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German Pages 280 Year 2014
Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid Handlungstheorie
Sozialtheorie
Wolfgang Bonß (Prof. Dr.), Ludwig Nieder (PD Dr.) und Helga Pelizäus-Hoffmeister (PD Dr.) lehren Soziologie an der Universität der Bundeswehr München. Andrea Maurer (Prof. Dr.) lehrte bis 2013 Soziologie an der Universität der Bundeswehr München und jetzt an der Universität Trier. Oliver Dimbath (PD Dr.) lehrt Soziologie an der Universität Augsburg. Michael Schmid (Prof. Dr. Dr. em.) hat Soziologie an der Universität der Bundeswehr München gelehrt.
Wolfgang Bonss, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid
Handlungstheorie Eine Einführung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einleitung | 7 2. Vorläufer der Sozialwissenschaften | 15 2.1 David Hume: Über den menschlichen Verstand | 16 2.2 Adam Smith: Der natürliche Lauf der Dinge ist gut | 30
3. Anfänge soziologischer Handlungstheorien und ihre Entwicklung | 43 3.1 Vilfredo Pareto: Die nicht-logische Handlung | 44 3.2 Max Weber: Typen sinnhaften Handelns | 58
4. Modellierungen des Handelns | 73 4.1 Talcott Parsons: Handeln im Kontext | 74 4.2 George C. Homans: Soziales Verhalten | 86
5. Handeln, Struktur und Rationalität | 97 5.1 5.2 5.3 5.4
Mancur Olson: Rationalität und kollektives Handeln | 99 James S. Coleman: Herrschaft, Normen und Vertrauen | 112 Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen | 125 Peter Hedström: Bedürfnisse und Gelegenheiten | 136
6. Interaktion und Bedeutung | 147 6.1 George Herbert Mead: Der Mensch als »symbolverwendendes Tier« | 148 6.2 Herbert Blumer: Symbolischer Interaktionismus | 161 6.3 Alfred Schütz: Alltagswelt, Sinn und Verstehen | 170 6.4 Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die Konstruktion der Wirklichkeit | 183
7. Handeln als soziale Inszenierung | 195 7.1 Harold Garfinkel: Methoden des Alltagshandelns | 196 7.2 Erving Goffman: Die Selbstdarstellung im Alltag | 211 8. Handlungstheorie in gesellschaftstheoretischer Absicht | 223 8.1 Anthony Giddens: Dualität von Handlung und Struktur | 224 8.2 Pierre Bourdieu: Habitus und Feldtheorie | 237 8.3 Jürgen Habermas: Kommunikation und Handeln | 248
9. Schluss | 265
1. Einleitung
Die Handlung ist ein zentraler Ausgangspunkt der Soziologie, insofern die soziale Wirklichkeit erst durch menschliches Handeln hervorgebracht wird. Soziologisch bedeutsam ist jedoch vor allem das soziale, das heißt das wechselseitig aufeinander bezogene Handeln der Individuen. Für die Soziologie wichtig sind daher die Bestimmungsgründe, die sozialen Bedingungen und die Wirkungen sozialen Handelns. Allen soziologischen Theorien gemein ist die Annahme, dass individuelles Handeln weder instinkthaft oder völlig determiniert noch rein zufällig ist. Handeln wird vielfach als intentional im Sinne eines absichtsvollen Handelns verstanden, was sowohl ein bewusst rationales als auch ein gewohnheitsmäßiges oder an Vorstellungen orientiertes Handeln sein kann. Wichtig dabei ist vor allem, Handeln von einem bloß reaktiven Verhalten beziehungsweise auch von einem rein durch Instinkte geleiteten Tun oder Lassen abzugrenzen, wie es für Tiere charakteristisch ist. Vielmehr wird Handeln durch Entscheidungsfähigkeiten und Entscheidungsmöglichkeiten der Handelnden bestimmt und im Hinblick auf seine sozialen Effekte betrachtet. Was allerdings Handeln genau bestimmt, das heißt, über welche Aspekte und Faktoren das individuelle Handeln jeweils erklärt und/oder verstanden werden kann, darüber herrschen in der Soziologie höchst unterschiedliche und zumeist auch unverbundene Ansichten vor. So werden wir noch sehen, dass in der gegenwärtigen Soziologie einige Theoretiker wie zum Beispiel James S. Coleman und Mancur Olson (Kap. 5) davon ausgehen, dass das individuelle Handeln am besten als ein absichtsvolles, auf Zwecke bezogenes Wählen zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu erklären sei. George Herbert Mead, Alfred Schütz und Herbert Blumer (Kap. 6) hingegen betonen die Relevanz von Bedeutungen und
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die Fähigkeiten der Menschen, ihre »soziale Wirklichkeit« zu deuten und in Interaktion mit anderen soziale Sinnstrukturen zu konstituieren und zu reproduzieren. Pierre Bourdieu und Anthony Giddens (Kap. 8) schließlich unterstellen, dass individuelles Handeln durch kollektive praktische Erfahrungen geleitet wird, die in Form von Habitus und Regeln zumeist unbewusst das Handeln der Menschen lenken. Angesichts der grundlegenden Bedeutung sozialen Handelns für die Soziologie wundert es nicht, dass Beschreibungen, Modelle und Theorien des Handelns – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise – Grundlage aller soziologischen Theorien sind. Seit den 1980er Jahren ist die Beschäftigung mit Handlungstheorien zu einem festen und sichtbaren Bestandteil der soziologischen Theorie geworden und hat viel Aufmerksamkeit gefunden. So ist es wichtig, zu sehen, dass die Anfänge einer Beschäftigung mit Modellen und Theorien des individuellen Handelns weit zurückreichen, nämlich bis zu den Sozialtheorien und Gesellschaftslehren des 17. und 18. Jahrhunderts (Kap. 2). In den Überlegungen von David Hume, Adam Smith und anderen finden wir den Kerngedanken moderner Sozialwissenschaften vorbereitet, aus dem absichtsvollen individuellen Handeln und dessen vielfältigen Formen des sozialen Zusammenwirkens das Entstehen und Verfestigen gesellschaftlicher Ordnungen (Institutionen, Strukturen) zu erklären. Und auch in den Anfängen der Soziologie im späten 19. Jahrhundert hat die Frage nach dem methodologischen Stellenwert und der Art und Weise der Beschreibung des individuellen Handelns wichtige Protagonisten: vor allem Vilfredo Pareto und Max Weber (Kap. 3), die allerdings die Rationalitätsunterstellungen für Handeln, wie sie in der auf Hume und Smith zurückgehenden Traditionslinie entwickelt worden waren, relativieren. Neben den Zugängen, die soziale Sachverhalte mit einem ausdrücklichen Bezug auf Annahmen über das individuelle Handeln erklären wollen, finden sich in der Soziologie auch sogenannte gesellschafts- und auch makrotheoretische Ansätze, die zwar auch Handlungsbeschreibungen verwenden, ohne diesen aber eine umfängliche Bedeutung für die Erklärung sozialer Sachverhalte einzuräumen. Soziale Tatsachen werden dabei primär aus sozialen Gesetzen oder Strukturen abgeleitet, und insbesondere soziale Institutionen werden aus ihrer Wirkung für die Gesellschaft oder das soziale System begründet. Aus dieser Perspektive ist die Überzeugung vorherrschend, dass die Entstehung und Verfestigung gesellschaftlicher Strukturen nach eigenen Regeln verläuft und aus den
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Strukturbedingungen selbst erklärt beziehungsweise verstanden werden muss. Anders als Weber (1985[1922]), der soziale Regelmäßigkeiten ausgehend vom sinnhaften Handeln der Einzelnen verstanden wissen wollte, gelten dem zweiten soziologischen Klassiker Émile Durkheim (1961[1895]) gesellschaftliche Strukturen als soziale »Tatsachen«, die sich nicht auf individuelles Handeln zurückführen lassen, sondern eigenen, sozialen Prinzipien oder Gesetzen folgen. In beiden Programmen finden sich zwar Annahmen, Begriffe und Vermutungen über die Handlungsebene, allerdings nehmen diese einen unterschiedlichen Stellenwert ein und haben daher in der Regel auch spezifische logische Formen und inhaltliche Ausprägungen, wie wir noch genauer sehen werden. An dieser Stelle kann aber schon festgehalten werden, dass aktuelle soziologische Erklärungen, die auf individuellen Handlungstheorien basieren, die Gesellschaft als ein Produkt handelnder Akteure in sozialen Kontexten betrachten. Und dass auf der anderen Seite auch in Gesellschaftstheorien beziehungsweise in makrotheoretischen Programmen die Beschreibung der Individuen beziehungsweise deren Handlungs- und Deutungsmächtigkeit stärker in den Vordergrund rückt. In diesem Buch versuchen wir, eine gleichermaßen informative wie kritische Darstellung wichtiger handlungstheoretischer Konzeptionen zu geben, indem wir uns auf wichtige und repräsentative Vertreter in der Soziologie beziehen, deren Denken wir überblicksartig darstellen und darüber hinaus Verbindungslinien zwischen diesen kenntlich machen wollen. Die Gliederung des Buches folgt einer chronologischen Darstellung, indem wir mit den klassischen Grundlagen beginnen und zentrale Entwicklungsstufen in der Soziologie nachvollziehen. Wir entwickeln aber zugleich auch eine systematische Perspektive, indem wir zentrale theoretische Argumente für die Deutung und Erklärung von Handlungen benennen und die jeweiligen Ausarbeitungen in den gegenwärtigen Ansätzen heraus- und gegenüberstellen. Dabei orientieren wir uns an der Ausgangsvermutung, dass die Entwicklung der Soziologie wesentlich durch die Beschäftigung mit und die Ausarbeitung von Handlungsbeschreibungen, -modellen und -theorien vorangetrieben worden ist. Insbesondere wollen wir die Leitthese ausarbeiten, dass die in der Soziologie verwendeten Modelle und Theorien des individuellen Handelns keineswegs durch unüberwindbare Gegenpositionen charakterisiert sind. Wir wollen vielmehr die Prozesse des Voneinanderlernens und des Aufeinanderbeziehens kenntlich machen und darlegen, welche klassischen Posi-
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tionen jeweils aufgegriffen und welche bedeutenden Weiterentwicklungen jeweils in Gang gesetzt werden konnten. Diese Entwicklungsschritte und Verbindungslinien der einzelnen Theorieprogramme kenntlich zu machen, ist die systematische Perspektive unserer Einführung. Wir verbinden die historisch-chronologische Darstellung und das Ziel einer systematischen Rekonstruktion, indem wir die einzelnen Theoretiker und ihre Ansätze nach folgenden Gesichtspunkten darstellen: Jedes Kapitel beginnt mit einer Gesamteinschätzung des darzustellenden Theorieprogramms allgemein, um dann in den Unterkapiteln einzelne Vertreter und deren Handlungstheorien ausführlicher vorzustellen. Die Unterkapitel beginnen mit einer Skizze »Zur Person«, die den Lebensweg, den geistes- und sozialgeschichtlichen Hintergrund, die Verortung im wissenschaftlichen Kontext und die für unser Thema wichtigsten Werke zusammenfasst. Darauf folgt dann jeweils eine Rekonstruktion der wichtigsten Fragestellungen und Erkenntnisse sowie – darin eingebettet – der für den jeweiligen Autoren kennzeichnenden handlungstheoretischen Überlegungen und deren kritisch-konstruktiver Bezüge zu den Vorgängern. Um die vorliegenden Ansätze systematisch ordnen und miteinander vergleichen zu können, folgt anschließend deren Interpretation entlang drei Leitfragen. Wir haben die in den Fragen verwendeten Begriffe dem heutigen Sprachgebrauch entnommen, werden diese aber bei Bedarf in die von den jeweiligen Autoren bevorzugten Begrifflichkeiten »übersetzen«. Unsere Leitfragen sind: 1. Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Handlungstheorien und -beschreibungen arbeiten mit verschiedenen Rationalitätskonzeptionen. So kann man darüber streiten, ob das Handeln der Einzelnen als eher vernunft- oder gefühlsgesteuert begriffen werden sollte: Handelt es sich um einen von bewussten Motiven bewirkten Prozess, für den auch bestimmte logische Fähigkeiten unterstellt werden müssen, oder sind es eher unbewusste und nicht rational gesetzte beziehungsweise reflektierte Motive, die als Auslöser von Handlungen angesehen werden? 2. Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Handlungen werden von einigen Autoren als von den Individuen frei getroffene Entscheidungen in sozialen Kontexten konzeptualisiert: Die Handlung ergibt sich als Resultat einer »rationalen« Entscheidung
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zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Aus anderen Perspektiven hingegen werden Handlungsmotive und Handlungsakte als direkter oder vermittelter Ausdruck normativer Vorgaben des sozialen, kulturellen und historischen Kontextes begriffen. Im ersten Fall wird der soziale Kontext als begleitender Rahmen begriffen, im zweiten Fall hingegen als konstitutiver Bestandteil des Handelns. 3. Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Während einige Theoretiker Wissen und damit auch wissenschaftliche Erkenntnis über das Beobachten von Einzelfällen gewinnen wollen, gehen andere davon aus, dass Wissenserwerb nur durch die Verwendung allgemeiner Gesetze und darauf beruhender Erklärungen möglich ist. Entsprechend sind dann auch ihre Handlungskonzepte als einmalige Beschreibungen, als empirische Typen oder als Handlungstheorien angelegt. Und schließlich gibt es auch methodische Differenzen: Während die einen davon ausgehen, dass man Handeln prinzipiell von außen erklären kann, gehen andere davon aus, dass Handeln »verstanden« werden muss, um zureichend gedeutet und erklärt werden zu können. Alle behandelten Autoren werden entlang dieser drei Leitfragen erläutert, um eine Vergleichbarkeit des Unvergleichbaren zu ermöglichen: Denn auf der einen Seite stehen alle Theoretiker in einer je spezifischen Tradition – auf der anderen Seite sind sie aber auch repräsentativ für eine spezifische »Lerngeschichte« der Handlungstheorie, die es schrittweise zu erschließen gilt. Am Ende jedes Unterkapitels stehen daher Lernkontrollfragen, die es der Leserin und dem Leser erleichtern sollen, sich die wesentlichen Aussagen des Kapitels noch einmal zu vergegenwärtigen, zudem wird die verwendete Primär- und Sekundärliteraturgenannt. Die präsentierten handlungstheoretischen Konzeptionen wurden so ausgewählt und sortiert, dass zum einen die Weiterentwicklungen innerhalb der einzelnen Theoriestränge gut sichtbar werden. Zum anderen wurden die Ansätze so angeordnet, dass die Abgrenzung zum vorhergehenden Ansatz den Ausgangspunkt des darauffolgenden Theorieprogramms bildet. Insofern ist die Auswahl stark an systematischen Gesichtspunkten orientiert, ohne indes die historische Abfolge aus dem Blick zu verlieren. Im Gegenteil: Es kommt uns darauf an, die implizite »Lerngeschichte« der soziologischen Handlungstheorie anzudeuten.
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Dies kann nicht vollständig sein – und hat auch zur Konsequenz, dass nicht alle der in gängigen einführenden Werken zur Soziologie als wichtig angesehenen Handlungstheoretiker berücksichtigt werden konnten. Den Vorteil dieses Vorgehens sehen wir aber darin, dass sich der Leser und die Leserin einen systematischen Überblick über die wesentlichen Schwerpunktsetzungen in der Handlungstheorie verschaffen können. Überdies sollten in einem relativ knappen Zeitrahmen die einzelnen Programme und ihre Ansätze erarbeitet und die daraus entstehenden Weiterentwicklungen nachvollzogen werden können. Das Buch richtet sich an Studienanfänger und an alle, die einen Einblick in soziologische Theorieansätze erhalten wollen.
Literatur Durkheim, Émile (1961[1895]). Die Regeln der soziologischen Methode. Deutsch von René König. Neuwied/Berlin: Luchterhand. Weber, Max (1985[1922]). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.
Weiterführende Literatur Zur weitergehenden Beschäftigung mit Handlungstheorien und deren Verwendung in der Soziologie haben wir eine Auswahl an klassischen und aktuellen Überblickswerken zusammengestellt. Balog, Andreas/Gabriel, Manfred (Hg.) (1988). Soziologische Handlungstheorie. Einheit oder Vielfalt. Opladen: Westdeutscher Verlag. Etzrodt, Christian (2003). Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien: Eine Einführung. Konstanz: UVK. Haferkamp, Hans (1975). Soziologie als Handlungstheorie. P. L. Berger/ T. Luckmann, G. C. Homans, N. Luhmann, G. H. Mead, T. Parsons, A. Schütz, M. Weber in vergleichender Analyse und Kritik. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hollis, Martin (1996). Soziales Handeln. Einführung in die Philosophie der Sozialwissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag. Horn, Christoph/Löhrer, Guido (Hg.) (2010). Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie. Berlin: Suhrkamp.
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Lenk, Hans (Hg.) (1977-1984). Handlungstheorien – interdisziplinär. 4 Bände. München: Fink. Lüdtke, Nico/Matsuzaki, Hironori (2011). Akteur – Individuum – Subjekt. Fragen zu ›Personalität‹ und ›Sozialität‹. Wiesbaden: VS. Miebach, Bernhard (2006). Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. Wiesbaden: VS. Münch, Richard (1982). Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Émile Durkheim und Max Weber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Straub, Jürgen/Werbik, Hans (1999). Handlungstheorie. Begriff und Erklärung des Handelns im interdisziplinären Diskurs. Frankfurt a.M.: Campus.
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2. Vorläufer der Sozialwissenschaften
Mit Beginn der Moderne wird das »Individuum« als Gestalter der sozialen Welt entdeckt. Im antiken und auch noch im mittelalterlichen Denken war die Vorstellung einer metaphysischen Seinsordnung oder eines allmächtigen Schöpfergottes der Ausgangspunkt der Konzeption eines »guten Lebens«. Das ändert sich mit und durch die Arbeiten des früh-modernen Sozialtheoretikers Thomas Hobbes (1588-1679) und insbesondere dann auch der »Schottischen Moralphilosophen« David Hume (1711-1776) und Adam Smith (1723-1790). Letztere stellen das freie Individuum in den Mittelpunkt ihrer Gesellschafts- und Staatskonzeption, beide entwerfen ein Handlungsmodell, das die menschliche Natur durch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung definiert sieht und als grundlegendes, allgemeines Handlungsmotiv das Eigeninteresse annimmt. Damit ist der Weg frei für die Entwicklung der modernen Sozialwissenschaften, welche die Gestaltung der sozialen Welt aus dem realen Handeln der Menschen ableiten und entsprechend nach sozialen Steuerungsformen suchen, welche die Eigeninteressen und die Fähigkeiten der Menschen zur Geltung bringen. Hume hat als sozialen Steuerungsmechanismus die Moral und Smith den Markttausch benannt. Sie haben dazu mit einem Handlungsmodell gearbeitet, das bestimmte allgemeine Interessen beziehungsweise Bedürfnisse und spezifische Fähigkeiten der Menschen annimmt. Damit ist der weitergehende Anspruch verbunden, neue Einsichten in die reale soziale Welt aus Akteurssicht zu gewinnen. Diese »erfahrungswissenschaftliche« Form der Wissensgenerierung – angelehnt an die Naturwissenschaften – wird den philosophischen sowie theologischen Denkgebäuden entgegengesetzt. Die soziale Welt soll als das Werk der Individuen und deren Handlungen erklärt werden.
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2.1 D AVID H UME : Ü BER DEN MENSCHLICHEN VERSTAND David Hume – ein schottischer Moralphilosoph – gilt als einer der Gründerväter des Utilitarismus. Mit ihm erreicht darüber hinaus die empirische Erkenntnistheorie ihren Höhepunkt. Sein Ziel ist es, »der Newton der Wissenschaften vom Menschen zu werden« (Kulenkampff 1981: 434). Zu Lebzeiten erhält Hume zu Recht den Beinamen »le bon David«, denn sein sanfter und zur Freundschaft neigender Charakter spiegelt sich auch in seiner Philosophie wider, »die vom Menschen handelt, wie er seiner Natur nach ist, und von ihm nichts verlangt, als was er seiner Natur nach vermag« (ebenda: 455). Sein Menschenbild ist das eines Menschen, der sich zu seinem aufgeklärten Egoismus bekennt und, ohne seine Eigeninteressen zu verleugnen, trotzdem verantwortlich in der Familie, in der Wirtschaft und in der Politik handelt.
Zur Person Hume wird am 26. April 1711 in Edinburgh geboren und wächst in einem von calvinistischer Moral geprägten Elternhaus auf (vgl. Rembold 2006: 151). Nach langen religiösen Auseinandersetzungen in der Familie (»seine tiefreligiöse Mutter soll über ihn gesagt haben, daß er zwar einen guten Charakter habe, aber ›ungewöhnlich schwachsinnig‹ sei«; Streminger 1995a: 34), wendet er sich mit 18 Jahren vom Calvinismus ab. Zu dieser Zeit bricht er auch sein Studium der Jurisprudenz ab und widmet sich, nach einer kurzen Tätigkeit als Kaufmann, ganz der praktischen Philosophie. 1734 geht er nach Frankreich und lebt bis 1737 in Reims. Während dieser Zeit verfasst er sein »Traktat über die menschliche Natur« (17391741), das er aufgrund der öffentlichen Nichtbeachtung später vollständig umarbeitet und in Form mehrerer kleinerer Bücher veröffentlicht. Trotz seiner schriftstellerischen Produktivität erfüllt sich sein Wunsch nach Ruhm in der gelehrten Welt lange Zeit nicht. Seine Bewerbungen auf einen Lehrstuhl in Edinburgh 1745 und in Glasgow 1751 schlagen fehl (vgl. Kulenkampff 1981: 436). Im Jahre 1752 erhält er eine Festanstellung an der Bibliothek der Anwaltskammer von Edinburgh. Hier beginnt er die (mehrbändige) »Geschichte Englands« (1763) zu schreiben, mit der er später berühmt wird. 1763 geht er als Gesandtschaftssekretär der britischen Botschaft nach Paris. Dort macht er die Bekanntschaft mit den Enzyklopädisten und insbesondere mit Jean-Jacques Rousseau. Seine Pari-
2. Vorläufer der Sozialwissenschaf ten
ser Jahre werden die Zeit seiner größten gesellschaftlichen Anerkennung. 1769 kehrt er nach Edinburgh zurück, wo er am 25. August 1776 stirbt. Hume selbst betrachtet sich als den »Inaugurator der Naturwissenschaft des menschlichen Geistes« (Ryle 1997: 7; vgl. Kulenkampff 1997: 1). Es geht ihm um naheliegende Fragen wie: Wie unterscheiden sich Menschen im alltäglichen Leben von Tieren, wie Erwachsene von Kindern, wie Ehrbare von Gaunern et cetera? Was können Menschen aufgrund ihrer Fähigkeit zum abstrakten Denken und was nicht? (vgl. Ryle 1997: 11) Diese Fragen werden erst bearbeitet, seit Hume sie gestellt hat. Und sie können gemäß Hume nur durch Beobachtung und Experimente beantwortet werden (vgl. Hume 2004[1739-41]: 16). Neben John Locke und Francis Bacon gilt er als dritter Hauptvertreter des englischen Empirismus. Wie viele Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ist Hume kein Akademiker, sondern schreibt, um von der Öffentlichkeit gelesen zu werden. Seine Veröffentlichungen üben daher den besonderen Reiz aus, der der Literatur innewohnt. Viele Gegner erwachsen Hume schon früh aufgrund eines noch heute identifizierbaren Missverständnisses, demzufolge ihm ein Skeptizismus vorzuwerfen sei. Auch in Deutschland werden seine Werke ob des von ihm vertretenen Skeptizismus abgelehnt, der »letzte Wahrheiten« verneint und stattdessen fortwährende Kritik und Theorieprüfung fordert (vgl. Kulenkampff 1981: 456). Humes soziologisch wichtigste Schrift ist »A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects«, ein dreibändiges Werk, das er in Frankreich schreibt. Band I (»Of the Understanding«) und Band II (»Of the Passions«) erscheinen 1739, Band III (»Of Morals«) erscheint 1740. Seine 1741 und 1742 veröffentlichte Sammlung von Essays mit dem Titel »Essays, Moral and Political« begründet seinen literarischen Ruhm. 1748 erscheint das Buch »An Enquiry concerning Human Understanding«, in dem er eine gründliche Neufassung der Theorie über den menschlichen Verstand entwickelt, die er im ersten Band des »Treatise« entwickelt hat. Dieses Buch bezeichnet Hume als sein Hauptwerk, während er das »Treatise« zu einem voreilig publizierten Jugendwerk erklärt, was allerdings von der Nachwelt anders gesehen wird. Diese betrachtet es als eines der bedeutendsten Werke der neueren Philosophie (vgl. Kulenkampff 1997: 2).
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Fragestellungen und Erkenntnisse Hume gilt als ein Klassiker der Philosophie und weckt die Aufmerksamkeit der Ideengeschichtler aus unterschiedlichsten Gründen: sei es durch seinen ausgeprägten Skeptizismus, der viele scheinbar feste Überzeugungen und Glaubenssysteme – wie die Religion – ins Wanken bringt, oder auch durch seinen kompromisslosen Empirismus. Die experimentellen Methoden, die Isaac Newton entwickelt hat, will Hume dazu verwenden, die menschliche Natur zu erfassen (vgl. Hume 2004[1739-41]: 13). Das Revolutionäre seines Vorhabens wird erst vor dem Hintergrund der zu seiner Zeit vorherrschenden rationalistischen Tradition verständlich, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das menschliche Handeln nicht durch (empirisch abgesicherte) Beobachtung zu erklären, sondern durch Axiome und deren intuitive Gewissheiten. Ganz wesentlich beruht Humes Ruhm allerdings – wie er es sich gewünscht hätte – auf seiner Trennung zwischen kausalen Schlussfolgerungen und abstrakten Vernunftoperationen als zwei unterschiedlichen Formen menschlicher Erkenntnis (vgl. Hume 1973[1748]: 35). Mit dieser Unterscheidung will er darauf aufmerksam machen, dass das menschliche Handeln – vor dem Hintergrund seiner Überlegungen – nicht durch abstrakte Vernunftoperationen, sondern durch empirische Erfahrungen in der Wirklichkeit bestimmt ist. Für Hume bezieht sich die sogenannte abstrakte Vernunftwahrheit, er nennt sie »knowledge«, nicht auf faktisch Existierendes (zur Begriffserklärung siehe Hume 2004[1739-41]: 84, Fußnote 94). Vielmehr entstehe sie aus abstrakten Operationen unseres Denkvermögens und aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen (vgl. ebenda: 12). Vernunfterkenntnisse in diesem strikten Sinne seien zum Beispiel Sätze der Mathematik. So könnten wir zwar logisch notwendige Wahrheiten aufstellen; die menschliche Fähigkeit, logische Implikationen zu erfassen, kann nach Hume allerdings nicht das menschliche Handeln erklären. In seinem »Treatise« zeigt er auf, dass die geistigen Operationen der Menschen nicht allein auf Akte der reinen und abstrakten Vernunft zurückzuführen sind, sondern dass sie ebenfalls und ganz wesentlich auf sinnlich erfahrenen »Eindrücken« – er nennt sie »impressions« – beruhen (vgl. ebenda: 18). Und gerade diese gefühlten Eindrücke sind es nach Hume, die die Menschen als entscheidende Erkenntnisquellen heranziehen. Auf diesen bauten sie ihre »Tatsachenschlüsse« – mit anderen Worten ihre »Erfah-
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rungsschlüsse« oder ihre kausalen Schlussfolgerungen – auf und diese bestimmten ihr Handeln. Erfahrungsschlüsse ergeben sich nach Hume – hier sehr vereinfachend dargestellt – aus Gesetzen der Assoziation und der Gewohnheitsbildung. Als basale Regeln nennt Hume unter anderem folgende: »1. Ursache und Wirkung müssen räumlich und zeitlich unmittelbar zusammenhängen. 2. Die Ursache muss früher sein als die Wirkung. 3. Es muss eine beständige Verbindung zwischen der Ursache und der Wirkung konstatiert werden können. […] 4. Dieselbe Ursache ruft stets dieselbe Wirkung hervor, und dieselbe Wirkung ergibt sich jedes Mal aus derselben Ursache. Dies Gesetz entnehmen wir der Erfahrung […]« (ebenda: 194).
Auch wenn Hume die Vernunfterkenntnisse kritisch hinterfragt, so räumt er ihnen dennoch einen nennenswerten Stellenwert ein, allerdings in einem eher lockeren Sinn; indem er beispielsweise darauf hinweist, dass wir in der Lage sind, moralische Probleme durch moralische Erwägungen zu lösen, generelle Regeln kritisch zu reflektieren et cetera. Ryle beschreibt diese auf den ersten Blick etwas widersprüchlich erscheinende Argumentation folgendermaßen: »[…] indem er das abstrakte Vernunftdenken erniedrigte, erhob er den menschlichen Verstand zur Höhe der menschlichen Natur. Er bewies in der Tat, daß Induktion, Tatsachenschlüsse und moralische Urteile keine Operationen sind, die die Pfade logischer Implikationen aufspüren. Aber er lehrte uns zugleich, daß das kein Makel ist. Und oft erlaubt er uns ja, Ausdrücke wie ›Vernunft‹ und ›rational‹ in einem lockeren und umgangssprachlichen Sinne zu gebrauchen und auf genau die Dinge anzuwenden, von denen er bestritt, daß sie im strikten Sinne Vernunft oder rational sind« (Ryle 1997: 16).
Auf diesen grundlegenden erkenntnistheoretischen Annahmen baut Hume seine Überlegungen zum menschlichen Handeln auf. Er entwickelt ein einheitliches Handlungsmodell, das heißt, er geht davon aus, dass das menschliche Handeln auf ganz grundlegenden Prinzipien beruht – »Prinzipien der menschlichen Natur« (Hume 2004[1739-41]: 13) –, die für alle Menschen gleichermaßen gelten. Orientiert an den in der Einleitung entwickelten Leitfragen des Buches kann Humes Position folgendermaßen stichpunktartig beschrieben
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werden: Auf die Frage, ob Handeln eher von rationalen oder von nicht-rationalen Motiven bestimmt ist, würde Hume – wie oben angedeutet – antworten, dass der wirkliche Mensch in seinen Handlungen, ebenso wie das Tier, ganz erheblich durch seine Erfahrungen und durch sein instinktives Vermögen bestimmt ist (vgl. Hume 1973[1748]: 122ff.). Dennoch würde er dem menschlichen Verstand mit seiner Rationalität einen wichtigen Stellenwert einräumen, da erst dieser die Menschen in die Lage versetze, zwischen »geistigen Einbildungen« und »sinnlichen Eindrücken« zu unterscheiden. Und das rationale Handeln, das für Hume durchaus existiert, zeige sich daran, dass es an den empirischen Erfahrungen der Menschen orientiert sei. Auch wenn Hume immer wieder betont, dass der Egoismus (die »Selbstsucht«; Hume 2004[1739-41]: 488) eine ganz wesentliche Grundlage der menschlichen Natur ist, so wendet er sich dennoch gegen die These, dass der Mensch einzig danach strebe, allein seine ureigensten Interessen zu verfolgen. Menschenliebe und Wohlwollen anderen Menschen gegenüber seien ebenso in der Natur des Menschen verankert und übten gleichfalls ihre Wirkungen auf das menschliche Handeln aus. Und würde man Hume nach seinen Methoden der Erkenntnisgewinnung fragen, dann würde er betonen, dass Erkenntnisse über die Natur und den Geist des Menschen einzig durch Beobachtungen und Experimente gewonnen werden können.
Welche Rationalitätsannahme wird gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Nach Hume werden oftmals die kognitiven Fähigkeiten des Menschen weit überschätzt. Noch deutlicher als im »Treatise« ordnet Hume die kognitiven Möglichkeiten des Menschen im »Enquiry concerning Human Understanding« etwa den emotiven unter. Denn einige grundlegende menschliche Überzeugungen basierten nicht auf den Einsichten der Vernunft, sondern würden instinktiv abgesichert (vgl. Hume 1973[1748]: 122ff.; Streminger 1995b: 68). Dass das sensitive beziehungsweise instinktive Vermögen beim menschlichen Handeln eine zentrale Rolle spielt, versucht Hume mithilfe eines Vergleichs zwischen Mensch und Tier zu erklären. Wenn das instinktive Vermögen beim menschlichen Handeln eine derart wichtige Funktion einnimmt, so seine Argumentation, dann
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müsste dies auch bei den Lebewesen der Fall sein, die über keinen so ausgeprägten »Denkapparat« verfügten wie die Menschen. In seinen Ausführungen zur »Vernunft der Tiere« stellt er fest: »daß selbst unsere Vernunfttätigkeit auf Grund von Erfahrung, die wir mit den Tieren gemein haben und von der die ganze Lebensführung abhängt, nichts als eine Art von Instinkt oder mechanischer Kraft ist, die, uns selbst unbekannt, in uns wirkt: daß sie in ihrer hauptsächlichen Wirksamkeit nicht von solchen Beziehungen oder Vergleichungen von Vorstellungen geleitet wird, die den eigentlichen Gegenstand unserer vernünftigen Fähigkeiten ausmachen. Die Instinkte mögen verschieden sein, aber es ist doch ein Instinkt, der den Menschen lehrt, Feuer zu meiden – gerade sowie der, welcher den Vogel mit solcher Genauigkeit in der Brutpflege unterweist […]« (Hume 1973[1748]: 126f.).
Analogien zwischen Mensch und Tier sieht er – wie im Zitat angedeutet – vor allem im Bereich der Erfahrungen: »Erstens scheinen offenbar Tiere so gut wie die Menschen mancherlei durch die Erfahrung zu lernen und abzuleiten, daß die gleichen Ereignisse immer aus den gleichen Ursachen erfolgen. […] Die Unwissenheit und Unerfahrenheit der Jungen sind deutlich von der Vorsicht und Klugheit der Alten zu unterscheiden, die durch lange Beobachtung gelernt haben, das Schädliche zu meiden und das Nützliche und Angenehme aufzusuchen« (ebenda: 123).
Das heißt: Auch Tiere vermögen aus der Erfahrung zu lernen, auch sie »nehmen eine gewisse Gleichförmigkeit des Naturlaufs an und erwarten von gleichen Gegenständen die gleiche Wirkung« (Streminger 1995b: 67). Humes Schlussfolgerung aus diesem Vergleich ist, dass die Natur dafür sorgt, dass das überlebenswichtigste Prinzip der Herleitung von Wirkungen aus Ursachen nicht dem für ihn »ungewissen Verfahren von Denkakten und Begründungen« anvertraut wird, sondern auf empirischen Erfahrungen beruht (Hume 1973[1748]: 124, Hervorh. der Verf.). Abgesehen von einigen wenigen Grundgewissheiten, wie beispielsweise dem Glauben an die Gleichförmigkeit des Naturverlaufs, ist der Auf klärer Hume dennoch stets bestrebt, alles »Für-wahr-Gehaltene« mithilfe der Vernunft immer wieder kritisch auf dessen Gültigkeit hin zu prüfen. Denn viele Glaubensgewissheiten seien keine Produkte der Erfahrung, sondern der Einbildungskraft (vgl. Hume 2004[1739-41]: 17f.).
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Und daher seien sie auf der Basis kognitiver Fähigkeiten kritisch zu reflektieren. Und rational handelt ein Mensch nach Hume dann, wenn er sein Handeln nicht an geistigen »Erfindungen«, sondern an den empirischen Erfahrungen ausrichtet. Das begründet er damit, dass der Mensch eben kein metaphysisches Wesen, sondern ein empirisches Naturwesen sei. Und demzufolge seien auch die natürlichen Einflüsse und Kräfte einer empirischen Überprüfung durch die Philosophen zu unterziehen und die Metaphysik abzulehnen.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Hume gilt als einer der geistigen Väter utilitaristischer Vorstellungen, insofern Eigeninteresse und Nützlichkeit in seinen Überlegungen eine wesentliche Rolle spielen. Ein Kapitel in seinen »Enquiries« überschreibt er mit dem Titel: »Warum Nützlichkeit gefällt« – was geradezu das Erkenntnisziel eines Utilitaristen ausmacht (vgl. Hume 2002[1751]: 42). Dennoch würde die Zuordnung des Humeschen Werkes zum Utilitarismus dieses stark verkürzen. Denn zum einen wendet sich Hume deutlich gegen die These, dass Moral ausschließlich auf dem Nutzen gründe, den ein bestimmtes Handeln für die Befriedigung der Wünsche und Bedürfnisse eines Menschen hat, genauer: auf dem Nutzen für das menschliche Streben nach Lust. Ebenso wendet er sich – in Anlehnung an Francis Hutcheson – gegen den ethischen Egoismus, der moralisches Handeln allein auf das Eigeninteresse des Menschen zurückführt. Hume stellt diesen Ansätzen eine differenziertere und, wie Peter Kopf es bezeichnet, nicht-hedonistische Utilitarismustheorie gegenüber (vgl. Kopf 1987: 123), insofern für Hume einerseits der Egoismus unbestreitbar »eine Grundlage der menschlichen Natur von […] umfassender Wirkung« ist (Hume 2002[1751]: 47). Im »Treatise« betont er sogar, dass gerade die »Selbstsucht« einer der stärksten Faktoren ist, die das menschliche Handeln leiten (Hume 2004[1739-41]: 481f.). Denn, so Hume: »Jedermann liebt sich selbst mehr als irgendeinen anderen einzelnen Menschen« (ebenda, 482). Oder an anderer Stelle: »Nun scheint es aber so, dass in unserer ursprünglichen Gemütsverfassung unser stärkstes Interesse auf uns selbst gerichtet ist« (ebenda: 483). Dennoch macht er darauf aufmerksam, dass altruistische Motive ebenso Grundlagen des menschlichen Handelns bilden. Er stellt fest: »Kein
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Mensch steht dem Glück und dem Leid anderer vollkommen gleichgültig gegenüber. […] Das kann jeder bei sich selbst feststellen« (Hume 2002[1751]: 43). Wohlwollen, Treue, Großmut, Sorge um andere und Menschenliebe seien in der Natur des Menschen fest verankert und übten so gleichfalls ihre Wirkung auf das menschliche Handeln aus. Diese – wie er sie nennt – natürlichen Tugenden beschreibt er mit dem Begriff der »sympathy« (vgl. Hume 2004[1739-41]: 337, Fußnote 8). Dieser Begriff bezeichnet jedoch nicht, was heute allgemein damit verbunden wird: das Aufkommen freundlicher Zuneigung oder Zuwendung. Die Humesche Bedeutung ist neutraler. Hume meint damit eher ein Mitfühlen mit anderen, eine empathische Beziehung zu den Mitmenschen. Nach ihm werden wir mit dem grundsätzlichen Wunsch geboren, an der Situation anderer mitfühlend teilzuhaben. Er erklärt: »Keine Eigenschaft der menschlichen Natur ist, sowohl an sich, als auch in ihren Folgen bedeutsamer als die uns eigentümliche Neigung, mit anderen zu sympathisieren, und auf dem Wege der Mitteilung deren Neigungen und Gefühle, auch wenn sie von den unseren noch so verschieden, ja denselben entgegengesetzt sind, in uns aufzunehmen. […] Auch sehr urteilsfähigen und klugen Menschen wird es schwer, ihrer eigenen Vernunft oder Neigung zu folgen, wenn dieselbe sich im Widerspruch mit derjenigen ihrer Freunde und täglichen Gefährten befindet« (ebenda: 337).
Die natürlichen Tugenden bleiben nach Hume jedoch in den allermeisten Fällen auf den Nahbereich der Familie und Verwandtschaft beschränkt (vgl. ebenda: 365f.). Da der Mensch aus der Humeschen Perspektive aber aufgrund seiner »Bedürftigkeit« dringend auf den Zusammenhalt auch in größeren Sozialverbänden angewiesen ist, müsse er andere Wege finden, um ein erfolgreiches Zusammenleben zu ermöglichen. Den Grund für die Bedürftigkeit sieht er in der mangelnden »Ausstattung« des Menschen: »Unter allen Tieren, die den Erdball bevölkern, gibt es keines, gegen das die Natur auf den ersten Blick grausam verfahren zu sein scheint; nur gegen den Menschen [scheint sie grausam]. Wie zahllos sind die Bedürfnisse und notwendigen Ansprüche, mit denen sie belastet, und wie gering die Mittel, die sie ihm zur Befriedigung derselben gewährt hat. […] Nur in dem Menschen findet sich die unnatürliche Verbindung von Schwäche und Bedürfnis in vollstem Maße ausgeprägt. Die für seine
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Erhaltung notwendige Nahrung flieht vor ihm […]; oder es bedarf wenigstens der Arbeit zu ihrer Herstellung. Und auch Kleidung und Wohnung muß er besitzen, um sich gegen die Unbill des Wetters zu schützen. Und doch besitzt er, an sich betrachtet, weder Waffen noch Stärke, noch die natürlichen Geschicklichkeiten, die einer solchen Menge von Bedürfnissen entsprächen« (ebenda: 480).
Erst das Zusammenleben in größeren Gemeinschaften, also das Überschreiten des unmittelbaren Nahbereichs von Familie und Verwandtschaft, kann nach Hume diese Schwäche ausgleichen. Die Vergesellschaftung sei ein grundlegendes Mittel gegen »drei Übelstände« (ebenda): »Durch die Vereinigung der Kräfte wird unsere Leistungsfähigkeit vermehrt; durch die Teilung der Arbeit wächst unsere Geschicklichkeit, und gegenseitiger Beistand macht uns weniger abhängig von Glück und Zufall. Durch diese Vermehrung von Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit wird die Gesellschaft nützlich« (ebenda).
Da sich aber – wie oben angedeutet – erstens altruistische Gefühle und Sympathie nicht ohne Weiteres auf weiter entfernte Beziehungen ausdehnen lassen und weil zweitens zugleich die Ressourcen begrenzt sind und drittens der Egoismus der Menschen ungebrochen ist, so Hume, haben die Menschen Rechtssysteme und staatliche Institutionen zur Sanktionierung entwickelt, die die unterschiedlichen Interessen der Mitglieder eines größeren Sozialverbandes am besten garantieren können. Diese Rechtssysteme rechtfertigen sich durch die Unfähigkeit der Menschen, in komplexen Situationen ihr eigenes langfristiges Interesse adäquat zu verfolgen. Den staatlichen Institutionen fällt damit die Aufgabe zu, die egoistischen Neigungen einer Vielzahl von Menschen eines Sozialverbandes auf bessere Weise zu koordinieren und zu synchronisieren, als dies in einem institutionslosen Zustand möglich wäre. Dass die Menschen diese staatlichen Regelungen – Hume nennt sie künstliche Tugenden im Gegensatz zu den natürlichen Tugenden, die sich auf die Familie beziehen – befolgen, erklärt er damit, dass sie »durch frühzeitige Erziehung in der Gesellschaft sich der unendlichen Vorteile bewusst geworden sind, die aus derselben hervorgehen, und wenn sie nebenbei Gefallen an der Unterhaltung und Gesellschaft gewonnen, wenn sie dann weiter beobachtet haben, dass die Hauptstörungen in der Gesellschaft durch jene Güter [materielle; Anm. der Verf.], die wir äußerliche nennen, bedingt sind, so müssen
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sie Abhilfe suchen […]. Dies aber kann auf keine andere Weise geschehen, als durch eine Übereinkunft, die alle Mitglieder der Gesellschaft eingehen« (ebenda: 483).
Durch diese Argumentation führt Hume also das Anpassen an gesellschaftliche Ordnungen und Regelungen auf den menschlichen Egoismus zurück. Er konstatiert: »Die Rechtsordnung hat nur in der Selbstsucht und der beschränkten Großmut der Menschen, im Verein mit der knappen Fürsorge, die die Natur für ihre Bedürfnisse getragen hat, ihren Ursprung« (ebenda: 488, Hervorh. im Orig.). Ein möglicher Verzicht auf gewissen kurzfristigen Nutzen wird also durch den Gewinn an Ordnung und durch die Aussicht auf eine mögliche spätere Realisierung eigener Wünsche kompensiert. »Mag man den Affekt des Eigennutzes für böse oder für tugendhaft halten, dies tut hier nichts zur Sache. In jedem Falle kann er nur durch sich selbst im Zaum gehalten werden«, so Hume (ebenda: 486). In diesem Punkt unterscheiden sich die Überlegungen Humes im »Treatise« allerdings erheblich von denen im »Enquiry«. Im oben erläuterten »Treatise« sieht Hume die Grundlagen moralischen gesellschaftlichen Handelns noch fast ausschließlich im Egoismus begründet. Im »Enquiry« hingegen liegt seine Betonung deutlich stärker auch auf den altruistischen Momenten wie dem Wohlwollen und der Menschenliebe. Fragt man nun zum Abschluss, ganz im Sinne des utilitaristischen Denkens, was nach Hume den größten Nutzen für den Menschen ausmacht, was er durch sein Handeln erreichen will, dann erhält man nur eher vage Antworten. Von Nutzen ist nach ihm das, was Genuss verschafft. »Das größte Ziel allen menschlichen Fleißes ist die Erlangung von Glück (happiness)«, so formuliert es Hume (1964[1874/75]: 205) – ein Gedanke, der später in die amerikanische Verfassung übernommen wird. Und was dieses Glück ausmacht, sei eine persönliche Frage, die nicht allgemein beantwortet werden könne. Er überlässt es den Menschen selbst, ihren eigenen Nutzen zu definieren: »Fast jeder hat eine bei ihm vorherrschende Neigung, der sich andere Begierden und Zuneigungen unterwerfen und die ihn beherrschen […]. Es ist für ihn schwierig, vorzutäuschen, dass etwas, was ihm völlig gleichgültig ist, einer anderen Person jemals Vergnügen bereiten könnte oder Reize besitze, die außerhalb seines
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Erfahrungsbereichs […] liegen. Seine eigenen Bestrebungen sind stets die für ihn wichtigsten« (ebenda).
In diesem Zusammenhang ist zudem Humes Ablehnung des Nutzens als eines übergeordneten und ursächlichen Prinzips menschlichen Handelns zu berücksichtigen, durch die er sich von anderen Utilitaristen abgrenzt. Für ihn kann der Nutzen niemals Selbstzweck sein, sondern nur Instrument (vgl. Kopf 1987: 126). Den Zweck setzen die Menschen aufgrund ihrer individuellen Interessen und Neigungen selbst.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Für Hume ist Newton nicht nur ein Vorbild hinsichtlich der Art der Darstellung wissenschaftlicher Arbeiten, sondern auch ganz besonders hinsichtlich der von ihm konsequent angewandten empirischen Methode zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis. Wie sehr Hume von Newtons Methode beeinflusst und beeindruckt ist, zeigt sich schon allein darin, dass er seinen »Treatise« mit dem Untertitel »Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects« versieht. Ebenso wie auch Adam Smith weist er jegliche spekulativen Gedankengänge zurück und verschreibt sich einzig der empirischen Methode. Er argumentiert: »Das eigentliche Wesen des Geistes ist uns ebenso unbekannt wie das der Körper außer uns. Darum, scheint mir, können wir auch von den Fähigkeiten und Eigenschaften des Geistes, ebenso wie von denen des Körpers, auf keinem anderen Wege ein Bild gewinnen, als auf dem der sorgfältigen und genauen Erfahrung, und der Beobachtung der besonders gearteten Wirkungen, die der Geist unter verschiedenen Umständen und in verschiedenen Situationen zutage treten lässt« (Hume 2004[1739-41]: 14).
Die Anwendung der empirischen Methode auf dem Gebiet der Erklärung menschlichen Handelns ist allerdings mit zwei gewichtigen Problemen behaftet. Eines ergibt sich nach Hume daraus, dass es schwierig sei, Versuche in den Geisteswissenschaften durchzuführen:
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»Die Geisteswissenschaft ist allerdings im Vergleich mit den Naturwissenschaften insofern im Nachteil, als sie bei der Feststellung der Erfahrungstatsachen auf Versuche verzichten muss, die geflissentlich, mit Vorbedacht, und in solcher Weise angestellt wären, dass sie dadurch jedem irgendwie auftauchenden speziellen Bedenken gerecht werden könnte« (ebenda: 15).
Zum anderen kann es mithilfe empirischer Beobachtungen zwar gelingen, Auskunft darüber zu erhalten, wie eine beobachtete Menge von Menschen handelt und welche menschlichen Fähigkeiten dabei eine Rolle spielen. Aber über die Beweggründe der Menschen, über deren Motivationen und Orientierungen in Entscheidungssituationen, schweigen sie. Als Basis für eine befriedigende Antwort auf diese Fragen kommt für Hume nur eine fundierte, durch Erfahrung gewonnene Lehre von der menschlichen Natur in Betracht (siehe oben), in der er den Ursprung aller Handlungsorientierungen sieht. Er resümiert in seiner Einleitung zum »Treatise«: »Wir müssen unsere Erfahrungen in dieser Wissenschaft also aus einer sorgfältigen Beob achtung des menschlichen Lebens gewinnen, und sie nehmen, wie sie im gewöhnlichen Lauf der Welt, in dem Benehmen der Menschen in Gesellschaft, in ihren Beschäftigungen und Vergnügungen darbieten. Wo Erfahrungen dieser Art mit Verständnis gesammelt und miteinander verglichen werden, da können wir hoffen, auf sie eine Wissenschaft zu gründen, die an Sicherheit den Resultaten anderweitiger menschlicher Forschung nicht nachsteht, sie zugleich an Nutzen weit übertrifft« (ebenda: 16).
Auch wenn Hume »der Newton der moral sciences« sein wollte, so herrscht nach Gilbert Ryle dennoch Einigkeit darüber, dass ihm dieses nicht ganz gelungen ist (vgl. Ryle 1997: 8). Auch wenn er sich Begriffe der Mechanik und der Biologie ausborgt und in physiologischen Modellen denkt, so stellt er dennoch keine eigenen Gesetze auf. Seine »Entdeckungen« des mentalen Lebens: die Eindrücke, Ideen und Gefühle, sind Produkte der Theorie und nicht etwa empirisch zugänglicher Daten. Und auch wenn er die organisierenden Prinzipien seiner Theorie: Assoziation und Gewohnheit, als Gegenstücke zur Anziehungskraft und Trägheit beschreibt, so sind dies allenfalls Analogien, die die Wirkungsweise des Geistes nicht »mechanisch« erklären können. Dennoch hat sich aus den Arbeiten von Hume eine wichtige Traditionslinie entwickelt, die ausge-
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hend von den Absichten der Menschen nach sozialen Ordnungsmechanismen sucht und das reale Handeln des Menschen zu ihrem Ausgangspunkt macht.
Lernkontrollfragen • • •
Welche zwei Formen der Erkenntnis unterscheidet Hume und welche ist nach ihm die vor allem handlungsanleitende? Inwiefern kann Humes Theorie als eine nicht-hedonistische Utilitarismustheorie bezeichnet werden? Welches methodische Vorgehen ist bei Hume zentral und kann er es umsetzen?
Literatur Primärliteratur Hume, David (1739-41). A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects. Band I: Of the Understanding, Band II: Of the Passions, Band III: Of Morals. London. Hume, David (1741/42). Essays, Moral and Political. London. Hume, David (1748). An Enquiry concerning Human Understanding. London. Hume, David (1964[1874/75]). The Stoic. In: ders., The Philosophical Works in 4 Volumes, Band 3, herausgegeben von Thomas H. Green and Thomas H. Grose, Aalen: Scientia Verlag. Hume, David (1973[1748]). Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Herausgegeben von Raoul Richter. Hamburg: Felix Meiner. Hume, David (2002[1751]). Eine Untersuchung der Grundlagen der Moral. Herausgegeben von Karl Hepfer. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hume, David (2004[1739-41]). Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen. 3 Bände. Vollständig neu bearbeitete Ausgabe der Übersetzung von Theodor Lipps gemäß der 3. Auflage 1912. Berlin: Xenomos.
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Sekundärliteratur Kopf, Peter (1987). David Hume. Philosoph und Wirtschaftstheoretiker (1711-1776). Wiesbaden: Franz Steiner Verlag. Kulenkampff, Jens (1981). David Hume. In: Höffe, Otfried (Hg.), Klassiker der Philosophie. Band 1: Von den Vorsokratikern bis David Hume, München: C. H. Beck, S. 434-456. Kulenkampff, Jens (1989). David Hume. München: Beck. Kulenkampff, Jens (1997). Einleitung. In: ders. (Hg.), David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Berlin: AkademieVerlag, S. 1-6. Lahno, Bernd (1995). Versprechen. Überlegungen zu einer künstlichen Tugend. München: Oldenbourg. Rembold, Sandra (2006). Das Bild des Menschen als Grundlage der Ordnung. Die Beiträge von Platon, Aristoteles, Thomas Hobbes, John Locke, David Hume, Adam Smith, John Stuart Mill, Walter Eucken und Friedrich August von Hayek. URL: http://Kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2007/pdf/DissertationSandra_Rembold.pdf (28.01.2009). Ryle, Gilbert (1997): Hume. In: Kulenkampff, Jens (Hg.), David Hume. Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Berlin: Akademie-Verlag, S. 7-18. Streminger, Gerhard (1995a). David Hume – Sein Werk für die Aufklärung. In: ders., Der natürliche Lauf der Dinge. Essays zu Adam Smith und David Hume, Marburg: Metropolis, S. 33-54. Streminger, Gerhard (1995b). David Humes Entwurf einer natürlichen Ethik. In: ders., Der natürliche Lauf der Dinge. Essays zu Adam Smith und David Hume, Marburg: Metropolis, S. 55-109.
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2.2 A DAM S MITH : D ER NATÜRLICHE L AUF DER D INGE IST GUT Adam Smith kann das Verdienst zugeschrieben werden, die besondere wirtschaftliche Bedeutung und den sittlichen Wert des Eigeninteresses erkannt und herausgestellt zu haben. Wie bedeutend seine Annahmen für die Erklärung sozialen Handelns sind, ergibt sich schon daraus, dass er den Tausch und darauf auf bauend die Arbeitsteilung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und sie auf die Natur des Menschen zurückführt. Die Rezeptionsgeschichte des Smithschen Werkes ist von Missverständnissen geprägt: Smith beschreibt den Menschen nicht als eigensüchtigen, sich nicht um seine Mitmenschen kümmernden reinen homo oeconomicus. Und das in der Mikroökonomik oft gezeichnete Smithsche Menschenbild eines Nutzenmaximierers hat nur wenig gemein mit dem, was er in seinen Theorien entwickelt. Werden seine Überlegungen zum sozialen Handeln umfassend gewürdigt, dann zeigt sich ein Menschenbild, das sowohl von Normen und sozialen Tugenden als auch von Eigenliebe und Selbstinteresse geprägt ist.
