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German Pages 357 [360] Year 2005
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 109
Giselheid Wagner
Harmoniezwang und Verstörung Voyeurismus, Weiblichkeit und Stadt bei Ferdinand von Saar
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-35109-8
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren sowie AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Danksagung
Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren 2000 bis 2003 und wurde im Sommersemester 2004 von der Literatur- und Sprachwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertationsschrift angenommen. Mein Dank gilt zunächst Herrn Prof. Christian Begemann (Bayreuth), der die Arbeit von Anfang an mit großem Interesse begleitete und ihre Entstehung und Weiterentwicklung stets ideenreich und kritisch verfolgte. Weiterer Dank gebührt Herrn Prof. Karl Wagner (Wien, Zürich), der mir vor allem in der Anfangsphase den nötigen Mut machte, die Arbeit zu wagen und der mir zahlreiche Anregungen gab. Danken möchte ich außerdem den Damen und Herren der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, die mich Einblick in den handschriftlichen Nachlaß Saars nehmen ließen sowie dem Leiter des Bezirksmuseums WienDöbling, Herrn Prof. Kurt Apfel, der mir unkonventionell und unkompliziert Zugang zum Nachlaß und zur Bibliothek Saars verschaffte. Beim Evangelischen Studienwerk Villigst e.V., das mich von 2001 bis 2003 mit einem Promotionsstipendium finanziell unterstützte, möchte ich mich ebenso bedanken wie beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und Österreichischen Austauschdienst (ÖAD), die mir in der Anfangsphase mit einem Kurzstipendium einen ersten Forschungsaufenthalt in Wien ermöglichten. Schließlich und endlich möchte ich mich bei meinen Freundinnen und Freunden in Würzburg, Wien und Amsterdam bedanken, die mich in den vergangenen Jahren in jeder Hinsicht unterstützt und ermutigt haben, diese Arbeit zu schreiben und zu vollenden. Wien, im Herbst 2004
Giselheid Wagner
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Wien am Umbruch zur »Moderne«: Kultur und Literatur um 1900
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Wien um 1900: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 1.1 Die vielen Gesichter der »Moderne«: Die Weltausstellung in Wien 1873 1.2 Liberalismus und bürgerliche Ideologie 1.3 Die Novellen aus Österreich: Das »sozialhistorische« Projekt Saars Textwelten: Politik, Kultur und Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert . . . 2.1 Dissonante Modernediskurse: Feudalismus, Liberalismus und Sozialismus in Dissonanzen 2.2 »Meinungsverwirrungen in der Kunst« - Der Hellene zwischen Künstlerhaus und Secession Der Mythos vom Dornröschenschlaf: Ferdinand von Saar und das »Junge Wien« 3.1 Der »Dornröschenschlaf« der Literatur vor 1 8 9 0 - Kritik eines Forschungsmythos 3.2 Saar und die Zeitschriften der »Moderne« 3.2.1 Moderne Dichtung und Moderne Rundschau - Publizistisches Sprachrohr der Moderne oder Treffpunkt für alle Zeitströmungen? 3.2.2 Ornamentaler Ästhetizismus: Ferdinand von Saar und die Zeitschrift Ver sacrum 3.3 »Alt-Wien« und »Jung-Wien«: Zum problematischen Verhältnis zweier Generationen am Beispiel Saars und der Autoren der »Wiener Moderne« 3.3.1 Ambivalente Reflexionsbewegungen: Saars Modemekonzeptionen 3.3.2 Die Huldigungen des »Jungen Wien«: Die Verehrung des »Meisters« durch die Jungen 3.3.2.1 Hermann Bahrs Saar-Aufsätze und die Veröffentlichung des Herrn Fridolin 3.3.2.2 »Dem Meister der österreichischen Dichter« Zu den Widmungen der Erstausgaben des »Jungen Wien«
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3.3.2.3 Trost für ein wenig zuversichtliches Geschlecht: Hofmannsthals Kostenitz-Aufsatz II 1
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Zwischen liberaler Anthropologie und materialistischem Determinismus: Saars anthropologische Verunsicherung Anthropologische Konzepte des 19. Jahrhunderts: Zwischen Idealismus und Materialismus 1.1 Positionen Saars in der Korrespondenz: Vom Idealisten zum Nihilisten 1.2 Im Zeichen der Naturwissenschaften: Schopenhauer, Darwin und der Materialismus 1.3 Das »Schicksal als Notwendigkeit« - Determinismus als Ende der Subjektautonomie Medizin, Natur und Fortschritt in Doktor Trojan Ein Blick hinter die symbolischen Fassaden: Textuelle Konsequenzen der neuen Anthropologie 3.1 Die sprachliche Fassade: Verdrängung und Symbolik 3.2 Dominanz der neuen Anthropologie: Offener Materialismus und Pessimismus
III Obsessionen des Blicks: Voyeurismus und Subjektkonstitution 1
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Zur Geschichte der Schaulust: Vom aufklärerischen zum voyeuristischen Subjekt 1.1 Kontrolle des Sehens und bürgerliche Identität: Kulturhistorische Implikationen einer Geschichte des Auges 1.2 Voyeurismus und Hysterie: Freud und die Folgen 1.3 Das paradoxe Begehren: Voyeurismus als Preisgabe der Subjektautonomie 1.4 Im Bild der Camera obscura: Vom Projektionsapparat zur »dunklen Kammer« der Psyche Sehen und Machtverlust: Der Erzähler als Voyeur 2.1 Der Erzähler als Flaneur und Voyeur: Das Haus Reichegg und Die Geigerin 2.2 Der verunsicherte Erzähler: Leutnant Burda Voyeuristische Urszenen: Visuelle Verfahren als imaginiertes Begehren eines männlichen Bewußtseins 3.1 Die Unerfüllbarkeit des Begehrens: Zur Paradoxie des Voyeurismus in Requiem der Liebe und Geschichte eines Wienerkindes 3.2 Fensterblicke und Madonnenblicke 3.3 Die Überwindung des Begehrens im Bild: Strategien der Sublimierung in der frühen Erzählung Innocens
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IV Topik der Stadt: Ambivalenzen des Raums
