begraben sind, wenn sie begraben sind […]; nächstens wird sie sich verwundern, daß die Tochter von Isaak Babel oder die Witwe von Ossip Mandelstam ihr nicht danken für erwiesene Hilfe.«

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Hagemeister das Schicksal des zuständigen Richters in den Blick nimmt: »Wegerecht wurde gerettet.« (JT, 601) Jener Wegerecht wird im Tageskapitel zuvor als »Landgerichtsdirektor zu Gneez, 48 Jahre alt« vorgestellt, der »erst spät Mitglied der Staatspartei geworden [war], fast zu spät, und eher pflichtgemäß« (JT, 596f.). Auch ist er »nicht mit Freude zuständig für das Verfahren gegen Warning/Hagemeister«, weil dessen vielfältige Verstrickungen »nicht recht zu überblicken waren« (JT, 596). Vor allem aber fürchtet er Fallstricke, die seine eigene Karriere beeinflussen könnten: Wenn es untunlich war, Griem anzugehen, kam Irmgard [= Wegerechts Ehefrau; P. O.] nie zurück nach Schwerin, oder ohne ihn. Wenn er etwas gegen Papenbrock anfing, verlor Irmi eine Menge Umgang aus dem jerichower Winkel, und was die gneezer Sachen anging, so würden sie ihn dann gehörig im Dunkeln tappen lassen. Wenn es nur um eine Verwarnung für Warning/Hagemeister ging, hätte er den Fall eher einstellen sollen, und den Leuten würde wieder auffallen, was er eigentlich für einen Namen an sich hatte. Und dann immer noch nicht war das Ärgernis des Juden in Jerichow beseitigt. Und Irmgard würde ihn nicht liegen lassen, da half kein Attest. (JT, 598f.)

Eingebettet in diesen Kontext, der die politische und persönliche Abhängigkeit des zuständigen Richters vorführt, wird Lisbeth in den Zeugenstand gerufen, nachdem Warning und Hagemeister ihre ›Tat‹ bereits »bereitwillig gestanden« (JT, 603) haben. Die Zeugenaussage Lisbeths wird durch die Frage nach der weltlichen oder religiösen Form des Eides eingeleitet und erwartungsgemäß beantwortet: »Die religiöse« (JT, 604). Dass der Mecklenburgische Christliche Hauskalender für den 29. Oktober 1937 »Matthäus 10, Vers 34 bis 42«70 empfiehlt, hatte Lisbeth »nicht nur erinnert sondern auch nachgelesen« (JT, 604). Damit wird zum einen der Zusammenhang zwischen Lisbeth und dem Mecklenburgischen Christlichen Hauskalender expliziert, zum anderen das »Thema Gericht in verschiedenen Gesellschaftssystemen noch um das Element weltliche vs. jenseitige Gerichtsbarkeit erweitert«.71 70 »34Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. 35Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater und die Tochter gegen ihre Mutter und die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter. 36Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. 38Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert. 39Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. 40Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. 41Wer einen Propheten aufnimmt in eines Propheten Namen, der wird eines Propheten Lohn empfangen. Wer einen Gerechten aufnimmt in eines Gerechten Namen, der wird eines Gerechten Lohn empfangen. 42Und wer dieser Geringsten einen nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt in eines Jüngers Namen, wahrlich ich sage euch: es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.« Vgl. Schröer, Mecklenburger Christlicher Hauskalender 1937, S. 22. 71 Wilde, Moderne beobachtet sich selbst, S. 76.

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In der Matthäusstelle wird das Kommen Jesu »als Stunde der Entscheidung«72 zusammengefasst, weshalb Ulrich Luz von einem »Christus der Apokalypse« spricht, »der das Schwert im Mund«73 trage, um »Streit zu stiften, anstatt Frieden zu schaffen«.74 Allerdings enthüllen diese Worte »keinen Revolutionär Jesus«, der gekommen sei, »um einen politischen Aufstand gegen Rom auf die Erde zu bringen«.75 Vielmehr werde der »Ruf zum Bekenntnis, ja zur Bereitschaft sich selbst völlig aufzugeben, mit letzter Dringlichkeit ausgesprochen«.76 Jesus sei nicht nur gekommen, »um einen Kampf im Innern des Menschen in Gang zu bringen, sondern es geht […] um eine wirkliche Auseinandersetzung, nicht nur unter den Menschen überhaupt, sondern bis hinein in den engsten Familienkreis«.77 Ulrich Luck leitet daraus ab, dass das Leben eine neue Qualität erhalte, denn in der Nachfolge Jesu werde »Leiden und Sterben ergriffen, weil der Weg zum Leben nur im Ergreifen des Kreuzes«78 gegangen werden könne. Luz betont aber, dass das Aufnehmen des Kreuzes nicht »auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst bezogen ist«.79 Es sei zwar ein »aktives, eigenes Verhalten der Jünger gemeint, nicht aber eine asketische Übung um ihrer selbst willen«.80 Schwierig erscheint ihm vom Grundgedanken des Matthäusevangeliums her, dem aktiven Gehorsam gegenüber den Geboten Jesu, auch das »Verständnis des Kreuztragens als rein passives Hinnehmen von Unrecht und Elend«.81 Der Schluss der Aussendungsrede82 endet »mit einem Ausblick aufs Gericht«, doch nachdem »vorher so viel vom Leiden die Rede war, ist er nicht drohend, sondern verheißend«.83 Deutlich wird, in was für einer Kirche Matthäus lebt: wandernde Missionare, Propheten und Gerechte, die vermutlich die Gebote Gottes und die Auslegung Jesu vollmächtig lehren, ziehen von Gemeinde zu Gemeinde, oft ge-

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Luck, Evangelium nach Matthäus, S. 132. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 135. Fiedler, Matthäusevangelium, S. 235. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 139. Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Matthäus, 16., durchges. Aufl. (4. Aufl. dieser Bearb.), Göttingen/Zürich 1986, S. 163. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 139. Luck, Evangelium nach Matthäus, S. 132. Wie das ›Aufsichnehmen des Kreuzes‹ zu verstehen ist, erörtert Luz: Als erste Möglichkeit führt er an, dass die Wendung ›Kreuz nehmen‹ »direkt an den römischen Brauch an[knüpft], daß Verurteilte ihr Kreuz selber zur Richtstätte tragen müssen«; alternativ ist es möglich, die Wendung im übertragenen Sinne zu verstehen, »im Sinne von ›leiden‹, ›Schmerzen haben‹«, und als drittes könnte das Kreuz »im Sinne von Ez 9,4–6 als Taw, d. h. als Jahwezeichen, das ›Kreuz nehmen‹ somit als Versiegelung verstanden« werden; Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 142. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 147. Ebd.; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 148; Kursivdruck im Original. Vgl. Mt 10,40–11,1. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 153.

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schmäht und verfolgt, immer angewiesen auf die ihnen erwiesene Gastfreundschaft, und bringen das lebendige, sich in ihrem Leben ausprägende Wort Gottes mit sich.84

Peter Fiedler weist darauf hin, dass die Anfechtungen unter »den gewandelten Bedingungen für Kirchen und Ortsgemeinden heute in der westlichen Welt […] oft anderer Art als damals« sind, aber die Erfahrung ermutigend wirkt, »dass ein gelebtes Christus-Zeugnis wohlwollend aufgenommen wird«.85 Insbesondere der erste Teil des biblischen Intertextes, die Verse 34 bis 39, liefern die Begründung dafür, dass sich Lisbeth aus Furcht »vor einem – letzten – Gericht mit einem unerbittlichen, höheren Richter, der eine konsequente Befolgung seiner Gebote verlangt, den gehorsamen Anhängern aber auch reichen Lohn verspricht«,86 für die Einhaltung des Verbots der falschen Aussage im Dekalog entscheidet. Einige Verse dieses Abschnitts werden, in Klammern gesetzt, wörtlich aus der englischsprachigen King James Bible zitiert: Sie habe es damals gehört. (Think not that I am come to send peace on earth: I came not to send peace, but a sword.) Mit ›damals‹ meine sie, daß sie den Wortlaut nur noch aus den Vorhaltungen der Kriminalpolizei wisse. (He that loveth father or mother more than me is not worthy of me: and he that loveth son or daughter more than me is not worthy of me.) Sie wolle nichts abstreiten, als daß sie sich erinnere; wenn aber ihr Bruder, Horst, wenn er es so von ihr erzählt habe, habe sie es so gehört und sei es wahr. (And he that loseth his life for my sake shall find it.) Im Gegenteil, die Gelegenheit sei zum Zuhören vorzüglich gewesen, ein Sonnabend im hohen Juli, mittagsstill, der Zug von Gneez nach Jerichow kaum besetzt, und wenn er in Wehrlich halte, sei der Wind vom Gräfinnenwald verschluckt. Sie habe sogar die Hühner des Stationsvorstehers scharren hören können. (And he that receiveth me receiveth him that sent me.) Sie könne die Frage nicht verstehen. Wieso sie nicht selber eine Anzeige erstattet habe? weil es dumm Tüch sei. Unsinn, Quatsch. Nonsense. Nicht klug im Kopf. Nur jemand, der von Jerichow nichts kenne, sei zu solchen dowen Vermutungen über Dr. Semig oder Griem imstande, und Hagemeister wisse das so gut wie sie. (And he that receiveth a righteous man in the name of a righteous man shall receive a righteous man’s reward.) Das habe nichts mit der Begünstigung von Juden zu tun, nur mit der Wahrheit. (And whosoever shall give to drink unto one of these little ones a cup of cold water only …) (JT, 604f.).87 84 Schweizer, Evangelium nach Matthäus, S. 164. 85 Fiedler, Matthäusevangelium, S. 236. 86 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 102. Vgl. JT, 604; Mt 10,39 [King James 1611]: »And he that loseth his life for my sake shall find it.« 87 Vgl. Mt 10,34.37.39–42 [King James 1611]; Kursivdruck im Original: »34Think not that I am come to send peace on earth: I came not to send peace, but a sword. […] 37He that loveth father or mother than me is not worthy of me: and he that loveth son or daughter more than me is not worthy of me. […] 39And he that loseth his life for my sake shall find it. […] 40And he that receiveth me receiveth him that sent me. […] 41And he that receiveth a righteous man in the name of a righteous man shall receive a righteous man’s reward. […] 42And whosoever shall give to drink unto one of these little ones a cup of cold water only …«

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Die Bibelworte bilden die religiöse Grundlage für Lisbeths Haltung, »sich nur vor Gottes Gericht verantwortlich zu fühlen«.88 Die Wiedergabe in englischer Sprache deutet Paasch-Beeck als Zeichen dafür, dass Lisbeth eine King James Bible in Richmond erwarb.89 Wilde weist aber berechtigterweise darauf hin, dass die Ehefrau Cresspahls »in Gedanken sicher nicht Englisch« spreche.90 Plausibel ist Wildes Lesart, dass der Genosse Schriftsteller »die englische Bibel« benutze, um »über die Sprache Englisch (Gesine) und den Gegenstand, biblischer Text (Lisbeth), Mutter und Tochter miteinander«91 zu verbinden. Fraglich erscheint dagegen Wittkowskis These, dass der Erzähler »das zitierte Bibel-Aufgebot unausgesprochen der Kritik und als ins Leere verpuffendes ÜberAufgebot der Kritik, ja geradezu der Lächerlichkeit preisgibt«,92 indem er Lisbeth durch die Aussparung des zentralen Verses in Mt 10,3893 den Wunsch verweigert, das Kreuz auf sich zu nehmen und Christus nachzufolgen.94 Paasch-Beeck kritisiert Wittkowskis Interpretation95 und konstatiert, dass anhand des biblischen Intertextes Lisbeths »spezifische Bibellektüre und -auslegung betrachtet werden«96 könne. Gesines Mutter vergleicht ihre persönliche Situation mit der »biblischen Situation der Jünger und der Anhänger Jesu«, weil auch sie »sich – und ihre Kirche – von der äußeren Welt bedroht«97 sieht. Lisbeth ist aber nicht in der Lage, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, weshalb der zentrale Vers 38 des zehnten Kapitels im Matthäusevangelium ausgespart bleiben muss. Ihre Zeugenaussage im Prozess gegen Warning und Hagemeister zeugt von einer »unzulängliche[n] und einseitige[n] Bibellektüre eines kranken, von wahnhaften Schuldgefühlen zerstörten Menschen«.98 Vor einer solchen Lektüre werde, Paasch-Beeck zufolge, in den Jahrestagen am Beispiel Lisbeths gewarnt, nicht aber, »vor der Bibel selbst«.99 88 Wilde, Moderne beobachtet sich selbst, S. 76. 89 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 102. Vgl. hierzu JT, 148: »Sie hatte […] im Antiquariat Hiscoke in der Hill Street eine King James-Bibel gekauft«. 90 Wilde, Moderne beobachtet sich selbst, S. 76. 91 Ebd. 92 Wittkowski, Zeugnis geben, S. 128. 93 »38Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist mein nicht wert.« 94 Wittkowski zufolge hebt der Erzähler den Vers stattdessen für »andere Situationen und Personen auf: für Brüshaver und seine Frau«; Wittkowski, Zeugnis geben, S. 128. 95 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 103: »Diese Vermutung Wittkowskis ist offensichtlich seiner eigenen, völlig unzureichenden Interpretation dieser Matthäusstelle geschuldet. Bei dieser ›Auslegung‹ mißachtet er alle grundlegenden Regeln der Hermeneutik, die auch für die Matthäusperikope, und zwar nicht als religiöser oder theologischer, sondern als ›normaler‹ historischer Text gelten.« 96 Ebd., S. 102. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 103. 99 Ebd.

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Drei Suizidversuche Lisbeths In direktem Zusammenhang mit dem Prozess gegen Warning und Hagemeister steht eine Tat, die Ausdruck der inneren Zerrissenheit und Verzweiflung Lisbeths ist. Nachdem von verschiedenen Personen versucht wird, Gesines Mutter von ihrer Zeugenaussage vor Gericht abzubringen, versucht diese sich das Leben zu nehmen: Es war Ende September, Nachsaison, noch gutes Badewetter, als Lisbeth Cresspahl ihr Kind bei Aggie Brüshaver abgab. […] Als die Sonne hinter dem Land war und das Wasser der Ostsee kalt auch noch aussah, fiel einem ausfahrenden Fischer weit vor der Küste eine Badekappe auf. Das war vier Kilometer in die Lübecker Bucht hinaus, weit jenseits der 16 Meter-Linie. Es war dort 24 und 25 Meter tief. Sie war schon so schwach, sie konnte sich nicht mehr wehren, als Stahlbom und sein Junge sie an Bord zogen […]. (JT, 579f.)

Der Leser weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, dass es sich bei der Tat nicht um den ersten Suizidversuch der Papenbrock’schen Tochter handelt. Bereits im Tageseintrag des ersten Weihnachtsfeiertags, dem 25. Dezember 1967, wird ihr Vergiftungsversuch geschildert, durch den sie hofft, »mit dem zweiten Kind auch das eigene Leben zu verlieren, um zu entkommen aus der Schuld« (JT, 511). Ihr eigenes Leben verliert sie nicht, dafür aber ihr ungeborenes zweites Kind (vgl. JT, 510). Obwohl Lisbeth weiß, dass »›ihre‹ Kirche den Selbstmord strikt ablehnt«,100 folgt dem ersten ein zweiter Suizidversuch. Eine Rechtfertigung für den zweiten Versuch liefert sie nicht, sondern begründet lediglich das Scheitern mit ihrer Eitelkeit – eine der sieben Todsünden (superbia) –, eine Badekappe zu tragen. Daneben kündigt sie einen weiteren Versuch an: »Dau dat nich noch eins, Lisbeth! / Ne, Cresspahl. Dat dau ick nich noch eins. Nich so.« (JT, 580; Kursivdruck im Original) Vor ihrem dritten Suizidversuch sucht Lisbeth nach einer Legitimation für ihren Verstoß gegen die kirchliche Dogmatik, bittet aber mit ihrer Aussage gegenüber Aggie Brüshaver doch »unüberhörbar um Hilfe« (JT, 756). Wie bereits an früherer Stelle ausgeführt, zeigt Gesines Mutter damit indirekt erstmals Interesse an einer biblischen Exegese – auch wenn diese auf die Legitimation des geplanten Suizids ausgerichtet ist. Nachdem sich Lisbeth in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 in der Futterkammer des Cresspahl’schen Hauses das Leben nimmt, deutet Pastor Brüshaver den Suizid in seiner Predigt »am 22. Sonntag nach Trinitatis«

100 Ebd., S. 105. Ebenfalls im Tageseintrag vom 25. Dezember 1967 wird angedeutet, dass Lisbeth »des letzten Segens verlustig gehen« müsse, »wenn ihre neueste, die größte Schuld vor die Ohren der Kirche komme« (JT, 512).

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(JT, 759) als Sühne für den Tod Marie Tannebaums in der Reichspogromnacht101 und somit als einen stellvertretenden Tod, den Cresspahls Ehefrau »im Bewußtsein ihrer Verstrickungen in den Schuldzusammenhang der NS-Epoche«102 begeht. Aus dieser Nähe zur Passionsgeschichte Christi leitet Bormuth eine Charakterisierung Lisbeths als eine »prophetisch anmutende Passionsfigur«103 ab und stellt einen Zusammenhang des damit verbundenen Narrativs mit der Stuttgarter Erklärung her: Wiewohl Gesine ganz wie der »Genosse Schriftsteller« sich gegenüber den jüdischen Überlebenden des Holocaust zutiefst betroffen zeigt, reagieren beide doch skeptisch auf einen allzu gewissen Umgang mit der Möglichkeit, die deutsche Schuld zu tilgen, sei es über die extreme Idee des Selbstopfers, wie Lisbeth sie umsetzte, oder über die protestantische Tradition des sühnenden Schuldbekenntnisses. Sowohl die »überwertige Idee« des Individuums als auch der »Glauben« des Kollektivs stehen ihrem rein aufklärerisch veranlagten Gewissen gegenüber, das sich nicht in der Opfergesinnung einen inneren Ausgleich zu schaffen vermag.104

Während der Suizid für Hofmann ein »freilich folgenloses und damit letztlich sinnloses Opfer«105 bleibt, für Wittkowski einem »religiöse[n] Pseudo-Heldentum«106 gleichkommt, übernimmt er nach Bormuth eine ethische und zugleich narrative Funktion innerhalb des Romans. Als Form des kollektiven Umgangs mit der ›deutschen Schuld‹ durchläuft Gesine in Abgrenzung zu ihrer Mutter eine ›Schule der Ambivalenz‹.107 In ihrem Ergebnis ist Bormuths These plausibel, die Herleitung wirft allerdings einige Fragen auf: Wie ist die Rolle Brüshavers zu bewerten, der für das Narrativ der Passion Lisbeths durch seine Predigt maßgeblich verantwortlich ist? Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Brüshavers Predigt im Zeichen eines kollektiven Umgangs mit Schuld und der Passion des Pastors herstellen, der sich mit eben jener Predigt von den schuldbeladenen Kollektiva Staat und Kirche emanzipiert? Wenn Winkler darauf hinweist, dass Brüshaver nicht in dem Maße Einblick in Lisbeths Psyche hat, wie es seine Predigt suggeriert, weil ihm lediglich 101 102 103 104 105 106 107

Vgl. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 176. Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 70. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 187. Ebd., S. 195. Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 80. Wittkowski, Zeugnis geben, S. 129. Vgl. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 196. Bormuth bezieht sich mit der Wendung auf eine These Hofmanns, wonach »[n]och heute und gerade angesichts bestimmter näher zu charakterisierender gegenwärtiger Tendenzen […] Johnsons Jahrestage aktuell und wichtig [sind], und zwar – um formelhaft eine Perspektive anzudeuten – als Schule der Ambivalenz«; Michael Hofmann: Die Schule der Ambivalenz. Uwe Johnsons Jahrestage und das kollektive Gedächtnis der Deutschen, in: Johnson-Jahrbuch 10, 2003, S. 109–119, hier: S. 109f.; Kursivdruck im Original.

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ihre Anfrage einen »Anhaltspunkt für die Motive ihres Selbstmordes«108 bietet, so ergeben sich heraus zwei weitere Fragen: Wer ist der Adressat von Brüshavers Predigt? Und welche Funktion nimmt Lisbeth innerhalb dieser Adressierung ein? Die Predigt am 13. November 1938 richtet sich an die anwesenden Gemeindemitglieder in der Jerichower Petrikirche und steht angesichts der Ereignisse der zurückliegenden Tage ganz im Zeichen der appellativen Mahnung aus Mt 18,3: »wenn ihr euch nicht wandelt und werdet wie die Kinder« (JT, 760). Der Tod von Lisbeth dient Brüshaver als Exempel für die Folgen der politischen Repression und als Ausgangspunkt für den Appell zur Umkehr. Brüshaver appelliert aber nicht nur, sondern führt die grundsätzliche Wende an seiner eigenen Person vor. Verbunden mit dem Ziel der Umkehr ist eine gewisse Funktionalisierung der Ereignisse in der Nacht des 9. November 1938. Ähnlich dem Zusammenhang zwischen den Schicksalen von Voss, August Methfessel, Brüshavers Sohn und Marie Tannebaum, die Brüshaver durch die Formel »Gleichgültigkeit. Duldung. Gewinnsucht. Verrat« miteinander verbindet, obwohl die Taten und ihre Motive doch erhebliche Unterschiede aufweisen, scheint auch das Bild einer Passion Lisbeths auf den Effekt hin überspitzt zu sein. Ihr Suizid ist kein bewusstes Opfer des eigenen Lebens für andere Menschen im Sinne Bonhoeffers.109 Ihre beiden vorangegangenen Suizidversuche, ihre Verhaltensweise an den Tagen vor dem 9. November 1938110 und ihre wenig tiefgründige Vorstellung politischer Zusammenhänge lassen einen direkten Zusammenhang zu den Ereignissen in der Reichspogromnacht wenig plausibel erscheinen: »Ihr Selbstmord ist zwar eine Möglichkeit subjektiven Verhaltens gegenüber den gesellschaftlichen Umständen des Dritten Reichs, resultiert aber nicht unmittelbar und notwendig aus ihnen.«111 Der von Lisbeth »ererbte[n] Schuld«112 stellt sich Gesine und agiert damit in Abgrenzung zum Verhalten ihrer Mutter, die keine Möglichkeit gefunden hat, auf ihre übersteigerte Vorstellung von Schuld lebensbejahend zu reagieren. Stattdessen verstrickt sich Lisbeth zunehmend in ihren Schuldgefühlen und nimmt sich schließlich in der Reichspogromnacht das Leben. Die in dieser Verknüpfung mit einem zeitgeschichtlichen Ereignis angedeutete Kausalität zwischen dem Suizid und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lässt sich nicht von der 108 Dritter Teil, Kap. 3, Anm. 103. 109 Vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 108. 110 Vgl. JT, 704f.; Kursivdruck im Original: »Uns’ Lisbeth ließ zweieinhalb Stunden keinen Tanz aus. Sie war so munter, lachlustig locker, ganz anders als die Leute von ihr erzählten. Wenn sie einmal saß, so doch immer neben Cresspahl, eine Hand wie vergeßlich aber fest auf seiner Schulter. Ich wollte noch einmal mit dir schlafen, Heinrich. Bevor es zu Ende ist, mein ich.« Vgl. hierzu Winkler, Aus dem Leben von Lisbeth Cresspahl, S. 248. 111 Ebd., S. 249. 112 Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 80.

Gesine Cresspahl: »Was ging sie die Kirche noch an!«

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Hand weisen. Eine Tat im Zeichen der Passion Christi ist Lisbeths Entscheidung aber nicht, sie wird erst durch Brüshaver zu einer solchen gemacht – freilich nicht auf die Erstellung einer Anamnese, sondern einen Appell an die Lebenden zielend. Ebenso wenig ist sie Folge einer »christliche[n] Vergiftung« (HNJ, 105), die Cresspahl in Heute Neunzig Jahr als Ursache des Suizids ausmacht.113 Durch die Exegese der von Lisbeth vorgebrachten Bibelworte konnte gezeigt werden, dass Auswahl und Interpretation der Stellen von einer Funktionalisierung der Heiligen Schrift zeugt, um ihre keineswegs konsistente Gewissenshaltung autoritativ zu legitimieren. Angewiesen ist sie auf die biblische Legitimation ihres Verhaltens, weil sie über keine eigenständigen moralischen Kategorien menschlichen Handelns verfügt. Damit ist sie nicht nur befehlenden Autoritäten hoffnungslos ausgeliefert, sondern vermag es nicht, Ambiguitäten und Aporien angemessen zu begegnen – seien sie politischer, religiöser oder andersgearteter Natur. Gesine wiederum distanziert sich ganz bewusst von ihrer Mutter und grenzt sich dabei beinahe folgerichtig von einer religiösen Bindung und der Institution Kirche ab.114 Innerhalb des Romans wird aber nicht nur das obsessive Verhältnis Lisbeths zur evangelischen Kirche kritisiert, sondern grundsätzlich die bedingungslose Bindung an (institutionelle) Autoritäten. Lisbeth und Gesine sind in dieser Beziehung Antipoden, denn wo die Mutter ›ja und Amen‹ sagt, erwidert die Tochter ›nein, niemals‹: Infolge der Nachrichten über Stalins Verschwörung gegen jüdische Ärzte im April 1953 und den Arbeiteraufstand im Juni desselben Jahres verlässt sie die DDR (vgl. JT, 1850–1855), acht Jahre später kehrt sie der BRD den Rücken, in der sie ein Wiederaufkommen des Antisemitismus feststellen muss (vgl. JT, 1872). Auch wenn Gesines Suche nach der »moralische[n] Schweiz« (JT, 382) innerhalb der Grenzen des Romans erfolglos bleibt, gelingt es ihr, die Hypothek ihrer Mutter durch einen überaus kritisch-reflexiven Umgang mit Aporien aufzuarbeiten. In Abgrenzung zu Lisbeth wird eine Haltung deutlich, »die sich den Widersprüchen einer schuldbeladenen Vergangenheit und einer problematischen Gegenwart furchtlos stellt«.115

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Gesine Cresspahl: »Was ging sie die Kirche noch an!«

Vor dem Hintergrund der gestörten Beziehung von Gesine zu ihrer toten Mutter ist auch ihr Verhältnis zur Institution Kirche und zum Christentum zu betrachten. Die von Breuer angesprochene Aversion der Protagonistin »gegen alles, 113 Vgl. auch Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 241. 114 Ähnliche Tendenzen lassen sich auch bei Albert Papenbrock und Heinrich Cresspahl feststellen, die ihre Distanznahme zu den Ansichten ihrer Frauen auf die Institution Kirche übertragen (vgl. JT, 57, 148, 1401). 115 Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 84.