Zur Person Smith wird am 5. Juni 1723 in Kirkcaldy, einem kleinen Ort in Schottland geboren. Sein Vater, ein angesehener Advokat und Beamter, stirbt bereits vor seiner Geburt. Nach dem Besuch der Lateinschule kommt Smith mit 14 Jahren an die Universität Glasgow, wo insbesondere Francis Hutchesons Vorlesungen und dessen Moralphilosophie tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. 1740 geht er mit einem Stipendium der Glasgower Universität nach Oxford, um am berühmten Balliol-College seine Studien fortzusetzen. Dieses verlässt er 1746 mit dem Grad des Bachelor of Arts. 1751 erhält er – inzwischen bekannt geworden durch seine Vorlesungen über englische Literatur und Nationalökonomie in Edinburgh – den Lehrstuhl für Logik an der Universität Glasgow. 1752 wird ihm das Lehramt für Moralphilosophie übertragen, das einst sein Lehrer Hutcheson innehatte und das ihm mehr zusagt als das der Logik. In die Zeit seiner Professur in Glasgow fallen Smiths erste wichtige wissenschaftliche Publikationen. Die Vorlesungen über Moralphilosophie liefern ihm den Stoff zu seinem philosophischen Hauptwerk »The Theory of Moral Sentiments« (1759), mit dem er zur europäischen Berühmtheit wird (vgl. Eckstein 1977:
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XVI). Von 1764 bis 1766 begleitet er den Sohn eines Politikers als Privatlehrer ins Ausland. 1767 kehrt er für elf Jahre ins mütterliche Haus zurück und verfasst dort sein ökonomisches Hauptwerk »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«. Dieses Buch findet so großen Anklang, dass innerhalb weniger Jahre eine Reihe von Übersetzungen erscheint. 1778 übersiedelt Smith nach Edinburgh, um dort als Mitglied der Zollkommission für Schottland zu arbeiten, was ihm zwar ein bedeutendes Einkommen einbringt, ihm allerdings kaum Zeit für wissenschaftliche Untersuchungen lässt. Er stirbt am 17. Juli 1790 in Edinburgh, ohne in seinen letzten Lebensjahren publiziert zu haben. Smith ist fest in der Tradition des naturwissenschaftlich ausgerichteten, moralphilosophischen Denkens des 17. und 18. Jahrhunderts verhaftet. Er vertritt ein Programm, das ihm sein Freund Hume vorgezeichnet hat, dem es gilt, »die experimentelle Denkmethode in die Moral einzuführen«, wie es im Untertitel von Humes »Treatise« heißt. Smith verfolgt dementsprechend einen strikt empirischen Untersuchungsansatz, der auf Beobachtung basiert sowie auf der Herleitung von Schlüssen aus den beobachteten Phänomenen. Zugleich wendet er sich gegen die »theologische Moral mit ihrer Weltflucht, ihrer Lebensfeindschaft, ihrer übersteigerten Demut« und gegen intellektualistische Strömungen der älteren englischen Ethik, wie sie vor allem durch die unter dem Namen der »Platoniker von Cambridge« bekannten Philosophengruppe vertreten wird (Eckstein 1977: XXIV). Den meisten gilt Smith als der Begründer der klassischen Nationalökonomie und als Verfechter des klassischen Liberalismus. Aber er kann zugleich als ein Vorläufer der Soziologie charakterisiert werden. Viele Wirtschaftssoziologen wie Friedrich Fürstenberg (1970: 13) oder Klaus Heinemann (1987: 8) betonen, dass beispielsweise »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« – genau betrachtet – als eine gesellschaftstheoretische Studie gelesen werden kann. Das Buch »The Theory of Moral Sentiments« (»Theorie der ethischen Gefühle«), das Smith 1759 in Glasgow schreibt, betrachtet er selbst als sein wichtigstes Werk. Mit dessen Umarbeitung und Ergänzung beschäftigt er sich noch in seinen letzten Lebensjahren. Insofern ist das Buch, mit dem er seine wissenschaftliche Lauf bahn beginnt, in gewissem Sinne auch sein Alterswerk. Sehr viel bekannter ist jedoch sein Werk von 1776: »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (»Wohlstand der Nationen«). Darin beschäftigt er sich mit weit mehr, als der Titel
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vermuten lässt. Es ist eine »überaus umfangreiche Analyse menschlicher Eigenschaften, moralischer Werte und Beweggründe sowie die genaue Betrachtung der Prinzipien, nach denen die Gesellschaft funktioniert« (Winter/Rommel 1999: 7). In diesem Werk arbeitet er insbesondere volkswirtschaftliche Zusammenhänge heraus, weswegen er zusammen mit David Ricardo und John Stuart Mill zu den Begründern der klassischen Nationalökonomie gezählt wird.
Fragestellungen und Erkenntnisse Smith gehört, wie sein Freund Hume, sein philosophischer Lehrer Hutcheson oder John Locke, zu den Vertretern der englischen Aufklärung. Ihnen gemeinsam ist eine gewisse skeptische Grundhaltung gegenüber der sogenannten »letzten Erkenntnis«. Damit gewinnt bei ihnen die Frage nach einer wissenschaftlich korrekten Methode der Erkenntnisgewinnung besondere Bedeutung. Ganz im Sinne dieser Perspektive versucht Smith, mit einer empirisch orientierten Methode, die den Vorgehensweisen der Naturwissenschaften gleicht, philosophische und anthropologische Phänomene zu erklären. Ziel seiner Untersuchungen ist es zum einen, das Wesen des Menschen und die Grundlagen menschlichen Handelns zu erfassen. Darüber hinaus geht es ihm darum, auch die gesellschaftlichen Folgen des individuellen Handelns nachzuzeichnen und zu erklären. Das Besondere seiner Überlegungen ist, dass er das Verfolgen des Eigeninteresses als Basis für gesellschaftlichen Wohlstand erachtet. Nach ihm ist ein Gemeinwesen auf der Grundlage des Strebens nach Verwirklichung individueller Interessen nicht nur möglich, sondern auch – ganz im Sinne Lockes – »demokratisch« (vgl. auch Hueber 1991: 8). Smith betont: »der einzelne ist stets darauf bedacht, herauszufinden, wo er sein Kapital, über das er verfügen kann, so vorteilhaft wie nur irgend möglich einsetzen kann. Und tatsächlich hat er dabei den eigenen Vorteil im Auge und nicht etwa die Volkswirtschaft. Aber gerade das Streben nach seinem eigenen Vorteil ist es, das ihn ganz von selbst oder vielmehr notwendigerweise dazu führt, sein Kapital dort einzusetzen, wo es auch dem ganzen Land den größten Nutzen bringt« (Smith1978[1776]: 369).
Im »Wohlstand der Nationen« entwickelt er, auf dieser Grundannahme auf bauend, seine zentrale These, dass die Versorgung innerhalb einer Ge-
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sellschaft nur durch den Tausch möglich ist, den er als eine natürliche Neigung des Menschen betrachtet. Zum Illustrieren seines Arguments wählt er das Beispiel eines Bettlers: »Auch ein Bettler deckt seinen gelegentlichen Bedarf überwiegend wie alle anderen Menschen, nämlich durch Verhandeln, Tausch und Kauf. Mit dem erbettelten Geld kauft er sich etwas zum Essen, geschenkte, alte Kleider tauscht er gegen andere, die ihm besser passen, gegen eine Unterkunft, Essen oder Geld […]« (ebenda: 17).
Und den Tausch wiederum sieht er als Grund für die Arbeitsteilung an. Er erklärt, dass die Neigung zum Tausch letztlich eine Voraussetzung für die Arbeitsteilung bildet (vgl. ebenda). Seine Argumentation ist überzeugend: Zum einen geht er davon aus, dass die Menschen den Wert einer Leistung oder eines Gegenstands grundsätzlich erkennen können. Zum anderen ermöglicht ihnen der Tausch eine Spezialisierung bei ihrer Arbeit, denn erst wenn Gegenstände oder Leistungen getauscht werden können, kann sich »eine Gesellschaft entwickeln, in der nicht mehr jeder alles für sich selbst herstellen muß« (Winter/Rommel 1999: 56). In seiner ökonomisch orientierten Philosophie steht die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Mittelpunkt. Auch wenn dieses Konzept zu seiner Zeit nicht ganz neu ist, so sind seine Definition und die darauf auf bauende Herausarbeitung der grundlegenden Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft funktioniert, so überzeugend, dass er als der Urvater volkswirtschaftlichen Denkens bezeichnet werden kann.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Smith wird häufig als einer der Urväter der Konzeption des rationalen Handelns beschrieben. Der Begriff der Rationalität hat bei ihm allerdings eine besondere Bedeutung. Während beispielsweise bei Aristoteles die praktische Rationalität im von der Vernunft geleiteten Wunsch des Menschen besteht, das zu tun, was für ihn gut und richtig ist, erhält der Begriff bei Smith eine ökonomische Wendung, insofern er die Wirtschaft als paradigmatisches Beispiel des Handelns heranzieht. Smith sieht im rationalen Handeln das vorrangige Streben des Menschen, sein Los in einer
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Welt der Knappheit und materiellen Enge zu verbessern. Er beschreibt den Menschen damit als das, was Vilfredo Pareto später als homooeconomicus bezeichnet. Macht und Reichtum sind nach Smith positive Zielsetzungen, da sie mit den Schönheiten und Bequemlichkeiten des Lebens verbunden sind (vgl. Smith 1978[1776]): 322). Schönheit ist für ihn dabei in Anlehnung an Hume – den er an dieser Stelle zwar nicht namentlich erwähnt, aber auf den er unverkennbar hinweist – ein Ausdruck von Nützlichkeit. Für Smith gilt, dass vor allem die Klugheit des Menschen Grundlage seines Handelns und insbesondere seiner Sorge um das eigene Wohl ist (vgl. ebenda: 442). Sie ist die Quelle seines wirtschaftlichen Handelns. Der Mensch ist beispielsweise so klug – wie Smith es formuliert –, die Arbeit zu tätigen, bei der er mit dem für ihn geringsten oder angenehmsten Aufwand den größtmöglichen Gewinn erwirtschaften kann (vgl. ebenda: 17f.). Ein solches Handeln ist dabei für Smith nicht moralisch verwerflich, sondern völlig legitim und in einer Tauschgesellschaft sogar unabdingbar. Er betont: »Die Sorge für die Gesundheit, für das Vermögen, für den Rang und den Ruf des Individuums, d.h. also für die Dinge, von welchem der allgemeinen Ansicht nach sein Wohlbefinden und seine Glückseligkeit in diesem Leben in erster Linie abhängen, wird als die eigentliche Obliegenheit derjenigen Tugend betrachtet, die man gemeinhin als Klugheit bezeichnet« (ebenda: 362).
Neben dem überlegenen Verstand und der herausragenden Vernunft des Menschen hat nach Smith aber auch die Selbstbeherrschung – als vernunftgeleitete Triebkontrolle – Anteil an der »Tugend der Klugheit«. Es befähigen der Verstand sowie die Vernunft den Menschen, die Folgen seiner Handlungen zu antizipieren; die Selbstbeherrschung hingegen kann die Enthaltung der Lust und das Ertragen von Schmerz bewirken, die durch die menschlichen Leidenschaften verursacht werden (vgl. ebenda: 140ff.). Smiths Menschenbild ist das eines vorwiegend rational und ökonomisch agierenden Menschen, der sich in einer Welt mit knappen Ressourcen zurechtfinden muss. Dennoch wird er nach Smith zugleich durch Affekte gesteuert, und zwar dann, wenn er Mitgefühl – Sympathie – für seine Mitmenschen verspürt. Smith versteht Sympathie als eine affektive Resonanz, die sich aus der unmittelbaren Situation heraus ergibt und nicht vernunftgeleitet ist. Im Gegensatz zu Hume, der einen Zusammen-
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hang zwischen Sympathie und Nutzen herstellt, ist Smith davon überzeugt, dass Gefühle wie beispielsweise die moralische Billigung oder auch Missbilligung eines anderen auf so starken und lebhaften Affekten gründen, dass sie durch rationale Überlegungen oder durch gesellschaftliche Bräuche oder Werte nur schwer verändert werden können. Er erklärt: »Der Charakter und das Verhalten eines Nero oder eines Claudius […] wird vielmehr der eine ein Gegenstand der Furcht und des Hasses, der andere ein Gegenstand der Verachtung und des Spottes sein. […] [D]ie Empfindungen […] gründen sich auf die stärksten und lebhaftesten Affekte, deren die Menschen fähig sind, und sie können darum zwar etwas aus ihrer Bahn abgelenkt, aber nicht gänzlich in ihr Gegenteil verkehrt werden« (Smith 1977[1759]: 341f.).
Zusammenfassend beschreibt Smith insofern das menschliche Handeln als vorwiegend (ökonomisch) rational, gesteuert durch die Klugheit des Menschen, wobei er aber zugleich affektgesteuerte Handlungen in den Bereichen erkennt, wo der Mensch Sympathie oder Antipathie gegenüber seinen Mitmenschen empfindet.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Wird zur Beantwortung dieser Frage die Rezeptionsgeschichte des Smithschen Werkes mit einbezogen, dann zeigt sich, wie diese von Missverständnissen und Fehlurteilen geprägt ist. Am weitesten verbreitet scheint nach Prisching (1990) die Überzeugung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen dem von Smith in der »Theorie der ethischen Gefühle« entworfenen Menschenbild und jenem im »Wohlstand der Nationen«: In Ersterem trete ein normengeleiteter, soziale Tugenden aufweisender homo sociologicus auf, in Letzterem ein sich nicht um seine Mitmenschen kümmernder, von egoistischem Interesse geleiteter homo oeconomicus. Versteht man die in den Hauptwerken von Smith anzutreffenden Sichtweisen allerdings als sich gegenseitig ergänzende und notwendige Bestandteile ein und derselben Theorie, dann zeigt sich bei Smith ein Mensch mit einem sozialverträglichen Selbstinteresse, das in einer Passage zum Wohlwollen (im »Wohlstand der Nationen«) besonders deutlich zum Ausdruck kommt:
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»Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil« (Smith1978[1776]: 17).
Für Smith ist das Selbstinteresse die Grundlage sowie das zentrale und dominante Prinzip menschlichen Handelns. Es ist Ausdruck der Natur des Menschen. Dennoch wird das Handeln nach Smith zugleich durch gesellschaftlich festgelegte Normen und allgemein akzeptierte Regeln gelenkt. Das Selbstinteresse definiert Smith dabei nicht als Egoismus, sondern als den natürlichen und angeborenen Hang, das eigene Glück dem Glück aller anderen vorzuziehen und permanent nach einer Verbesserung seiner gegenwärtigen Situation zu streben (vgl. Smith 1977[1759]: 122). Und es ist in Smiths Verständnis zugleich sowohl moralisch als auch juristisch das legitime Recht des Einzelnen, den eigenen Vorteil zu verfolgen. Denn nach ihm hat die Natur den Menschen so konzipiert, dass dieser selbst mit seiner Versorgung beauftragt ist, und zwar deswegen, weil er gemäß seinem »natürlichen Hange, sein eigenes Glück dem des anderen vorzuziehen«, dazu am besten geeignet ist (vgl. ebenda). Demzufolge muss das Individuum natürlich und zwangsläufig alles, was unmittelbar die eigene Person betrifft, höher gewichten, so lautet Smiths Überzeugung. Die Betonung des Individualismus scheint hier identisch mit der persönlichen Freiheit eines jeden Menschen, seine Handlungen so zu gestalten, wie er selbst es für richtig hält. Wesentlich für die gesellschaftstheoretischen Überlegungen von Smith ist dabei, dass er in dem menschlichen Bestreben, die eigene Lage zu verbessern, die Grundlage für dessen »natürliche« Neigung zum Tausch sieht. Er geht von der Notwendigkeit des Tausches im Dienste der Verfolgung eigener Interessen aus. »Dagegen ist der Mensch immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht. Jeder, der einem anderen irgendeinen Tausch anbietet, schlägt vor: Gib mir, was ich wünsche, und du bekommst, was du benötigst. Das ist stets der Sinn eines solchen Angebotes,
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und auf diese Weise erhalten wir nahezu alle guten Dienste, auf die wir angewiesen sind« (Smith 1978[1776]: 17).
Smith entdeckt neben dem dominierenden Selbstinteresse allerdings weitere handlungsbestimmende Motive, und zwar soziale und unsoziale: Zu den sozialen zählt er den Edelmut, die Menschlichkeit, die Güte, das Mitleid, die Anerkennung und gegenseitige Freundschaft, zu den unsozialen alle Formen von Hass und Vergeltungsgefühlen (vgl. Smith 1977[1759]: 44ff. und 52ff.). Das Selbstinteresse – als Hauptmotiv – nimmt bei ihm eine Mittelstellung zwischen den anderen Motiven ein. In Analogie zu Hume beschreibt Smith die sozialen Handlungsmotive als eine Form der Sympathie oder des Mitgefühls (vgl. ebenda: 1ff.): Diese beinhalten nach ihm die Fähigkeit, sich in andere Menschen aufgrund eigener Gefühle und Erfahrungen hineinzuversetzen, sich mit ihren Gefühlen zu identifizieren und durch die eigene Einbildungskraft ihre Empfindungen so gut wie möglich nachzufühlen. Sympathie entsteht nach Smith unmittelbar aus einer Situation heraus oder beruht auf eigenen Erfahrungen. Eine Sympathiebekundung erzeuge bei dem, dem das Mitgefühl entgegengebracht wird, tiefe Dankbarkeit, woraus Smith folgert, dass der Mensch eine natürliche Veranlagung hat, sich anderen zu offenbaren, um diese an seinen Gefühlen teilhaben zu lassen (vgl. ebenda: 9f.). Ebenso sei der Mensch mit dem Verlangen ausgestattet, soziale Anerkennung zu erhalten, was ihn unter anderem zu ehrlicher Tugend veranlasse (vgl. ebenda: 171f.). Nach Smith führt der Wunsch nach Anerkennung allerdings vor allem zum Streben nach äußerem Wohlstand, weil insbesondere materieller Besitz Ansehen und Ruhm von Dritten mit sich bringe. Insofern wird das permanente Streben nach Verbesserung der materiellen Verhältnisse von Smith zugleich auf das brennende Verlangen nach sozialer Anerkennung zurückgeführt. Der Mensch hätte in diesem Sinne keine Freude am Reichtum, wenn er nicht die Sympathie beziehungsweise die Anerkennung anderer Menschen damit erzielen würde. Es bleibt zu resümieren, dass Smith zwar unterschiedliche »Antriebe« des Handelns ausmacht, dass dabei aber die Verfolgung eigener Interessen, im Sinne einer Verbesserung der eigenen materiellen und sozialen Position, zentral ist. Diese individuellen Ziele werden allerdings unter Anerkennung gesellschaftlich festgelegter Rahmenbedingungen verfolgt, was im Sinne Smiths zugleich die Mehrung des gesellschaftlichen
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Handlungstheorie
Wohlstands zur Folge hat, sodass von einem sozialverträglichen Selbstinteresse als Hauptantrieb gesprochen werden kann.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Smiths Methode ist – in Anlehnung an Humes Vorgehen – grundsätzlich empirisch geleitet. Er versteht unter Wissenschaft das sorgfältige Experimentieren und Beobachten, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, die wiederum zur Entwicklung allgemeinerer theoretischer Modelle herangezogen werden. Die damit verbundene Übertragbarkeit von Erkenntnissen auf andere Phänomene leitet Smith aus der Annahme ab, dass die Grundmechanismen der Welt und der menschlichen Natur auf ähnlichen Prinzipien basieren (vgl. auch Winter/Rommel 1999: 32ff.). Die Arbeit eines Wissenschaftlers beginnt im Smith’schen Sinne also mit dem Sammeln von Daten über Tatsachen, mit dem genauen Beobachten eines interessierenden Phänomens. Er sagt: Die Aufgabe des Theoretikers ist es weniger, »die Dinge zu verändern als sie zu beobachten« (Smith 1978[1776]: 14). Diesem Anspruch wird er beispielsweise im »Wohlstand der Nationen« dadurch gerecht, dass er äußerst detailreich über sich ändernde Getreidepreise, Produktionsabläufe oder den Wert von Edelmetallen berichtet. Erst auf der Basis solcher Materialsammlungen könnten Zusammenhänge beschrieben und darauf auf bauend allgemeinere Erkenntnisse gewonnen werden. Mit diesen Annahmen bezieht er eine Gegenposition zum sogenannten »spekulativen Denken«, zur Metaphysik. Vor dem Hintergrund der historischen Trennung der Wissenschaften in Physik und Metaphysik – Letztere verstanden als Beschäftigung mit über Naturerscheinungen hinausgehenden Fragen des Seins – hält Smith die Metaphysik für wissenschaftlich gehaltlos. Er beschreibt sie im »Wohlstand der Nationen« polemisch als eine Disziplin, »in der außer einigen wenigen Binsenweisheiten auch mit größter Sorgfalt nur Verworrenheit und Scheinwissen zu entdecken sind und die folglich nichts als Spitzfindigkeiten und Sophismen hervorbringt« (ebenda: 654).
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Mit dieser Kritik reiht sich Smith in die Empiristen des 17. und 18. Jahrhunderts ein. Er moniert die gesellschaftliche Unangemessenheit und die seiner Ansicht nach zu große Distanz der Metaphysik von der beobachtbaren Welt und der Lebenswirklichkeit der Gesellschaft. Für ihn ist Erkenntnis nur möglich, wenn sie sich auf das tatsächliche Leben und realitätsnahe Beschreibungsmodelle der menschlichen Natur stützt. Hier deutet sich bereits Smiths tief verwurzeltes Vertrauen in die Verlässlichkeit der Sinne und die damit verbundene Unbestechlichkeit der Beobachtung an. Er hält objektive Erkenntnis und ideologische Neutralität für grundsätzlich möglich (vgl. Winter/Rommel 1999: 36). Sinneseindrücke, in Verbindung mit der kritischen Distanz und der Erfahrung des Wissenschaftlers, gelten Smith als verlässliche Grundlagen des Erkennens. Nach Smith ist es die Aufgabe des Wissenschaftlers, das durch Beobachtung gesammelte Material auszuwerten, indem er es methodisch ordnet und systematisiert. Hierdurch könnten die grundlegenden Prinzipien herausgefunden werden, die zu den beobachteten Phänomenen führen. Parallel zum Vorgehen des Naturwissenschaftlers will er also auf dem Wege der Verknüpfung von Daten – der Bildung von Zusammenhängen – auch in der Moralphilosophie die Auslöser für bestimmte Effekte entdecken. Die Hauptaufgabe des Philosophen oder Theoretikers besteht nach ihm im Erkennen und Analysieren von Details der menschlichen Natur und darauf auf bauend im Entwickeln eines Gesamtmodells der gesellschaftlichen Mechanismen. Er betont: Philosophen »sind auf Grund ihrer Spekulationen häufig imstande, Phänomene, die sehr verschieden sind und wenig Bezug zueinander haben, sinnvoll zu verknüpfen« (Smith 1978[1776]: 14). Smith entdeckt im Sammeln wissenschaftlichen Wissens einen historischen Prozess, der durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung gekennzeichnet ist. Jedes nachfolgende Stadium der Erkenntnis umfasse auch das vorhergehende und stelle eine darauf auf bauende Stufe dar. Die Erkenntnisgewinnung wird von ihm als ein Prozess der Diskussion verstanden, bei dem verschiedene, »alte« und »neue« Erklärungsvorschläge gegeneinander abgewogen werden und der plausiblere »siegt« (vgl. Smith 1880[1762]: 123f.). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Smith mit seiner Methode das Ziel verfolgt, ein auf empirische Fakten gestütztes Erklärungsmodell zu liefern, das »Ableitungen und Schlüsse aus tatsächlich beobach-
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teten und damit überprüf baren Abläufen zieht« (Winter/Rommel 1999: 22). In der Literatur herrscht relativ große Einigkeit darüber, dass sich Smith um einen empirischen Ansatz bemüht und versucht, Tatsachen zu ordnen. Es gibt allerdings deutliche Differenzen hinsichtlich der Beurteilung der Konsistenz seiner Methode sowie darüber, was überhaupt als seine Methode bezeichnet werden kann (vgl. Hueber 1991: 28). Alec L. Macfie beispielsweise fasst zusammen, dass Smith zwar durchaus Wert auf Tatsachen gelegt habe (vgl. Macfie 1967: 22), jedoch nicht ebenso viel auf ein streng logisches Vorgehen (vgl. ebenda: 7). Aber auch ohne abschließende Klärung der Frage, welche die Erfahrungsmethode von Smith gewesen sein mochte, gilt er noch heute als ein wichtiger Denker, dessen Überlegungen auch für die aktuelle soziologische Handlungstheorie noch immer von Bedeutung sind.
Lernkontrollfragen • •
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Warum wird Smith häufig als der Urvater des homo oeconomicus bezeichnet? Inwiefern kann das von Smith herausgearbeitete Hauptmotiv des Handelns, das Selbstinteresse, als ein sozialverträgliches bezeichnet werden? Welches methodische Vorgehen wählt Smith und woran orientiert er sich dabei insbesondere?
Literatur Primärliteratur Smith, Adam (1977[1759]). Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Walther Eckstein. Hamburg: Felix Meiner. Smith, Adam (1978[1776]). Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes herausgegeben von Horst Claus Recktenwald. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
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Smith, Adam (1880[1762]). Principles which lead and direct philosophical enquiries. Illustrated by the history of astronomy. Basel: Mission Press.
Sekundärliteratur Eckstein, Walther (1977). Einleitung des Herausgebers. In: Smith, Adam, Theorie der ethischen Gefühle. Nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Walther Eckstein, Hamburg: Felix Meiner, S. XI-LXXI. Fürstenberg, Friedrich (1970). Wirtschaftssoziologie. Berlin: de Gruyter. Heinemann, Klaus (1987). Probleme der Konstituierung einer Wirtschaftssoziologie. In: Neidhardt, Friedhelm/Lepsius, M. Rainer/Esser, Rainer (Hg.), Soziologie wirtschaftlichen Handelns, Sonderheft der KZfSS, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 7-39. Hueber, Anton (1991). Die philosophische und ethische Begründung des homo oeconomicus bei Adam Smith. Frankfurt a.M.: Peter Lang. Kulenkampff, Jens (1981). David Hume. In: Höffe, Otfried (Hg.), Klassiker der Philosophie. Band 1: Von den Vorsokratikern bis David Hume, München: C. H. Beck, S. 434-456. Macfie, Alec L. (1967). The Individual in Society. London: Routledge. Prisching, Manfred (1990). Adam Smith und die Soziologie. Zur Rezeption und Entfaltung seiner Ideen. In: Kurz, Heinz D. (Hg.), Adam Smith (1723-1790) – Ein Werk und seine Wirkungsgeschichte, Marburg: Metropolis, S. 53-92. Roesler, Hermann (1871). Über die Grundlagen der von Adam Smith begründeten Volkswirtschaftstheorie. Erlangen: Verlag von Andreas Deichert. Winter, Helen/Rommel, Thomas (1999). Adam Smith für Anfänger. Der Wohlstand der Nationen. Eine Lese-Einführung von Helen Winter und Thomas Rommel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
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3. Anfänge soziologischer Handlungstheorien und ihre Entwicklung
Die im 18. Jahrhundert entwickelten Theorien des individuellen Handelns eröffnen mehrere Wege, auf denen sie weiterentwickelt und ausdifferenziert werden können: Ihren Ausgangspunkt findet die weitere Debatte in der Überlegung, der zufolge jedes Handeln als intentionales oder absichtsgeleitetes Handeln verstanden werden muss. Diese Intentionen können sich auf ganz konkrete, heterogene Felder beziehen und unterschiedlichste Ausrichtungen (oder Modalitäten) annehmen. Dabei haben sich zwei Ansätze als wirkmächtig herauskristallisiert: Zum einen das Verständnis, dass Handeln rein egoistischen Zwecken folgt und damit – in letzter Instanz »autonome« – Eigenrechte in Anspruch nimmt. In den Augen anderer Theoretiker greift diese Auffassung insoweit zu kurz, als Handelnde (immer auch) die Zwecksetzungen der Mitakteure beachten und den Vorgaben der sozial gebotenen Tugend sowie moralischen Erwartungen folgen müssen. Darüber hinaus ist die Frage wichtig geworden, ob ein individueller Akteur seine Handlungsziele auf genau kalkulierte Weise verfolgt, indem er seine Zielsetzungen bewusst wählt und sein Handeln danach ausrichtet, ob und dass es seinen jeweils verfolgten Zwecken dient – insoweit verfährt ein Handelnder »rational«. Andererseits aber kann ein Handeln auch ohne Zweckbedenken und ohne die nähere Betrachtung seiner Nützlichkeit entworfen und durchgeführt werden. Die ersten soziologischen Handlungstheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Annahme eines rein autonomen Handelns ebenso infrage stellen wie die eines Handelns ausschließlich nach Nützlichkeitsüberlegungen, die die Bedingungen rationaler Kalkulation erfüllen. So
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behauptet schon Herbert Spencer (1820-1903), dass Handeln prinzipiell irrational und situationsbezogen sei, und das heißt für ihn, eingebettet in die sozialen Beziehungen, unter denen es geplant und vollzogen wird. Auch Vilfredo Pareto (1848-1923) und Max Weber (1864-1920) gehen nicht davon aus, dass sich soziales Handeln mit dem Modell rationaler Nutzenkalkulation allein zureichend fassen lässt. Pareto vermutet, dass allem Handeln ein beständiger Kern zugrunde liegt, der aus Gefühlen, Instinkten und festgefügten Glaubensüberzeugungen besteht und insofern keiner rational zu nennenden Überlegung folgt. Weber hingegen differenziert idealtypisch zwischen vier verschiedenen Grundmustern des Handelns, von denen nur eines als »zweckrational« und nur zwei als rational bezeichnet werden. Obwohl beide Autoren in vielerlei Hinsicht verschiedene Handlungsvorstellungen entwerfen, so ähneln sich ihre Erkenntnisinteressen und Erklärungsansätze dennoch an vielen Stellen.
3.1 V ILFREDO P ARE TO : D IE NICHT- LOGISCHE H ANDLUNG Vilfredo Pareto gilt heute gemeinhin als Außenseiter unter den Sozialwissenschaftlern. Zwar wird er zu den Hauptvertretern der modernen theoretischen Soziologie gezählt; eine inhaltliche Rezeption seines Werkes findet in Deutschland allerdings kaum statt. Das Bild, das in der Soziologie von ihm gezeichnet wird, ist vielfach verzerrt und von Vorurteilen geprägt. Es wird ihm häufig vorgeworfen, seine »Theorie der Gefühle« »gründe auf dunklen biologistischen Lehren von menschlichen Trieben und Instinkten« (Bach 2004: 9; vgl. auch Schumpeter 1951). Dem ist entgegenzuhalten, dass er auf der Basis präziser begrifflicher Grundlagen eine eigenständige Theorie des sozialen Handelns entwickelt hat, die vor allem in der Unterscheidung der Handlungssphären Wirtschaft und Soziales – entlang dominanter Handlungsweisen – besteht und von Talcott Parsons weitergeführt wird.
Zur Person Pareto wird am 15. Juli 1848 in Paris geboren, wohin sein Vater ins Exil gegangen war. Sein Vater, der Italiener Raffaele Pareto Marchese di Parigi, entstammt einer alten Genueser Familie und ist Zivilingenieur, Professor und Ministerialbeamter. Seine Mutter, Marie Pareto Marchesa di Parigi,
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geborene Méténier, ist Französin. Die Familie zieht 1852 nach Italien. 1864 beginnt Pareto mit dem Studium der Mathematik und der Physik an der Universita di Torino, das er mit dem Lizenziat abschließt. Weitere Studien macht er am heutigen Polytecnico in Turin, 1870 erwirbt er den akademischen Grad eines Doktors der Ingenieurwissenschaften. 1873 wird er Angestellter der italienischen Eisenbahngesellschaft und macht nebenbei ausgedehnte Reisen nach Deutschland, England, Belgien, Österreich und in die Schweiz. Diese Reisen nutzt er – getrieben von unbezähmbarem Erkenntnisdrang –, um sich als Autodidakt auf eine akademische Lauf bahn vorzubereiten. 1893 wird er an den Lehrstuhl für Nationalökonomie an die Universität Lausanne berufen. Er übernimmt die Nachfolge des stark mathematisch orientierten Léon Walras. Am 19. August 1923 stirbt Pareto in Céligny am Genfer See an Herzversagen. Geprägt durch sein mathematisch-naturwissenschaftliches Denken betreibt Pareto die Soziologie als logisch-experimentelle beziehungsweise logisch-erfahrungsmäßige Wissenschaft. Für ihn gilt: »wer objektiv, mit logisch-experimenteller Methode forscht, hat sein eigenes Gefühl weder explizit noch implizit auszudrücken« (Pareto 2006[1916]: 32, § 41). Er entwickelt eine hypothetische Soziologie, »die von Abstraktion zu Abstraktion fortschreitet und zu einer rationalen Sozialmechanik führt« (Salomon 1926: 5). Pareto ist ein radikaler Positivist. Er lehnt jegliche »spekulativen Systeme« wie die christlichen und humanistischen Sozialphilosophien ab. Seine Soziologie wird aufgrund ihres methodischen Instrumentariums häufig als im Gegensatz zur Historie stehend betrachtet. Von einigen Autoren wird er zum Behaviorismus gezählt (vgl. zum Beispiel Carli 1925), anderen gilt er als Begründer der Sozialpsychologie (vgl. Gehlen 1941/42: 45). Wieder andere beschreiben ihn als den »Galilei der Sozialwissenschaften« (Eisermann 1961: 4) – wogegen allerdings spricht, dass sein Werk bisweilen auch als zu »mechanistisch« beschrieben wird (vgl. Eisermann 1961). Seine Werke veröffentlicht Pareto zunächst auf Französisch und später meist auf Italienisch. Sein soziologisches Hauptwerk, den »Trattato de sociologia generale«, veröffentlicht er 1916 in Florenz, findet damit aber keine große Beachtung. Als es allerdings Mitte der 1930er Jahre ins Englische übersetzt wird, löst es in den USA gleichsam eine »Pareto-Welle« aus. Anfang der 1920er Jahre erscheinen in Florenz zwei weitere wichtige Artikelsammlungen mit Texten zur politischen Soziologie: »Fatti e teorie« (1920) und »Trasformazione della democrazia« (1921).
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Fragestellungen und Erkenntnisse Robert Michels beschreibt die Soziologie Paretos als eine »Naturgeschichte der nicht-logischen Aktionen«, denn für Pareto sind es – wie bereits für Hume – vor allem die Instinkte und Leidenschaften des Menschen, die sich in dessen Handeln manifestieren (Michels 1924: 242). Paretos Untersuchungen der nicht-rationalen beziehungsweise nicht-logischen Handlungen, in Abgrenzung zu den logischen Handlungen, machen drei Viertel seines gesamten Werkes aus und sind das eigentlich Originäre seiner Soziologie. Sein Engagement für eine theoretische Neubegründung der Handlungstheorie basiert auf seiner kritischen Auseinandersetzung mit den eher ökonomisch orientierten Theorien. Diese gehen – wie in Kapitel 2.1 beschrieben – davon aus, dass menschliches Handeln überwiegend vom eigennützigen Streben der Individuen nach Deckung ihres Güterbedarfs, nach Genussbefriedigung und Wohlstand bestimmt ist. Die ökonomischen Theorien entwickeln in diesem Sinne eine theoretische Figur, die Pareto als reduktionistisch ablehnt. Für ihn bedarf diese ökonomische Erklärung einer Ergänzung durch die soziologische Dimension, um Handeln umfassend erklären zu können. Wieder und wieder betont er, dass die ökonomische und die soziologische Seite eines konkreten Phänomens immer nur alternative Aspekte ein und derselben Tatsache seien. In einem Brief an seinen Freund Maffeo Pantaleoni drückt er seine Überzeugung folgendermaßen aus: »Die Historiker & Co. negieren die ökonomischen Gesetze, für mich sind sie gültig, und ich untersuche ihre Verflechtungen mit anderen sozialen Gesetzen« (Pareto 1975[1906]: 235, Hervorh. im Orig.). Grundlegend ist für ihn, dass es nahezu kein Phänomen gibt, das ausschließlich ökonomischer Natur ist. Sehr oft überwiege sogar der »soziologische Anteil«. Im oben genannten Brief entwickelt er ein Beispiel zur Plausibilisierung seiner Überzeugung: »Auf dem Meer treibt der Wind ein Schiff direkt in eine bestimmte Richtung, und das Schiff fährt mit Hilfe der Segel und des Steuerruders in eine andere Richtung. So ist es auch bei der Gesellschaft. Du und deine Freunde wollen nach A, also geht Euer Wirken in diese Richtung, aber durch andere Kräfte, die sich mit Eurem Impuls verbinden, geht die Gesellschaft nach B, wohin weder Du noch Deine Freunde jemals gehen wollten« (ebenda: 237, Hervorh. im Orig.).
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Pareto geht – knapp formuliert – davon aus, dass die Menschen überwiegend nicht aufgrund vernünftiger Schlussfolgerungen handeln. Vielmehr würden sie erst nach ihren Handlungen darüber nachdenken, wie sie ihnen einen logischen Sinn verleihen könnten. Darüber hinaus sieht er in der nachträglichen logischen Begründung keine befriedigende Erklärung, weil sie die eigentlichen Antriebe des Handelns bloß verhülle, um die Handlungen zu rechtfertigen. Diese nachträglichen Begründungen bezeichnet er als »Derivationen« oder »Ableitungen«, die nicht der empirischen Wirklichkeit entsprächen (vgl. Pareto 2006[1916]: 184ff.). Sie würden zwar vorgeben, die Wirklichkeit zu beschreiben, kämen aber bei genauem Hinsehen einer Ideologie oder einem »Überbau« gleich. Und eine weitere seiner Überzeugungen ist für unseren Zusammenhang wichtig: Pareto erklärt, dass aus der Gesamtheit des individuellen Handelns (gesamt)gesellschaftliche Effekte entstehen können, die über die Summe der individuellen Handlungen hinausgehen. Insofern identifiziert er »Makroeffekte« als Resultate individuellen Handelns, die sich beispielsweise in seinen Gleichgewichtsvorstellungen widerspiegeln. Mit der Beschreibung der folgenden volkswirtschaftlichen Gleichgewichtslage – die heute als »Pareto-Optimum« bezeichnet wird – ist er berühmt geworden: »Wir können sagen, daß die Mitglieder einer Gesellschaft […] in einer gewissen Lage das Maximum an Ophelemität [Befriedigung, Nutzen; Anm. der Verf.] genießen, wenn es unmöglich ist, sich von dieser Lage geringfügig zu entfernen, ohne allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu nutzen oder zu schaden; jede geringfügige Verlagerung aus dieser Position muß notwendigerweise dazu führen, einem Teil der Gesellschaftsmitglieder förderlich zu sein und einem anderen zu schaden« (Pareto, zitiert nach Eisermann 1987: 92).
Darüber hinaus ist sich Pareto von Beginn seiner wissenschaftlichen Lauf bahn an der Wichtigkeit der anzuwendenden Methode in der Wissenschaft generell sowie speziell in den Sozialwissenschaften bewusst. Unzufrieden mit den existierenden Methoden der Erkenntnisgewinnung entwickelt er seine sogenannte logisch-erfahrungsmäßige Methode, der er nicht weniger als 144 Paragrafen in seinem »Trattato di sociologia generale« widmet. Paretos Position kann – orientiert an den drei Leitfragen – folgendermaßen stichpunktartig zusammengefasst werden: Er beschreibt Hand-
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lungen als vor allem nicht-rational, sondern auf bauend auf (nicht-logischen) Gefühlen. Darüber hinaus hält er Handlungen zwar durchaus für mitbestimmt durch den jeweiligen kulturellen Kontext, vernachlässigt diesen Aspekt aber, da dieser unbeständig sei und nur die beständigen Determinanten – die Gefühle – das Handeln erklären könnten und gesamtgesellschaftliche Bedeutung hätten. Zur Erkenntnisgewinnung entwickelt Pareto die logisch-erfahrungsmäßige beziehungsweise die logisch-experimentelle Methode, die stark an den Methoden der Naturwissenschaften orientiert ist.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Rationales Handeln basiert laut Pareto auf einer objektiv richtigen Erfassung der Welt und darauf auf bauenden objektiv richtigen Schlussfolgerungen. Würde man Pareto fragen, ob es diese Form des Handelns ist, die das menschliche Tun überwiegend bestimmt, dann würde er allerdings – entgegen der zu seiner Zeit gängigen Meinung vieler Autoren – antworten, dass menschliches Handeln überwiegend nicht Folge richtiger, logischer und wertvoller Vernunftschlüsse sei und daher auch die verwendeten Mittel nicht dem Zwecke entsprächen, auf den die Menschen hinzielten. Es sei vielmehr so, dass die Menschen zwar einerseits überzeugt seien, auf der Basis objektiver Schlussfolgerungen zu handeln; diesen Aspekt bezeichnet er als die subjektive Seite des Phänomens (vgl. Pareto 2006[1916]: 39). Andererseits gäbe es aber eine objektive Seite, die sich stark von der ersten unterscheiden würde (vgl. ebenda). Diese Differenzierung führt er ein, um logische von nicht-logischen Handlungen trennen zu können. Logische Handlungen sind nach ihm diejenigen Tätigkeiten, »die nicht nur für ihr Subjekt, sondern auch für Besitzer ausgedehnterer Kenntnisse mit ihrem Zweck logisch verbunden sind, d.h. die Handlungen, die subjektiv und objektiv […] Sinn haben« (ebenda: 41). Es sind Handlungen, bei denen die Mittel mit dem Zweck übereinstimmen. Alle übrigen Handlungen bezeichnet er als nicht-logisch, was er aber nicht mit »unlogisch« gleichsetzt (vgl. ebenda). Eine Handlung gilt folglich dann als nicht-logisch, wenn das Zweck-Mittel-Verhältnis im Bewusstsein des Handelnden von dem objektiv gegebenen Zweck-MittelVerhältnis in der Realität divergiert. Der Typus logischer Handlungen
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wird bei Pareto nicht weiter erörtert, da er ihn für eine Ausnahme hält, die »keinen wesentlichen Einfluß in gesamtgesellschaftlichem Maßstab auf das wirkliche Geschehen in der Gesellschaft ausübt« (Kiss 1977: 108). Die nicht-logischen Handlungen können nach Pareto weiter unterteilt werden: Er unterscheidet danach, ob sie einen Zweck für denjenigen haben, der sie ausführt oder nicht. Handlungen, die ohne subjektiven Zweck ausgeführt werden, sind nach ihm allerdings äußerst selten, denn »die Menschen haben eine ausgesprochene Neigung, ihren Handlungen eine logische Firnis zu geben« (Pareto 2006[1916]: 42). Die meisten der nicht-logischen Handlungen sind demnach gewollt. Da nach Pareto vor allem die nicht-logischen Handlungen sozial wirksam werden, sieht er es als Aufgabe der Soziologie an, gerade diese gründlicher zu erforschen. Er entwickelt eine Kategorisierung der Gründe für nicht-logische Handlungen, indem er zwischen einem Hauptgrund, einem sekundären und einem nebensächlichen Grund unterscheidet. (1) Den Hauptgrund bildet für ihn ein nicht-logischer Gefühlskern, der aus dem Glauben an spezifische Gewissheiten besteht. (2) Daran anknüpfend würden Interpretationen – er nennt sie »Derivationen« oder »Ableitungen« (vgl. ebenda: 77) – entwickelt, die den vorgängigen Glauben als Tatsache bestätigten und diesen darüber hinaus weiterführten, um die eigenen darauf auf bauenden Handlungen zu rechtfertigen. Diesen sekundären Grund bezeichnet Pareto als eine pseudo-logische Theorie, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. (3) Die dort entwickelten Annahmen würden darüber hinaus mit anderen historischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten verknüpft. Es würden Analogien gebildet. Dadurch würden die pseudo-logischen Theorien mit einem je spezifischen Zeit-Raum-Bezug versehen, der ebenfalls dazu beitrüge, das Handeln anzuleiten (vgl. ebenda: 52). Eines der vielen Beispiele, welches Pareto entwickelt (und das von Bousquet 1926 wiedergegeben wird), soll seine Differenzierung der Gründe für Handlungen veranschaulichen: »Im Jahre 1923 starb unter sogenannten ›mysteriösen‹ Umständen Lord Carnavon, der Leiter der Erschließung des Grabes des Pharaos Tutanchamun. Die Tagespresse der ganzen Welt stürzte sich auf dieses Ereignis, das Publikum war von dem Gedanken an eine posthume Rache begeistert und beinahe galt diese als eine unbestreitbare Wahrheit. Die Zauberkundigen konnten sich jedoch nicht einigen. Für die einen war ein ›double astral‹ dabei im Spiele; für die anderen aber die Wir-
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kungen eines Giftes; manche sahen darin ein Werk des in Gestalt eines giftigen Insekts wiedererstandenen Toten usw. usw.« (Bousquet 1926: 56).
In welcher Weise die von dem Ereignis Betroffenen handeln, hängt nach Pareto zum einen davon ab, welcher Erklärung sie glauben. Alle der dort aufgeführten Deutungen des Geschehens vonseiten der »Zauberkundigen« sind nach ihm allerdings eher nebensächlicher Art. Sie unterscheiden sich je nachdem, in welchem Kontext (sozial, kulturell und historisch) sich die Betreffenden gerade bewegen. Den Hauptgrund für die dem Ereignis folgenden Handlungen sieht Pareto hingegen in dem Gefühl des Publikums beziehungsweisein dessen Glauben, dass eine Beziehung zwischen den Toten und den Gegenständen, die sie zu Lebzeiten besaßen, besteht und dass auch Tote sich rächen können. Pareto kommt in diesem Sinne zu dem Schluss, dass allen Handlungen ein beständiger Kern zugrunde liegt, der aus einem Gefühlbeziehungsweise aus dem Glauben an spezifische Gewissheiten besteht. Hinzu kämen unbeständige Elemente der Deutung und deren Verknüpfung mit anderen Gegebenheiten des historischen, sozialen und kulturellen Kontextes. Letztere, deren Intention die Erklärung des vorhergehenden Glaubens sei, befriedigten das Bedürfnis der Menschen nach Vernunft und Logik beziehungsweise Pseudo-Logik (vgl. auch Bousquet 1926: 57). Für Pareto aber ist der beständige Kern zentral, da er laut ihm die größte Bedeutung für menschliches Handeln und für die gesellschaftliche Entwicklung hat (vgl. auch Carli 1925: 279). Diesen Kern bezeichnet Pareto als konstantes »Residuum« oder auch »Überbleibsel«, von dem alle weiteren Phänomene abgeleitet werden (Pareto 2006[1916]: 77). Als Inhalte der Residuen beschreibt er Äußerungen des Instinktes beziehungsweise psychologische Konstanten, die den Menschen daran hindern, rational zu handeln. Diese versucht er, weiter zu entschlüsseln. Er unterteilt sie in sechs Klassen: I. Klasse: Instinkt der Kombination: Dieser Instinkt treibt nach Pareto die Menschen dazu, gewisse Dinge mit gewissen Handlungen zu verknüpfen (ebenda: 81). Als Beispiel führt er unter anderem den Brauch der Menschen an, ihre Geburtstage zu feiern. Hier würden gewisse Gefühle und Handlungen mit bestimmten Tagen verbunden, ohne dass es einen logischen Grund dafür gäbe, gerade dieses Datum für die Aktion zu wäh-
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len. Pareto sieht übrigens in dieser Analogienbildung eine entscheidende Wurzel für die Entstehung der Wissenschaften. II. Klasse: Beharrlichkeit (Persistenz) der Aggregate: Dieses Residuum hat nach Pareto den Zweck, die oben genannten Kombinationen auf Dauer zu stellen (vgl. ebenda: 93ff.). Es ist insofern eine Ergänzung zur vorherigen Klasse. Die Beharrlichkeit sei zum Beispiel Grundlage für Familiengefühle, den Patriotismus, die Religion und so weiter (vgl. ebenda: 97). Allerdings kann sich die Beharrlichkeit auch als Gegensatz zur vorherigen Klasse entwickeln, wenn sie sich einer Neubildung von Kombinationen durch bestehende Kombinationen entgegenstellt. III. Klasse: Das Bedürfnis, Gefühle durch äußere Handlungen auszudrücken (vgl. ebenda: 109). Als Beispiel führt Pareto das Bedürfnis an, beim Betreten einer Kirche seine Ehrfurcht dadurch zu bezeugen, dass man seine Kopfbedeckung abnimmt. IV. Klasse: Residuen, die in Beziehung zum Geselligkeitsbedürfnis stehen: Diese Gefühle glaubt Pareto, besonders deutlich in religiösen, politischen und sozialen »Sekten« erkennen zu können (vgl. ebenda: 113). Hier verortet er auch den Trieb der Menschen zur Unter- oder Überordnung, zur Gleichförmigkeit und den Trieb nach Anerkennung durch die Gemeinschaft et cetera. V. Klasse: Integrität des Individuums und seiner Beziehungen: Darunter versteht Pareto das Bedürfnis nach »Sicherheit des Einzelnen und seiner Umgebung« (ebenda: 149). Insofern ist dieses Residuum mit jenem der II. Klasse verbunden. Es beinhaltet nach ihm den Drang der Menschen, ihr Ideal von Beziehungsmustern oder -ordnungen, das sie einmal entwickelt haben, aufrechtzuerhalten. Dieses Bedürfnis kann sich sowohl auf die gesamte Gesellschaft als auch auf das eigene soziale Netzwerk beziehen. VI. Klasse: Sexuelle Überbleibsel: Dieses Residuum bildet nach Pareto die wesentliche Wurzel einer Unmenge menschlicher Handlungen und Deutungen (vgl. ebenda: 176). Literarische Werke beispielsweise, in denen es nicht vorkommt, sind nach ihm äußerst selten.
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Die Tatsache, dass Pareto fortwährend die Residuen auch mit den Begriffen »Gefühle und »Instinkte« belegt, darf allerdings nicht dazu verleiten, seine Klassifikation als eine reine Instinkt- oder Trieblehre zu begreifen, wie es zum Beispiel Joseph A. Schumpeter (1951: 141) tut, wenn er Paretos Residuenlehre einfach als »alte Instinktpsychologie« bezeichnet. Vielmehr warnt Pareto ausdrücklich davor, seine Residuen mit den Instinkten der Menschen gleichzusetzen und sie als letzte autonome Antriebe sozialen und geschichtlichen Handelns zu betrachten (vgl. hierzu Eisermann 1961: 43). Für ihn sind Residuen weder Gefühle beziehungsweise Instinkte im psychologischen Sinne des Wortes noch fundamentale Antriebe des Menschen, die dessen Handeln motivieren. Sie sind vielmehr deren Manifestationen im sozialen Handeln (Pareto 2006[1916]: 77, § 870).
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Pareto erkennt grundsätzlich zwei Bedingungsgründe für menschliches Handeln an: Sowohl kulturell und historisch bedingte Faktoren der Situation als auch Gefühlslagen bestimmten das Handeln (vgl. auch Kiss 1977: 105). Insofern klammert er die historische Dimension ausdrücklich nicht aus, wie ihm dennoch häufig vorgeworfen wird (vgl. Eisermann 1987: 58). Er geht davon aus, dass Handlungen immer eine Manifestation verschiedenster Interdependenzen zwischen kontextuellen (historischen, kulturellen und sozialen) und gefühlsbezogenen Phänomenen sind. Dennoch rückt er den »subjektiven Gefühlskern« in den Mittelpunkt seiner soziologischen Überlegungen und vernachlässigt kulturelle und historische Gegebenheiten. Diese Vorgehensweise ist naheliegend, da er zum einen in den Gefühlslagen den entscheidenden Ursprung menschlichen Handelns sieht. Die kontextuellen Bedingungen erhalten nach Pareto allein in ihrer Verknüpfung mit den sogenannten »Derivationen« beziehungsweise den »pseudo-logischen Theorien« der Menschen Bedeutung und sind damit den Gefühlen nachgeordnet beziehungsweise »nebensächlich«, wie er es formuliert (Pareto 2006[1916]: 52). Darüber hinaus zeichnen sich für ihn die Gefühle und Instinkte der Menschen durch ihre Beständigkeit aus, während sich kulturelle Gegebenheiten fortwährend verändern. Insofern könnten auch nur über Erstere allgemeingültige Aussagen getroffen werden, was für ihn ein grundlegendes Anliegen an seine Theoriebildung ist.
3. Anfänge soziologischer Handlungstheorien und ihre Entwicklung
Diese Überlegungen kommen in Paretos Werk darin zum Ausdruck, dass konkrete kulturelle und historische Gegebenheiten mit ihrem Einfluss auf das individuelle Handeln insofern berücksichtigt werden, als sie beispielhaft herangezogen werden, um die »Derivationen« mit ihren kontextuellen Verknüpfungen als solche erkennbar zu machen und sie vom eigentlichen »Gefühlskern« zu trennen.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Grundlegend ist für Pareto die Auffassung, dass wissenschaftliche Erkenntnis immer »nur eine approximative Annäherung an einen relativen Wahrheitsgehalt« bedeuten kann (Kiss 1977: 110; vgl. auch Pareto 2006[1916]: 187). Als radikaler Positivist geht er davon aus, dass es eine reale Wirklichkeit gibt; andererseits ist er überzeugt, diese Wirklichkeit – er spricht hier von Tatsachen – nicht vollständig erkennen zu können. Er führt dies zum einen darauf zurück, dass die Wirklichkeit zu komplex ist, um (bislang) vollständig erfasst werden zu können. Zum anderen hält er die Sprache für ungeeignet, Erkenntnisse über die Wirklichkeit adäquat abbilden zu können (vgl. Pareto 1975[1906]: 167; oder auch Bousquet 1926: 25ff.). Insofern sind nach Pareto alle Erkenntnisse und logischen Erklärungen (bisher) nur annäherungsweise Abbilder der Wirklichkeit. Alle Forschungsergebnisse sind auf den Umfang der in dieser Zeit bekannten Erfahrungen begrenzt und daher relativ und zeitbedingt. Er fasst zusammen: »Die wissenschaftlichen Theorien sind einfache Hypothesen, die leben, solange sie mit den Tatsachen übereinstimmen, und sterben und verschwinden, wenn neue Forschungen diese Übereinstimmung zerstören. Dann werden sie durch andere ersetzt, denen dasselbe Schicksal bevorsteht« (Pareto 2006[1916]: 33, § 52).