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Die Großstadt als Ort der »Moderne« 1.1 Orte des Übergangs - »Passagen« zwischen Raum und Zeit 1.2 Die Lesbarkeit der Stadt: Psychoanalyse, Stadtanalyse, die »zweite Stadt« 1.3 Literatur als Historiographie: Das Projekt der Novellen aus Österreich Alt-Wien und Neu-Wien: Die urbane Topographie Saars 2.1 Die Sicherung des Stadtganzen: Zyklische Raum- und Zeitstrukturen 2.2 Der Schwellenraum Ringstraße und ihre Metaphorik: Ödnis, Wüste, Oase 2.3 Wunschzonen des alten Wien: Die Innere Stadt und die ländlichen Vororte 2.4 »Hier webt sich das Schicksal der Welt«: Die Vorstadt als das »Unbewußte der Stadt« Raum und Geschlecht: Die Spuren des Weiblichen 3.1 Bürgerliche Raumtrennung und Topik der Psyche 3.2 »Männliche« und »weibliche« Orte: Zur Rolle des Interieurs 3.3 Parks als »Oasen der Großstadt«: Zur Ambivalenz des Gartenraums Denkmäler und nationale Narrationen: Die Österreichischen Festdichtungen 4.1 Denkmalkult und historische Beglaubigung: Saars Beitrag zum Ringstraßenbau 4.2 Patriotische Töne und ihr Widerruf: Die Österreichischen Festdichtungen im Vergleich
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Topik der Geschlechter: Konstruktionen des Weiblichen
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Geist und Männlichkeit: Identitätskonstruktionen bei Saar 1.1 Zur fragwürdigen Konstruktion männlicher Identität: Autorschaft und Soldatentum 1.2 »Documenta feminina« von kulturhistorischem Wert: Zur Diskussion weiblicher Autorschaft in Sappho 1.3 Der Mythos der männlichen Autorschaft 1.3.1 Mäzenatentum und Salonkultur: Der Autor unter weiblicher Patronage 1.3.2 Autorschaft als Zeugung und Geburt: Geschlechtsspezifische Zuweisungen des kreativen Schaffensaktes 1.4 Weibliche Natur versus männlicher Geist: Geschlechterkonstellationen in der Lyrik
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IX
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Kaleidoskop der Geschlechter: »Imaginierte Weiblichkeit« im Text 2.1 Trieblosigkeit oder Triebbesessenheit der Frau? Weiblichkeitsentwürfe des 19. Jahrhunderts zwischen Asexualität und Erotomanie 2.2 Strategien der Zähmung: Die entsexualisierte Frau 2.2.1 Natur und Weiblichkeit: Biedermeierliche Anachronismen in Marianne 2.2.2 Kontraste: Gegensätzliche Frauenbilder in Der Exzellenzherr 2.3 Zwischen Wollust und Abscheu: Die Gefährdung männlicher Vernunft durch die triebhafte Frau (Die Troglodytin) Weibliche Flucht(t)räume: Variationen des Hysteriediskurses 3.1 Geschlecht als Maskerade: Inszenierungen und Theatralität in Ninon 3.2 Anpassung und Abwehr - Zur symbolischen Sprache der Hysterie in Schloß Kostenitz 3.3 »Unser Haus war meine Welt« - Das Wienerkind zwischen Emanzipation und Abhängigkeit
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Schluß
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Bibliographie
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Register
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Einleitung
»Sich selbst erkennen, heißt sich selbst vernichten.« (Ferdinand von Saar: Zuletzt, 1899)
Das 19. Jahrhundert gilt gemeinhin als ein schwieriges Jahrhundert der Umbrüche und der Widersprüche. 1 Auf der einen Seite ist es als Zeitalter der deutschen Klassik und des philosophischen Idealismus einer Tradition verpflichtet, die eine sinnvolle und ganzheitliche Weltdeutung für möglich hält und den »Geist« als obersten Hüter der Wahrheit ansieht. Die Aufhebung des Kantianischen Dualismus von Erscheinung und Ding an sich in Hegels spekulativem Idealismus führt zu einer »Logifizierung« der Welt: Auch das Sinnwidrige soll letztlich in ein vernünftiges Erklärungsmodell übertragen werden. 2 Gleichzeitig machen sich aber im Sinngefüge des Vernunftdenkens erste Risse bemerkbar: Mit Schopenhauers Metaphysik nickt eine neue Dimension in die Vorstellung von der Welt und vom Menschen, die folgenreich für die anthropologischen Grundannahmen des Jahrhunderts ist: Die Einführung des »Willens« als der affektiv-triebhaften Naturseite des Menschen führt zu einer zunehmenden Naturalisierung der Anthropologie, die immer mehr unter den Einfluß der Naturwissenschaften und positivistischer Vorstellungen gerät. 3 Materialistische Theorien leugnen eine teleologische Verfaßtheit der Welt und unterwerfen auch den Menschen einer mechanischen und biologistischen Vorstellung. Die Seele wird so zu einer bloßen »Funktion des Gehirns« degradiert, die Autonomie des Geistes grundsätzlich widerlegt. 4 In diesem Spannungsfeld zwischen Idealismus, dessen sich die liberale bürgerliche Anthropologie bedient, und einem radikalen atheistischen Materialismus, der vor allem von naturwissenschaftlicher Seite propagiert wird, bewegen sich die anthropologischen Diskurse jenes Jahrhunderts, die auch für die Literatur nicht ohne Folgen bleiben. Themen wie die Rolle der Sexualität, die Frage des Trieblebens, der pathologischen Deviation oder des Wahnsinns finden Eingang in die Literatur und zeigen, daß die idealistischen Prämissen, die auch im Realismus weiterwirken, einer grundlegenden Verunsicherung unterliegen: Man versucht, die tabuisierten anthropologischen Hypothesen abzuwehren, indem man sie als Pathologie eines Einzelfalls kritisiert und ihnen realistische Repräsentanz abspricht - der Einzelfall muß immer
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Siehe: Jürgen Barkhoff; Gilbert Carr; Roger Paulin (Hg.): Das schwierige 19. Jahrhundert. Tübingen 2000. Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997. S. 86f. Wolfgang Riedel: »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin, New York 1996. S. 41. Horst Thome: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen 1993. S. 34.