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was mit Kirche und Religion«116 zu tun hat, ist in Ansätzen korrekt, bedarf aber einer gewissen Relativierung. Hinweise darauf liefert bereits die Wahl eines Kindergartens und einer (Privat-)Schule für Marie mit konfessionellem Hintergrund, aber auch Gesines Blick auf die religiösen Hintergründe des jüdischen Festkalenders. Auffallend hieran ist eine ausgesprochen umfangreiche Auseinandersetzung mit der Institution Kirche im Roman. Den Ausgangspunkt von Gesines Missbilligung der Institution Kirche, darauf wurde bereits hingewiesen, bildet scheinbar nicht die religiöse Obsession ihrer Mutter, sondern die beobachtete Vereidigung neuer Rekruten am 17. November 1938 in Gneez (vgl. JT, 782)117 – wobei diese in auffälliger zeitlicher Nähe zum Suizid Lisbeth Cresspahls steht. Die Vermischung von kirchlicher und staatlicher Zuständigkeit, die darin offenbar wird, dass der Segen nicht nur den Rekruten dient, sondern »auch das Gerät zum Kriege einschloß« (JT, 818), löst in Gesine eine besondere Sensibilität für die ›Geschäftsbeziehungen‹ zwischen Kirche und Staat aus und wird zwei Bände später, im Tageskapitel vom 22. Juli 1968, ein weiteres Mal aufgegriffen. 22. Juli 1968, Montag »Was ist es denn, das bedroht das gesittete Leben der Menschen auf der Erde?« (JT, 1595) Die in der Eingangsfrage des Tageskapitels enthaltene intertextuelle Bezugnahme auf Brechts Friedenslied118 aus dem Jahr 1951 wird in der Folge ausgeweitet: »Es ist vor allem jene Bombe, die durch Kernreaktionen Wärme erzeugt: sagt einer ihrer Erfinder und möchte nunmehr, daß die Sowjetunion sich vertrage mit diesem Lande, auf diesem Felde wie auch in anderer Hygiene. So tätig, die wissenschaftliche Reue.« (JT, 1595) Allein der Ersatz der Possessivpronomen im Friedenslied durch Demonstrativpronomen schafft eine Distanz zur Aussage Andrej Sacharows, dessen Essay die New York Times in ihrer Ausgabe vom 22. Juli 1968 abdruckte.119 Im letzten Satz dieses ersten Abschnitts wird sie in blanken Sarkasmus gewandt. Der Beginn des Kapitels steht ganz im Zeichen der ethischen Verantwortung eines Wissenschaftlers, der maßgeblich und wissentlich an der Entwicklung der Wasserstoffbombe in der Sowjetunion beteiligt war. Darüber hinaus verweist die 116 Breuer, Die unerledigte Sache mit Gott, S. 301. 117 Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 2.2. 118 Vgl. Bertolt Brecht: Friedenslied, in: ders., Werke, Bd. 15: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956, bearb. von Jan Knopf und Brigitte Bergheim, Berlin/Weimar/ Frankfurt am Main 1993, S. 254; Hervorhebung P. O.: »Friede auf unserer Erde! / Friede auf unserem Feld! / Daß es auch immer gehöre / Dem, der es gut bestellt! // Friede in unserem Lande! / Friede in unserer Stadt! / Daß sie den gut behause / Der sie gebauet hat!« 119 Vgl. Outspoken Soviet Scientist; Andrei Dmitriyevich Sakharov, in: The New York Times, Nr. 40.357 vom 22. 7. 1968, S. 16.

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Anfangssequenz auch auf ihr Gegenteil, die Beschäftigung mit der Frage eines gesitteten Lebens der Menschen auf Erden. Es ist eine Frage, die für die anschließenden zehn Seiten des Tageseintrags von zentraler Bedeutung ist und in einer Aussage des Erzählers ihren vorläufigen Höhepunkt findet: »Es kann die Heidin schlecht im Frieden leben, wenn anderen Heiden das mißfällt.« (JT, 1601) Die Adaption aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell, »[e]s kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, / [w]enn es dem bösen Nachbar nicht gefällt«,120 verweist in ihrer ganzen Bandbreite auf die Problematik einer ethischen Grundlage und Legitimation des Zusammenlebens zwischen Menschen und Völkern; zu Zeiten Schillers, Johnsons sowie heute. Die Ursache für die Veränderung des Schiller-Zitats liegt in der zuvor dargestellten Absage der Protagonistin an Kirche und Religion: »Zum einen war sie nun eine ›Oberschülerin‹ von Berufs wegen und hatte die Sache mit Gott für sich erledigt auf eine Art, die sie für ureigen hielt« (JT, 1600). Es handelt sich bei Gesine um eine Ungläubige, eine Heidin, wie es in der Schiller-Adaption heißt. Die Gründe für die Absage an Gott bleiben an dieser Stelle noch unerwähnt. Dass es aus der Sicht der Protagonistin ausreichend Gründe hierfür gibt, betont sie mit ihrer anschließenden Kirchenkritik, die mit der Segenssprechung in Gneez thematisch korrespondiert: zum anderen konnte sie ihren Unglauben schlicht beruhigen mit der Erinnerung an das Gebet, mit dem ein lutherischer Feldgeistlicher der U.S.-Luftwaffe den Beistand Gottes erfleht hatte für die Besatzung des Flugzeuges, das die erste Atombombe über einem bewohnten Land abwarf; sie unterstellte der evangelischen Theologie ausreichend taktischen wie strategischen Verstand, um eine gewöhnliche Beschädigung der Stadt Hiroshima für ausreichend zu erkennen, die Kriegslage vom 6. August 1945 um 9:15 Uhr (Washington-Zeit) einmal als gegeben vorausgesetzt. (JT, 1600)

Einmal mehr kritisiert die Protagonistin der Jahrestage die ›Geschäftsbeziehungen‹ der Kirche, hier der Evangelical Lutheran Church in America (ELCA),121 120 Friedrich Schiller: Wilhelm Tell, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 5: Dramen IV, hg. von Matthias Luserke, Frankfurt am Main 1996, S. 385–505, hier: S. 482. Tells Ausspruch wiederum geht zurück auf das schon im 16. Jahrhundert bekannte Sprichwort »ainer hat von außen so lang frid, als lanng sein nachtper will«; Büchmann, Geflügelte Worte, S. 262. Vgl. auch Helbig u. a., Johnsons Jahrestage, S. 848. 121 Bei jenem Feldgeistlichen handelte es sich um Hauptmann William B. Downey von der Hope Lutheran Church in Minneapolis, der nach Erteilung des Befehls für die Insassen der drei Flugzeuge, die sich von der Insel Tinian aus aufmachten, um die Uranbombe Little Boy über Hiroshima abzuwerfen, folgendes Gebet sprach: »Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen. Behüte und schütze sie, wir bitten dich, wenn sie ihre befohlenen Runden fliegen. Mögen sie, so wie wir, von Deiner Kraft und von Deiner Macht wissen und mögen sie mit Deiner Hilfe diesen Krieg zu einem schnellen Ende bringen. Wir bitten Dich, daß das Ende dieses Krieges nun bald kommt und daß wir wieder einmal Frieden auf Erden kennen. Mögen die Männer, die in dieser Nacht den Flug unternehmen, sicher in Deiner Hut sein und mögen sie unversehrt zu

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zur Staatsführung. Selbst im Angesicht einer Bombe mit schon damals unvorstellbaren Folgen, eingedenk der damaligen Kriegssituation mit einem kurz vor der Kapitulation stehenden Kriegsgegner Japan, segnet ein Stellvertreter Gottes auf Erden Soldaten der US Army, die schon wenige Stunden später für den Tod von Zehntausenden von Menschen zumindest (mit-)verantwortlich zeichnen sollten und widerspricht damit fundamentalen christlichen Werten. Auch aufgrund dieser mangelnden Glaubwürdigkeit der Kirche(n) konstatiert Gesine: »Was ging sie die Kirche noch an!« (JT, 1600) Doch ganz so einfach gestaltet sich die Sache mit Gott und der Kirche für Gesine nicht. Die Adaption des Tell’schen Ausspruches verweist ex negativo auf eine mögliche ethische Grundlage menschlichen Zusammenlebens: den gemeinsamen Glauben an eine höhere Idee. Ohne diese Implikation im Folgenden auszuführen, wird im Erzählverlauf ein weiteres Argument für die notwendige Beschäftigung mit dem Christentum vorgebracht: die Sprache als Teil der eigenen Kultur. Sich im Imperativ an den Leser wendend und mit Jakob sowie Cresspahl als Gewährsleuten ordnet der Erzähler drei phraseologische Wendungen an und verweist auf deren potenziell christlichen Hintergrund: Seht diesen Jakob an, der eine eingeregnete Katze mitbringt ins Haus und das triefende Bündel am Nacken vor sich hält, bis er es endlich fallen läßt mit dem Befund: Naß wie ein Jonas! und erst dann merkt er Cresspahls Gesine warten und überblickt sie obenhin, müßig, als ginge ihr die Kenntnis von biblischen Walfischen ab. Hört die Sprüche von Heinrich Cresspahl in diesem Sommer, englisch und evangelisch fallen sie aus: Don’t preach to the converted! Don’t mock the afflicted! und Gesine soll ihm das übersetzen ins gegenwärtige Deutsch, als sei sie zu ungebildet für das von Luther. (JT, 1601)

Während beim Ausdruck »Naß wie ein Jonas!«, der laut eigenen Aussagen Johnsons eine in Sachsen gebräuchliche Redensart darstellt,122 der konkrete Hinweis auf das biblische Buch Jona folgt, ist ein möglicher biblischer Hintergrund der beiden englischen Phraseologismen nicht offensichtlich und fordert vom Leser einen erheblichen Aufwand ein, um deren Hintergrund zu dechiffrieren.123 Keine Zweifel kommen hingegen bei der Frage auf, welcher Intention uns zurückkehren. Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen, denn wir wissen, daß wir jetzt und für alle Ewigkeit unter Deinem Schutze stehen. Amen«; William B. Downey, zitiert nach Laurence, Dämmerung über Punkt Null, S. 175f. 122 Vgl. Schwarz, Gespräche mit Uwe Johnson, S. 243: »Für jemanden, der triefnaß aus dem Regen kommt, gibt es dort [= Sachsen; P. O.] immer noch eine Redensart: ›Du bist ja naß wie ein Jonas.‹« Vgl. auch BU, 121. 123 Weder »Don’t preach to the converted!«, was sich ins Deutsche mit der sprichwörtlichen Redensart »Renne keine offenen Türen ein!« übersetzen lässt, noch »Don’t mock the afflicted!«, die englische Entsprechung des im Deutschen bekannten Sprichwortes »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!«, lassen sich direkt auf die Heilige Schrift zurückführen; vgl. Hans Schemann/Paul Knight: German–English. Dictionary of Idioms, London/New York 1995, S. 1051; Margaret Beran: Hitting the nail on the head. 3000 Re-

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sie folgen. Bereits Paasch-Beeck hält fest, dass sie dazu dienen, Gesine »zum Besuch von Brüshavers Konfirmationsunterricht zu überreden«.124 Mit Erfolg, denn Cresspahls Tochter sucht im Oktober 1948 die Jerichower Petrikirche auf und »wird vorstellig um eine zweite Zulassung für den Unterricht zur Konfirmation« (JT, 1601). Im umgebauten Werkstattwagen der Deutschen Reichsbahn, der von Jakob angesichts der staatlichen Beschränkungen für den Konfirmationsunterricht organisiert wird,125 nimmt Gesine an den religiösen »Unterweisungen« (JT, 1601) von Brüshaver teil. Geläufig sind Gesine die (vier) Hauptstücke zur Taufe aus Martin Luthers Kleinem Katechismus,126 von denen sie aus dem dritten beinahe wörtlich zitiert: »Wasser allein tut’s freilich nicht.« (JT, 1602)127 Ob es sich bei diesem Luther-Zitat, wie von Breuer angenommen, um eine ironische Rückschau auf Gesines Entscheidung handelt, den Konfirmationsunterricht zu besuchen, erscheint fraglich. Immerhin gelangt sie erst durch den katechetischen Religionsunterricht zu der Einsicht, dass die ›Wirkung‹ der Taufe, selig zu machen, an den Glauben an Jesus Christus gebunden ist. Diesen Glauben jedoch kann sie in sich nicht entdecken, sodass es ihr lediglich gelingt, »das mit der Ubiquität« (JT, 1603) auswendig zu lernen. Luthers ubiquitäre Vorstellung von der Realpräsenz Christi

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densarten Deutsch–Englisch, 1. Aufl. Nachdruck, Ismaning 1998, S. 249. Erstere enthält jedoch die phraseologische Wendung von der ›offenen Tür‹, die vermutlich auf Offb 3,8 zurückgeht und ihre prominenteste Verwendung in der im Jahr 1899 manifestierten Politik der Offenen Tür zwischen den USA und China fand; vgl. Büchmann, Geflügelte Worte, S. 518; Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, S. 1650. Für die zweite Redensart konnte kein biblischer Ursprung ermittelt werden. Einzig die Wendung »zum Spott der Leute werden« geht auf Ps 22,7 zurück; vgl. Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, S. 1511f. Allerdings findet sich das Sprichwort »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!« in einer von Martin Luther zusammengestellten Sprichwörtersammlung wieder, die erstmals 1900 von Ernst Thiele herausgegeben wurde: »Wer den schaden hat / darff fur spott nich [sorgen; P. O.]«; Martin Luther: Sprichwörter-Sammlung, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 51, Weimar 1914, S. 634–726, hier: S. 654. Die Übersetzung der ersten englischen Redensart findet sich dagegen nicht in der Sprichwörtersammlung. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 94. Vgl. Dritter Teil, Kap. 3.2. Vgl. Martin Luther: Der kleine Katechismus, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 30, I, Weimar 1910, S. 264–339, hier: S. 308–312 (α – Erfurter Nachdruck der verschollenen ersten (oder zweiten) hochdeutschen Wittenberger Buchausgabe, 1929). Die vier Hauptstücke zum Sakrament der Taufe gliedert Luther gemäß den vier Fragen: 1. Was ist die Taufe? – 2. Was gibt oder nütz[e]t die Taufe? – 3. Wie kann Wasser solch[e] große Dinge tun? – 4. Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Lediglich das Adverb ›allein‹ wurde von Johnson ergänzt: »Wasser thuts freylich nicht, Sondern das wort Gottes, so mit und bey dem wasser ist, und der glaube, so solchem wort Gottes ym wasser trawet. Denn on Gottes wort ist das wasser schlecht wasser und keine Tauffe, Aber mit dem wort Gottes ists eine Tauffe, das ist ein gnadenreich wasser des lebens und ein bad der newen geburt ym heiligen geist, wie S. Paulus saget zu Tito am dritten Kapitel [vgl. Tit 3,5–7; P. O.]«; ebd., S. 310; Hervorhebung P. O.

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im Abendmahl kommt Gesine »kannibalisch« (JT, 1603) vor und veranlasst sie zur Flucht aus dem Konfirmationsunterricht. Aus Mangel an konfessioneller Alternative, vor allem aber aus Mangel an Glauben, erklärt die angehende Konfirmandin die Sache mit Gott für sich für beendet und erhält von ihrem Vater die nötige Fürsprache (vgl. JT, 1603).128 128 Die persönlich empfundene Not der 14-jährigen Gesine eröffnet einen weiteren kirchengeschichtlichen (Teil-)Diskurs, der in der Geschichte der christlichen, vor allem der protestantischen Kirchen zu mehreren Verwerfungen geführt hat. Exemplifiziert wird dieser Teil kirchlicher Geschichte anhand des Figurendreiecks von Gesine, Brüshaver und Marie Abs. Während Jakobs Mutter von Cresspahl mit ihrer »altlutherischen Extrawurst« (JT, 1601) geneckt wird, erfährt Gesine im Konfirmationsunterricht Brüshavers, der auf Luthers Dogmatik fußt, worin eben jene Extrawurst besteht. Aus Luthers Kleinem Katechismus entnimmt sie, das Abendmahl sei »der ware leib und blut unsers Herren Jhesu Christi, unter dem brod und wein, uns Christen [zu essen und] zu trinken von Christo selbs eingesetzt«; Luther, Der kleine Katechismus, S. 314. Luthers Abendmahlslehre ist dabei zunächst in Abgrenzung zur spätmittelalterlichen Deutung und Praxis der Heiligen Messe in der römischen Kirche zu verstehen. An ihr kritisiert der Reformator in seinem 1520 verfassten Sermon von dem neuen Testament sowohl das Verständnis der Eucharistie als Akt der Versöhnung mit Gott als auch die liturgische Praxis der leisen Wiedergabe der Einsetzungsworte Jesu in der Eucharistiefeier, womit diese der Gemeinde vorenthalten blieben; vgl. Martin Luther: Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe. 1520, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 6, Weimar 1888, S. 349–378. Hierin sieht Luther keine biblische Grundlage und damit eine »Verfälschung von Jesu letztem Willen«, sodass er stattdessen daran appelliert, dass »[ j]he neher nu unsere meße der ersten meß Christi sein, yhe besser sie ohn zweyffell sein, und yhe weytter davon, yhe ferlicher«; Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 151; Luther, Sermon von dem neuen Testament, S. 355. Auf der Grundannahme beruhend, dass das Testament nicht »todte schrifft und sigill«, sondern in »lebendinge wort und zeychen gesetzt« ist, versteht Luther die Sakramente Brot und Wein aus Mt 26,26–29 parr als »sigill oder warzeychen, […] darunder sein warer leyb und bluet« ist; ebd., S. 359. Diese als Konsubstantiation bezeichnete Verknüpfung von Wort (Testament) und Zeichen (Sakrament), die Luther in jeder Verheißung Gottes erblickt, stand der auf dem IV. Laterankonzil im Jahr 1215 manifestierten Transsubstantiationslehre der römischen Kirche gegenüber, deren Verständnis nach sich Brot und Wein während der Eucharistiefeier durch göttliche Gnade in Leib und Blut wandeln. In seiner im Jahr 1520 veröffentlichten Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium richtet Luther sich gegen diese Lehre und bezeichnet sie als eine von drei ›Gefangenschaften‹; vgl. Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium. 1520, in: ders., Werke 6, S. 497–573, hier: S. 508; Lohse, Luthers Theologie, S. 152f. Die Weiterführung von Luthers Argumentation gegen die Transsubstantiation führte nur wenige Jahre später zum innerreformatorischen Abendmahlsstreit, der die Zersplitterung des Protestantismus begründete. Schon 1521 hatte der niederländische Humanist Cornelius Honius (Hoen) die Ansicht Luthers dahingehend weitergeführt, dass die Sakramente Brot und Wein im signifikanten Sinne den Leib und das Blut Christi »bezeichne[n], ohne ihn substantiell zu repräsentieren«; Thomas Kaufmann: Abendmahl. II. Kirchengeschichtlich. 3. Reformation, in: RGG4 1, Sp. 24–28, hier: Sp. 25. Ihren Höhepunkt fand der Abendmahlsstreit in den Jahren zwischen 1526 und 1528 mit dem »Meinungskampf« zwischen Luther und Zwingli, der das Abendmahl als ein Erinnerungssymbol, eine ›commemoratio‹ an die Kreuzigung Christi auffasste und Luther mit seiner Auffassung von der Realpräsenz Christi

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Statt durch die Konfirmation das öffentliche Bekenntnis zu leisten, an Jesus Christus zu glauben, liegt das Eingeständnis einer jungen Frau vor, »die nicht glauben kann«.129 Dies wiederum setzt ein Gespräch mit Marie in Gang. Die Tochter befragt die Mutter nach ihrer Aufrichtigkeit und wirft ihr vor, dass der Grund für ihre Auflehnung gegen den christlichen Glauben, und mit ihm gegen Pastor Brüshaver, in der damaligen politischen Situation begründet liege: »Weil ihr überall lügen mußtet, hast du deine Wahrheit an Brüshaver ausgelassen. Gib es zu.« (JT, 1605) Gesine gesteht, ihre Wahrheit (nur) gegenüber »dem Schwächsten und Wehrlosesten unter den Autoritäten«130 geäußert zu haben, und deutet an, dass ihre Aversion dem christlichen Glauben gegenüber nicht allein auf die Erfahrungen des Konfirmationsunterrichts zurückzuführen sind: »Und es sollte endlich zu Ende sein.« (JT, 1605) Die genauen Gründe für Gesines ablehnende Haltung bleiben an dieser Stelle ungenannt, lassen sich aber mit dem Tod der Mutter in Verbindung bringen, den Lisbeth bereits bei ihrem ersten Suizidversuch als einen Opfertod interpretiert wissen will (vgl. JT, 511). Entsprechend argumentiert Bormuth, dass »[g]egen die aktive, ins Krankhafte übersteigerte Übernahme« eines religiösen Opfergedankens Gesines »schroffe Weigerung« stehe, »der weitaus milderen Formel von der Allgegenwart des gekreuzigten und auferstandenen Christus Glauben zu schenken«.131 Erst Jahre später, im New York der erzählten Zeit, geht Gesine dieses Muttertrauma an, das ihr Verhältnis zur Institution Kirche und zur christlichen Religion maßgeblich beeinflusst. Das Thema ›Konfirmation‹ wird im Zusammenhang mit Gesine ein weiteres Mal aufgegriffen und steht dabei erneut ganz im Zeichen von Ethik, Schuld und christlicher Theologie. »Matthäus XVI. 26. Ja, Schiet!« Den Schlüssel zur Verbindung zwischen dem Romantext und dem Thema ›Konfirmation‹ liefert ein außergewöhnlicher, weil sekundär vermittelter, biblischer Intertext. Am 10. April 1949 wird ein 14-jähriger Schüler der JohnBrinckman-Oberschule im Güstrower Dom konfirmiert.132 Als Konfirmationsspruch erhält er einen Vers aus dem 16. Kapitel des Matthäusevangeliums: »26Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an

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im Abendmahl als ›Menschenfresser‹ bezeichnete; ebd., Sp. 26; vgl. Huldreich Zwingli: De vera et falsa religione commentarius. März 1525, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Emil Egli, Georg Finsler und Walther Köhler, Bd. 3,50 (CR 90), Leipzig 1914, S. 590–911, hier: S. 807, 788f. Trotz zahlreicher Einigungsbemühungen war eine innerprotestantische Konfessionalisierung in eine evangelisch-lutherische und eine evangelisch-reformierte Kirche Folge der Auseinandersetzung um die theologische Bewertung des Abendmahls. Breuer, Die unerledigte Sache mit Gott, S. 298. Ebd. Bormuth, Suizid als Passionsgeschichte, S. 186. Vgl. Erster Teil, Kap. 1.1.