Auf bauend auf diesen Grundannahmen entwickelt Pareto die Methode der logisch-erfahrungsmäßigen beziehungsweise der logisch-experimentellen Erkenntnisgewinnung (vgl. ebenda: 21ff.), die den Methoden der Naturwissenschaften stark ähnelt und auf seinen Ausbildungsweg zurückgeführt werden kann. Sein Werk stellt allerdings nicht etwa eine Anwendung der naturwissenschaftlichen Methoden in den Sozialwissen-
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schaften dar, worauf vor allem Eisermann immer wieder hinweist, sondern vielmehr »eine Anwendung der logisch-erfahrungs mäßigen Methode, die sich nützlich in den Naturwissenschaften und anderswo erwiesen hat, wenn komplexe Situationen, die vielerlei Variable in einem Zustand wechselseitiger Abhängigkeit umfassen, beschrieben werden sollen« (Eisermann 1961: 8f.).
Seine »Nähe« zu den naturwissenschaftlichen Methoden begründet Pareto so: »Durch die Erfahrung belehrt, wollen wir auch im Studium der Soziologie versuchen, die Mittel anzuwenden, die sich in dem der anderen [Natur-; Anm. der Verf.] Wissenschaften so nützlich erwiesen haben« (Pareto 2006[1916]: 23). Den Kern seines methodischen Ansinnens fasst er in folgendem Satz zusammen: »Ich beabsichtige lediglich Tatsachen zu beschreiben und daraus logische Folgerungen zu ziehen« (Pareto, zitiert nach Eisermann 1961: 8, Hervorh. der Verf.). Vor diesem Hintergrund betont er: »Demgemäß wollen wir in der Folge Erfahrung und Beobachtung als einzige Führer verwenden« (Pareto 2006[1916]: 25, § 6). Pareto bemüht sich und ist davon überzeugt, lediglich menschliche Handlungen, so wie sie sich tatsächlich in der konkreten Realität durch Erfahrung und Beobachtung feststellen lassen, zu studieren – und nicht abstrakte Akte. Erfahrung und Beobachtung sind dabei für ihn im weitesten Sinne synonyme Begriffe. Er definiert in seinen Präliminarien: »Abgekürzt werden wir die Erfahrung allein nennen, wo sie mit der Beobachtung nicht im Widerspruch steht« (ebenda). Darüber hinaus sind Erfahrungen bei ihm als direkte Erfahrungen oder »vermittels gesiebter, diskutierter und kritisierter Zeugnisse gesicherte Beobachtungen und Erfahrungen (§ 580) zu verstehen« (Pareto, zitiert nach Eisermann 1961: 8). Immer geht es bei ihm also um die Erfassung realer Tatsachen und ihrer Verläufe durch Beobachtung und Erfahrung. Die Tatsache, dass er nur die Handlungen von Individuen studieren will, besagt nicht, dass er die Zusammenfassung mehrerer Individuen einfach als ihre Summe ansieht. Vielmehr betont er in § 66 seines »Trattato di sociologia generale«: »Man beachte, dass die Erforschung der Individuen nicht bedeutet, eine Zusammenfassung mehrerer davon als einfache Summe zu betrachten; sie bilden
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eine Zusammensetzung, die wie chemische Zusammensetzungen Eigenschaften haben können, die nicht die Summe der Eigenschaften der Zusammengesetzten sind« (Pareto 2006[1916]: 34).
Pareto zielt mit seiner Erforschung des Individuums letztlich auf die Erfassung gesetzmäßiger Gleichförmigkeiten ab, die erst aus der Distanz der Betrachtung erfassbar werden und das erkenntnismäßige Abbild der interdependenten Gegebenheiten darstellen. Die daraus abgeleiteten wissenschaftlichen Gesetze sind für Pareto nichts anderes als logischerfahrungsmäßige Zusammenfassungen von Tatsachen. Sie dienen dazu, eine Erklärung für eine größtmögliche Anzahl von Tatsachen zu liefern. Ihre Benennungen oder Namensgebungen sind ihm dabei völlig gleichgültig, da sie für ihn bloße »Etiketten« ohne Wesensbezug sind (vgl. Pareto 1975: 168f.). Mit seiner »ausschließlich experimentellen« Methode (Pareto 2006[1916]: 25, § 6) wendet er sich strikt gegen die Mehrheit der anderen Soziologien, die seiner Meinung nach dogmatische Prinzipien zur Basis hätten, die sie zudem meist nicht explizit machten. Er toleriert ihre, wie er es nennt, metaphysischen Grundannahmen als eine andere Form der Erkenntnis, verlangt aber, dass ihre »Prinzipien und Schlüsse so klar wie möglich ausgesprochen werden« (ebenda: 24, § 6). Bleibt zum Schluss die Frage danach, ob Pareto selbst seine logischerfahrungsmäßige beziehungsweise logisch-experimentelle Methode konsequent verfolgt. Mongardini bemerkt hierzu: »Als Ingenieur, der vielfach dem positivistischen Geist verhaftet ist, kann Pareto nicht der Versuchung widerstehen, ein ›soziales System‹ darzustellen, wobei er verallgemeinernde und abstrahierende Linien zieht, die ihn zwangsläufig über jenes logisch-experimentelle Feld hinausführen, das er nicht verlassen wollte« (Mongardini 1976: 15).
Und Eisermann (1961: 64) gibt zu bedenken, dass Pareto die erkenntnistheoretischen Implikationen seines Vorgehens selbst nicht ganz verstanden hat. So scheine ihm beispielsweise der grundlegende Unterschied zwischen einem idealtypischen Modell und einem realistischen Abbild nicht klar zu sein (vgl. ebenda). Die aufgezeigten Schwächen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Paretos scharfsinniges Werk und seine Fülle an Anregun-
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gen und konkreten Einsichten ihm einen erstrangigen Platz in der Geschichte der Wissenschaftler sichern.
Lernkontrollfragen • • •
Gegen welche anderen Theorierichtungen wendet sich Pareto und wie begründet er seine Abgrenzung? Welcher »beständige Kern« liegt nach Pareto allem Handeln zugrunde und wie lässt er sich differenziert beschreiben? Welches methodische Vorgehen entwickelt Pareto vor welchem erkenntnistheoretischen Hintergrund?
Literatur Primärliteratur Pareto, Vilfredo (1975[1906]). Die Methode der Soziologie. In: ders., Ausgewählte Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Carlo Mongardini, Frankfurt a.M.: Ullstein, S. 163-175. Pareto, Vilfredo (1916). Trattato di sociologia generale. Torino: Unione Tipograf.-Ed. Torinese. Pareto, Vilfredo (1920). Fatti e teorie. Florenz: Vallechi. Pareto, Vilfredo (1921). Trasformazione della democrazia. Mailand: Corbaccio. Pareto, Vilfredo (2006[1916]). Allgemeine Soziologie. Ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Carl Brinkmann. München: FinanzBuch-Verlag.
Sekundärliteratur Albert, Gert (2005). Hermeneutischer Positivismus und dialektischer Essentialismus Vilfredo Paretos. Wiesbaden: VS. Bach, Maurizio (2004). Jenseits des rationalen Handelns. Zur Soziologie Vilfredo Paretos. Wiesbaden: VS. Bousquet, Georges-Henri (1926). Grundriß der Soziologie nach Vilfredo Pareto. Karlsruhe: Verlag G. Braun. Carli, Filippo (1925). Paretos soziologisches System und der Behaviorismus. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg. 4, S. 273-285. Eisermann, Gottfried (1961). Vilfredo Pareto als Nationalökonom und Soziologie. Tübingen: J. C. B. Mohr.
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Eisermann, Gottfried (1962). Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie. Stuttgart: Enke. Eisermann, Gottfried (1987). Vilfredo Pareto. Ein Klassiker der Soziologie. Tübingen: J. C. B. Mohr. Eisermann, Gottfried (1989). Max Weber und Vilfredo Pareto. Dialog und Konfrontation. Tübingen: J. C. B. Mohr. Gehlen, Arnold (1941). Vilfredo Pareto und seine »neue Wissenschaft«. In: Blätter für deutsche Philosophie, Jg. 15, S. 1-45. Kiss, Gabor (1977). Einführung in die soziologischen Theorien II. Opladen: Westdeutscher Verlag. Michels, Robert (1924). Elemente zur Soziologie in Italien. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg. 3, S. 219-249. Mongardini, Carlo (1976). Einleitung. In: Pareto, Vilfredo, Ausgewählte Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Carlo Mongardini, Frankfurt a.M.: Ullstein, S. 5-53. Salomon, Gottfried (1926). Einleitung des Herausgebers. In: Bousquet, Georges-Henri, Grundriß der Soziologie nach Vilfredo Pareto, Karlsruhe: Verlag G. Braun, S. 1-11. Schumpeter, Joseph A. (1951). Vilfredo Pareto. In: ders., Ten Great Economists, London: Routledge, S. 110-142.
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3.2 M A X W EBER : TYPEN SINNHAFTEN H ANDELNS Max Weber ist ohne Frage einer der wichtigsten Gründungsväter einer handlungstheoretisch orientierten Soziologie. Zwar lässt er sich keineswegs auf mikrosoziologische Analysen reduzieren (vgl. Käsler 2003: 7f.) – erinnert sei nur an seine religionssoziologischen Studien, vor allem an die eindeutig makrotheoretisch orientierten Thesen zur »protestantischen Ethik«. Aber in einem (unveröffentlichten) Brief von 1920 stellt er unmissverständlich fest: »Soziologie kann nur durch Ausgehen vom Handeln des […] Einzelnen […] betrieben werden« (Weber, zitiert nach Stammer 1965: 137), und ihre Leistung als Wissenschaft bestehe im Wesentlichen darin, soziales Handeln verstehend zu erklären. Gemessen an seinen sonstigen Arbeiten sind Webers Ausführungen zur Handlungstheorie gleichwohl sehr knapp und beschränken sich im Wesentlichen auf die Ausführungen zur »Allgemeinen Soziologie« in »Wirtschaft und Gesellschaft« (Weber 1922: 1ff.; vgl. auch Weber 1921: 503ff.). Dies ändert freilich nichts daran, dass seine Überlegungen zum Begriff und zu den unterschiedlichen »Typen« sozialen Handelns von bleibender Bedeutung geblieben sind und die aktuelle Diskussion bis heute prägen.
Zur Person Maximilian Carl Emil Weber wird am 21. April 1864 in Erfurt als erstes von acht Kindern des Juristen und späteren Reichstagsabgeordneten Max Weber und dessen Frau Helene geboren. Aufgewachsen in Erfurt und Berlin studiert er nach dem Abitur Jura, Nationalökonomie, Philosophie und Geschichte. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen 1886 erhält er die Zulassung als Rechtsanwalt, promoviert 1889 über ein Thema aus der Geschichte des Handelsrechts und wird drei Jahre später mit einer Arbeit über die Römische Agrargeschichte habilitiert. 1893 erfolgt der Ruf auf eine Professur für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg, 1896 wechselt er als Nachfolger von Karl Knies auf dessen Lehrstuhl nach Heidelberg; bereits 1903 gibt er diese Professur krankheitsbedingt auf. Dies hindert ihn freilich nicht, ein Jahr später mit Edgar Jaffé und Werner Sombart die Redaktion des »Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik« zu übernehmen. Obwohl er bei der Beurteilung polnischer Wanderarbeiter nationalistische Positionen vertritt, avanciert er in der Folgezeit zum Wortführer des
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»linken« Flügels des »Vereins für Socialpolitik« und gründet 1909 zusammen mit Rudolf Goldscheid, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Werner Sombart die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS). Neue akademische und politische Aktivitäten entwickelt Weber 1918. Er wird Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), übernimmt im Sommersemester 1918 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie in Wien und wechselt im März 1919 als Nachfolger von Lujo Brentano auf den Lehrstuhl für »Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie« in München. Aber schon am 14. Juni 1920 enden diese Aktivitäten ebenso plötzlich wie unerwartet: Weber stirbt an einer durch die »Spanische Grippe« ausgelösten Lungenentzündung. Er hinterlässt ein ebenso umfangreiches wie fragmentarisches Werk, das von seinen Zeitgenossen zunächst kaum als ein explizit »soziologisches« wahrgenommen wird. Seine vorläufige, kodifizierte Gestalt erhält Webers Werk in der Folgezeit vor allem durch seine Frau und Nachlassverwalterin Marianne Weber. Allerdings sind deren Bearbeitungen keineswegs unumstritten, und die Gesamtausgabe der Weberschen Schriften ist selbst mehr als 90 Jahre nach seinem Tod noch nicht abgeschlossen. Weber gilt als Begründer einer verstehenden Soziologie. Diese ist kulturwissenschaftlich akzentuiert, firmiert heute eher als interpretative Soziologie und grenzt sich von dem ab, was später als »behavioristische« Sozialwissenschaft etikettiert wird. Während die Anhänger des Behaviorismus sich auf das qua Beobachtung zugängliche äußere Verhalten konzentrieren und gesetzesmäßige Zusammenhänge mit naturwissenschaftlicher Objektivität zu entdecken hoffen, geht es verstehenden Ansätzen um eine Dechiffrierung des inneren Verhaltens, also um die – unter Umständen einmaligen – Deutungen und Situationsinterpretationen der Akteure selbst. Allerdings versucht Weber, den Gegensatz beider Konzepte – der zu seiner Zeit unter den Stichworten »nomothetische« und »ideographische« Wissenschaft verhandelt wird – zu überwinden. Im Unterschied zu Wilhelm Windelband (1848-1915), der 1894 eine scharfe Trennungslinie zwischen den verstehend vorgehenden, ideographischen »Ereigniswissenschaften« und den erklärend akzentuierten, nomothetischen »Gesetzeswissenschaften« zieht, konzeptualisiert er die Soziologie als eine Wissenschaft, der es um »verstehendes Erklären« geht, die also mit geisteswissenschaftlichen Mitteln durchaus auf die Aufdeckung gesetzesmäßiger Zusammenhänge abzielt.
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Eine ähnliche Ambivalenz kennzeichnet Webers handlungstheoretische Begründung der Soziologie. Auch wenn er immer wieder betont, dass Soziologie in letzter Instanz vom Handeln des Einzelnen ausgehen muss, so anerkennt er gleichwohl die Bedeutung von makrotheoretischen Phänomenen wie Institutionen oder religiösen Deutungssystemen. Dennoch geht es ihm vor allem um die Herausarbeitung der handlungstheoretischen und verstehenden Akzentuierungen. Diese wiederum lassen sich vor allem an zwei posthum zusammengestellten Werken aufzeigen, zwischen denen es durchaus Überschneidungen gibt: Stärker methodologisch orientiert sind die »gesammelten Aufsätze zur Wissenschaftslehre«, die 1922 von Marianne Weber herausgegeben werden. Im selben Jahr erscheint das ebenfalls von ihr editierte und weit berühmtere Werk über »Wirtschaft und Gesellschaft«, das letztlich als entscheidende Grundlegung und Zusammenfassung der Weberschen Soziologie gelesen werden kann.
Fragestellungen und Erkenntnisse Im § 1 von »Wirtschaft und Gesellschaft« definiert Weber die Soziologie als »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1922b: 1). Dieser Satz sagt über den Gegenstand der Soziologie ebenso viel aus wie über ihr Vorgehen. Der Gegenstand der Soziologie ist nach Weber das Handeln. Genauer noch geht es um das soziale Handeln, das vom »einfachen« Handeln und erst recht vom bloßen Verhalten zu unterscheiden ist. Als Verhalten bezeichnet Weber jegliche menschliche (und wohl auch tierische) Aktivität. Aber nicht jede beobachtbare menschliche Aktivität ist Handeln. Wenn jemand zum Beispiel stolpert und reflexhaft versucht, einen Sturz zu verhindern, so ist das sicherlich ein Verhalten, aber nicht unbedingt Handeln. Denn Handeln ist etwas anderes als instinktives Reagieren. Vielmehr wird Verhalten nach Weber nur in dem Maße zu Handeln, wie die Individuen mit ihrer Aktivität bewusst oder unbewusst Intentionen verfolgen und einen wie auch immer gearteten (subjektiven) Sinn verbinden. Und aus »einfachem« Handeln wird soziales Handeln nur in dem Maße, wie die Akteure mit Bezug aufeinander agieren. Diese Feststellung verweist zunächst darauf, dass Handeln nach Weber immer mit irgendwelchen Absichten und Interpretationen verbunden
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ist. Handeln ist stets sinnhaft und zugleich mit Intentionen versehen. Insofern die soziale Wirklichkeit eine konstitutiv sinnhafte ist, kommt ihr für Weber keineswegs die Objektivität der »äußeren« Natur zu. Während für die äußere Natur durchaus subjekt- und situationsunabhängige Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden können (»Naturgesetze«), gilt dies für die soziale Wirklichkeit nicht. Soziale Wirklichkeiten sind vielmehr bedeutungsabhängig, wobei die Bedeutungen mit naturwissenschaftlich feststellbaren Kausalitäten nicht viel zu tun haben müssen. So kann ein naturwissenschaftlich erklärbares Unwetter von den Betroffenen selbst völlig anders gedeutet werden – etwa als »Strafe der Götter«. Desgleichen kann ein und derselbe Gegenstand, wie etwa ein Messer, von den Beteiligten je nach Situationskontext ganz unterschiedlich interpretiert werden – etwa als Brotmesser, als Verteidigungsmöglichkeit oder als Mordwaffe. Diese Sinnzuschreibungen sind in dem Sinne subjektiv, als sie zunächst und vor allem für die Handelnden selbst wirklich sind. Aber sie gehen insofern über individuelle Wahrnehmungen hinaus, als sie im Kontext sozialen Handelns von anderen Handelnden als »wirklichkeitswirksam« anerkannt werden. Dass soziale Wirklichkeiten einen konstitutiven Sinnbezug haben und Bedeutungswirklichkeiten bezeichnen, ist auch in methodologischer Hinsicht folgenreich. Denn Sinnkonstruktionen sind nicht sichtbar und lassen sich kaum qua bloßer Beobachtung entschlüsseln. Sie müssen vielmehr verstanden werden. Wie Verstehen genau funktioniert, beschreibt Weber jenseits einiger Hinweise auf Karl Jaspers, Heinrich Rickert und Georg Simmel zwar nicht genauer. Aber in Anlehnung an die zeitgenössischen Differenzierungen von Windelband unterscheidet er zwischen verschiedenen Arten des Verstehens. Verstehen, so Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft«, »kann entweder: rationalen […] oder: einfühlend nacherlebenden […] Charakters sein. Rational […] ist […] vor allem das in seinem gemeinten Sinnzusammenhang restlos und durchsichtig intellektuell Verstandene. Einfühlend […] ist […] das in seinem erlebten Gefühlzusammenhang voll Nacherlebte« (Weber 1922b: 2).
Es gibt also zwei Arten des Verstehens: Auf der einen Seite steht das (affektive) Einfühlen und damit die Empathie, auf der anderen Seite die rationale Rekonstruktion, wobei die Empathie wichtig und erleichternd, aber nicht zwingend notwendig ist. Oder wie Weber es am Beispiel for-
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muliert: »Man braucht nicht Cäsar zu sein, um Cäsar zu verstehen« (Weber 1922a: 504). Genau deshalb ist für ihn der Aspekt des Nacherlebens letztlich weniger von Interesse als die rationale Rekonstruktion. Letztere spielt für Weber bereits im Alltag, beim sogenannten »aktuellen Verstehen«, eine entscheidende Rolle. Wie seine Unterscheidung zwischen dem Verstehen von Gedanken, Affekten und Handlungen deutlich macht, vollzieht sich das »aktuelle Verstehen« zwar keineswegs nach ein und demselben Muster. Aber nur das Verstehen der Affekte erfolgt nach Weber in der Regel »irrational«, nämlich durch emotional geprägtes Nacherleben. Beim Verstehen von Gedanken und Handlungen hingegen handelt es sich auch im Alltag um rationale Rekonstruktionen, die Empathie nicht notwendig voraussetzen und in dem Maße überzeugen, wie sie evident erscheinen. Allerdings geht Weber kaum darauf ein, wie Evidenz produziert wird (vgl. ebenda: 509f.) – mit diesem Problem und mit der Frage nach den Konstruktionsbedingungen »rationalen« Verstehens sollten sich erst einige Jahrzehnte später phänomenologische und interaktionistische Handlungstheoretiker wie etwa Alfred Schütz (1899-1959) befassen. Stattdessen gibt sich Weber mit dem Befund zufrieden, dass Verstehen keineswegs zwangsläufig ein »irrationales« Einfühlen und Nacherleben voraussetze. Verstehen ist für ihn vielmehr ein potenziell rationaler Prozess. Erst recht gilt die Rationalitätsunterstellung in seinen Augen für das wissenschaftliche »Motivationsverstehen«, das über das »aktuelle Verstehen« hinausgeht und auf eine Erklärung des beobachtbaren Handelns abzielt. Den Unterschied zwischen »aktuellem Verstehen« und »Motivationsverstehen« erläutert Weber unter anderem am Beispiel eines Holzhackers (vgl. Weber 1922b: 4). Dass es sich bei der Traktierung von Holz mit einer Axt um einen sinnhaften Vorgang handelt, realisiert bereits das »aktuelle Verstehen«, sofern es das beobachtbare Holzhacken nicht als einen unsinnigen oder wahnsinnigen Prozess klassifiziert. Im Unterschied zum aktuellen Verstehen stellt das (wissenschaftliche) Motivationsverstehen allerdings die weiterführende »Warum-Frage«, die selbst nur über eine Art »Verstehen zweiter Ordnung« beantwortbar ist: »Wir verstehen das Holzhacken […] nicht nur aktuell, sondern auch motivationsmäßig, wenn wir wissen, daß der Holzhacker entweder gegen Lohn oder aber für
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seinen Eigenbedarf […] (rational), oder etwa ›weil er sich eine Erregung abreagierte‹ (irrational) […] diese Handlung vollzieht« (ebenda).
Motivationsverstehen liegt also dann vor, wenn es gelingt, plausible Gründe für eine konkrete Handlung anzuführen und sie genau darüber zu »erklären«. Freilich laufen diese Deutungen keineswegs auf psychologische Erklärungen hinaus, und ungeachtet des Stichworts »Motivationsverstehen« geht es Weber auch nicht um individuelle Motive. Dies wird vor allem bei seiner Differenzierung des Handlungsbegriffs deutlich. So ist Soziologie für Weber nicht einfach die »Wissenschaft vom Handeln«, sondern es geht um die Erklärung des sozialen Handelns. Soziales Handeln wiederum »soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (ebenda: 1). Soziales Handeln setzt also immer die (tatsächliche oder imaginierte) Anwesenheit anderer voraus. Erläutern lässt sich die Differenz zwischen Handeln und sozialem Handeln am Beispiel eines fiktiven Radunfalls, bei dem zwei Fahrer in einsamem Gelände an einer nicht einsehbaren Kreuzung »zufällig« kollidieren. Vor dem Zusammenstoß handeln die beteiligten Akteure »für sich«; sie radeln, ohne jemanden zu erwarten, und sind nur mit sich beschäftigt. Durch den Zusammenstoß ändert sich dies grundlegend: Sie müssen, durchaus unerwartet, aufeinander Bezug nehmen. Genau hierdurch wird aus dem (psychologisch erklärbaren) »einfachen« Handeln ein »soziales Handeln«, und eben dieses »soziale Handeln« – das heute wohl eher als Interaktion bezeichnet werden würde – ist für Weber der zentrale Gegenstand der soziologischen Handlungstheorie.
Welche Rationalitätsannahme wird gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Als Theoretiker der »okzidentalen Rationalisierung« geht Weber davon aus, dass das soziale Handeln zumindest in modernen Gesellschaften zunehmend rationale Züge trägt. Aber ähnlich wie Pareto beschreibt er Handeln nicht von vornherein als rational, sondern unterscheidet zwischen verschiedenen »Handlungstypen«. Zwar hatten schon die Vorläu-
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fer soziologischer Handlungstheorie wie Hume oder Smith gesehen, dass Handeln individuell unterschiedlich motiviert und sozial verschieden gerahmt sein kann. Aber Hume und Smith interessieren sich letztlich weniger für diese Unterschiede, sondern suchen nach einem auf alle Handlungsfelder anwendbaren Modell. In diesem Zusammenhang entwickeln sie verschiedene Basisannahmen sozialen Handelns, die darauf hinauslaufen, dass Handeln ungeachtet aller kontextuellen Differenzen stets individuell intentional und am Eigeninteresse orientiert sei, wobei diese Merkmale am deutlichsten von Smith am Beispiel des ökonomischen Handelns illustriert werden. Diese Konzeptualisierung, die in Gestalt des Utilitarismus nach Jeremy Bentham weiterentwickelt – und in mancher Hinsicht auch verengt – worden ist, stellt Weber keineswegs infrage. Aber wie Pareto sieht er genau, dass ein erheblicher Teil alltäglicher Handlungsvollzüge mit dem von Hume und Smith angedeuteten und von den utilitaristischen Nachfolgern weiterentwickelten Modell nur unzureichend beschrieben werden kann. Was ist zum Beispiel mit dem ritualisierten Zähneputzen am frühen Morgen, das quasi automatisch durchgeführt wird und an das man sich, verschlafen wie man ist, hinterher vielleicht gar nicht mehr recht erinnert? Und wie soll man den sonntäglichen Kirchgang einordnen, der durchgeführt wird, weil man das »schon immer so gemacht« hat? Beispiele wie diese veranlassen Weber zu einem zumindest partiellen Wechsel des Blickwinkels. Zwar teilt er die in der Tradition von Hume und Smith entwickelten Rationalitätsunterstellungen für »Handeln« in modernen Gesellschaften. Aber er stellt zugleich fest, dass diese Rationalitätsunterstellungen nicht universell gültig sind und die Grundlagen der Handlungstheorie daher breiter gefasst werden müssen. Gegen Hume und Smith gewandt bedeutet dies vor allem, dass Handlungstheorie nicht mit einem einheitlichen Handlungsmodell operieren kann. Zwar geht auch Weber davon aus, dass Handeln insbesondere in modernen Gesellschaften individuell intentional und am Eigeninteresse orientiert zu begreifen sei. Gleichwohl ist ihm klar, dass die damit verknüpften Rationalitätsunterstellungen empirisch höchst fragwürdig sind. So ist der beglückte oder enttäuschte Liebhaber in seinen Handlungsentscheidungen ganz anders motiviert als der kühl kalkulierende Kaufmann. Der Liebhaber ist durch Gefühlsstürme und damit affektuell geprägt, der Kaufmann hingegen sieht von emotionalen Bindungen ab und konzentriert sich allein auf den Erfolg (der paradigmatisch als ökono-
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mischer Erfolg verstanden wird). Jenseits dessen gibt es aber auch Akteure, die in ihren Handlungsentscheidungen weder affektuell noch rational geprägt sind. Ihre Handlungsentscheidungen orientieren sich vielmehr an vorhandenen Traditionen und Normalitätsdefinitionen; sie handeln nach dem Motto: »Das haben wir schon immer so gemacht«, wobei es für sie keinen Anlass gibt, daran zu zweifeln. Angesichts solcher Beobachtungen ist für Weber klar, dass es kein einheitliches Handlungsmodell geben kann. Denn das menschliche Handeln kann durch rationale Überlegungen ebenso geprägt sein wie durch Affekte oder überlieferte Werte. Genau deshalb unterscheidet er weiterführend zwischen verschiedenen »Handlungstypen«, die er im § 2 von »Wirtschaft und Gesellschaft« ebenso knapp wie apodiktisch und kompliziert einführt: »Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder als ›Mittel‹ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, — 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den — ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden — unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, — 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, — 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit« (Weber 1922b: 12, Hervorh. weggel.).
Es gibt also für Weber vier idealtypische Handlungsmuster: das zweckrationale, das wertrationale, das traditionale und das affektuelle. Auffallend ist nicht nur die Reihenfolge, sondern auch die unterschiedliche Ausführlichkeit der Erläuterung der verschiedenen Handlungstypen. Zwar geht Weber sehr wohl davon aus, dass das Alltagshandeln in weiten Bereichen durch eingelebte Normen oder durch Gefühle bestimmt ist. Und gegen Klassiker wie Hume und Smith gewandt (und in Übereinstimmung mit Pareto) ist er davon überzeugt, dass soziales Handeln häufig in dem Sinne nicht-rational ist, als die empirisch beobachtbaren Handlungen vielfach traditionell oder affektuell geprägt sind. Gleichwohl geht Weber in seinen Erläuterungen auf das rationale Handeln weit ausführlicher ein und stellt sogar infrage, ob traditionales und affektuelles Handeln überhaupt im engeren Sinne als »Handeln« zu qualifizieren sei. Denn streng traditionales Verhalten, das sich durch eine gleichsam »bewusstlose« Orientierung
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an tradierten Normen auszeichnet, »ist sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize« (ebenda: 12), und das affektuelle Verhalten vom Liebesrausch bis zum Wutausbruch »steht ebenso an der Grenze und oft jenseits dessen, was bewußt ›sinnhaft‹ orientiert ist« (ebenda). Sofern er die sinnhafte Orientierung zum ersten Charakteristikum des Handelns macht, erweist sich Weber als Anhänger eines reflexiven Handlungskonzepts. Zwar verfügt er über ein sehr breites Handlungsverständnis insofern, als er alle möglichen Aktivitäten zum Handeln rechnet – »einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden« (ebenda: 1). Aber egal, was die Akteure machen oder unterlassen – entscheidend ist die Sinnorientierung, das heißt, sie müssen über eine eigenständige Deutung ihrer Situation verfügen; sie müssen wissen, was sie machen und ihre Aktivitäten begründen können. In dem Maße, wie sie hierzu in der Lage sind, kann ihr Handeln als »rational« klassifiziert werden. Genauer noch bestimmt Weber das rationale Handeln als eine ZweckMittel-orientierte Aktivität. »Rational« ist ein Handeln unter dieser Perspektive, wenn vorhandene Mittel so gehandhabt werden, dass es gelingt, ein bestimmtes Ziel optimal zu erreichen. Allerdings differenziert Weber die Zweck-Mittel-Rationalität: Auf der einen Seite gibt es für ihn die am Erfolg orientierte Zweckrationalität (die selbst noch weitergehend differenziert wird), auf der anderen Seite die durch Werte geprägte Wertrationalität. Wie aber ist der Unterschied von Wert- und Zweckrationalität genauer zu bestimmen? Gemeinsam ist ihnen, dass das jeweilige Handeln nicht durch den Verweis auf Traditionen oder Gefühle erklärt werden kann. Beide Varianten sind vielmehr insofern rational, als sich die Handelnden an einer spezifischen »Kalkulationslogik« orientieren. Sie können Zwecke und Mittel miteinander in Beziehung setzen und gegeneinander abwägen. Gleichwohl gibt es Differenzen zwischen Zweck- und Wertrationalität. Diese lassen sich am ehesten am Beispiel des Märtyrers oder des Selbstmordattentäters erläutern. Im Unterschied zum kühl kalkulierenden Kaufmann, der Unsicherheiten eingeht, aber sein Leben nicht aufs Spiel setzt, ist dem Selbstmordattentäter sein eigenes Leben egal. Er orientiert sich an für ihn übergeordneten Werten, die für den zweckrationalen Kaufmann in dieser Form keine Rolle spielen. Zwar treffen sich beide in dem Bemühen, vorhandene Mittel für unterstellte Zwecke optimal zu or-
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ganisieren. Aber das Wertegerüst des Kaufmanns orientiert sich nicht an absolut gesetzten, sondern an in der Regel ökonomisch begründeten beziehungsweise relativierten Werten, die sein Handeln leiten und begrenzen. Für den Selbstmordattentäter hingegen ist nicht die Marktlogik ausschlaggebend, sondern die Durchsetzung der von ihm verfolgten Werte.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? In einem Brief an Robert Liefmann schreibt Weber wenige Monate vor seinem Tod: »Wenn ich jetzt nun einmal Soziologe geworden bin (laut meiner Anstellungsurkunde), so wesentlich deshalb, um dem immer noch spukenden Betrieb, der mit Kollektivbegriffen arbeitet, ein Ende zu machen« (Weber, zitiert nach Mommsen 1974: 256). Diese Formulierung macht deutlich, dass Weber Makrokategorien eher skeptisch gegenübersteht. Zwar räumt er die handlungsrahmende (und vielleicht sogar prägende) Bedeutung von Makrofaktoren wie Institutionen oder religiösen Deutungsmustern sehr wohl ein. Und er spricht auch davon, dass subjektive Sinnkonstruktionen durch entsprechende Zustimmung objektiviert und zu objektiven Sinnstrukturen werden können. Aber sein Versuch einer handlungstheoretischen Begründung der Soziologie setzt zumindest in konstitutionstheoretischer Hinsicht immer wieder beim Einzelhandeln an und damit bei den subjektiven Sinnkonstruktionen. Dies gilt vor allem für die verschiedenen Formen und Abstufungen des rationalen Handelns, das auf bewussten Willensentscheidungen und Kalkulationen der Akteure beruht. Zwar sind auch diese Kalkulationen in der Regel kulturell gerahmt. Aber sie lassen sich aus den jeweiligen kulturellen Rahmungen nur unzureichend erklären. Demgegenüber können traditionales und affektuelles Handeln weit weniger aus sich selbst heraus verstanden werden. So basiert das traditionale Handeln auf einer mehr oder weniger unreflektierten Übernahme bestimmter Werte, die ihrerseits schichtspezifisch bedingt oder durch andere kontextuelle Bedingungen geprägt sein können. Das affektuelle Handeln wiederum ist durch Triebimpulse bestimmt, gegen die sich die Akteure nur begrenzt sperren können; und sofern sie von ihren Gefühlen überfallen oder überwältigt werden, können ihre Handlungen auch nicht mehr auf autonome Entscheidungen zurückgeführt werden.
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Aber auch das rationale Handeln ist nicht immer nur aus sich heraus verständlich. Insofern Weber an den subjektiven Sinnkonstruktionen ansetzt, richtet er sein Augenmerk im ersten Schritt zwar stets auf die Binnenrationalität von Entscheidungsprozessen – und letztlich versucht er grundsätzlich, konkrete Handlungsentscheidungen über die subjektiven Sinnkonstruktionen zu »erklären«. Aber im zweiten Schritt fragt er zugleich nach der möglichen sozialen Bedingtheit von individuellen Sinnkonstruktionen und zielt darauf ab, diese mit Makrovariablen in Beziehung zu setzen. Wie dies genau geschieht, hat rund ein halbes Jahrhundert später James S. Coleman am Beispiel der Weberschen Protestantismusthese erläutert (vgl. Coleman 1991: 10ff.). So behauptet Weber, dass protestantische Werte die Entstehung des Kapitalismus begünstigt haben. Konkret zeigen kann er dies dadurch, dass er bestimmte subjektive Sinnkonstruktionen und Handlungsentscheidungen von Kaufleuten wie den Fuggern oder Welsern auf einen protestantischen Werterahmen und auf die Idee der rationalen Lebensführung bezieht. Zwar sind die subjektiven Sinnkonstruktionen hierdurch nicht erklärbar, aber sie passen zu dieser Rahmung und wären ohne diese wahrscheinlich so nicht zustande gekommen. Dies bedeutet nicht, dass zwischen den Makrovariablen und den konkreten Handlungsentscheidungen eine Kausalitätsbeziehung besteht. Denn erklärungsentscheidend sind für Weber allein die subjektiven Sinndeutungen. Ungeachtet dessen setzen die Makrovariablen in Gestalt von Institutionen oder Deutungsmustern strukturierende Randbedingungen, an denen sich die subjektiven Sinndeutungen ausrichten und orientieren. Letztlich bleibt Weber in diesem Punkt jedoch uneindeutig: Solange er sein Handlungskonzept, wie in »Wirtschaft und Gesellschaft«, systematisch entwickelt, legt er den Akzent eindeutig auf subjektive Sinnkonstruktionen und die Idee eines autonomen (rationalen) Handelns. Allerdings weist er ebenso nachdrücklich darauf hin, dass es dieses autonome Handeln unter empirischen Gesichtspunkten nur begrenzt gibt. Hier trifft er sich mit Pareto; und in seinen historisch wie makrosoziologisch akzentuierten Analysen stellt Weber ungeachtet seiner Aversion gegenüber den »Kollektivbegriffen« auch immer wieder Beziehungen zwischen Mikro- und Makroebene her, die freilich nie im Sinne einer Kausalität, sondern eher im Sinne einer Korrelation, einer strukturellen Parallelität oder einer »Wahlverwandtschaft« gedacht werden.
3. Anfänge soziologischer Handlungstheorien und ihre Entwicklung
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Weber gilt nicht nur als Verfechter einer handlungstheoretisch orientierten, sondern auch als Begründer einer verstehenden Soziologie. Beide Aspekte hängen eng zusammen. So ergibt sich sein Votum für eine verstehende Soziologie nicht zuletzt aus seinem Handlungskonzept. Handeln, schreibt Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft«, soll »ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden« (Weber 1922b: 1). Ein solches Handeln lässt sich nicht, wie seitens des Behaviorismus postuliert, durch bloße Beobachtung entschlüsseln. Denn es geht nicht um »äußeres«, sondern immer auch um »innerliches« Tun, nämlich um subjektive Sinnkonstruktionen, die nicht beobachtet, sondern nur verstanden werden können. Wie bereits angedeutet, bedeutet Verstehen in diesem Zusammenhang im Wesentlichen die rationale Rekonstruktion und Einordnung subjektiver Sinnkonstruktionen, die es zugleich hinsichtlich ihrer sozialen Bezüge einzuordnen gilt. Aber dies ist nur ein Aspekt des methodischen Vorgehens. Der zweite besteht im Prinzip der (Ideal-)Typisierung, das für Weber grundlegend ist und auch seine Unterscheidung der verschiedenen Handlungstypen prägt. Typisierung bedeutet, dass die Vielfalt des empirisch Beobachtbaren vereinfacht wird und bestimmte, strukturell entscheidende Momente in den Vordergrund gestellt werden. Weber spricht hier von »reinen Typen«, die er theoretisch herausarbeitet und die es in der Empirie so kaum gibt. Die von ihm unterschiedenen vier Handlungstypen charakterisiert er dementsprechend als »Idealtypen«, die sich dadurch auszeichnen, dass ein bestimmter dominanter Aspekt hervorgehoben und absolut gesetzt wird. Allerdings ist diese Hervorhebung für Weber in empirischer Hinsicht durchaus fragwürdig. Denn empirisch lassen sich allenfalls Mischformen oder »Realtypen« entdecken – und für die empirische Analyse hat die Unterscheidung der verschiedenen Handlungstypen für Weber daher auch nur eine orientierende und anleitende Funktion. Sie kann dazu beitragen, die Vielfalt der Empirie zu ordnen und Differenzierungen einzuführen. Aber dies ersetzt nicht die konkrete Beschreibung, und diese darf nicht nur an der Idee des rationalen Han-
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delns orientiert sein, sondern muss ebenso die Muster des traditionalen und des affektuellen Handelns in Rechnung stellen.
Lernkontrollfragen • • •
Ist das morgendliche Zähneputzen nach Weber eher Handeln oder eher Verhalten? Wie unterscheiden sich zweck- und wertrationale Handlungsmuster? Wie ist das Verhältnis zwischen den »Idealtypen« des Handelns und den empirisch beobachtbaren Handlungsverläufen einzuschätzen?
Literatur Primärliteratur Weber, Max (1922a). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Weber, Max (1922b). Wirtschaft und Gesellschaft (= Grundriß der Sozialökonomik, 3. Abteilung). Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). »Max Weber im Kontext« – Professional Edition 2002, Reihentitel: »Literatur im Kontext auf CD-ROM – Vol. 7«. Berlin: InfoSoftware.
Sekundärliteratur Allerbeck, Klaus R. (1982). Zur formalen Struktur einiger Kategorien der verstehenden Soziologie. In: KZfSS 34, S. 665-676. Kaesler, Dirk (2003). Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a.M./New York: Campus. Kalberg, Stephen (2001). Einführung in die historisch-vergleichende Soziologie Max Webers. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Norkus, Zenonas (2001). Max Weber und Rational Choice. Marburg: Metropolis. Parsons, Talcott (1947). Weber’s »Economic Sociology«. In: Weber, Max, The Theory of Social and Economic Organization, übersetzt von A. M. Henderson und Talcott Parsons, herausgegeben und mit einer Einleitung von Talcott Parsons, New York: Oxford University Press, S. 30-56. Radkau, Joachim (2005). Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München: Carl Hanser Verlag.
3. Anfänge soziologischer Handlungstheorien und ihre Entwicklung
Sprondel, Walter M./Seyfarth, Constans (Hg.), Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, Stuttgart: Enke. Weiß, Johannes (1975). Max Webers Grundlegung der Soziologie. München: Verlag Dokumentation/UTB.
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4. Modellierungen des Handelns
Mit den Theoriebeiträgen von Weber und Pareto ist der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die soziologische Handlungstheorie sich bemüht, die rationalen wie nicht-rationalen beziehungsweise die individuellen wie die sozialen Bedingungen zu klären, die das Handeln der Akteure beeinflussen und kanalisieren. Die dadurch angeregten Überlegungen erfahren in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Systematisierung durch zwei Autoren, die den weiteren Diskussionsgang nachhaltig geprägt haben. So hat sich zum einen Talcott Parsons (1902-1979) um eine zusammenfassende Darstellung der Theorie des Handelns bemüht, die dessen »voluntaristischen« Charakter betont. Damit ist die Tatsache gemeint, dass die Akteure (im Prinzip) jedes mögliche Ziel verfolgen können; in allen Fällen aber sind sie darauf angewiesen, die Spannungen zu meiden, die dadurch entstehen können, dass sich ihre Zielsetzungen als unverträglich erweisen beziehungsweise die von ihnen gewählten Handlungswege zu Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen führen. Die Parsons’sche Theoriemodellierung greift zur Lösung der damit angeschnittenen Probleme auf die für das soziologische Theorieverständnis zentrale Idee zurück, dass Akteure nur dann zu »geordneten« Verhältnissen oder Beziehungsformen gelangen können, wenn sie lernen und in der Folge bereit sind, ihr Handeln an gemeinsamen Normen und Werten auszurichten. Die darauf ausgerichtete »Sozialisation« der Akteure, das heißt die Vermittlung und Einübung des jeweils ordnungsstiftenden Werte- und Normenbestands, aber auch die Verfolgung und Bestrafung ordnungsgefährdenden Handelns, schienen ihm dazu die wichtigsten sozialen Mechanismen darzustellen.
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Handlungstheorie
George C. Homans (1910-1989) gilt als der große Gegner des Parsons’schen Theorieentwurfs – schließt jedoch an dessen Systematisierung der Handlungstheorie letztlich reibungslos an. Allerdings setzt seine Theoriemodellierung einen anderen Akzent, insofern Homans weniger an der normativen Steuerung potenziell konfliktträchtigen sozialen Handelns interessiert ist. Ihm geht es vielmehr darum, wie sich die Handelnden an ihre Mitakteure dadurch anpassen – und dadurch zu stabilen sozialen Verhältnissen gelangen –, dass sie ihr jeweiliges Handeln daran ausrichten, ob sie durch das Handeln ihrer Mitakteure belohnt oder bestraft werden beziehungsweise in welchem Umfang sie Vor- oder Nachteile zu erwarten haben. Dabei ist ihr Bestreben handlungsleitend, Bestrafungen zu meiden respektive Belohnungen zu steigern, weshalb Homans soziale Beziehungsverhältnisse dahingehend systematisiert und untersucht, wie sie sich auf die Bestrafungs- und Belohnungsbilanzen der in ihnen engagierten Akteure auswirken. Die Betonung dieses Belohnungs- beziehungsweise Benachteiligungsaspekts widerspricht den Parsonsschen Überlegungen zu keiner Zeit, weshalb man Homans wie Parsons als Baumeister betrachten kann, die beide darauf bedacht waren, dasselbe Theoriengebäude auszugestalten und wohnlich einzurichten.
4.1 T ALCOT T P ARSONS : H ANDELN IM K ONTEXT Zur Person Talcott Parsons wird am 13. Dezember 1902 in Colorado Springs (Colorado) als Sohn eines protestantischen Geistlichen und Collegeprofessors sowie einer Frauenrechtlerin geboren (vgl. Parsons 2004). Er studiert ab 1920 zunächst Biologie, um Arzt zu werden, wechselt aber 1921 zur Nationalökonomie, in der er 1924 einen Abschluss als Bachelor of Arts erwirbt. Danach geht er zum Auslandsstudium an die London School of Economics (1924/25) sowie nach Heidelberg (1925/26). Parsons kommt in Kontakt mit Bronislaw Malinowski und Alfred Weber und beschäftigt sich mit europäischen Klassikern wie Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Émile Durkheim und Max Weber. Als Resultat seines Europaaufenthalts entsteht die von Edgar Salin in Heidelberg betreute Dissertation über »Capitalism in Recent German Literature: Sombart and Weber« (Parsons 1928/29). Zurückgekehrt in die USA setzt Parsons seine Klassikerstudien
4. Modellierungen des Handelns
fort; er übersetzt Webers »Protestantische Ethik« (Parsons 1930) und ist später an der Übersetzung von »Wirtschaft und Gesellschaft« beteiligt (Parsons 1947). Er wird Mitglied der Harvard University in Cambridge (Massachusetts), anfänglich als »Instructor in Economics«, ab 1931 als »Instructor in Sociology« und von 1944 bis 1973 als »Full Professor in Sociology«. Als Dekan des Departments of Sociology (1944-1956) baut er die Fakultät zu einem interdisziplinär orientierten Department of Social Relations aus und profiliert sich durch diverse Publikationen, die zunächst handlungstheoretisch und später stärker gesellschafts- und evolutionstheoretisch akzentuiert sind (Parsons 1937; 1951; 1966; 1971; 1977). Seine Wahl zum 39. Präsidenten der American Sociological Association im Jahre 1949 macht seine disziplininterne Wertschätzung deutlich, die ihn in den 1950er Jahren als Begründer der strukturell-funktionalen Analyse zum einflussreichsten Soziologen der USA werden lässt. Parsons stirbt während eines Deutschlandbesuchs anlässlich der Erneuerung seiner Heidelberger Promotionsurkunde am 8. Mai 1979 nach einem Vortrag in München.
Fragestellungen und Erkenntnisse Parsons ist ein sehr breit orientierter Soziologe. Er interessiert sich sowohl für allgemeine Theoriefragen und die Frage der Reichweite der »general theory« (vgl. Parsons 1950) als auch für spezielle Soziologien, wobei hier bildungs- und medizinsoziologische Fragestellungen im Vordergrund stehen. Aber seine Analysen zu speziellen soziologischen Problemstellungen avancieren nie zu Klassikern oder Standardwerken. Auch das Urteil über seine allgemeinen soziologischen Arbeiten ist letztlich gespalten. Zwar ist unbestritten, dass sein Werk verschiedene Phasen durchläuft und in diesem Zusammenhang unterschiedliche eigenständige Werke entstehen. Aber von seinen 14 Büchern gilt Parsons’ 1937 veröffentlichte erste Monografie mit dem Titel »The Structure of Social Action« nach wie vor als sein Grundlagen- und Hauptwerk. Allerdings wird diese Arbeit zunächst kaum rezipiert (vgl. Gerhardt 2002: 1ff.) und tritt später gegenüber den systemtheoretischen Fassungen seiner Handlungstheorie (Parsons 1951; Parsons/Shils 1951; Parsons 1977) eher in den Hintergrund. Dies insofern zu Unrecht, als in »The Structure of Social Action« bereits die entscheidenden Abgrenzungen und Weiterentwicklungen gegenüber den vorangegangenen Handlungstheorien sichtbar werden. In der über
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800-seitigen Abhandlung, die 1968 mit einem neuen Vorwort in zweiter Auflage erscheint, fasst Parsons seine langjährige Auseinandersetzung mit den Konzeptionen von Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Émile Durkheim und Max Weber zusammen und bekennt sich zu einer handlungstheoretischen Grundlegung der Soziologie. Allerdings bezieht sich seine Auseinandersetzung mit den europäischen Klassikern keineswegs nur auf deren handlungstheoretische Überlegungen. Vielmehr arbeitet Parsons die ökonomischen und soziologischen Grundlagen der von ihm behandelten Autoren heraus und stellt sie zugleich in einen spezifischen Bezugsrahmen. Denn sein Hauptinteresse richtetet sich von Anfang an auf das berühmte »Hobbesian Problem of Order« (vgl. Parsons 1937: 89ff.), nämlich auf die Frage, wie gesellschaftliche Ordnung überhaupt möglich ist. Heruntergebrochen auf die Ebene der Handlungstheorie bedeutet dies die Frage danach, wie die Ordnung der Handlung – »the unit of action systems« (ebenda: 43) – aussieht, das heißt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Handlungsakt überhaupt erfolgreich gelingen kann. In »The Structure of Social Action« beantwortet Parsons diese Frage unter Bezug auf die (europäischen) Klassiker, aber zugleich in systematischer Absicht. Er diskutiert Marshall (ebenda: 129ff.) sowie – weit umfangreicher – Pareto (ebenda: 178ff.), Durkheim (ebenda: 304ff.) und Weber (ebenda: 500ff.). Diese ordnet er unterschiedlichen Traditionslinien zu, nämlich der »positivistischen« und der »idealistischen«, die für Parsons auf gegensätzliche Antworten auf das Ordnungsproblem verweisen. Während die einen im Anschluss an den Utilitarismus davon ausgehen, dass sich soziale Ordnung gleichsam von selbst herstellt, nehmen die anderen an, dass Ordnung – und damit ein problemloses Funktionieren des alltäglichen Handelns – nur dann gelingen kann, wenn es eine übergeordnete Instanz wie den »Leviathan« (Hobbes) gibt, der die Ordnung erzwingt. Für Parsons sind letztlich beide Antworten defizitär. Die Ordnung des Handelns, so seine These, ergibt sich weder von selbst noch durch das Wirken übergeordneter Instanzen. Stattdessen müsse man bei den Akteuren von einer willentlichen Zustimmung zur Ordnung ausgehen, die ihrerseits durch die Internalisierung von Normen und Werten im Zuge der Sozialisation erzeugt wird. Genau dies ist der Kerngedanke seiner »voluntaristischen« Handlungstheorie, deren Basisannahmen er in seiner »Summary Outline of the Structure of Action« (ebenda: 689) freilich eher andeutet als ausformuliert.