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auf eine allgemeine Conditio humana verweisen, hier hingegen handele es sich um einen Ausnahmefall. 5 Die Texte legen somit Zeugnis ab von dieser »materialistischen Irritation der liberalen Anthropologie«, 6 sie werden zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen einem idealistischen Harmoniestreben und einer materialistischen Verstörung, wie Horst Thome am Beispiel von Saars Erzählung Die Geigerin gezeigt hat. 7 Unter dem Einfluß Arthur Schopenhauers bildet sich bei Ferdinand von Saar ein fortdauernder Widerstreit zwischen der Hoffnung auf eine teleologische Sinnhaftigkeit der Welt und der illusionslosen Erkenntnis eines nicht vernunftgelenkten, sondern vielmehr destruktiven Weltenlaufs heraus. »Natura daemonia est, non divina« 8 - diesen Ausspruch Schopenhauers illustrieren Saars Texte hinlänglich und verabschieden damit eine göttliche Lenkung der Welt, die von nun an der immanenten Herrschaft des Triebes unterliegt. Die aufklärerischen Errungenschaften stehen damit in Frage: Wie ist es um die Autonomie des Subjekts bestellt, wenn es seiner eigenen Vernunft nicht mehr sicher sein kann? Ist eine rationale Beherrschung der Welt durch den Menschen überhaupt noch möglich oder wird nicht der Mensch vielmehr von Kräften beherrscht, über die er selber keine Kontrolle mehr hat? Die Widersprüche, die sich hier offenbaren, sind nicht lösbar und nicht in ein logisches, einheitliches System übersetzbar. Für die Literatur heißt dies: Auch sie ist von dem permanenten Widerspruch gekennzeichnet, daß die ursprünglichen Prämissen von Selbstbestimmung und Subjektautonomie in Fremdbestimmung und Deter-
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Zur Realismusforschung hier nur eine Auswahl: Richard Brinkmann: Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1957. - Ders. (Hg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Darmstadt 1969. - Ulf Eisele: Realismus und Ideologie. Zur Kritik der literarischen Theorie nach 1848 am Beispiel des »Deutschen Museums«. Stuttgart 1976. - Edward Maclnnes; Gerhard Plumpe (Hg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848-1890. München 1996. (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur; Bd. 6.) - Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898. 4. Aufl. Stuttgart 1981. - Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 1963. - Ders.: Wege des Realismus. Zur Poetik und Erzählkunst im 19. Jahrhundert. München 1976. - Helmuth Widhammer: Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 18481860. Tübingen 1972. - Ders.: Die Literaturtheorie des deutschen Realismus (1848-1860). Stuttgart: Metzler 1977. Bezüglich der Realismusdebatte muß angemerkt werden, daß es einen programmatischen Realismus wie in Deutschland in Österreich nie gegeben hat. Freilich ist auch bekannt, daß die Autoren des »poetischen Realismus« von den Diskursen des »programmatischen Realismus« zu unterscheiden sind, daß also z.B. pathologische Themen, die von den Programmatikern kritisiert und ausgeschlossen werden, in der Literatur durchaus diskutiert werden. Siehe z.B.: Thomas Anz: Das Poetische und das Pathologische. Umwertungskriterien im programmatischen Realismus. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hg. v. Michael Titzmann. Tübingen 2002. S. 3 9 3 ^ 0 7 . Horst Thome: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. S. 39. Ebd., S. 37ff. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. II. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. S. 409.
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minismus umschlagen. Die Texte eines Autors wie Saar, der ganz erheblich von diesen anthropologischen Diskursen beeinflußt ist, müssen folglich zwangsläufig von Brüchen durchkreuzt sein, die sich nicht in eine harmonische Interpretation auflösen lassen. Dies hat auch methodische Folgen: Wenn die Texte uneindeutig sind, keine klare Stellung beziehen oder sich gar widersprechen, so ist ihnen mit einer rein hermeneutischen Lesart kaum beizukommen. Die bisherige Saar-Forschung hat diese Problematik in keiner Weise erkannt und sich nie die Frage gestellt, ob nicht vielleicht ihre eigene Herangehensweise, nämlich der zwanghafte Versuch der Freilegung von Sinn, Ursache für das negative Urteil sein könnte, das Saar als biedermeierlichen Provinzautor mit idyllischen Tendenzen in die Ecke des wenig interessierenden »poeta minor« steckt. Wo eine gewaltsame Unterwerfung des Textes unter ein theoretisches Modell nicht funktioniert, darf die Ursache freilich nicht dem Text angelastet werden, sondern muß vielmehr zu einer Kritik des Modells führen. Der Text ist eben »nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren.« 9 Daß die Interpretation sich hierbei sowohl von der Suche nach einer sogenannten Autorintention befreien muß als auch Mißtrauen gegenüber der oberflächlichen Textaussage entwickeln muß, liegt auf der Hand: Was ein literarischer Text sagt, ist nicht schon - und vielleicht nie - , was er bedeutet. Nichts, was gesagt wird, kann ein schlüssiges Kriterium dafür enthalten, daß es auch gemeint sei. Literarische Texte sind also durchweg kognitive Prozesse, die den möglichen Erkenntnisgehalt sprachlicher Aussagen und damit ihren eigenen systematisch bezweifeln. 10
In der Saar-Forschung ist von einem derartigen Zweifel an der wörtlichen Textaussage wenig zu spüren, so wie überhaupt neuere literaturwissenschaftliche Methoden hier noch nicht angekommen zu sein scheinen. Saars Texte verführen freilich zu einer wörtlichen Lesart: Der immer wieder eingesetzte Ich-Erzähler scheint in seinen Wertvorstellungen mit dem Autor identisch zu sein und beeinflußt den Leser in seiner Bewertung des Geschehens stark. Gerade deshalb konnte sich wohl in der Saar-Forschung eine biographistische Lesart lange Zeit behaupten - und das, obwohl abgesehen von den äußeren Fakten über Saars Leben nur wenig bekannt ist. Leben und Werk wurden lange als Einheit gesehen: Saar als typisch österreichischer Schriftsteller, 11 der die Eigenheiten der untergehenden Donaumonarchie als Soldat am eigenen Leib erfuhr, Saar als Chronist der österreichischen Gesellschaft, als Verteidiger konservativer Werte. In einer Art »psychologischer« Interpretation, einem »Hineinversetzen« (Dilthey) in den Autor wollte man die scheinbare Intention des Autors herausarbeiten und dem Text damit den einen, wahren Sinn geben. Nach
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Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/M. 1988. S. 11. Werner Hamacher: Unlesbarkeit. In: Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M. 1988. S. 7 - 2 6 . Hier: S. 9. Hansres Jacobi: »Diese innerliche österreichische Grundstimmung«. Ferdinand von Saars Leben und Werk. In: Vermittlungen. Kulturbewusstsein zwischen Tradition und Gegenwart. Zürich 1986. S. 1 1 0 - 1 1 5 .