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seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?«133 Eben jener Bibelvers bildet den Abschluss der Vergangenheitserzählung des Tageseintrags vom 5. August 1968: »Matthäus XVI. 26. Ja, Schiet!« (JT, 1733) Eröffnet wird die Vergangenheitserzählung dieses Kapitels, in dem auf die Mitwirkung des Genossen Schriftsteller verzichtet wird,134 mit den Worten: »Der Schüler Lockenvitz.« (JT, 1721) Bevor Gesine beginnt, die Beziehung zu ihrem ehemaligen Mitschüler zu schildern, motiviert sie die Erzählung als den Wunsch ihrer Tochter. Darüber hinaus gibt sie vor, nur zu erzählen, »was ich weiß« (JT, 1721; Kursivdruck im Original). Die Wendung eröffnet einen Rahmen, der am Ende des Tageskapitels wieder geschlossen wird: »Liebe Marie, dies ist alles, was ich von Dieter Lockenvitz zu wissen glaube« (JT, 1733; Kursivdruck im Original). Kursiv hervorgehoben sind die Verbformen ›weiß‹ und ›glaube‹, die den Wandel hin zur Verunsicherung verdeutlichen, den die Erzählung, und damit verbunden das Erinnern, bei Gesine hervorruft. Der Leser erfährt im Tageseintrag vom 5. August 1968 nicht, wodurch es zu dieser Verunsicherung kommt, denn die Protagonistin erzählt nicht alles, was sie über ihren Mitschüler weiß bzw. zu wissen glaubt. Erst eine Woche später, im Tageskapitel vom 12. August 1968, wird die Erzählung über Dieter Lockenvitz fortgeführt, infolgedessen der Hinweis auf Mt 16,26 in einen Zusammenhang gebracht werden kann. Die Schülerinnen Anita Gantlik, Annette Dühr und Gesine Cresspahl werden nach den Weihnachts- bzw. Winterferien zum Jahreswechsel 1951/52 wegen des Verdachts der Mittäterschaft bei der Erstellung einer »Liste zur Justiz in Mecklenburg seit 1945« (JT, 1790) verhaftet (vgl. JT, 1797). Die Schülerinnen sind sich »in der Befürchtung« einig, »wem sie solche Unterkunft und Behandlung« (JT, 1799) zu verdanken haben – ihrem Mitschüler Dieter Lockenvitz. Sie sind »gekränkt in dem, was [sie sich] vorstellten als männliche Standhaftigkeit« (JT, 1799). Aus der New Yorker Retrospektive muss Gesine jedoch konstatieren, dass die »drei Mädchen ohne Ahnung« (JT, 1799) waren. Damals glaubten sie, dass ihr Mitschüler »sich einen Gewinn an Zeit hatte verschaffen wollen auf dem Rücken und den Handflächen« (JT, 1799) von ihnen. Die gegenwärtige Einsicht verursacht bei Gesine indes »ein geringfügiges Flattern ins Denken«, denn nicht er habe sie, sondern sie haben ihn »im Stich gelassen« (JT, 1805). In ihrer »ethischen Reflexion« schließt sich Gesine »dem Bekenntnis ihrer Freundin Anita an«:135 »Schuldig sind wir vor ihm« (JT, 1805). Eine Annäherung an den Zusammenhang zwischen dem Schuldbekenntnis der Schülerinnen und dem im Tageseintrag vom 5. August 1968 angeführten 133 Mt 16,26. 134 Hervorgehoben wird der Verzicht durch die direkte Ansprache des Genossen Schriftsteller: »Ein ganzes Buch müßtest du schreiben, Genosse Schriftsteller, diese Nachmittage angehend« (JT, 1726). 135 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 298.

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biblischen Intertext liefert der Kontext der Bibelstelle. Innerhalb des 16. Kapitels im Matthäusevangelium thematisiert Jesus die Bedingungen für seine Nachfolge: 24

[…] Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. 25Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. 26Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse? 27Denn es wird geschehen, daß des Menschen Sohn komme in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln; und alsdann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken. 28Wahrlich ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich.136

Der Aufforderung an seine Jünger, ihr Kreuz auf sich zu nehmen, lässt Jesus drei Sprüche folgen, die »weisheitliches Überlieferungsgut« aufnehmen, indem sie »grundlegende Fragen nach dem Finden des Lebens von der Jüngerschaft Jesu her beantworten«.137 Sie setzen dabei die Erfahrung voraus, dass man »die ganze Welt gewinnen und dabei sein Leben verlieren«138 könne. Für Fiedler bezieht sich dieses Gewinnen der ganzen Welt »auf eine Lebenseinstellung und -praxis, vor der in 6,19–34139 oder 13,21f 140 gewarnt wird«141 – die Absage an das »Streben nach Besitz«.142 Ob sich Streben nach Besitz und ewigem Leben automatisch ausschließen, deutet Alexander Sand dahingehend, dass die Gefahr groß sei, »um irdischen Gewinnes willen das Ewige und Eigentliche zu verspielen«.143 Luck betont dagegen, dass die »Nachfolge Jesu als Tragen des Kreuzes […] der Lebenserwartung des Menschen ganz und gar entgegen[steht]«.144 Der Mensch wolle »sein Leben ›gewinnen‹, es erfolgreich gestalten«, weshalb es seiner »normalen Erwartung« entspreche, »daß er sein Leben auch gewinnen kann, wenn er

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Mt 16,24–28. Luck, Evangelium nach Matthäus, S. 192. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 493. In Mt 6,19–34 warnt Jesus vor Habsucht, davor »24[…] nicht Gott dienen und dem Mammon« dienen zu können sowie der Sorge vor irdischen Sorgen um das eigene Leben, das Essen und weitere Dinge; Mt 6,24. Stattdessen erfolgt der Appell: »33Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen«; Mt 6,33. Im Gleichnis vom Sämann heißt es in Mt 13,20–22: »20Das aber auf das Steinige gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort hört und es alsbald aufnimmt mit Freuden; 21aber er hat nicht Wurzel in sich, sondern ist wetterwendisch; wenn sich Trübsal und Verfolgung erhebt um des Wortes willen, so ärgert er sich alsbald. 22Das aber unter die Dornen gesät ist, das ist, wenn jemand das Wort hört, und die Sorge dieser Welt und der Betrug des Reichtums erstickt das Wort, und er bringt nicht Frucht.« Fiedler, Matthäusevangelium, S. 292. Luz, Evangelium nach Matthäus 2, S. 493. Alexander Sand: Das Evangelium nach Matthäus, Regensburg 1986, S. 340. Luck, Evangelium nach Matthäus, S. 192.

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es will«.145 In der Annahme, dass dem Menschen »die Verfügung über sein Leben grundsätzlich entzogen« ist, könne dieser aber auch »mit einem menschlich erfolgreichen Leben sein ›Leben‹ nicht gewinnen«.146 Ein weiteres Mal wird durch die Wahl des Intertextes das Thema der Nachfolge Christi im Roman aufgegriffen;147 dieses Mal von Gesine und im Zusammenhang mit ihrer persönlichen Schuld. Thematisch korrespondiert Mt 16,24–28 mit dem Motto der Hochzeit von Gesines Eltern aus Lk 9,62 sowie dem Hinweis aus dem Mecklenburgischen Christlichen Hauskalender auf Mt 10,34–42 während der Gerichtsverhandlung gegen Warning und Hagemeister.148 Der von Gesine gegenüber Marie angegebenen Bibelstelle geht dabei ein Jesuswort voraus, das bereits wörtlich im zehnten Matthäuskapitel wiedergegeben wird.149 Angesichts dieses Zusammenhangs transportiert der biblische Intertext einerseits den von Paasch-Beeck angesprochenen Hintergrund für die Vorstellung der Figur Lockenvitz, »die sich ohne Rücksicht auf eigene Belange für die Offenlegung der Wahrheit in einem autoritären Staat einsetzt«.150 Angedeutet wird die außergewöhnliche (moralische) Konsequenz, der das Handeln des Oberschülers unterliegt, durch die offene Frage, ob es unheimlich sei, »daß ein Junge von achtzehn Jahren für irgend welche Wahrheit, sei sie eine erwiesene Tatsache, eine Zukunft riskiert, in der er eine Erlaubnis zum Studium hatte denken dürfen, und, mit Glück, einen Beruf nach Wahl« (JT, 1805). Neben dem bereits erwähnten Verweis auf Mt 16,26 rekurriert die Wendung »irgend welche Wahrheit«, deren Bedeutung durch das Indefinitpronomen gesteigert wird,151 auf Joh 8,40: »40Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen solchen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan.«152 Mithilfe dieser biblischen Intertexte rückt Gesine ihren Mitschüler in die Nähe eines Märtyrers,153 einer Transfiguration Christi. Während Jesus die Wahrheit »von Gott« erfährt, ist es bei Dieter Lockenvitz das Unrechtsempfinden, das ihn dazu bewegt, sein eigenes Leben für das Hervorbringen der Wahrheit zu opfern.

145 146 147 148 149 150 151

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Ebd. Ebd. Vgl. auch Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 96. Vgl. Dritter Teil, Kap. 4.1. Vgl. Mt 16,24f.; Mt 10,38f.: »38Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist mein nicht wert. 39Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.« Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 96. Die Bedeutungssteigerung lässt sich darauf zurückführen, dass der singuläre Hintergrund der Wahrheit durch das Indefinitpronomen abgeschwächt wird. Es geht nicht um eine konkrete, sondern irgendeine Wahrheit, wodurch ex negativo das Prinzip ›Wahrheit‹ als solches in den Vordergrund rückt. Joh 8,40. Vgl. hierzu Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 157.

Gesine Cresspahl: »Was ging sie die Kirche noch an!«

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Wie wenig ein so »heroischer Maßstab«154 an alle Figuren gelegt werden kann, verdeutlicht die Exklamation Gesines, die unmittelbar auf die Nennung des biblischen Intertextes aus dem Matthäusevangelium folgt: »Ja, Schiet!« (JT, 1733). Die bestätigende Partikel unterstreicht zwar den moralischen Anspruch einer wahren Nachfolge Jesu, das ›Schiet‹ schwächt jedoch »das Pathos ab, bestätigt das Wissen um die Konsequenzen dieses Tuns«.155 Die Erzählung über Gesines Mitschüler Lockenvitz zielt insofern nicht auf einen moralischen Appell ab, »eine solche Handlungsweise von allen (Roman-)Figuren oder gar darüber hinaus von [den] Lesern zu fordern«.156 Stattdessen wird die Aufrichtigkeit hinter diesem Handeln betont, denn Lockenvitz nimmt das Kreuz nicht um seiner selbst willen auf sich. An den totalitären Verhältnissen kann er nichts ändern – ganz im Gegenteil –, jedoch ist er zu einem alternativen Handeln nicht in der Lage, da er »eine nur für sich zu verantwortende Entscheidung für ein ›richtiges Leben im falschen‹«157 getroffen hat. Neben diesem Hintergrund für die Figur ist der biblische Intertext andererseits Ausdruck einer ethischen Reflexion der Protagonistin, in der ihre Aversion gegen alles Kirchliche und Religiöse zumindest teilweise relativiert wird. Die Ausstattung ihres Mitschülers mit jesuanischen Zügen, der sie ein biblisches Motto von der Nachfolge Jesu nachstellt, zeugt ansatzweise von einer Überwindung des Muttertraumas. Während die Motive des Wahrheitsdranges und der Nachfolge bislang mit Lisbeths überwertiger Idee von Schuld verbunden waren, besetzt Gesine es kurz vor dem Ende des Erinnerungsprojektes mit ihrem Mitschüler Lockenvitz neu. Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang eine erwähnte Nachricht aus Gneez von Anita, der zufolge Gerda Lockenvitz nach ihrer zweijährigen Zuchthausstrafe »wegen Vernachlässigung der Erziehungspflicht und aktiver Mitwisserschaft« (JT, 1803) nach Gneez zurückgekehrt sei: »Sie hat es versucht, in Gneez auf den Sohn zu warten; jener Domprediger, dem Anita aus dem Weg gegangen war bis hin nach Jerichow, er nahm sich die Mühe, von der Kanzel gegen sie zu wettern, mit solchen Worten, wie die Bibel sie anbietet für das 154 Carsten Gansel: Zwischen Aufbau und Demission der Helden – Uwe Johnson, das Gedächtnis und die DDR, in: ders./Nicolai Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne, Berlin/New York 1995, S. 31–54, hier: S. 47. Wie wenig ein solch heroischer Maßstab an jeden gerichtet werden könne, betonte der Autor der Jahrestage im Jahr 1961 in Mailand, auf Hermann Kestens »Wortspiel ›Ulbrecht‹« erwidernd: »Ich möchte dem entgegenhalten, dass Brecht in einer Diktatur lebte. […] Vor die Wahl gestellt, ein international berühmtes und ihm persönlich wichtiges Theater aufzugeben oder es zu behalten, entschied Brecht sich für die Möglichkeit, uns Kenntnisse zu übermitteln, die wir jetzt nicht mehr entbehren wollen. […] Ich finde, dass Brecht uns ein Beispiel des Überlebens geboten hat, auf das es mehr ankommt, als auf kurzfristige moralische Entscheidungen.« (BU, 220) 155 Gansel, Zwischen Aufbau und Demission, S. 47. 156 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 96. 157 Gansel, Zwischen Aufbau und Demission, S. 48.

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Ethischer Diskurs: »Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt.«

Verjagen von Unwürdigen.« (JT, 1805) Mit der darin enthaltenen, wiederholten Kritik an einem Vertreter der Kirche hebt Gesine allerdings in Gegenüberstellung zu Lockenvitz den Unterschied zwischen den Glaubensinhalten und ihrer Auslegung bzw. Übertragung in das Hier und Jetzt hervor. Mit der indirekten Erwähnung Brüshavers, dessen Gottesdienst Anita in Jerichow besucht, entsteht der Eindruck, als würde Gesine die handelnden Figuren ihrer Erzählung über den Mitschüler in Binäroppositionen einordnen: Lockenvitz und Lisbeth, der Jerichower Pastor und der namenlose Gneezer Domprediger. Paradoxerweise resultiert aus diesen Gegenüberstellungen eine Differenzierung des Feldes ›Religion und Kirche‹. Als Gradmesser dient die Heilige Schrift mit einer auf ihr basierenden christlichen Ethik. Zurückgreifen kann Gesine bei der sukzessiven Überwindung ihres Muttertraumas und einer damit einhergehenden Relativierung ihrer Aversion gegen alles Religiöse auf die Erziehung ihres Vaters. Auch bei Cresspahl hat der Suizid Lisbeths tiefe Spuren in seinem Verhältnis zur Institution Kirche hinterlassen. Bei der Suche nach einer Räumlichkeit für den Konfirmationsunterricht etwa wird »das Haus von Cresspahl strikte ausgenommen« (JT, 1601). Auch den ›Segen‹ für ihre Absage an die Konfirmation erhält Gesine von ihrem Vater und ein zu erwartendes Gespräch des Pastors mit Cresspahl über die Entscheidung der Tochter bleibt aus. Selbst Brüshavers Ehefrau, »die Abgesandte der Kirche« (JT, 1603), die am darauffolgenden Nachmittag zu Besuch ist, belegt Gesine, anders als Jakob (vgl. JT, 1599f.), nicht mit Vorwürfen. Stattdessen äußert sie gegenüber Cresspahl ihre eigenen religiösen Zweifel: »Und wenn das Kind nun recht hätte, Cresspahl?« (JT, 1604)158 Die Reaktionen auf Cresspahl sind Ausdruck seiner Stärke159 und einer Autorität durch Würde.160 Diese Autorität erlaubt es ihm, seiner Tochter die Entscheidung über die Konfirmation zu überlassen und diesen Entschluss gegenüber der streng gläubigen Ziehmutter Gesines zu vertreten. Mit einer solchen Ambiguitätstoleranz ausgestattet, überrascht es nicht, dass Gesine ihrer Tochter ähnliche Freiheiten gewährt – zumal ihre Freundin Anita, im Falle von Gesines Ableben berechtigt »[z]ur Erziehung« (JT, 1739) von Marie, »die Sache mit der Ubiquität sowohl aufsagen als auch auf sie vertrauen 158 Bereits kurz zuvor weist der Erzähler auf die religiösen Zweifel Aggie Brüshavers hin: »Aggie hatte schon 1937 aufgehört, Kinder zu unterweisen in der christlichen Lehre. Zweifelte sie an dem, was ihr Mann als Glauben verkündete? […] Krankenschwester war sie, von ihres Mannes Sorgen mit noch dieser Staatsmacht ging sie weg in Jerichows Klinik, auch mit dem Schreibkram der Gemeinde ließ sie ihn allein; ist das die Vorschrift für eine christliche Ehe, Aggie?« (JT, 1603f.) 159 Vgl. hierzu Baker, Väterlichkeit, S. 111. 160 Der Begriff geht auf Jean Goodwins Typologie von Autoritäten zurück: »the authority of command, the authority of expertise and the authority of dignity – the real ad verecundiam«; Jean Goodwin: Forms of Authority and the Real Ad Verecundiam, in: Argumentation 12, 1998, S. 267–280, hier: S. 278; Kursivdruck im Original.

Gesine Cresspahl: »Was ging sie die Kirche noch an!«

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konnte« (JT, 1604). Wenn Anita »enttäuscht war und betrübt« (JT, 1621), weil Marie entgegen ihrer Erwartung nicht getauft wird, so bergen die Schlussworte der jungen Cresspahl im Tageseintrag vom 22. Juli 1968 doch eine gewisse Hoffnung: »Wie soll ein Kind entscheiden, ob es glaubt. Ich laß mich konfirmieren, wenn ich Bescheid weiß, so mit achtzehn, vielleicht.« (JT, 1605) So »altklug[]«161 und naiv diese Worte der ungetauften Marie klingen mögen,162 deuten sie doch eine gewisse Emanzipation von der Mutter in Glaubensfragen, aber auch von der kirchlichen Praxis an. Gesine protegiert diese doppelte Loslösung, indem sie Marie eine vielfältige religiöse Sozialisation mit einem interkonfessionellen Kindergarten, einer katholischen Schule und jüdischen Freundinnen ermöglicht. In ihrem Erziehungsmodell äußert sich das Bewusstsein der Protagonistin für die Bedeutung christlicher Ethik als einer möglichen Grundlage eines auf Humanität basierenden Zusammenlebens. Zugleich kommt darin aber auch das Vermächtnis Lisbeths als ein »Negativmodell der moralischen Selbstwerdung« zum Ausdruck, »das in praktischer Konkretion die Notwendigkeit der Autonomieförderung verdeutlicht«.163

161 Breuer, Die unerledigte Sache mit Gott, S. 299. 162 Die an das Sakrament der Firmung angelehnte und auf Martin Bucer zurückgehende Konfirmation dient einer Erneuerung des Taufbekenntnisses, »das bei der Kindertaufe Eltern und Taufpaten stellvertretend gesprochen haben«; Walter Neidhart: Konfirmation. II. Praktisch-theologisch, in: TRE, Bd. 19: Kirchenrechtsquellen–Kreuz, Berlin 1990, S. 445–451, hier: S. 447. Sofern sich Marie noch für eine (Gläubigen-)Taufe entscheiden sollte, wäre eine Konfirmation überflüssig. 163 Haker, Moralische Identität, S. 243.

6.

Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich Gesines ambivalente Haltung zu religiösen Aspekten und der Institution Kirche in ihrer Sprache widerspiegelt. Greift die Protagonistin in ihrem Erzählen auf Spuren biblischer Sprache zurück und welche Funktion nehmen etwaige biblische Einzeltext- und Systemreferenzen in ihrem Reden ein? Um diese Frage beantworten zu können, muss das Erzählen Gesines identifiziert werden, was angesichts des Zusammengehens von Figuren- und Erzählerstimme im doppelten Erzähler nicht durchgehend gewährleistet werden kann. Unproblematisch sind in diesem Zusammenhang einzig die Ich-Erzählsituationen, die vollumfänglich auf Gesine zurückgehen,1 und die Passagen wörtlicher Redewiedergabe. In allen anderen Formen der Erzählerrede lässt sich nur selten zweifelsfrei identifizieren, ob der Genosse Schriftsteller, der die Geschichte seiner Hauptfigur gemäß der Basisfiktion in der vorliegenden Form entwirft, in seiner Wortwahl auf das Bewusstsein seiner Protagonistin zurückgreift oder aber auf sein eigenes.2 Beispielhaft hierfür ist bereits die erste Seite des Romans, auf der eine biblische Einzeltext- mit einer Systemreferenz auf die Heilige Schrift kombiniert wird: »aber Neger sollen hier nicht Häuser kaufen oder Wohnungen mieten oder liegen in dem weißen grobkörnigen Sand« (JT, 7). Durch den Gebrauch des Hilfsverbs ›sollen‹ weckt der Erzähler Assoziationen zum Dekalog und verstärkt diese durch eine »an die Lektüre der (Luther-)Bibel gemahnende archaisierende parataktische Reihung«.3 Fries betont, dass durch die »Verwendung des gehobenen Sprachstils der 10 Gebote für ein soziales Verbot, das einen ähnlichen Anspruch nicht stellen kann, im Unterschied zu den göttlichen Geboten allerdings befolgt wird«,4 ein Sarkasmus zum Ausdruck kommt, der den weißen Herrschaftsan1 Vgl. Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 58. 2 Entsprechend konstatiert Fries, dass der Genosse Schriftsteller »auf der Grundlage des Zugangs zu allen Gedanken und Befindlichkeiten Gesines […] für die künstlerische Gestaltung ihrer Biographie verantwortlich ist, bis ins Wort hinein«; ebd., S. 66. 3 Ebd., S. 25. 4 Ebd.; Kursivdruck im Original.

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

spruch ironisiert. Die Protagonistin des Romans wird erst im übernächsten Satz mit der Eröffnung der Vergangenheitserzählung in den Roman eingeführt und doch weisen die beiden Sätze vor dem zitierten Teilsatz bereits Spuren einer figuralen Erzählperspektive auf: Die Gemeinde hat den breiten Sandstrand abgezäunt und verkauft Fremden den Zutritt für vierzig Dollar je Saison, an den Eingängen lümmeln uniformierte Rentner und suchen die Kleidung der Badegäste nach den Erlaubnisplaketten ab. Offen ist der Atlantik für die Bewohner der Strandvillen, die behäbig unter vielflächigen Schrägdächern sitzen, mit Veranden, doppelstöckigen Galerien, bunten Markisen, auf dem Felsdamm oberhalb der Hurrikangrenze. (JT, 7; Hervorhebung P. O.)5

Das Beispiel veranschaulicht die Unmöglichkeit, die Wortwahl des Genossen Schriftsteller mit dem Rückgriff auf den Dekalog und den parataktischen Duktus eindeutig seinem Bewusstsein oder dem der Hauptfigur zuzuordnen, deren Geschichte er erzählt. Eine Annäherung an diese Problematik wäre durch einen Blick auf den weiteren Gebrauch solcher biblischen Intertexte im Roman möglich. Im vorliegenden Fall gibt es Anzeichen dafür, dass die dekalogische Formel ›du sollst‹ auf Gesine zurückgeht. So ermahnt die Protagonistin ihre Tochter auf ironische Weise: »Du sollst mich achten, hörst du!« (JT, 934) In einem Brief an Gesine wiederum, der in das Tageskapitel vom 3. März 1968 integriert ist, kommt D. E. auf das Thema ›Hochzeit‹ zu sprechen und konstatiert: »Du sollst nicht mich heiraten; du sollst mit mir leben. Von Sollen sprichst du; ich meinte Wünschen.« (JT, 815). Diese Stelle korrespondiert mit der Wiedergabe von D. E.s Worten im Tageseintrag vom 1. September 1967: »Du mußt nicht mich heiraten: sagt D. E.: du sollst bei mir leben.« (JT, 40) Indem Gesines Partner im März 1968 auf der Grundlage eines Briefes zitiert wird, kommen Zweifel auf, ob Gesine, und mit ihr der Genosse Schriftsteller, die Worte D. E.s einige Monate zuvor korrekt wiedergeben. Zumindest aber wird deutlich, dass es sich um eine mittelbare Redewiedergabe handelt, die auf dem Bewusstsein Gesines basiert. Sie ist es, die in ihrem Sprechen wiederholt auf die dekalogische Formel ›du sollst‹ zurückgreift. Im Rahmen dieser Arbeit kann eine solche Annäherung nicht für alle biblischen Einzeltextreferenzen vorgenommen werden; erst recht nicht für die biblischen Systemreferenzen.

5 Vgl. hierzu ebd., S. 24.

Biblische Systemreferenzen

6.1

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Biblische Systemreferenzen

Eine stichprobenartige Untersuchung des umfangreichen Jahrestage-Korpus zeigt, dass biblische Systemreferenzen zum ethischen Erzählen im Roman beitragen. Eine untergeordnete Rolle nimmt dabei die Partikel ›(und) siehe‹ ein. Sie wird, ähnlich wie in Johnsons früheren Romanen, in ganz unterschiedlichen Kontexten – auch in biblischen – ausschließlich als Verweisungsform in phatischer Funktion verwendet: »aber Methling saß in Gneez und schrieb über Bäume […], und kam von jedem auf die Stammbäume, auf Staemmlers Gesetzentwurf zur Rassenscheidung, auf Eheverbot und Vorfahrenforschung (siehe den Stammbaum Jesu im Buch Lukas)« (JT, 239).6 Anders verhält es sich bei zweigliedrigen Verbalausdrücken, die der Erzähler zahlreich in die Erzählung integriert. Bereits im zweiten Satz des Romans »sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden« (JT, 7). Wenig später wird Gesines Lektüre der New York Times als ein »Gespräch mit Jemand« beschrieben, »dem sie zuhört und antwortet« (JT, 15). Der pränominale Genitiv, mit dem die Gesine der Mutmassungen über Jakob ihren Vater und dessen autonome Moral exponiert, ist auch in den Jahrestagen Cresspahls Tochter vorbehalten und wird von ihr beinahe ausschließlich auf ihren Vater bezogen: »Meines Vaters Schuld war freilich, daß er ihr getraut hatte.« (JT, 511) 7 Interessanterweise überträgt der Erzähler an einer Stelle diese auf die Vaterfigur bezogene pränominale Genitivkonstruktion auf Swetlana Stalina und deren Vater Josef W. Stalin: »Der wichtigste schlimme Einfluß in meines Vaters Leben war, was ihn die Priesterschaft aufgeben und zum Marxisten werden ließ.« (JT, 30) Mit diesem Stilmittel wird bereits früh im Roman die Erinnerungsarbeit Gesines der von Swetlana Stalina gegenübergestellt. Für zwei weitere syntaktische Biblizismen wurde aufgrund des Umfangs der Jahrestage nur eine stichprobenartige Analyse durchgeführt: Für die Fügung aus Relativpronomen mit parataktischem Anschluss wurden die ersten einhundert Seiten des zweiten und vierten Bandes analysiert, für die intensivierende Partikel ›aber‹ in Satzzweitstellung die jeweils ersten einhundert Seiten aller vier Bände. Für letztere lässt sich dabei eine enorme Steigerung im Gebrauch feststellen. Ist auf den ersten einhundert Seiten des Romans nur jedes zwanzigste ›aber‹ eine 6 Vgl. auch JT, 644: »ihm war nicht wohl, wenn er sich hinterher doch herauszog mit der Erklärung, es sei die von Gott überlieferte Wahrheit gemeint gewesen, nicht eine weltliche; siehe Vers 40, 41«; JT, 646: »Siehe auch Apostelgeschichte 16,27; Offenbarung 9,6.« Ähnliche Formen finden sich auch in nicht-biblischen Kontexten: »Herr Enzensberger wendet sich nun gegen die Auffassung, daß Bankpräsidenten, Generäle und Rüstungsindustrielle (siehe Paul Goodman) aussähen wie die Unholde in den Comic-Strips« (JT, 796); »[s]iehe Bürgerliches Gesetzbuch« (JT, 1367). 7 Vgl. JT, 814, 1018, 1160, 1546, 1800, 1889.