4. Modellierungen des Handelns
Allerdings taucht in den Abschlussbemerkungen zur »Structure of Social Action« bereits ein Konzept auf, das in den späteren Werken weiter ausgebaut wird und wichtige Abgrenzungen zu den vorangehenden Theoretikern markiert. Gemeint ist das Stichwort des »Action Frame of Reference« (ebenda: 731), das gemeinhin mit »Handlungsbezugsrahmen« übersetzt wird. Dass Parsons den »Handlungsbezugsrahmen« als ein Unterkapitel der »Tentative Methodological Implications« (ebenda: 727) entfaltet, verdeutlicht bereits die mit diesem Konzept verknüpfte Fragestellung: Das Konzept des Handlungsbezugsrahmen bildet für ihn die Antwort auf die Frage, welche Analysedimensionen methodologisch berücksichtigt werden müssen, um eine soziologische Handlungstheorie zu entwickeln. Für die Klassiker der Handlungstheorie standen im Wesentlichen zwei Dimensionen im Vordergrund: Handeln, so die implizite Unterstellung von Hume bis Weber, lässt sich am ehesten dann begreifen, wenn man es aus der Perspektive der Handlungssubjekte als eine intentionale Angelegenheit beschreibt, die über die Dimensionen Zwecke (»ends«) und Mittel (»means«) erfasst werden kann. Die Handelnden verfolgen bestimmte Ziele, zu deren Realisierung sie bestimmte Mittel einsetzen, und man muss genau diese beiden Dimensionen berücksichtigen, um Handeln zureichend zu erklären. Für Parsons hingegen ist dieses Modell verkürzend. Denn wie Ziele formuliert und Mittel eingesetzt werden, ist selbst noch abhängig von den Bedingungen der Situation (»conditions«). So kann ich das Ziel haben, mir Essen zu beschaffen und dafür das Mittel »Geld« einzusetzen. Aber wie ich mit diesem Mittel umgehe und was ich letztlich einkaufe, dürfte unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob ich mich in einer Umgebung mit vielen Geschäften, einem differenzierten Warenangebot und niedrigen Preisen befinde oder in einer Situation, in der es kaum Geschäfte und nur ein geringes Warenangebot gibt. Außerdem sind zusätzliche Situationsvariablen zu berücksichtigen. So handeln die Akteure grundsätzlich nicht allein, sondern in einem Interaktionskontext, der seinerseits höchst unterschiedlich sein kann. Auf Wochenmärkten beispielsweise geht es anders zu als in Supermärkten, und entsprechend den unterschiedlichen Situationsvariablen werden Ziele und Mittel unterschiedlich relationiert. Neben »ends«, »means« und »conditions« gibt es für Parsons bei der Handlungsanalyse eine weitere zu berücksichtigende Dimension. Zwar geht er in Anlehnung an die Klassiker von Hume bis Weber davon aus, dass Handeln grundsätzlich intentional ist und die Akteure stets ver-
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Handlungstheorie
suchen, Zwecke und Mittel optimal zu relationieren. Aber wie dies geschieht, hängt neben den Bedingungen der Situation vor allem von den normativen Orientierungen der Akteure ab. Diese Feststellung formuliert Parsons in expliziter Abgrenzung von »utilitaristischen« beziehungsweise »ökonomischen« Handlungskonzepten. Gehen Letztere davon aus, dass Handeln immer im Kontext individueller Nutzenmaximierung und Schadensvermeidung beschrieben werden kann, so wendet Parsons ein, dass die Wahrnehmung von Nutzen und Schaden je nach den normativen Orientierungen der Akteure unterschiedlich ausfallen kann. So orientieren sich Unternehmer in der Regel an der Maxime der Gewinnmaximierung; ein Pfarrer hingegen trifft seine Handlungsentscheidungen nicht in erster Linie danach, ob sich etwas »rechnet«, sondern ob es ethisch akzeptabel ist oder nicht. Die Berücksichtigung dieses Unterschieds bezeichnet für Parsons auch die entscheidende Differenz zwischen »ökonomischen« und »soziologischen« Handlungstheorien: Während die »ökonomischen« Konzepte, wie sie in Anschluss an die Überlegungen der »Schottischen Moralphilosophie« (Hume, Smith) entwickelt worden sind, Handeln aus der Perspektive der Einzelakteure mit einem generalisierten Modell individueller Nutzenmaximierung zu erklären versuchen, betont Parsons, dass es ein einheitliches Handlungskonzept zwar in formaler Hinsicht, aber kaum unter inhaltlichen Gesichtspunkten geben kann. Denn wie Zwecksetzung und Mitteleinsatz funktionieren, hängt in letzter Instanz von den normativen Orientierungen ab, wie sie in der jeweiligen Gesellschaft institutionell verankert und von den Individuen im Sozialisationsprozess internalisiert werden. Internalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die ursprünglich von außen gesetzten Werte und Normen nicht als fremdbestimmt, sondern als selbstbestimmt und damit als Resultat des eigenen Willens wahrgenommen werden (und genau deshalb etikettiert Parsons seine Konzeption auch als »voluntaristisch«). Eine soziologische Handlungstheorie, so sein Fazit, muss sich von der Fixierung auf die Dimensionen »Ziele« (»ends«) und »Mittel« (»means«) lösen und zwei weitere Dimensionen in den Blick nehmen, nämlich die Bedingungen der Situation (»conditions«) und die normativen Orientierungen der Beteiligten (»norms«). Dieses Plädoyer für eine Differenzierung der theoretischen Perspektiven ist auch für die Entwicklung eines weiteren Theoriebausteins leitend, nämlich für das Konzept der »Pattern Variables«, das Parsons be-
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reits in »The Structure of Social Action« andeutet (ebenda: 686ff.), aber erst in der mit Edward Shils verfassten Abhandlung »Toward a General Theory of Action« (Parsons/Shils 1951: 53ff.) ausformuliert. Das Konzept der »Pattern Variables« knüpft an die Begriffsdifferenzierungen von Ferdinand Tönnies an. In seinem Werk über »Gemeinschaft und Gesellschaft« (Tönnies 1887) hatte Tönnies verschiedene »Unterscheidungen in Bezug auf die Mitmenschen« (Tönnies 1982[1931]: 27) entwickelt, die in jeder Handlungssituation zur Geltung kommen und die Beziehung zum Gegenüber prägen. Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, müssen sie in Sekundenbruchteilen entscheiden, ob sie den anderen als bekannt oder fremd, als sympathisch oder antipathisch sowie als vertraut oder unvertraut einstufen; und je nachdem, wie die Einstufung ausfällt, ergeben sich unterschiedliche Beziehungstypen und Handlungsmuster. Parsons erweitert diese Überlegung und benennt fünf Dimensionen, in denen die Handelnden in jeder Interaktionssituation Entscheidungen treffen müssen. Zum einen muss geklärt werden, ob man dem Gegenüber emotional oder affektiv neutral begegnet. Zum Zweiten ist zu entscheiden, ob der andere universalistisch oder partikularistisch, das heißt unter Bezug auf spezifische Gruppennormen, adressiert wird. In der dritten Dimension geht es um Zuschreibung oder Leistung: Werden dem Gegenüber angeborene Eigenschaften unterstellt oder werden seine Äußerungen auf erworbene eigene Leistungen zurückgeführt? Darüber hinaus muss geklärt werden, ob man sich und dem anderen beim Handeln eher Eigennutz (beziehungsweise Selbstorientierung) oder Altruismus (beziehungsweise Kollektivorientierung) unterstellt. Und schließlich ist zu entscheiden, ob es sich um eine »diffuse« oder eine »spezifische« Situation handelt, ob ich dem anderen ohne ein spezielles Anliegen (also diffus) begegne oder ob ich ihn in einer besonderen (Experten-)Rolle (also spezifisch) kontaktiere. Die »Pattern Variables« bilden ohne Frage nur einen kleinen Ausschnitt aus Parsons’ handlungstheoretischen Überlegungen. Aber sie lassen bereits seine spezifische Auffassung von »Handlungstheorie« erkennen. Im Unterschied zu späteren Kontrahenten wie George C. Homans zielt Parsons mit seiner Handlungstheorie nicht auf eine (Kausal-) Erklärung von Einzelhandlungen. Ihm geht es eher darum, die empirisch vorfindbare Vielfalt von Handlungsmustern von einem rein emotional geprägten bis hin zu einem rein zweckrational orientierten Handeln zu
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systematisieren. Dies passt durchaus zu der sein gesamtes Werk durchziehenden Grundfrage nach dem »Hobbesian Problem of Order«.
Welche Rationalitätsannahme wird gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Grundsätzlich geht Parsons davon aus, dass Handeln eine intentionale Angelegenheit ist. In der Regel agieren die Menschen nach seiner Auffassung bewusst und »rational«. Allerdings ist Rationalität bei Parsons – und hier knüpft er an Weber an – kein eindeutiges Konzept. Dies wird vor allem bei seinen Argumentationen zur Handlungsentstehung deutlich. Auf die Frage, was Menschen überhaupt zum Handeln veranlasst, gibt er letztlich eine dreistufige Antwort. Ausgangspunkt jeglichen Handelns sind für ihn die »need dispositions«, also die »Bedürfnisse«, die ihrerseits im Spannungsfeld von Energie (Kathexis) und Information (Kognition) gesehen werden. Ausgangspunkt jeglichen Handelns sind dementsprechend – und hier trifft sich Parsons durchaus mit seinen behavioristischen Kritikern – triebhafte Reize. Parsons konzediert auch, dass die Reaktion auf diese Reize nach dem Modell einer »deprivation-gratification balance« verläuft. In Ihren Handlungsentscheidungen orientieren sich die Akteure stets daran, Bestrafungen zu vermeiden und Belohnungen zu optimieren. Allerdings sagt das Prinzip der »deprivation-gratification balance« nichts darüber aus, wie diese Balance konkret aussieht. Denn was für den einen eine Belohnung darstellt, kann für den anderen eine Bestrafung sein. Genau deshalb ist für Parsons auch weiterführend die jeweilige Wertorientierung die entscheidende Variable. Was die Akteure für nützlich und wichtig halten, hängt letztlich von ihren normativen Orientierungsmustern ab. Hier wiederum unterscheidet Parsons idealtypisch zwischen drei möglichen Orientierungsmustern, die jeweils zu unterschiedlichen Handlungsentscheidungen führen: (1) Auf der einen Seite steht der »appreciative mode of value orientation«, wie er für den Kaufmann kennzeichnend ist, der sein Handeln an der ökonomischen Nutzenmaximierung ausrichtet. (2) Hiervon grenzt Parsons den »cognitive mode of value orientation« ab. Dieser ist unter anderem für Wissenschaftler leitend, die sich in der Regel nicht an kurzfristigen Nutzenerwägungen orientieren,
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sondern an der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit. (3) Als dritte denkbare Variante führt Parsons den »moral mode of value orientation« an, also die für Ethiker typische Orientierung »gut/böse«. Alle drei Orientierungsmuster sind für sich durchaus »rational«, aber sie verweisen auf unterschiedliche Bezugspunkte und damit auf idealtypisch unterschiedliche Rationalitäts- und Nutzenmaximierungsmuster, die es zu unterscheiden gilt.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Auf diese Frage liefert Parsons von Anfang an eine systemische Antwort (und der Begriff des Systems fällt auch schon in »The Structure of Social Action«). In Abgrenzung zu Weber und anderen geht er stets davon aus, dass Handeln nicht aus der Perspektive der subjektiven Intentionen der jeweiligen Akteure verstanden werden kann. Insofern soziales Handeln immer an Interaktionskontexte gebunden ist, kann es für Parsons nicht monologisch, sondern muss dialogisch begriffen werden. Die Beziehung zwischen dem Handelnden und seinem Gegenüber (»Ego« und »Alter«) ist dabei durch eine »doppelte Kontingenz« gekennzeichnet (vgl. Parsons/ Shils 1951: 16). Denn die Erwartungsstrukturen und Reaktionsmöglichkeiten der Beteiligten sind grundsätzlich offen beziehungsweise »auch anders möglich«. Oder anders ausgedrückt: Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich die Akteure geregelt und gesittet aufeinander beziehen. Genau dies verweist für Parsons erneut auf die entscheidende »Ordnungsfrage«, nämlich auf die Frage danach, wieso trotz der prinzipiellen Offenheit der Handlungssituation stabile und verlässliche Erwartungen und Reaktionsmuster entstehen. Diese Frage lässt sich nicht aus der Perspektive der Akteure und ihrer Intentionen beantworten, stattdessen muss nach Parsons der Fokus von den Intentionen auf die Handlungserfordernisse verschoben werden: Welche Erfordernisse müssen gegeben und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Handlungssituation erfolgreich bewältigt werden kann? Die Antwort auf diese Frage führt Parsons zu der ab Ende der 1940er Jahre entwickelten systemtheoretischen Fassung seiner Handlungstheorie, als deren berühmtester Ausdruck das sogenannte »AGILSchema« gelten kann, wie es Parsons in seinen Analysen über »The Social System« (Parsons 1951) entwickelte.
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Das auf mikro- wie makrotheoretische Probleme anwendbare »AGILSchema« bündelt die vier Grundfunktionen, die erfüllt sein müssen, damit auf der Mikroebene ein Handlungsakt gelingen kann. Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, ist die physische Anpassung an die äußere Umwelt (»Adaption«): Jegliches Handeln setzt zunächst voraus, dass der Handelnde den physischen Anforderungen der jeweiligen Handlungssituation gewachsen ist. Fehlen die dazu notwendigen organischen Voraussetzungen, ist also – aus welchen Gründen auch immer – der Akteur körperlich zu schwach und das »Organismussystem« nicht ausreichend, dann wird eine gegebene Handlungssituation schon aus biologischen Gründen nicht entsprechend bewältigt werden können. Allerdings interessieren Parsons als Soziologen die biologischen Voraussetzungen des Handelns nur begrenzt, und in seinen weiteren Ausführungen widmet er den drei anderen Subsystemen des Handelns auch weit mehr Aufmerksamkeit. Die zweite Bedingung, die zur erfolgreichen Bewältigung eines Handlungsakts erfüllt sein muss, ist das »Goal Attainment« oder die »Zielerreichung«. Hiermit spielt Parsons auf das Faktum an, dass von Handeln nur dann die Rede sein kann, wenn die Akteure nicht instinktiv reagieren, sondern sich im Handeln zwischen (mindestens) zwei Alternativen entscheiden können. Die Entscheidung zwischen Handlungsmöglichkeit A oder B trifft für Parsons das »Persönlichkeitssystem«, das über einen freien Willen ebenso verfügt wie über eine mehr oder wenige realistische Einschätzung, welche der konkret zur Entscheidung stehenden Handlungsalternativen erfolgreich und befriedigend realisiert werden können. Allerdings ist das Persönlichkeitssystem in seinen Handlungsentscheidungen keineswegs autark – und es wäre für Parsons auch ein massives Problem, wenn die Akteure entscheiden könnten, wie sie wollten. Denn in diesem Fall würde die übergreifende »Ordnung« wegen des grundsätzlichen Egoismus der Akteure langfristig gestört. Vor diesem Hintergrund werden die beiden anderen Grundfunktionen wichtig. So kann ein Handlungssystem nur dann »gelingen«, wenn die Akteure nicht nur aus ihren »egoistischen« Perspektiven heraus entscheiden, sondern zugleich jene sozialen Systeme und Beziehungsgeflechte berücksichtigen, in die sie »integriert« sind. Das Subsystem »Integration« könnte seine bestandserhaltenden Leistungen freilich kaum realisieren, wenn nicht die Aufrechterhaltung von »Latent Patterns« gewährleistet wäre. Ganz im Sinne seiner früheren Konzeptionen interpretiert Parsons die »Latent
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Patterns« als vierte Grundfunktion explizit kultur- und wertbezogen: Sie verweisen auf kulturell eingeschliffene Wertorientierungen und normative Überzeugungen, die für das gesellschaftliche Leben wie für das Gelingen eines einzelnen Handlungsaktes für Parsons letztlich entscheidend sind. Denn von ihnen hängt es ab, ob ein einzelner Handlungsakt eher nach der Rationalität eines Unternehmers, eines Wissenschaftlers oder eines Ethikers gestaltet wird.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? In methodologischer Hinsicht begreift sich Parsons als analytischen Realisten und Verfechter einer verstehenden Soziologie, die darauf abzielt, soziales Handeln im Spannungsfeld von Freiheit und Determinierung zu erfassen. Im Unterschied zu Max Weber, der zwischen funktionaler Analyse und motivationalem Verstehen unterscheidet, versucht Parsons, beide Ebenen zu verbinden. Verstehen knüpft für ihn einerseits an subjektiven Bewusstseinsinhalten an, die aber zugleich auf »objektive« Ideen, Normen und Wertbegriffe bezogen und kontextualisiert werden. Denn die Handelnden sind nicht völlig autonom, sondern unterliegen physischen, sozialen und kulturellen Zwängen, die nur um den Preis eines Scheiterns des Handlungsaktes außer Kraft gesetzt werden können. Richard Münch (1988: 26ff.) hat darauf hingewiesen, dass Parsons unter erkenntnistheoretischen Perspektiven stark durch Kants Vernunftkritiken geprägt ist. Wie Kant geht er von einer dualistischen Realitätsperspektive aus (Freiheit versus Determinismus), die er in einer allgemeinen Theorie auf den Begriff bringen will. Sein Anspruch ist es, ein Kategoriensystem zu entwickeln, das in der Lage ist, die Vielfalt des empirischen Handelns zu systematisieren, und das deutlich macht, dass auch höchst unterschiedliche Handlungsmuster immer bestimmte Grundfunktionen erfüllen müssen. Demgegenüber erscheint die Erklärung des konkreten Einzelhandelns eher sekundär. Genau an diesem Punkt setzen dann auch Parsons Kritiker aus der Tradition einer »erklärenden« Soziologie wie Homans an, die in methodischer Hinsicht ganz andere Akzente setzen und gegen das geisteswissenschaftliche Verstehen das naturwissenschaftliche Beobachten und die singuläre Erklärung ins Feld führen.
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Lernkontrollfragen • • •
Was ist mit dem Schlagwort des »Hobbesian Problem of Order« bei Parsons gemeint? Welche Bedeutung haben die »Pattern Variables« für die Handlungstheorie von Parsons? Welche Grundfunktionen müssen erfüllt werden, damit ein Handlungsakt erfolgreich absolviert werden kann (»AGIL-Schema«)?
Literatur Primärliteratur Parsons, Talcott (1928/29). ›Capitalism‹ in Recent German Literature: Sombart and Weber. In: The Journal of Political Economy, Jg. 36 (1928), S. 641-661, Jg. 37 (1929), S. 31-51 [Zugleich Philosophische Dissertation, Heidelberg 1927. Separatabdruck aus: The Journal of Political Economy (Chicago, Ill.), Bd. 36 & 37]. Parsons, Talcott (Übersetzer) (1930). Max Weber: The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism. Talcott Parsons. Mit einem Vorwort von R. H. Tawney. New York: Scribner. Parsons, Talcott (1937). The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. New York: McGraw-Hill. Parsons, Talcott (Übersetzer) (1947). Max Weber: The Theory of Social and Economic Organization. Übersetzt von A. M. Henderson und Talcott Parsons. New York: Oxford University Press. Parsons, Talcott (1950). The Prospects of Socological Theory. In: American Sociological Review, Jg. 15, H. 1, S. 3-16. Parsons, Talcott (1951). The Social System. London: Routledge & Paul. Parsons, Talcott (1966). Societies. Evolutionary and Comparative Perspectives. Englewood Cliffs: Prentice-Hall. Parsons, Talcott (1971). The System of Modern Societies. Englewood Cliffs/Hemel Hempstead: Prentice-Hall. Parsons, Talcott (1977). Social Systems and the Evolution of Action Theory. New York/London: The Free Press/Collier Macmillan. Parsons, Talcott/Shils, Edward (Hg.) (1951). Toward a General Theory of Action. Cambridge, MA: Harvard University Press.
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4.2 G EORGE C. H OMANS : S OZIALES VERHALTEN George Caspar Homans war einer der einflussreichsten amerikanischen Soziologen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Werk in Ost- wie in Westdeutschland – wo man ab Mitte der 1950er Jahre um eine Neugründung der akademischen Soziologie bemüht war – umfangreich rezipiert und diskutiert wurde. Homans’ Untersuchungen sind im Gegensatz zu den Schriften seines großen Kontrahenten Talcott Parsons – der eine umfassende systemtheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie entwickeln wollte, die auch zeitdiagnostische Bedeutung hat – mikrosoziologisch ausgerichtet. Sie wollen die »elementaren Formen« sozialer Prozesse analysieren (vgl. Homans 1968b), mit deren Hilfe ertragsorientierte und lernfähige Akteure reproduzierbare Interaktionsverhältnisse ausbilden. Seine verhaltenstheoretisch fundierte Soziologie beschränkt sich folgerichtig auf die Erforschung des Verhaltens von Akteuren, die sich in überschaubaren Gruppen zusammenfinden, weshalb der Brückenschlag zur Sozialpsychologie und zu den dort behandelten Dynamiken des Kleingruppenhandelns wichtig wird. Dabei gewinnt vor allem Homans’ Idee eine nachhaltige Wirkung, dass die zu diesem Zweck zu entwickelnde Theorie des individuellen Verhaltens in allen Sozialwissenschaften, zu denen er auch die verschiedenen Sparten der Ökonomik zählt, zur Anwendung gelangen könne. Damit verschafft Homans der Soziologie eine reduktionistische Ausrichtung, der zufolge man »soziale Phänomene« und »Strukturen« nur insoweit verstanden hat, als man deren Genese auf das wechselseitig orientierte Handeln einzelner Individuen zurückführen kann. Homans wird auf diese Weise zum Mitbegründer eines noch heute disziplinübergreifend florierenden mikrofundierenden Forschungsprogramms.
Zur Person Homans wird am 11. August 1910 als Sohn einer wohlhabenden ostenglischen Familie in der Nähe von Boston (Massachusetts) geboren und ist am 29. Mai 1989 in Cambridge (Massachusetts) verstorben. Bereits 1928 beginnt er seine Studien (der Englischen Literatur) an der Harvard University. Gegen Mitte der 1930er Jahre wendet er sich der Soziologie zu und verfasst eine Einführung in die Sozialtheorie von Vilfredo Pareto. Nach dem Zweiten Weltkrieg, währenddessen er als Marineoffizier dient,
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übernimmt er bis zu seinem Ausscheiden aus dem akademischen Dienst eine Soziologieprofessur in Harvard. Sein Hauptinteresse gilt einer theoretischen »Synthese« (Homans 1968a) der verschiedenartigen soziologischen Denkschulen, die er in einer Reihe von Schriften dokumentiert. Dazu zählen unter anderem »The Human Group« (Homans 1950, deutsch 1960) und »Social Behavior. Its Elementary Forms« (Homans 1961, deutsch 1968b), aber auch der klassische Aufsatz »Bringing Men Back In« (Homans 1964a, deutsch in Homans 1972: 44ff.) und seine wissenschaftslogische Streitschrift »The Nature of Social Science« (Homans 1967, deutsch 1969). Seine theorierelevanten Vorarbeiten finden sich in zwei Aufsatzbänden, die unter dem Titel »Sentiments and Activities. Essays in Social Science« (Homans 1962) und »Certainties and Doubts: Collected Papers 1962-1985« (Homans 1987) erschienen sind. Der Sammelband »Grundfragen soziologischer Theorie« (Homans 1972) enthält einige seiner einschlägigen theoretischen und metatheoretischen Beiträge in deutscher Übersetzung.
Fragestellungen und Erkenntnisse Homans hat den »chaotischen« Zustand (Homans 1982: 298) der soziologischen Theoriebildung anhand der Beantwortung der Frage zu überwinden gesucht, mithilfe welcher (theoretischer) Annahmen man das (individuelle) Verhalten der Akteure erklären kann, aus deren Interaktionen Organisations- beziehungsweise Verteilungsstrukturen entstehen, die ihrerseits auf die weiteren Handlungsumstände der Akteure zurückwirken (vgl. Homans 1968a: 6). Dabei hegt er von Anfang an die Hoffnung, dass sich bei der Beschreibung des Wechselverhaltens von gruppenorganisierten Akteuren und dessen Kollektivfolgen dauerhafte und zugleich generalisierungsfähige »Gleichförmigkeiten« (Homans 1960: 50ff.) entdecken lassen. Zur Entwicklung einer derartigen Soziologie benötigt der Forscher (zunächst) ein »conceptual scheme« (Homans 1947), mit dessen Hilfe er die »Elemente des Verhaltens« (Homans 1960: 50ff.) beschreiben kann, die den Wechselbeziehungen der Akteure zugrunde liegen. Homans unterscheidet »activities«, das heißt die Einzeltätigkeiten von Individuen, von ihren »interactions« oder Wechselhandlungen, in deren Verlauf die Personen einander beeinflussen. Ein drittes Element bezeichnet Homans als »sentiment«, womit er jene »Gefühle« (vgl. ebenda: 62ff.) anspricht, welche die Akteure infolge der Tatsache empfinden, dass sie
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von ihren Mitakteuren mit (wertvollen) Belohnungen versorgt werden (oder nicht). Sofern diese Verhaltenselemente in einer Wechselbeziehung zueinanderstehen stehen, bilden sie ein »internes System« (ebenda: 123ff.). Davon müssen die externen »Randbedingungen« oder »Parameter« unterschieden werden, die die Restriktionen und Opportunitäten vorgeben, denen das aneinander orientierte Handeln der Akteure gerecht werden muss (ebenda: 100ff.). Zugleich besitzen alle diese Verhaltenselemente empirisch messbare Auswirkungen, weshalb Homans unterstellt, dass sich die Zusammenhänge, die mit ihrer Hilfe erfasst werden sollen, (mathematisch) formalisieren lassen (vgl. Homans 1972: 15). In seinem bekanntesten Buch »The Human Group« (Homans 1950) verwendet Homans die genannten Verhaltenselemente, um anhand verschiedener Ergebnisse aus dem Bereich der »Kleingruppenforschung« (vgl. Homans 1962: 257ff. und 269ff.) die »Mechanismen« (Homans 1947: 22) zu erkunden, die zu regelhaften Beziehungen zwischen Interaktionshäufigkeit und Wertschätzung beziehungsweise zwischen dem Aufkommen von Gefühlen und verschiedenen Aktivitätsarten führen (vgl. Homans 1960: 254ff.). In der Folgezeit bemerkt Homans, dass er sich nicht darauf beschränken kann, die identifizierten Regelhaftigkeiten zu verallgemeinern, sondern dass er erklären muss, warum und auf welche Weise sie infolge des Wechselverhaltens der Individuen zustande kommen, sich erhalten und auch wieder verändern. Diesen Mangel behebt er mit seinem Hauptwerk über die »Elementarformen sozialen Verhaltens« (Homans 1961). Um Erklärungen vorzulegen, benötige man Theorien, die (allgemeine) Gesetze darüber enthalten, unter welchen situativen – oder kontextuellen – Bedingungen Akteure ihr Handeln wählen. Da Homans nicht annimmt, dass es eigenständige soziologische Gesetze gibt, die – ohne einen Blick auf das Handeln der Einzelakteure zu werfen – »soziale Tatsachen« miteinander verknüpfen, rät er an, allen soziologischen Erklärungen die »Gesetze der Verhaltenspsychologie« (vgl. Homans 1972: 106ff. und 126ff.; 1984: 333ff.) zugrunde zu legen. Diese Gesetze sind in einem doppelten Sinn allgemein: Zum einen beziehen sie sich auf eine jenseits aller kulturellen Prägungen greif bare »single human nature« (Homans 1984: 329). Zum anderen liegen sie allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und damit allen soziologischen »Schulen« gleichermaßen zugrunde (vgl. Homans 1968a: 6; 1978b: 15), was erlaubt, bei aller thematischen Vielfalt deren »theoretical unity« (Homans 1986: xx) voranzutreiben.
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Homans’ Vorschlag folgend kann die Vereinheitlichung des erklärungsnotwendigen Gesetzeswissens in Form der folgenden »Axiome« oder »Prinzipien« beginnen (vgl. Homans 1972: 59ff.; 1974): •
• •
• •
Ein Akteur wiederholt eine Handlung (mit steigender Wahrscheinlichkeit), wenn sie in der Vergangenheit belohnt wurde und je ähnlicher die aktuelle Anreizsituation der vorherigen ist. Ein Akteur wiederholt eine Handlung (mit steigender Wahrscheinlichkeit) umso eher, je häufiger sie (zuvor) belohnt wurde. Ein Akteur zeigt eine Handlung, die wertvoll für einen Mitakteur ist, je häufiger dieser ihm gegenüber in einer für ihn selbst wertvollen Weise gehandelt hat. Je häufiger ein Akteur eine für ihn wertvolle Zuwendung durch einen Mitakteur erfahren hat, desto weniger wertvoll ist ihm diese. Je drastischer die Regel verletzt wurde, der zufolge ein Akteur Zuwendungen nach Maßgabe des Wertes erwartet, den sein Handeln für andere besitzt, desto wahrscheinlicher wird er ein (emotionales) Verhalten zeigen, das als »Ärger« bezeichnen werden kann.
Diese Liste verhaltenstheoretischer Gesetzesannahmen besitzt verschiedene Quellen: Die ersten beiden Prämissen entnimmt Homans der Verhaltenspsychologie seines Harvard-Kollegen B. F. Skinner, die dritte und die vierte entleiht er der ökonomischen Wert- und Entscheidungstheorie, während die fünfte eine Version der sogenannten Frustrations-Aggressions-Hypothese darstellt. Nach Homans ist jede dieser Verhaltensannahmen ebenso »bekannt« (Homans 1972: 59) wie »intelligibel« (Homans 1964b: 222), und sie reichen zusammen aus, um zu zeigen, wie verschieden gestaltete Situationen zu unterschiedlichen Interaktionsverläufen beziehungsweise Verteilungseffekten führen. Durch Zusatzhypothesen lässt sich die Liste jederzeit erweitern und ergänzen. Mit ihr ist ein Erklärungsprogramm ins Leben gerufen, das verständlich macht, weshalb Homans in Gegnerschaft zu verschiedenen alternativen »Ansätzen« gerät. Zum einen hat er sich gegen die Sozialtheorie von Talcott Parsons gewandt, dem er vorwirft, die Suche nach gesetzesbasierten Erklärungen zugunsten der Konstruktion von erklärungsuntauglichen »begrifflichen Bezugsrahmen« (Homans 1968b: 9) zu vernachlässigen. Die funktionalistische Denktradition erfährt seine Kritik, weil sie die Existenz bestimmter Institutionen unter Verweis auf deren gesell-
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schaftsstabilisierende Funktion zu erklären sucht, statt zu zeigen, wie institutionelle Regelungen zum Teil auch gegen die erklärten Absichten vieler Akteure, aus ihrem wechselorientierten Handeln entstehen (vgl. Homans 1972: 24ff. und 111ff.; 1982: 295f.). Und dem »Kulturalismus« macht er Vorhaltungen, weil dieser dazu tendiert, die Varianz sozialer Phänomene als eine Konsequenz differenter »kultureller Vorgaben« zu erklären – was in seinen Augen nicht mehr meinen kann als die Tatsache, dass heutige Akteure sich in bestimmter Weise verhalten, weil die vorherige Generation sie Entsprechendes gelehrt hat. Homans hält ein solches Argument nicht für falsch, aber alleine deshalb für wenig gehaltvoll, weil es unerklärt lässt, wie die betreffenden Kulturunterschiede ihrerseits entstehen (vgl. Homans 1967: 12).
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Homans macht sich verschiedentlich Gedanken über das Verhältnis seines Theorieansatzes zur Nutzen- beziehungsweise Rationaltheorie. Seiner Deutung nach (vgl. Homans 1972: 116) schließt die psychologische Verhaltenstheorie die Rationalitätshypothese, die für ihn zu den Grundfesten der »elementaren Ökonomie« (Homans 1968b: 67) gehört, ein. Die Rationalannahme besagt, dass ein Akteur eine Handlung aus einer endlichen Menge von Alternativen nach Maßgabe der damit erreichbaren Nutzenvorteile auswählt; dabei wird ihm unterstellt, dass er die Folgen seines Handelns bewerten und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens abschätzen kann (vgl. Homans 1974: 43ff.; 1986: xxi). Diese Annahme kann man jederzeit in die These »übersetzen«, dass Akteure ihr Handeln in Erwartung von Belohnungen projektieren. Allerdings nimmt die Rationaltheorie die »Einschätzung der Werte« im jeweiligen Erklärungszusammenhang ebenso als »gegeben« an wie die Wahrscheinlichkeitsabwägungen der Akteure (vgl. Homans 1972: 116 und 132). Homans meint deshalb, dass seine Verhaltenstheorie insoweit allgemeiner ist, als sie dazu in der Lage sei, die Entstehung der Wertungen und die Ausbildung von Erwartungen jederzeit unter Verweis auf die Belohnungsbiografien der untersuchten Personen zu erklären. Homans hält die Rationaltheorie demnach entweder für falsch, insoweit die jeweils unterlegten Bewertungen und das betreffende Informationsniveau eines Akteurs tatsächlich nicht konstant
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sind; oder er hält sie für unvollständig, weil sie nicht alle erklärungswichtigen Prozesse und Faktoren angibt. Das hindert ihn aber nicht daran, sie überall dort heranzuziehen, wo es zu erklären gilt, wie sich Akteure auf der Basis ihrer Wertüberzeugungen und ihrer Erfolgserwartungen zwischen unterschiedlichen Handlungen entscheiden, und solange zu hoffen bleibt, dass ein solches rationalistisches Erklärungsangebot mit Verhaltenserklärungen »identisch« ist (Homans 1972: 11).
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Die Antwort auf diese Frage gibt Homans in unmissverständlicher Weise: Weder hält er die Annahme für sinnvoll, dass Handeln durch die jeweils vorgegebenen Strukturen erzeugt oder festgelegt wird, noch behauptet er, dass sich die Akteure unabhängig von allen Situationsgegebenheiten entscheiden. Vielmehr modelliert er Handeln als zugleich wert- oder belohnungsorientiert und kontextabhängig. Kontexte wirken dabei in zweierlei Richtung: Zum einen ist zu bedenken, dass »men [are] persuing what they perceive to be their interest in a context of other men also persuing theirs« (Homans 1964b: 229), und zum anderen gilt, dass sie dabei alle gemeinsam den Knappheiten unterworfen sind, die ihnen ihre nichtsoziale Umwelt vorgibt. Auf der Basis dieses Handlungsverständnisses müssen Soziologen zwei Erklärungsprobleme lösen: das Problem, wie Akteure soziale Strukturen »erschaffen« und aufrechterhalten, und das Problem, wie einmal kreierte Strukturverteilungen auf ihr weiteres Handeln zurückwirken (vgl. Homans 1982: 297f.; 1983: 40). Indem sie auf die jeweiligen Restriktionen und Gelegenheitsstrukturen (in unterschiedlicher Weise) zu reagieren lernen, gestalten sie ihre Handlungssituation immer wieder um, woraus ihnen neuerliche Probleme erwachsen können (vgl. Homans 1978a: 535). Die Verhaltenstheorie kann deshalb nicht vorhersagen, welchen historischen Verlauf die menschliche Gesellschaftsdynamik nehmen wird; sie hilft aber dabei, diese unter Rückgriff auf das vorhandene verhaltenswissenschaftliche Erklärungswissen wenigstens rückblickend zu erklären. Auch die Geschichtsschreibung verfährt folglich verhaltenstheoretisch.
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Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Homans hat keinen erkenntnistheoretischen Traktat vorgelegt, sondern sich auf erklärungslogische und wissenssoziologische Kommentare beschränkt (vgl. Homans 1967; 1978b). Die dort erkennbare Position lässt die Deutung zu, dass er Realist und Empirist ist, der auch metaphysische Festlegungen nicht scheut. Zu Beginn seiner intellektuellen Karriere steht er wie viele seiner Zeitgenossen unter dem Einfluss des sogenannten »Operationalismus« (vgl. Homans 1947; 1960: 58ff.), der darauf besteht, dass wissenschaftliche Begriffe nur dann akzeptabel sind, wenn sich ihre Bedeutung mithilfe von Beobachtungs- beziehungsweise Messverfahren bestimmen lässt. Zu keiner Zeit aber glaubt Homans, dass sich Theoriebildung in der Formulierung forschungsleitender Definitionen erschöpft. Vielmehr hält er fest, dass die Wissenschaft Erklärungen zu liefern und zu diesem Zweck Gesetzesaussagen mit einem »hohen empirischen Gehalt« (Homans 1972: 15) vorzulegen habe. Jede Beurteilung deren Erklärungskraft wiederum setze voraus, dass theoretische Propositionen überprüft und durch unvereinbare Daten widerlegt werden können (vgl. Homans 1967: 4). Damit verpflichtet er sich auf eine realistische Erkenntnistheorie, die »kumulatives Theoriewachstum« zulässt (Homans 1986: xx). Diese Festlegung lässt sich aus seinem Bekenntnis ableiten, dass der einzige Wert, dem ein Wissenschaftler folgen sollte, der ist, wahre Theorien und wahre empirische Sachbeschreibungen vorzulegen (vgl. Homans 1978a; 1978b). Die Produktion von Utopien diene dieser Zielsetzung ebenso wenig wie die Idee, jeder theoretische Ansatz stünde kritiklos für sich und brauche sich um seine empirische Bestätigung nicht zu kümmern (vgl. Homans 1986: xviiiff.). Mit dem Bekenntnis zu einer realistischen Erkenntnistheorie ist aber noch nicht ausgemacht, welchem Erkenntniszweck Theorien dienen. Homans nennt zwei: Zum einen stecken Theorien das Forschungsfeld ab, auf dem es Entdeckungen zu machen gilt (vgl. Homans 1967: 3ff.; 1987: 223ff.), zum anderen benötigt man Theorien dazu, um die Logik von Erklärungsargumenten zu bestimmen. Homans’ Überzeugung nach, die er dezidiert verteidigt, folgen auch sozialwissenschaftliche Erklärungen den formalen Vorgaben »deduktiv-nomologischer Erklärungen« beziehungsweise des »Covering-Law-Modells« (vgl. Homans 1967: 21ff.; 1972: 107ff.).
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Die Logik sozialwissenschaftlicher Erklärungen unterscheide sich deshalb nicht von den parallelen Anstrengungen der Naturwissenschaften (vgl. Homans 1972: 127f.; 1982: 286f.). Auch sie folgen der Grundidee, dass ein zu erklärender Sachverhalt aus dem Verbund von drei Klassen von Annahmen logisch abgeleitet werden muss: (1) aus »general explanatory principles« (Homans 1964b: 227), (2) aus Beschreibungen der aktuellen Bedingungen, unter denen diese allgemeinen Prinzipien anzuwenden sind, und (3) aus Angaben über die gegebenen situativen – oder kontextuellen – Randbedingungen, unter denen der zu erklärende Sachverhalt zustande kommt. »Orientierungsannahmen«, die angeben, dass es Beziehungen zwischen Verhaltenselementen gibt, nicht aber, welcher genauen Art diese sind (vgl. Homans 1967: 14ff.), eigneten sich zu Erklärungszwecken ebenso wenig wie die Identifikation von theoretisch unbestimmten Einzelursachen (Homans 1968a: 7). Vielmehr benötige man dazu ebenso allgemeine wie präzise und möglichst deterministisch formulierte Verhaltensgesetze (vgl. Homans 1967: 103; 1968a: 5). Für Homans ergibt sich aus der Determiniertheit des Handelns kein Widerspruch dazu, dass es »absichtsvoll« verläuft (vgl. Homans 1986: xxiii) und – wenigstens teilweise – als »Wahlhandeln« (vgl. Homans 1983: 33) beziehungsweise »Entscheidungshandeln« aufgefasst werden kann (vgl. Homans 1972: 139). Implikation seiner deterministischen Auffassung ist zugleich, dass die Verhaltensursachen in den allgemeinen »Gesetzen der Humanpsychologie« (ebenda: 70) zu suchen sind und nicht in den Situationsumständen, die die Akteure bei der Ertragsgestaltung ihres Handelns berücksichtigen müssen (vgl. Homans 1982: 298). Die heuristische Fruchtbarkeit dieser Auffassung liegt darin, dass die Sozialwissenschaften mithilfe einer endlichen Anzahl von Verhaltensgesetzen soziales wie nicht-soziales Handeln angesichts einer »Vielzahl verschiedener Randbedingungen« (Homans 1972: 34) erklären können. Dass die Verhaltenstheorie nur »atomistisches« oder solitäres Handeln berücksichtigen könne, weist Homans deshalb ebenso zurück (vgl. Homans 1986: xxiii) wie die Unterstellung, ihre Akteure seien egomane Hedonisten (vgl. ebenda: xxiv), die nur den eigenen Nutzenertrag vor Augen haben, ohne auf die Belange ihrer Mitakteure eingehen zu können. Homans zieht aus seiner realistisch-nomologischen Erkenntnisauffassung zwei sich ergänzende Konsequenzen: Zum einen bekennt er sich zu einer »individualistischen Soziologie« (Homans 1983: 40) und damit verbunden zum sogenannten »Methodologischen Individualismus« (vgl.
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Homans 1972: 137; 1983: 41), demzufolge sozialwissenschaftliche Erklärungen – die sich definitionsgemäß auf die Etablierung und die unterschiedliche Erhaltungswahrscheinlichkeit von Verteilungsstrukturen konzentrieren nur unter Berücksichtigung der internen Beweggründe und »effizienten Ursachen« des Handelns möglich sind. Für »reduktionistisch« in einem engeren Sinne hält er dieses Vorgehen hingegen nicht (vgl. Homans 1972: 33ff.; 1983: 38; 1986: xxiv). Das verhaltenstheoretisch fundierte Erklärungsprogramm nimmt sich nicht vor, soziologische Begriffe vermittels psychologischer Konzepte zu »definieren«, um sie auf diesem Weg zu eliminieren, oder alle »soziologischen Gesetzmäßigkeiten« auf Propositionen über das Handeln einzelner Akteure logisch zurückzuführen (vgl. zu diesen Thesen Vanberg 1972: 161). Homans hält ein solches Vorhaben in zweifacher Hinsicht für fraglich: Zum einen kann eine sozialwissenschaftliche Erklärung auf die Angabe handlungsleitender Kontexte oder Situationsumstände, die notwendigerweise »emergente«, nicht-individuelle »Kompositionseffekte« haben werden, nicht verzichten (vgl. Homans 1967: 25; 1972: 33f.); und zum anderen muss Homans die logische Reduktion von soziologischen Gesetzen auf psychologische alleine deshalb als gegenstandslos betrachten, weil er davon überzeugt bleibt, dass es soziologische Gesetze gar nicht gibt (vgl. Homans 1967: 83ff.; 1972: 119). Homans’ Idee einer verhaltenstheoretisch und erklärungslogisch vereinheitlichten Sozialwissenschaft hat sich nicht durchgesetzt. Sein Theorieprogramm wurde in Deutschland, nach anfänglichem Zuspruch (vgl. Opp 1972; Vanberg 1972) aufgegeben und wird im englischsprachigen Raum allenfalls in der Form von »speziellen Ansätzen« weitergeführt, das heißt als »Austauschtheorie« (vgl. Molm 2007), »Theory of Distributive Justice« (Cook/Hegtvedt 1983) oder als »Statusinkonsistenz-« beziehungsweise »Machttheorie« (vgl. Cook/Gerbasi 2007). Auch seine an der Logik der Naturwissenschaften geschulte Wissenschaftsauffassung wird in der Regel verworfen. Gleichwohl sind wichtige Leitlinien des Homansschen Forschungsprogramms von der sogenannten »erklärenden Soziologie« übernommen und weitergeführt worden.
4. Modellierungen des Handelns
Lernkontrollfragen • • •
Was versteht Homans unter einer »soziologischen Erklärung«? Welche Rolle spielen dabei verhaltenstheoretische Annahmen? In welchem Verhältnis steht die Verhaltenstheorie zur Rationaltheorie des menschlichen Handelns?
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5. Handeln, Struktur und Rationalität
Von Beginn an hat sich die Soziologie dem Problem gegenübergesehen, wie die Handlungsintentionen der Akteure mit den Erfordernissen der gesellschaftlichen Ordnungsbildung in Einklang zu bringen sind. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, geht die auf Talcott Parsons zurückgreifende Tradition davon aus, dass die Akteure dazu in der Lage sind, ihre Wechselbeziehungen normativ zu kontrollieren und situationsspezifisch aufeinander abzustimmen. Demgegenüber fragt die von Thomas Hobbes über David Hume bis hin zu George C. Homans angeregte individualistische Theorietradition ausdrücklich danach, wie stabile soziale Beziehungen aus nutzenorientierten Handlungen sozial verorteter Akteure entstehen können. Daraus resultiert ein doppeltes Problem: Zum einen muss die individualistische Handlungstheorie erklären, ob und wie gesellschaftliche Ordnung auch angesichts eigeninteressierter Handlungen der Akteure entstehen kann. Und sie muss zum anderen berücksichtigen können, dass auch aus dem rationalen Handeln der Akteure unliebsame soziale Effekte hervorgehen, die sich aus deren sozialen Interdependenzen herleiten. Dabei spielen zwei Annahmen eine überaus erklärungswichtige Rolle: zunächst die handlungstheoretische These, dass die Akteure vermittels ihres Handelns ihre jeweilige Lage zu verbessern trachten beziehungsweise ihre Verhältnisse – bezogen auf ihre Bedürfnisse oder Ziele – vorteilhaft zu gestalten suchen (und in diesem Sinn zweckorientiert und »rational« handeln). Da Akteure immer auch angesichts relativ unabänderlicher Gegebenheiten handeln müssen, werden zugleich Annahmen über die Merkmale einer Situation beziehungsweise eines Handlungskontextes wichtig, die aus Sicht der Akteure für deren Handeln wichtig und daher steuernd sind. Für die Soziologie sind dies in erster Linie die Interaktionsbeziehungen zwischen den Akteuren,
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die entweder über Interessen oder über Vorstellungsmuster abgebildet werden können. Es ist die Kombination spezifischer Handlungsannahmen und Situationsbeschreibungen, aus der sowohl die Entstehungs- als auch die Erfolgsbedingungen der sozialen Mechanismen folgen, die soziale Ordnungsbildung ermöglichen. Konkrete Beschreibungen solcher Mechanismen und deren sozialer Effekte werden aus der Verbindung von Handlungs- und Strukturebene gefolgert. Unter dem Dach dieses allgemeinen Erklärungsmodells, das soziale Ordnungsbildung als Ergebnis individuellen Handelns in sozialen Kontexten erklärt, werden heute unterschiedliche Vorschläge darüber unterbreitet, wie zum einen die Handlungstheorie und zum anderen die Situationsmodelle präzisiert werden können oder müssen, um die Frage sozialer Ordnungsbildung möglichst gut und realitätsnah zu bearbeiten. Wir werden im folgenden Kapitel einige Beiträge zu diesem Forschungsprogramm besprechen, die sich der beschriebenen Vorgehensweise grundsätzlich anschließen, aber die Handlungs- und/oder die Situationsbeschreibung mittels unterschiedlicher ergänzender Annahmen beschreiben. Mit Mancur Olson lernen wir einen Theoretiker kennen, der vor dem Hintergrund einer (einfachen) Theorie des rationalen Handelns ein spezifisches, freilich in ganz unterschiedlichen sozialen, politischen und auch wirtschaftlichen Feldern auftretendes Problem des kollektiven Handelns identifiziert – die Beschaffung öffentlicher Güter – und vor allem in kleinen Gruppen eine Lösung sieht. James S. Coleman wiederum dehnt den Kreis der Ordnungsprobleme aus, indem er nach der vorteilhaften Verteilung von Handlungsrechten für bestimmte Situationstypiken fragt. Er verwendet dazu ergänzend das Modell gemeinsamer Ziele und des Zusammenlegens von sozial definierten Handlungsrechten – wohingegen Olson Ordnungsbildung mittels Tausch privater Güter analysiert. Auch Coleman setzt eine einfache Rationalannahme voraus, erweitert aber den Handlungsspielraum der Akteure um die Möglichkeit, soziale Handlungs- und Kontrollrechte zu erwerben, gemeinsam zu nutzen oder weiterzugeben. Demgegenüber kritisiert Albert O. Hirschman – vor allem mit Bezug auf Olson – die universelle Verwendung der Rationaltheorie des Handelns und insbesondere deren Idealisierung in Form des Modells des Homo oeconomicus. Vielmehr will Hirschman wie schon Max Weber der Vielgestaltigkeit und insbesondere der sozial-historischen Konstitution individueller Ziele Rechnung tragen und zudem berücksichtigt wissen, dass in vielen sozialen Kontexten nicht von einer
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vollkommenen Rationalität der Akteure derart auszugehen ist, dass diese alle relevanten Handlungsmöglichkeiten kennen und richtig bewerten. Hirschman hat darüber hinaus das Problem thematisiert, wie die Mitglieder von Organisationen (Staaten, Unternehmen, Parteien und so weiter) mit einem Leistungsabfall umgehen: Abwandern oder Widerspruch. In dieselbe Richtung argumentiert auch Peter Hedström, wenn er in kritischer Reaktion auf Olson und Coleman die Rationaltheorie als einen unrealistischen Spezialfall der Theorie individuellen Handelns betrachtet und stattdessen Interaktionsmechanismen untersucht, welche vor allem die wechselseitige Beeinflussung von Zielen und Erwartungen auf der Ebene der Individuen einfangen. Zum anderen arbeitet Hedström auch an agentenbasierten Modellierungen, mit deren Hilfe spontane Lösungen für das Problem kollektiver Güter und anderer Abstimmungsprobleme analysiert werden können. Wir treffen hier auf eine Erklärungspraxis, die zugleich möglichst realistische und doch abstrakte, also auf wesentliche Faktoren reduzierte Handlungstheorien verwendet, um damit soziale Situationen aus Sicht der einzelnen Akteure zu kennzeichnen und auch mögliche und nötige Formen sozialer Gestaltung zu diskutieren.
5.1 M ANCUR O LSON : R ATIONALITÄT UND KOLLEKTIVES H ANDELN Mancur Lloyd Olson gehört zu den einflussreichen amerikanischen Ökonomen, die sich darum bemüht haben, den »ökonomischen Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens« (Becker 1982) auch außerhalb des engeren Umfelds der Ökonomik zur Anerkennung zu bringen. Dieses Programm ist darauf angelegt, alle menschlichen Beziehungsverhältnisse als »Produkt« des gemeinsamen, aber wechselwirksamen Handelns »rationaler« Akteure zu erklären. Damit ist gemeint, dass diese ihre Ziele genau kennen und in einem entscheidungsrelevanten Umfang über die restriktiven beziehungsweise förderlichen Bedingungen ihrer Handlungssituation informiert sind und unter diesen Voraussetzungen ihre Handlungsentwürfe darauf ausrichten, ihren Ertragsnutzen zu steigern. Olsons eigene Forschungen konzentrieren sich auf das Thema, wie sich Akteure verhalten, wenn die von ihnen erstrebten Güter einer »privaten«, dem einzelnen Akteur zuzurechnenden Nutzung unzugänglich bleiben
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müssen (vgl. Olson 1990). Da Akteure vielfach und in den verschiedensten Handlungsfeldern vor diesem Problem der »Unteilbarkeit« von Gütern und Leistungen stehen, fielen Olsons Grundideen in all jenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf fruchtbaren Boden, die sich mit der Frage beschäftigen, was eigenwillige Akteure tun müssen, um den individuellen Zugang zu jenen unteilbaren »Kollektivgütern« zu gewährleisten. Olson wurde auf diese Weise zu einem disziplinübergreifenden Klassiker, dessen Problemaufriss auch die soziologische Handlungstheorie unmittelbar übernommen hat, weil sie auf diese Weise das von ihr seit Langem diskutierte »Problem der sozialen Ordnung« genauer kennzeichnen und die Institutionalisierung moralisch-normativer Regeln als dessen Lösung verstehen konnte.
Zur Person Mancur Lloyd Olson Jr. wird am 22. Januar 1932 in Grand Forks (North Dakota) geboren und ist am 19. Februar 1998 verstorben. Er studiert zunächst an der North Dakota State University, erwirbt anschließend einen Master of Arts in Oxford (England) und beendet 1963 seine Dissertation in Harvard. Hernach arbeitet er für das Gesundheitsministerium in Washington, um 1969 auf einen Lehrstuhl für Ökonomie an der University of Maryland zu wechseln, den er bis zu seinem Lebensende innehat. Er ist Mitbegründer der »Public Choice Society« und leitet ab 1990 das von ihm mit ins Leben gerufene »Center on Institutional Reform and the Informal Sector« (IRIS), das noch heute existiert. Er übernimmt die Präsidentschaft mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften und ist als ökonomischer Berater der amerikanischen Regierung tätig (vgl. McGuire 1998). Bereits seine Doktorarbeit über »The Logic of Collective Action« (Olson 1965) etabliert seinen bis heute anhaltenden Ruhm als Begründer eines neuen, disziplinübergreifenden Forschungsprogramms, das der Frage gewidmet ist, wie es Gruppen mithilfe ihres gemeinsamen Handelns gelingen kann, sich mit sogenannten »öffentlichen Gütern« zu versorgen (als beispielhaft für diese Forschungen vgl. Hechter 1987 und Lichbach 1996). Dieses Thema behandelt auch sein zweites, vielfach kommentiertes und in mehrere Sprachen übersetztes Buch »The Rise and Decline of Nations« (Olson 1982, deutsch 1985), das die Lobbyismus- und Verbandsforschung auf eine neue theoretische Grundlage stellt. In seiner letzten Lebensphase beginnt sich Olson für die Frage zu interessieren,
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welche Wirtschaftspolitik Diktatoren zur Absicherung ihrer Herrschaft zu betreiben pflegen. Die Ergebnisse seiner Forschungen fasst der posthum veröffentlichte Band »Power and Prosperity« (Olson 2000, deutsch 2002) zusammen. Einen Überblick über seine beiden ersten Schaffensphasen gibt eine Aufsatzsammlung, die unter dem Titel »Umfassende Ökonomie« (Olson 1991) erschienen ist.
Fragestellungen und Erkenntnisse Theoriegeschichtlich lässt sich Olsons Werk – wie er selbst nahelegt (vgl. Olson 1992: 221ff.) – als ein Beitrag zur Problematik der sogenannten »kollektiven Güter« einstufen, deren Lösungsmöglichkeiten er über ganz verschiedene Handlungsfelder hin erkundet (Olson 1968; 1985; 1986; 1991: 266ff.). Kollektive Güter werden von privat nutzbaren Gütern unterschieden. Private Güter sind dadurch gekennzeichnet, dass das Recht ihrer Nutzung einer einzelnen Person zugewiesen wird. Damit ist zugleich gesagt, dass die betreffende Privatnutzung anderen Nutzungsinteressenten (im Prinzip) vorenthalten werden kann. Die privatrechtliche Eigentumsordnung einer Gesellschaft beruht auf diesen Eigenheiten ebenso wie deren Produktions- und Tauschordnung. Kollektive Güter hingegen besitzen Eigenschaften, die ihre Marktgängigkeit behindern. Sie sind dadurch bestimmt, dass mehrere Personen Nutzungsanrechte an ihnen geltend machen können und dass zugleich niemand von deren Nutzung – sei es aus sozialen oder technischen Gründen – ausgeschlossen werden kann. Angesichts dessen ist darüber hinaus wichtig, ob sich ihre Nutzung durch mehrere Berechtigte wechselseitig ausschließt oder nicht. Kann ein jeder seine Nutzungsrechte in Anspruch nehmen, ohne die Nutzungsmöglichkeiten der übrigen Mitberechtigten einzuschränken, spricht man von »reinen Kollektivgütern«; im anderen Fall besteht »Konsumrivalität«. Olsons Kollektivgutdefinition betont zum einen die »Nicht-Ausschlußfähigkeit« (Olson 1968: 13) und zum anderen die Bedeutungslosigkeit von Nutzungsrivalitäten, wenn er schreibt: »Ein Gemein-, Kollektiv- oder öffentliches Gut wird hier als ein jedes Gut definiert, das den anderen Personen praktisch nicht vorenthalten werden kann, wenn irgendeine Person X i in einer Gruppe X 1 … X i … X n es konsumiert« (ebenda).