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Lektüre der Erzählungen stellte man fest, der Dichter sei ein »Freund der Vergangenheit«, 12 »die Flucht aus der Großstadt in ländliche Zurückgezogenheit [...] das Hauptmotiv« seiner Texte. 13 Auch die zeittypischen Diskurse über Sexualität und das menschliche Triebleben unterliegen in diesem Zusammenhang einer Kritik, die nicht nach den Ursachen und Zusammenhängen fragt, sondern ästhetische Urteile fällt. 14 Derartige Fehldeutungen gipfeln in dem Verdikt von Claudio Magris, man solle von Saars Dichtung nicht mehr verlangen als sie zu geben imstande sei und sich nicht gegen die Begrenzung wenden, die sie eben habe. 15 Erst die Entscheidung, die Brüche und Ambivalenzen in Saars Texten nicht im Sinne einer einsinnigen Interpretation begradigen zu wollen, eröffnet der Saar-Forschung neue Horizonte, die weder die ästhetische Abwertung noch die bloße Reduktion Saars als Vorläufer der »Wiener Moderne« wiederholen, sondern ihm einen eigenen, vielversprechenden Ort in der Literatur des 19. Jahrhunderts zuweisen. So hat die seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gängige Deutung Saars als Vorreiter der literarischen »Moderne« um 1900 zwar insgesamt zu einer Wiederentdeckung und Rehabilitation des lange vergessenen Autors geführt, 16 doch endet diese Deutung immer dort, wo Saar dem Modernediskurs nicht mehr folgen will und konservative, modernekritische Impulse zeigt. Erst eine Interpretation, die beide Seiten seines Schreibens ernst nimmt und die Widersprüche als Teil einer historischen Umbruchssituation begreift, kann hier neue Ansätze erarbeiten. Es ist die Erfahrung des krisenhaften 19. Jahrhunderts in seinen historischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Dimensionen, die den Umbruch der Konzepte herbeiführt und Saar zum Autor einer Schwellensituation werden läßt. Die bislang als gesichert geltenden Positionen der rationalen Herrschaft des autonomen Subjekts über die Welt und einer sinnvollen Ordnung der Welt zeigen allerorts Auflösungserscheinungen. Sie stehen allesamt im Zeichen eines Machtverlusts des Subjekts, das nun, statt die Objektwelt
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Dieses Zitat aus den ersten Sätzen der Erzählung Die Geigerin wird immer wieder dem Autor selber in den Mund gelegt. Siehe: Kasim Egit: Ferdinand von Saar. Thematik und Erzählstruktur seiner Novellen. Berlin 1981. S. 20. Ebd., S. 21. So wirft Hermann Kunisch Saar vor, dem »Ungeschmack« zu verfallen und ins »Hemmungslose, Triebhafte« abzugleiten, was er mit einem moralischen Urteil verknüpft. Siehe: Ders.: Ferdinand von Saar, >Schloß KostenitzConcordia< und Ehrenmitglied des >Vereines zur Abwehr des Antisemitismus^« In: W S t L B I.N. 34.222. Antisemitismus ist dem Liberalismus daher völlig fremd. Er wird vielmehr gerade vom Glauben an die Integrations- und Assimilationsfähigkeit des jüdischen Bürgertums getragen. Religion spielt zudem generell keine große Rolle: So stellt der Widerstand der Liberalen gegen das Konkordat von 1855 einen Kampf um die Unabhängigkeit von Staat und Bildung von der Kirche dar. Um die Erzählung Seligmann Hirsch entbrannte ein Antisemitismus-Streit, der allerdings auf fragwürdige Argumente zurückgreift und wieder einmal die künstlerische Distanz zwischen dem Autor und seinem Erzähler nicht berücksichtigt. Norbert Miller schreibt z.B.: »Latent ist bei Ferdinand von Saar der Zug ins Antisemitische so unverkennbar wie bei Gustav Freytag.« - Die oben zitierten Briefstellen und seine weltanschauliche Grundhaltung mögen Beleg genug sein, daß eine Ideologie wie der Antisemitismus den Skeptiker Saar sicherlich nicht in ihren Bann ziehen konnte. Siehe: Norbert Miller: Das Bild des Juden in der österreichischen Erzählliteratur des Fin de siecle. Zu einer Motivparallele in Ferdinand von Saars Novelle >Seligmann Hirsch< und Arthur Schnitzlers Roman >Der Weg ins Freieein Novellenbuch aus Österreich< mit wahrhaft gediegenen Beiträgen herauszugeben, so übel nicht. Vielleicht wird er einmal zur That.« Siehe: Briefwechsel Ebner-Eschenbach - Saar. S. 29. Anton Bettelheim: Saars Leben und Schaffen. In: SW I, 159.
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Jede meiner Novellen ist ein Stück österreichischer Zeitgeschichte, und es ist geradezu unbegreiflich, daß man dies von Seiten der Kritik gar nicht bemerkt - oder doch wenigstens nicht hervorhebt. 30
Die Betonung des Historischen, des gesellschaftlichen Bezugs und der Lokalfarbe wird in der Korrespondenz Saars zu einem grundlegenden Deutungsansatz für seine Erzählungen; gegenüber Abraham Altmann bezeichnet Saar seine Texte als »treue[n] Spiegel von 50 Jahren oesterreichischer Cultur [sie]«.31 Er versteht seine Erzählungen insofern als »historische« Novellen, »als sie gewissermaßen die letzten 50 Jahre österreichischer Geschichte in nuce vorführten].« 32 Daß seine Texte daher auch heute als historische Dokumente über die soziokulturellen Entwicklungen der späten Donaumonarchie gelesen werden können, hat Rossbacher in seiner Monographie über die liberale Ära in Österreich nachgewiesen: Anhand des Beispieltextes Schloß Kostenitz entfaltet er die thematische Spannbreite seiner Monographie und zeigt auf, daß die entscheidenden Themen der österreichischen Gesellschaft jener Zeit allesamt in dieser einen Novelle enthalten sind. 33 In mehr oder minder ausgeprägter Weise haben alle Erzählungen Saars an dieser »sozialhistorischen« Methode teil; die Figuren sind durchweg Kinder ihrer Zeit, häufig Opfer der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Saar entwickelt auf diese Weise ein diskursives Kaleidoskop, das in immer neuen Konstellationen gemischt und durchgespielt werden kann. Am besten werden seine Texte freilich da, wo sie die Vielheit der Perspektiven und Weltdeutungen nicht vereinheitlichen wollen, wo sie keine Antworten geben wollen, sondern Fragen stellen und die Zustände für sich selber sprechen lassen. Die daraus entstehende Ironie relativiert den Text und zeigt die Überholbarkeit jeder für einen Moment richtig erscheinenden Überzeugung.