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Partikel in Satzzweitstellung, so ist es zu Beginn des zweiten Bandes bereits jedes zehnte. Allerdings enthalten jene ersten einhundert Seiten des zweiten Bandes das Tageskapitel vom 25. Dezember 1967, in dem der Biblizismus bereits vier Mal gebraucht wird – so oft wie in den gesamten ersten einhundert Seiten des Romans –, um Lisbeths überwertige Idee von Schuld gegenüber sich selbst und ihrem Ehemann zum Ausdruck zu bringen.8 Doch auch in den folgenden Bänden steigert sich das Verhältnis weiter. Auf den ersten einhundert Seiten des dritten Bandes wird bereits jedes fünfte ›aber‹ als Partikel in Satzzweitstellung verwendet, auf denen des vierten Bandes gar jedes dritte. So finden sich im Tageseintrag vom 21. Juni 1968, der ganz im Zeichen von Landrat Gerd Schumann und den Gemeindewahlen am 15. September 1946 steht, fünf ›aber‹ in Satzzweitstellung. Während es in den meisten Fällen der Erzähler ist, der die intensivierende Partikel gebraucht, greift in diesem Kapitel die Figur Gesine im Gespräch mit ihrer Tochter vier Mal auf den Biblizismus zurück. Zu Beginn des Gesprächs stellt jedoch Marie die Bedeutung ›unparteiischer Schiedsrichter‹ als Element freier Wahlen heraus: – Marie, was benötigt man für öffentliche Wahlen? […] – Parteien hattet ihr schon, erstens. Zweitens, die Leute in Parteien müssen Leute einladen, die nicht in den Parteien sind. […] Wenn es endlich ans Wählen geht, brauchen sie drittens Schiedsrichter. Die kümmern sich nur um die Regeln, als da sind Freiwilligkeit, Geheimhaltung und genaue Auszählung; die Parteien aber sind ihnen schnurz. (JT, 1394; Hervorhebung P. O.)

Ihre Mutter relativiert diese Erwartungen an Wahlen in der SBZ sogleich, indem sie darauf hinweist: »– Es waren aber die Grenzen zu seit dem 30. Juni 1946.« (JT, 1394) In der Folge zeichnet sie die Bedingungen für die Gemeindewahlen nach, wobei die Medienlandschaft durch den Gebrauch der Partikel hervorgehoben wird,9 um letztlich die politische Propaganda der Realität gegenüberzustellen: Nicht aber um die Sowjets geht es, nicht um die Diktatur des Proletariats, nur um den Neuen Anfang, den Aufbau, im Bündnis mit allen antifaschistischen Kräften, auch den bürgerlichen, sofern sie ehrlich sind. […] Seine Partei aber, zusammen mit der be-

8 Vgl. JT, 511f.; Hervorhebung P. O.: »Vor einer Schuld aber dürfe ein Christ nicht fliehen, und es war Cresspahls Schuld, daß er dies zugelassen habe. […] Damit konnte sie Tischlermeister Zoll meinen, den Papenbrock ›ausgekauft‹ hatte; wen aber noch? […] es soll aber der Mann entscheiden […] So aber, an der verheimlichten Schuld gestorben, sei sie eines christlichen Begräbnisses sicher.« Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 1.1. 9 Vgl. JT, 1396: »Deine Partei aber kommt überall hin, dein Neues Deutschland liegt in jedem Laden auf, die Tägliche Rundschau obendrein; nämlich in täglichen Ausgaben; sollen die Sowjets nun auch noch sich abplagen mit Dingern wie Neue Zeit oder Der Morgen, die ohnehin bloß zweimal in der Woche erscheinen?«

Biblische Systemreferenzen

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freundeten Bauernhilfe und den Frauenausschüssen, wurde bloß mit 66 vom Hundert gewählt. (JT, 1398f.)

Durch die Verwendung der intensivierenden Partikel unterstreicht Gesine, dass die Gemeindewahlen für die bürgerlichen Kräfte entgegen der propagandistischen Ankündigung, und trotz einer Zwei-Drittel-Mehrheit, einer Niederlage gleichkam: »Nun verlor er.« (JT, 1399) Das Beispiel gibt einen Einblick in den gezielten Einsatz der Partikel – hier durch die Figuren Marie und Gesine, in der Mehrzahl der Fälle jedoch durch die Erzählinstanz. Über die Gründe für den signifikanten Anstieg des Verhältnisses zwischen Konjunktion und intensivierender Partikel innerhalb der vier Bände der Jahrestage lassen sich angesichts der nur stichprobenartigen Analyse lediglich Thesen aufstellen. Interessanterweise korreliert dieser Befund mit der Stichprobe der Relativpronomen mit parataktischem Anschluss. Beträgt das Verhältnis zwischen parataktischem Anschluss und Relativsatz auf den ersten einhundert Seiten des zweiten Bandes rund eins zu fünfzehn,10 so hat sich die Relation zu Beginn des vierten Bandes vervierfacht.11 Es scheint daher möglich, den Anstieg syntaktischer Biblizismen auf den Erinnerungsprozess der Protagonistin zu übertragen. Mit der sukzessiven Aufarbeitung der eigenen Traumata, insbesondere des Schocks vom frühen Tod der Mutter, wird die Integration eines biblischen Tonfalls in den Roman möglich. Um die Stichhaltigkeit dieser These zu überprüfen, sollen in einem weiteren Schritt die Themenkomplexe in den Blick genommen werden, in die Spuren eines Bibeltons integriert sind. Findet sich auch in den Jahrestagen eine Kunstsprache, die dem ideologisch-funktionalisierten Sprachgebrauch im nationalsozialistischen Deutschland, in der SBZ und der DDR gegenübergestellt wird? Rekurrieren sprachliche Brechungen auch in Johnsons Hauptwerk auf ethisch-moralische Alternativen oder welche Aufgabe nimmt der biblische Tonfall in Johnsons Hauptwerk ein? Eine Beantwortung dieser Fragen scheint über die in den Text integrierten lexematischen Systemreferenzen und biblischen Einzeltextreferenzen einfacher zu sein, als über die gerade beschriebenen syntaktischen Biblizismen im Roman. Die Funktion des Einsatzes biblischer Sprache in den Jahrestagen lässt sich dabei an drei Lexemen exemplarisch vorführen. Auf das Lexem ›fromm‹ greift insbesondere der Erzähler in ganz unterschiedlichen Kontexten des Romans zurück, vorwiegend jedoch zur Charakte10 Differenziert nach Personalpronomen beträgt das Verhältnis für alle Formen von ›der‹ und ›das‹ rund eins zu vierzehn, für das Relativpronomen ›die‹ und seine Formen rund eins zu fünfzig sowie für die Pluralformen ›die/welche‹ rund eins zu zehn. 11 Auf den ersten einhundert Seiten des vierten Bandes weisen die einzelnen Relativpronomen mit parataktischem Anschluss gemessen an der jeweiligen Gesamtzahl von Relativpronomen folgende Prozentwerte auf: der ~31 %; die ~19 %; das ~40 %; Plural ~20 %.

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

risierung verschiedener Figuren. Ein Jerusalemer Oberrabbiner wird ebenso als ein »frommer Mann« (JT, 792) beschrieben wie Friedrich Jansen mit seinen »lammfrommen und unsteten Augen« (JT, 664), Gesines Mutter12 ebenso wie die Großmutter der Protagonistin mit ihrer »fromme[n], barmende[n] Art« (JT, 870). Den Glauben von Louise Cresspahl wertet der Erzähler von Beginn an als eine »verlogene Frömmigkeit« (JT, 194). Später wird ihre christliche Aufrichtigkeit auf »fromme[] Sprüche« (JT, 417) reduziert, die Sozialisation ihrer Kinder als eine »blind fromme[] Erziehung« (JT, 526) eingeschätzt. Ähnlich verhält es sich beim siebzigjährigen Jerusalemer Oberrabbiner, dessen Frömmigkeit angesichts der Hochzeit mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau infrage gestellt wird (vgl. JT, 792). Bei beiden Figuren wird die vorgebliche Frömmigkeit als ein »Fromm-Scheinen, ohne wahrhaft fromm zu sein«,13 demaskiert. Einer moralischen Überprüfung hält der vermeintlich strenge Glaube dieser Figuren nicht stand. Die Frömmelei ihrer Großmutter konkretisiert Gesine im Gespräch mit Marie, indem sie ebenfalls auf jenes Lexem zurückgreift und es in einen politischen Kontext überträgt: »1942; damals hätte sie bei den Lüsewitzens nicht einmal mit bedenklichem Kopfneigen moniert, daß ein deutscher Gutsritter Zwangsarbeiter in Ställen hält, wie immer ausländische; jetzt drückte sie das Kinn fest in den Kragen und sprach mit frommer Strenge von der Gerechtigkeit« (JT, 1352). Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, dass der Erzähler und die Titelfigur dieses Verfahren auch auf andere Kontexte anwenden. Bei der Beschreibung des Lyzeums in Gneez deutet Gesine mithilfe eines historischen Ereignisses und des Lexems ›fromm‹ auf die christliche Unvereinbarkeit von Pogromen gegen jüdische Mitbürger hin: »– eine städtische Schule, benannt nach einem Kloster und einer Kapelle zu Ehren der feierlichen Judenverfolgungen von 1330, längst weggebrannt. Von den Resten jenes frommen Innenhofs zum Bahnhof mußte ich nur zwei Straßen übereck gehen« (JT, 1216f.). Auch an dieser Stelle resemantisiert Gesine das Lexem, indem sie eine pauschale Zuordnung qua Bekenntnis oder institutioneller Zugehörigkeit ablehnt und stattdessen das Handeln der Figuren mit dem moralischen Hintergrund des Begriffs konfrontiert. Die in diesem Verfahren enthaltene Ironie wendet sich in bitteren Sarkasmus, der die Bedeutung christlicher Ethik jedoch nicht infrage, sondern vielmehr als mögliche moralische Grundlage herausstellt. Ähnlich verhält es sich beim Lexem ›heilig‹, das als ein genuin christliches Wort im literarischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert gebraucht wird: »Heutzutage können wir erleben, wie nahezu alles ›heilig‹ genannt wird: ›heiliger Krieg‹ – ›heiliger Zorn‹ – ›heilig Vaterland‹ – ›das ist mein heiliges Recht!‹ – bis hin zu 12 Vgl. JT, 508: »Fromm ist sie immer gewesen«. 13 Zweiter Teil, Kap. 4, Anm. 94.

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der fluchartigen Wendung ›heiliger Bimbam!‹.«14 Vergleichbar inflationär wird das Lexem in den Jahrestagen gebraucht. Attribuierungen mit ›heilig‹ finden sich im Namen der »Kirche des Heiligen Johannes von Gottes Gnaden« (JT, 239), der »Kathedrale des Heiligen Patrick« (JT, 406) und der »Heiligblutkapelle« (JT, 1432), in der »Bank des Heiligen Geistes« in Mailand und Turin (JT, 394, 521), im »Krankenhaus des Heiligen Lukas« (JT, 573) oder im Restaurant »Zum Heiligen Wenzel« (JT, 136),15 in der »Heilig-Bluts-Schule« (JT, 1216) in Gneez und im »Manhattan College vom Heiligen Herzen« (JT, 1303) in New York. In den Roman eingeführt wird das Lexem, wenn auch ex negativo, in seiner ursprünglichen alttestamentlichen Bedeutung als zu »Gott gehörig«:16 Mrs. Ferwalter nehme sich »Freiheiten mit ihrem Gott, aber sie achtet darauf, daß Rebecca den Sabbat nicht entheiligt« (JT, 47). In der Folge greift der Erzähler das Attribut auf und ironisiert dessen säkularen Gebrauch, indem er ihn überspitzt. Das Restaurant bei den Vereinten Nationen, von dem sich Marie enttäuscht zeigt, wird beschrieben als eines, das von »einer ganz irdischen Hotelfirma bewirtschaftet [wird] und nicht einmal die Bar ist etwas Heiliges« (JT, 283). Während sich die Ironie in diesem Beispiel auf Maries Erwartungshaltung bezieht, überträgt Gesine sie in ihrem Brief an Anita Gantlik auf die öffentliche Einrichtung zur Übermittlung des soeben Geschriebenen: »Da die Post heilig ist, sind ihre Ämter nach den Mustern der klassischen Tempel aufgeführt« (JT, 452). In Sarkasmus wendet sich diese Ironie, wenn »[d]ie Schulen, die Postämter, die Börse, die Banken« – und damit die zentralen staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen des Landes – »aus dem heiligen Anlaß geschlossen« sind (JT, 1244). Bei jenem ›heiligen‹ Anlass handelt es sich um den Memorial Day, einen patriotischen Feiertag, an dem der in den Kriegen für das Vaterland Gefallenen gedacht wird: Am 30. Mai vor hundert Jahren gab General John A. Logan einen Befehl. Er war damals Oberbefehlshaber der Großen Armee der Republik und hatte gut verfügen, daß dieser Tag bestimmt sei, die Gräber der Kameraden zu schmücken, ›die in der Verteidigung des Landes gegen den letzten Aufstand starben‹. Es ist dabei nicht geblieben, die Erinnerung soll nun den Toten der auswärtigen Kriege auch noch gelten, und insbesondere dem unbekannten. (JT, 1244)

Die bittere Ironie, mit der der Erzähler Gesines Lektüre dieser Nachricht aus der New York Times überträgt und die sich in Formulierungen wie »hatte gut verfügen« oder der Betonung der »unbekannten« Toten niederschlägt,17 kulminiert in der Attribuierung des Feiertags als ›heilig‹ und betont im Umkehrschluss die 14 15 16 17

Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 320. Vgl. auch JT, 303, 466. Melzer, Der christliche Wortschatz, S. 319. Vgl. Schmidt, Kalender und die Folgen, S. 226f.

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Unvereinbarkeit einer solchen Kriegsheroisierung mit den moralischen Grundsätzen christlichen Glaubens. Ähnlich sarkastisch kommentiert Gesine die »Open Door Acts« (JT, 1467), die Politik der Offenen Tür, mit der die USA um die Jahrhundertwende 1899/1900 versuchten, durch eine Art Freihandelszone Einfluss in China zu gewinnen und zugleich die europäischen Mächte sowie Japan ohne kriegerische Auseinandersetzung in ihrer Bedeutung auf dem chinesischen Markt zurückzudrängen.18 Das Schicksal Chinas in den Blick nehmend parodiert Gesine, die zunächst nur stille Beobachterin eines Tischgesprächs zwischen ihrem Chef de Rosny und drei weiterer Herren ist, den amerikanischen Glauben an den »missionarische[n] Auftrag«,19 an die »Heiligsprechung des Glaubens, daß die U.S.A. den Besitz der vollkommensten Ordnung in Wirtschaft wie Politik nicht für sich behalten sondern anderen Völkern schenken dürfen« (JT, 1467). Von de Rosny direkt angesprochen, liefert sie, »ausgebildet im Marxismus«, einen überraschenden Beitrag zum Gespräch: – It is the indispensable duty of all the nations of the earth: sagt sie wie bereitwillig, erst beim fünften Wort des predigenden Tons sicher, fast zu tief hineingefallen in den kugeligen Hohlraum, den das d-j-u ihr in die Kehle grub: To know that the LORD he is God, and to offer unto him sincere and devout thanksgiving and praise. But if there is any nation under heaven, which hath more peculiar and forcible reasons than others, for joining one heart and voice in offering up to him these grateful sacrifices, the United States of America are that nation. (JT, 1469; Versalien im Original)

Aus dem weiteren Verlauf des Textes erfährt der Leser, dass es sich bei diesem Intertext, den Gesine rezitiert und der auf Ps 3,4 rekurriert,20 um einen Auszug aus einem Sermon handelt, »datiert fünf Jahre nach der Französischen Revolution« (JT, 1469). Jene Zeilen bilden den Beginn einer Predigt, die Levi Frisbie, Pastor der First Church in Ipswich, MA, am 19. Februar 1795 anlässlich von Thanksgiving hielt.21 Mithilfe des Intertextes, der Gesine bereits beim Lesen in Maries Schulbuch »wütend« (JT, 1469) werden lässt, bringt Gesine ihre verschlüsselte Kritik an einer nationalistischen, die USA überhöhenden Perspektive zum Ausdruck. Durch den Rückgriff auf das Lexem ›heilig‹ an früherer Stelle im Tageskapitel wird Gesines Kritiknahme an der religiösen Funktionalisierung

18 Vgl. Irmgard Müller: Tischgespräche. Zum Tageskapitel des 1. Juli 1968, in: Johnson-Jahrbuch 21, 2014, S. 209–238, hier: S. 210, 218–220. 19 Ebd., S. 210. 20 »4Aber du, Herr, bist der Schild für mich und der mich zu Ehren setzt und mein Haupt aufrichtet.« 21 Levi Frisbie: A sermon delivered February 19, 1795. The day of public Thanksgiving through the United States. Recommended by the president, Newburyport [1795], S. [5]. Vgl. hierzu Müller, Tischgespräche, S. 223–226. Müller weist darauf hin, dass Johnson bei der Übertragung des Abschnitts ein ›with‹ ausgelassen hat: »for joining with one heart and voice«; Frisbie, A sermon, S. [5]; Hervorhebung P. O.; vgl. Müller, Tischgespräche, S. 226.

Biblische Systemreferenzen

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politischer und wirtschaftlicher Interessen vorbereitet. Durch die Resemantisierung des Lexems wird ein Raum des kritischen Hinterfragens geöffnet, aus dem heraus die Reaktion der Herren am Tisch als naiv und auch noch gegenwärtig nationalistisch enttarnt wird: »Beifall. Gelächter.« (JT, 1469) Ein vergleichbarer Raum kritischen Hinterfragens wird durch ein drittes Beispiel biblischer Sprache eröffnet. Es handelt sich um eine Präpositionalphrase, die fünf Mal in den Romantext integriert ist und durch Dr. William B. Brewster, Maries »ersten Arzt in New York«, eingeführt wird: »Es ist eine ganz unerstaunliche Karte, mit einem japanischen Druckvermerk und Wünschen für Weihnachten und ein Neues Jahr mit Frieden auf Erden an ›Dear Mary‹ von ihrem ›Wm. Brewster‹.«(JT, 627) Mit der Lokalbestimmung ›auf Erden‹ gebraucht Dr. Brewster eine in der Heiligen Schrift hochfrequente Phrase. Allein im Buch Genesis der Lutherbibel findet sie sich fünfzig Mal; in der Zürcher Bibel immerhin noch zweiundzwanzig Mal. Von Bedeutung wird die Präpositionalphrase, wenn man das Zustandekommen der Postkarte berücksichtigt. Infolge des Vietnamkrieges ist Dr. Brewster vier Monate zuvor, »im vorigen September«, abgerufen worden »zu einem nachträglichen Militärdienst«, sodass die Postkarte in einem Lager verfasst wird, in dem der New Yorker »Flüchtlingskinder[] in Viet Nam ärztlich versorgt« (JT, 627). Vor dem Hintergrund der Kriegslage in Südostasien wünscht der Arzt seiner ehemaligen Patientin einen Zustand, der seinem gegenwärtigen diametral entgegensteht: »ein neues Jahr mit Frieden auf Erden«. Durch Rückgriff auf den biblischen Wortschatz wird durch den Wunsch implizit auf die Hoffnung verwiesen, einen Friedenszustand durch die Besinnung auf einen christlichen Humanismus erreichen zu können. Im Umkehrschluss führt dieser in die Heimat gesandte Wunsch aber auch den Vorwurf mit, dass er für Teile der US-amerikanischen Bevölkerung in weite Ferne gerückt ist, weil in der Heimat Entscheidungen getroffen werden, die mit eben jenem christlichen Humanismus nicht vereinbar erscheinen. Von besonderer Bedeutung für den bibelsprachlichen Diskurs in den Jahrestagen ist die Präpositionalphrase ›auf Erden‹ allerdings durch die zweite Nennung im Roman. Im Tageskapitel vom 29. Februar 1968 wird Gesine mit einem offenen Brief Enzensbergers konfrontiert, den dieser anlässlich seines Verzichts auf ein Stipendium an den Präsidenten der Wesleyan University richtet: Erklären Sie uns das. Es sind doch Ihre Landsleute, Mrs. Cresspahl. Versuchen Sie, uns dies zu erklären. […] Er bekennt öffentlich, daß die herrschende Klasse in den Vereinigten Staaten von Amerika (die Regierung eingeschlossen) in seinen Augen die gefährlichste Gruppe von Menschen auf Erden ist. The most dangerous body of men on earth. (JT, 794f.)

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Der Erzähler repetiert den letzten Satz des Abschnitts in der englischsprachigen Originalfassung,22 um die Anlehnung Enzensbergers an die Formulierung eines Schriftstellerkollegen herauszustellen: »So hat es auch Paul Goodman im vorigen Oktober in einer Rede vor Rüstungsindustriellen gesagt: Sie sind, gegenwärtig, die gefährlichste Gruppe von Menschen in der Welt. Body of men. Wer wird denn pingelig sein wegen eines Zitats.« (JT, 795) Darüber hinaus hinterfragt er den Sprachgebrauch Enzensbergers: »In der Welt; es klingt so alltäglich. Nein: auf Erden. Feierlich, nachhallend. Biblisch allemal. Auf Erden.« (JT, 795) Über die ironische Reflexion der Sprachwahl wird der Inhalt des offenen Briefes kritisiert, die in Enzensbergers Bemerkung kulminiert, »[i]n more than one way, the state of your Union reminds me of my own country’s state in the middle Thirties«.23 Der Erzähler stellt der Paraphrasierung des folgenden Abschnitts die Dimension dieses Vergleichs voran: Die Deutschen hatten sich 1945 vor der Welt zu verantworten für 55 000 000 Tote, die sechs Millionen Opfer in den Vernichtungslagern noch dazu. In Herrn Enzensbergers Augen haben die Bürger der U.S.A. eine vergleichbare Schuld auf sich geladen. Mag es da um Tote gehen. Die Toten halten zuverlässig das Maul. (JT, 798)

Allein durch die Benennung des Ausmaßes des durch die Deutschen zwischen 1933 und 1945 verursachten Leids wirkt eine Analogie pietätlos und damit unzulässig. Mit einer Anspielung auf seinen rund acht Monate zuvor veröffentlichten essayistischen Aufsatz Über eine Haltung des Protestierens lässt Johnson den Erzähler eine eindeutige Bewertung von Enzensbergers Aussagen vornehmen: Einige gute Leute werden nicht müde, öffentlich zu erklären, dass sie die Beteiligung ihres Landes am Krieg in Vietnam verabscheuen; was mögen sie da im Sinn haben? Die guten Leute sagen sich den Ausspruch nach, es sei Krieg nicht mehr erlaubt unter zivilisierten Nationalstaaten; die guten Leute haben sich nicht gemuckst, als die Kolonialpolitik zivilisierter Nationalstaaten jene Leute in Vietnam bloß mit Polizei dabei störte, erst einmal eine Nation zu werden. […] Auch diese guten Leute werden demnächst ihre Proteste gegen diesen Krieg verlegen bezeichnen als ihre jugendliche Periode, wie die guten Leute vor ihnen jetzt sprechen über Hiroshima und Demokratie und Cuba. Die guten Leute sollen das Maul halten. Sollen sie gut sein zu ihren Kindern, auch fremden, zu ihren Katzen, auch fremden; sollen sie aufhören zu reden von einem Gutsein, zu dessen Unmöglichkeit sie beitragen.24

22 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: On Leaving America, in: The New York Review of Books 10, 1968, H. 4, S. 31f., hier: S. 31: »I believe the class which rules the United States of America, and the government which implements its policies, to be the most dangerous body of men on earth.« 23 Ebd. 24 Uwe Johnson: Über eine Haltung des Protestierens, in: Kursbuch 9, 1967, S. 177f., hier: S. 177.