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Der theoretische Sinn der von Olson gewählten Definition wird sichtbar, wenn man sich bemüht, das Problem zu identifizieren, das jene lösen müssen, die sich derartige Gemeingüter beschaffen wollen. In allen Fällen stehen sie vor der Frage, ob sie dazu einen Beitrag leisten sollen oder nicht. Um dieses Problem behandeln zu können, benötigt man eine Theorie des individuellen Entscheidens, die abzuschätzen erlaubt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Akteur seine Ziele erreichen kann. Die weitreichende Pointe der Olson’schen Erörterung liegt darin, dass die in der soziologischen – besonders der Weberschen und Parsonsschen – Organisationstheorie, in der Marxschen Klassentheorie, in der Theorie der Gewerkschaften der politischen und wirtschaftlichen Verbände, aber auch in der Theorie des Konsum- und des Wahlverhaltens (vgl. Olson 1968: 65ff.; 1985) verbreitete Auffassung darüber, wie sich Personen, die an der Nutzung kollektiver Güter interessiert sind, diese verschaffen, »falsch« ist (Olson 1985: 22) beziehungsweise einen »Irrtum« darstellt (Olson 2002: 81ff.). Die »traditionelle Theorie der Gruppe« (Olson 1968: 15ff.) hatte angenommen, dass sich Akteure dann für die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes einsetzen, wenn sie sich darüber klar sind, dass jeder von ihnen ein Interesse daran hat, das betreffende Gut zu nutzen. Die Gemeinsamkeit ihres Interesses mag ganz verschiedene Wurzeln haben; in jedem Fall werden sie sich freiwillig auf die Beschaffung eines solchen Gutes einigen oder gar eine Organisation auf bauen, die darauf abgestellt ist, das betreffende Kollektivgut zu besorgen, wenn sie wissen, dass alle den kollektiven Vorteil nutzen wollen. Olson ist von dieser These nicht überzeugt und meint: »Obwohl […] alle Mitglieder der Gruppe ein gemeinsames Interesse haben, diesen kollektiven Vorteil zu erlangen, haben sie doch kein gemeinsames Interesse daran, die Kosten für die Beschaffung dieses Kollektivgutes zu tragen. Jeder würde es vorziehen, die anderen die gesamten Kosten tragen zu lassen, und würde normalerweise jeden erreichten Vorteil mitgenießen, gleichgültig, ob er einen Teil der Kosten getragen hat oder nicht« (Olson 1968: 20).
In zusätzlichen Argumentationsschritten verfeinert Olson die Problemlage. So führt er aus, dass das gemeinsame Interesse an einem Kollektivgut auch deshalb nicht ausreichend wirkt, weil die anfallenden Kosten höher sind als der individuell erwartbare Nutzenzuwachs. Weiterhin wird die individuelle Beteiligung dadurch erschwert, dass die Einzelnen oft-
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mals »realistisch« davon ausgehen müssen, dass ihr Beitrag letztlich für den Erfolg unerheblich ist. Außerdem kann die individuelle Bereitschaft durch die Erwartung beeinträchtigt werden, dass notwendige andere Gruppenmitglieder ebenfalls nichts dafür tun werden. Unter allen diesen Voraussetzungen ist es in den Augen jedes einzelnen Gruppenmitglieds nutzenstiftender, darauf zu warten, ob die Mitakteure sich dazu durchringen, das Kollektivgut zu besorgen, als in Vorlage zu gehen und den eigenen Leistungsbeitrag hernach abschreiben zu müssen, weil sich niemand dazu aufrafft, »den ersten Schritt« zu unterstützen. Angesichts der Tatsache, dass keinem die Nutzung eines (vorhandenen) Kollektivgutes vorenthalten werden kann, ist ein »Ziel rationaler Individuen in der Gesamtgruppe […] Trittbrettfahren, während andere zahlen« (Olson 2002: 89). Olson fragt sich in der Folge, unter welchen Bedingungen es den an Kollektivgütern interessierten Gruppen gleichwohl gelingen kann, sich solche Güter zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck untersucht er mehrere Szenarien. Indem er die (vorab implizit gelassene) These fallen lässt, dass die Ausprägung des Nutzungsinteresses aller Gruppenmitglieder gleich sei (und indem er die beiden nachfolgend diskutierten Faktoren vorerst unbeachtet lässt), kann Olson zunächst den Fall berücksichtigen, dass es durchaus Nutzungsanwärter geben kann, deren Interesse an der Bereitstellung des Kollektivguts so erheblich ist, dass sie bereit sind, alle damit verbundenen Kosten auch für den Fall zu begleichen, dass die übrigen erwartbarerweise Trittbrett fahren werden. Auf diese Weise kann es gering interessierten Gruppenmitgliedern gelingen, die Bereitstellungsmotivation stark interessierter Gruppenmitglieder »auszubeuten« (vgl. Olson 1991: 266ff.). Daneben identifiziert er zwei weitere Mengen von Faktoren, die auf die Erhöhung der Beschaffungswahrscheinlichkeit hinwirken: erstens die Größe der Interessentengruppe. Naheliegenderweise haben kleine Gruppen gegenüber Großgruppen einen Beschaffungsvorteil. Zunächst können die relativ wenigen Mitglieder kleiner Gruppierungen nicht davon ausgehen, dass ihr jeweiliger Beitrag vernachlässigungsfähig sei (vgl. Olson 2002: 80). Daher können sie sich unter der Bedingung, dass sie wissen, dass schon hinreichend viele Mitglieder ihrer Gruppe beitragsbereit sind, dazu entschließen, ihrerseits (freiwillig) bei der Beschaffung mitzuwirken. Es bleibt aber die Gefahr, dass kleine Gruppen am Ende nur ein suboptimales Versorgungsniveau erreichen können, solange diejenigen Mitglieder, welche die noch ausstehenden Beitragseingänge tätigen
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sollten, dies unterlassen, weil sie mit dem Nutzenaufkommen zufrieden sind, das allen zusammen von den bislang beitragswilligeren Mitgliedern zur Verfügung gestellt worden ist (vgl. Olson 1968: 26). Zum Zweiten wird das Versorgungsniveau mit Kollektivgütern in kleinen Gruppen auch deshalb höher sein, weil deren Mitglieder geringere Kosten haben, sich über die jeweiligen Beitragsbereitschaften in Kenntnis zu setzen und entsprechende Verhandlungsabsprachen zu treffen (vgl. Olson 2002: 81); das heißt, kleine Gruppen haben Kontakt-, Informations- und Transaktionskostenvorteile. Derartige Gruppen mit »sozial interaktiven Mitgliedern« (Olson 1985: 28), denen es gelingt, sich auf die Entrichtung der Beschaffungskosten zu einigen, nennt Olson »privilegierte Gruppen« (Olson 1968: 48f.). Diese können eine kostengünstige und dauerhafte Organisation auf bauen, um sich in die Lage zu versetzen, das Versorgungsniveau mit Kollektivgütern zu sichern. Diese Fähigkeit, sich zu organisieren, ist besonders in jenen Fällen wichtig, in denen die Beschaffung mit Kollektivgüter daran gebunden ist, wiederholte Ansprüche konkurrierender Gruppen abzuwehren beziehungsweise Gönner und Förderer durch beständige Beeinflussungsarbeit davon zu überzeugen, das eigene Versorgungsinteresse zu unterstützen (vgl. Olson 1985). Um sicherzustellen, dass die verteilten kollektiven Nutzenwerte die bestehende interne Nachfrage decken können, sind solche formalen Gruppen gut beraten, darauf zu sehen, dass die erstrebten Kollektivgüter »exklusiven« Charakter haben. Mithilfe eines solchen Kollektivgutmonopols kann eine Gruppe ihre Mitglieder wiederum dazu motivieren, sich auch weiterhin für die Beschaffung eines Kollektivgutes einzusetzen, was die Wahrscheinlichkeit seiner Erhaltung zusätzlich erhöht. Große Gruppen hingegen sind bei der Selbstversorgung mit Kollektivgütern hoffnungslos im Nachteil (vgl. Olson 2002: 83f.). Sie können das »Paradox« (vgl. Olson 1985: 20ff.) zwischen hoher kollektiver Nachfrage nach Kollektivgütern und der geringen Bereitschaft jedes Einzelnen, für sie zu zahlen, nicht überwinden. Sie finden sich aufgrund hoher Verhandlungs- und Interaktionskosten nicht zu »kollektivem Handeln« zusammen (vgl. Olson 2002: 86) und bleiben insoweit eine »latente Gruppe« (Olson 1968: 49). Im Extremfall gelingt es ihnen auch nicht, die Anbahnungskosten für eine formale Organisation aufzubringen, was selbst hochgradig benachteiligte Gruppierungen (wie Konsumenten, Steuerzahler oder ihrer Einflussrechte beraubte Staatsbürger) daran hindert, ihre Unterversorgung durch Kollektivhandeln zu lindern.
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Die zweite beschaffungszuträgliche Faktorengruppe betrifft die Fähigkeit der Kollektivgutinteressenten, sogenannte »selektive Anreize« (vgl. Olson 1968: 50 und 130f.) zu setzen. Diese ergänzen den Gewinn, den ein Gruppenmitglied aus dem Vorhandensein eines Kollektivgutes beziehen kann, durch die Möglichkeit, aus der Beteiligung an dessen Beschaffung einen privaten Nutzen zu erhalten, der nicht mit den Mitakteuren geteilt werden muss. Olson unterscheidet zwei Arten solcher »selektiven Anreize«: »Zwang« (oder sozialen Druck) und »äußere Anreize«. Dass sich Akteure (durch ihre Mitaspiranten, aber auch durch eine externe Kontrollinstanz) gezwungen sehen, einen Versorgungsbeitrag zu leisten, wird heißen, dass jede mangelhafte Beitragszahlung mit nutzenmindernden Strafen konfrontiert sein wird, was sie dazu bewegen mag, ihre Beitragszurückhaltung aufzugeben. Im Fall positiver Anreize wird die individuelle Beitragsbereitschaft dadurch belohnt, dass ein individuell und exklusiv verwertbarer Zusatznutzen winkt, der im Extremfall sogar höher sein kann, als der Nutzen aus dem Kollektivgut selbst. Allerdings stellt die Bereitstellung von negativen und positiven Anreizen selbst ein Kollektivgutproblem dar, weshalb Olson folgert, dass Großgruppen erst Kollektivgüter bereitstellen, wenn sie sich aus ganz anderen Gründen formal organisiert haben und im Rahmen einer solchen Organisation schon über die Fähigkeiten verfügen, Zwang auszuüben und individuelle Zusatzbelohnungen zu gewähren (vgl. ebenda: 130ff.). Demgegenüber gestaltet sich der Aufbau eines Überwachungs- und Sanktionssystems in kleinen Gruppen (aus den besprochenen Gründen) reibungsloser, was deren anfängliche Beschaffungsvorteile noch zusätzlich erhöht.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Olson hängt als Ökonom der Meinung an, dass jede wissenschaftliche Analyse menschlichen Handelns mit dem »Modellfall rationalen Verhaltens« (Olson 1968: 85) beginnen sollte. Dabei vertritt er im ersten Zugriff eine Rationalitätsauffassung, der zufolge die Akteure über eine wohlgeordnete Präferenzordnung verfügen, die ihnen eindeutig sagt, welche ihrer Ziele höherrangig sind als die übrigen, und die zugleich davon ausgeht, dass die Akteure die nutzenrelevanten Voraussetzungen und Folgen ihres Handelns vollständig überblicken. Rationalität besteht nachgerade
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in der individuellen Fähigkeit, auf der Basis geordneter Zielbewertungen und zutreffender erfolgsbezogener Erwartungen die »richtige« Handlung zu ergreifen. Dieses Rationalitätsverständnis ist formal in dem Sinne, dass über die Art und Weise der zugrundeliegenden Bewertungen keine »inhaltlichen« oder bewertenden Aussagen getroffen werden. Damit verzichtet Olson darauf, den Akteuren zu unterstellen, sie verfolgten ausschließlich ökonomische Ertragsziele. Vielmehr lässt er auch nicht-ökonomische Zielsetzungen zu, wie das Streben nach Prestige, gesellschaftlicher Achtung, Freundschaft (vgl. ebenda: 59) oder nach Zwangs- und Machtoptionen (McGuire/Olson 1996). Damit korrespondiert, dass Olson auf jede Gleichsetzung von ökonomischer Orientierung und egoistischer Handlungsmotivation verzichtet und stattdessen auch altruistische (vgl. Olson 1990: 230) oder moralische Handlungsgründe zulässt (vgl. Olson 1991a). Mindestbedingung jeder Handlungsrationalität bleibt allerdings, dass Entscheider ihre beliebigen Ziele »mit geeigneten und wirksamen Mitteln verfolgen« (Olson 1968: 64) und dass sie – welcher Motivation sie auch folgen mögen – dazu in der Lage sind festzustellen, wann die Nachteile ihrer Handlungen deren Vorteile zu übersteigen beginnen. Im Zustand der illusionären Einschätzung der eigenen Erfolgsbedingungen zu verharren, hält Olson für ein Anzeichen »geringer Rationalität« (ebenda: 158). Die Existenz von Gruppen, deren Mitglieder wissen, dass alle ihre Bemühungen um die Beschaffung eines bestimmten Kollektivgutes vergebens sein werden, die aber gleichwohl an ihren Zielsetzungen festhalten und sich in diesem Sinne für eine verlorene Sache aufopfern, steht in Widerspruch zu seinen Thesen. Im Übrigen schließt seine Auffassung nicht aus, dass Akteure auch emotional (und in diesem Sinne »irrational«) handeln können (vgl. ebenda: 12 und 107) – er hält es aber für unwahrscheinlich, dass sich auf diesem Wege die dauerhafte Bereitschaft einer Mehrzahl von Personen erklären lässt, sich für ein gemeinsam interessierendes Kollektivgut zu engagieren. Olson kann die angesprochenen Grenzfälle beiseite lassen, weil er kein Interesse daran hat, die komplexe Vielfalt menschlicher Beweggründe zu erfassen. Vielmehr dient seine Rationalitätsdefinition dazu, die Fälle zu bearbeiten, in denen an einem gemeinsamen Kollektivgut interessierte Akteure gerade wegen ihrer rationalen Überlegungen nicht dazu in der Lage sind, sich dazu durchzuringen, die notwendigen Schritte zu dessen Bereitstellung zu ergreifen. Jede Beitragsbeteiligung zu verweigern, ist angesichts ihrer
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Überlegungen die rationale Handlungsstrategie (vgl. Olson 1968: 20; 2002: 89).
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? In Olsons Modell beziehen sich die Überlegungen der Akteure zum einen auf ihren Wunsch, mit Kollektivgütern versorgt zu sein, und zum anderen auf den sozialen Kontext, in dem sie sich befinden. Dieser Kontext ist dadurch geprägt, dass alle Akteure wissen, dass sie ihr gemeinsames Ziel nur durch das Zusammenlegen ihrer jeweiligen Beiträge erreichen können, sie aber zugleich auch sicher sind, dass keiner ein Interesse daran hat, seinen Beitrag zu leisten. Solange ein jeder darüber hinaus weiß, dass der eigene Beitrag nicht dazu hinreicht, das von allen erwünschte Kollektivgut bereitzustellen, ist jeder gut beraten, seinen Beitrag zurückzuhalten. Das Zusammenfallen dieser Tatsachen hat die Unterversorgung mit Kollektivgütern zur zwangsläufigen Folge. Genau hierin liegt die »paradoxe Logik« der Situation (Olson 1985: 23). Die spieltheoretisch inspirierte Nachfolgediskussion hat gezeigt, dass sich die Akteure im typischen Dilemma eines Versicherungsspiels befinden (vgl. Chong 1991). Dessen Logik folgend möchte keiner der Kollektivgutnachfrager seine Mitakteure täuschen, etwa indem er seine wahren Präferenzen für das betreffende Kollektivgut verheimlicht (vgl. Olson 1990: 219; Pommerehne 1987) oder indem er eine für andere schädliche Zielsetzung verfolgt; vielmehr wollen in der Tat alle dasselbe (gleich hochbewertete) Ziel realisiert sehen. Aber sie wissen zugleich auch, dass die Beitragsverweigerung in der gegebenen Handlungssituation den einzig möglichen Selbstschutz darstellt, auf den sich jeder einzelne Akteur verlassen muss, solange jede einseitige Einzahlung – ohne Zusicherung der Beiträge aller anderen – ihn nur schädigen kann. Die Tragödie besteht für alle genau darin, dass keiner sich alleine, ohne vertrauensstiftende Absprachen und einklagbare Verträge, behelfen kann, und dass das gemeinsame Wissen um diese Hilflosigkeit (ohne zusätzliche Vorkehrungen) keinen Ausweg aus ihrer Zwangslage weist. Beides: die Annahme, dass rationale Akteure nach einem wohldefinierten Gemeingut streben, und die strategischen Restriktionen ihrer Handlungssituation, provozieren aus der Sicht jedes einzelnen Akteurs das Dilemma, dass keine seiner beiden verfügbaren Handlungsmöglichkeiten – den Beitrag zu entrichten oder zu verweigern –
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Erfolg haben wird. Wie sich Olson zu zeigen bemüht, besteht der mögliche Ausweg aber nicht darin, die Akteure ihrer Rationalität zu berauben oder sie zum »Trottel« ihrer (wie auch immer motivierten) Kooperationsbereitschaft zu machen, sondern nach den situativen Anreizbedingungen zu suchen, die es für jeden von ihnen zur rationalen Wahl werden lassen, den für das Kollektivgut erforderlichen Beitrag zu leisten. Die Bereitstellung des Kollektivgutes ergibt sich erst angesichts derart veränderter Kontextbedingungen.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Olson ist nicht an der verstehenden Entschlüsselung einzelner Handlungen interessiert oder (wie späterhin Hirschman) daran, deren Komplexität gerecht zu werden. Stattdessen konzentriert er sich darauf, das Auftreten von strukturellen Verteilungswirkungen oder »Makroeffekten« (vgl. McGuire 1998: 258) unter Rückgriff auf die rationalen Handlungsorientierungen einer Vielzahl von Akteuren zu erklären, die sich in einer genau spezifizierten Handlungssituation befinden. Olson strebt demnach die mikrofundierende Erklärung eines bestimmten strukturellen Verteilungseffektes an. Den üblichen Standards nomologisch-deduktiver Erklärungen folgend werden die zu erklärenden Struktureffekte aus Handlungsgesetzen und deren anwendungsrelevanten Situationsrestriktionen, mit denen die Gruppenmitglieder konfrontiert sind, logisch abgeleitet. Um diese Effekte kennzeichnen und ihre gesetzmäßige Genese bestimmen zu können, konstruiert Olson auf die jeweils spezifischen Interaktionssituationen zugeschnittene Beschreibungen in Form von »Modellen«, die durch die Variation ihrer Voraussetzungen weiterentwickelt werden können. Jede solche Weiterentwicklung wird durch die nachweisliche Falschheit spezifischer Modellannahmen erzwungen. Durch beständige Revisionsarbeit können sich dadurch Erkenntnisfortschritte an zwei Punkten ergeben. Zum einen kann der Forscher jene Situationsbedingungen (und damit deren Anreizwirkungen) verändern, denen er das Auftreten bestimmbarer Makro- oder Kollektiveffekte zuschreibt, und empirisch untersuchen, ob seine Zusatzhypothesen zutreffen (vgl. Olson 1983). Zum anderen kann Olson sich durchaus auch vorstellen, dass es sinnvoll sein kann, die handlungstheoretischen Prämissen durch Berücksichtigung weiterer
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Einflussgrößen umzugestalten. Allerdings erwärmt er sich – ganz im Geiste der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme (vgl. Lakatos 1970) – nur wenig für eine Revision der in der Ökonomik gängigen Kerntheorie des individuell-rationalen Handelns (vgl. Olson 1990). Aus diesem Grund hielt er vor allem Abstand von jedem Versuch, auch nicht-egoistisches Handeln als ein individuell rationales Handeln einzustufen; in seinen Augen führt eine solche Erweiterung der Rationaltheorie des Handelns nur dazu, dass man sie – woran ihm keinesfalls gelegen war – nicht länger widerlegen kann (vgl. Olson 1968: 158). Aus alledem kann man folgern, dass er eine erkenntnisrealistische Position bezieht, die wahrheitsförderliche Theorie- und Modellkritiken erlaubt. Zugleich verteidigt er die These, dass sich die Kritik- und Erklärungsverfahren in den unterschiedlichen Sozialwissenschaften nicht voneinander unterscheiden, weshalb er ein Forschungsprogramm vorantreiben möchte, das auf die Ökonomik wie auf die übrigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen einen »vereinheitlichenden Blick« (Olson 1990) zu werfen gestattet. Die weiterführenden Forschungen zur Logik des kollektiven Handelns (vgl. Maurer/Schmid 2010: Kap. 8) sind ihm darin durchweg gefolgt und haben gezeigt, dass diese in der Revolutionsforschung (vgl. Lichbach 1996), der Allmendeforschung (vgl. Hardin 1982; Ostrom 1999), in der Theorie der Kooperation (vgl. Taylor 1987) oder der sozialen Bewegung (vgl. Chong 1991) ebenso behandelt zu werden verdient wie bei Fragen der Organisation »korporativer Akteure« (vgl. Coleman 1990) oder in der Netzwerkforschung (vgl. Marwell/Oliver 1993).
Lernkontrollfragen • •
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Welche Funktion hat die Rationalitätstheorie im Rahmen des Olson’schen Forschungsprogramms? Wie kann man die von Olson zugelassenen Erweiterungen der Rationalitätsannahme durch altruistische, emotionale und moralische Komponenten des Handelns in die Handlungstheorie beziehungsweise Erklärung integrieren? Welche Möglichkeiten bietet Olsons Kernmodell der Versorgung mit öffentlichen Gütern, um weitere Probleme und Effekte des kollektiven Handelns zu entdecken?
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Literatur Primärliteratur McGuire, Martin C./Olson, Mancur (1996). The Economics of Autocracy and Majority Rule: The Invisible Hand and the Use of Force. In: Journal of Economic Literature, Jg. 34, S. 71-96. Olson, Mancur (1965). The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups. Cambridge, MA: Harvard University Press. Olson, Mancur (1968). Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppe. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Olson, Mancur (1982). The Rise and Decline of Nations. Economic Growth, Stagflation and Social Rigidities. New Haven und London: Yale University Press. Olson, Mancur (1983). Mature Social Science. In: International Studies Quarterly, Jg. 27, S. 29-37. Olson, Mancur (1985). Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Olson, Mancur (1986). A Theory of Social Movements, Social Classes, and Castes. In: Lindenberg, Siegwart/Coleman, James S./Nowak, Stephen (Hg.), Approaches to Social Theory, New York: Russell Sage Foundation, S. 317-337. Olson, Mancur (1991). The Role of Morals and Incentives in Society. In: Early, Joseph E. (Hg.), Individuality and Cooperative Action, Washington, D. C.: Georgetown University Press, S. 117-127. Olson, Mancur (1990). Toward a Unified View of Economic and the Other Social Sciences. In: Alt, James E./Shepsle, Kenneth A. (Hg.), Perspectives on Positive Political Economy, Cambridge: Cambridge University Press, S. 212-231. Olson, Mancur (1992). Umfassende Ökonomie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Olson, Mancur (2000). Power and Prosperity. Outgrowing Communist and Capitalist Dictatorship. New York: Basic Books. Olson, Mancur (2002). Macht und Wohlstand. Kommunistischen und kapitalistischen Diktaturen entwachsen. Tübingen: Mohr Siebeck.
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Sekundärliteratur Becker, Gary S. (1982). Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen: J.C.B. Mohr. Chong, Dennis (1991). Collective Action and the Civil Rights Movement. Chicago/London: The University of Chicago Press. Coleman, James S. (1990). Foundations of Social Theory. Cambridge, MA/London: The Belknap Press. Hardin, Russell (1982). Collective Action. Baltimore: The Johns Hopkins Press. Hechter, Michael (1987). The Principles of Group Solidarity. Berkeley et al.: The University of California Press. Lakatos, Imre (1970). Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes. In: ders./Musgrave, Alan (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge: Cambridge University Press, S. 91-195. Lichbach, Mark (1996). The Cooperator’s Dilemma. Ann Arbor: The University of Michigan Press. Marwell, Gerald/Oliver, Pamela (1993). The Critical Mass in Collective Action. A Micro-Social Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Maurer, Andrea/Schmid, Michael (2010). Erklärende Soziologie. Grundlagen, Vertreter und Anwendungsfelder eines soziologischen Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS. McGuire, Martin C. (1998). Mancur Olson, Jr. 1932-1998. Personal Recollections. In: Eastern Economic Journal, Jg. 24, S. 253-263. Ostrom, Elinor (1999). Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Tübingen: Mohr Siebeck. Pommerehne, Werner W. (1987). Präferenzen für öffentliche Güter. Ansätze zu ihrer Erfassung. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Taylor, Michael (1987). The Possibility of Cooperation. Cambridge et al.: Cambridge University Press.
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5.2 J AMES S. C OLEMAN : H ERRSCHAFT, N ORMEN UND VERTRAUEN James Samuel Coleman zählt zu den wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Mit ihm ist die Durchsetzung des Rational-Choice-Ansatzes in den USA und auch in Europa verbunden. Coleman hat nicht nur mit Gary S. Becker – dem Nobelpreisträger für Ökonomie – an der Universität von Chicago gemeinsam ein Forschungsseminar organisiert, er hat vielmehr das »ökonomische Erklärungsprogramm« zu einem soziologischen Forschungsprogramm ausgearbeitet und damit klassische Theoreme der Soziologie radikal infrage gestellt. Coleman ist heute bekannt für seine rationale Erklärung von Herrschaft, Normen und Vertrauen. Er hat zudem das »alte Thema« von Karl Marx, Werner Sombart, Max Weber und Mancur Olson aufgegriffen und gezeigt, wie sich ausgehend von der Annahme eines zielgerichteten individuellen Handelns der Auf bau kollektiver Handlungsformen – wie revolutionäre Bewegungen, Sozialkapital oder auch Organisationen – erklären lässt.
Zur Person Am 12. Mai 1926 wird James S. Coleman in Bedford (Indiana) geboren. Er besucht eine öffentliche Highschool technischer Ausrichtung für Jungen und erwirbt 1949 einen Bachelor of Science an der Purdue University. Es folgt der Doctor of Philosophy in Soziologie 1955 an der Columbia University in New York (vgl. Clark 1996: 381). Während seiner Zeit als Forschungsassistent (Research Associate) im Amt für angewandte Sozialforschung an der Columbia University (1953-1955) entstehen empirische Arbeiten zum Bildungs- und Schulsystem der USA. Von 1956 bis 1959 ist Coleman als Assistant Professor an der University of Chicago, von 1959 bis 1973 als Associate Professor an der Johns Hopkins University in Baltimore und von 1973 bis zu seinem Tod am 25. März 1995 als Professor am Institut für Soziologie der University of Chicago tätig. Coleman erhält noch zu Lebzeiten viele Auszeichnungen, von 1991 bis 1992 ist er Präsident der American Sociological Association (ASA), und mehr als einmal steht er im Mittelpunkt der soziologischen Theoriedebatte. Seine »Vision for Sociology« (Coleman 1992b; 1996) nimmt ihren Ausgangspunkt in dem einzigartigen »Mikroklima« der New Yorker Columbia University der 1950er Jahre. Diese Zeit ist durch einen umfassenden
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Wandel in den Wissenschaften und durch eine lebhafte politische und soziale Protestkultur gekennzeichnet. Während Coleman den politischen Bewegungen und Aktionen der Studenten eher ablehnend gegenübersteht, nimmt er die wissenschaftlichen Umbrüche sehr genau wahr und trittentschlossen für einen Wandel in der Soziologie ein. So schließt er sich auf der einen Seite der Kritik an den die amerikanische Soziologie lange Zeit prägenden »community studies« der »Chicago School« an, die soziale Systeme wie Städte rein als Abbild sozialer Strukturen beschreiben, ohne den grundlegenden Funktionsmechanismus dahinter zu benennen. Auf der anderen Seite faszinieren Coleman die neu aufkommenden Methoden der empirischen Sozialforschung – die vor allem von Paul Lazarsfeld an der Columbia Universität vertreten werden – und möchte er die Kluft zwischen Theorie und Empirie innerhalb der Soziologie schließen (Coleman 1996: 343). Dass Coleman mit diesem Dilemma so produktiv umgehen kann, verdankt sich nicht zuletzt seinen beiden so unterschiedlichen Lehrern an der Columbia University: Robert K. Merton und Paul Lazarsfeld. Merton ist für Coleman die sozialtheoretische Inspirationsquelle, Lazarsfeld der Mentor der quantitativen empirischen Sozialforschung. Ein erster Versuch, die Kluft zwischen deskriptiven empirischen Studien und reiner Theoriearbeit zu überwinden, ist die frühe Studie zu Highschools in den USA (»Adolescent Society«, Coleman 1961). In dieser Studie beschreibt Coleman mithilfe quantitativer Methoden das Sozialsystem von elf Highschools als ein Positions- und Belohnungssystem, in dessen Kontext die Studenten ihr Ziel: die Anerkennung relevanter Bezugspersonen, zu realisieren suchen, indem sie ihre Zeit auf verschiedene Aktivitäten aufteilen (vgl. Coleman 1961; 1996: 348f.). Coleman hat noch an einer Vielzahl empirischer Untersuchungen zum Bildungssystem der USA mitgewirkt und dabei aus dem jeweiligen institutionellen Kontext auf typische Handlungen von Schülern, Lehrern und Eltern geschlossen, die das Systemverhalten jeweils bestimmen (vgl. auch Coleman 1991: 175ff.). Das Anliegen, soziales Systemverhalten weder nur auf der Systemebene noch durch individuelle Merkmale, wie sie aus Befragungsdaten folgen, zu erfassen (Coleman 1992b; 1996), hat Coleman in seinem Magnum Opus, den »Foundations of Social Theory« (Coleman 1990, deutsch 1991, 1992a und 1994), theoretisch bearbeitet. Im Rahmen des »Methodologischen Individualismus« hat er den Vorschlag ausgearbeitet, soziale Systeme ausgehend vom individuellen Handeln in sozialen Kontexten zu erklären (vgl. ausführlicher Maurer 2011). Um die dafür notwendigen »Bewegungen« von der Makro- zur
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Mikroebene und von dort wieder zur Makroebene vornehmen zu können, setzt Coleman auf eine Handlungstheorie, die – wie bei Max Weber, Talcott Parsons und in der Ökonomie – von der allgemeinen Annahme eines zielgerichteten Handelns der Einzelnen ausgeht (»rational, purposive actions«). Darüber hinaus will er formale Regeln und Modelle (Spieltheorie oder Simulationen) sowie auch soziologische Institutionentheorien einsetzen, um das mitunter komplexe Zusammenspiel der erklärten Einzelhandlungen in Systemeigenschaften beziehungsweise Systemverhalten zu übersetzen. Die in den »Foundations of Social Theory« (im Folgenden kurz »Foundations«) ausgearbeitete Sozialtheorie auf Basis der Theorie rationaler Wahl (vgl. für eine zusammenfassende Darstellung Favell 1993) ist am Soziologie-Department der University of Chicago entstanden und noch kurz vor Colemans Tod veröffentlich worden. Die darin ausgeführte mehrstufige Erklärungsweise wurde wegen ihrer bildlichen Darstellung in Deutschland als Colemansche »Badewanne« bekannt. Ausgehend von den Prinzipien der analytischen Theoriebildung und des »Methodologischen Individualismus« als erkenntnistheoretischer Grundposition (Kap. 1) beschreibt Coleman soziale Systeme als Austauschsysteme, bestehend aus Akteuren, die Kontrolle über und Interesse an einer spezifischen Ressource: sozialen Handlungsrechten, haben. Davon ausgehend analysiert er zum Beispiel Herrschaftssysteme als Ergebnis eines Tausches, einer einseitigen Übertragung beziehungsweise einer Zusammenlegung von Handlungsrechten durch die Akteure. Die aus den individuell rationalen Handlungen des Tauschens, Übertragens oder Zusammenlegens jeweils hervorgehenden Herrschaftssysteme zeichnen sich durch je spezifische Systemeigenschaften aus. So sind die aus einem Tausch hervorgehenden Herrschaftssysteme wie private Wirtschaftsbetriebe vor allem durch Kontrollfragen der Unternehmer geprägt, die aus einem gemeinsamen Zusammenlegen durch Trittbrettfahren und Verfassungsfragen. Ein besonderer Schwerpunkt in den »Foundations« ist daher die Erklärung und Analyse von Organisationen (»collective actors«). Und nicht zufällig münden Colemans Systemanalysen in reflexive Betrachtungen über diesen neuen Akteurstyp der »Organisation« und dessen Interaktionsbeziehungen mit den natürlichen Personen in modernen Gesellschaften und die damit einhergehenden Aufgaben der Sozialwissenschaften. Im letzten Teil der »Foundations« (Coleman 1990, deutsch 1994: Kap. 25ff.) findet sich eine formal-mathematische Darstellung der Systemanalysen, die somit als Anspruch Colemans gelesen werden können, die Soziologie auch mathematisch zu betreiben.
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Zwischen den ersten empirischen Studien und der resümierenden großen Schrift hat Coleman an verschiedenen »Baustellen« gearbeitet, mit deren Hilfe soziale Systeme über das Handeln der Individuen erschlossen werden können. Ein erster Meilenstein dazu ist die »Introduction to Mathematical Sociology« (Coleman 1964), später die Beschäftigung mit Spieltheorie und Simulationen (vgl. dazu die vorzügliche Aufsatzsammlung Coleman 1986). Eine besondere Anwendung davon ist die Erklärung kollektiver Entscheidungen und kollektiven Handelns, das zu überraschendem Systemverhalten führt, wie im Falle von (Börsen-)Paniken, Moden, charismatischer Herrschaft und so weiter. Neben seinen Arbeiten zur Theoriebildung (die formalen Werkzeuge eingeschlossen) und den frühen Studien zum Bildungssystem ist Coleman heute vor allem für seine organisationssoziologischen Arbeiten bekannt, mit denen er sehr früh die Ausbreitung »kollektiver Akteure« und die neue Macht von Organisationen in modernen Gesellschaften thematisiert hat (Coleman 1974, deutsch 1979).
Fragestellungen und Erkenntnisse Im Colemanschen Werk ist eine Leitfrage auszumachen: die nach der Erklärung des Verhaltens sozialer Handlungssysteme. »Ein zentrales Problem der Sozialwissenschaft besteht darin, zu erklären, wie ein soziales System funktioniert.« (Coleman 1991: 1) Um das Verhalten sozialer Systeme umfassend erklären zu können, geht Coleman eine Ebene tiefer und erfasst das individuelle Handeln und dessen Zusammenwirken als Motor sozialer Systeme. Im kritischen Bezug auf die Arbeiten von Thomas Hobbes und Max Weber (ebenda: 7ff.) will Coleman das Verhalten sozialer Systeme aus dem Handeln relevanter Einheiten des Systems: dem Handeln menschlicher Akteure im Falle sozialer Systeme, folgern. Makro2
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Abb. 5.2-1: Badewanne (nach Coleman 1990: 8ff.; 1991: 10ff.)
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Handlungstheoretisch fundierte Erklärungen sozialer Sachverhalte sind mehrstufig und nutzen als »Fundament« ein möglichst allgemeines Handlungsprinzip, das angibt, was das individuelle Handeln bewegt (Pfeil 2). Davon angeleitet werden ein Makro-Mikro-Übergang (Pfeil 1) und eine Mikro-Makro-Transformation (Pfeil 3) vorgenommen, sodass Struktur- und Akteursebene miteinander verbunden werden und letztlich das Verhalten verschiedenster sozialer Systeme aus dem Handeln der Akteure angesichts unterschiedlicher sozialer Konstellationen gefolgert wird. Der Vorteil einer solchen Erklärungsweise ist zum einen, dass durch das Handlungsprinzip verschiedene Disziplinen verbunden (Coleman 1991: 21f.) und zum anderen auch von den Akteuren ungeplante, sogenannte emergente Effekte erklärt werden können. Dahinter stehen sozial bedeutsame Phänomene wie Paniken, Oligarchiebildung in demokratischen Organisationen oder in revolutionären Bewegungen (ebenda: 5). »The […] task of sociology is the development of a theory that will move from the micro level of action to the macro level of norms, social values, status distribution and social conflict.« (Coleman 1996: 348)
Das erklärende Interesse gilt sozialen Handlungssystemen. Der analytische Ausgangspunkt ist eine Handlungstheorie beziehungsweise ein Mikrofundament. Coleman greift dafür auf die von ihm als relativ einfache, aber präzise bezeichnete Theorie der rationalen Handlungswahl (Coleman 1991: 16ff.) zurück. Zwar teilt Coleman viele der Einwände gegen die Theorie rationalen Handelns, die sich darauf beziehen, dass sie von gegebenen und stabilen Zielen ausgehe, nur zukünftige Handlungen erkläre, die einfache Nutzenmaximierung mitunter nicht greife und Anomalien empirisch zu beobachten seien (vgl. Coleman 1991: 19ff.; 1992b: 119). Dennoch »wählt« er die Theorie der rationalen Wahl vor allem deshalb, weil sie einerseits die meta-theoretische Grundlage für eine rationale Gestaltung sozialer Kontexte ist und weil mit ihrer Hilfe das zielgerichtete individuelle Handeln in sozialen Kontexten eindeutig zu bestimmen ist. Das Erklärungsmodell der Badewanne findet zwar sein Fundament in einer Handlungstheorie; seine soziologische Perspektive erhält es indes vor allem durch die verwendeten Systembeschreibungen (Makro 1) und die dabei erfassten Interdependenzen zwischen den Akteuren und deren Handlungen (Makro-Mikro- und Mikro-Makro-Übergänge). Dazu entwickelt Coleman das Konzept sozialer Handlungsrechte. Handlungsrechte
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sind Ausdruck des in einem sozialen Kontext aus den Interessen beziehungsweise Zielen und den dazu verfügbaren Ausstattungen der Einzelnen hervorgehenden Handlungsrahmens, das heißt der sozialen Definition möglicher Handlungen (Coleman 1991: 39ff.). Handlungssysteme haben Eigenschaften, die nicht direkt aus den Eigenschaften der Individuen folgen, und werden über Handlungsrechte und deren Verteilung analysiert. Zwar entstehen Handlungssysteme aus den Handlungen der Akteure: Nutzen, Tausch, Übertragen oder Zusammenlegen; ihre Charakteristika und ihre Funktionsweise gehen aber darüber hinaus. So kann der Wert eines Handlungsrechts nur innerhalb eines konkreten Handlungssystems bestimmt werden sowie die positiven und negativen Effekte eines Handlungssystems jeweils nur aus der entsprechenden Rechteverteilung. Das unterscheidet Coleman von Marktanalysen, welche den Tausch materieller Güter durch autonome Akteure analysieren. Coleman hat demgegenüber den Tausch und das Zusammenlegen sozialer Güter – Handlungsrechte – durch sozial und zueinander positionierte Akteure im Blick. Zentral für die Sozialtheorie Colemans ist die Charakterisierung sozialer Kontexte als Anlass für den Tausch oder das Zusammenlegen von Handlungsrechten. So leitet er aus unterschiedlichen, wenngleich komplementären Zielen einen Tausch von Handlungsrechten ab, in dessen Folge ein »Prinzipal« Rechte an den Handlungen von »Agenten« gegen Entgelt erwirbt. Solcherart entstandene Handlungssysteme können als disjunkte Herrschaft verstanden werden. Im Fall, dass die Akteure – was in der klassischen Sozialtheorie und Soziologie schon immer thematisiert wird – gemeinsame Ziele haben, die sie gemeinsam realisieren können und meist auch müssen, sagt das Modell das Zusammenlegen oder »Poolen« von Handlungsrechten voraus. In der Folge bietet es sich an, zentrale Herrschaftsinstanzen einzusetzen und mit der stellvertretenden Ausübung der Handlungsrechte zu betrauen. Eine solcherart entstandene konjunkte Herrschaft, wie sie etwa der Bereitstellung von innerer Sicherheit, äußerem Schutz, dem Bau von U-Bahnen, Brücken, Parkbänken und so weiter dient, unterliegt grundsätzlich dem Anreiz zum Trittbrettfahren. Soziale Normen indes folgen daraus, dass Handlungsrechte aufgrund eines sozialen Konsenses nicht bei den Einzelnen liegen, sondern »sozial« gehalten werden. Vertrauen beschreibt Handlungen unter Risiko, das heißt ein Handeln, das in Erwartung bestimmter Handlungen vollzogen wird, ohne dass ganz sicher ist, wie sich andere Beteiligte verhalten. Eine Sonderform des Umgangs mit Handlungsrechten ist das einseitige
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Übertragen von Handlungsrechten auf andere, weil damit die Erwartung verbunden ist, dass diese »besser wissen« was zu tun ist. Beispiel hierfür wären eine charismatische Herrschaft oder Paniken. Kommt es weder zum Tausch noch zum einseitigen Übertragen oder Zusammenlegen von Handlungsrechten, dann befindet sich ein Handlungssystem im Gleichgewicht, das heißt, alle verfügen über die Handlungsrechte, an denen sie interessiert sind – für die Sozialwissenschaften der erfreuliche Zustand, in dem sie nicht als Analyst und Ratgeber gefragt sind. Soziale Handlungssysteme entstehen demnach zwar durch das zielgerichtete Handeln der Akteure, weisen aber eigene Makroeigenschaften auf. Eine Eigenschaft von Handlungssystemen definiert sich durch die Macht, die Akteure darin haben und die sich aus deren Verfügung über Handlungsrechte ergibt, an denen andere interessiert sind. In Liebesbeziehungen ist daher diejenige/derjenige »mächtiger«, der weniger liebt – und umgekehrt. Eine weitere Eigenschaft von Handlungssystemen ist der Wert, den Handlungsrechte darin haben und der wiederum aus dem Interesse der Akteure folgt (Coleman 1992b: 121). Handlungssysteme sind – im Unterschied zu Personen – über die Verteilung von Macht und von Werten auf die Akteure zu charakterisieren. Zur Illustration beschreibt Coleman die Situation in einem Zugabteil, in dem vier Personen sitzen und sich darüber einigen müssen, ob darin geraucht werden darf oder nicht. Aus den Zielen und Ausstattungen der einzelnen Insassen lässt sich ableiten, ob ein Handlungsrecht entsteht, wie viel es in diesem Kontext »wert« ist, wer wie viel Macht hat und welche Verteilung sich ergeben wird. Raucher können sich schnell auf das Recht zu rauchen einigen und haben an den Handlungen von Nichtrauchern kein besonderes Interesse. Tritt hingegen in ein Abteil mit drei Rauchern ein Nichtraucher ein, dann wird das Handlungsrecht »rauchen zu dürfen« problematisiert und der weitere Verlauf hängt davon ab, welches Interesse am Nichtrauchen und welche Macht der Nichtraucher mitbringt beziehungsweise wie stark das Interesse und die Macht der Raucher am Recht zu rauchen ist.
Anwendungsfelder und Erkenntnisse Das zentrale Anwendungsfeld seiner Sozialtheorie ist für Coleman die Erklärung und Analyse des neuen Akteurstyps »Organisation« in modernen Gesellschaften (Coleman 1982, deutsch 1986). Nach Coleman erklärt sich das massive Auftreten »kollektiver Akteure«, die über eigene Res-
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sourcen verfügen und eigene Interessen verfolgen, aus der Zunahme an Situationen, in denen formal freie Akteure ihre Ziele »organisiert« besser realisieren können, da eine zentrale Koordination vorteilhaft wird. Davon ausgehend erklärt er im Rahmen des klassischen »Vertragsmodells« die Entstehung kollektiver Akteure wie desNationalstaats, der Parteien, Interessenverbände, Gewerkschaften und so weiter aus dem Zusammenlegen von Handlungsrechten, um gemeinsame Anliegen umzusetzen. Allerdings wendet Coleman gegen die klassischen Erklärungen – vor allem die von Thomas Hobbes und Max Weber (Coleman 1991: 217ff.) – kritisch ein, dass gemeinsame Ziele allein nicht hinreichen, um das individuelle Übertragen auf zentrale Instanzen zu erklären, weil es sich dabei meist um »öffentliche Güter« handelt, die aus individueller Sicht einem massiven Anreiz zum Trittbrettfahren ausgesetzt sind (vgl. die Darstellung des Problems »kollektiver Güter« bei Olson; hier Kap. 5.1). Die Einsetzung einer »mächtigen Instanz«, die notwendige Steuern und Beiträge eintreibt, versteht sich nicht von selbst, sondern es bedarf einer Erklärung, wie auch das Trittbrettfahrerproblem auf der nächsten Ebene überwunden werden kann. Weil Sanktionen meist geringere Anforderungen stellen, vor allem weil dazu weniger Akteure nötig sind, sieht Coleman durchaus Möglichkeiten, das Kooperationsdilemma zu überwinden (ebenda: 350ff.). Vor allem aber macht Coleman auf einen blinden Fleck der klassischen Lösung des »Leviathan« bei Hobbes oder des Bürokratiemodells bei Weber aufmerksam: Dort wird die stellvertretende Ausübung beziehungsweise Nutzung der übertragenen Handlungsrechte durch Manager oder repräsentative Herrscher wie Politiker als problemfrei dargestellt. Das hat lange dazu geführt, dass Herrschaftsverbände als rationale Mechanismen kollektiven Handelns zur Erreichung beliebiger gemeinsamer Ziele gedacht wurden. Wird hingegen auch vom eigeninteressierten Handeln der Repräsentanten und Stäbe ausgegangen, dann sind für Herrschaftssysteme die ungeahnten Möglichkeiten, auf Kosten der Mitglieder Macht auszubauen – weil ja Herrschaftsmittel übertragen worden sind – typisch. Die in der Realität auffälligen Probleme des Machtmissbrauchs, der unausweichlichen Oligarchiebildung, der ungebührlichen Managergehälter, des Auf baus von Klientelsystemen und so weiter werden erst in diesem Rahmen erklärbar und auch »gestaltbar« (vgl. Maurer 2004: Kap. 4). Der grundsätzliche Ratschlag Colemans für solche – von ihm als konjunkt bezeichneten – Organisationen ist, die Interessen der eingesetzten repräsentativen Herrscher an die der Mitglieder anzugleichen, wozu Entlohnungs-
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oder Gratifikationssysteme ebenso hilfreich sein können wie Normen und Kultur (vgl. Coleman 1991: Kap. 10). Zum anderen führen all die Situationen, in denen die Akteure an Handlungsrechten anderer Akteure interessiert sind, sie also unterschiedliche und komplementäre Interessen haben, zu dezentralen Tauschhandlungen, bei denen ein Akteur Handlungsrechte gegen Entschädigung an andere abgibt. Dafür typisch sind Unternehmen, in denen Arbeitnehmer Handlungsrechte gegen Lohn abtreten, sowie auch Schulen und Universitäten, in denen Schüler Wissen gegen Zeit tauschen. Auf diesem Wege entstehen disjunkte Herrschaftssysteme beziehungsweise Organisationen, in denen die spezifische Beziehung zwischen Prinzipalen (Lehrer, Arbeitgeber) und Agenten (Schüler, Arbeitnehmer) sogenannte Agency-Probleme aufwirft, die darin begründet sind, dass die Prinzipale zwar bestimmte Handlungen von Arbeitnehmern oder Schülern kontrollieren dürfen, aber diese dennoch Träger der Handlung bleiben. In komplexen Situationen wirft dieser Umstand umfassende Kontrollprobleme auf: Die Agentenkönnten ihre Fähigkeiten und Absichten falsch darstellen, sie könnten heimlich handeln, sie könnten täuschen und so weiter. Auch hier empfiehlt Coleman grundsätzlich, die Organisationsstrukturen so anzulegen, dass sich die Interessen angleichen – etwa durch Prämienlohnsysteme in Unternehmen oder durch Mitbestimmung in Schulen –, aber auch den Einsatz von direkten Kontrollen oder von sozialen Normen. Coleman betont, dass es erstens zu den Hauptaufgaben einer Sozialtheorie gehört, die selbst auf der Annahme rationalen Handelns gründet, paradoxe Effekte mit Bezug auf weitergehende Situationsbeschreibungen als Ergebnis des Handelns rationaler Akteure zu erklären und damit zweitens auch Vorschläge für die Gestaltung von institutionellen Settings zu unterbreiten, die eine möglichst vorteilhafte und daher stabile Verteilung von Handlungsrechten bewirkt. Dazu gehört in erster Linie, Verfahren und Strukturen zu benennen, die sowohl in konjunkten als auch in disjunkten Organisationen »Kontrollprobleme« beheben helfen.
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Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Mit Bezug auf Weber beschreibt Coleman das individuelle Handeln als »zielgerichtet« in dem Sinne, dass die Akteure selbst – ebenso wie Außenstehende – ihre Ziele verstandesmäßig reflektieren und die Handlung als ein Mittel der Zielerreichung betrachten. Um den Anforderungen mehrstufiger Erklärungen gerecht zu werden und vor allem um starke und empirisch prüf bare Thesen zu gewinnen, schlägt Coleman vor, die Annahme der »Zielgerichtetheit« durch zusätzliche Annahmen – in Anlehnung an die ökonomische Theorie und das Handlungsmodell des homo oeconomicus – zu spezifizieren und vom Maximieren des privaten Eigennutzes auszugehen. »Dabei geht man davon aus, daß verschiedene Handlungen (oder in einigen Fällen verschiedene Waren) für den Akteur von bestimmtem Nutzen sind und verbindet dies mit einem Handlungsprinzip, wonach der Akteur diejenige Handlung auswählt, die den Nutzen maximiert« (Coleman 1991: 17).
Natürlich können verschiedene Handlungstypen verwendet werden, um verschiedene Arten sozialer Organisationen zu beschreiben und zu erklären, und natürlich auch Handlungstheorien, die keine teleologische Funktion verwenden – allerdings ist deren Ableitungskraft auch schwächer (vgl. ausführlich Maurer 2011).
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Die Rationalität des Handelns wird in der Fähigkeit gesehen, das Handeln so auszurichten, dass individuelle Ziele optimal erreicht werden. Welche Handlung dies für welchen Akteur ist, hängt aber immer vom realen sozialen Kontext ab, in dem das Handeln stattfindet. Da Coleman mit einer möglichst einfachen Handlungsbeschreibung arbeiten will, betrachtet er nur, wie der soziale Kontext das Handeln beschränkt oder ermöglicht; er blendet damit aus, dass der soziale Kontext auch die Ziele beeinflussen kann (vgl. dazu die noch folgenden Ausführungen zu Albert O. Hirschman und Peter Hedström, Kap. 5.3 und 5.4). Als zentrale Situationsgrö-
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ße betrachtet er soziale Handlungsrechte und deren jeweilige Verteilung. Welche Handlungen die als zielgerichtet beschriebenen Akteure ergreifen: Tausch, einseitige Übertragung oder Zusammenlegen von Handlungsrechten oder Nichtstun, hängt entscheidend von der jeweiligen Situation ab. Daher ist die eigentliche »Kunst« der Theorie- und Modellbildung auch die Erfassung solcher Situationsaspekte und -konstellationen, die soziologische Perspektiven der Art eröffnen, dass sie etwa ein Problem sozialer Kooperation oder auch Konflikte beschreiben und die dafür möglichen sozialen Institutionen und Mechanismen kennzeichnen. »Da die Sozialwissenschaften zum Ziel haben, die soziale Organisation zu verstehen, die sich von individuellen Handlungen herleiten läßt, und da das Verstehen einer individuellen Handlung normalerweise heißt, die Gründe der Handlung zu erkennen, muß das theoretische Ziel der Sozialwissenschaft darin liegen, die Handlung auf eine Weise zu betrachten, daß sie von der Sichtweise des Akteurs aus gesehen rational erscheint. Daß vieles üblicherweise als nicht rational oder irrational bezeichnet wird, liegt, anders ausgedrückt, einfach daran, weil die Betrachter nicht die Sichtweise des Akteurs entdeckt haben, von der aus die Handlung rational ist.« (Coleman 1991: 22)
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Colemans erkenntnistheoretische Position findet sich prägnant zu Beginn der »Foundations« formuliert: »Ich vertrete also in diesem Buch die Position, daß der Erfolg einer Sozialtheorie, die sich auf Rationalität gründet, darin liegt, den Bereich sozialer Handlungen, den die Theorie nicht erklären kann, Schritt für Schritt zu verkleinern. Man kann die Theorie auch so betrachten, daß sie für eine Menge abstrakter rational handelnder Akteure konstruiert ist. Dann erhebt sich die empirische Frage, ob eine derartige Theorie das Funktionieren eines tatsächlichen sozialen Systems mit realen Personen widerspiegeln kann« (Coleman 1991: 22).
Coleman ist Vertreter einer analytischen Theoriebildung, welche zwar die Realität zum Ausgangspunkt hat, aber durch Abstraktion relevante Faktoren auf der Handlungs- und der Strukturebene benennen will, um
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so kausale Zusammenhänge im sozialen Leben aufzudecken und die gewonnenen Thesen auch empirisch zu prüfen. Er gesteht durchaus zu, dass sowohl die Handlungsannahmen als auch die Situationsbeschreibungen nie völlig der Realität entsprechen (Coleman 1996: 347), gleichwohl nimmt er für sich in Anspruch, wichtige soziale Sachverhalte erklären und seine Thesen auch empirisch überprüfen und damit verbessern zu können. Dabei vertritt Coleman den Anspruch, die Rationalität und die Wirkmächtigkeit der Akteure zum Ausgangspunkt für soziologische Analysen zu nehmen, welche rationale Gestaltungsvorschläge unterbreiten. Das schließt wiederum an den anfänglich formulierten Anspruch einer praktisch werdenden Soziologie an, welche durch die Verbindung von sozialtheoretischen Überlegungen mit empirischen Daten theoretisch informierte Gestaltungsvorschläge zur vorteilhaften, rationalen Gestaltung von Institutionen, sozialen Systemen und Gesellschaften vorlegen kann (Coleman 1996: 348ff.; 1990: Kap. 23f.).
Lernkontrollfragen • •
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Was sind nach Coleman die drei Elemente einer soziologischen Erklärung? Warum empfiehlt Coleman die Theorie der rationalen Wahl als Fundament einer soziologischen Erklärung und Analyse sozialer Systeme? Wie erklärt Coleman die Entstehung von Herrschaftssystemen beziehungsweise formalen Organisationen in modernen Gesellschaften?
Literatur Primärliteratur Coleman, James S. (1961). The Adolescent Society. New York: The Free Press of Glencoe. Coleman, James S. (1964). Introduction to Mathematical Sociology. New York: The Free Press of Glencoe. Coleman, James S. (1974). Power and the Structure of Society. New York: W. W. Norton. Coleman, James S. (1979). Macht und Gesellschaftsstruktur. Tübingen: Mohr.