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Textwelten: Politik, Kultur und Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert
2.1 Dissonante Modernediskurse: Feudalismus, Liberalismus und Sozialismus in Dissonanzen Die Gegenüberstellung zweier Figuren, die gegensätzliche Weltbilder und gesellschaftliche Positionen vertreten, ist ein beliebtes Mittel Saars, um die Abfolge der Epochen und gleichzeitig auch die Relativität aller Überzeugungen zu demonstrieren. Wenn in Schloß Kostenitz zum Beispiel der alte Baron Günthersheim und der junge Graf Poiga-Reuhoff aufeinandertreffen, so stehen sich hier nicht nur zwei
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Brief an Marie zu Hohenlohe vom 8. Februar 1889. In: Fürstin Marie zu Hohenlohe und Ferdinand von Saar. Ein Briefwechsel. Hg. v. Anton Bettelheim. Wien 1910. S. 195. [im folgenden zit. als: Briefwechsel Hohenlohe - Saar] Brief an Abraham Altmann vom 15. Mai 1897. In: Ferdinand von Saar. Briefwechsel mit Abraham Altmann. Hg. v. Jean Charue. Bonn 1984. S. 141. [im folgenden zit. als: Briefwechsel Altmann - Saar] Brief an Adam Müller-Guttenbrunn vom 8. März 1892. In: WStLB I.N. 34.241. Karlheinz Rossbacher: Literatur und Liberalismus. S. 33-42.
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Rivalen um eine Frau gegenüber, sondern insbesondere auch zwei Vertreter unterschiedlicher Zeitalter. Ähnlich in Wae victis.', wo der alte Baron Brandenberg ansehen muß, wie seine Frau Corona ihn mit einem jungen Gelehrten betrügt, der der neuen führenden Gesellschaftsschicht angehört, die mit dem alten Offizier nichts mehr anzufangen weiß. Diese Technik verräumlicht die für die »Moderne« so signifikante »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« - an einem Ort treffen gegensätzliche epochale Diskurse aufeinander. Einem Text gelingt die beschriebene Methode in ganz außerordentlicher Weise: In der kurzen und handlungsarmen Erzählung Dissonanzen (1900) entfaltet Saar sein ganzes Können als Seismograph seiner eigenen Gesellschaft. Die Erzählung, von Bettelheim als »Dialognovelle« (SW XI, 171) bezeichnet, löst die dargestellte Welt in reine Sprachdiskurse auf und entlarvt die Lächerlichkeit der festgefahrenen Überzeugungen. Die Diskurse werden nicht durch die Fundamentalkritik eines Erzählers entwertet, der das Geschehen beobachtet und bewertet, sondern entlarven sich gegenseitig durch bloße Gegenüberstellung. Was daraus entsteht, sind keine wohlklingenden »Harmonien«, sondern schräge »Dissonanzen«, wie der Titel der Erzählung in Anlehnung an musiktheoretische Begriffe suggeriert. 34 Die Erzählung läßt auf einer Abendgesellschaft eine Reihe von Gästen auftreten, die jeweils für bestimmte ideologische Positionen stehen: So entspricht die junge Gräfin dem Bild der emanzipierten »Mannfrau«, die provokativ in Männerdomänen eindringt und zigarrerauchend mit den Herren Karten spielt, nachdem sie zuvor bereits an der Jagd teilgenommen hatte. Nicht minder ironisch werden der Bismarck-, Nietzsche- und Wagnerbegeisterte Hofmeister und das junge Fräulein dargestellt; außerdem eine alternde Französin, die »an dem überwundenen Begriff der >WeiblichkeitSichausleben< hindert, größtenteils von unglücklichen Geschöpfen herrühren, die - wie ja auch so viele Männer - v o m anderen Geschlechte nicht begehrt werden.« ( S W XII, 37)
Die Diskussion der beiden Männer über weibliches Schreiben zeigt, wie sehr Autorschaft und Männlichkeit eine selbstverständliche Verbindung eingegangen sind: Weibliche Autorschaft kann von ihnen nur als Mangel aufgefaßt werden; schreibende Frauen kompensieren etwas, was ihnen zum Glücklichsein fehlt. Damit ist weibliches
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Schreiben im Grunde anormal, ein außergewöhnliches Symptom der Epoche, das der Beobachtung und Korrektur bedarf. Diese Diskreditierung weiblicher Autorschaft ist freilich nicht neu, sondern geht bereits auf das 18. Jahrhundert zurück, in dem eine breite Diskussion um die Möglichkeiten weiblicher Autorschaft geführt wird. 6 Mit dem Hinweis auf die von Natur und Vernunft diktierte Neigung des Mannes zu geistiger Produktion wird der Frau schriftstellerische Tätigkeit untersagt, allenfalls nützliche oder moralische Schriften für und über Frauen werden ihr zugestanden. Wissenschaftliche oder philosophische Schriften hingegen sollen Männern vorbehalten bleiben; Johann Gottlieb Fichte urteilt den Wunsch vieler Frauen nach literarischer Betätigung in seinem Grundriß des Familienrechts abfällig als »Begierde der Weiber, Schriftstellerei zu betreiben« ab. 7 Die Vorstellung einer Berufsschriftstellerin ist gesellschaftlich nicht akzeptabel, was dazu führt, daß literarische Tätigkeit von Frauen einer Art von »Geschlechtszensur« unterstellt wird. 8 Daß eine Schriftstellerin einen Berater und Zensor braucht, wird auch in Saars Texten immer wieder vorgeführt: Neben Sappho ist auch die Schriftstellerin Elsa Röber aus der Geschichte eines Wienerkindes ein prominentes Beispiel hierfür. 9