Biblische Einzeltextreferenzen

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Mit der Kritik an Enzensbergers Aussage setzt der Erzähler zugleich einen Maßstab an sein eigenes, an ein nicht didaktisierendes Erzählen. Dieses Erzählen ist ohne ethisches Gebot, sondern wird ethisch durch seine reflexive Art, mit der auf bestehende Aporien hingewiesen wird. Dem leichtfertigen und mitunter bewusst funktionalisierenden Gebrauch biblischer Sprachformen setzt der Erzähler der Jahrestage einen bedachten Umgang mit Sprache entgegen. Deutlich wird dies, wenn mit der dritten Nennung der Präpositionalphrase ›auf Erden‹ der Tod Jakobs angedeutet wird: »So geriet Jakob an Jöche, einen Freund bis zum Herbst 1956, so wurde er mit Peter Wulff zusammengebracht, so dauerhaft und unkündbar wie auf Erden möglich.« (JT, 1405) Zwei weitere Male tritt die Präpositionalphrase im Roman auf, wobei sich der Mechanismus der ironischen Brechung bzw. Resemantisierung wiederholt. In auffälliger Weise, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu Johnsons vorherigen Romanen, mündet der ironische Gebrauch biblischer Sprachformen in einer Kapitalismuskritik. Deutlich wurde dies bereits an der Beurteilung der Politik der Offenen Tür, aber auch wenn »einsame Leichenpaläste an die Verhältnisse irdischen Besitzes gemahnen« (JT, 79), das Restaurant der Vereinten Nationen von einer »ganz irdischen Hotelfirma« (JT, 283) betrieben wird oder neben zögernden Hausbesitzern »Abbruchkugeln zu[schlugen], und das weite Feld wurde wüst und leer« (JT, 1055). Dass diese Kapitalismuskritik in erster Linie auf die Protagonistin des Romans zurückgeht, soll im folgenden Abschnitt anhand ausgewählter biblischer Einzeltextreferenzen veranschaulicht werden.

6.2

Biblische Einzeltextreferenzen

Zu Beginn des zweiten Bandes, im bereits mehrfach erwähnten Brief an Julius Kliefoth, Gesines ehemaligen Lehrer für Englisch und Latein, geht die Protagonistin darauf ein, »welchen Status Christi Geburt in der Geschäftswelt innehat« (JT, 501), und reflektiert damit die Vereinbarkeit von christlichem und kapitalistischem Handeln. Unterstützung erfährt sie von ihrer Freundin Annie Killainen, deren Streit mit ihrem Ehemann von Gesine zusammengefasst wird: Und beide über fünfundzwanzig Jahre alt, und spielen jeder sein Programm durch, er die Theorie vom Domino, von der Habsucht Chinas, von der Ehre der U.S. in Südostasien, von der Weiterführung des französischen Erbes in Viet Nam, von der Freiheit des Menschen und dem Frieden in der Welt; du mit dem siebten Gebot, dem Gebot betreffs der fremden Märkte, mit der Ehre der U.S., mit der Selbstbestimmung auch kleiner Völker, mit der Freiheit des Menschen und dem Frieden in der Welt. (JT, 565)

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Durch den Verweis auf das siebente Gebot, »15[d]u sollst nicht stehlen«,25 wird die Kritik an der Unchristlichkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems wiederholt und zugleich konkretisiert. Inwieweit die Referenz auf den Dekalog aus Gesines Bewusstsein stammt oder sie nur die Worte Annie Killainens wiedergibt, kann aus dem Text nicht erschlossen werden. Die Vielzahl biblischer Intertexte, denen sich Gesine in ihrem Sprechen bedient, legen aber den Schluss nahe, dass die Protagonistin das Gespräch mit ihrer Freundin in ihren eigenen Worten paraphrasiert. An späterer Stelle, im Tageseintrag vom 7. August 1968, stellt Gesine gar eine Analogie zwischen der kapitalistischen Verführung, für die stellvertretend ein Millionär steht, und der Versuchung Jesu her: – Hitler war ja unvermögend. Klaute vom Staat. Kannst schon glauben, ein leibhaftiger Millionär führte mich auf den Berg, zeigte mir die Reichtümer der Welt und sprach: Dies alles ist dein. Der Berg war der Bahnsteig Drei auf dem Hauptbahnhof von Düsseldorf, und DiesAllesDein war ein Ding, in dem mochte Hitler mal seine Anfälle spazieren geführt haben. So ein verbauter Schlafwagen. (JT, 1753)

Vor diesem Millionär, einem »wohlhabende[n] Bürger der U.S.A« (JT, 1753), hatte bereits ihr Chorleiter im sozialistischen Mecklenburg versucht, sie durch persönlichen Wohlstand von sich zu überzeugen: »Ihr Chorleiter führte sie über Neustadt, entzückte sie mit den Geldern, die eine Umgehungsstraße verschlucken würde, machte sie fromm mit den Kosten für eine Herrichtung des Hafens.« (JT, 1250) Die Wahl der Verben – führte und entzückte – rekurriert bereits an dieser Stelle auf die Versuchung Jesu in Lk 4,1–13 parr und wird durch das Lexem ›fromm‹ unterstützt, mit dem Gesine den Verführungsversuch parodiert. Insgesamt zeugen die Redebeiträge, die direkt auf Gesine zurückzuführen sind, von einer profunden Bibelkenntnis. Die Protagonistin verweist im Gespräch mit ihrer Tochter mehrfach auf Bibelstellen, indem sie diese wie im Falle von »Matthäus XVI. 26« (JT, 1733) oder »Josua 6« (JT, 833) nennt oder aber anzitiert: »›Wer sein Kind liebt‹, Marie, der … Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht.« (JT, 618) Gesine zitiert mit ihrem Teilsatz das geflügelte Bibelwort an, »[w]er sein Kind liebhat, der züchtigt es«,26 das wiederum aus Spr 13,24 abgeleitet 25 Ex 20,15. Vgl. auch Dtn 5,19. 26 Vgl. Büchmann, Geflügelte Worte, S. 39. In Heute Neunzig Jahr wird das geflügelte Bibelwort vollständig zitiert, aber nicht auf die Wassertonnengeschichte, sondern auf das Hungernlassen der Tochter bezogen: »Da hat meine Mutter mich hungern lassen. Wer aber sein Kind liebhat, der züchtiget es und errettet seine Seele von der Hölle.« (HNJ, 95; Kursivdruck im Original) Im zweiten Teil der Wendung, »und errettet seine Seele von der Hölle«, macht Paasch-Beeck eine Anspielung auf Spr 23,14 aus: »14Du haust ihn mit der Rute; aber du errettest seine Seele vom Tode«; vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 97, Anm. 75. Haker erkennt in dem Ausspruch »Parallelen zum Isaak-Opfer durch Abraham […]. Er [= Johnson; P. O.] erzählt das biblische Motiv jedoch aus der Sicht derjenigen, die geopfert werden soll,

Biblische Einzeltextreferenzen

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ist: »24Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.«27 Bereits diese Beispiele gewähren einen Einblick in die unterschiedlichen Themenkomplexe, in denen die Protagonistin auf geflügelte Bibelworte und einschlägige Stellen aus der Heiligen Schrift zurückgreift. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn sie Anita unter Verweis auf Dan 5,25–2828 als berechtigt zur Erziehung Maries im Falle ihres eigenen Todes ausweist, weil sie »seit zwanzig Jahren gewogen und für gut befunden« (JT, 1739f.) sei. An zwei weiteren Stellen rekurriert Gesine auf die Weisheit Salomos und dessen Urteil aus 1 Kön 3,16–28: Ihre Lehrerin »Freifrau von Mikolaitis« beschreibt sie als eine, die »tat salomonisch; feige war sie« (JT, 1607), wohingegen Jakob durch sein Handeln den drei Mitschülerinnen Gesine, Anita und Annette Dühr »den Salomo machte und sagte: mit so ungeduldigen Damen solle man ihn verschonen!« (JT, 1799f.) Trotz unterschiedlicher Themenkomplexe, in denen Gesine auf Worte und Erzählungen aus der Heiligen Schrift zurückgreift, eint beinahe alle biblischen Intertexte ihr ethischer Gehalt. Im Zentrum der Bezugnahmen stehen nicht die Liebe Gottes zu den Menschen, nicht Glaube und Zweifel an Gott und seinem menschgewordenen Sohn Jesus Christus, sondern die Frage nach einer ethischen Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Gesine propagiert allerdings nicht von sich aus einen christlich fundierten Humanismus. Vielmehr wird durch die biblischen Bezugnahmen vorgeblichen Christen der Spiegel ihres eigenen Handelns vorgehalten. Ex negativo werden die mit den biblischen Intertexten in den Jahrestage-Text integrierten Grundsätze christlicher Ethik in säkularisierter Form zu einem Maßstab humanistischen Handelns erhoben. Ausgehend von dieser Beobachtung soll abschließend der Blick auf den Erzähler gerichtet werden. Erschöpfen sich auch seine biblischen Bezüge auf ethische Texte zwischenmenschlichen Lebens in der Heiligen Schrift? Damit einher geht die Frage, inwieweit der Genosse Schriftsteller das auf Gesine zurückgehende Erzählte mithilfe biblischer Intertexte kommentiert und bewertet. Es ist wenig überraschend, dass sich die meisten Verweise des Erzählers auf ähnliche ethische Texte beziehen wie die Bezugnahmen Gesines, konstituiert sich die Erzählerrede doch maßgeblich aus dem Bewusstsein der Protagonistin. So und erzählt es als schwerstes moralisches Vergehen, da das Vertrauen eines Kindes in die Mutter nachhaltig verletzt wird. Daraus ist auch eine Kritik an jeglicher Opfertheologie zu entwickeln, die gerade diese Perspektive überspielt«; Haker, Moralische Identität, S. 240. 27 Spr 13,24. Paasch-Beeck weist darauf hin, dass diese Stelle mit den Erziehungsmethoden Mrs. Ferwalters korrespondiert, die Rebecca lange »nach finsteren Prinzipien des Alten Testaments« (JT, 791) erzogen habe; vgl. Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 97. 28 »25Das aber ist die Schrift, allda verzeichnet: Mene, Mene, Tekel, U-pharsin. 26Und sie bedeutet dies: Mene, das ist: Gott hat dein Königreich gezählt und vollendet. 27Tekel, das ist: man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht gefunden. 28Peres, das ist: dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.«

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

lassen sich etwa die ins Deutsche übertragenen und paraphrasierten New York Times-Meldungen im Allgemeinen auf die Hauptfigur zurückführen,29 wie im Tageseintrag vom 18. Januar 1968 die Reaktion auf die Meldung, dass »25 % der Einwohner von New York-Stadt« jüdischen Glaubens sind, sie »[ j]edoch bloß 4,5 % der 2104 höheren Angestellten in den 38 größeren Konzernen der Stadt« bilden: »Jawohl. Sprichst du vom Balken in meinem Auge, spreche ich von deinen Splittern.« (JT, 612) Der Verweis auf die Parabel in Lk 6,41,30 die eingebettet ist in die Seligpreisung Von der Stellung zum Nächsten in Jesu Feldrede, spiegelt Gesines Bewusstsein für jegliche Anzeichen von Antisemitismus und Rassismus, allgemein für jede Form der Diskriminierung, wider. Hervorgehoben wird die figurale Perspektive des Erzählens durch den unmittelbar folgenden Hinweis, wonach eine »ablehnende Haltung gegen jüdische Führungskräfte […] vor allem Banken, Versicherungen, Speditionen und Anwaltskanzleien« (JT, 612) einnehmen. Ungleich schwerer zuordnen lässt sich dagegen die Beschreibung Jerichows im Tageseintrag vom 19. Januar 1968. Der zentrale Schauplatz der Vergangenheitserzählung wird als Kleinstadt gekennzeichnet, »darin über zweitausend Leute waren, nicht gerechnet das Vieh« (JT, 613). Eingebettet in die basisfiktionale Gesprächssituation zwischen Mutter und Tochter,31 jedoch geprägt durch die Schriftlichkeit der Narration des Genossen Schriftsteller, lässt sich der Bezug auf die Stadt Ninive in Jon 4,1132 nicht eindeutig dem Bewusstsein einer der beiden Erzählerstimmen zuordnen. Ähnlich verhält es sich bei der Charakterisierung de Rosnys im Tageskapitel vom 25. April 1968: Nein, de Rosny bekam ungerecht viel, und zu leicht. Mochte er wissen, wo Gott wohnt; nicht einmal danken tat er ihm. […] de Rosny reiste durch in Chicago und wohnte nicht im Prachthotel der Stadt, sondern im Windermere, und der Konferenzsaal des Windermere sah ungewohnte Gäste, und aus fünf Firmen fern im Süden wurden zwei, und aus zwei wurde eine, und unverhofft kam New Orleans mit einem Produkt auf den Markt, das lief leicht wie ein Kind, und ein Kind hätte darauf kommen können, und ob das gemeint war in Matthäus 18? (Frage die Gideonsbrüder). (JT, 1052f.)

29 Vgl. hierzu etwa Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 253. 30 »41Was siehst du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr?« 31 So beginnt das folgende Erzählsegment in direkter Rede mit Maries Aufforderung: »– Und nun die Geschichte mit der Regentonne: sagt Marie.« (JT, 615) 32 »11Und mich sollte der grossen Stadt Ninive nicht jammern, in der über 120 000 Menschen sind, die zwischen rechts und links noch nicht unterscheiden können, dazu die Menge Vieh?« [Zürcher 1931] Luther übersetzt das hebr. ‫ בהמה‬hingegen mit ›Tiere‹ statt mit ›Vieh‹: »11Vnd Mich solt nicht jamern Nineue solcher grossen Stad / Jn welcher sind mehr denn hundert vnd zwenzig tausent Menschen / die nicht wissen vnterscheid / was recht oder linck ist / Dazu auch viel Thiere.« [Luther 1545; Hervorhebung P. O.]

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Die Kritik an der Undankbarkeit und den rücksichtslosen kapitalistischen Methoden des Vizepräsidenten der Bank, für die Gesine arbeitet, deuten eine figurale Perspektive des Erzählens an. Das den Lebensstil de Rosnys ironisierende Determinans ›Pracht‹ in »Prachthotel« spricht hingegen für den Einfluss des Genossen Schriftsteller auf die Passage. Diese Annahme lässt sich aus dem Umstand ableiten, dass das Lexem ›Pracht‹ ausschließlich in die Erzählerrede des Romans integriert ist. Überdies zeitigen die weiteren Verwendungen des Lexems, dass mit ihm auf ein Bibelwort verwiesen wird, womöglich auf Ez 31,18: »18Wie groß meinst du denn, Pharao, daß du seist mit deiner Pracht und Herrlichkeit unter den lustigen Bäumen?« Die intertextuelle Beziehung wird allerdings erst im weiteren Verlauf des Romans deutlich. In der Erzählung über Emil Knoop, der Marie im Dezember 1967 als ein Schüler in Gneez vorgestellt wird, der die Waffen seines Vaters missbraucht, um »schon 1931 seine ganze Klasse, die den ›Christlichen Pfadfindern‹ angehört hatte, in die H. J.« (JT, 445) zu bringen, wird in doppelter Hinsicht auf jene de Rosny-Szene rückverwiesen: »So sühnte dieser. Und war unschuldig, denn er lief auf freien Füßen rum; das sah doch ein Kind. Und hat ihn gesehen in Pracht über Pracht.« (JT, 1501)33 Neben der Pracht, mit der die Figur ironisiert und das angesprochene ›Sühnen‹ konterkariert wird, ist es das Kind, das durch seine Abhängigkeit von Gott zum Symbol der Nähe zu einem moralischen Verhalten wird.34 Durch die Integration des biblischen Intertextes wird in beiden Fällen die, wenn auch durchaus anders geartete, Differenz des Figurenhandelns zu einem sittlichen Verhalten betont. Als Maßstab dienen einmal mehr die in der Heiligen Schrift enthaltenen moralischen Grundsätze eines solchen sittlichen Zusammenlebens unter den Menschen. Eindeutig auf den Genossen Schriftsteller können dagegen in Klammern eingefügte Ergänzungen und Kommentare zurückgeführt werden. Ein Beispiel ist der Hinweis auf die Gideonsbrüder, mit dem über den im Mai 1899 gegründeten Gideonsbund und dessen Symbol eines leeren Krugs mit einer Fackel auf Ri 7,16 und damit auf den Sieg des Richters aus dem Stamm Manasse mit nur dreihundert Gefolgsleuten gegen das übermächtige Herr der Midianiter verwiesen wird. Beim wundersamen Sieg Gideons handelt es sich weniger um ein »militärisches Abenteuer« als vielmehr um einen »Gottesdienst eigener Art«,35 33 Wenig später wird Emil Knoops Einfluss ein weiteres Mal parodiert, indem er als jemand beschrieben wird, »dem fehlte die Macht und Herrlichkeit, seinen Freund Klaus von den Russen wegzuholen« (JT, 1571). Auch wenn die Wendung ›Macht und Herrlichkeit‹ in erster Linie in einer intertextuellen Beziehung zur Versuchung Jesu, genauer zu Lk 4,6, steht, lässt sich über die ›falsche‹ Herrlichkeit ein inhaltlicher Zusammenhang zur pharaonischen ›Pracht und Herrlichkeit‹ in Ez 31,18 herstellen. 34 Vgl. hierzu die Analyse des Verweises auf Mt 18,3 in Dritter Teil, Kap. 3.1.1, bes. Anm. 75. 35 Manfred Görg: Richter, Würzburg 1993, S. 44.

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Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

der Ausdruck des Vertrauens und der Nähe zu Gott ist. Denn nicht mit dem Schwert gewinnen Gideon und die Dreihundert die Schlacht gegen den übermächtigen Gegner, sondern durch das »Zusammenwirken von Fackellicht, Posaunenblasen, zerschlagenen Krügen und Feldgeschrei«36 während eines nächtlichen Überfalls: »Gideon und die Seinen bleiben am Rand des feindlichen Lagers stehen und sehen zu, wie die Midianiter sich auf JHWHs Veranlassung hin ohne Fremdberührung gegenseitig umbringen«.37 Neben dem Vertrauen und der Nähe zu Gott ließe sich der Verweis auf diese biblische Erzählung durch den Genossen Schriftsteller auch als Hinweis auf die Selbstzerstörung der scheinbar Mächtigen lesen, die wie de Rosny nicht im Zeichen Gottes stehen. Ein zweites Beispiel der Einklammerung einer biblischen Bezugnahme, die überdies durch Anführungszeichen als Intertext markiert ist, findet sich im Tageskapitel vom 15. August 1968. Dass es sich hierbei um einen Kommentar des Genossen Schriftsteller handelt, erscheint wahrscheinlich, aber keineswegs sicher, schließlich ist der Einschub in die Figurenrede Gesines integriert: »Denn zu diesen Zeiten, da Eckart Pingel fast von der Schule geflogen wäre (›weil er die Wahrheit gesagt hat‹), da hielt sein Vater jeden für einen Günstling des Neuen Staates, der da etwas studieren durfte, für einen Verbündeten der Obrigkeit.« (JT, 1839) Ohne die Art des Widerstandes konkret zu benennen, wird die Figur durch den Verweis auf Joh 8,40 in die Nähe der Offenbarung Jesu gerückt. Ähnlich dem Schüler Lockenvitz (vgl. JT, 1805) fügt sich auch Eckart Pingel nicht der staatlichen Obrigkeit, sondern nimmt die Auseinandersetzung mit ihr zugunsten der Wahrheit, und somit moralischer Grundsätze, auf sich. Die wenigen angeführten Beispiele biblischer Einzeltextreferenzen gewähren einen Einblick in die komplexe Verschränkung der Stimmen von Gesine und dem Genossen Schriftsteller in der Erzähler-, womöglich sogar in der Figurenrede der Jahrestage. Unabhängig davon können aus den exemplarischen Analysen folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Zunächst lässt sich festhalten, dass die Mehrzahl biblischer Einzeltextreferenzen auf die Protagonistin des Romans zurückgeht. Entweder sind sie direkter Bestandteil von Gesines Figurenrede oder können aus der Erzählerrede unmittelbar auf ihr Bewusstsein zurückgeführt werden. Dies mag wenig überraschend sein, handelt es sich doch gemäß der Basisfiktion um die Erzählung der Protagonistin an ihre Tochter, darüber hinaus um die Erzählung aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Nichtsdestotrotz erschöpft sich die Rolle des Genossen Schriftsteller nicht in der Rolle eines »Schreiber[s]«, der »jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis« macht (JT, 1474). Vielmehr hat er 36 Hans Wilhelm Hertzberg: Das Buch der Richter, in: ders.: Die Bücher Josua, Richter, Ruth, 6., unveränd. Aufl., Göttingen/Zürich 1985, S. 141–256, hier: S. 196. 37 Walter Groß: Richter, Freiburg i. Br. 2009, S. 440.

Biblische Einzeltextreferenzen

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Zugang zu all ihren Gedanken, zu ihrem Wissen, und er ist dauernd präsent, so, wenn Gesine Marie erzählt. Darüber hinaus steuert er die Kenntnisse seines Handwerks bei (Umgang mit Sprache, Recherche der Daten und Fakten). Er überschreitet durchaus den Rahmen des von Gesine möglicherweise Gewußten, aber es scheint geradezu Teil jenes Vertrages, Gesines Bewußtsein zum Zentrum des Buches zu machen und auch in den Transgressionen dessen Logik zu folgen, jedoch ohne sich der Fiktion einer sozusagen mimetischen Darstellung zu verschreiben […].38

Insofern ist es folgerichtig, dass in den Erzähltext biblische Einzeltextreferenzen aufgenommen sind, die dem Erzählen des Genossen Schriftsteller entstammen. Vor allem aber gehen die biblischen Systemreferenzen auf die Überführung der mündlichen Dialoge zwischen Mutter und Tochter in das Medium Schrift zurück. Die Vertragssituation zwischen Figur und Schreibinstanz spiegelt sich in einer strukturellen und thematischen Symbiose wider. Unter Verwendung biblischer Systemreferenzen und einer damit einhergehenden Entstehung von Reflexionsräumen durch Brechungen und Resemantisierungen unterstützt die Art des Erzählens, das Erzählte mit der komplexen Erinnerungsarbeit der Titelheldin abzubilden und zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus trägt der Genosse Schriftsteller, indem er auf syntaktische Biblizismen und Lexeme der biblischen Sprache zurückgreift, dazu bei, einen biblischen Tonfall in den Roman zu integrieren, der in der Überlieferung Gesines durch wiederholte Verweise auf Bibelworte angelegt ist. Thematisch werden über die biblischen Intertexte beinahe ausnahmslos ethische Gehalte in den Roman eingeführt. Als Kanon sittlichen Verhaltens zwischen den Menschen werden die biblischen Texte jedoch nicht qua ethischen Gebots im Text aufgerufen. Vielmehr durchlaufen sie eine ›Schule der Ambivalenz‹, indem das konkrete Handeln verschiedener Figuren kritisch reflektiert wird. Bestandteil dieser Kritik sind biblische Intertexte, anhand derer auf Grundsätze christlicher Ethik verwiesen wird. Die durch intertextuelle Beziehungen in den Text integrierten Grundsätze werden ex negativo als möglicher Maßstab für einen (säkularisierten) Humanismus akzentuiert. Mindestens ebenso bedeutsam ist der Umgang mit den biblisch-ethischen Schriften: Sie bedürfen einer fortwährenden Auslegung und Reflexion. Insofern muss die von Breuer prononcierte Aversion Gesines gegen alles Religiöse an dieser Stelle relativiert werden. Vielmehr richtet sich ihr Widerstreben gegen einen unreflektierten, obrigkeitshörigen Umgang gegenüber der Institution Kirche und der Bibel als Grundlage der christlichen Religion, wie Gesine ihn von ihrer Großmutter und vor allem von ihrer Mutter vorgelebt bekommen hat. Stattdessen zeugt der produktive Umgang mit den Texten der Heiligen Schrift von einem aufrichtigen Verhältnis zum

38 Fries, Uwe Johnsons Jahrestage, S. 53.

594

Sprachlicher Diskurs: »Feierlich nachhallend. Biblisch allemal«

Christentum, auch wenn dieses nicht durch einen Glauben an Gott gekennzeichnet ist.

7.

Fünf Thesen zur Bibelrezeption in den Jahrestagen

Am Ende seines ersten Überblicks zur Bibelrezeption in den Jahrestagen gelangt Paasch-Beeck zu dem Schluss, dass der »religiöse und theologische Diskurs in diesem Jahrhundertroman […] noch lange nicht hinreichend aufgedeckt und erschlossen«1 sei. Zwanzig Jahre später, in denen einige Studien zur Bibelrezeption von Johnsons letztem Roman veröffentlicht wurden, ist dieser Befund noch immer zutreffend. Beinahe unergründlich erscheint das Netz biblischer Intertexte, das sich durch den knapp 2.000 Seiten umfassenden Roman zieht, sodass auch im Rahmen dieser Arbeit nur ein Ausschnitt der darin enthaltenen biblischen Intertexte präsentiert werden konnte. In einer eigenen Studie zum Roman könnte der zu analysierende Bestand biblischer Bezugnahmen erweitert werden. Auch wäre es lohnenswert, den Blick verstärkt auf die biblischen Prätexte zu richten, die auf ganz unterschiedliche Weise in den Jahrestage-Text integriert sind. Weiterhin könnte und sollte der Zusammenhang zwischen biblischen Sprachformen und der Sprache des Romans näher ergründet werden. Als Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen sollen die folgenden fünf Thesen dienen, die auf den Analyseergebnissen zur Bibelrezeption in den frühen Romanen Johnsons aufbauen und mit diesen in Beziehung gesetzt werden. Erstens findet die in Johnsons frühen Romanen festgestellte sukzessive Abnahme der Bibelrezeption von Ingrid Babendererde bis zu Zwei Ansichten in den Jahrestagen keine Fortsetzung. Stattdessen lässt sich eine signifikante Zunahme biblischer Bezugnahmen für Johnsons Opus magnum konstatieren. Inwiefern diese Zäsur auf die Biografie des Autors mit seinem zweijährigen Aufenthalt in New York zurückgeführt werden kann, ist spekulativ. Es ist sicher richtig, dass sich Johnson durch das Leben in der Großstadt am Hudson-River »eine völlig neue kulturell-materielle Basis erschlossen hat«.2 Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass das Leben in New York inmitten von Freunden wie Arendt und Helen Wolff, die vor den nationalsozialistischen Verbrechen aus Deutschland 1 Paasch-Beeck, Bißchen viel Kirche, S. 114. 2 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 187.