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Coleman, James S. (1986). Individual Interests and Collective Action. Selected Essays. Cambridge: Cambridge University Press. Coleman, James S. (1990). Foundations of Social Theory. Cambridge, MA/London: The Belknap Press. Coleman, James S. (1991). Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen und Handlungssysteme. München: Oldenbourg. Coleman, James S. (1992a). Grundlagen der Sozialtheorie. Band 2: Körperschaften und die moderne Gesellschaft. München: Oldenbourg. Coleman, James S. (1992b). The Vision of Foundations of Social Theory. In: Analyse & Kritik, Jg. 14, H. 2, S. 117-128. Coleman, James S. (1994). Grundlagen der Sozialtheorie. Band 3: Die Mathematik der sozialen Handlung. München: Oldenbourg Coleman, James S. (1996). A Vision for Sociology. In: Clark, Jon (Hg.), James S. Coleman, London/Washington, D. C.: Falmer Press, S. 343349.
Sekundärliteratur Analyse & Kritik (1992), Jg. 14, H. 2. Analyse & Kritik (1993), Jg. 15, H. 1. Braun, Norman (2007). James S. Coleman. In: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens, 5., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, München: Beck, S. 216-239. Clark, John (Hg.) (1996). James S. Coleman. London/Washington, D. C.: Falmer Press. Favell, Adrian (1993). James Coleman: Social Theorist and Moral Philosopher? In: American Journal of Sociology, Jg. 99, H. 3, S. 590-613. Marshden, Peter V. (2005). The Sociology of James S. Coleman. In: Annual Review of Sociology, Jg. 31, S. 1-34. Maurer, Andrea (2004). Herrschaftssoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a.M./New York: Campus. Maurer, Andrea (2011). ›Akteure‹ in soziologischen Erklärungen. In: Lüdtke, Niko/Matsuzaki, Hironori (Hg.), Individuen – Subjekte – Akteure, Wiesbaden: VS, S. 45-66. Müller, Hans-Peter/Schmid, Michael (Hg.) (1998). Norm, Herrschaft und Vertrauen. Beiträge zu James S. Colemans Grundlagen der Sozialtheorie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
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5.3 A LBERT O. H IRSCHMAN : L EIDENSCHAFTEN UND I NTERESSEN Alfred O. Hirschmans professionelles Interesse ist in erster Linie der Frage gewidmet, unter welchen Bedingungen sich Gesellschaften politisch wie ökonomisch entwickeln können. Er glaubt aber weder an die Unvermeidlichkeit einer solchen Entwicklung noch an deren Richtungsgebundenheit. Vielmehr sieht er das Schicksal der Gesellschaftsevolution aufs Engste gebunden an das Entscheidungshandeln von teils sozial vernetzten, teils vereinzelten Akteuren, an ihre schwankenden Hoffnungen und Ängste, an ihre vielfach unerfüllbaren Wünsche und an ihre Unfähigkeit, sich die Folgen ihrer Leidenschaften auszumalen. Hirschmans Bedeutung für die Entwicklung der soziologischen Handlungstheorie liegt zum einen darin, sie in ihrer Einsicht zu stützen, dass allzu einfache Handlungsannahmen der realen Komplexität zumal kollektiver Entscheidungsprozesse nicht gerecht werden können. Und zum anderen kann sich die Soziologie von ihm ermuntern lassen, soziale Beziehungen als interaktionsgestützte Interdependenzstrukturen zu betrachten und deren Reproduktions- und Wandlungsmechanismen zu erforschen.
Zur Person Hirschman wird am 7. April 1915 als Sohn eines jüdischen Chirurgen in Berlin geboren. Seine schulische Ausbildung erfährt er am dortigen Französischen Gymnasium, was ihm 1933 erlaubt, nach Paris zu gehen und dort Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Sein weiterer Lebensweg führt ihn über London nach Triest, wo er 1938 promoviert. Noch vor seiner Promotion kämpft er aufseiten der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, tritt nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den Dienst der französischen Armee und flieht nach dem Zusammenbruch Frankreichs nach Marseille, wo er mithilft, jüdischen Flüchtlingen einen Weg in die Vereinigten Staaten zu ebnen. 1941 flieht er selbst dorthin, heiratet alsbald und schreibt bis 1942 als Research Fellow in Berkeley sein erstes Buch. Hernach dient er in der amerikanischen Armee, die ihn nach 1945 in seinem Heimatland als Übersetzer einsetzt. Von 1946 an ist er als Mitarbeiter der amerikanischen Zentralbank an der Entwicklung des Marshallplans beteiligt und geht 1952 im Auftrag der Weltbank, aber als unabhängiger Wirtschaftsberater, nach Kolumbien. 1958 erhält er eine
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Professur an der Columbia University in New York und bringt sein vielfach übersetztes Buch »The Strategy of Economic Development« heraus (Hirschman 1958, deutsch 1967a). Weitere akademische Rufe führen ihn unter anderem an die Harvard und die Princeton University. An Letzterer wirkt er seit 1985 als Emeritus (vgl. zur Autobiografie Hirschman 1989: 64ff.; 1996: 115ff.; 1997: 43ff.). Hirschman verstarb im Alter von 97 Jahren im Dezember 2012 in Princeton (New Jersey). In allen Phasen seines Werdegangs hat Hirschman wichtige Monografien vorgelegt, von denen die meisten auch ins Deutsche übersetzt wurden. So hat sein Buch »Die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung« (1967a) ebenso Beachtung gefunden wie »Abwanderung und Widerspruch« (1974), »Leidenschaften und Interessen« (1980), »Engagement und Enttäuschung« (1984) und »Denken gegen die Zukunft« (1995).
Fragestellungen und Erkenntnisse Hirschman etabliert sich in der ersten Phase seiner Karriere als Entwicklungsökonom (vgl. Hirschman 1963; 1967c; 1967b; 1971; 1981). Allerdings fällt ihm bei seinen Studien auf, dass die in seiner Disziplin üblichen Versuche, die ökonomische Dynamik durch die überkommenen Planungs- und Steuerungstechniken anzustoßen, nicht nur an lokalen Sonderinteressen scheitern können. Ausschlaggebend sind hier vor allem die Unzulänglichkeiten des Entscheidungshandelns der entwicklungsstrategisch wichtigen Akteure, die andererseits bisweilen nur deshalb erfolgreich agieren, weil sie Glück haben (Hirschman 1967c). Damit stößt er auf das – in der Handlungstheorie seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder behandelte (vgl. Knight 1921) – Problem der Unsicherheit beziehungsweise Fehlerhaftigkeit des individuellen Entscheidungshandelns und der damit verbundenen Unabsehbarkeit und Widersetzlichkeit seiner Folgen. Seine Bearbeitung dieser Problemstellung veranlasst ihn zu einer Revision der ökonomischen Rationaltheorie des menschlichen Handelns und zu einer Untersuchung kollektiver Entscheidungssituationen, die erheblich über den begrenzten Fall hinausgreift, den wir bei Olson kennengelernt haben (vgl. Hirschman 1970a, deutsch 1974; 1977, deutsch 1980; 1982, deutsch 1984; 1991, deutsch 1995). Diese doppelte Erweiterung der Perspektive lässt sich anhand seines klassischen Werks zur Dynamik von »Abwanderung und Widerspruch« (Hirschman 1974) dokumentieren. Im Gegensatz zur Hauptströmung
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des sozialwissenschaftlich-funktionalistischen Denkens setzt Hirschman nicht voraus, dass Akteuren – vor allem in arbeitsteilig organisierten Tauschgesellschaften – der Auf bau geordneter Beziehungsverhältnisse gelingt. Ausgangspunkt seiner theoriesystematisierenden Überlegungen ist deshalb die Frage, auf welche »Wiederherstellungsmechanismen« (ebenda: 3) Akteure hoffen können, wenn die erwarteten Beiträge oder Leistungen ihrer Mitakteure ausbleiben oder unzureichend sind. Diese unerfreuliche Situation stellt die enttäuschten Akteure in allen Fällen vor eine gleichbleibende Entscheidung: Zum einen können sie sich dazu entschließen, ihr Glück anderswo zu suchen, indem sie – wie auf »reinen« Konkurrenzmärkten möglich – zu anderen Leistungsanbietern »abwandern« (und damit die Exit-Option wählen). Jeder der Akteure kann diese Handlungsstrategie im Alleingang oder zusammen mit anderen enttäuschten Akteuren wählen. Wandert ein Akteur ohne Rücksprache mit seinen Mitakteuren ab, so sind seine Kosten, sich mit diesen abzustimmen, gering, und seine Eigenmächtigkeit muss die Entscheidungssituation der Zurückgebliebenen nicht notwendig beeinträchtigen. Das Verhalten einer Gruppe oder eines Handlungssystems wird durch Abwanderung solange nicht beeinflusst, solange der »Exit« Einzelner den Gesamtnutzen nicht beeinträchtigt. Wenden sich hingegen viele enttäuschte Akteure zugleich ab, so kann dies dazu führen, dass weder das ehemalige Leistungsprofil noch ein Mindestprofil wiederhergestellt werden können und damit das ganze Projekt in Gefahr gerät. Wenn die Akteure es hingegen mit einem monopolistischen Leistungsanbieter zu tun haben, auf dessen – wenn auch verschlechterte – Zuwendungen sie nicht verzichten können, stellt Abwanderung keinen begehbaren Weg dar. Stattdessen werden sie sich dazu entschließen müssen, gegen den Leistungsabfall »Widerspruch« zu erheben und zu »protestieren«. In diesem Sinne die Stimme zu erheben (und damit die VoiceOption zu wählen), wird kostenträchtig sein, solange der Leistungsgeber die Macht hat, die einzelnen Protestanten infolge ihrer Wortmeldung von jedem weiteren Leistungsangebot auszuschließen (oder in anderer Weise zu benachteiligen und zu bedrohen). Proteste werden daher in der Regel nur dann zu einer Leistungsverbesserung führen, wenn viele – im Extremfall: alle – sich ihnen anschließen. Ihr Erfolg ist allerdings an die Lösung des von Olson beschriebenen Problems der Organisation des kollektiven Handelns gebunden.
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Wie Hirschman beobachtet, besteht zwischen Abwanderung und Widerspruch eine »komplementäre Beziehung« (Hirschman 1974: 28): Jede Abwanderung wird den Widerspruch der Zurückbleibenden behindern, und Widerspruch ist (in der Regel) nur glaubwürdig, solange Abwanderung unterbleibt. Zusätzlich verzögern und behindern Gefühle der »Loyalität« Abwanderung und Widerspruch gleichermaßen (vgl. ebenda: 65ff.). Da sowohl »Exit« als auch »Voice« zudem mit unabwendbaren Kosten verbunden sind, stellt jede Entscheidung zwischen ihnen »eine Wahl zwischen zwei Übeln« dar (ebenda: 47). Eine der möglichen Folgen dieser Zwiespältigkeit besteht darin, dass die Akteure zwischen Loyalität und Abwanderung zu schwanken beginnen. Hirschman untersucht eine entsprechende Dynamik anhand des Wechsels zwischen dem Engagement von Staatsbürgern für ihre öffentlichen Belange und ihrem Rückzug in das private Erwerbsleben (vgl. Hirschman 1984). Letzteres ist wahrscheinlich, wenn sie ihre Erwartungen, das öffentliche Geschick in eine erwünschte Richtung lenken zu können, enttäuscht sehen. Umgekehrt kann jeder derartige Rückzug die Eigenmächtigkeit der Repräsentanten des öffentlichen Lebens steigern, die für die Bereitstellung gemeinwohlorientierter »Dienstleistungen« (ebenda: 46ff.) verantwortlich sind. Wenn deren Unzuverlässigkeit zu einer zunehmenden Verschlechterung der Versorgungslage mit öffentlichen Gütern führt, so kann dies das Engagement der unterversorgten Bürger reaktivieren und sie auf die Bühne der »öffentlichen Aufgaben« (ebenda: 136) zurückführen. Dort stoßen dann unterschiedliche »Engagements« in einem ideologischen Wettstreit aufeinander: Die einen setzen sich – vielfach in Verkennung ihrer Erfolgsaussichten (vgl. Hirschman 1967c) – für eine neue Gesellschaftsordnung ein, während sich ihre Gegner für die Bewahrung der überkommenen Verhältnisse aussprechen und den Befürwortern der neuen Ordnung das unvermeidliche Scheitern ihrer Bemühungen ankündigen (vgl. Hirschman 1991). Im Zentrum der verschiedenen Abhandlungen, die Hirschman seit den 1970er Jahren vorgelegt hat, steht demnach der Versuch, zu klären, wie es zielgebundenen, wenn auch regelmäßig im Widerstreit liegenden und nur unzureichend informierten Akteuren gelingen kann, eine haltbare Ordnung ihrer Sozialbeziehungen zu schaffen und mit welchen unweigerlichen Schwierigkeiten sie infolge ihrer begrenzten Möglichkeiten und Fähigkeiten dabei konfrontiert sind.
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Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Hirschman nimmt an, dass die Akteure zweckgerichtet handeln. Er leugnet auch keineswegs die Relevanz des vor allem in der Ökonomik verbreiteten »Modell[s] eines eigennützigen Individuums, das nach Berechnung aller absehbaren Kosten und Nutzen rational zwischen alternativen Handlungsweisen wählt« und dabei die Interessen anderer nicht näher beachtet (Hirschman 1989: 133). Er bestreitet aber, dass jedes Handeln unter Verweis auf seine »Ichbezogenheit« und »rationale Berechenbarkeit« (ebenda) erklärt werden kann und in allen Lebenslagen durch die eigeninteressierte Maximierung des – materiell bemessenen – Nutzens motiviert ist (ebenda: 111). Zur Behebung dieser Fehleinschätzung fordert er deshalb dazu auf, die Rationaltheorie des Handelns komplexer anzulegen (Hirschman 1996: 107; 1997: 11) und in mehreren Richtungen umzugestalten. Zunächst weist er ganz im Sinne Max Webers auf die historisch kontingente beziehungsweise die »kulturelle Bedingtheit« (Hirschman 1989: 227) der Vorstellung hin, wonach ein Handeln sich auf den privat nutzbaren Erwerb von Geld oder Gütern konzentrieren darf (vgl. Hirschman 1980). Damit ist zum einen gesagt, dass die rational berechneten Handlungsinteressen der Akteure bisweilen auch der »Unbezähmbarkeit menschlicher Leidenschaften« (ebenda: 24) beziehungsweise rational unbeherrschten »Emotionen« (vgl. Hirschman 1989: 98) Platz machen können. Zum anderen mahnt Hirschman damit aber auch an, dass Leidenschaften und Interessen der Akteure sich nicht notwendig auf »ökonomisch« zu bezeichnende Ziele richten müssen. Er meint damit nicht nur das »Streben nach Ehre« (Hirschman 1980: 19), sondern auch jedes »altruistische« (vgl. Hirschman 1989: 147) oder »moralisch« begründete Handeln (vgl. ebenda: 243), das an den Bedürfnissen und Erwartungen der jeweiligen Mitakteure orientiert ist und mit dessen Hilfe sich Akteure glaubhaft als einen zuverlässigen Kooperationspartner darstellen können (vgl. Hirschman 1982: 87). Für unrealistisch stuft Hirschman zudem die Neigung ökonomischer Modelle ein, von gegebenen beziehungsweise unveränderbaren Vorlieben und Präferenzen auszugehen (vgl. Hirschman 1989: 226ff.). Und als Mangel empfindet er auch die Unfähigkeit ökonomischer Modelle, zu erkennen, dass Akteure Ziele vielfach auch ohne Beachtung ihrer Ertragslage verfolgen (vgl. Hirschman 1984: 94; 1989: 232).
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Akteure können demnach sowohl ökonomische wie nicht-ökonomische Ziele verfolgen als auch eigen- oder fremdorientiert handeln, weshalb die Rationaltheorie zumindest soweit um- und auszuformulieren ist, dass sie den »Wechsel« zwischen »instrumentellen« und »nicht-instrumentellen« Handlungsorientierungen (Hirschman 1989: 236) berücksichtigen und – damit eingeschlossen – die unleugbare Fähigkeit der Akteure ernst nehmen kann, ihre Präferenzen an sich wandelnde Situationserfordernisse anzupassen (Hirschman 1982: 17ff.). Diese Umgestaltung der Rationaltheorie muss sich im Weiteren auch um eine genauere Fassung des schon Adam Smith und David Hume geläufigen Arguments bemühen, wonach die Akteure die Voraussetzungen wie die Folgen ihres Handelns nur selten hinreichend überblicken (vgl. Hirschman 1996: 59). So wird Hirschman nicht müde, auf Wahrnehmungsverzerrungen (vgl. Hirschman 1989: 32), »illusorische Erwartungen« (Hirschman 1980: 139) und haltlose Hoffnungen (vgl. Hirschman 1989: 72ff.) beziehungsweise auf Lernblockaden und die Vergesslichkeit der Akteure hinzuweisen (vgl. Hirschman 1980: 141f.). Demgegenüber gilt es zu beachten, dass das überängstliche Ausmalen von Erfolgshindernissen durch die Akteure ganz unberechtigt sein mag (vgl. Hirschman 1992: 27ff.), wie umgekehrt das Hegen überzogener Hoffnungen die Akteure gelegentlich auch dazu veranlasst, Schwierigkeiten zu übersehen, deren Beachtung sie ansonsten völlig entmutigt hätte (Hirschman 1967c). Auch sollte die erweiterte Handlungstheorie im Auge behalten, dass unbedachte Handlungsfolgen vielfach »durchaus willkommen sind« (Hirschman 1989: 267). Hirschman fordert die Bildung und Nutzung eines »umfassenderen Begriff[s] der menschlichen Natur« (Hirschman 1980: 116), der zugleich die Vielzahl und die sozial-kulturelle Definition von Zielen und Zwecken der Akteure als auch deren grundsätzliche Wahrnehmungs- und Kalkulationsgrenzen aufnimmt. Anders als die in der ökonomischen Theorie verwendeten Annahmen einer vollständigen Rationalität individuellen Handelns möchte Hirschman der »unglaublichen Komplexität« menschlichen Tuns gerecht werden (Hirschman 1989: 242).
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Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Hirschman argumentiert als Ökonom. Das hindert ihn aber nicht daran, Abstand von der ebenso dogmatischen wie »imperialen« These seiner orthodoxen Berufsgenossen zu halten, man müsse alle Handlungssituationen als Märkte modellieren, auf denen Akteure, die über vorweg feststehende Präferenzen verfügen, ihren individuellen Nutzen maximieren, ohne die Wünsche und Erwartungen ihrer Mitakteure zu beachten (vgl. Becker 1982: 3). Infolge der Zurückweisung dieser These kann Hirschman seinen theoretischen Blick auf eine breite Palette ganz heterogener »sozialer« (Hirschman 1989: 91) bzw. »gesellschaftlicher Mechanismen« (ebenda: 73) richten, mit deren Hilfe wankelmütige, verunsicherte und schlecht informierte, aber wechselseitig voneinander abhängige Akteure versuchen müssen, ihre daraus resultierenden Abstimmungsprobleme zu lösen (vgl. Maurer 2006). Treffen derart charakterisierbare Akteure aufeinander, so entstehen Handlungssituationen, die sich stets durch zwei Restriktionen auszeichnen. Da alle Akteure dazu gezwungen sind, historisch höchst zufällig erworbene Ziele zu verfolgen, stehen sie regelmäßig vor dem Problem, festzustellen, ob ihre Zielsetzungen untereinander verträglich sind; sie müssen demnach das Problem ihrer Zielinterdependenz lösen. Die zweite Restriktion folgt aus der Tatsache, dass die Akteure nur höchst bedingt vorhersagen können, zu welchen Handlungsstrategien ihre Mitakteure greifen werden, weshalb sie vor dem Problem der Erwartungsinterdependenz stehen. Diese beiden Abhängigkeitsdimensionen kombinierend unterscheidet Hirschman »Nullsummenspiele« (vgl. Hirschman 1989: 86), in denen die Akteure zu verdeckten Aktionen greifen müssen, weil sie ihre jeweiligen Zielsetzungen nur auf Kosten des Handlungserfolgs ihrer Mitakteure realisieren können, von Situationen, in denen sie die Aufteilung der im Spiel befindlichen Gewinne und Kosten verhandeln und einmal gefundene Kompromisse gegebenenfalls revidieren können. Im ersten Fall spricht Hirschman von »kategorischen Konflikten des Entweder-Oder«, den zweiten bezeichnet er als »Mehr-oder-WenigerKonflikte« (Hirschman 1996: 254). Ein anderer Handlungskontext – wie ihn Olson (1968) beschrieben hat – ist mit dem Problem der Beschaffung öffentlicher Güter behaftet (vgl. Hirschman 1984: 85ff.), und wieder andere Handlungssituationen charakterisiert Hirschman dadurch, dass sich in ihnen die Ziele der Akteure zwar problemfrei ergänzen, sie aber vor die
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Frage stellen, auf welche Weise sie sich ihr ganz unstrittiges Wohlwollen wechselseitig glaubhaft signalisieren können (vgl. Hirschman 1997: 11ff.). Mit dieser Liste legt Hirschman zwar keine erschöpfende Systematik von Interdependenzsituationen vor. Es ist aber deutlich, dass es sich lohnt, die – in seinen Augen – unbestimmte Vielzahl sozialer Beziehungsmechanismen zu analysieren, die sich anhand der Kontexteigenschaften, die den Handlungserfolg der sich wechselseitig beeinflussenden Akteure bestimmen, unterscheiden lassen. Dabei sollten die Handelnden wissen, dass jede einmal etablierte Lösung unerwünscht und damit suboptimal sein kann beziehungsweise die Bereitstellungen von Ressourcen erfordert, die notorisch knapp sind.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Hirschman hat keine systematisierende erkenntnistheoretische Abhandlung vorgelegt. Er hat aber immer wieder und eindringlich empfohlen, die engen und unrealistischen Annahmen der Theorie rationaler Wahl durch »komplexer[e] psychologische Prozesse« (Hirschman 1989: 227) zu erweitern und auf eine allzu sparsame Modellbildung zu verzichten (Hirschman 1970b: 336; 1989: 243). Jedes Forschungsprogramm, das der Anweisung Hirschmans folgt, kann erfolgreich verfahren, solange es zum einen als falsch erkannte theoretische Prämissen umbaut oder auch eliminiert und parallel dazu auch die Situationsmodelle, in denen die Mechanismen der Handlungsabstimmung behandelt werden, immer dann revidiert, wenn deren (empirische) Überprüfung zeigt, dass sie an »Grenzen der Gültigkeit und der Anwendbarkeit« gestoßen sind (vgl. Hirschman 1996: 155). Um derartig ausgerichtete Verbesserungen der Handlungstheorie und deren Anwendungsmodellen voranzutreiben, scheut sich Hirschman auch nicht, eigene Modellvorschläge zu kritisieren und zu verwerfen (vgl. ebenda: 19ff.) und dabei die überkommenen »Grenzen« zwischen verschiedenartigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu »überschreiten« (Hirschman 1981: 73; 1997: 73; 1998). Hirschman hält an dieser These von der grenzüberschreitenden Selbstkorrektur nicht zuletzt deshalb fest, weil er – wie Homans – der Leitidee folgen möchte, dass allen sozialwissenschaftlichen Situationsmodellierungen eine »vereinheitlichende
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Sichtweise« (Hirschman 1974: v) zugrunde liegt und sie nur eine verbindliche Theoriebasis kennen: die jederzeit erweiter- und korrigierbare Theorie des intentionalen individuellen Handels (vgl. Maurer 2006: 83). Damit eröffnet Hirschman einer zunehmend realitätsgerechteren »Theorieanstrengung« (Pies 2006: 6) den Weg, auf dem ihm vor allem jene folgen können, denen an einer disziplinär und thematisch vielfältigen, in jedem Fall aber handlungstheoretisch fundierten Analyse von Interdependenzprozessen (und deren Verteilungswirkungen) gelegen ist.
Lernkontrollfragen • •
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Weshalb hält Hirschman die Rationaltheorie des Handelns für unzureichend? Wie kann man die Erweiterungen der Rationalitätsannahme durch altruistische, emotionale und moralische Komponenten des Handelns in diese integrieren? Welche zusätzlichen Prozessmechanismen können mithilfe der erweiterten Handlungstheorie erklärt werden?
Literatur Primärliteratur Hirschman, Albert O. (1958). The Strategy of Economic Development. New Haven, CT: Yale University Press. Hirschman, Albert O. (1963). Journeys Toward Progress. Studies of Economic Policy-making in Latin America. New York: Twentieth Century Fund. Hirschman, Albert O. (1967a). Die Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung. Frankfurt a.M.: G. Fischer Verlag. Hirschman, Albert O. (1967b). Development Projects Observed. Washington, D. C.: Brookings Institution. Hirschman, Albert O. (1967c). The Principle of the Hidden Hand. In: National Affairs, Jg. 6, S. 10-23. Hirschman, Albert O. (1970a). Exit, Voice and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations and States. Cambridge, MA: Harvard University Press. Hirschman, Albert O. (1970b). The Search for Paradigms as a Hindrance to Understanding. In: World Politics, Jg. 22, S. 329-343.
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Hirschman, Albert O. (1971). A Bias for Hope. Essays on Development and Latin America. New Haven, CT: Yale University Press. Hirschman, Albert O. (1974). Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmen, Organisationen und Staaten. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Hirschman, Albert O. (1977). The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton, NJ: Princeton University Press. Hirschman, Albert O. (1980). Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hirschman, Albert O. (1981). Essays in Trespassing: Economics to Politics and Beyond. Cambridge, MA/New York: Cambridge University Press. Hirschman, Albert O. (1982). Shifting Involvements. Private Interest and Public Action. Princeton, NJ: Princeton University Press. Hirschman, Albert O. (1984). Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hirschman, Albert O. (1989). Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen. München: Hanser. Hirschman, Albert O. (1991). The Rhetoric of Reaction. Perversity, Futility, Jeopardy. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press. Hirschman, Albert O. (1992). Rival Views of Market Society and Other Recent Essays. Cambridge, MA: Harvard University Press. Hirschman, Albert O. (1995). Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag. Hirschman, Albert O. (1996). Selbstbefragung und Erkenntnis. München: Hanser. Hirschman, Albert O. (1997). Tischgemeinschaft. Zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Wien: Passagen Verlag. Hirschman, Albert O. (1998). Crossing Boundaries. New York: Zone Books.
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Sekundärliteratur Becker, Gary S. (1982). Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Handelns. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Knight, Frank H. (1921). Risk, Uncertainty and Profit. Boston/New York: Houghton Mufflin Company. Maurer, Andrea (2006). Abwanderung und Widerspruch: Grenzüberschreitungen zwischen Soziologie und Ökonomie? In: Pies, Ingo/ Leschke, Martin (Hg.), Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 67-85. Olson, Mancur (1968). Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppe. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Pies, Ingo (2006). Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik – Der Beitrag von Albert Hirschman. In: ders./Leschke, Martin (Hg.), Albert Hirschmans grenzüberschreitende Ökonomik, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 1-27.
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5.4 P E TER H EDSTRÖM : B EDÜRFNISSE UND G ELEGENHEITEN Die soziologische Theoriebildung und -entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist wesentlich durch die Frage bestimmt, wie Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Handeln und Struktur so miteinander verbunden werden können, dass sich soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken beider Ebenen erklären lassen. In diesem Kontext hat sich Peter Hedström vernehmbar zu Wort gemeldet: Zum ersten Mal mit dem Vorschlag, »soziale Mechanismen« (Hedström/Swedberg 1998) zu rekonstruieren, mit deren Hilfe typische Prozessverläufe erklärt und auf verschiedene soziale Handlungsfelder übertragen werden können. Zum zweiten Mal mit den »Prinzipien der analytischen Soziologie« (Hedström 2005, deutsch 2008), wonach durch Abstraktion, Modellbildung und empirische Überprüfung soziologisches Wissen zur Erklärung und Gestaltung der sozialen Welt vorzulegen ist. Hedström vertritt jene Traditionslinie innerhalb der Soziologie, die kausale Erklärungen sozialer Sachverhalte anstrebt beziehungsweise kausale Zusammenhänge in der realen sozialen Welt erhellen will. Hedström folgt insofern einer erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (vgl. Kap. 2), als er theoretisches Wissen durch empirisches Prüfen zu verbessern sucht und mit möglichst realistischen Annahmen auch auf der Handlungsebene arbeiten will (Hedström 2005). Nachdem Hedström in seinen frühen Arbeiten Erklärungen auf Basis der Theorie der rationalen Wahl (»rational choice theory«) vorgelegt hat, verwendet er in jüngerer Zeit die aus der Psychologie kommende DBO-Theorie – die Handeln als Folge von »desires« (Bedürfnisse, Zwecke), »beliefs« (Vorstellungen über die Welt) und »opportunities« (Gelegenheiten oder Handlungsalternativen) erklärt – und strebt verstärkt die Rekonstruktion »individueller Mechanismen« an.
Zur Person Peter Hedström wird am 14. Juli 1955 in Norsjö (Schweden) geboren und erwirbt 1983 den Master und 1987 den Doctor of Philosophy in Soziologie an der Harvard University. In den Jahren 1983 bis 1987 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Forschungseinrichtungen (Harvard, Stockholm) und von 1987 bis 1989 als Assistant Professor (University of Chicago) beschäftigt. Er hat von 1989 bis 2003 eine Pro-
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fessur für Soziologie an der Universität Stockholm inne und ist Official Fellow am renommierten Nuffield College in Oxford (UK). Seit 2011 ist er Direktor am »Institute for Future Studies« in Stockholm. Hedström war Präsident der »Swedish Sociological Association« (1998-2000) und Redaktionsmitglied beziehungsweise Herausgeber verschiedener internationaler Zeitschriften und ist Mitbegründer des internationalen Netzwerkes »Analytical Sociology«.
Fragestellungen und Erkenntnisse Hedström schließt im weiteren Sinne an die Ideen der Schottischen Moralphilosophie und den »Methodologischen Individualismus« an (vgl. Kap. 2). Ausgehend von der allgemeinen Annahme einer grundsätzlichen Vernunftfähigkeit des Menschen werden soziale Phänomene aus dem Tun der Menschen und realen sozialen Gegebenheiten gefolgert. »Analytisch« ist die Soziologie mit Bezug auf die »analytische Philosophie« zu betreiben, indem (1) die komplexe soziale Welt gedanklich in Einzelteile zerlegt, (2) sodann einzelne Aspekte als relevant hervorgehoben und andere als weniger bedeutsam ausgeblendet und (3) daraus kausale Zusammenhänge erschlossen und als Modelle formuliert werden. Den Begriff »Analytische Soziologie« führt Hedström mit Bezug auf den »Analytischen Realismus« (Hedström 2005: 3) ein, demzufolge einzelne Elemente eines komplexen Geschehens »analytisch« aus der zu beschreibenden realen Welt herauskristallisiert werden können, ohne fiktive Begriffe verwenden zu müssen. Das Festhalten an dem Anspruch, die Soziologie als »erklärende Wissenschaft« anzulegen und kausale Zusammenhänge in der sozialen Welt aufzudecken, bedeutet nicht, dass sich Hedström den klassischen Erklärungsweisen anschließt, welche soziale Strukturen entweder rein funktionalistisch als Folge bestimmter Systemerfordernisse bestimmen beziehungsweise ausschließlich auf Eigenschaften der Individuen zurückführen. Auch setzt sich Hedström kritisch mit dem bekannten Hempel-Oppenheim-Schema (auch »deduktiv-nomologisches Erklärungsmodell«) und der dort empfohlenen einfachen Ableitung sozialer Sachverhalte aus einem allgemeinen Gesetz und dessen Anwendungsbedingungen auseinander (vgl. ausführlicher Maurer/Schmid 2010: Kap. 2; Hedström/Swedberg 1998). Als Schüler von Peter M. Blau, Talcott Parsons und Robert K. Merton in Harvard und inspiriert durch den Ansatz
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von James S. Coleman strebt Hedström mehrstufige Erklärungen an (vgl. Hedström 2005: 6; Hedström/Swedberg 1998), die Struktur- und Handlungsebene analytisch unterscheiden, um sie über »Mechanismen« für konkrete Erklärungszwecke wieder miteinander zu verbinden. Die »analytische Soziologie« Hedströms umfasst auch RationalChoice-Erklärungen, wie sie heute disziplinübergreifend betrieben werden. Grundlage dafür ist die allgemeine Annahme eines an sich absichtsgeleiteten menschlichen Handelns, die um zusätzliche Annahmen hinsichtlich des Rationalitätsgrades ergänzt werden kann (Hedström 2005: 17ff.). Hedström (2007; Hedström/Stern 2008) sieht sich in der Tradition eines weit gefassten Rational-Choice-Ansatzes, der auf Max Weber (vgl. Kap. 3.2) ebenso Bezug nehmen kann wie auf George C. Homans (vgl. Kap. 4.2), Mancur Olson (vgl. Kap. 5.1), James S. Coleman (vgl. Kap. 5.2) und Vertreter der ökonomischen Theorie wie Albert O. Hirschman (Kap. 5.3) (vgl. Hedström 2007; Hedström/Stern 2008). Weitere Bezugspersonen für die Ausarbeitung der »analytischen Soziologie« sind für Hedström Jon Elster, Raymond Boudon oder Thomas Schelling (Hedström 2005: 6). »Es handelt sich um einen Ansatz, der präzise, abstrakte, realistische und handlungsbasierte Erklärungen für verschiedenartige soziologische Phänomene sucht.« (Hedström 2008: 11)
In zahlreichen Aufsätzen hat Hedström die Ergebnisse empirischer Studien oder Simulationen (die Entstehung der schwedischen Gewerkschaften, soziale Prozesse in Organisationen, Arbeitslosigkeitsraten in Stadtteilen) mit grundsätzlichen Überlegungen zur Arbeitsweise der analytischen Soziologie (vgl. Hedström et al. 1998; Hedström 2009) resümiert. Eine (vorläufige) Zusammenfassung seiner Überlegungen zur »analytischen Soziologie« und die dazugehörige Rekonstruktion individueller und sozialer Mechanismen findet sich in »Dissecting the Social« (Hedström 2005, deutsch 2008). Mit »Dissecting the Social« hat Hedström einen wichtigen Beitrag zu handlungstheoretisch fundierten Erklärungen in der Soziologie vorgelegt. In der kurzen Einführung werden die methodologischen Prinzipien der »analytischen Soziologie« dargestellt: (1) Erklärung, (2) Sezieren und Abstraktion, (3) Präzision und Klarheit sowie (4) Handlung als Ausgangspunkt. Es findet sich daran anschließend die Begründung für mechanis-
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menbasierte Erklärungen, um die Fehler einfacher, logisch-deduktiver Erklärungen sowie auch rein statistischer Korrelationen, die Zusammenhänge zwischen Variablen auf der Strukturebene benennen, ohne sie zu erklären, zu vermeiden. Hedström legt Erklärungen vielmehr als Verbindung von individuellen und sozialen Mechanismen an, wobei individuelle Mechanismen an die Stelle einer allgemeinen Handlungstheorie mit einem festen Handlungsprinzip treten (vgl. auch Hedström et al. 1998). Damit hebt sich Hedström von anderen struktur individualistischen Erklärungen ab, insbesondere von einem eng ausgelegten Rational-ChoiceAnsatz, wie ihn etwa Coleman und Olson vertreten. Die Beschreibung der Mikroebene des individuellen Handelns (vgl. Hedström 2005: Kap. 3) basiert auf logisch möglichen und empirisch evidenten Konstellationen aus Bedürfnissen, Überzeugungen und Opportunitäten. Realistischer ist diese Beschreibung, weil sie die soziale Konstitution von Bedürfnissen und Überzeugungen beziehungsweise das Wechselspiel von Wirklichkeit und subjektiven Größen erfasst. Die Rational-Choice-Theorie ist nach Hedström ein »unrealistischer« Spezialfall davon, weil sie von gegebenen, unveränderlichen und logisch geordneten Zielen der Individuen ausgeht (vgl. auch Hedström 2007) und daher nur in wenigen Fällen anwendbar ist. »Soziale Mechanismen« benennen analog dazu ein je typisches Zusammenspiel individueller Handlungen beziehungsweise soziale Interdependenzformen (vgl. Hedström 2005: Kap. 4). Das Erklärungsinteresse gilt dem dynamischen Zusammenwirken von »Individuellem« und »Sozialem« (Hedström 1998). Besondere Aufmerksamkeit erfahren in »Dissecting the Social« agentenbasierte Modelle, welche einzelne Mechanismen entweder empirisch oder aber durch Simulationen zu testen und zu verfeinern erlauben (vgl. Hedström 2005: Kap. 5 und 6). So etwa Modelle zur Beschreibung von Gewerkschaftsbeitritten, welche vorherige Beitritte anderer erfassen (vgl. ebenda: 119ff.). Für Hedström steht nicht die Erklärung individuellen Handelns im Mittelpunkt, sondern für ihn ist die eigentliche Aufgabe der Soziologie das Erklären sozialer Sachverhalte – typische Handlungsmuster, Verteilungsstrukturen, Netzwerke, Bedeutungsmuster, Regeln, soziale Normen (Hedström 2009: 334; 2007) – aus den Bedürfnissen und Vorstellungen der Akteure sowie aus vorgefundenen beziehungsweise wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten. Daher beschäftigt er sich mit individuellen sowie mit sozialen Mechanismen, um – die Vorschläge Mertons, Elsters und anderer aufgreifend – das Wechselspiel von Bedürfnissen, Vor-
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stellungen und Opportunitäten sowie auch das Wechselspiel zwischen individuellen Handlungen für die Erklärung sozialer Effekte in Rechnung zu stellen. Für die Modellierung sozialer Mechanismen bezieht sich Hedström auch auf bekannte Modelle zur Verteilung von Mikroelementen wie das Segregationsmodell von Schelling oder Schwellenwert- und Stufenmodelle wie Coleman zur Erklärung kollektiven Handelns (Hedström 2005: 8f.). Mithilfe von Simulationen, Experimenten und empirischen Studien werden die Modellaussagen geprüft und »kalibriert« (vgl. Hedström 2007: 8ff.). Das zentrale Anliegen seiner Arbeit ist das analytische Beschreiben, Simulieren und/oder empirische Testen individueller wie sozialer Mechanismen und deren Anwendung auf verschiedene Felder, um beispielsweise Einkommensungleichheiten in Organisationen, Arbeitslosenraten in Stadtteilen, den Auf bau kollektiven Handelns und so weiter zu erklären.
Individuelle (oder auch: elementare) Mechanismen Das individuelle Handeln wird als Folge spezifischer Konstellationen von Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsalternativen erklärt und jeweils als individueller Mechanismus beschrieben. Als kausale Ursache des individuellen Handelns gelten alle logisch möglichen Kombinationen aus Bedürfnissen, Vorstellungen und den dazugehörigen Handlungsmöglichkeiten, welche bestimmte Handlungen immer wieder hervorbringen. Aus den logisch möglichen Kombinationen der drei Faktoren: Bedürfnisse, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten, greift Hedström drei als besonders relevant heraus. Er konzentriert sich auf solche Mechanismen, die eine Beeinflussung der individuellen Präferenzen erfassen, um damit die »unrealistische« Annahme stabiler, logisch geordneter und gegebener Präferenzen zu verbessern: Entsprechend erfasst er (1) die Anpassung der individuellen Präferenzen an das als machbar Vorgestellte beziehungsweise (2) an das als unmöglich Vorgestellte und (3) die Anpassung der wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten an das Gewollte (Wunschdenken). Damit wären rein »zweckgerichtete«, »vorstellungsbasierte« oder »opportunitätsbestimmte« Handlungen als Spezialfall dessen zu erklären, dass die beiden anderen Faktoren nicht wirken. Den Einsatz der DBO-Theorie begründet er damit, dass die Wirkung der realen sozialen Situation auf die Absichten und die Vorstellungen der Akteure beziehungsweise auch das Wechselspiel zwischen Ab-
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sichten und Vorstellungen sowie von beiden auf die Wirklichkeit erfasst werden können.
Soziale Mechanismen Soziale Mechanismen beschreiben die Folge(n) eines typischen Zusammenwirkens individuellen Handelns und stellen etwa Muster direkter oder indirekter sozialer Interdependenzen dar. »Ein sozialer Mechanismus, wie er hier definiert wird, ist eine Konstellation von Entitäten und Aktivitäten, die miteinander derart verbunden sind, dass sie regelmäßig bestimmte Typen von Folgen hervorbringen.« (Hedström 2005: 25; deutsch 2008: 11)
Wichtig ist nun, dass die Ursachen individueller Handlungen – die Absichten oder Bedürfnisse genauso wie die Vorstellungen und Möglichkeiten – durch das Handeln anderer beeinflusst werden. Dazu schlägt Hedström drei Interaktionstypen vor. Erstens: überzeugungsvermittelte Interaktionen, deren Mechanismus darin besteht, dass Akteure sich bei Unsicherheit am Handeln anderer orientieren, weil sie davon überzeugt sind, dass es dafür gute Gründe gibt. »Rationale Imitation« ist ein solcher Mechanismus, der darauf beruht, dass es durch Erwartungsbeeinflussung zu Imitationshandlungen und damit zu »gleichförmigen Handlungen« vieler oder aber auch zu überraschenden Systemeffekten kommt – wie etwa Staus ohne besonderen erkennbaren Grund auf Autobahnen, massenhaftes Abheben von Bankguthaben, Moden und so weiter. Durch Simulationen zeigt Hedström, dass »rationale Imitation« vor allem in stabilen Situationen wirkt. Es handelt sich dabei um einen Mechanismen der Vorstellungsanpassung durch die Wahrnehmung des Handelns anderer, weil dieses als »gut begründet« und durch bessere Informationen fundiert interpretiert wird. Oder anders formuliert: Ein Individuum glaubt, dass eine Handlung passend ist, weil es diese an anderen beobachtet (Hedström 2008: 47ff.). Zweitens: bedürfnisvermittelte soziale Interaktionen, bei denen der Mechanismus darin besteht, dass Handlungen anderer individuelle Bedürfnisse beeinflussen. Etwa: »ich will so sein wie der andere« oder »ich handle so wie andere«, weil ich glaube, dass sich meine Chancen, ein Ziel zu erreichen, dann erhöhen. Der erste Fall trifft beispielsweise auf
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Handlungstheorie
die Verbreitung von Telefonen zu: Nur wenn andere dieses benutzen, will auch ich es tun beziehungsweise ist es überhaupt erfolgreich. Dagegen wird drittens mit opportunitätsvermittelten sozialen Interaktionen der Mechanismus erfasst, dass eine Handlungsweise durch eine vom Handeln anderer ausgehenden Veränderung der Handlungsmöglichkeiten positiv oder negativ verstärkt wird: etwa Teilnahme an Demonstrationen, offenes Vortragen von Kritik, Mobilität und so weiter. Aus dem dynamischen Zusammenspiel zwischen den Handlungen einiger weniger Akteure folgen veränderte Handlungsmöglichkeiten vieler anderer in Form von sogenannten »Opportunitätsketten«. Ein Beispiel dafür sind soziale Mobilitätsprozesse, die auf das Freiwerden eines Arbeitsplatzes folgen, der viele Wechsel auf den Ebenen darunter nach sich zieht (vgl. Hedström 2005: 59; 2008: 90). Vor allem in neueren Arbeiten hat Hedström die großen Wirkungen kleiner Effekte untersucht, zum Beispiel das Entstehen von Staus auf Autobahnen durch das Bremsen eines Autos. So lässt sich nach Hedström das Zustandekommen beziehungsweise Zusammenbrechen von kollektivem Handeln (vgl. Kap. 2 und 4.1) aus der wechselseitigen Beeinflussung beziehungsweise der sozialen Umgebung erklären. Gemeinsam mit Yvonne Åberg hat er ein Modell entwickelt, das die Entscheidung, Mitglied in einer Gewerkschaft zu werden, abhängig davon beschreibt, wie viele bereits Mitglied sind. Wichtig dafür sind »Umschlagpunkte« (»tipping points«), die angeben, ab welcher Mitgliederzahldie Gewerkschaft erfolgreich sein wird (Hedström 2005: 131f.). Auch das Aufeinandertreffen von Egoisten, bedingt Kooperationswilligen und Altruisten setzt eine solche Wechselwirkung in Gang, wobei in diesem Fall das Ausmaß einer erreichbaren Kooperation von den gemachten positiven oder negativen Erfahrungen und den Kontakthäufigkeiten in einer Gruppe abhängt. Gruppen lassen sich in Netzwerkmodellen (»catnets«) abbilden, mit deren Hilfe simuliert werden kann, was passiert, wenn sich der Anteil an Egoisten und/oder die Kontakthäufigkeiten verändern. So kann mithilfe von Simulationen gezeigt werden, wann ein einziger kooperativer Akteur ein kooperativ-kollektives Handeln in Gang setzt oder welche Menge an Egoisten ausreicht, um Kooperationen zum Scheitern zu verurteilen. Das entscheidende Argument ist, dass die Interaktionsstruktur das wechselseitige Wahrnehmen von Kooperationschancen bestimmt (ebenda: 141). Das erklärt auch, warum schon wenige Egoisten in einer Gruppe die Kooperation drastisch reduzieren (ebenda: 94).
5. Handeln, Struktur und Rationalität
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Hedström unterscheidet drei Formen von Handlungstheorien nach ihrem Anspruch: (1) Handlungstheorien, welche das Verhalten eines konkret existierenden Akteurs verstehen wollen, (2) Handlungstheorien, welche das Verhalten eines konkret existierenden Akteurs vorhersagen wollen, und (3) Handlungstheorien, welche als »theoretischer Mechanismus« in einer soziologischen Theorie fungieren sollen (Hedström 2005: 60). Er selbst sieht sich in der Linie des dritten Verständnisses von Handlungstheorien, die einen idealtypischen Akteur analytisch beschreiben, um soziologische Erklärungen mikrofundieren zu können. Die verwendete Handlungstheorie hat dabei die Aufgabe, typisches Handeln zu erklären. Die von Hedström mit Bezug auf Donald Davidson verwendete DBO-Theorie ist eine allgemeine Entscheidungstheorie, die das individuelle Handeln aus Konstellationen (mitunter auch nur aus einem Faktor) von Bedürfnissen, Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten ableitet. Sie erfüllt die von Hedström angelegten Kriterien an eine Mikrofundierung: Sie ist psychologisch und soziologisch plausibel, noch relativ einfach und erlaubt es, das Handeln als intentional – also aus den angestrebten Zuständen – zu verstehen. Sie ist gegenüber der Theorie der rationalen Wahl »realistischer«, weil sie nicht unterstellt, dass die Handelnden immer alle ihre Absichten und die Situation richtig und vollständig wahrnehmen und stabile, logisch konsistente Präferenzen haben. Vielmehr kann das individuelle Handeln wahlweise als ein intentional-rationales Handeln im Sinne einer bewussten Konsequenzenorientierung und Zweck-MittelAbwägung oder auch als ein durch sozial definierte Vorstellungen motiviertes und geleitetes Tun – über das sich die Akteure nicht bewusst sein müssen – angesehen werden (vgl. ebenda: 60ff.). »Handlungstheorien sollten nicht als abstrakte Nachbildungen konkret existierender Akteure gesehen werden, sondern als analytisch-realistische Modelle der Akteurstypen, die in die Handlung involviert sind« (ebenda: 60).
Die allgemeinste sinnvolle Handlungsannahme für soziologische Erklärungen ist für Hedström die des »intentionalen Handelns«, welche sowohl das zweckrationale Handeln als auch die enge Version der Nutzenmaxi-
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Handlungstheorie
mierung als Spezialfall umfasst (vgl. Kap. 4.1 und 4.2). Was die Komplexität der DBO zusätzlich steigern kann, ist die Berücksichtigung unterschiedlicher kausaler Verbindungen zwischen Zielen, Vorstellungen und Opportunitäten.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Wie auch andere Vertreter des Methodologischen Individualismus und mehrstufiger Erklärungen sozialer Sachverhalte folgt Hedström den frühen Vorschlägen zu einer »situationslogischen Analyse« von Max Weber und Karl Popper (vgl. Hedström et al. 1998): Demnach ist einerseits das individuell intentionale Handeln nur im Lichte sozialer Kontexte beziehungsweise mit Bezug auf das Handeln anderer zu erklären und sind zweitens immer auch soziale Erklärungsfaktoren wie Gruppenzusammensetzungen, Interaktionen und so weiter für die Erklärung sozialer Sachverhalte zu berücksichtigen. Dies vor allem auch, um sogenannte »emergente Effekte« – also weder von den Akteuren angestrebte Konsequenzen noch aus Systemerfordernissen resultierende Folgen – erfassen und erklären zu können. In den Sozialwissenschaften heute bekannte und vieldiskutierte emergente Effekte sind etwa die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, Machtmissbrauch von Herrschern, Oligopolbildung in demokratischen Organisationen oder auch der Zusammenbruch von Organisationen durch den Exit vieler Einzelakteure. Die analytische Soziologie will mit einer sowohl abstrahierenden als auch realistischen Mikrofundierung kausale Erklärungen realer sozialer Sachverhalte rätselhafter Vorgänge und Strukturen in der realen Welt vorlegen. Sie strebt dafür möglichst realistische Erklärungen auf der Ebene »mittlerer Reichweite« an, die gerade darauf beruhen, dass sie die konkrete soziale Interaktionsstruktur erfassen.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Hedström ist einer realistischen Erkenntnisposition verpflichtet, der zufolge die Strukturen der Realität der menschlichen Erfahrung prinzipiell zugänglich und sprachlich präzise darstellbar sind. Er vertritt zudem die
5. Handeln, Struktur und Rationalität
ontologische Annahme, dass die grundlegende Einheit der sozialen Wirklichkeit die menschlichen Akteure sind und dass Erklärungen sozialer Sachverhalte dort ihren Ausgangspunkt zu nehmen haben. Um das Handeln der Akteure ursächlich erklären zu können, abstrahiert Hedström zwar von vielen Einflussfaktoren, will aber doch »realistisch« in dem Sinne arbeiten, dass er keine überdauernden, logisch geordneten und immer bewusst reflektierten Absichten und Vorstellungen annimmt. Vielmehr stellt er verschiedenste soziale Beeinflussungsprozesse und Verzerrungen der individuellen Absichten und Zwecke sowie auch der Vorstellungswelten der Individuen bei der Erklärung sozialer Sachverhalte in Rechnung (Hedström 2005: 138). Zu diesem Zweck stellt er verschiedene elementare Mechanismen modellhaft dar, welche die individuelle Handlungsentscheidung komplexer abbilden, als es die Theorie der rationalen Wahl und insbesondere das Modell des homo oeconomicus tun. Dazu zählen vor allem das »Wunschdenken« und die von Merton bekannt gemachte »selbsterfüllende Prophezeiung«. Individuelle wie soziale Mechanismen wie auch die aus ihnen zusammengesetzten Erklärungen stellen abstrakte und daher präzise formulierte, zugleich aber auch realistische Modelle der sozialen Wirklichkeit dar, die kausale Zusammenhänge formulieren. Sie sind jedoch stetig zu verbessern und zu prüfen, um möglichst wahre Aussagen über die Realität machen zu können.
Lernkontrollfragen • • •
Was sind die vier Grundprinzipien der »analytischen Soziologie«? Wie erklärt die DBO-Theorie das individuelle Handeln? Was ist charakteristisch für mechanismenbasierte Erklärungen?
Literatur Primärliteratur Hedström, Peter (2005). Dissecting the Social. On the Principles of Analytical Sociology. Cambridge, MA: Cambridge University Press [Deutsch 2008: Anatomie des Sozialen – Prinzipien der Analytischen Soziologie. Wiesbaden: VS]. Hedström, Peter (2007). Actions and Networks. Sociology that really matters to me. In: Sociologica 1/2007, S. 1-11.
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Hedström, Peter (2008). Anatomie des Sozialen – Prinzipien der Analytischen Soziologie. Wiesbaden: VS [Amerikanisches Original von 2005: Dissecting the Social. Cambridge: Cambridge University Press]. Hedström, Peter (2009). The Analytical Turn in Sociology. In: ders./ Wittrock, Björn (Hg.), Frontiers of Sociology, Leiden/Boston: Bill, S. 331-344. Hedström, Peter/Stern, Charlotta (2008). Rational Choice and Sociology. In: Durlauf, Steven N./Blume, Lawrence E. (Hg.), The New Palgrave Dictionary of Economics, 2. Auflage, Basingstoke et al.: Palgrave Macmillan, S. 872-877. Hedström, Peter/Swedberg, Richard (1996). Rational Choice, Empirical Research, and the Sociological Tradition. In: European Sociological Review, Jg. 12, H. 2, S. 127-146. Hedström, Peter/Swedberg, Richard/Udehn, Lars (1998). Popper’s Situational Analysis and Contemporary Sociology. In: Philosophy of the Social Sciences, Jg. 28, S. 339-364.
Sekundärliteratur Hedström, Peter/Swedberg, Richard (1998) (Hg.). Social Mechanisms. An Analytical Approach to Social Theory. Cambridge, MA: Cambridge University Press. Hedström, Peter/Bearman, Peter (Hg.) (2009). The Oxford Handbook of Analytical Sociology. Oxford: Oxford University Press. Kron, Thomas/Grund, Thomas (Hg.) (2010). Die Analytische Soziologie in der Diskussion. Wiesbaden: VS. Maurer, Andrea/Schmid, Michael (2010). Erklärende Soziologie. Grundlagen, Vertreter und Anwendungsfelder eines soziologischen Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS. Schmid, Michael (2006). Die Logik mechanismischer Erklärungen. Wiesbaden: VS.