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Aus der umfangreichen Forschung zu diesem Thema hier einige ausgewählte Titel: Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit: Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800. Stuttgart 1987. - Annette Kliewer: Geistesfrucht und Leibesfrucht: Mütterlichkeit und »weibliches Schreiben« im Kontext der ersten bürgerlichen Frauenbewegung. Pfaffenweiler 1993. - Susanne Kord: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700-1900. Stuttgart, Weimar 1996.- Kurt Erich Schöndorf; Elin Nesje Vestli; Thomas Jung (Hg.): Aus dem Schatten treten. Aspekte weiblichen Schreibens zwischen Mittelalter und Romantik. Frankfurt/M. 2000. - Karin Tebben (Hg.): Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen 1998. Johann Gottlieb Fichte: Grundriß des Familienrechts. Zit. n.: Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche - Werke - Wirkung. München 2000. S. 53. Ebd., S. 53ff. - Gemeint ist mit diesem Begriff sowohl die Kontrolle männlicher Mentoren über weibliche Literatur als auch die anonyme oder Pseudonyme Veröffentlichung vieler Frauen sowie der freiwillige Verzicht auf literarische Tätigkeit insgesamt, wie viele Frauen berühmter Schriftsteller belegen (z.B. Sophie Brentano oder Dorothea Schlegel). Auch Saar selber betätigte sich bekanntermaßen als Mentor der Wiener Schriftstellerin Ada Christen (d.i. Christiane Breden), der er zu nötigen Verlagskontakten verhalf und deren Texte er korrigierte und umarbeitete. Später wurde Theodor Storm zu einem Berater Ada Christens. Sie schreibt in einem undatierten Curriculum Vitae hierzu: »Ferdinand von Saar war es welcher auf die Gedichte aufmerksam wurde, die in losen ungedruckten Blättern [...] waren, so wie sie die Jahre hindurch nur Eindrücken und wechselnden Stimmungen entstanden, ihren goetischen Werth betonte, kleine Anleitungen gab, sie dann sammelte ordnete, einen Titel gab, und an den Verleger sandte.« (Rechtschreibung und Zeichensetzung wie im Original) In: WStLB I.N. 135.606. - Der (unveröffentlichte) Briefwechsel zwischen Ada Christen und Ferdinand von Saar (in der Handschriftenabteilung der WStLB) läßt eine eher herablassende Haltung Saars gegenüber der Kollegin erkennen. Nachdem er ihr bei der Herausgabe ihres ersten Gedichtbandes Lieder einer Verlorenen behilflich gewesen war, läßt er später negative Urteile über Christens Texte verlauten, so z.B. in einem Brief vom 8. März 1869: »Auf mich und mein Reden, obgleich ich es war, der sie in die Literatur eingeführt, gibt sie nicht viel. So habe ich ihr eindringlich abgeraten, ihren Roman Ella, der mir trotz einiger bewunderungswürdiger Kraftstriche ob seiner rohen, gemeinen und - was noch schlimmer ist - verlogenen Subjektivität höchlich miß-
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Jener Schriftstellerfreund, der in Sappho die Diskussion in Gang bringt, hat sich jedenfalls die Beobachtung des Weiblichen zur Aufgabe gemacht: Er ist Analytiker der weiblichen Psyche, über die er Fakten und Dokumente sammelt. An die Erforschung geht er mit wissenschaftlicher Akribie heran: Dem Ich-Erzähler überreicht er ein Paket mit Aufzeichnungen und Liebesbriefen von Schriftstellerinnen, die »documenta feminina« (SW XII, 38), die ihm sozusagen das Rohmaterial für seine Studie liefern. Er erklärt seinem Freund dazu: Im einzelnen wie im ganzen jedoch sind es höchst charakteristische Kundgebungen, die ich im Laufe der Jahre aufgesammelt. Für einen Erforscher der weiblichen Psyche können sie von Wert sein. Auch kulturhistorisch sind sie nicht uninteressant. Denn sie umfassen mehr als ein halbes Jahrhundert und stammen aus allen Schichten der Gesellschaft. So weisen sie auch alle Bildungsgrade auf - von naiven und unorthographischen Ergüssen rückständiger Gretchen bis zu geistvollen Emanationen des auf der Höhe des heutigen Lebens angelangten Weibes. (SW XII, 38)
Mit soziologischer Methode geht er an die Erforschung des Phänomens der weiblichen Autorschaft heran: Schichtenzugehörigkeit und Bildungsgrad werden berücksichtigt, ungebildete Analphabetinnen ebenso in die Studie einbezogen wie gebildete, höherstehende Frauen; das Ganze wird mit dem kulturhistorischen Wert begründet, den eine solche Forschung für spätere Generationen haben könne. Der Mann als vermeintlich wissenschaftlicher Erforscher der weiblichen Psyche - die Frau als wissenschaftliches Forschungsobjekt des Mannes. Die Erzählung wird so zu einer Fallstudie, die wissenschaftliches Gepräge vorgibt, um glaubwürdig zu sein - damit stellt sie sich in eine Riege mit den späteren Fallstudien Freuds, die sich gleichzeitig »wie Novellen« lesen. Der Fortgang der Erzählung versucht nun, genau diese »These« zu bestätigen: Weibliche Autorschaft ist immer eine Folge unbefriedigter Liebe beziehungsweise eine Folge der Rollenverfehlung der Frau. Der Freund ist im Rahmen seiner »Erforschung der weiblichen Psyche« vor vielen Jahren auf einen speziellen »Fall« gestoßen, der ihn in seiner Meinung nur bestärkt hat: Auf einer abendlichen Einladung trifft er eine debütierende Schriftstellerin, die ihrerseits literarische Kontakte sucht, die sie benötigt, um auf dem literarischen Markt zu reüssieren. Es entspinnt sich zwischen den beiden eine kurze Beziehung, die dann jedoch von ihrer Seite abgebrochen wird. Der Schriftstellerin werden genau die Argumente in den Mund gelegt, die zuvor der »Erforscher der weiblichen Psyche« genannt hatte; seine Argumente werden also auch aus weiblicher Perspektive legitimiert. Nachdem sie ihn ohne Erklärung verlassen hat, schreibt Sappho ihm einen Brief, in dem sie ihm die Beweggründe ihres Handeln erklärt und ihm ihre Lebensgeschichte beichtet: Ihr Unglück sei es, sehr tiefe Empfindungen und ein großes Bedürfnis nach Liebe zu besitzen, aber äußerlich so häßlich zu sein, daß sie keinen Mann an sich binden könne. Diese abwegig erscheinende These untermauert sie mit einzelnen Episo-
fällt, zu veröffentlichen. Aber halte einer eine abgeschossene Kugel auf!« - In: Irene von Schellander: Ferdinand von Saar an Friedrich Marx. In: Heimgarten 31 (1907). S. 3 6 2 371. Hier: S. 368.