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emigrieren mussten, das Bewusstsein des Mecklenburgers für die ›deutsche Schuld‹ geschärft haben dürften. Ihren Ausdruck finden diese Erfahrungen im Sinne einer »thematischen Expansion«3 auch im Bereich der Bibelrezeption mit der Integration des jüdischen Festkreises als Kennzeichen jüdischen Lebens auf der New Yorker Gegenwartsebene. Vor allem aber lässt sich der umfangreiche Einsatz biblischer Intertexte auf poetologische und thematische Überlegungen zurückführen. Die im Vergleich der frühen Romane festgestellte zunehmende Distanz zwischen Erzähler und Hauptfiguren findet sich in den Jahrestagen nicht wieder. Ganz im Gegenteil gehen die Erzählinstanzen Gesine Cresspahl und der Genosse Schriftsteller einen Erzählpakt ein, setzen das Erinnerungsprojekt synergetisch um und überlagern sich in einer doppelten Erzählerstimme. Auch ist eine Vielzahl von Figuren im Roman ausgesprochen ausdifferenziert gezeichnet. Exemplarisch hierfür steht die Ausgestaltung eines komplexen religiösen Diskurses, in dem beinahe alle zentralen Figuren hinsichtlich ihrer konfessionellen Bindung charakterisiert werden. Dieser Umstand deutet darüber hinaus auf ein thematisches Interesse der Hauptfigur, die das Erzählprojekt maßgeblich initiiert, am Komplex ›Kirche und Religion‹ hin. Zweitens geht die signifikante Zunahme an Bibelrezeption mit einer Formenvielfalt biblischer Intertexte einher. Die biblischen Bezugnahmen in den Jahrestagen sind nicht wie in den frühen Romanen überwiegend nahtlos in den Erzähltext integrierte Anspielungen, sondern weisen vielfältige Formen auf. Es werden Bibelstellen angeführt, ohne diese zu zitieren oder zu paraphrasieren,4 es stehen markierte neben unmarkierten direkt zitierten Bibelworten,5 markierte und unmarkierte Anspielungen auf Bibelstellen6 neben biblischen Systemrefe3 Ebd., S. 188. 4 Vgl. etwa JT, 239: »(siehe den Stammbaum Jesu im Buch Lukas)«; JT, 571: »Das amtliche Schreiben wurde bei Cresspahls abgegeben an dem Tag, für den der Mecklenburgische Christliche Hauskalender aus Paulus Briefen an die Römer Vers 1 bis 5 des 5. Kapitels zur Beherzigung empfahl«; JT, 1619: »Anita legte bei Brüshavers wie nebenbei einen silbernen Serviettenring auf den Tisch, darin war eingraviert 5MO4.40 – A.B.«; JT, 1733: »Matthäus XVI. 26. Ja, Schiet!« 5 Vgl. u. a. JT, 187: »Die Bibel verfügt das Fest im 3. Buch Mose, Levitikus XXIII, 43: ›damit eure Nachkommen erfahren, daß ich die Israeliten in Hütten habe wohnen lassen, als ich sie aus dem Lande Ägypten herausführte (ich, der Herr, euer Gott)‹«; JT, 512: »Aber sagte die Bibel nicht auch: die Männer sollen ›kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden‹? Galater 5, 24.« – JT, 805: »Aber Brüshaver hatte dem Staat zuviel zugemutet mit Daniels Bußgebet am Tag vor Lisbeths Beerdigung«; JT, 1695: »(– Du sollst dem Ochsen, der da drischt …: gestand er, aber nur innerhalb seiner Arbeitsgemeinschaft.)« 6 Vgl. u. a. JT, 646: »Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel. […] Gewiß hatte Samson den Tempel nicht nur über den vornehmen Philistern eingerissen, sondern auch über sich. Abimelech hatte seinen eigenen Tod besorgt, damit er der Schande entging, von einer Frau getötet worden zu sein. Ahithophel und Judas hatten sich erhängt«; JT, 1805: »mit solchen Worten, wie die Bibel sie anbietet für das Verjagen von Unwürdigen« – JT, 1570: »Er fragte, wo denn Emils Macht und Herrlichkeit einmal aufhöre«; JT, 1705: »Gezählt, gewogen und hinweggetan«.

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renzen.7 Darüber hinaus finden sich sekundär vermittelte biblische Intertexte wie der Hinweis auf die liturgische Ordnung des Ssedermahls mit den vier Fragen und den vier Bechern Wein (vgl. JT, 981) oder die nicht in die Analyse eingegangene Thematisierung des tschechoslowakischen Films …a pátý jezdec je Strach (The Fifth Horseman Is Fear) mit seinen Anspielungen auf die apokalyptische Offenbarung des Johannes (vgl. JT, 1135, 1168, 1178f.). Die hohe Frequenz zitierter und darüber hinaus markierter biblischer Intertexte bringt einen hohen Grad an Referentialität mit sich. Biblische Intertexte werden häufig nicht nur durch vereinzelte Signalvokabeln aufgerufen, sondern im Roman thematisiert. Ganze Passagen sind von biblischen Intertexten geprägt,8 mehrfach dienen sie als Motto für ein Tageskapitel.9 Das Resultat ist drittens ein Netz von biblischen Intertexten, das den gesamten Roman durchzieht und verschiedene (Teil-)Diskurse eröffnet, vor allem aber den mnemologischen Rahmendiskurs des Romans um Aspekte wie die Mitschuld der Kirchen an den Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland erweitert. Doch selbst der mnemologische Rahmendiskurs ist maßgeblich durch die sekundären biblischen Intertexte des evangelischen Kirchenjahres und des jüdischen Festkalenders geprägt. Über den für Gesines Mutter so bedeutsamen Reformationstag wird das familiäre Schicksal der Cresspahls angedeutet. Das Weihnachtskapitel dient der Initiation der Aufarbeitung des Muttertraumas durch Gesine, das u. a. mit der mémoire involontaire eines persönlich negativ besetzten Weihnachtsfestes verknüpft ist. Schließlich findet das Trauma der ›deutschen Schuld‹ im Karfreitagskapitel am 12. April 1968 seinen Kulminationspunkt. Nicht nur bildet es den Abschluss des in den Roman integrierten jüdischen Festkreises, in ihm wird die abstrakt-kollektive Schuld an der Shoah in konkret-familiäre Schuld überführt. Einer generalisierenden Schulderklärung, wie sie die Stuttgarter Erklärung der EKD anbietet, wird somit – nicht nur durch Pastor Brüshaver – eine Absage erteilt.10 Neben den makrostrukturellen kalendarischen Korrespondenzen werden die biblischen Diskurse in den Jahrestagen insbesondere durch thematische Korrespondenzen strukturiert. Hierzu werden einerseits verschiedene biblische Intertexte wie bei Lisbeths Schuldabrechnung im Tageseintrag vom 25. Dezember 1967 miteinander in Beziehung gesetzt, indem sie über einen gemeinsamen Themenkomplex in den Erzähltext integriert sind. Andererseits werden Diskurse wie der ethische im Roman über das Wiederaufgreifen miteinander in Beziehung stehender biblischer Prätexte konsti7 Vgl. Dritter Teil, Kap. 5.1. 8 Vgl. etwa JT, 604f., 760, 763, 1178f. 9 Vgl. die Tageseinträge des jüdischen Festkreises wie das Purim-Kapitel am 13. März 1968 oder das Tageskapitel vom 5. August 1968, in dem das Schicksal von Gesines Mitschüler Dieter Lockenvitz erzählt wird. 10 Vgl. JT, 1357. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 3.2.

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tuiert, die über Kapitel- und Bandgrenzen hinweg in unterschiedlichen Erzählkontexten aufgerufen werden. Beide Formen sind Bestandteil eines von Mecklenburg als zentral ausgemachten mikrostrukturellen Formprinzips, das er in den Jahrestagen »virtuos ausgebildet«11 sieht – des topischen Erzählens. Indem verschiedene »Aspekte und Umstände, die zu einem Sachverhalt gehören, Punkt für Punkt« durchexerziert werden, entsteht eine Erzählung, die den Charakter einer »Untersuchung«, einer polyperspektivischen Reflexion einnimmt.12 Zu dieser Form reflexiven Erzählens tragen viertens biblische Sprachformen bei, mit denen wie schon in Johnsons frühen Romanen scheinbare Kausalitäten aufgebrochen und Räume kritischen Hinterfragens geöffnet werden. Die exemplarische Analyse des sprachlichen Diskurses in den Jahrestagen hat einen Eindruck davon vermitteln können, dass insbesondere die Kritik an der Funktionalisierung von (biblischer) Sprache, die in Ingrid Babendererde, den Mutmassungen über Jakob und in Das dritte Buch über Achim einen breiten Raum einnimmt, in Johnsons letztem Roman an Gewicht verliert. Im Zentrum der Jahrestage steht nicht mehr die kritische Haltung gegenüber ›gegenwärtigen‹ politischen Zuständen, sondern die Aufarbeitung einer Vergangenheit, konkret der deutschen Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 mit ihrer grenzenlosen politischen und individuellen Inhumanität. Dieser a priori politisch-ethische Hintergrund des Erzählens wird um eine Dimension erweitert, indem die kritische Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrem Verhältnis zur Institution Kirche und zur christlichen Religion als ethische-moralischer Überlieferungs›institution‹ in der Sprache des Romans abgebildet wird. Die sukzessive Überwindung ihrer Aversion gegen alles Religiöse drückt sich in einer Zunahme biblischer Sprachformen und damit in der Intensivierung eines biblischen Tonfalls aus. Die Anlage der Erzählung als Erinnerungsprojekt führt fünftens eine veränderte Form der politischen Kommunikation im Vergleich zu den frühen Romanen Johnsons mit sich. Zwar sind mnemologische Diskurse bereits in den Mutmassungen über Jakob und vor allem in Das dritte Buch über Achim angelegt, sie bestimmen das Erzählen aber nicht in dem Maße wie in den Jahrestagen. Entsprechend ändert sich die Blickrichtung von der Gegenwart auf die Vergangenheit in den frühen Romanen hin zu einem Blick, der seinen Ausgang in der deutschen Vergangenheit nimmt. Das New York der erzählerischen Gegenwart dient als ein »Resonanzraum, in dem Erinnerungen an die vergangene Zeit in Mecklenburg diskontinuierlich aufleuchten, bzw. bewußt rekonstruiert werden

11 Mecklenburg, Erzählkunst Uwe Johnsons, S. 281. 12 Ebd., S. 282.

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können«.13 Innerhalb dieses Resonanzraumes werden die Ergebnisse der Aufarbeitung auf die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Zustände in den USA und im geteilten Deutschland übertragen. Der Fokus liegt auf der Frage nach einer ethischen Grundlage sittlichen Lebens nach dem Zivilisationsbruch im nationalsozialistischen Deutschland. Hofmann konstatiert, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus »nicht zu eindeutigen politischen und moralischen Handlungsmaximen« führe und der moralische Wert im »Wissen um Aporien« menschlichen Handelns liege.14 Gegen eine solche rein deskriptive Ethik spricht die Rigorosität, mit der die Protagonistin ihre persönlichen Entscheidungen von den politischen Umständen abhängig macht, auf der Suche nach der »moralische[n] Schweiz, in die wir emigrieren könnten« (JT, 381). Eine zunehmende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang einem christlich fundierten Humanismus zu, der im Roman durch die Integration von Bibelworten mit überwiegend ethischem Gehalt ex negativo aufgerufen wird. Dass es sich bei einem solchen Humanismus mitnichten um eine normative Ethik handelt, führt der Umgang mit biblischen Intertexten im Roman vor. Stattdessen wird an den Bibelworten eine ethische Praxis des Auslegens und Reflektierens exponiert. Im Vergleich mit den frühen Romanen lassen sich für die Bibelrezeption in den Jahrestagen somit vor allem formale Unterschiede feststellen. Thematisch finden sich in Johnsons letztem Roman trotz einer enormen inhaltlichen Expansion viele Kontinuitäten. Ob die ›deutsche Schuld‹, der kirchliche Umgang mit Suizidenten oder das Verhalten gegenüber der (weltlichen) Obrigkeit, alle diese (Teil-)Diskurse werden bereits in Ingrid Babendererde, in den Mutmassungen über Jakob oder Das dritte Buch über Achim mittels biblischer Bezugnahmen aufgerufen. In den Jahrestagen werden sie in ihrer Ausführlichkeit und Komplexität entscheidend erweitert und bilden zentrale Elemente des Erinnerungsprojektes von Gesine Cresspahl.

13 Krellner, »Was ich im Gedächtnis ertrage«, S. 225. Vgl. auch Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 84. 14 Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 84.

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Mit der vorliegenden Untersuchung zur Bibelrezeption in den Romanen Johnsons konnte gezeigt werden, dass die Forderung Kuschels, die Werke des Mecklenburger Autors »unter theologisch-ethischem Aspekt neu zu lesen«,1 einer den Texten immanenten Poetik folgt. Trotz formaler Unterschiede zwischen den Jahrestagen und den frühen Romanen Johnsons konnten erhebliche inhaltliche und funktionale Gemeinsamkeiten ermittelt werden. Insbesondere eine durch biblische Bezugnahmen konstituierte ethische Grundhaltung im Erzählen kommt einem Kontinuum in Johnsons Werk gleich und korrespondiert mit der hinter Kuschels Forderung stehenden Annahme eines Zusammenhangs von Bibelrezeption und Ethik. Am Ende von sechs Einzeluntersuchungen – zu den fünf Romanen Johnsons und der Parabel Jonas zum Beispiel – soll abschließend jener ›ethische Code‹ in Johnsons Werken in einen systematischen Zusammenhang gestellt werden: Was für eine ethische Grundhaltung wird durch den Einsatz biblischer Intertexte begründet? Was macht den Rückgriff auf die Heilige Schrift besonders bzw. was bewirken biblische Intertexte innerhalb der Texte, was durch den Verzicht auf sie fehlen würde? Es ist nicht das erste Mal, dass Johnsons Werke in Beziehung zu Konzepten narrativer Ethik gestellt werden. Vor allem Riordan hat ausgehend von den Jahrestagen einen »code of narrative ethics«2 in den Romanen Johnsons ausgemacht, der die Entwicklung der narrativen Techniken in dessen Schreiben begründe. Den Ausgangspunkt dieses Codes bilde eine »moral category«,3 die Johnson im Aufsatz Berliner Stadtbahn (veraltet) zu seinem poetologischen Prinzip erklärte: die »Wahrheitsfindung« (BS, 11). In der literarischen Umsetzung dieses Axioms erkennt Johnson konzeptionelle Probleme und leitet daraus die Konsequenz ab, dass die »Manieren der Allwissenheit« eines Erzählers verdächtig seien: 1 Ein Autor verfasst eine Leseliste, Anm. 50. 2 Riordan, Ethics of Narration, S. 3. 3 Ebd., S. 6.

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Der Verfasser sollte zugeben, daß er erfunden hat, was er vorbringt, er sollte nicht verschweigen, daß seine Informationen lückenhaft sind und ungenau. Denn er verlangt Geld für was er anbietet. Dies eingestehen kann er, indem er etwa die schwierige Suche nach der Wahrheit ausdrücklich vorführt, indem er seine Auffassung des Geschehens mit der seiner Person vergleicht und relativiert, indem er ausläßt, was er nicht wissen kann, indem er nicht für reine Kunst ausgibt, was noch eine Art der Wahrheitsfindung ist. Gewiß entstehen dabei Gesten, deren epischer Charakter umstritten ist, aber wenn zum Beispiel mit den erzählten Vorfällen wirksam verbunden ein ideologisches System vorkommt, so scheint dessen Diskussion auch eine Weise davon zu erzählen und nicht die am meisten unhandliche. (BU, 20f.)

Johnsons Umgang mit diesen konzeptionellen Problemen der Wahrheitsfindung hat Riordan werkübergreifend aufgearbeitet. An den Mutmassungen über Jakob lasse sich zeigen, dass das Problem nicht darin bestehe, die Wahrheit als solche herauszufinden, weil die Realisierung eines solchen Anspruchs unmöglich sei.4 Vielmehr erwachsen aus dem Prinzip der Wahrheitsfindung narrative Konsequenzen für den Erzähler: The evident distrust of fictional Wahrheitsfindung’s ability to elucidate consequential chains means, in effect, that the relationships between the fictional values represented in Mutmaßungen über Jakob must, like the dissected taxi which Gesine observes, be accepted on trust rather than by reference to a causal framework. But reliance on ›Treuherzigkeit‹ in this way would represent at best a dead end, and at worst a descent into pious sentimentality. Both those results may be avoided by tackling the means available to fiction itself, the way in which the sense-impressions produced in the reader come into being.5

In Das dritte Buch über Achim, so Riordan weiter, werde das Prinzip der Wahrheitsfindung an den Komplex der Grenze und der damit einhergehenden »linguistic divergence between the two Germanies«6 sowie an den Prozess des Erinnerns gekoppelt. Aus dem ethischen Anspruch eines integren, der Wahrheit annähernden Erzählens ergebe sich ein Dilemma für die Stellung des Erzählers zum Erzählten: if the narrator is to be non-omniscient and so display the search for truth, he must have defined limits to his knowledge. If his knowledge is to be limited, he must be dramatized as a character. Yet dramatization of the narrator severely limits the range of perspectives. And if the search is to be ›ausdrücklich vorgeführt‹, then the narrator must be seen to be a fictional narrator engaged in the process of presenting his material.7

4 5 6 7

Vgl. ebd., S. 20: »truth, as such, cannot be a recognizable object«. Ebd.; Kursivdruck im Original. Ebd., S. 30. Ebd., S. 48.

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Diese Schwierigkeiten berücksichtigend, habe Johnson in den Jahrestagen mit dem Genossen Schriftsteller, Marie und den Stimmen der Toten gleich mehrere »internal safeguards«8 installiert. So zeige sich in den Gesprächen zwischen Gesine und ihrer Tochter »the ever-present problem of validity, of constantly testing the story’s mettle, a problem which underlies the development of Johnsonian narrative technique from beginning to end«.9 In der Mutter-TochterBeziehung erkennt Riordan ein Vorbild für das Verhältnis zwischen Autor und Leser: The truth of a text lies in a contract between writer and reader, a contract which the reader may accept or declare invalid […]. The interaction between Marie and Gesine in this case provides an illustration of how such a contract might be successfully negotiated, yet can dispense no regulatory advice, precisely because the truth lies in the domain of the particular recipient.10

Der Kern von Riordans Studie besteht darin, die ethische Implikation hinter Johnsons Erzählen herausgestellt zu haben. Das Prinzip der Wahrheitsfindung gewährleistet ein Erzählen, das sich mit dem Attribut ›aufrichtig‹ übersetzen lässt.11 Mittel dieser Aufrichtigkeit sind neben der Polyphonie und Polyperspektivität die fortwährende Reflexion des Erzählten sowie des Erzählens. Entsprechend konstatiert Helbig in seiner Rezension zu Riordans Studie, »daß das Problem der Wahrheit letztlich eines des Erzählens ist, nur mittelbar eines der Sprache«.12 Aufgegriffen wurden Riordans Überlegungen in Hakers Analyse der Jahrestage. Johnsons letzter Roman dient im Rahmen ihrer Untersuchung zur Moralischen Identität als Beispiel für einen literarischen Text, der als Medium ethischer Reflexion fungiert. Eine Weiterführung zu Riordan stellt Hakers Studie insofern dar, als sie zwei Formen narrativer Ethik unterscheidet: zum einen auf der Ebene des Textes selbst, in dem die ethische Perspektive zur Anfrage an die Identität der dargestellten Person wird, die auf die Existenz des Lesers zurückverweist (Literatur als Medium der ethischen Reflexion); zum anderen auf der Ebene der theoretischen ethischen Reflexion, die die Kontexte der ethischen Orientierung

8 9 10 11

Ebd., S. 219. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171f. Vgl. ebd., S. 6: »The writer has an obligation of honesty: ›der Verfasser sollte zugeben‹, ›er sollte nicht verschweigen‹. He has a duty to expose the truth, while at the same time admitting his own inadequacies and limitations.« 12 Holger Helbig: »Du lüchst so schön«. Zu: Colin Riordan, The Ethics of Narration. Uwe Johnson’s Novels from »Ingrid Babendererde« to »Jahrestage«, in: Johnson-Jahrbuch 1, 1994, S. 261–268, hier: S. 268.

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aufnimmt und auf Ihre normativen Gehalte hin überprüft (Literatur als Medium für die ethische Reflexion).13

Demnach werde das poetologische Konzept der Wahrheitsfindung in den Jahrestagen, in denen es an Marie als implizitem Leser vorgeführt wird, um die Präsentation einer ethischen Reflexion der (eigenen) Vergangenheit ergänzt. Eingebettet in die jeweiligen zeithistorischen Kontexte der beiden Erzählebenen stehe für Gesine die ethische Frage nach der »Balance von persönlicher Integrität und politischer Verstrickung«14 im Vordergrund. Die Beobachtungen Riordans und Hakers, wonach für Johnsons Schreiben das ethische Prinzip der Wahrheitsfindung konstitutiv sei und sich diese Form narrativer Ethik zumindest in den Jahrestagen um die erzählerische Reflexion moralischer Normen ergänzen lasse, helfen dabei, den ›ethischen Code‹ der biblischen Intertexte in Johnsons Romanen zu entschlüsseln. Hierzu werden im nächsten Schritt die Ergebnisse der einzelnen Teile und Kapitel rekapituliert. Ausgehend von der Frage, warum Johnson auf einer Leseliste für Schüler einer neunten Klasse an erster Stelle die Bibel platzierte, erfolgte zunächst ein biografischer Abriss, der sich auf die religiöse Sozialisation des Autors konzentrierte. Nach der christlichen Sozialisation in der Kindheit und frühen Jugend, die sich vor allem auf den Einfluss der Großmutter Berta Sträde, aber auch auf die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Jugendgruppe und den Kontakt mit religiösen Freunden zurückführen lässt, ging Johnson noch zu Schulzeiten allmählich auf Distanz zur evangelischen Kirche. Sowohl in den Gesprächen mit Schwarz als auch in seinen Frankfurter Vorlesungen begründete er seine Haltung mit den im Zweiten Weltkrieg gemachten Erfahrungen. Diese retrospektiven Selbstaussagen decken sich aber nur bedingt mit denen von Güstrower Weggefährten, sodass bis heute unklar ist, inwieweit der Tod der Großmutter im Juni 1948 oder die intensive Auseinandersetzung mit religiösen Fragen während des Konfirmationsunterrichts zu dieser Distanz beigetragen haben. Nachdem Johnson nach Westberlin übergesiedelt war, erklärte er seinen Austritt aus der evangelischen Kirche.

13 Haker, Moralische Identität, S. 163; Kursivdruck im Original. Auch Böhm, Kley und Schönleben identifizieren in ihrer Einführung in die Anthologie Ethik – Anerkennung – Gerechtigkeit sowohl die »literarische[n] Narrationen ethischer Problemstellungen als auch die ethischen Implikationen narrativer Verfahren und ästhetischer Konzepte für Lektüre-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen« als die beiden Verfahren narrativer Ethik; Böhm/ Kley/Schönleben, Einleitung, S. 23. Karen Joisten macht neben diesen beiden mit der narrativen Dimension des Ethischen noch eine dritte Lesart narrativer Ethik aus; vgl. Karen Joisten: Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik. Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen, in: dies. (Hg.): Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007, S. 9–21, hier: S. 10f. 14 Haker, Moralische Identität, S. 231.