6. Interaktion und Bedeutung
Im Mittelpunkt der folgenden Theorien steht eine verstehende Analyse von Handlung und Interaktion sowie von Sinn und Bedeutung als menschliche Hervorbringungen: Interaktionistische Ansätze eröffnen einen Blick auf Bewusstsein, Intelligenz und Identität als in Sozialisationsprozessen gebildete Voraussetzungen für Handeln. Das Individuum wird dabei in kontinuierlicher Interaktion mit seiner symbolisch vermittelten Umwelt gesehen. Diese Interaktion auf der Grundlage von Symbolen (insbesondere der Sprache) betrachtet George Herbert Mead sozialpsychologisch. Er setzt sich kritisch mit einem nur das sichtbare Verhalten untersuchenden Behaviorismus auseinander und sieht den Menschen als ein vor allem durch Bewusstseins- und Denkprozesse charakterisiertes Wesen. Sein Schüler Herbert Blumer knüpft an das Konzept der symbolvermittelten Interaktion an, stellt den Prozess der Bedeutungsverleihung und des Verstehens ins Zentrum und prägt den Begriff »symbolischer Interaktionismus« (vgl. Blumer 1981[1969]), den Mead selbst noch nicht verwendet. Blumer greift selektiv Aspekte aus dem Werk Meads heraus (mit der Gefahr zu Vereinseitigungen) und entwickelt diese systematisch weiter, ohne den Gesamtzusammenhang und die Breite des Meadschen Denkens fortzuführen. Trotz gewisser Akzentverschiebungen und Differenzen ist beiden Autoren gemeinsam, dass sie den Menschen als ein aktiv handelndes, dynamisches, kreatives und entwicklungsfähiges Wesen begreifen, das dennoch eng mit der Gesellschaft verwoben ist. Die phänomenologische Soziologie vollzieht eine radikale subjektive Wende hin zur »Innenseite« des sozialen Lebens und begreift die Analyse der Ebenen des Bewusstseins, der Erfahrung und der Handlung als unverzichtbaren Schlüssel zu deren Verständnis. Sinnsetzungs- und Sinndeutungsprozesse sind zentral und charakteristisch für die in der
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Alltagswelt als einer von den Handelnden ohne Fragen und Zweifel hingenommenen sozialen Wirklichkeit. Diese durch Sprache und Wissen strukturierte Wirklichkeit wird durch die phänomenologische Perspektive sinnverstehend beziehungsweise interpretativ erschlossen und von Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter L. Berger in ihren vielfältigen Facetten gedeutet. Dabei wird der Konstruktionsgedanke von sozialer Wirklichkeit besonders herausgearbeitet und die phänomenologische Perspektive schrittweise durch weitere Theoriebestandteile (philosophische Anthropologie, symbolischer Interaktionismus, Wissenssoziologie, Durkheim und Marx) erweitert und ergänzt. Im Zentrum des phänomenologischen Denkens bleibt dabei stets die Kernfrage, wie Menschen die sie gemeinsam umgebende Wirklichkeit sinnhaft ordnen und stabilisieren.
6.1 G EORGE H ERBERT M E AD : D ER M ENSCH ALS » SYMBOLVERWENDENDES TIER « Meads Denken nimmt die Kritik am reduktionistischen Behaviorismus von John B. Watson, der den menschlichen Geist in der Erklärung von Verhalten völlig unberücksichtigt lässt, als Ausgangspunkt. Mead behält den Begriff des Behaviorismus in einer modifizierten und zugleich erweiterten Form aber bei und spricht vom »Sozialbehaviorismus«, der soziale »Objekte«, das heißt vor allem andere Menschen, als reaktionsauslösende Stimuli für Verhalten begreift. Die äußerlich sichtbare Aktivität des menschlichen Organismus bildet für Mead dabei den Ausgangspunkt seiner sozialpsychologischen beziehungsweise soziologischen Analyse, um von dort aus zur Dimension der inneren Erfahrung vorzudringen. Bewusstsein und Aktivität werden als zwei Aspekte eines umfassenderen Prozesses verstanden, in dem sie zeitlich nacheinander ablaufende Phasen bilden. Meads Verwendung des Begriffes Behaviorismus ist daher sowohl antireduktionistisch als auch antideterministisch; sie schließt die Dimensionen der inneren Erfahrung, der Reflexivität und des sozialen Prozesses mit ein.
Zur Person George Herbert Mead wird am 27. Februar 1863 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in South Hadley (Massachusetts) geboren. Sein Vater
6. Interaktion und Bedeutung
Hiram Mead wird 1870 Professor für Geschichte und Theorie der Predigt am Oberlin College in Ohio, in das Mead 1879 als 16-jähriger Schüler eintritt. Nach Abschluss der Collegeausbildung beginnt Mead 1883 für kurze Zeit eine Berufstätigkeit als Lehrer. Im Anschluss daran arbeitet er für drei Jahre als Landvermesser bei einer Eisenbahngesellschaft. 1887 beginnt Mead ein Studium der Philosophie und Psychologie an der Harvard University. Während seiner Zeit in Harvard findet Mead Zugang zur Philosophie des Deutschen Idealismus mit dessen Hauptvertretern Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und vor allem Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Dessen Philosophie der dynamischen Entwicklung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein fasziniert Mead schon früh, während der pragmatistische, Denken und Handeln miteinander verbindende Einfluss von William James und Charles Sanders Peirce sich erst später entfaltet. Ab 1888 wendet er sich verstärkt der physiologischen Psychologie zu und entschließt sich, für einige Zeit nach Deutschland zu gehen. Im Wintersemester 1888/89 studiert Mead zunächst in Leipzig, wo Wilhelm Wundt das erste Laboratorium für experimentelle Psychologie unterhält, sodann in Berlin bei dem Philosophen Wilhelm Dilthey. Im Herbst 1891 verlässt Mead Berlin, da ihm eine Stelle als Lecturer für Philosophie und Psychologie an der University of Michigan in Ann Arbor angeboten wird. In Michigan setzt sich Mead mit der Geschichte der Naturwissenschaften auseinander, erhält wesentliche Anregungen von dem pragmatistischen Philosophen John Dewey und wird auch von Charles Horton Cooley beeinflusst. 1894 wird Mead Assistant Professor an der neu gegründeten University of Chicago. Hier wird er von Albion Woodbury Small und William Isaac Thomas beeinflusst, aber auch von Watson, dessen Behaviorismus er später kritisch gegenübersteht. Mead arbeitet nach 1900 sein sozialpsychologisches Gedankengut vor allem in einer Reihe von Aufsätzen weiter aus. Am 26. April 1931 stirbt der außerhalb der akademischen Kreise der University of Chicago noch kaum bekannte Mead nach langjähriger Lehrund Forschungstätigkeit in Chicago. Das Denken Meads ist eng mit der geistigen Strömung des amerikanischen Pragmatismus mit den Hauptvertretern Dewey, James und Peirce verbunden. Die Gemeinsamkeit ihrer Auffassungen besteht neben fachlichen und methodischen Besonderheiten und Differenzen vor allem darin, menschliches Denken an den Lebensprozess zu binden und
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dieses als Vorbereitung für das Handeln zu interpretieren. Damit hat jede Form des Denkens, gleich ob alltägliches oder wissenschaftliches, eine pragmatische Dimension, die in der Tauglichkeit für die Lösung von Handlungsproblemen besteht. Die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus als eine Theorie der Praxis unterscheidet sich damit stark von kontinentaleuropäischen Auffassungen, die zu einer fundamentalen Trennung von Denken und Handeln neigen. Neben diesen pragmatistischen Wurzeln ist Meads Sozialpsychologie durch seine Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus sowie dem Darwinismus und der sogenannten physiologischen Psychologie (insbesondere Wundt) geprägt. Von der idealistischen Philosophie (vor allem Fichte und Hegel) übernimmt Mead in modifizierter Form den Gedanken vom Menschen als ein kontinuierlich in Entwicklung und Veränderung befindliches Wesen. Diese Entwicklungskonzeption wird für Mead zentral und bestimmt sein gesamtes Denken. Wie Charles Darwin ist auch Mead der Überzeugung, dass der Geist in einem Prozess der Evolution aus natürlichen Bedingungen hervorging und dass die Rekonstruktion seiner Entstehung rein wissenschaftlich erfolgen kann und keinerlei metaphysischer Annahmen bedarf. Bemerkenswert ist, dass Mead außer der Veröffentlichung einer stattlichen Anzahl von Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen seine Gedanken nie in Buchform publiziert hat. Sein bekanntestes Werk »Mind, Self and Society« (deutsch »Geist, Identität und Gesellschaft«, Mead 1973[1934]) basiert auf stenografischen Mitschriften seiner langjährigen Vorlesung zur Sozialpsychologie. Es wird erst 1934 nach Meads Tod von dem Philosophen Charles W. Morris herausgegeben, wie auch seine anderen Publikationen posthum auf Initiative von Herausgebern erscheinen. Für Meads Sicht auf Handlungen ist dabei das 1938 wiederum von Morris herausgegebene Werk »The Philosophy of the Act« (Mead 1972[1938]) von besonderer Bedeutung.
Fragestellungen und Erkenntnisse Meads sozialbehavioristische Konzeption ist nicht reduktionistisch wie beim strengen Behaviorismus, sondern funktionalistisch ausgerichtet. Sie berücksichtigt das Bewusstsein in seiner Funktionalität für das Handeln. Sprache, Denken, Bewusstsein und »Selbst« sind keine vorauszusetzenden Phänomene, sondern aus sozialen Prozessen hervorgegangen.
6. Interaktion und Bedeutung
Menschliches Verhalten ist nach Mead in der Regel kein automatischer Reflex auf der Grundlage unabhängig existierender Stimuli, die auf quasi mechanische Weise Reaktionen in einem passiven Organismus auslösen. Der menschliche Organismus als Handelnder greift bestimmend und verändernd in seine Umwelt ein und reagiert nicht nur passiv auf von außen kommende Reize. Er selektiert diese Reize nach ihrer Bedeutsamkeit für seinen Lebensprozess, und genau diese Selektion transformiert die von außen kommenden Reize in spezifische Anreize für menschliches Verhalten. Der Mensch greift »durch seine Reaktionen in die Auswahl und Formung der Objekte, d.h. der Reize und Ereignisse«, ein (Bühl 1982: 206). Dieser symbolisch vermittelte Selektions- beziehungsweise Formungsprozess geht so weit, dass wir uns in unserem Verhalten gewissermaßen genau den Reiz suchen können, »der sich dazu eignet, die aufgrund unserer Interessen erwünschten Reaktionen bei uns auch tatsächlich zu erzeugen« (Helle 1992: 88). Auf diese Weise vermittelt beziehungsweise interpretiert die Reaktion den Stimulus, der nicht in Form eines externen Objekts vorliegt, sondern im Kontext der Aktivität des Organismus erst konstituiert wird. Dabei sind die »Grenzen zwischen Reaktion und Aktion« ebenso fließend wie die zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit der Handlung (vgl. Bühl 1982: 206f.). Meads Sicht auf menschliches Handeln ist ganzheitlich in der Weise, dass Stimuli und Reaktionen nicht wie beim klassischen Behaviorismus in Teile zerlegt, sondern als funktional unterscheidbare Phasen innerhalb eines sich entfaltenden Verhaltens verstanden werden (vgl. Cook 1977: 314). Meads – im Rahmen eines erweiterten und modifizierten Behaviorismus erfolgende – funktionalistische Betrachtung des Geistes unterscheidet sich wesentlich von substanzialistischen Auffassungen. Die eigenständige Qualität des Bewusstseins wird nicht aufgehoben, sondern eine wissenschaftliche Analyse der natürlichen und sozialen Entstehungsgründe des Bewusstseins eingeleitet. Mead betont nachdrücklich, dass aus einer solchen Betrachtungsweise keineswegs die Leugnung der Existenz von Bewusstsein folgt: »Wenn wir Geist oder Bewußtsein funktional verstehen und als natürliches, nicht als transzendentales Phänomen, wird es möglich, sie mit behavioristischen Begriffen zu erfassen. Kurzum, es ist nicht möglich, die Existenz von Geist, Bewußtsein oder geistigen Phänomenen zu leugnen, und es ist auch gar nicht wünschenswert« (Mead 1973[1934]: 49).
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Geistige Phänomene sind nach Mead nicht auf ein materielles Substrat zu reduzieren, ihr Auftauchen (Emergenz) aus der natürlichen und sozialen Welt kann aber naturalistisch ohne Zuhilfenahme metaphysischer Annahmen erklärt werden. Aus den Komplikationen und Hemmnissen des Handlungsflusses im Zuge von Problemen – ich halte in meinem Handeln inne und denke über eine mögliche Lösungsstrategie für das Problem nach – taucht Geist als neue Qualität auf (vgl. ebenda: 46). Die Einheit der Handlung (Akt) als ganzheitliches Phänomen gerät bei einer einseitigen mentalistischen oder materialistischen Auffassung aus dem Blick. Die pragmatistische Tradition (und mit ihr auch Mead) kennt keine Dualismen, die Handlung ist weder rein geistig noch rein materiell zu verstehen; als Ereignis und Prozess integriert sie beide Dimensionen. Im Handeln zeigen sich die problemlösende Kapazität menschlicher Intelligenz und die Fähigkeit, Gesellschaft (vernünftig) zu organisieren. Diese kreativen – und damit neue Aspekte im sozialen Prozess hervorbringenden – Leistungen des Individuums stehen im Zentrum der Meadschen Handlungstheorie. Menschliche Intelligenz zeichnet sich nach Ansicht des Pragmatismus primär durch seine handlungsanleitende Qualität aus, indem Wissen zur Lösung von Problemen im Handeln bereitgestellt wird. Sie besteht daher aus einer kontinuierlichen »Wechselwirkung von Theorie und Praxis« (Mead 1987[1908/09]: 451). Es bewährt sich genau dasjenige Wissen, mit dessen Hilfe Probleme erfolgreich und beständig gelöst werden können, Bedeutungen werden somit in pragmatischer Hinsicht verliehen. Diejenigen Auffassungen, die eine effektive Problemlösung ermöglichen, bezeichnen die Akteure nachträglich (ex post) als »wahr«. Die Bewusstwerdung des Menschen im Prozess der Evolution korrespondiert mit einem Zuwachs an reflexiver Intelligenz und erlaubt ein über das Prinzip von Versuch und Irrtum hinausgehendes, flexibleres Denken als »Probehandeln«. Für die Entwicklung des Menschen und die Aufrechterhaltung jeder menschlichen Gesellschaft ist nach Mead der Gebrauch von signifikanten Symbolen beziehungsweise Gesten entscheidend; und darin ist auch ein Spezifikum der menschlichen Existenz im Unterschied zu tierischem Verhalten zu sehen. Als signifikant bezeichnet Mead solche Symbole, die in Ego und Alter (tendenziell) die gleiche Reaktion (und damit auch die gleiche Bedeutung) hervorrufen.
6. Interaktion und Bedeutung
Menschliche Kommunikation vollzieht sich Mead zufolge in ihrer entwickelten Form auf der Ebene signifikanter Symbole, welche dieselbe Bedeutung für den Sprecher wie für den Hörer haben. Dieses gemeinsame Teilen der Bedeutung des verwendeten Symbols wird durch die sprachlichen Symbole der Alltagssprache ermöglicht, das heißt, in der Regel verbinden Menschen im Alltag mit einem sprachlichen Symbol tendenziell die gleiche Bedeutung, neben Nuancen einer für den Interaktionsprozess vernachlässigbaren Bedeutungsverschiedenheit.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Der Meadsche Handlungsbegriff schließt die Vielfalt menschlicher Aktivitäten vom einfachen Reagieren als Verhalten bis zum komplexen reflexiven Handeln – rationale wie a-rationale Komponenten – ein, bezieht sich also nicht nur auf rationales Handeln. Mead beschreibt menschliches Handeln daher als Kontinuum von nicht-rationalen bis hin zu rationalen Elementen, betont aber immer wieder die Fähigkeit des Menschen, rational zu handeln. Akte beziehungsweise Handlungen stellen eine Beziehung zwischen dem Organismus und seiner Umwelt her; sie bilden dadurch einen Relationsmodus. Sowohl in gestalt hafter als auch in zeitlicher Hinsicht konstituieren sie eine untrennbare Einheit, die nur analytisch unterteilbar ist. Die Stimuli der Umwelt sind nicht abzulösen von den Organismen, auf die sie wirken, ebenso wenig wie die Reaktionen dieser Organismen ablösbar sind von dem Reizangebot der Umwelt. Für den menschlichen Organismus bedeutet dies, dass Reize interpretiert und selektiert werden, die sich in Einklang mit seinen Absichten, Motiven, Wünschen und Zielsetzungen befinden. Der aktive menschliche Organismus steht in einer dynamischen Beziehung zu seiner Umwelt, wobei die Akte entweder die Anpassung des Individuums an die Umwelt oder die Veränderung dieser Umwelt bewirken (vgl. Mead 1972[1938]: 364). Mead betont nachdrücklich, dass menschliches Handeln – sei es nun bewusst oder unbewusst, rational oder nicht-rational – sich immer zwischen konfligierenden Handlungsantrieben beziehungsweise Handlungstendenzen gegenüber dem Objekt abspielt (vgl. Mead 1987[1900]). Die Internalisierung dieses Konflikts als psychisches Phänomen erlaubt
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es dem Menschen, gedanklich einen neuen Akt beziehungsweise eine neue Hypothese zu konstruieren und dadurch seine Impulse zu modifizieren. Die neu kreierte Hypothese ermöglicht als Anfangsstadium eines neuen Aktes eine effektivere Fortsetzung des nicht zur Ausführung gelangten Aktes. Erfolgreich durchgeführte Handlungen können sich ihrerseits wieder zu tauglichen Handlungsgewohnheiten habitualisieren. Damit betont Mead die Kreativität, Offenheit und Plastizität des menschlichen Selbst, das – eng verzahnt mit natürlichen und sozialen Prozessen – neue Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten in die Welt einführt (vgl. Miller 1973: xxviii-xxix). Mead differenziert Akte beziehungsweise Handlungen unter Verweis auf ihre untrennbare Einheit analytisch in drei Phasen: Wahrnehmung, Manipulation und Vollendung. (1) Die Phase der Wahrnehmung (»perception«) wird als Beziehung zwischen einem hochentwickelten physiologischen Organismus und einem aus seiner Umwelt herausgelösten und hervorgehobenen Objekt bestimmt (vgl. Mead 1972[1938]: 8). (2) Die Manipulation (»manipulation«) als zweite Phase des Aktes stellt nach Mead den Kontakt zwischen dem handelnden Individuum und dem Objekt her. Der direkte Kontakt mit dem Objekt durch Manipulation (Anfassen, Verändern) ermöglicht einen Realitätstest der zunächst nur durch die Fernsinne (Auge, Ohr, Nase) wahrgenommenen Eigenschaften des Objektes (vgl. ebenda: 141). (3) Die Vollendung der Handlung (»consummation«) schließlich vereint die vorbereitenden Phasen der Wahrnehmung (Objekt wird als Reiz wahrgenommen) und der Manipulation (Organismus und Objekt werden durch verändernde Aktivität verbunden). Hier wird auch der orientierende Wertbezug des Handelns deutlich, da Werte als »ultimates in the different parts of the whole act« (ebenda: 451) fungieren und damit eine abschließende ethische, moralische oder ästhetische Beurteilung des gesamten Aktes erfolgt. Der Akt beziehungsweise die Handlung ist ein sich in der Zeit entwickelndes Ereignis, das sich im momentanen Geschehen sowohl auf vergangene als auch auf zukünftige Ereignisse bezieht. Vergangene Ereignisse sind als bereits gewonnene Erfahrungen und Fertigkeiten gegenwärtig, in deren Licht neue Objekte der Wahrnehmung interpretiert werden. Akte sind in die Zukunft gerichtet, in der das wahrgenommene Objekt vom Organismus verändert wird und eine moralische, ethische oder ästhetische Beurteilung erfährt. Der ganzheitliche Handlungsbegriff Meads verweist auf das gesamte Kontinuum beziehungsweise Spek-
6. Interaktion und Bedeutung
trum menschlichen Handelns mit variablen und situationsspezifischen Konstellationen rationaler und nicht-rationaler Elemente. Obwohl Mead immer wieder auf die spezifische Gemengelage des Handelns hinweist, zeigt sich in einer Entwicklungsperspektive doch die Zunahme rationaler Handlungen – verbunden mit Krisen und Brüchen – sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Nach Mead gewinnen Individuen Autonomie im Handeln auf der Basis kontextueller Bedingungen, aus denen heraus sie eine eigene Handlungslinie entwickeln. Mead betont daher zwar die Einbettung jeglichen Handelns in Handlungskontexte beziehungsweise Strukturzusammenhänge, sieht aber stets auch die Möglichkeit zu Handlungsautonomie, die unter spezifischen Bedingungen auch faktisch realisiert wird. Die anthropologisch bedingte Möglichkeit der Handlungsautonomie beruht auf der Ebenendifferenz im Verhalten des Menschen im Unterschied zum Verhalten einfacherer Organismen. Sie besteht nach Mead darin, dass sich Menschen selbst wahrnehmen und zu sich selbst verhalten können. Der Mensch steht in einem Verhältnis zu sich selbst und zu anderen (Mitmenschen), was Mead durch die Unterscheidung von zwei Ich-Kategorien ausdrückt: einerseits ein selbstbezogenes, kreatives, spontanes, an den biologischen Organismus gebundenes Ich (»I«) als lebendiger Impuls beziehungsweise ungeformtes Antriebselement (autonomes Handeln aus sich selbst heraus); andererseits ein sozial definiertes Ich (»me«) als gesellschaftlich vermittelte Instanz der sozialen Filterung, Formung und Kontrolle des zunächst ungebändigten organismischen Impulses des »I« (kontextuelle Bedingungen des Handelns). Das »I« ist durch unmittelbare, impulsive Antriebe und Bedürfnisse bestimmt, das »me« ist sozial reflexiv und beinhaltet die internalisierten Haltungen und Reaktionen der Gesellschaft. Der Mensch ist weder ausschließlich ein »I« noch ein »me«, sondern ein Selbst als umfassende Einheit, in der beide Aspekte beziehungsweise Phasen des Ichs in einem permanenten aufeinander bezogenen Wechselspiel stehen. Die soziale Komponente des Selbst (»me«) stellt die Basis für die innovative Kreativität des »I« dar, das neue Perspektiven und Handlungen initiiert. Daher ereignen sich weder Kreativität noch Spontaneität als Zeichen von Handlungsautonomie
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außerhalb des sozialen Prozesses; das soziale Kontrolle ausübende »me« ist eine notwendige Bedingung für das durch das »I« eingeleitete kreative Handeln (vgl. Stryker 1980: 38). Das Potenzial zur rationalen Veränderung resultiert aus der »I«-Phase beziehungsweise dem »I«-Aspekt des Selbst. Aber auch das Verhalten eines Genies unterliegt sozialen beziehungsweise gesellschaftlichen Bedingungen, und »seine Leistungen sind die Ergebnisse gesellschaftlicher Reize oder Reaktionen auf diese, genau wie die einer normalen Person« (Mead 1973[1934]: 260, Fußnote 23). Im »me« sind die Einstellungen beziehungsweise Haltungen der Gruppe und die habitualisierten, sozial bewährten Reaktionsweisen beheimatet. Es bildet damit die Dimension des in der Vergangenheit erlangten Wissens und der bewährten Fertigkeiten, die an jeweils neu auftauchende Problemsituationen in Handlungszusammenhängen herangetragen werden. Das »me« ist gewissermaßen ein Werkzeug für das »I«, das nach der Zukunft greift und sich diejenigen Objekte und Reize sucht, die seinen Plänen förderlich sein können. Nur im Zusammenspiel von »I« und »me« formt sich menschliches Handeln als autonome, kreative, intelligente und reflexive Aktivität. Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene sind dabei im zeitlichen Verlauf die Anteile von »I« und »me« als Bestandteile der Identität variabel. Nach Mead vollzieht sich die Entwicklung der Identität beziehungsweise des Selbst in zwei Stufen. Auf der Ebene des »play« (einfaches Rollenspiel) wird die Identität des Individuums durch die Übernahme von konkreten Einstellungen beziehungsweise Rollen in spezifischen Interaktionssituationen gebildet. In der Phase des »game« (Wettkampf, organisiertes Rollenspiel) hingegen wird die Identität »durch eine Organisation der gesellschaftlichen Haltungen des verallgemeinerten Anderen oder der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer« (Mead 1973[1934]: 200) konstituiert. Mead beschreibt damit einen Prozess der Abstrahierung in der Normbefolgung. Während es, vereinfacht ausgedrückt, auf der Ebene des »play« darum geht, die konkrete Anweisung der Mutter »verschütte deine Suppe nicht« zu befolgen, entkoppelt sich beim »game« die Anweisung von der konkreten Situation zu einem »man verschüttet seine Suppe nicht« als normative Dimension vom Standpunkt jedes Mitglieds der Gesellschaft. Auf der Ebene des »play« haben wir es mit »signifikanten Anderen« als konkreten Personen (Mutter, Vater, Großmutter et cetera) zu tun, während auf der Ebene des »game« als eines »organisierten Rollenspiels« der »generalisierte Andere« die Normen und Werte der Ge-
6. Interaktion und Bedeutung
samtgesellschaft repräsentiert und das Individuum wie bei einem Mannschaftsspiel (zum Beispiel Fußball) lernen muss, sich aus der Position aller Gruppen- beziehungsweise Gesellschaftsmitglieder zu sehen. Das Individuum lernt dabei sukzessive das Befolgen der Regeln des Spiels, die ihm in der unmittelbaren Handlungspraxis nicht bewusst sind. Die Übernahme der Perspektive des »generalisierten Anderen« ist für Mead der Schlüssel, wie das Individuum sein Handeln mit dem erwarteten Handeln in größeren sozialen Zusammenhängen koordinieren und sich in sie einfügen kann. So wird es für das Individuum möglich, sein Handeln mit institutionellen und organisatorischen Beziehungsmustern abzustimmen und auf dieser Basis eine eigenständige (autonome) Handlungslinie zu entwickeln. Vermittels des »generalisierten Anderen« vermag das Individuum die partikulare Situation der durch konkrete Andere gespeisten Rollenerfahrung zu transzendieren und auf eine größere Gesellschaft hin auszuweiten. Das Individuum gewinnt durch den Übergang von »play« zu »game« zunehmend Freiheitsspielräume und Reflexionspotenziale im Handeln, die »I«-Komponente der Identität bildet in Wechselwirkung mit dem »me« die Grundlage für autonomes, selbstbestimmtes Handeln.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Mead begreift den Menschen im pragmatistischen Sinne als Handelnden, dessen Denken ihn zu richtigem Handeln befähigt, ungeachtet der Frage, ob seine Vorstellungen im eigentlichen Sinne »objektiv« beziehungsweise »wahr« sind oder nicht. Mead kritisiert jedes Denken, das nach letzten Fixpunkten der Wahrheit sucht. Zugleich meldet er seine Bedenken an dem naiven naturwissenschaftlichen Glauben an, wissenschaftliche Erkenntnis könne ein objektives Abbild ihrer Gegenstände und Prozesse ermöglichen. Er vermeidet die Sterilität und dogmatische Enge einer vermeintlich wissenschaftlichen Position, die glaubt, den letzten Wesenskern der Dinge erfassen zu können. An den Entwicklungen der modernen (Natur-)Wissenschaften ist er aber interessiert und empfindet ihre Methoden, Konzepte und Erkenntnisse als befruchtend für das sozialwissenschaftliche Denken.
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Mead vertritt eine wissenschaftliche Methode frei von Determinismus und absolutem, objektivem Wahrheitsanspruch. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung wird als prinzipiell offen konzipiert, ist unabgeschlossen, wandelbar und daher auch nur innerhalb bestimmter Grenzen vorhersagbar. Die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ist ein kontinuierlicher Prozess der Überprüfung (Test) alter Ergebnisse sowie ihrer Reinterpretation und Rekonstruktion im Lichte neuer Phänomene. Konsequent strebt Mead eine intellektuelle Synthese der einzelwissenschaftlichen Ergebnisse an und versucht, die wissenschaftliche Methode als heuristisches Instrument auf alle menschlichen Lebensbereiche einschließlich der Ethik zu übertragen. Dies entspricht ganz dem Vorschlag des Pragmatismus, Wissen an Handeln zu koppeln und mit dieser praxisbezogenen Betrachtung des Wissens eine Synthese mit dem konkreten menschlichen Lebensprozess anzustreben. Das Denken dient primär der Handlungsvorbereitung; seine instrumentelle Qualität als Werkzeug (»tool«) zur Lösung von Problemen im Alltag wie auch in der Wissenschaft zeigt sich in diesem »Probehandeln«. Mead grenzt seine erkenntnistheoretische Position sowohl gegenüber dem Positivismus als auch dem spekulativen Idealismus ab. Er distanziert sich dabei von der positivistischen Auffassung einer unabhängig und unberührt vom Erkenntnisprozess existierenden Realität ebenso wie von der idealistischen Annahme, dass zuverlässige Erkenntnis auch ohne Berücksichtigung der empirischen Wirklichkeit gewonnen werden könne. Die Gegenstände unserer Erkenntnis bilden sich erst im Handeln, in unserer Auseinandersetzung und Beschäftigung mit ihnen. Diese handlungsbezogene Konstitution der Erkenntnisgegenstände basiert auf einem Verständnis von Handlung als einer intelligenten und restrukturierenden Aktivität. Meads Gratwanderung zwischen den erkenntnistheoretischen Positionen eines positivistischen Realismus einerseits und eines spekulativen Idealismus andererseits eröffnet einen differenzierten und heuristisch fruchtbaren ganzheitlichen Blick auf das Problem des menschlichen Handelns.
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Lernkontrollfragen • • •
Was ist unter pragmatistischer Handlungstheorie in Hinblick auf Meads spezifische Konzeption des Handelns zu verstehen? Welche Folgerungen können aus Meads Sicht des Sozialisationsprozesses hinsicht lich autonomer Handlungen gezogen werden? Durch welche Besonderheiten zeichnet sich Meads Methode der Erkenntnisgewinnung aus?
Literatur Primärliteratur Mead, George H. (1972[1938]). The Philosophy of the Act. Herausgegeben von Charles W. Morris. 7. Auflage, Chicago: University of Chicago Press. Mead, George H. (1973[1934]). Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Herausgegeben von Charles W. Morris. Aus dem Amerikanischen von Ulf Pacher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Amerikanisches Original von 1934: Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist. Chicago]. Mead, George H. (1987[1900]). Vorschläge zu einer Theorie der philosophischen Disziplinen. In: Joas, Hans (Hg.), George H. Mead: Gesammelte Aufsätze. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 60-80 [Amerikanisches Original von 1900: Suggestions Toward a Theory of the Philosophical Disciplines. In: Philosophical Review, Jg. 9, S. 1-17]. Mead, George H. (1987[1908/09]). Berufsbildung, Arbeiterschaft und Schule. In: Joas, Hans (Hg.), George H. Mead: Gesammelte Aufsätze. Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 443-461 [Amerikanisches Original von 1908/09: Industrial Education, the Working-Man, and the School. In: Elementary School Teacher, Jg. 9, S. 337-346].
Sekundärliteratur Blumer, Herbert (1981[1969]). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2 Bände, 5. Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 80-146. Bühl, Walter L. (1982). Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
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Cook, Gary Allan (1977). G. H. Mead’s Alleged Behaviorism. In: Journal of the History of the Behavioral Sciences, Jg. 13, H. 4, S. 307-316. Helle, Horst J. (1992). Verstehende Soziologie und Theorie der Symbolischen Interaktion. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart: Teubner. Joas, Hans (1978). George H. Mead. In: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Band 2: Von Weber bis Mannheim, München: C. H. Beck, S. 7-39. Joas, Hans (1980). Praktische Intersubjektivität: Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Joas, Hans (Hg.) (1985). Das Problem der Intersubjektivität: Neuere Beiträge zum Werk George Herbert Meads. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Miller, David L. (1973). George Herbert Mead. Self, Language, and the World. Austin/London: University of Texas Press. Stryker, Sheldon (1980). Symbolic Interactionism: A Social Structural Version. Menlo Park, CA: The Benjamin Cummings Publishing Company. Wenzel, Harald (1990). George Herbert Mead zur Einführung. Hamburg: Junius.
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6.2 H ERBERT B LUMER : S YMBOLISCHER I NTERAKTIONISMUS Es ist das Verdienst Herbert Blumers, die sozialphilosophischen beziehungsweise sozialpsychologischen Überlegungen George Herbert Meads für die akademische Soziologie erschlossen zu haben. Insbesondere durch das Meadsche Motiv, Handeln als bedeutungsanzeigend zu begreifen, verschafft er der soziologischen Theoriebildung seiner Zeit ein neues Fundament, das er als Theorie der symbolischen Interaktion oder als symbolischen Interaktionismus bezeichnet. Der Einsicht Webers, der zufolge soziales Handeln konstitutiv mit Sinn und Bedeutung verknüpft ist, lässt sich Meads Standpunkt zur Seite stellen, dass die Produktion von Bedeutung stets an (wie auch immer geartete) Symbole gebunden ist. Bedeutung entsteht über Symbole, die immer einen materiellen Bezugspunkt (Gegenstände, Schriftzeichen, Bilder et cetera) haben, aber von diesem als Bedeutungsträger und eigenständige geistige Wirklichkeit ablösbar sind und dann sozialwissenschaftlich unabweisbar werden, wenn sie als »signifikante Symbole« von anderen anerkannt und geteilt werden. Noch eindringlicher als Mead weist Blumer darauf hin, dass die in Form von Symbolen kommunizierbare Bedeutung jedweden Gegenstands nur aus der Interaktion wechselseitig aufeinander bezogener Individuen erwachsen kann. Bedeutungsproduktion, so Blumer und seine Nachfolger, ergibt sich aus der Interaktion und ist an diese gebunden. Zugleich gilt: Der Zugang zur Gesellschaft ist das Handeln des symbolisch interagierenden Einzelnen, welches als Ausgangs- und Endpunkt jeder empirischen Analyse in Bezug auf die jeweiligen Interaktionspartner und in letzter Instanz verstehend begriffen werden muss.
Zur Person Herbert »Herb« George Blumer wird am 7. März 1900 in St. Louis im Bundesstaat Missouri als Sohn eines Möbelschreiners geboren. Während seines Studiums an der University of Missouri in den Jahren 1918 bis 1922 interessiert er sich allerdings nicht nur für Soziologie, sondern mindestens ebenso sehr für Sport und etabliert sich zunächst als Profi im American Football. 1925 siedelt er nach Chicago über, um dort bei den Chicago Cardinals unter Vertrag zu gehen. Er spielt dort in erster Linie Verteidigerpositionen. Gleichwohl hat er an der dortigen Universi-
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tät »nebenbei« bereits eine Dozententätigkeit im Fach Sozialpsychologie inne und ist im Doktoratsstudium eingeschrieben, das er 1928 abschließt. Bereits vor dem Ende seiner sportlichen Profi-Lauf bahn im Jahr 1933, die ihm mit den Cardinals auch einmal den Meistertitel der National Football League einbringt, kommt Blumer die Aufgabe zu, die Lehrveranstaltungen seines schwer erkrankten akademischen Lehrers Mead zu übernehmen. Die intensive Auseinandersetzung mit den Ideen des Sozialphilosophen Mead sowie die im Chicagoer Kontext der 1920er und 1930er Jahre einflussreiche pragmatische Orientierung der »Chicago School« (Charles Cooley, John Dewey und William Isaac Thomas) lassen den ehemaligen Sportprofi – der nach seiner Promotion 27 Jahre in Chicago tätig ist – zu einer Schlüsselfigur der Soziologiegeschichte werden. Hier erschließt er nicht nur die mitunter schwer zugänglichen Arbeiten Meads; es gelingt ihm auch, sie besser in die Ideen des amerikanischen Pragmatismus einzubetten und damit der soziologischen Diskussion seiner Zeit – und, wie sich zeigen sollte, für alle Zeit – zugänglich zu machen. In einem 1937 erschienenen Aufsatz führt dies Blumer zur »Erfindung« des Theorielabels »Symbolischer Interaktionismus«. Im Jahr 1952 verlässt er die University of Chicago und wechselt an die University of California, Berkeley, wo er der Fachgruppe Soziologie vorsteht. 1956 wird Blumer zum Präsidenten der American Sociological Association gewählt 1972 emeritiert. Am 13. April 1987 stirbt Herbert Blumer in Danville in Kalifornien (vgl. zur Biografie Helle 1977; Plummer 2008; Keller 2009 oder auch Wenzel 2007). Vor allem der Einfluss des amerikanischen Pragmatismus macht Blumer zu einem Soziologen, der Gesellschaft »naturalistisch« ergründen will. Abstrakten Begriffen und Theorien steht er skeptisch gegenüber, da das Soziale für ihn in stetem Wandel begriffen ist und sich nicht auf eindeutig definierte Begriffe festlegen lässt. Die dadurch nahegelegte induktiv-empiristische Vorgehensweise unterzieht er immer wieder kritischen Betrachtungen. Dies geht soweit, dass der Eindruck entsteht, Blumer behindere seine eigene Forschungstätigkeit durch beharrliches Problematisieren der Wechselwirkung zwischen Theorie und Empirie (vgl. Plummer 2008). War bereits Mead bei der Publikation von Büchern sehr zurückhaltend, so scheint Blumer dies übernommen zu haben. Die wichtigsten Beiträge finden sich in wissenschaftlichen Aufsätzen, die im Jahr 1969 in einem Herausgeberband unter dem Titel »Symbolic Interactionism« versammelt werden. Weitere Buchpublikationen können weniger als re-
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präsentativ für Blumers Einfluss im Bereich soziologischer Theorie betrachtet werden. Eher bilden sie ein weiteres Indiz für seine vielfältigen Forschungsinteressen, deren Berichtslegung eben auch hin und wieder in Form eines Buches stattfindet. Zwei Bücher entstammen beispielsweise einer Auftragsforschung zur Wirkung von Filmen auf die Delinquenz jugendlicher Rezipienten. Für eine Würdigung des Blumerschen Werkes aufschlussreicher ist daher der Blick auf seine Aufsatzpublikationen, in denen sich neben vielen Einzelproblemen drei Grundlinien erkennen lassen, die im Folgenden kurz umrissen werden sollen.
Fragestellungen und Erkenntnisse Das Denken Blumers richtet sich neben der Entwicklung der Theorie der symbolischen Interaktion auf wissenschaftstheoretische Probleme sowie auf aktuelle Fragen der modernen Gesellschaft wie Rasse und Rassismus, Mode und Massengesellschaft oder Jugendkriminalität und Filmkonsum. Bevor näher auf seinen Beitrag zur soziologischen Handlungstheorie eingegangen wird, soll kurz der pragmatische Hintergrund seines Denkens an einigen frühen wissenschaftstheoretischen Argumenten illustriert werden. So untersucht Blumer in seinem ersten Aufsatz aus dem Jahr 1931 die Funktion wissenschaftlicher Begriffe. Unter dem provokanten Titel »Science without concepts« (Blumer 1931) stellt er zunächst den Nutzen wissenschaftlicher Begriffe überhaupt infrage, um im Anschluss die Möglichkeiten und Probleme der Begriffsbildung zu diskutieren. Wissenschaftliche Begriffe, so seine These, verleiten dazu, die Wahrnehmung in bestimmte Bahnen zu lenken. Allein der Akt der Konstruktion eines abstrakten Begriffs schafft die Voraussetzung für kollektives Handeln auf diesen Begriff hin – seine Konstruiertheit und soziale Herkunft geraten in Vergessenheit. Gleiches gilt für den Gebrauch von Variablen in der Soziologie – auch sie werden leicht und völlig zu Unrecht verabsolutiert oder objektiviert. Da es keine universell-objektive Wahrheit gibt, sind auch wissenschaftliche Begriffe und Variablen nach Blumer nichts als Symbole, die im Prozess der Kommunikation immer wieder neu interpretiert werden und dadurch ihre Bedeutung verändern. Wenn man also den symbolischen Interaktionismus auf die Wissenschaft selbst anwendet, muss man tradierte Standpunkte und Erkenntniswege grundlegend infrage stellen.
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Der Theorie der symbolischen Interaktion liegen letztlich drei Prämissen zugrunde (vgl. Blumer 1973: 81ff.): Erstens handeln Menschen gegenüber Dingen aufgrund der Bedeutung, die diese Dinge für sie besitzen. Der Begriff der Bedeutung ist hier zentral; Bedeutung, so Blumer, wurde in soziologischen Theorien bis dato entweder als gegeben hingenommen oder für nicht weiter wichtig gehalten. Gemeinhin sei menschliches Verhalten als Resultat äußerer oder innerer Bestimmungsfaktoren begriffen worden. Während für Psychologen Reize, Motive oder Einstellungen handlungsbestimmend seien, setzten Soziologen eher auf sozialstrukturelle Aspekte wie soziale Positionen, Rollen oder Werte und Normen. Der symbolische Interaktionismus verwirft diese Erklärungsweisen und richtet sein Interesse auf die vom handelnden Individuum den Gegenständen konkret beigemessene Bedeutung (die von Weber beispielsweise als vorausgesetzt angenommen wurde). Sinn und Bedeutung, so die zweite Prämisse, sind freilich nicht vorgegeben, sondern entstehen entweder aus der Interaktion zwischen Handelnden oder werden aus einer solchen Interaktion abgeleitet. Damit wird jede substanzialistische Vorstellung verworfen, die davon ausgeht, jeder Gegenstand habe eine Bedeutung a priori. Dies gilt auch für die Annahme, dass die Bedeutung der Dinge sich aus psychischen Grunddispositionen ableiten ließe. Wenn aber die Bedeutung eines Objekts aus der Interaktion erwächst, also ein prinzipiell soziales Produkt ist, muss man sie auch durch die Beobachtung des Handelns innerhalb dieser Interaktion erfassen können. Dies leitet über zur dritten Basisthese des symbolischen Interaktionismus. Hiernach sind die symbolisch produzierten Bedeutungen nicht festgelegt, sondern werden in dem interaktiven Prozess der Auseinandersetzung mit den Dingen selbst noch gehandhabt und verändert. Dabei erfolgt die Verwendung von Bedeutungen im Rahmen eines Interaktionsprozesses in zwei Schritten: Zunächst zeigt der Handelnde sich selbst die Gegenstände an – ein internalisierter Prozess der Interaktion mit sich selbst. Dann findet ein Abgleich von Bedeutungen mit der Handlungsausrichtung und Handlungssituation statt, in dem das Individuum unter Bezug auf seine Interaktionspartner (Dinge und Menschen) sein Tun prüft, ordnet, umformt oder zurückstellt. Dieser Vorgang der Interpretation ist nach Blumer ein formender Prozess, »in dessen Verlauf Bedeutungen als Mittel für die Steuerung und den Auf bau von Handlung gebraucht und abgeändert werden« (Blumer 1973: 84).
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Aus diesen drei Grundsätzen ergibt sich ein völlig anderer, »mikrotheoretisch« akzentuierter Blick auf die Grundbegriffe der Gesellschaftsanalyse. Brauch, Sitte, Norm, Recht und andere »makrotheoretische« Sachverhalte (wie zum Beispiel Kultur) sind für Blumer nicht selbstverständlich und vorgegeben, sondern müssen letztlich auf Handlungen und auf die aus ihnen abgeleiteten Beziehungen zurückgeführt werden. Diese Beziehungen erwachsen der sozialen Interaktion, bei der sich Handelnde wechselseitig durch Gesten und signifikante Symbole die Bedeutung ihres Tuns zu erkennen geben: »um einem anderen anzuzeigen, was zu tun ist, muss man das Anzeigen vom Standpunkt des anderen vornehmen« (ebenda: 89). Das Weltbild des symbolischen Interaktionismus geht somit von einer Welt aus, die sich aus Objekten menschlichen Interagierens zusammensetzt. Zwar erkennt Blumer durchaus das Vorliegen makrotheoretischer Tatsachen an. Aber diese sind für ihn nicht vorgegeben und determinierend, sondern selbst erklärungsbedürftig, insofern es keine Welt gibt, die nicht aus interaktiv entwickelten Bedeutungen entstanden wäre. Grundlegend für die soziale Konstitution der Welt ist, wie man die in ihr versammelten Dinge sieht, wie man in Bezug darauf handelt, wie man über diese Dinge spricht, sie reproduziert oder auch verändert.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Der sehr weit gefasste Handlungsbegriff der Theorie des symbolischen Interaktionismus, der eher an Max Weber als an George C. Homans anschließt, wird von den Vertretern dieser Position nur sehr selten und dann auch nur äußerst vage mit Rationalität assoziiert. Schon Émile Durkheim hat darauf hingewiesen, dass der amerikanische Pragmatismus, in dessen Tradition Mead und auch Blumer stehen, eine Antwort auf den traditionellen Rationalismus ist, der von einer universellen und damit unveränderlichen sowie gottgegebenen menschlichen Natur ausgeht (vgl. hierzu Huber 1978: 410). Freilich gibt es bei Mead Hinweise darauf, dass Handeln, indem es symbolisch vermittelt und notwendig sozial ist, eine rationale Tendenz aufweist. Dem schließt sich auch Blumer an. Zwar weist er darauf hin, dass das Handeln des Einzelnen zunächst einer eigensinnigen Interpretation der Handlungssituation erwächst. Gleichwohl stellt Blumer keineswegs infrage, dass diese eigensinnige Interpre-
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tation an Stereotypen und Vorurteilen orientiert sein mag; und es steht für ihn auch nicht infrage, dass Handeln intentional, zielführend und in diesem Sinne vernünftig und gemäß bestimmter Kriterien optimal ist (oder zumindest sein kann). »Um zu handeln, muss das Individuum erkennen, was es will, ein Ziel oder einen Zweck ermitteln, eine aussichtsreiche Verhaltensfolge entwerfen, die Handlungen anderer zur Kenntnis nehmen und interpretieren, die eigene Situation einschätzen, sich selbst in diesem oder jenem Punkt überprüfen, herausfinden, was an anderen Stellen zu tun wäre, und sich häufig selbst bei schlechter Stimmung oder entmutigenden Situationen antreiben« (Blumer 1966: 536, Übersetzung der Verf.).
Handeln ist also stets intentional und an subjektiv optimalen Ergebnissen orientiert – und in eben diesem Sinne »rational«. »[Aber] dass die menschliche Handlung selbstgesteuert oder selbstgebaut ist, bedeutet keinesfalls, dass der Handelnde zwingend eine Spitzenleistung erbringt. Tatsächlich kann es sein, dass er bei der Konstruktion seines Handelns sehr schlecht ist. Er mag Dinge übersehen, die er beachten sollte, Umstände, die er wahrnimmt, fehlinterpretieren, schlecht urteilen, bei der Planung seiner Handlungen danebenliegen und er mag halbherzig mit schlechter Stimmung fertig werden« (ebenda: 536f., Übersetzung der Verf.).
Der Akteur kann sich also über seine eigene Situation und seine eigenen Möglichkeiten täuschen und im Endeffekt suboptimale oder gar »irrationale« Ergebnisse erzielen. Aber dies ändert nichts daran, dass aus der Binnenperspektive des konkreten Handlungsaktes dieser zunächst einmal als intentional und zumindest »interaktionsrational« erscheint. Denn Akteure müssen zwar ihre Intentionen an die Situation und Interaktionspartner anpassen. Aber sie machen dies in der Regel insofern »rational«, als sie die Rahmenbedingungen der Situation in Rechnung stellen, darauf reagieren und sie in ihrem eigenen Interesse zu beeinflussen und zu verändern versuchen.
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Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Die Situation ist für Blumers Handlungsverständnis von enormer Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen von ihm kritisierten »traditionellen« Ansätzen der Psychologie und Soziologie geht vom Kontext jedoch kein determinierender Einfluss aus. Die Situation ist vielmehr Gegenstand der durch das Individuum notwendig vorzunehmenden Interpretation. Zwar ist Handeln ohne eine vorausgegangene Situationsdefinition für Blumer kaum denkbar. Aber die vorangegangene Situationsdefinition ist eine Erwartung, die in der konkreten Handlung bestätigt (oder falsifiziert) werden kann. Sofern es sich um Interaktion und soziales Handeln handelt, muss sich der Akteur also stets auf die gegebenen oder antizipierten Situationsvariablen beziehen, sie einschätzen, darauf bezogen »irgendwie« handeln – und zwar aus seiner Sicht möglichst rational – und sich dann darauf einrichten, was sich aus der Situation ergibt. Völlig unerheblich ist dabei, ob die Situation »richtig« eingeschätzt wird. Verhalten oder Handeln ist grundsätzlich kontextsensibel, aber dabei stets bewusstseinsvermittelt. Die Handelnden müssen die Situationsbedingungen in irgendeiner Form realisieren und darauf produktiv reagieren. Sie sind keinesfalls Marionetten, die lediglich auf äußere Impulse reagieren. Reaktionen im sozialen Austausch erfolgen vielmehr auf Situations- und Rollenerwartungen und mitunter auch direkt in Bezug auf Gesten und Handlungen anderer. In jedem Fall besteht symbolische Interaktion jedoch darin, dass die Handelnden in der konkreten Interaktionssituation die Gesten anderer interpretieren, ihr Handeln daran orientieren und auf diesem Wege gemeinsam eine Situation(sdeutung) herstellen.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Die epistemologische Grundposition, die Blumer im Anschluss an das Denken Meads entwickelt, zeitigt wichtige Konsequenzen für sein Verständnis sozialen Handelns. Zunächst ist festzuhalten, dass Gesellschaft für Blumer – stärker noch als für Mead – aus sozialem Verhalten und Handeln entsteht. Ohne die ständige Deutung von Situationen, die maß-
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geblich über Symbole vermittelt wird, kann weder gehandelt werden noch ist die Entstehung sozialer Ordnung möglich. Allerdings zeigt sich Blumer skeptisch, was die Konstruktion wissenschaftlicher Begriffe – wie zum Beispiel auch ein klar definiertes Handlungskonzept – angeht. Er geht davon aus, dass wissenschaftliche Begriffe allein aufgrund des andauernden Erkenntnisfortschritts einem schnelleren Bedeutungswandel unterliegen als Alltagsbegriffe. Aus diesem Grund empfiehlt er einen, wie er es nennt, »naturalistischen« Zugang, bei dem die Verwendung von wissenschaftlichen Begriffen lediglich einer ersten Orientierung, nicht aber der Erkenntnisgewinnung oder Theoriebildung dient. Eine »naturalistische« Forschung betrachtet ihren Gegenstand möglichst unvoreingenommen und ohne die Verwendung einer begrifflich-theoretischen Brille. Das heißt nicht, dass der Forscher völlig auf Begriffe verzichten soll. Vielmehr soll er sie als sensibilisierende Begriffe – »sensitizing concepts« (Blumer 1954) – verwenden, deren Funktion darin besteht, erstens neue Orientierungen oder Perspektiven einzuführen, zweitens als Mittel oder Instrument zu dienen, um sich mit der Umgebung auszutauschen, und drittens deduktive Schlüsse zu ermöglichen, womit neue Erfahrungen vorweggenommen werden können (vgl. Blumer 1931: 526). Insbesondere soziologische Theorie entsteht damit nach Blumer in erster Linie durch Induktion von den vorgefundenen sozialen Gegebenheiten und nicht durch eine von Begriffen und Theorien ausgehende Deduktion – eine These, die nach wie vor umstritten, aber auch nur schwer zu widerlegen ist.
Lernkontrollfragen • • •
Was ist nach Blumer symbolische Interaktion? Wie begründet Blumer, dass Handeln nicht trieb- oder instinkthaft, aber auch nicht als Reaktion auf Umweltreize stattfindet? Warum können auch wissenschaftliche Begriffe nur Orientierung bieten?
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Literatur Primärliteratur Blumer, Herbert (1931). Science Without Concepts. In: American Journal of Sociology, Jg. 36, H. 4, S. 515-533. Blumer, Herbert (1954). What is Wrong With Social Theory? In: American Sociological Review, Jg. 18, S. 3-10. Blumer, Herbert (1966). Sociological Implications of the Thought of George Herbert Mead. In: American Journal of Sociology, Jg. 71, H. 5, S. 535-544. Blumer, Herbert (1973). Der methodologische Standpunkt des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 80-146.
Sekundärliteratur Helle, Horst Jürgen (1977). Verstehende Soziologie und Theorie der Symbolischen Interaktion. Stuttgart: Teubner. Huber, Joan (1978). Symbolic Interaction as a Pragmatic Perspective: The Bias of Emergent Theory. In: Manis, Jerome G./Meltzer, Bernard N. (Hg.), Symbolic Interaction. A Reader in Social Psychology, Boston et al.: Allyn and Bacon, S. 409-418. Keller, Reiner (2009). Das interpretative Paradigma. In: Brock, Ditmar/ Junge, Matthias/Diefenbach, Heike/Keller, Reiner/Villányi, Dirk, Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons. Eine Einführung, Wiesbaden: VS, S. 17-126. Plummer, Ken (2008). Herbert Blumer. In: Stones, Rob (Hg.), Key Sociological Thinkers, Houndmills: Palgrave MacMillan. Wenzel, Harald (2007). Herbert Blumer. In: Kaesler, Dirk/Vogt, Ludgera (Hg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart: Kröner, S. 47-53.
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6.3 A LFRED S CHÜT Z : A LLTAGSWELT, S INN UND VERSTEHEN Für Alfred Schütz ist die den Menschen in seinem Alltag umgebende Welt eine sinnhaft aufgebaute Wirklichkeit, die sowohl von seinen Mitmenschen als auch in der soziologischen Forschung notwendig auf Verstehen angewiesen ist. Der von den Menschen in der Alltagswelt mit ihrem Handeln verbundene Sinn muss einerseits von den Handlungspartnern selbst gedeutet und verstanden werden, bedarf aber andererseits auch in der soziologischen Erforschung einer (sinn)verstehenden Methode. Dabei verwenden die Menschen sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft Typisierungen, um sich mit diesen Denkschemata die Wirklichkeit zu ordnen.