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den aus ihrem Leben: Schon als Kind habe sie einen Jungen geliebt, der sich aber immer mit anderen Mädchen abgegeben habe; ihre geplante Hochzeit sei schließlich abgesagt worden, weil der Bräutigam von einer »tiefefn] körperliche[n] Abneigung« ( S W X I I , 52) gegen sie ergriffen worden sei, und auch alle anderen Männerbekanntschaften seien immer daran gescheitert, daß ihre Schönheit nicht ausgereicht habe, eine dauerhafte Liebe der Männer zu wecken. Dieser »unselige Hang«, diese »krankhafte[n] Triebe« ( S W X I I , 5 0 ) stürzen die Frau ins Unglück: Sie begehrt tiefe Gefühle und Liebe; der Mann kann sie aber aufgrund ihres reizlosen Äußeren niemals lieben. Schönheit und Liebe sind die einzige Daseinsberechtigung der Frau Schönheit, um von einem Mann zur Ehefrau erwählt zu werden. Diese einer Frau in den Mund gelegten Worte werden noch mit einem Vierzeiler eines Mannes affirmiert, der genau das gleiche formuliert: Wenn je das Schicksal fluchen will, So gibt es einem Weib Ein Herz begehrend tief und still, Doch ohne Reiz den Leib. (SW XII, 5 0 )
Was bleibt einer Frau also, die von einem solchen »Schicksal« getroffen wird? Sie hat aus der Sicht der männlich-bürgerlichen Gesellschaft nicht viele Verwirklichungsmöglichkeiten, da ihr die wichtigste Rolle, nämlich die der Hausfrau und Mutter, vorenthalten bleibt. Nur eine Frau, die Schönheit besitzt, diese zu gelegentlicher Koketterie einsetzt, dann aber ihrer Rollenerwartung folgt und einen passenden Mann heiratet, kann glücklich werden: Sie wollen gefallen, sich bei anmutigen Flirten unterhalten - und sich schließlich angemessen verheiraten. Daß sie dann wünschen und fordern, ihr Mann möge sie gern haben, ihnen die eheliche Treue bewahren, ist selbstverständlich. Leidenschaftliche Emotionen aber, allzu heißblütige Zärtlichkeiten begehren sie - wenigstens auf die Dauer - nicht, j a sie werden ihnen sehr oft unangenehm und lästig. ( S W XII, 5 0 )
In dem umgekehrten Fall scheint es keine Lösung zu geben; diese Möglichkeit ist in der männlichen Vorstellung nicht vorgesehen. Martha weiß sich nach all den Mißerfolgen keinen anderen Rat, als ihre Erlebnisse und Gefühle niederzuschreiben: S o entsteht ihr erster Roman, der folglich reine »Bekenntnisliteratur« ist, den sie auch selbst als nicht besonders gelungen einschätzt, der aber trotzdem von einem Verlag angenommen und gedruckt wird. Das Urteil der männlichen Kollegen liegt auf der Hand: Um wirkliche Kunst kann es sich bei einem solchen Roman nicht handeln; er ist eine aus der Not entstandene Tagebuchniederschrift, die nie einen Anspruch auf höhere literarische Ambition hatte. Trotzdem stellt das literarische Debüt Marthas einen Anspruch, der ihre männlichen Schriftstellerkollegen verunsichern muß: Sie begibt sich mit ihrer Tätigkeit und sei sie literarisch noch so anspruchslos - in die Sphäre des Geistes, die eine männliche ist. Es besteht also eine Gefahr, die wieder nur ins Unglück führen kann: Martha befindet sich auf »unweiblichem« Gebiet, wenn sie schreibt; sie kehrt die Geschlechterverhältnisse gewissermaßen um. Den Beleg hierfür liefert ihre Beziehung zu einem jungen Dichter, den sie nach ihrem ersten literarischen Erfolg ken-
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nenlernt. Das Verhältnis der beiden entspricht nicht dem traditionellen Verhältnis von weiblicher Passivität und männlicher Aktivität: Er selber hat eine fast »feminine Zärtlichkeit« (SW XII, 60), sie hingegen die Rolle, die normalerweise dem Mann zugeschrieben würde: Dadurch aber wurde das Verhältnis v o m Manne zum Weibe fast umgekehrt. Ich wurde die Gebende, er der Empfangende. [...] Ich j e d o c h [...] betrachtete ihn als mein Geschöpf, mit dem ich nach m e i n e m Willen schalten könne. ( S W XII, 6 0 )
Diese Beziehung unter umgekehrten Vorzeichen, als es die Geschlechterdifferenz im 19. Jahrhundert vorschreibt, ist freilich wieder zum Scheitern verurteilt: Eine Frau, die den Mann als ihr »Geschöpf« betrachtet, kehrt genau den bürgerlichen Grundsatz um, nach dem die Frau von ihrem Ehemann erst geformt und für die Ehe gebildet werden m u ß . ' ° Der unglücklichen Schriftstellerin Martha bleibt in der Erzählung kein Ausweg: Die Beziehung zum Erzähler, die nach anfänglicher gegenseitiger Sympathie ein abruptes Ende gefunden hatte, beweist ihr nur ein weiteres Mal, daß sie nicht glücklich werden kann. Über ihr Ende kann der Erzähler nur Vermutungen anstellen und Nachrichten aus zweiter Hand wiedergeben: Als Gesellschafterin einer kranken Dame sei sie mitsamt deren jungem Ehemann und achtzehnjährigem Sohn an die Riviera gefahren. Daß es hierbei zu Verwicklungen mit dem Ehemann und dem Sohn gekommen sein könnte, wird offen vermutet. Schließlich habe sie sich von einem Felsen ins Meer gestürzt - sei jedoch nicht gleich gestorben, sondern erst einen Tag später. Nicht einmal der Selbstmord gelingt ihr also wie geplant. Die Erzählung ist in vielerlei Hinsicht interessant: Saar bearbeitet ein heute vor allem literatursoziologisch und kulturhistorisch prägnantes Phänomen, das aus der öffentlichen Wahrnehmung lange ausgeschlossen war. Weibliches Schreiben ist erst im Rahmen einer feministisch orientierten