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Ungeachtet dessen lässt sich an den nicht-literarischen Schriften Johnsons, vor allem aber seinen literarischen Werken eine lebenslange und intensive Beschäftigung mit theologischen Fragestellungen nachweisen. Diese kreisen insbesondere um die Rolle der Institution Kirche vor dem Hintergrund der politischen Vergangenheit und Gegenwart Johnsons. Die durchaus als kirchenkritisch zu bezeichnende Haltung bewahrte sich der mecklenburgische Autor bis an sein Lebensende. Insofern findet sich das von Jan-Heiner Tück hergeleitete dreistufige biografische Muster von Autoren, die sich mit religiösen Fragen auseinandersetzen und in ihrem Schreiben auf die Heilige Schrift zurückgreifen, bei Johnson nur in abgewandelter Form wieder. Der »beherzte Einspruch gegen Doppelmoral und Unglaubwürdigkeit der offiziellen Repräsentanten von Kirche«15 beschränkt sich bei Johnson nicht auf die Jugendjahre und das frühe Erwachsenenalter. Auch weicht der Einspruch nicht »einem erneuten Interesse an Fragen der Religion«16 in späteren Jahren. In allen Romanen gehen das Interesse an religiösen und theologischen Fragestellungen sowie der Rückgriff auf biblische Erzählungen und Sprachformen Hand in Hand mit einer bisweilen unverhohlenen Kritik an der Institution Kirche und ihren Würdenträgern. Eingebettet ist die Bibelrezeption des Autors Johnson von Beginn an in größere politische Zusammenhänge. In der Parabel Jonas zum Beispiel dient die biblische Erzählung vom Propheten Jona als Vorlage für eine zeithistorische Problematisierung des auf Luther zurückgehenden protestantischen Verständnisses vom Verhalten gegenüber der staatlichen Obrigkeit. Ihren Ausgang nimmt die literarische Reflexion in der politischen Situation der DDR gegen Ende der 1950er Jahre. Der zeithistorische Kontext wird durch sprachliche Durchbrechungen der biblischen Vorlage in den Erzähltext integriert. Durch die Spannung zwischen biblischer Vorlage und punktuellen Modifikationen wird ein sprachlich-ästhetischer Reflexionsprozess erzeugt. Die Sprache des Erzählers erscheint dabei in auffälligem Kontrast zum unaufrichtigen und doktrinären Sprechen Jehovas, der in Johnsons Parabel die staatliche Obrigkeit repräsentiert. Schaffricks These, es handle sich bei dieser Erzählersprache um einen prophetischen Sound, der das Bindeglied zu Johnsons späteren Texten darstelle, diente als Ausgang für die sich anschließenden Untersuchungen zum sprachlichen Diskurs 15 Jan-Heiner Tück: Einleitung, in: ders./Tobias Mayer (Hg.): Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg i. Br. 2017, S. 9–24, hier: S. 12. Diese beiden Stufen, das »jugendliche Aufbegehren gegen veräußerlichte Formen der Religion« und das neuerliche Interesse in späteren Jahren, sieht Tück um eine frühe, erste Stufe ergänzt: »Am Anfang steht die Initiation in die Welt des Glaubens. Die biblischen Geschichten, die von Leben und Tod, von Freundschaft und Verrat, von Schuld und Erlösung handeln, werden mündlich weitergegeben, neugierig aufgesogen und im Gedächtnis bewahrt. Über das Nachund Mitbeten der Psalmen und Gebete, das Mitfeiern der Liturgie erfolgt die religiöse Alphabetisierung in der Kindheit«; ebd., S. 11f. 16 Ebd., S. 12.

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in den Romanen des Mecklenburger Autors: In welchem Verhältnis stehen dieser prophetische Sound und ein wiederholt mit Johnsons Texten in Verbindung gebrachter biblischer Tonfall? Welche sprachlichen Phänomene machen einen solchen Sound bzw. Tonfall aus? Daneben findet sich mit der Frage nach den Möglichkeiten, sich gegenüber einer autokratischen Obrigkeit zu verhalten, ein politisch-kirchengeschichtlicher Komplex in der Parabel, der wiederholt in Johnsons Romanen aufgegriffen wird. Bereits wenige Jahre zuvor, im zwischen 1953 und 1957 entstandenen Roman Ingrid Babendererde, werden die Möglichkeiten des Verhaltens gegenüber der Obrigkeit an den drei Freunden Jürgen, Ingrid und Klaus durchgespielt. Den Anlass bietet wiederum ein konkreter zeithistorischer Kontext, das staatliche Vorgehen gegen die Junge Gemeinde im Frühjahr 1953. Als Reaktion auf diese über sie hereinbrechende Repression verhandeln die drei Freunde untereinander, mit Lehrern und Vertretern des Staates und der Partei das Verhältnis von Persönlichkeitsrechten und Staatsräson. Im Rahmen dieser Kontroverse werden die Mittel kritisiert, mit denen die ideologische Ausrichtung des jungen Arbeiterund Bauernstaates auf alle Lebensbereiche seiner Bürger übertragen werden soll. Mit dem Ziel, das historische Selbstverständnis und die doktrinäre Sprachverwendung – die funktionalisierende Entfremdung biblischer Sprachformen, mit der die politischen Entscheidungsträger sich und die sozialistische Doktrin zu einer Art Religionsersatz stilisieren – zu parodieren und zu persiflieren, greifen der Erzähler und die drei Protagonisten wiederholt auf gezielte Bibelworte und biblische Sprachformen zurück. Innerhalb des Romantextes erzeugen diese Bezugnahmen auf die Heilige Schrift einen parodistischen Bibelton. Dieser Bibelton wird um eine zweite Form biblischer Intertexte ergänzt. Der Erzähler und die Figuren begegnen der politisch-ideologischen Vereinnahmung aller Lebensbereiche, indem sie ihrerseits auf die Heilige Schrift zurückgreifen. Klaus, Ingrid und Jürgen bedienen sich Formen uneigentlicher Rede. In ihre Parabeln integrieren sie verschiedene Bezugnahmen auf die Heilige Schrift, um Kritik zu verstärken und zu generalisieren. Der Erzähler reagiert auf die homophone doktrinäre Sprache der Staatsvertreter mit einer polyphonen Kunstsprache, deren fester Bestandteil biblische Sprachformen sind. Indem semantische und kausale Engführungen und deren machtdiskursive Auswirkungen sukzessive aufgebrochen werden, öffnen sich neue Perspektiven auf das Dargestellte. Die biblischen Intertexte in Johnsons Erstling konstituieren die von Haker beschriebene doppelte Form narrativer Ethik. Einerseits basiert die Kritik an der staatlichen Absicht, alle Lebensbereiche der Bürger ideologisch zu kontrollieren – und sei es durch rigide Maßnahmen wie gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde und weitere Schüler der Gustav-Adolf-Oberschule –, auf einer ethischen Reflexion über das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Im Roman ist diese Reflexion die Folge eines moralischen Konflikts, in den die drei Freunde

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durch das staatlich organisierte Vorgehen gegen ihre christlichen Mitschüler geraten, und wird im Privaten wie in der Öffentlichkeit verschiedentlich vorgeführt. Die Figuren (re-)präsentieren unter Rückgriff auf biblische Intertexte alternative Sichtweisen zur Linie der Staats- und Parteiführung. Andererseits verweist die geübte Kritik am funktionalisierenden Sprachgebrauch auf das Erzählen im Roman, genau genommen auf den Sprachgebrauch des Erzählers. Die polyphone Kunstsprache der Erzählerinstanz konstituiert ein Erzählen, in dem Pausen geschaffen und Räume geöffnet werden, um dem Leser seinerseits ein reflexives Nachdenken über die im Roman verhandelten Sachverhalte zu ermöglichen. Trotz der Einbettung in einen politisch-religiösen Rahmendiskurs, der Repression gegen die Junge Gemeinde, bildet der religiöse Kontext in Ingrid Babendererde lediglich die Kulisse, vor der politisch-ethische Themen verhandelt werden. Die biblischen Intertexte werden in diesen Rahmen eingefügt, sodass im Roman keine Tendenzen der Sakralisierung oder Säkularisierung erkennbar sind. Vielmehr bleiben religiöse Fragen vor dem politischen Hintergrund bewusst ausgespart. Der Aspekt der Sensibilisierung für unterschiedliche Perspektiven wird in Johnsons zweitem Roman noch stärker hervorgehoben. Erneut bildet ein staatlicher Eingriff in das Privatleben von diesmal fünf Figuren den Ausgangspunkt des Geschehens, das im Tod des Protagonisten Jakob Abs endet. Anhand von Jakob und seiner Mutter, Gesine Cresspahl und ihrem Vater sowie dem Intellektuellen Jonas Blach werden fünf Reaktionen auf den Eingriff nachgezeichnet, der vom Stasi-Hauptmann Rohlfs ausgeht. Die Gegenüberstellung der Reaktionen und die Gespräche über die jeweiligen Entscheidungen der Figuren verdeutlichen, dass die Bewertung ethischer Fragestellungen von der jeweiligen Perspektive und damit einhergehend von der Darstellung der Situation abhängt. Der Entschluss für einen dieser Wege wird im Roman bewusst offen gelassen. Adornos Diktum scheint in eine Frage umgewandelt zu sein: Gibt es ein (subjektiv) richtiges Leben im Falschen? Zur zentralen Kategorie im Roman avanciert der Begriff der Freiheit, ohne dass bestimmt wird, wie Freiheit konkret definiert und gewährleistet werden könne. Mithilfe biblischer Intertexte werden die Figuren auf unterschiedliche Weise inszeniert, was ihre bereits konzeptionell angelegte Typisierung verstärkt. In diesem Zusammenhang sind die referenziellen Folien hervorzuheben, die Johnson über die Auswahl der Figurennamen des Reichsbahndispatchers Jakob und des Wissenschaftlers Jonas in den Roman integriert. Aber auch die Charakterisierung Cresspahls als eines heiligen, autonomen Patriarchen und von Frau Abs als einer gläubigen Christin tragen zur Typisierung bei. Die Bezugnahmen auf die Heilige Schrift ermöglichen eine Reflexion der ethischen Frage nach einem guten und richtigen Leben, indem die verstärkte Typisierung zur

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Generalisierung der Perspektiven führt. Im Gegensatz zu Johnsons erstem Roman ist diese Reflexion über die Gegenwartsebene hinaus auch auf die Vergangenheit gerichtet. Innerhalb eines mnemologischen Diskurses dienen Verweise auf das Hohelied als Kontrastfolie zu einer in Ansätzen angedeuteten Aufarbeitung der ›deutschen Schuld‹ durch Gesine. Wie schon in Ingrid Babendererde werden die Formen narrativer Ethik, die Reflexion über Fragen der Freiheit und das Erinnern an die schuldbeladene Vergangenheit, um eine ethische Reflexion zweiten Typs ergänzt. Unterstützung erfährt eine narrativ vermittelte Ethik durch die Integration des Stasi-Hauptmanns als einer mit eigener Stimme zu Wort kommenden Figur. Die Inszenierung von Rohlfs als Stellvertreter einer gottgleich schaltenden Allmacht im ostdeutschen Staat wird vorwiegend über dessen Sprechen transportiert und durch den Erzähler mithilfe biblischer Intertexte als demagogisch entlarvt. Durch den in den Roman aufgenommenen kirchengeschichtlichen Diskurs, der sich über Anspielungen auf das Dogma der Infallibilität und Luthers Zwei-RegimenteLehre generiert, wird die spezifische zeithistorische Kritik am ostdeutschen Stalinismus auf autokratische (Macht-)Strukturen erweitert und verallgemeinert. Der Erzähler macht es sich dabei zur Aufgabe, die machtdiskursiven Strukturen, die sich etwa im funktionalisierenden Gebrauch von Sprache durch Rohlfs niederschlagen, aufzudecken und hierdurch Raum für neue Perspektiven zu schaffen, in dem Neubewertungen und Umwertungen vorgenommen werden können. In Das dritte Buch über Achim sind die Protagonisten keine Schüler, Arbeiter oder Intellektuelle, sondern sogenannte Aushängeschilder des ostdeutschen Staates. Daneben fungiert ein westdeutscher Journalist als Reflektorfigur. Thematisch steht erneut das Verhalten gegenüber der staatlichen Obrigkeit im Zentrum eines Romans von Johnson. Sowohl der Radrennfahrer Achim als auch die Schauspielerin Karin werden ideologisch in Beschlag genommen, reagieren aber auf unterschiedliche Weise auf die politische Vereinnahmung. Während sich Achim als ›Prophet des Sozialismus‹ stilisieren lässt, was der nichtdiegetische Erzähler und Karsch durch biblische Bezugnahmen ironisch kommentieren, emanzipiert sich Karin auf der Grundlage christlich fundierter moralischer Wertvorstellungen von der ihr angetragenen politischen Rolle. Die gezielt in den Roman integrierten biblischen Intertexte dienen dazu, die politischen Funktionalisierungen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze, aber auch die Unterschiede beider politischen Systeme sichtbar werden zu lassen. Am Beispiel der auf Lk 2,14 zurückgehenden kirchlichen Wendung der ›Menschen guten Willens‹ führen Erzähler und Figuren die potentielle Macht des ostdeutschen Staates vor. Durch den doktrinären Einsatz von Sprache wird das Sprechen eines jeden Einzelnen so beeinflusst, dass Sprechweisen und Inhalte reguliert werden. Die

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Folge ist eine Grenze, die sich nicht nur geografisch, sondern auch auf die scheinbar selbe Sprache und die Köpfe der Menschen erstreckt. Durch den für Karin handlungsleitenden christlich fundierten Humanismus, der auf den Einfluss ihrer Mutter zurückgeführt werden kann, rückt erstmals in einem von Johnsons Romanen die Frage der Religion und der mit ihr verbundenen Institution Kirche als Grundlage einer moralischen Orientierung in den Blick. Auffällig ist, dass Johnson es nicht dabei belässt, die Figur mit Wertvorstellungen auszustatten, die sich an einer christlichen Ethik orientieren. Daneben ist ein kirchengeschichtlicher Diskurs in den Roman integriert, in dem vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der (Zwangs-)Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR eine der schwierigsten Fragen christlicher Theologie thematisiert wird: Wie ist der Suizid eines Menschen christlich zu bewerten und welche Folgen ergeben sich daraus für eine Bestattung von Suizidenten? Die unterschiedliche Bewertung dieser Frage innerhalb der Kirche und die mangelnde Sensibilität christlicher Dogmatik für einen sich wandelnden (historischen) Kontext erzeugen innerhalb des Textes erhebliche Zweifel darüber, die Kirche als Institution moralischer Orientierung anzuerkennen. Stattdessen wird die Methodik des reflexiven Hinterfragens als ethisches Konzept narrativ vorgeführt. Hinterfragt werden im Roman ethische Narrative, Sichtweisen verschiedener Sprecher und auch das eigene Erzählen. Dies führt dazu, dass das Erzählen, in das antithetische Formen und Varianten des Erzählten integriert sind, in seiner Prozesshaftigkeit vorgeführt wird. Darüber hinaus tragen biblische Einzeltext- und Systemreferenzen auch in Johnsons drittem Roman dazu bei, sprachliche Engführungen und Kausalitäten aufzubrechen. Das Resultat ist ein Text, der den Leser in die Lage kritischen Hinterfragens versetzt, um sich der ›Wahrheit‹ anzunähern bzw. sein Bild der Wahrheit zu entwerfen. Die Untersuchung der frühen Romane Johnsons wurde mit den Zwei Ansichten abgeschlossen. Durch die Analyse dieses in der Johnson-Forschung stiefmütterlich behandelten Textes konnte herausgearbeitet werden, dass in ihm auf biblische Intertexte verzichtet wird. Die sich daran anschließende Frage, worauf dieser Umstand zurückzuführen ist, führte zu einer weitergehenden Untersuchung von Johnsons viertem Roman. Demnach geht der Verzicht auf biblische Bezugnahmen mit dem Ausbleiben politischer Kommunikation einher. Nicht trotz, sondern wegen des hochpolitischen Hintergrunds der Erzählung, der Schließung der innerdeutschen Grenze am 13. August 1961, kommt der diskursive Austausch zwischen Ost- und Westberlin zum Erliegen. Johnson bildet diesen Zustand ab, indem er zwei Figuren zu den Protagonisten seines Romans macht, die durch die politischen Umstände zunehmend isoliert werden – formal abgebildet im Gebrauch von Initialen für die Namen der beiden Hauptfiguren.

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Hinzu kommt ein Erzähler, der in spürbare Distanz zu seinen Protagonisten tritt und sich damit einer Wertung der politischen Umstände weitgehend entzieht. Eine Zäsur in gleich mehrfacher Hinsicht stellt Johnsons Opus magnum Jahrestage dar. Nachdem die Frequenz und Formenvielfalt biblischer Intertexte in den frühen Romanen sukzessive zurückgeht, nehmen sie in Johnsons letztem Roman in erheblichem Maße zu. Im Vergleich zur nahtlosen Integration prägnanter Signalvokabeln in Ingrid Babendererde, Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim weisen die biblischen Intertexte in den Jahrestagen häufig einen hohen Grad an Referentialität auf – bis hin zum Charakter thematischer Motti für einzelne Tageskapitel. Mit diesen mikrostrukturellen Unterschieden geht eine steigende makrostrukturelle Komplexität einher. Die Formen, in denen biblische Diskurse in den Jahrestagen eröffnet und über Kapitel- und Bandgrenzen hinweg erweitert werden, sind überaus vielschichtig. Thematisch werden Komplexe aufgegriffen, erweitert und modifiziert, die sich bereits in den früheren Romanen finden. Zu nennen sind hier vor allem die kirchengeschichtlichen Teildiskurse zum Umgang mit Suizidenten, zum Verhalten gegenüber der Obrigkeit und zur Stuttgarter Erklärung. Die Verarbeitung des jüdischen Festkreises steht überdies für eine thematische Expansion, die auf einen veränderten Blickwinkel zurückgeführt werden kann. Das Thema der Aufarbeitung der kollektiven deutschen Vergangenheit und der familiären bzw. individuellen Verstrickungen in die ›deutsche Schuld‹ ist bereits in den Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim von Bedeutung, steht aber jeweils hinter den gegenwärtigen politischen Umständen zurück. In den Jahrestagen mit seinem mnemologischen Rahmendiskurs verändert sich der Blick von der Gegenwart in die Vergangenheit. Die New Yorker Gegenwartsebene dient Gesine nur mehr als Resonanzraum ihrer Erinnerungsreise ins Mecklenburg von der Geburt ihres Vaters im Dreikaiserjahr bis zu ihrem Verlassen Jerichows im Sommer 1952 und in die darauffolgenden Stationen Halle, Frankfurt am Main, Düsseldorf und New York. Geprägt wird der Erinnerungsprozess vom inneren Zwang der Protagonistin, sich mit dem kollektiven und familiären Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung wird begleitet von der Frage nach einer ethischen Grundlage sittlichen Lebens nach dem Zivilisationsbruch in den zwölf Jahren vor 1945. Die Suche nach einer ›moralischen Schweiz‹ verläuft dabei erfolglos. Auffällig ist in diesem Zusammenhang das Gewicht des religiösen Diskurses im Roman. Nahezu alle für die Handlung zentralen Figuren werden hinsichtlich ihrer konfessionellen Bindung charakterisiert. Trotz der Konfessionslosigkeit Gesines besucht ihre Tochter zunächst einen Kindergarten in einer interkonfessionellen Kirche, später eine katholische Schule. Im Rahmen ihrer Vergangenheitsbewältigung setzt sich die Protagonistin intensiv mit dem Judentum und jüdischem Leben im New York der Gegenwart auseinander – befördert durch die

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Freundschaft ihrer Tochter zu zwei jüdischen Mädchen. Auf der Vergangenheitsebene nehmen die überwertigen religiösen (Schuld-)Vorstellungen ihrer Mutter und die Mecklenburgische Kirchengeschichte breiten Raum ein. Die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Komplex ›Kirche und Religion‹ auf der Vergangenheits- und Gegenwartsebene zeigt dreierlei: Erstens dient die Institution Kirche, gleich welcher konfessionellen Ausrichtung, trotz ihres partiellen Widerstandes im nationalsozialistischen Kirchenkampf nicht per se einer moralischen Orientierung. Zu groß ist die Schuld, die einzelne Kirchenvertreter auf sich geladen haben, und zu plakativ sind die kollektiven Schuldeingeständnisse, die wie die Stuttgarter Erklärung bereits wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgesprochen wurden. Zweitens spricht die Bedeutung von Pastor Brüshaver innerhalb des Romans gegen eine kategorische Absage an die Institution Kirche und religiöse Vorstellungen – und damit auch gegen eine grundsätzliche Ablehnung einer den biblischen Schriften inhärenten christlichen Ethik. Im Gegenteil sind es in Johnsons Opus magnum wie auch in den frühen Romanen vor allem biblische Worte ethischen Gehalts, denen sich der jeweilige Erzähler und die Figuren bedienen, um politische Strukturen und Entscheidungsträger zu kritisieren und ihnen den Spiegel der Grundlagen eines humanistischen Zusammenlebens vorzuhalten. Drittens werden die in der Heiligen Schrift enthaltenen moralischen Wertvorstellungen ex negativo zu einer ethischen Grundlage, an der eine Orientierung nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz möglich erscheint. Maßgeblich hierfür ist der reflexive Umgang mit moralischen Wertvorstellungen. Dafür stehen Gesines ablehnende Haltung gegenüber ihrer obrigkeitshörigen Mutter und die Kritik an dogmatischen bzw. dogmengleichen Vorstellungen wie die theologische Bewertung des Suizids. Eine Konstante in Johnsons Romanen ist die Absage an normative Moralvorstellungen, wie sie aus der Bibel abgeleitet wurden. Nicht zufällig ist es mit Wilhelm Brüshaver ein Vertreter der Kirche, der als Exempel für einen erfolgreichen Emanzipationsprozess dient; weg von einer pauschalen Übernahme kirchlicher und staatlicher Vorgaben, hin zu reflektierten Entscheidungen, die auf einem (selbst-)kritischen Prüfen der moralischen Grundlagen beruhen. Als gut und richtig können diese Entscheidungen bezeichnet werden, weil sie von einer Ethik der Aufrichtigkeit geleitet sind. Eine Aufrichtigkeit, die sich auch in Johnsons Schreiben wiederfindet und eine ganz eigene Form des Erzählens hervorgebracht hat. Dass es in diesem Erzählen trotz aller Unterschiede zwischen den Romanen Konstanten gibt, die auf Johnsons Maxime der Wahrheitsfindung zurückgehen, das haben hinsichtlich bibelsprachlicher Bezugnahmen die Analysen der sprachlichen Diskurse von Ingrid Babendererde bis Jahrestage gezeigt. Hofmanns These ist grundsätzlich zuzustimmen, wonach die an Gesine exemplarisch vorgeführte Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in den Jahrestagen »nicht zu eindeutigen politischen und moralischen

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Handlungsmaximen«17 führe. Auch im New York der Jahre 1967/68, unter Bedingungen, die mit denen im nationalsozialistischen Deutschland nicht vergleichbar sind, muss die Protagonistin erkennen, dass es »keine moralisch einwandfreien und politisch unanfechtbaren Handlungen mehr gibt«.18 Zweifelhaft erscheint aber die von Hofmann abgeleitete, beinahe resignative Konsequenz, dass sich der moralische Wert des Romans auf ein »Wissen um die Aporien des Handelns«19 beschränke. Die Absage an eindeutige Handlungsmaximen resultiert vielmehr aus der Vorstellung einer reflexiven Annäherung an das, was Johnson als ›Wahrheit‹ bezeichnet. Der Schlüssel einer solchen Ethik, die in Johnsons Romanen im Medium der Narration reflektiert und zugleich narrativ vorgeführt wird, ist der Weg, die reflexive Annäherung, die Wahrheitsfindung. Arendt stellt in ihrer 1965 an der New School for Social Research gehaltenen Vorlesung Some Questions of Moral Philosophy die These auf, dass für ein moralisches Verhalten anderen gegenüber »kein spezifischer Inhalt, keine spezifischen Pflichten und Verpflichtungen […] eine Rolle spielen, sondern wirklich nichts anderes als die reine Fähigkeit des Denkens und der Erinnerung oder deren Verlust«.20 Denken bedeutet für Arendt »prüfen und befragen«,21 das Denken an Vergangenes, das Erinnern, »sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so daß man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird«.22 Doren Wohlleben bezeichnet Arendts Vorstellungen von Moral als eine »Ethik der Neigung«, mit der diese sich von Kants normativem Verständnis von Moral abgrenze: Während Kant die Moral allein der Seite der Pflicht zuwies, für welche die Neigung in ihrer Affektbezogenheit eine Gefahr darstelle, sieht Arendt im Gegenteil in der Pflicht eine ethische Gewalt verborgen: Ein von außen auferlegtes Gesetz, das nicht aus dem Herzen kommt, nicht affektiert ist, bleibt unreflektiert, setzt keinen Denk-Prozess in Gang und unterzieht sich so der Gefahr der Ideologisierung, des Bösen.23

Dieses Böse tritt Arendt zufolge ein, wenn das Denken und Erinnern ausbleibt: »Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane

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Hofmann, Dr. med. vet. Arthur Semig, S. 84. Ebd. Ebd. Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, aus dem Nachlaß hg. von Jerome Kohn, aus dem Englischen übers. von Ursula Ludz, Nachwort von Franziska Augstein, München 2007, S. 79. 21 Ebd., S. 89. 22 Ebd., S. 77. 23 Doren Wohlleben: Narrative (–) Initiative. Das »Rätsel des Anfangs« als ethisches und poetologisches Konzept in Hannah Arendts Denktagebuch und ihrer Vorlesung Über das Böse, in: Claudia Öhlschläger (Hg.): Narration und Ethik, München 2009, S. 53–63, hier: S. 61.