Literaturwissenschaft entdeckt worden, und hat hier besonders in der Anfangsphase zu einer gezielten Wiederentdeckung von Autorinnen geführt (Frauen-Literaturgeschichte) und die Frage aufgeworfen, ob es eine »ecriture feminine« g e b e . " Eine derartige Forschung kommt freilich nicht aus, ohne die speziellen gesellschaftlichen und rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen weiblicher Autorschaft im 19. Jahrhundert zu berücksichtigen. Saars Erzählung ist eben gerade deswegen interessant, weil sie einen epochalen Diskurs transformiert und dem Leser von heute einen Blick auf die historisch-kulturelle Wahrnehmung des späten 19. Jahrhunderts erlaubt. Die Vermutung des Erzählers, daß seine gesammelten »documenta feminina« eines Tages von kulturhistorischem Wert sein könnten, hat sich somit bestätigt, jedoch mit der methodischen Korrektur, daß nicht nur
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A d a Christen benutzt in einem Brief an Ferdinand von Saar exakt diese Worte: »[...] und die Ada Christen ist dein G e s c h ö p f . « Siehe: Brief an Saar v o m 5. März 1880. in: W S t L B I.N. 17.907. Siehe hierzu den kurzen Überblick bei: Walter Erhart; Britta Herrmann: Feministische Zugänge - >Gender StudiesSeht Ihr! Er [= der Hund] ist klüger, als sein Herr; er nimmt, was man ihm gibt.Consenus< weiblicher Genitalorgane zum Nervensystem Basis für die Pathologisierung des weiblichen Geschlechts, so weit, daß [...] über die Menstruation der Status der >Unmündigen< biologisch-eugenisch begründet wird.« Siehe: E.M.: »Tolle, tobende Weiber«. Die ersten Wiener Irren-Anstalten und das andere Geschlecht. In: Elisabeth Mixa; Elisabeth Malleier u.a. (Hg.): Körper - Geschlecht - Geschichte. Historische und aktuelle Debatten in der Medizin. Innsbruck, Wien 1996. S. 96-115. S. 113. Willy Hellpach: Die geistigen Epidemien. Frankfurt/M. 1896. S. 90.
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disqualifiziert; aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie wurde dieser Körper in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles oder funktionelles Element mittragen muß) und mit dem Leben der Kinder (das er hervorbringt und das er dank einer die ganze Erziehung währenden biologisch-moralischen Verantwortlichkeit schützen muß): die »Mutter« bildet mitsamt ihrem Negativbild der »nervösen Frau« die sichtbarste Form dieser Hysterisierung. 8 2
Tatsächlich ist ja das gehäufte Auftreten der »Frauenkrankheit Hysterie«, die vor allem in bürgerlichen Kreisen virulent war, bis heute ein medizinisch ungeklärtes Phänomen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwindet sie unter ebenso mysteriösen Umständen wie sie im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht (»la grande hysterie«). 8 3 Zu einem kulturhistorisch aufschlußreichen Phänomen macht die Hysterie allerdings nicht allein ihr gehäuftes Auftreten, sondern vielmehr die Tatsache, daß es sich um ein gesellschaftlich deutbares Phänomen, um ein »Bedeutungsgeflecht« 8 4 handelt. Hysterie ist keine Krankheit, die medizinisch eindeutig diagnostizierbar und somit therapierbar wäre, sondern ein Paradoxon, das sich j e nach Betrachterstandpunkt anders darstellt. Problematisch ist ja bereits, daß sich die Symptome nicht eindeutig präsentieren: Diese kommen und gehen, sind organisch nicht erklärbar und verschwinden auch oft auf völlig unerklärliche Weise. Damit entzieht sich die Krankheit aber dem Normalitäts-/Anormalitätsschema der Schulmedizin, die durch eine Deutung der sichtbaren Symptome eine Diagnose stellen will. Die Hysterie versetzt damit den Arzt in die Situation, nicht mehr »Herr der Symptome« zu sein, 85 ja, sich von der Patientin »zum Narren halten« zu lassen. Die Symptomatik der Hysterie ist eine Ansammlung von Zeichen, die jederzeit durch den Arzt oder die Patientin erweitert werden können. Denn das ist das Paradoxon jener Krankheit: Sie wechselt ihre klinische Symptomatik ständig, und dies geschieht in dialektischer Zusammenarbeit von Arzt und Patientin. Der Arzt produ-
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Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. S. 126. Darstellungen der Geschichte der Hysterie seit der Antike gibt es mittlerweile unzählige. Verwiesen sei hier auf eine Auswahl: Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. - Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998. - Christina Braun: Nicht Ich. - Dorion Weickmann: Rebellion der Sinne: Hysterie - ein Krankheitsbild als Spiegel der Geschlechterordnung (1880-1920). Frankfurt/M. 1 9 9 7 . - Marianne Schuller: »Weibliche Neurose« und Identität. Zur Diskussion der Hysterie um die Jahrhundertwende. In: Die Wiederkehr des Körpers. Hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Frankfurt/M. 1982. S. 180-192. »Die Hysterie läßt sich nur als Bedeutungsgeflecht definieren. Je nach Standpunkt, bietet sich dem Betrachter ein bestimmtes Bild; und dieses Bild sieht anders aus als das eines anderen Betrachters. Das heißt die Hysterie entzieht sich einer objektiven Definition. Mehr noch: sie stellt die Möglichkeit objektiver Darstellung in den Naturwissenschaften überhaupt in Frage, weil ihre Symptome sich ständig verändern. Das Schema der >Körpermaschine