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niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten.«24 Während das Denken einen Prozess beschreibt, der auf das Selbst bezogen ist,25 geht das Handeln gegenüber anderen Menschen auf die christliche Vorstellung26 des Willens zurück. Die entscheidende Funktion des Willens besteht für Arendt im Urteil. Es ist der »wahre[] Schiedsrichter zwischen Recht und Unrecht«,27 das zwar immer subjektiv bleibe, aber repräsentativen Charakter dadurch gewinne, dass bei der Urteilsbildung möglichst viele Standpunkte berücksichtigt werden. Diese Orientierung am (generalisierten) Anderen – Arendt spricht unter Verweis auf Kant vom Gemeinsinn – gelingt durch das Erinnern und Abstrahieren von Beispielen: Beispiele, die in der Tat der ›Gängelwagen‹ aller urteilenden Tätigkeiten sind, sind auch und vor allem die Wegweiser allen moralischen Denkens. […] Wir urteilen und unterscheiden Recht von Unrecht, indem wir in unserem Kopf eine zeitlich und räumlich abwesende Person oder einen Fall gegenwärtig haben, die zu Beispielen geworden sind. Es gibt viele derartige Beispiele. Sie können weit zurück in der Vergangenheit liegen oder zum Lebenden gehören. Sie müssen nicht geschichtlich wirklich sein. So hat [Thomas] Jefferson einmal bemerkt: Der fiktive Mord an Duncan durch Macbeth errege in uns einen ebenso großen Abscheu vor Schurken wie der wirkliche von Heinrich IV.28

In der gut fünfzig Briefe umfassenden Korrespondenz zwischen Arendt und Johnson kommen diese und ähnliche Überlegungen der Philosophin zu Ethik und Moral nicht ausdrücklich zur Sprache. Nach ihrer Lektüre der ersten beiden Bände der Jahrestage schreibt Arendt aber an Johnson: Dies ist ein Dokument, und zwar ein gültiges für diese ganze Nach-Hitler-Zeit. Diese Vergangenheit haben Sie in der Tat haltbar gemacht, und was vielleicht viel unwahrscheinlicher ist, Sie haben sie überzeugend gemacht. Wie es da bei Euch war und ist, das

24 Arendt, Über das Böse, S. 77. 25 Arendt spricht unter Berufung auf Plato von einem »Zwei-in-Einem«, einem »stummen Dialog« mit sich selbst: »Wenn Sie mit Ihrem Selbst uneins sind, ist das so, als wenn Sie gezwungen wären, täglich mit ihrem eigenen Feind zu leben und zu kommunizieren. Wenn Sie Übles tun, leben Sie mit einem Übeltäter zusammen, und wenn auch Viele es vorziehen, zu ihrem eigenen Vorteil eher Schlechtes zu tun, als Schlechtes zu erleiden, wird niemand gerne mit einem Dieb oder einem Mörder oder einem Lügner zusammenleben wollen«; ebd., S. 73, 71f. 26 Vgl. ebd., S. 106–108: »In demselben Sinne möchte ich behaupten, daß die Erscheinung des Willens in all seiner Kompliziertheit und Knifflichkeit vor Paulus nicht bekannt war und daß die Entdeckung des Paulus in einer Verbindung zu den Lehren des Jesus von Narzareth gemacht wurde, wie sie näher nicht hätte sein können. […] Nichts, denke ich, ist in der Tat offenkundiger, als daß in diesen Ratschlägen für das Verhalten das Selbst und der Umgang im Gespräch zwischen mir und mir selbst nicht mehr die letzten Verhaltenskriterien sind. Zielvorstellung ist hier keineswegs, eher Unrecht zu leiden als zu tun, sondern etwas ganz anderes, nämlich Anderen Gutes zu tun, und so ist der Andere das einzige Kriterium.« 27 Ebd., S. 137. 28 Ebd., S. 147f.

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weiss ich jetzt gleichsam bis in die Spitze des kleinen Zehs. Die Langsamkeit und dies ständige Sich-Besinnen, das ich ja schon sehr an dem Jakob-Buch liebte, ist hier zu dem langen Atem – auch in der Satzbildung – geworden, dem nichts bloss charmierend Dialektisches mehr anhaftet, weil ihm hier das Sujet ganz entspricht.29

Aus Arendts ästhetischem Werturteil spricht ein ethischer Impetus, wenn sie von »haltbar machen« und »überzeugend gemacht« schreibt. Auch die angesprochene »Langsamkeit« und das »ständige Sich-Besinnen« zeugen indirekt von Arendts Vorstellungen des Denkens, Erinnerns und Urteilens, mit denen sich der ›ethische Code‹ der Johnson’schen Poetik beschreiben lässt. Die in Johnsons Romane eingeschriebenen biblischen Diskurse gewinnen dadurch an Gewicht, dass an ihnen demonstriert wird, dass eine christlich fundierte Ethik in der Nachfolge Jesu nicht in der Ableitung einer normativen Ethik aus den Schriften des Alten und Neuen Testaments bestehen kann: »Jesus gibt keine Befehle, sondern Einsatzzeichen, verheißungsvolle Metaphern, und er erzählt Geschichten«,30 die zum Nachdenken über moralische Normen anregen. Egoismus und aus diesem entstandenes Unrecht kann nicht »durch das Predigen von Moral überwunden werden«.31 Es sind Figuren wie Ingrid und Klaus, Cresspahl und Jonas, Karin, Gesine und Pastor Brüshaver auf der einen, Direktor Siebmann, der Stasi-Hauptmann Rohlfs und der Journalist Fleisg, Lisbeth sowie die Pastoren Methling und Wallschläger auf der anderen Seite, die in positiver wie in negativer Hinsicht als (fiktive) Beispiele für die Notwendigkeit einer fortwährenden Reflexion unter Berücksichtigung möglichst vieler Standpunkte dienen.32 Ein solches Denken und Erinnern verspricht mehr als das Erkennen von Aporien menschlichen Handelns. Es verspricht als ethische Tugend eine Annäherung an die Unterscheidung von Gut und Böse, Recht und Unrecht. Um diese Funktion der überaus komplexen Bibelrezeption in Johnsons Romanen zu erarbeiten, hat es sich als hilfreich erwiesen, die biblischen Bezugnahmen zunächst auf ihre intertextuellen Eigenschaften hin zu untersuchen und dabei erzähltheoretische Überlegungen zu berücksichtigen. Auf der Grundlage 29 Hannah Arendt an Uwe Johnson, 7. 2. 1972, in: Hannah Arendt/Uwe Johnson: Der Briefwechsel. 1967–1975, hg. von Eberhard Fahlke und Thomas Wild, Frankfurt am Main 2004, S. 66–68, hier: S. 66f. 30 Dietmar Mieth: Literaturethik als narrative Ethik, in: Joisten (Hg.), Narrative Ethik, S. 215– 233, hier: S. 223. 31 Arendt, Über das Böse, S. 145. 32 Mieth bezeichnet ein solches Erzählen als »eine Art reflexives Erzählen« und führt hierzu aus: »Ethisch relevantes Erzählen versucht nicht, zu überreden, etwas zu suggerieren, einen rhetorischen Erfolg zu erzielen oder eine ideologische Indoktrination zu betreiben. Dies mag zwar auch als Absicht des Erzählens in Einzelfällen nachweisbar sein (zum Schaden der Qualität), aber ethisch relevantes Erzählen versucht, die Autonomie des möglichen Empfängers/Lesers zu respektieren, wenn nicht zu provozieren«; Mieth, Literaturethik als narrative Ethik, S. 223; Kursivdruck im Original.

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eines solchen Zugriffs lassen sich Muster der jeweiligen Bibelrezeption wie die diskursiven Formationen in Johnsons Romanen herausarbeiten, ohne dabei eine Seite der intertextuellen Beziehung, den Kontext in Text und Prätext sowie das Zusammenspiel beider im Text, zu vernachlässigen. Vermieden wird eine mikrostrukturelle Funktionszuweisung, die häufig ungenau ausfällt, weil einzelne biblische Intertexte im Zusammenspiel mit anderen Bezugnahmen auf die Heilige Schrift ein intertextuelles Netz in den jeweiligen Texten konstituieren können. Vor allem ermöglicht ein intertextuell-diskursiver Zugang Autoren in den Blick zu nehmen, die in Untersuchungen zum Begegnungsfeld ›Literatur und Religion‹ bislang höchstens am Rande Beachtung gefunden haben. Zurückführen lässt sich dieser Umstand darauf, dass religions- und kirchenkritische Autoren mit Ausnahme von Brecht nur selten das Interesse gerade der Literaturtheologie geweckt haben. Entscheidender erscheint aber, und das zeigt das Beispiel Johnson, dass bislang vorwiegend Großformen der Bibelrezeption – wie die Parabel Jonas zum Beispiel – Eingang in den interdisziplinären Diskurs des Begegnungsfeldes gefunden haben. Die Perspektive auf das Begegnungsfeld ›Literatur und Religion‹ lädt geradezu ein, Johnsons Bibelrezeption mit der von Autoren zu vergleichen, die in ähnlicher Weise die ethische Bedeutung der biblischen Schriften in das Zentrum ihrer literarischen Verarbeitung gestellt haben. Auch weitere Einzeluntersuchungen zum Umgang Johnsons mit den biblischen Schriften versprechen zusätzliche Erkenntnisse. Bereits an früherer Stelle wurden zwei Aspekte angesprochen, die im Rahmen dieser Untersuchung nur angedeutet werden konnten. Die Ausführungen zu den sprachlichen Diskursen sind als Vorleistung für weitergehende Überlegungen zu verstehen. So könnten das ethische Potenzial der Johnson’schen Stilistik sowie die Einflüsse und das Zusammenspiel verschiedener Sprachformen, unter denen die biblischen Einzeltext- und Systemreferenzen nur einen Teil bilden, detailliert analysiert werden. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der in den Romanen rezipierten biblischen Prätexte. Auch wenn durch die Form von Johnsons Bibelrezeption, überwiegend kurze Einsprengsel in den jeweiligen (Roman-)Text aufzunehmen, die Richtung der intertextuellen Beziehung auf den entsprechenden Werkkontext ausgerichtet ist, erscheint es vielversprechend, weitere Zusammenhänge der eingegangenen Prätexte zu ergründen. Erweitert man die Perspektive von den Romanen Johnsons auf sein Prosawerk, fällt auf, dass Analysen zur Bibelrezeption in der Kurzprosa, mit Ausnahme der Jonas-Parabel, bislang vollständig ausstehen. Bereits die erste Lektüre der Texte aus Karsch, und andere Prosa, der Skizze eines Verunglückten und des Fragment gebliebenen Erzählprojektes Marthas Ferien verdeutlicht, dass auch in diese Werke Anspielungen auf die Bibel eingegangen sind.

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In der Skizze eines Verunglückten wird das Verhalten von Joe Hinterhand mit dem des »Joseph in der Legende, der Joseph vor der Frau Potiphar«,33 verglichen. Der Name der Titelfigur in Marthas Ferien wird auf Lk 10,38 zurückgeführt (vgl. MF, 46f.) und in Beihilfe zum Umzug findet sich eine Anspielung auf Mt 10,29, die auch in die Jahrestage eingegangen ist: »und wollte nicht gelten als altmodischer Beamtendünkel, sondern als Geschichtsschreibung einer neuen Gegenwart, in der ein Sperling beliebig mochte vom Dache fallen aber nicht eine alte Frau an die Grenze fahren dreieinhalb Stunden mit der gewöhnlichen Eisenbahn« (KP, 20; Hervorhebung P. O.).34 Auch diese Beispiele zeugen von einer Selbstverständlichkeit, mit der der Büchner-Preisträger von 1971 mit den Texten der Heiligen Schrift produktiv in seinen Werken verfuhr. Dieser produktive Umgang, der für die Romane Johnsons analysiert wurde, lädt zu einer Relektüre der Romantexte wie der biblischen Prätexte ein. Der Empfehlung an die Schüler in Barntrup zu folgen, verspricht, weitere bildliche, sprachliche und ethische Welten auf beiden Seiten des intertextuellen Wechselspiels zu erschließen. Ähnliche Aussichten bestehen für weitere, der auf Johnsons Leseliste verzeichneten Werke. Mit Goethes Die Leiden des jungen Werther,35 Brechts Gedichten36 und Grass’ Die Blechtrommel37 seien nur einige wenige genannt. Im Mai 1961 spricht Grass während des V. Schriftstellerkongresses der DDR in Ostberlin über seinen Schriftstellerkollegen und Freund Johnson und dessen Debütroman Mutmassungen über Jakob. Grass konstatiert zu den Einflüssen auf Johnsons Schreibens: »wir alle haben unsere Väter«.38 Neben Faulkner finden die biblischen Autoren und deren Übersetzer an dieser Stelle noch keine Erwähnung. Einige Jahre später, in seinen Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus stellt Grass eine direkte Verbindung seines Kollegen mit dem Autor der einflussreichsten deutschsprachigen Bibelübersetzung her: »lernt 33 Uwe Johnson: Skizze eines Verunglückten, Frankfurt am Main 1982, S. 39. Vgl. hierzu Gen 39,7– 14. 34 Vgl. JT, 243, 1612. Vgl. hierzu Dritter Teil, Kap. 1, Anm. 49; Kap. 2, Anm. 33. 35 Vgl. hierzu etwa Hans-Jürgen Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes »Werther«, in: Johannes Anderegg/ Edith Anna Kunz (Hg.): Goethe und die Bibel, Stuttgart 2005, S. 57–88. 36 Vgl. hierzu etwa Cornelius Hell/Wolfgang Wiesmüller: Die Psalmen – Rezeption biblischer Lyrik in Gedichten, in: Schmidinger (Hg.), Bibel in der deutschsprachigen Literatur 1, S. 158– 204, bes. 175–179; Josef P. Mautner: Nichts Endgültiges. Literatur und Religion in der späten Moderne, Würzburg 2008, S. 57–82. 37 Vgl. hierzu etwa Karl-Josef Kuschel: Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 2. Aufl., Zürich u. a. 1978, S. 203–206; Anika Davidson: Advocata Aesthetica. Studien zum Marienmotiv in der modernen Literatur am Beispiel von Rainer Maria Rilke und Günter Grass, Würzburg 2001, S. 260–330. 38 Günter Grass: [ohne Titel], in: Deutscher Schriftstellerverband (Hg.): V. Deutscher Schriftstellerkongreß vom 25. bis 27. Mai 1961. Referate und Diskussionsbeiträge, Berlin [1961], S. 178–180, hier: S. 179.

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Klopstock bei Rühmkorf, Luther bei Johnson«.39 Dass Grass mit dieser Aussage nicht übertreibt, ist auf den zurückliegenden Seiten deutlich geworden. Dass sich von Johnson noch viel mehr lernen lässt, auch. Vielfältige biblische Diskurse sind fester Bestandteil in den Romanen Johnsons, der hinsichtlich seines Umgangs mit der Heiligen Schrift ohne Weiteres auf eine Stufe gestellt werden kann mit Schriftstellerkollegen und Freunden wie Erich Fried, Ingeborg Bachmann oder Günter Grass.

39 Günter Grass: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus, in: ders.: Werke (Göttinger Ausgabe), Bd. 7: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Die Rättin. Unkenrufe, Göttingen 2007, S. 7–146, hier: S. 124.

Anhang

Abkürzungen

akt. Aufl. Ausg. bearb. Bearb. Beil. BEK bes. BRD CDU DDR DEK DEKB dt. durchges. eingel. EKD erg. erl. erw. FDJ fotomechan. gegr. hebr. hg. Hg. i. Br. i. Ts. insb. korr. KPD KPdSU

aktualisiert Auflage Ausgabe bearbeitet Bearbeiter/Bearbeitung Beilage Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (1969–1990) besonders Bundesrepublik Deutschland (seit 1949) Christlich Demokratische Union Deutschlands (seit 1945) Deutsche Demokratische Republik (1949–1990) Deutsche Evangelische Kirche (1933–1945) Deutscher Evangelischer Kirchenbund (1922–1933) deutsch durchgesehen eingeleitet Evangelische Kirche in Deutschland (seit 1945) ergänzt erläutert erweitert Freie Deutsche Jugend (seit 1946) Fotomechanisch gegründet hebräisch herausgegeben Herausgeber im Breisgau im Taunus insbesondere korrigiert Kommunistische Partei Deutschlands (1918–1946/56) Kommunistische Partei der Sowjetunion (1912–1991)

622 LPG LXX Nachdr. par parr SBZ SED SELK SMAD SPD ThomEV überarb. übers. UdSSR UJA UFJ Verf-DDR von 1949 VELKD vollst.

Abkürzungen

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (1952–1990) Septuaginta (älteste Übersetzung der Tora ins Griechische) Nachdruck Parallelstelle in einem der synoptischen Evangelien Parallelstellen in den synoptischen Evangelien Sowjetische Besatzungszone (1945–1949) Sozialistische Einheitspartei (1946–1990) Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (seit 1972) Sowjetische Militäradministration in Deutschland (1945–1949) Sozialdemokratische Partei Deutschlands (seit 1863) Thomasevangelium überarbeitet übersetzt Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (1922–1991) Uwe Johnson-Archiv Rostock (seit 2012) Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (1949–1969) Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (seit 1948) vollständig

Bibel Die Abkürzung der biblischen Bücher erfolgt gemäß dem Ökumenischen Verzeichnis der biblischen Eigennamen (ÖVBE) nach den Loccumer Richtlinien. Sofern die für ein Bibelzitat verwendete Bibelausgabe nicht nachgewiesen ist, wurde der Text der Lutherbibel nach der Revision von 1912 wiedergegeben. Wird aus einer anderen Bibelausgabe zitiert, erfolgt ein Kurzbeleg in eckigen Klammern.

Siglen

Werke BU

Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1980. Uwe Johnson: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main 1975. Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim, in: ders.: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 3, hg. von Katja Leuchtenberger und Friederike Schneider, Berlin 2019. Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, aus dem Nachlaß hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1996. Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, mit einem Nachwort von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1985. Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1–4, Frankfurt am Main 1971–1983. Uwe Johnson: Karsch, und andere Prosa, Nachwort von Walter Maria Guggenheimer, Frankfurt am Main 1964. Uwe Johnson: Marthas Ferien, in: ders.: Versuch, einen Vater zu finden. Marthas Ferien, hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1988, S. 35–50. Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob, in: ders.: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 2, hg. von Astrid Köhler u. a., Berlin 2017. Uwe Johnson: Zwei Ansichten, Frankfurt am Main 1965.

BS DBA

HNJ IB JT KP MF MJ

ZA

Briefe FJB JUB

Max Frisch/Uwe Johnson: Der Briefwechsel 1964–1983, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1999. Uwe Johnson/Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt am Main 1999.

624

Siglen

Lexika DWB RGG4

TRE

Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, fotomechan. Nachdr. der Erstausg. Leipzig 1854–1971, Bde. 1–33, München 1991. Hans Dieter Betz u. a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearb. Aufl., Bde. 1– 8 (zzgl. Register), Tübingen 1998–2007. Gerhard Müller (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1–36 (zzgl. 2 Bde. Register), Berlin 1977–2007.

Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

–: [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob], 1. Fassung, 6.2.–4. 12. 1958, in: UJA Rostock, UJA/H/000350, Mappe 2–6. –: [ohne Titel; Mutmassungen über Jakob], 2. Fassung, o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/ 000351, Mappe 7, Bl. 20–Mappe 13, Bl. 70. –: Reifeprüfung III–IV, Notiz, 27. 1. 1957, in: UJA Rostock, UJA/H/000238, Bl. 44–48. Kalender 1953, in: UJA Rostock, UJA/H/000234, Bl. 40. Kirchlicher Ausweis. Uwe Klaus Dieter Johnson, in: UJA Rostock, UJA/H/001868, Bl. 9–10. Köhler, Bodo-Eberhard: [ohne Titel], o. D., in: UJA Rostock, UJA/H/250002, Bl. 2–10. Philosophische Fakultät. Studienangelegenheiten. 1948–1969, in: Universitätsarchiv Rostock, Phil.Fak. 74. Protokoll der Leitungssitzung der SED-Grundorganisation, Philosophische Fakultät, 8. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Parteileitungssitzungen der Philosophischen Fakultät 1951–1963, UPL 367, Bl. 25. Radke, Werner Joachim an Uwe Johnson, 3. 8. 1964, in: UJA Rostock, UJA/H/252893, Bl. 38f. Referat auf der Sitzung der Parteileitung der Universität Rostock, 20. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Informations- und Arbeitsberichte 1950–1958, FDJ 30, Bl. 1–15. Zellmer, Johannes an Erna Johnson, 22. 1. 1955, in: UJA Rostock, UJA/H/000239, Bl. 49f.

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Quellen und Literatur

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–: Darstellung meiner Entwicklung. Transkription, in: Johnson-Jahrbuch 4, 1997, S. 12–14. –: Das dritte Buch über Achim, in: ders.: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 3, hg. von Katja Leuchtenberger und Friederike Schneider, Berlin 2019. –: Eine Kneipe geht verloren, in: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main 1975, 64–94. –: Heute Neunzig Jahr, aus dem Nachlaß hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1996. –: »Ein verkannter Humorist«. Gespräch mit A. Leslie Willson (Am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 281–299. –: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, mit einem Nachwort von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1985. –: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 1–4, Frankfurt am Main 1971– 1983. –: Jona zum Beispiel, in: Wir. Schülerzeitung des Pestalozzi-Gymnasiums Herne, 1962, H. 4 (April), S. 15–17. –: Jona zum Beispiel, in: Der Tagesspiegel, Nr. 5119 vom 13. 7. 1962, S. 4. –: Jonas zum Beispiel, in: Klaus Wagenbach (Hg.): Das Atelier, Bd. 1: Zeitgenössische deutsche Prosa, Frankfurt am Main 1962, S. 132f. –: Jonas zum Beispiel, in: ders.: Karsch, und andere Prosa, Nachwort von Walter Maria Guggenheimer, Frankfurt am Main 1964, S. 82–84. –: Jonas zum Beispiel (1957), in: ders.: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte, mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann, Frankfurt am Main 1992, S. 116f. –: Jonas zum Beispiel, in: Simone Frieling (Hg.): Der rebellische Prophet. Jona in der modernen Literatur, Göttingen 1999, S. 92–95. –: Marthas Ferien, in: ders.: Versuch, einen Vater zu finden. Marthas Ferien, hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1988, S. 35–50. –: »Mir bleibt nur, ihr zu danken«. Zum Tod von Hannah Arendt, in: ders.: Porträts und Erinnerungen, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1988, S. 74–77. –: Mutmassungen über Jakob, in: ders.: Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I: Werke, Bd. 2, hg. von Astrid Köhler u. a., Berlin 2017. –: Thomas Otway: »Venice Preserved« & Literatur im Englischen XVII. [Jahrhundert], in: ders.: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte, mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann, Frankfurt am Main 1992, S. 31–61. –: Rede zum Bußtag. 19. November 1969, in: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main 1975, S. 44–51. –: Skizze eines Verunglückten, Frankfurt am Main 1982. –: Über eine Haltung des Protestierens, in: Kursbuch 9, 1967, S. 177f. –: Versuch, eine Mentalität zu erklären, in: Barbara Grunert-Bronnen (Hg.): Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik, München 1970, S. 119–129. –: Versuch, eine Mentalität zu erklären, in: ders.: Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main 1975, 52–63.

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Quellen und Literatur

–: Wenn Sie mich fragen … (Ein Vortrag), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 51–64. –: Zwei Ansichten, Frankfurt am Main 1965. –/ Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt am Main 1999. Neusüss, Arnhelm: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson (Am 10. 9. 1961 in West-Berlin), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 184–193. Roloff, Michael: Gespräch mit Uwe Johnson (Am 20. 8. 1961 in New York), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 171–183. Schwarz, Wilhelm J.: Gespräche mit Uwe Johnson (Am 10. 7. 1969 in West-Berlin), in: Eberhard Fahlke (Hg.): »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main 1988, S. 234–247.

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Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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Quellen und Literatur

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Dank Der Entschluß zu dieser Tat war eines Nachts in mir gereift, als ich nicht schlafen konnte. In solchen dunklen Stunden fasse ich Entschlüsse, die ich dann, wenn die Umstände es auch nur irgendwie erlauben, unmittelbar in die Tat umsetze. Dieser neue und bis dahin vielleicht kühnste Entschluß ließ sich nun zwar nicht ohne weiteres verwirklichen, wohl aber konnte seine Ausführung sofort vorbereitet werden. Wolfgang Hildesheimer

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Oktober 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Ich danke allen, von denen ich in den vergangenen Jahren für meinen kühnen Entschluss Zuspruch und Unterstützung erfahren habe, mit denen ich mich austauschen konnte und die mich geduldig begleitet haben in dem Glauben, dass ich nicht eine Eule nach Athen trage. Mein ganz besonderer Dank gilt Professor Holger Helbig für mehr als die Betreuung, für eine wissenschaftliche Förderung, die früher begann und weit mehr umfasste, Professor Michael Braun für Kritik, Anregungen und die Bereitschaft, ein Zweitgutachten zu verfassen, Professor Daniel Weidner für die Erstellung eines Drittgutachtens und wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Dissertationsschrift, Professor Lutz Hagestedt für eine Vielzahl hilfreicher Empfehlungen, die entschieden zur Verbesserung des Textes beigetragen haben, der Konrad-Adenauer-Stiftung für ein dreijähriges Promotionsstipendium, der Peter Suhrkamp Stiftung und der Johannes und Annitta Fries Stiftung, Gudrun Beckschulze, Manfred Bierwisch und Christoph Zellmer für die Genehmigung zur Publikation bislang unveröffentlichter Texte aus dem Uwe JohnsonArchiv, Antje Pautzke für die umstandslose und regelmäßige Hilfe bei der Einsichtnahme von Archivalien aus dem Uwe Johnson-Archiv, dem Verlag V&R unipress, im Besonderen Carla Schmidt und Janin Schelper, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Begleitung der Drucklegung der vorliegenden Studie, der Johannes und Annitta Fries Stiftung für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses, Martin, Antje und Julia für viele Jahre des konstruktiven Austauschs und ein überaus gründliches Korrekturlesen,

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Dank

Steffi und Lina für so viel Verständnis und ein Leben fernab von Johnson, Bibel und Universität, meiner Mutter und Peter und Hans für viele Jahre der Unterstützung.