Zur Person Alfred Schütz wird am 13. April 1899 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Nach dem vorzeitigen Reifezeugnis im Frühjahr 1917 nimmt er bis November 1918 freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Unmittelbar nach Kriegsende schreibt er sich an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein und schließt seine Studien 1921 mit dem Grad eines Doktors der Rechte ab. Fast sein gesamtes Erwerbsleben ist Schütz als Wirtschafts- beziehungsweise Finanzjurist bei verschiedenen Banken tätig. In dieser Zeit führt er ein »Doppelleben«: während des Tages die juristische Arbeit und nachts und an den Wochenenden seine soziologische und sozialphilosophische Forschungstätigkeit. Nach seinem Studium findet Schütz zunächst eine erste wissenschaftliche Orientierung in den wissenschaftstheoretischen Auffassungen des »Wiener Kreises«, beginnt sich aber schon bald für die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls und die Lebensphilosophie Henri Bergsons zu interessieren. 1926 heiratet Schütz Ilse Heim; aus dieser Ehe gehen zwei Kinder hervor. 1932 erscheint »Der sinnhafte Auf bau der sozialen Welt«. In diesem Buch unternimmt Schütz den Versuch einer phänomenologischen Fundierung der verstehenden Soziologie Max Webers. Im März 1938 gehen Schütz und seine Familie nach Paris ins Exil, um dann im Juli 1939 nach New York überzusiedeln. Dort hat Schütz Kontakt zu amerikanischen Phänomenologen und steht 1940/41 in einem Briefwechsel mit Talcott Parsons über Probleme des sozialen Handelns. Ab 1943 lehrt
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Schütz Soziologie an der New School for Social Research in New York und wird dort 1952 zum Full Professor für Soziologie und Sozialpsychologie ernannt. In seinen späten Aufsätzen arbeitet Schütz amerikanisches soziologisches Gedankengut (insbesondere des symbolischen Interaktionismus mit seinen Begründern Charles Cooley und George Herbert Mead) in seine phänomenologischen Untersuchungen ein. Am 20. Mai 1959 stirbt Schütz in New York.
Fragestellungen und Erkenntnisse Die phänomenologische Vertiefung der verstehenden Soziologie Webers wird von Schütz vor allem in seiner Buchpublikation »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie« (Schütz 1974[1932]) durchgeführt. Schütz’ erstes Werk und zugleich einzige Buchveröffentlichung zu seinen Lebzeiten geht »auf eine vieljährige intensive Befassung mit den wissenschaftstheoretischen Schriften Webers zurück« (ebenda: 9). Er stimmt hierin ganz mit der von Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« gegebenen Begriffsbestimmung überein, in der die Soziologie als eine Disziplin bestimmt wird, »welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1980[1922]: 1). Schütz ist mit Weber der Meinung, dass sich die soziologische Theorie grundlegend am Handeln der Individuen orientieren müsse, da dieses ihr vorrangiger Gegenstand sei. Geht Weber aber von einem durch die sozial Handelnden gesetzten Sinn aus, so möchte Schütz vermittels seiner phänomenologischen Methode den Prozess der Sinnsetzung selbst genau rekonstruieren. Schütz erhebt den Anspruch, die von Weber begründete verstehende Methode in der Soziologie phänomenologisch zu fundieren und damit den Sinnbegriff philosophisch zu vertiefen. Schütz schreibt bereits zu Beginn seines Werkes: »Tiefergehende Überlegungen haben vor allem bei Webers Zentralbegriff des subjektiven Sinns einzusetzen, der nur ein Titel für eine Fülle wichtigster Probleme ist, die Weber nicht weiter analysiert hat, wenn sie ihm auch gewiss nicht fremd waren.« (Schütz 1974[1932]: 9) So beansprucht er, den im Zentrum der verstehenden Soziologie befindlichen Sinnbegriff phänomenologisch zu explizieren und damit den subjektiv gemeinten beziehungsweise gesetzten Sinn in seinem Ursprung in die grundlegenden Aktivitäten des Bewusstseinslebens zu verlagern (vgl. ebenda).
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Weber bestimmt soziales Handeln wie folgt: »›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« (Weber 1980[1922]: 1, Hervorh. im Orig.) Diese Definition nimmt Schütz zum Ausgangspunkt seiner Sondierung von tieferliegenden Sinnschichten des zwischenmenschlichen Handelns. Die zentrale Perspektive für Schütz ist also die Frage nach der Konstitution von Sinn im Bewusstsein der Handelnden selbst, ihre Sinnsetzungsleistungen durch Bewusstseinsaktivitäten. Damit erschließt sich die Welt der subjektiven Erfahrung als Quelle aller im sozialen Handeln wirksamen Sinnkonstruktionen. Der Sinnbegriff wird nach Schütz von Weber zwar zum sozialen Handeln in Beziehung gesetzt, jedoch wird er nach ihm nicht genügend reflektiert, sondern als »intersubjektiv konform« (Schütz 1974[1932]: 16, Hervorh. im Orig.) vorausgesetzt. Schütz will nun gerade eine phänomenologische Untersuchung der Sinnsetzung und des Sinnverstehens leisten, wobei er den Sinnbegriff dynamisiert und die Konstitutionsprinzipien von Sinn analysieren will. Der Prozess der subjektiven Sinnsetzung hat nach Schütz seinen Ausgangspunkt in den konstitutiven Leistungen eines Bewusstseins, das phänomenologisch interpretiert und ausgelegt werden muss. Wesentlich ist für Schütz eine differenzierte Analyse der Erlebnissphäre der Menschen einschließlich der vom Bewusstsein vorgenommenen Typisierungen und Konstruktionen, denn für ihn ist die »Innenseite« des Menschen, das Bewusstsein mit seinen spezifischen Sinnsetzungs-, Sinndeutungs- und Typisierungsleistungen, das primäre Untersuchungsfeld einer phänomenologischen Soziologie. (ebenda) Schütz begreift unter Typisierung eine Idealisierung und Anonymisierung von Erfahrungen, die in den Wissensvorrat eingehen (vgl. Schütz/ Luckmann 1979: 95f.). Dabei werden die Erfahrungen in ihrer »Regelhaftigkeit« erfasst und nicht in ihrer Einzigartigkeit. Typisierungen bilden kontextuelle Ordnungsmuster von Erfahrungen und Handlungen in der Alltagswelt. Sie besitzen die Funktion, kognitive Ordnungsstrukturen und wiedererkennbare Muster aus der Fülle disparater Wahrnehmungen und Erfahrungen aufzubauen. (Schütz 1971a: 324ff.; Schütz/Luckmann 1979: 29, 172ff. und 277ff.) In Typen sammeln und sedimentieren sich die situativ und biografisch bestimmten Erfahrungen. Der in alltagsweltlichen Interaktionssituationen gewonnene persönliche Erfahrungsschatz verdichtet sich zu Typen, die durch neue Erfahrungen bestätigt, modi-
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fiziert und revidiert werden können. Somit resultiert der Typus aus der Verdichtung, Generalisierung und Sedimentierung (Ablagerung) von Erfahrungsmomenten und erlaubt damit die Einordnung neuer – aber irgendwie ähnlicher – Objekte, Ereignisse und Prozesse in bereits bekannte und vertraute Erfahrungsmuster. Schütz ist der Überzeugung, dass der Sinn nicht bereits dem ursprünglichen Erleben und Erfahren anhaftet, sondern erst retrospektiv eine sinnhafte Einheit in diesem Bewusstseinsstrom hervorgehoben wird. »Nur für den rückschauenden Blick also gibt es wohlunterschiedene Erlebnisse. Nur das Erlebte ist sinnvoll, nicht aber das Erleben. Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird.« (Schütz 1974[1932]: 69, Hervorh. im Orig.) Wenn nach Schütz dem ursprünglichen Erleben noch kein Sinn innewohnt, so liegt es nahe, dass seiner Auffassung zufolge auch dem Handeln im Augenblick seines Vollzuges ebenfalls noch kein Sinn zugesprochen werden kann. Die Schützsche Akzentverlagerung des Sinnbegriffs vom Erleben zum Erlebten hat also auch weitreichende Konsequenzen für seine Konzeption des sozialen Handelns. Das unmittelbare Handeln in seinem konkreten Vollzug ist zunächst sinnlos, es kann nur im späteren Rückblick nach dem Vollzug des Handelns mit Sinn belegt werden. Erst der bereits vergangenen, abgeschlossenen Handlung – gewissermaßen dem vorliegenden Ergebnis beziehungsweise Produkt eines Handelns – kann reflexiv ein Sinn beigelegt werden. Schütz geht also davon aus, dass vom Sinn alltäglichen Handelns nur dann gesprochen werden kann, wenn man auf den dem Handeln beigelegten, zugeschriebenen, in reflexiver Zuwendung erst gesetzten Sinn der bereits durchgeführten beziehungsweise als durchgeführt und damit abgeschlossen gedachten Handlung Bezug nimmt. Ähnlich wie bei Bergson, nach dem Sinn erst durch eine »tiefe intuitive Zuwendung« (Srubar 1981: 30) entsteht, zeigt sich auch bei Schütz die unüberbrückbare Trennung zwischen ursprünglich sinnlosem Handlungs- und Bewusstseinsgeschehen einerseits und der nachträglichen Sinnzuschreibung andererseits. Schütz differenziert also explizit zwischen Handeln und Handlung, wobei sich seine Theorie der sozialen Handlung bei näherer Betrachtung vor allem als »Theorie des Entwurfs sozialen Handelns, das heißt, eine Studie seines Motivzusammenhangs« (Grathoff 1977: 63), zeigt. Handeln unterscheidet sich nach Schütz von Verhalten durch einen hohen Grad an Bewusstheit und Absicht. Der »Entwurfscharakter« des Handelns
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macht deutlich, »dass alles Handeln sich nach einem mehr oder minder expliziten, ›vorgefassten Plan‹ vollzieht« (Schütz 1974[1932]: 77, Hervorh. der Verf.). Die Rede vom »Sinn einer Handlung« kann sich dabei nur auf reflexiv erfasste Handlungen beziehen und nicht auf aktuelles, unmittelbares Handeln im Vollzug. Das bedeutet aber, dass im Zentrum der Schützschen Überlegungen ein bereits abgelaufenes Handlungserlebnis liegt. »Soziales Handeln wird daher für Schütz zu einem spezifisch konstruktiven, ›sinnhaften Auf bau‹ leistenden Stil des Alltagserlebens, der im Rückgang auf vorvergangene Erlebnisse und deren Entwurfs- und Motivstrukturen zu differenzieren und zu analysieren ist.« (Grathoff 1978b: 399f., Hervorh. im Orig.) Streng genommen wird also von Schütz im »Sinnhaften Auf bau« keine Theorie des sozialen Handelns vorgelegt, sondern vielmehr eine »Theorie der Handlung […] als konstitutive Theorie der reflexiven Erfassung spezifischer Erlebnisstrukturen« (ebenda: 400). Das alltägliche soziale Handeln der Personen gewinnt seinen Sinn aus dem gemeinsam geteilten Wissensvorrat der Handelnden als einem Erfahrungsschatz, in dem auch frühere Handlungserfahrungen in ihrer typenhaften Struktur enthalten sind. Dieser Wissensvorrat kann reflexiv erfasst werden, er fungiert als Ausgangspunkt für den Entwurf zukünftigen Handelns. Schütz nennt dieses Motivationsmoment für den Handlungsentwurf ein »Weil-Motiv«. Soziales Handeln setzt nach ihm eine »intersubjektive Motivverkettung« (Grathoff 1977: 64) der Motivationsstrukturen voraus, welche darin begründet liegt, dass wir unsere Handlungserfahrungen gemeinsam mit unseren Mitmenschen machen, wobei ein Mindestmaß an Kongruenz von »Weil-Motiven« zwischen den Interaktionspartnern vorauszusetzen ist. Schütz geht davon aus, dass die Motivationsstrukturen von gemeinsam handelnden Personen gewisse intersubjektive Gemeinsamkeiten aufweisen müssen, die ein aufeinander abgestimmtes Handeln erst ermöglichen. Damit eine Handlung tatsächlich ausgeführt werden kann, bedarf es neben dem »Weil-Motiv« auch des wollenden »fiat« (»es soll geschehen«), das durch »Um-zu-Motive« hervorgebracht wird. (Schütz 1971a: 77-83) Die absichtsvolle Intention, den Entwurf zu verwirklichen, ihn in die Realität umzusetzen, gründet im »Um-zu-Motiv«. Eine bestimmte Handlung soll ausgeführt werden, um eine bestimmte Wirkung in der Außenwelt hervorzurufen. Ein zentraler Grundpfeiler für Schütz’ Denken ist das phänomenologische Konzept der Lebenswelt. Im Unterschied zur phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, in der die Lebenswelt transzen-
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dental bestimmt wird, thematisiert Schütz Lebenswelt als ein weltliches Phänomen und nähert sie damit begrifflich dem realen Lebensprozess der Menschen als einer »intersubjektiven Kulturwelt« an. Es geht Schütz also um eine Analyse jener Welt, in der wir »in natürlicher Einstellung Natur, Kultur und Gesellschaft erfahren, zu ihren Gegenständen Stellung nehmen, von ihnen beeinflusst werden und auf sie wirken. In dieser Einstellung ist die Existenz der Lebenswelt und die Typik ihrer Inhalte bis auf weiteres fraglos gegeben hingenommen« (Schütz 1971b: 153). Die Intersubjektivität der Lebenswelt wird als vorgegebene Grundstruktur aufgefasst, welche durch die wechselseitigen Typisierungsleistungen der Gesellschaftsmitglieder eine kontinuierliche Vergegenwärtigung und Aktualisierung erfährt. Schütz ist als Soziologe besonders an der Herausarbeitung dieser »Welt des Alltags« als einer intersubjektiven Kulturwelt interessiert. Die Fokussierung auf die alltagsweltliche »Schicht« der Lebenswelt impliziert jedoch keine Gleichsetzung von »Lebenswelt« und »Alltagswelt«. Sie orientiert sich vielmehr am Modell eines lebensweltlichen Kerns und verschiedener, darum konzentrisch angeordneter Schalen, von denen die »alltagsweltliche Schale« in das wissenschaftslogisch wie auch arbeitsteilig begründete Erkenntnisressort der Soziologie als einer empirischen Wissenschaft fällt. Dennoch werden beide Begriffe bei Schütz nicht immer klar und distinkt verhandelt. Diese Problematik mag ihren Grund unter anderem auch in der schon von Husserl aufgezeigten Fundierungs- und Bodenfunktion der Lebenswelt haben. Als apriorische Lebenswelt ist ihr Charakter universell, als soziohistorische Welt ist sie immer eine kulturell und sprachlich bestimmte relative Welt. Die von Schütz verwendeten Begriffe »Alltagswelt«, »Lebenswelt des Alltags« und »alltägliche Lebenswelt« sind im Wesentlichen synonym zu betrachten und vom Begriff der »Lebenswelt« abzugrenzen. Die Intersubjektivität der Alltagswelt erschließt sich dem Sozialforscher in einer Analyse der im alltäglichen Wissen und in der Alltagssprache repräsentierten kulturellen Symbole sowie der Sinnsetzungs- und Typisierungsleistungen der sozialen Akteure. Die Welt des Alltags ist von Anfang an eine »intersubjektive Kulturwelt«: »Sie ist intersubjektiv, da wir in ihr als Mensch unter Menschen leben, an welche wir durch gemeinsames Einwirken und Arbeiten gebunden sind, welche wir verstehen und von welchen wir verstanden werden. Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutungen
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ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurechtzufinden und mit ihm ins Reine zu kommen« (Schütz 1971a: 11).
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Die Handlungskonzeption von Schütz beschreibt Handeln auf der Basis von Um-zu-Motiven zum überwiegenden Teil als rational; allerdings muss berücksichtigt werden, dass die dem Handelnden bewussten und deutlichen rationalen Handlungsgründe selbst auf nicht-rationalen Sozialisationserfahrungen auf der Ebene der Weil-Motive beruhen. Der Bankräuber raubt eine Bank aus, um an Geld zu gelangen, wählt aber genau diese Option (im Unterschied etwa zum Gelderwerb durch Arbeit), weil sich in der Vergangenheit in seiner biografischen Lebensgeschichte bestimmte negative Sozialisationserfahrungen niedergeschlagen haben. Die spezifische Qualität des Sozialen beruht bei Schütz primär auf rationalen Konstruktionsleistungen autonomer Subjekte; emotionale und leibliche Aspekte werden weitgehend zurückgedrängt. Die Menschen werden als bereits voll ausgebildete, rationale Handlungssubjekte verstanden, ohne – wie in der Theorie von Mead – näher auf ihre Sozialisationsgeschichte zu blicken. Damit erscheinen die sozialen Akteure als eher rational Handelnde, die in rationalen Typisierungen und Konstruktionen auf der Basis eines gemeinsam geteilten alltäglichen Wissensvorrates sich ihrer sozialen Welt vergewissern. Um zu handeln, müssen wir eine mehr oder weniger genaue Vorstellung von dem Resultat des Handelns, also der vollendeten Handlung, haben. Das gilt insbesondere beim rationalen Handeln, bei dem möglichst effizient bestimmte Mittel eingesetzt werden, um ein bereits bekanntes Handlungsergebnis als Ziel zu erreichen: »Sind diese Mittel aber ›gewählt‹, so sind sie ihrerseits wieder entworfene Handlungsziele, und zwar Zwischenziele. Diese Zwischenziele herbeizuführen bedarf es der Wahl neuer Mittel, und so spielt sich bei streng rationalem Handeln von Stufe zu Stufe jener Prozess ab, welchen wir vorhin als Entwerfen des Handlungszieles gekennzeichnet haben. Das rationale Handeln lässt sich geradezu als Handeln mit bekannten Zwischenzielen definieren.« (Schütz 1974[1932]: 80, Hervorh. im Orig.)
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Dennoch geht die Schützsche Analyse der Vielfalt subjektiver Beweggründe für Handeln (Motive, Interessen, Relevanzen, Gewohnheiten, Routinen et cetera) trotz mancher Ähnlichkeiten über die im RationalChoice-Ansatz getroffenen Rationalitätsannahmen hinaus (vgl. zu dieser Diskussion Esser 1991 und Srubar 1992). Der phänomenologische Zugang zum Handeln in der Alltagswelt öffnet den Blick auf die Differenziertheit und Unterschiedlichkeit der Sinnorientierungen der sozialen Akteure.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Primär wird Handeln in der Schützschen Theorie als autonom verstanden; jedoch vollzieht es sich stets auf der Basis der intersubjektiven Strukturen der Alltagswelt, die für den sozialen Akteur in der Handlungssituation den Charakter einer nicht disponiblen Vorgegebenheit besitzt. Diese Intersubjektivität beziehungsweise Sozialität der Alltagswelt stellt die Basis für wechselseitige Typisierungen dar und bildet das kontextuelle Fundament für unsere Handlungen. Freiheit im Handeln ist so für Schütz nur möglich auf dem Boden einer in ihren Grundkonturen in actu nicht veränderbaren Alltagswelt, die zugleich den Hintergrund und Möglichkeitshorizont für zunehmende Freiheitsgrade im Handeln bietet. Als Ganze ist die Alltagswelt für uns nicht verfügbar, aber problembezogene situative Aspekte daraus unterliegen durchaus unserer rationalen und autonomen Zugänglichkeit und Veränderungsmöglichkeit. Dieser Aspekt wird insbesondere in der Rezeption des Schützschen Lebens- beziehungsweise Alltagsweltkonzepts in der kommunikativen Handlungstheorie von Jürgen Habermas ausgearbeitet. Bedeutsam für das soziale Handeln sind also die intersubjektiven Gemeinsamkeiten. Zunächst erscheint jede »biographisch bestimmte Situation« vor allem subjektiv und privat geprägt und damit einzigartig und unverwechselbar. Als Bedingung für soziales Handeln müssen jedoch strukturelle Ähnlichkeiten in den Motivstrukturen der Personen vorausgesetzt werden, damit sie ihr Handeln aufeinander beziehen und koordinieren können. »Nach Schütz sind daher nicht nur die Teilentwürfe des einzelnen Handelnden zur Kette seines individuellen Gesamtentwurfes zusammengefügt, sondern ihre Einzelglieder bilden durch die wechselseitige Abstimmung von Um-zu- und Weil-
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Motiven zwischen den Partnern einen gemeinsamen Verbund, einen Sektor der biographisch bestimmten Situation« (Grathoff 1977: 66).
Die einem Individuum vorgegebene Sozialwelt schränkt dessen Handlungsmöglichkeiten insofern ein, als sie ihm zwar prinzipiell ein Feld offener Möglichkeiten bietet, der Handelnde aber innerhalb dieses Feldes durch Situationsdefinitionen immer nur zwischen verschiedenen für ihn relevanten Alternativen wählen kann. Hier ergibt sich eine Verbindungslinie zu dem in der Handlungstheorie des symbolischen Interaktionismus so bedeutsamen Konzept der Situationsdefinition: »Im wesentlichen besteht das Handeln eines Menschen darin, daß er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt, in Betracht zieht, und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt.« (Blumer 1981[1969]: 95) Das Handeln im Alltag ist dadurch geprägt, dass wir uns an eine gewisse zeitliche Abfolgeordnung nach dem Prinzip »first things first« halten müssen. Eine bestimmte Reihenfolge der Einzelschritte ist zu beachten und wir dürfen und können – Erfolgsorientierung vorausgesetzt – keinen überspringen. Dies gilt beim Backen eines Kuchens und dem Zusammenbau eines Hubschraubermodells ebenso wie bei Bildungskarrieren und dem Vollzug eines religiösen Rituals. So besitzt die Zeitstruktur der Alltagswelt für die konkrete Handlungssituation eine Faktizität, an der sich die subjektiven Intentionen und Zielsetzungen der Personen wie an einem »objektiv« vorgegebenen und damit nur eingeschränkt disponiblen Bezugsrahmen orientieren müssen. (Berger/Luckmann 1980: 29f.) Von vornherein aber treten uns die Gegenstände und Ereignisse in der Alltagswelt bereits in ihrer Typenhaftigkeit entgegen. Wahrgenommenes und Erlebtes erscheint uns nur in einem Horizont der Vertrautheit und des bereits Bekannten als einzigartig. In der sozial strukturierten Welt des Alltags bildet der Typus die Basis für Situationsinterpretationen, in denen unbestimmte Vorgänge in vertraute Zusammenhänge integriert werden. Typen besitzen neben dem subjektiven auch einen intersubjektiven »Pol«, dessen Verbindlichkeit für die gemeinsam Handelnden unter anderem auch durch die objektive Zeit gestiftet wird. Indem die Interaktionspartner Ereignisse in ihrer gemeinsamen soziokulturellen Umwelt gleichzeitig und in ganz ähnlicher Weise wahrnehmen, konstituiert sich eine intersubjektive Basis. Schütz beschreibt diesen Vorgang am Beispiel
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des Vogelfluges, der als ein Ereignis in der objektiven und so für alle verbindlichen Weltzeit eine Synchronisation der Bewusstseinsströme der beteiligten Beobachter leistet: »ich und Du, wir sehen den Vogel im Flug« (Schütz 1971a: 366, Hervorh im Orig.; vgl. auch Schütz 1974[1932]: 229ff.). Die ausgezeichnete Wirklichkeit der Alltagswelt wird durch den vom »common sense« geprägten Alltagsverstand bis auf Weiteres einfach hingenommen. Sie erhält den Akzent einer ausgezeichneten beziehungsweise bevorzugten Wirklichkeit und behält diesen, solange die praktischen Erfahrungen die Einheit und Stimmigkeit dieser Welt als fortwährend gültig bestätigen. Den Menschen in der Alltagswelt erscheint diese Wirklichkeit als natürlich gegeben, scheinbar unveränderlich und »unverrückbar«, sie sehen in ihren Routinen und Gewohnheiten bis auf Weiteres keine Veranlassung, diese natürliche Einstellung zu ändern oder aufzugeben. Ungewohnte Ereignisse, neu auftauchende Probleme und ungewöhnliche Erfahrungen führen zu dem Versuch, das Neue mit dem vorhandenen Wissensvorrat in Deckung zu bringen, eine praktische Lösung für das Problem zu finden. Die Wissensstrukturen der Alltagswelt bilden also bei jeder Handlung einen ermöglichenden und zugleich begrenzenden situationalen Kontext.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Ähnlich wie Weber versteht auch Schütz jede Form wissenschaftlicher Theoriebildung und damit auch die Handlungstheorie als idealtypisches Konstrukt. Idealtypen kommen bekanntlich in der sozialen Wirklichkeit nicht vor, sondern es handelt sich hier vielmehr um vom Forscher entwickelte, rein gedankliche Konstruktionen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu ermöglichen und Realitätsaspekte vergleichbar und in Ansätzen auch messbar zu machen. Menschen nehmen nach Schütz in ihrem Alltag jedoch selbst Typisierungen beziehungsweise Konstruktionen vor, die ihnen Orientierungs- und damit auch Handlungssicherheit geben. Diese alltagsweltlichen Sinnsetzungsleistungen und Typisierungen sollen von einer primär verstehend angelegten Soziologie auf die wissenschaftliche Ebene der objektiven Sinnzusammenhänge gehoben werden. Schütz benennt die Sinndeutungen der Menschen im Alltag als Konstruktionen »ersten Grades«, die in ihrer sozialwissenschaftlichen
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Erforschung in sogenannte Konstruktionen »zweiten Grades« auf der Ebene der wissenschaftlichen Typenbildung transformiert werden. Dabei wird der Sinngehalt der alltäglichen Typisierungen »ersten Grades« nicht negiert oder seiner ursprünglichen Geltung völlig entkleidet, sondern in Anknüpfung bewahrt und einer an den Grundsätzen der Rationalität, Klarheit und Widerspruchsfreiheit orientierten systematischen wissenschaftlichen Analyse zugeführt. Damit steht die soziologische Handlungstheorie vor dem Problem der idealtypischen wissenschaftlichen Rekonstruktion von bereits im Alltag der Menschen vorgängig geleisteten Sinnkonstruktionen (vgl. Grathoff 1977: 63). Aus der phänomenologischen Position ergibt sich die nicht zu umgehende Forderung, jede soziologische Analyse des Handelns stets rückzubinden an die subjektiven Orientierungen, Motivzusammenhänge und Wissensstrukturen der sozialen Akteure. Dies schließt auch die Rekonstruktion der subjektiv geprägten Interessen, Relevanzstrukturen, Gewohnheiten und Routinen ein. Die von Schütz begründete phänomenologische Soziologie knüpft daher in ihrer ausgeprägten Subjektorientierung kontinuierlich an die Bewusstseins- und Erfahrungszusammenhänge der handelnden Menschen an.
Lernkontrollfragen • • •
Welche Kritik äußert Schütz an der verstehenden Methode von Weber? Worin liegt der Unterschied zwischen Handeln und Handlung? Worin liegt die Bedeutung der Alltagswelt für das Handeln?
Literatur Primärliteratur Schütz, Alfred (1971a). Gesammelte Aufsätze. Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Martinus Nijhoff. Schütz, Alfred (1971b). Gesammelte Aufsätze. Band 3: Studien zur phänomenologischen Philosophie. Herausgegeben von Ilse Schütz. Den Haag: Martinus Nijhoff. Schütz, Alfred (1972). Gesammelte Aufsätze. Band 2: Studien zur soziologischen Theorie. Herausgegeben von Arvid Brodersen. Den Haag: Martinus Nijhoff.
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Schütz, Alfred (1974[1932]). Der sinnhafte Auf bau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred (1981). Theorie der Lebensformen. Frühe Manuskripte aus der Bergson-Periode. Herausgegeben von Ilja Srubar. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred (1982). Das Problem der Relevanz. Herausgegeben von Richard M. Zaner. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1979). Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1984). Strukturen der Lebenswelt. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred/Parsons, Talcott (1977). Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel. Herausgegeben von Walter M. Sprondel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sekundärliteratur Abels, Heinz (2001). Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie. 2., überarbeitete Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980). Die gesellschaftliche Konstruk tion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Bergmann, Werner (1981). Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? Ein grundbegriffliches Problem ›alltagstheoretischer‹ Ansätze. In: KZfSS, Jg. 33, S. 50-72. Blumer, Herbert (1981[1969]). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2 Bände. 5. Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 80-146. Eickelpasch, Rolf/Lehmann, Burkhard (1983). Soziologie ohne Gesellschaft? Probleme einer phänomenologischen Grundlegung der Soziologie. München: Wilhelm Fink Verlag [Siehe vor allem S. 9-61: »Zur Einführung« und »Alfred Schütz’ Entwurf einer phänomenologischen Grundlegung der Sozialwissenschaften«]. Endreß, Martin (1999). Alfred Schütz (1899-1959). In: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker der Soziologie. Band 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München: C. H. Beck, S. 334-352.
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Esser, Hartmut (1991). Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und »Rational Choice«. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Grathoff, Richard (1977). Ansätze zu einer Theorie sozialen Handelns bei Alfred Schütz. In: Lenk, Hans (Hg.), Handlungstheorien interdisziplinär. Band IV, München: Wilhelm Fink, S. 59-78. Grathoff, Richard (1978a). Alfred Schütz. In: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Band 2: Von Weber bis Mannheim, München: C. H. Beck, S. 388-416. Grathoff, Richard (1978b). Alltag und Lebenswelt als Gegenstand der phänomenologischen Sozialtheorie. In: Hammerich, Kurt/Klein, Michael (Hg.), Materialien zu einer Soziologie des Alltags, Sonderheft 20 der KZfSS, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 67-85. Preglau, Max (2007). Phänomenologische Soziologie: Alfred Schütz. In: Morel, Julius/Meleghy, Tamás/Niedenzu, Heinz-Jürgen/Preglau, Max/Staubmann, Helmut, Soziologische Theorie. Abriss der Ansätze ihrer Hauptvertreter, 8., überarbeitete Auflage, München et al.: Oldenbourg, S. 67-89. Srubar, Ilja (1979). Die Theorie der Typenbildung bei Alfred Schütz. Ihre Bedeutung und ihre Grenzen. In: Sprondel, Walter M./Grathoff, Richard (Hg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart: Enke, S. 43-64. Srubar, Ilja (1981). Einleitung. Schütz’ Bergson-Rezeption. In: Schütz, Alfred, Theorie der Lebensformen. Frühe Manuskripte aus der BergsonPeriode, herausgegeben von Ilja Srubar, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 9-76. Srubar, Ilja (1992). Grenzen des »Rational Choice«-Ansatzes. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21, H. 3, S. 157-165. Weber, Max (1980[1922]). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
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6.4 P E TER L. B ERGER UND THOMAS L UCKMANN : D IE K ONSTRUKTION DER WIRKLICHKEIT Auf der Grundlage der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz und des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead arbeiten Peter L. Berger und Thomas Luckmann diejenigen Prozesse heraus, in denen die Menschen in ihrem alltäglichen Handeln auf der Basis gemeinsam geteilter Wissensbestände interaktiv eine Welt hervorbringen, die für sie Wirklichkeitscharakter besitzt. Die Herausbildung einer gesellschaftlichen Ordnung ist an Prozesse der Habitualisierung und der Institutionalisierung gebunden. Diese stellen sicher, dass Wirklichkeit nicht nur in den Subjekten beheimatet ist, sondern als objektive Wirklichkeit etabliert, aufrechterhalten und dauerhaft gestützt wird. Im Zentrum des Denkens stehen soziale Objektivierungsvorgänge, die ausgehend von den mikrosoziologisch orientierten Konzepten des sozialen Handelns und der Interaktion den Schlüssel für das Verständnis von Gesellschaft als einer objektiven Wirklichkeit (in der von Émile Durkheim und Karl Marx entwickelten Sicht) bieten.
Zur Person Peter Ludwig Berger wird am 17. März 1929 in Wien geboren und lebt seit 1946 in den USA. 1950 erwirbt er den Grad eines Master of Arts in Soziologie und 1954 den eines Doctor of Philosophy an der New School for Social Research in New York. 1956 wird er Assistant Professor an der University of North Carolina, 1958 Associate Professor am Hartford Theological Seminary und 1963 an der New School for Social Research. 1966 wird er Professor an der City University of New York und ein Jahr später an der New School for Social Research. Seit 1981 ist Berger – inzwischen emeritiert – Professor für Soziologie und Theologie an der Boston University. In seinen Werken beschäftigt er sich vor allem mit Religions- und Familiensoziologie, der spezifischen Situation des Menschen in der Moderne sowie dem interaktiven Zusammenspiel von Mensch und Gesellschaft (vgl. zum Beispiel Berger 1994). Thomas Luckmann wird am 14. Oktober 1927 in Jesenice (Slowenien) geboren und studiert Sprachwissenschaften, Philosophie, Psychologie und Soziologie an den Universitäten Wien, Innsbruck und New York. 1955 erwirbt er den Grad eines Master of Arts in Philosophie und 1956 den
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eines Doctor of Philosophy in Soziologie. Von 1960 bis 1962 ist er Assistant Professor und von 1962 bis 1965 Associate Professor an der New School for Social Research in New York. Ab 1965 ist er Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Frankfurt am Main, von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1994 an der Universität Konstanz. In seinen Publikationen setzt er sich insbesondere mit der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz auseinander und beschäftigt sich mit dem Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Sowohl sein Werk über die »Unsichtbare Religion« (Luckmann 1991) als auch das zusammen mit Berger verfasste Buch »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (Berger/Luckmann 1980[1966]) haben eine große Wirkung in der soziologischen Diskussion entfaltet. Die in diesem Buch vor allem auf der Basis des Gedankenguts von Schütz entwickelte wissenssoziologische Perspektive auf das Handeln der Menschen in der Alltagswelt soll im Folgenden vorgestellt werden.
Fragestellungen und Erkenntnisse Was begreifen wir als Wirklichkeit? Berger und Luckmann sind der Überzeugung, dass Wirklichkeit immer gesellschaftlich beziehungsweise – noch grundlegender und getreu dem englischsprachigen Originaltitel »The Social Construction of Reality« – sozial konstruiert ist. Diese Wirklichkeitskonstruktionen finden auf der Basis eines – wie bereits bei Schütz konzeptualisiert – gemeinsam geteilten Alltagswissens statt. Zu Recht kann daher die Analyse von Berger und Luckmann als »Eine Theorie der Wissenssoziologie« bezeichnet werden, wie es der Untertitel des Buches deutlich macht. Berger und Luckmann betrachten, in Übereinstimmung mit Schütz, den Menschen als sinnhaft handelndes und mit anderen interagierendes Wesen (vgl. zum Beispiel Schütz 1971; 1974[1932]; Preglau 2007). Der Mensch wird in eine vorgegebene Wirklichkeit hineingeboren, deren Elemente und Zusammenhänge er durch Sozialisation zunächst schrittweise in sich aufnehmen muss, wobei er aber zunehmend durch sich entwickelnde eigene Sinndeutungs- und Sinnsetzungsvorgänge Gestaltungsmöglichkeiten erhält. Die bei Schütz herausgearbeitete selbstverständliche Gegebenheit der alltäglichen Wirklichkeit und die Bedeutung des typenhaft strukturierten und gemeinsam geteilten Alltagswissens liegt auch bei Berger und Luckmann vor; sie erweitern den phänomenolo-
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gischen Analysehorizont aber insbesondere um die Aufnahme von im engeren Sinne soziologischen Prozessvorstellungen: Habitualisierung und Institutionalisierung ermöglichen die Herausbildung objektiver Wirklichkeitszusammenhänge, und durch den Sozialisationsprozess wird das Individuum in die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit eingeführt, die sich zugleich in ihm als subjektive Wirklichkeit repräsentiert. Ganz im Sinne von Durkheim und Marx kann diese gesellschaftliche Wirklichkeit auch einen Zwang auf die sozialen Akteure ausüben und sogar verdinglichend auf sie wirken. In knappster Form zusammengefasst: »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.« (Berger/Luckmann 1980[1966]: 65, Hervorh. im Orig.) Schütz und Luckmann (1979; 1984) sowie Berger und Luckmann (1980[1966]) entwickeln auf der Basis einer phänomenologischen Untersuchung der Formen und Strukturen des Alltagswissens sowie der Sinnkonstruktion in der Alltagswelt eine spezifische Form der Wissenssoziologie. Die unhinterfragten alltagsweltlichen Wissensbestandteile verleihen den Menschen – in ihrem Sinne – Sicherheit und Gewissheit nicht nur hinsichtlich ihrer Weltansichten, sondern auch hinsichtlich ihrer Handlungsorientierungen. Diese Gewissheiten sind jedoch stets gefährdet und bedürfen kontinuierlicher Kommunikations- und Interaktionsleistungen, um sie aufrechtzuerhalten, zu bestätigen und zu legitimieren. Berger und Luckmann gehen davon aus, dass jedes menschliche Tun der Gewöhnung unterliegt und dass jede häufig wiederholte Handlung sich zu einem Modell verfestigt, also zu einer handlungsvereinfachenden Gewohnheit habitualisiert wird: »Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann.« (Berger/ Luckmann 1980[1966]: 56) Dabei gilt: »Habitualisierte Tätigkeiten behalten natürlich ihren sinnhaften Charakter für jeden von uns, auch wenn ihr jeweiliger Sinn als Routine zum allgemeinen Wissensvorrat gehört.« (ebenda: 57) Nach Berger und Luckmann haben Menschen prinzipiell die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen; im Alltagsleben ergreifen sie aber oft handlungsvereinfachende Routinen: »Das befreit den Einzelnen von der ›Bürde der Entscheidung‹ und sorgt für psychologische Entlastung, deren anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist.« (ebenda) Eine besonders effektive und
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verbreitete Form der Handlungsvereinfachung wird durch den Prozess der Institutionalisierung gebildet. »Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure. Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut« (ebenda: 58).
Durch wechselseitige Typisierung ist es möglich, die Handlungen des anderen vorauszusehen, erwartbar zu machen und dadurch Handlungssicherheit herzustellen. Habitualisierung und Typisierung von Handlungen sind die ersten Schritte im Prozess der Herausbildung einer geordneten Wirklichkeit als kontinuierliche menschliche Produktion: »Sowohl nach ihrer Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon ablässt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen« (ebenda: 55).
Die Autoren entfalten in ihrem Buch somit eine dynamische und flexible Theorie der Institutionalisierung auf der Basis gesicherter und bewährter Typisierungen. Berger und Luckmann stützen ihre Sicht der Entstehung und der Funktion von Institutionen im Wesentlichen auf den symbolischen Interaktionismus von Mead (vgl. Mead 1973[1934]; Blumer 1981[1969]) und die Gedanken der philosophischen Anthropologie von Arnold Gehlen, gehen aber über Gehlens eher statisches und beharrendes Institutionenkonzept hinaus (vgl. Berger/Luckmann 1980[1966]: 49-98). Auch ist ihnen im Verweis auf Marx das Problem der Verdinglichung der institutionalen Ordnung bewusst (vgl. ebenda: 94ff.). Hierbei trennen sie klar und überzeugend »Vergegenständlichung« (Externalisierung, Objektivierung) von »Verdinglichung«, wobei sie unter Letzterem Folgendes verstehen: »Verdinglichung ist die Auffassung von menschlichen Produk ten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarung eines göttlichen Willens.« (ebenda: 95) »Durch Verdinglichung scheinen die Institutionen mit der Natur
6. Interaktion und Bedeutung
zu verschmelzen; und die Welt der Institutionen wird Notwendigkeit und Schicksal, Glück oder Unglück.« (ebenda: 97) Werden Handlung und Institution nicht aufs Engste zusammengeführt, sodass sie sich in einer permanenten Wechselbeziehung miteinander befinden, kann sich die Welt der Institutionen über den notwendigen Objektivierungsprozess hinaus vom konkreten Handeln so weit abkoppeln, dass sie uns nicht mehr nur als objektivierte und gegenständliche gesellschaftliche Ordnung gegenübersteht, sondern als eigenmächtige Wirk lichkeit und »außermenschliche Faktizität« (ebenda: 94). In der prozessorientierten Perspektive von Berger und Luckmann ist die Erkenntnis unverrückbar, »dass die gesellschaftliche Welt, wie auch immer objektiviert, von Menschen gemacht ist – und deshalb neu von ihnen gemacht werden kann« (ebenda: 95). Die prinzipiell mögliche Neugestaltung gesellschaftlicher Ordnungen wird begrenzt durch die Widerständigkeit der objektiven Wirklichkeit. Sie stellt einen einschränkenden strukturellen Rahmen des Handelns der sozialen Akteure dar. Die von Personen durch Sozialisierungs- und Internalisierungsprozesse ausgebildete subjektive Wirklichkeit ist in ihrer Dauer und Fortsetzung immer an gemeinsam geteilte Plausibilitätsstrukturen gebunden. Der soziale Plural auf allen Aggregationsniveaus, von den Kleingruppen bis zu den Kollektiven, bildet die für den Bestand von Plausibilitätsstrukturen – die mehr sind als nur vorübergehende Erscheinungen – erforderlichen gesellschaftlichen Grundlagen. Dies bedeutet, dass die subjektive Wirklichkeit nur dann intakt bleiben und Bestand haben kann, wenn der durch soziale Prozesse vermittelte wirklichkeitserzeugende Mechanismus der Kommunikation ohne Störungen und Unterbrechungen dauerhaft wirksam ist. Die Konversationsmaschine »muss gut geölt sein und ständig laufen« (ebenda: 165). Dieser wirklichkeitskonstituierende Mechanismus von Sprache in interaktiver Verwendung innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft manifestiert sich in zentraler Weise auch in Erscheinungsformen von Religion: Beispielsweise kann man, so führen Berger und Luckmann aus, »sich seine katholische Religion nur bewahren, wenn man in Beziehung mit der katholischen Kirche bleibt« (ebenda: 165). Weiter heißt es: »Der einzelne Mensch, der lange Jahre unter Andersgläubigen lebt, abgeschnitten von der Gemeinschaft seiner Religion, kann sich zwar weiter als Katholik oder was auch immer identifizieren. Durch Gebet, fromme Übungen und dergleichen mehr
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kann seine alte katholische Wirklichkeit weiter relevant für ihn bleiben. Solche Hilfsmittel können seine beständige Selbstidentifikation als Katholiken mindestens unterstützen. Die ›lebendige‹ Wirklichkeit entrinnt ihnen jedoch allmählich, wenn sie nicht durch Kontakte mit anderen Katholiken ›wiederbelebt‹ werden [sic!]« (ebenda: 166).
Diese Art der Wirklichkeitsregenerierung durch lebendige Teilhabe an einer Interaktionsgemeinschaft, einem sozialen Plural, der unmittelbare Kontakte (»face to face«) und kontinuierliche Gespräche ermöglicht, vollzieht sich auf der Basis eines gemeinsamen Wissensvorrats sowie intersubjektiv geteilter Relevanz- und Plausibilitätsstrukturen. Die soziale Gemeinschaft liefert die unerlässliche Plausibilitätsstruktur für jede Form von Wirklichkeit, auch für eine durch religiöse Konversionsprozesse sich erst konstituierende »neue Wirklichkeit«, die als horizonthaft sich abzeichnendes Phänomen besonders fragil erscheint und noch kaum sozial gefestigt ist. Berger und Luckmann schreiben: »Saulus mag in der Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein. Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein ›neues Sein‹, von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte. Eine solche Verknüpfung von Konversion und Gemeinde ist kein speziell christliches Phänomen – trotz der Einzigartigkeit der Ecclesia. Außerhalb der Umma des Islam kann man kein Moslem, außerhalb der Sangha kein Buddhist bleiben – und wahrscheinlich außerhalb Indiens auch kein Hindu. Religion braucht religiöse Gemeinschaft, und Leben in der religiösen Welt braucht Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinde« (ebenda: 169).
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Luckmann versteht unter Handlungen Aktivitäten, die nicht »von sich aus geschehen, sondern vom Handelnden ausgehen; sie sind »motiviert«. Das die aktuelle Erfahrung steuernde Motiv ist die Erreichung eines Ziels; das Ziel ist die im Entwurf vorweggenommene Erfahrung« (Luckmann 1992: 33). Unter dem Gesichtspunkt der Intentionalität ist in diesem Sinne Handeln als rational anzusehen, auch wenn weder Handeln noch Rationalität von Berger und Luckmann ausdrücklich definiert
6. Interaktion und Bedeutung
werden: »Handeln ist eine Bewußtseinsleistung, nicht eine objektive Kategorie der natürlichen Welt.« (ebenda: 38, Hervorh. im Orig.) Ähnlich wie Schütz sieht auch Luckmann im Handeln ein hohes Maß an Bewusstheit, Absicht und Realisierung eines bereits gefassten Plans. Die Analyse von Handlungen setzt das Verstehen des subjektiv beziehungsweise intersubjektiv gemeinten Sinns der Handelnden voraus; das heißt, das Handeln beziehungsweise die Wirklichkeit der Handelnden soll deutend verstanden werden. Damit ist der Begriff der Handlung – im Unterschied zum Verhalten – untrennbar mit den Sinnsetzungs- und Sinndeutungsleistungen der sozialen Akteure verbunden; und Berger und Luckmann sind der verstehenden Soziologie zuzuordnen, ebenso wie Weber, Schütz, Erving Goffman, Harold Garfinkel und andere. Berger und Luckmann binden dabei den Handlungsbegriff zwar nicht explizit an Rationalitätskonzeptionen, dennoch ist eine Ziel- und damit auch Erfolgsorientierung für das Handeln konstitutiv (vgl. ebenda: 75ff.). Aus den phänomenologisch orientierten wissenssoziologischen Analysen folgt, dass letztlich kein Denken und damit auch kein Handeln objektiv als rational zu begreifen ist, sondern immer nur bereichsspezifisch, situationsgebunden, perspektivisch und damit relativ. »Sinn ist immer die Herstellung von Ordnung, wie sie gelten soll.« (Abels 2007: 96) Jede Annahme eines »gemeinten« Sinns beim Handeln und sozialen Handeln – nach den Begriffsbestimmungen von Weber (vgl. Weber 1980[1922]) – stellt aus der Sicht von Berger und Luckmann immer schon einen Ordnungsversuch dar. »Im sozialen Handeln wird dieser Ordnungsversuch wechselseitig abgestimmt. Im Routinehandeln des Alltags versichern wir uns wechselseitig der Wirklichkeit, wie sie für uns gelten soll.« (Abels 2007: 96) Soziale Ordnung entsteht durch die Institutionalisierung von Handlungen, bei der Wissen ständig durch das Handeln der Individuen einer Gesellschaft bestätigt und so eine sinnhafte (und in diesem Sinne rationale) soziale Ordnung permanent hervorgebracht wird. Damit erscheinen die sozialen Akteure als aus alltagspragmatischen Motiven heraus rational Handelnde, die in rationalen Typisierungen und Konstruktionen auf der Basis eines gemeinsam geteilten alltäglichen Wissensvorrates sich ihrer sozialen Welt nicht nur vergewissern, sondern diese auch hervorbringen beziehungsweise konstruieren.
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Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Im Werk von Berger und Luckmann kann die Gesellschaft als »objektive Wirklichkeit« und damit als der situationale Kontext für das Handeln in der Gesellschaft als »subjektive Wirklichkeit« verstanden werden. Die objektive Gegebenheit der Gesellschaft zeigt sich in der Sprache, sozialen Rollen, Symbolsystemen und Institutionen, die, obwohl sie Hervorbringungen menschlichen Handelns sind, eine Eigenständigkeit und Eigendynamik entfalten. »Die gesellschaftliche Grundbedingung allen (nicht nur des sozialen) Handelns ist also die Vergesellschaftung des Menschen. Dass der vergesellschaftete einzelne Mensch seinerseits die Grundbedingung für Gesellschaft ist, steht auf der Rückseite des gleichen Blattes geschrieben. (Großartiger ausgedrückt: das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum ist ›dialektisch‹.)« (Luckmann 1992: 94, Hervorh. im Orig.)
Damit bildet die Gesellschaft als objektive Wirklichkeit nicht nur einen strukturellen Rahmen für menschliches Handeln, sondern übt auch Zwang auf den Einzelnen aus. Das dialektische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bedarf daher der gleichberechtigten Analyse der Gesellschaft als »subjektiver Wirklichkeit«, das heißt der Prozesse der Sozialisation, Internalisierung und Identitätsbildung als Aneignungsund Verarbeitungsprozesse des Subjekts, die zunächst eine Vorgegebenheit und Fixierung bedeuten, im gelungenen Fall aber entwicklungsgeschichtlich eine autonome Handlungsinstanz hervorbringen. Berger und Luckmann heben die sinnstiftenden Interpretations- und Deutungsleistungen der Menschen in der Alltagswelt besonders hervor, sehen aber auch ganz klar deren Schranken und Begrenzungen. Auf diesen Zusammenhang von Handlung und Strukturbildung bei Berger und Luckmann weist auch Abels explizit hin: »Die Dinge sind nicht so, wie sie sind, sondern wie sie die Gesellschaft für ihre Mitglieder gedeutet hat und wie sie sie weiter deutet. Nachdem wir erst einmal in diese Deutungen im Prozess der Sozialisation eingeführt worden sind, sind wir an diesem kollektiven Deutungsprozess natürlich ebenfalls beteiligt, doch die Chancen und überhaupt das Bedürfnis, die Dinge selbst zu definieren und sie vielleicht
6. Interaktion und Bedeutung
ganz anders zu sehen, sind höchst begrenzt. Die Gründe dafür sind Sozialisation und die Plausibilität von Institutionen, aber auch die Routine des Handelns und die menschliche Bequemlichkeit des gewohnten Denkens« (Abels 2007: 89).
Die Autonomie des Handelns wird bei Berger und Luckmann, in Übereinstimmung mit dem Denken von Schütz, dadurch relativiert, dass jedes Handeln sich stets auf der Basis der intersubjektiven Strukturen der Alltagswelt vollzieht, die für den sozialen Akteur in der Handlungssituation den Charakter einer nicht verfüg- und veränderbaren, sondern zu akzeptierenden Vorgegebenheit besitzen. So ergibt sich zum Beispiel aus der Zeitstruktur der Alltagswelt für die konkrete Handlungssituation eine hinzunehmende Faktizität, an der sich die subjektiven Intentionen und Zielsetzungen der Personen wie an einem »objektiv« vorgegebenen und damit nur eingeschränkt disponiblen Bezugsrahmen orientieren müssen. (Berger/Luckmann 1980[1966]: 29f.) Die Wissensstrukturen der Alltagswelt in Gestalt von Typisierungen und ausgebildeten Symbolsystemen bilden also bei jeder Handlung einen ermöglichenden und zugleich begrenzenden situationalen Kontext.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Berger und Luckmann stellen zwar fest: »In unserer ganzen Studie haben wir jede erkenntnistheoretische oder methodologische Frage nach den Möglichkeiten soziologischer Analyse entschlossen unterlassen – auf wissenssoziologischem wie auch auf jedem anderen soziologischen Gebiet. Wir betrachten die Wissenssoziologie als ein Teilgebiet der empirischen Wissenschaft Soziologie. Unser spezielles Vorhaben ist zwar theoretischer Natur. Aber unsere Theorien gehören in das empirische Fach und zu seinen konkreten Problemen und haben nichts mit der Frage nach den Grundlagen des empirischen Faches zu tun. Summa summarum betreiben wir theoretische Soziologie, nicht Methodologie der Soziologie« (Berger/Luckmann 1980[1966]: 15.)
Dennoch kann festgehalten werden, dass sie insofern als Vertreter des Methodologischen Individualismus zu begreifen sind, als sie das Individuum stets als Bezugsgröße der soziologischen Analyse wählen und die
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Konstruktion der Wirklichkeit als Resultat der gesellschaftlichen beziehungsweise sozialen Interaktion von Individuen auffassen. Berger und Luckmann sind mit Schütz und Weber der Meinung, dass sich die soziologische Theorie grundlegend am Handeln der Individuen orientieren muss, da dieses ihr vorrangiger Gegenstand sei. Die Autoren stehen in der Tradition der von Schütz entwickelten phänomenologischen Methode, nehmen ihren Ausgangspunkt von der Kategorie subjektiver Erfahrungen beziehungsweise der von den Menschen im Alltag vorgenommenen Sinnsetzungs- und Typisierungsleistungen. Diese alltäglichen Konstruktionen »ersten Grades« sollen durch wissenschaftliche Typen »zweiten Grades« sinnhaft verstanden und in objektive Theoriekontexte integriert werden. Damit stehen Berger und Luckmann in der Kontinuität der idealtypischen Begriffsbildung einer sinnverstehenden Methode in der Tradition von Weber und Schütz. Berger und Luckmann entwickeln eine integrative Syntheseleistung soziologischer Theorien, in der sie mikrosoziologische Ansätze (Weber, Mead, Schütz) mit makrosoziologischen (Durkheim, Marx) zu einem eigenen Theoriegebäude verbinden. Ebenso integrieren sie anthropologische (Gehlen), wissenssoziologische (Max Scheler, Karl Mannheim) und (sozial)psychologische (Sigmund Freud, Mead) Perspektiven und Reflexionen, fokussieren dabei jedoch stets den sozialkonstruktivistischen Kerngedanken einer durch das soziale Handeln konstituierten gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Somit bildet das Handeln der Menschen als Tätigkeit den Dreh- und Angelpunkt des Gedankengangs von Berger und Luckmann. Nur durch die Externalisierung des Menschen entsteht als Produkt die Gesellschaft, die durch Objektivierung zu einer außerhalb der menschlichen Subjektivität existierenden und für sich bestehenden Realität wird. Durch Internalisierung und Sozialisation ist der Mensch aber zugleich auch ein Produkt der Gesellschaft. Am Ende ihres Buches »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« steht zu lesen: »Weiter glauben wir bewiesen zu haben, daß sich die theoretischen Positionen Max Webers und Durkheims zu einer umfassenden Theorie des sozialen Handelns vereinigen lassen, ohne die innere Logik beider anzutasten.« (Berger/Luckmann 1980[1966]: 197)
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Lernkontrollfragen • • •
Wie erklären Berger und Luckmann die Entstehung von Institutionen? Inwiefern können alltägliche Handlungen und Interaktionen als rational aufgefasst werden? Wo liegen die Grenzen einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit durch die Handelnden?
Literatur Primärliteratur Berger, Peter L. (1994). Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980[1966]). Die gesellschaftliche Konstruk tion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag [Amerikanisches Original von 1966: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City, NY: Doubleday & Co.]. Luckmann, Thomas (1991). Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luckmann, Thomas (1992). Theorie des sozialen Handelns. Berlin/New York: de Gruyter Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1979). Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1984). Strukturen der Lebenswelt. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sekundärliteratur Abels, Heinz (2007). Berger und Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. In: ders., Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, 4. Auflage, Wiesbaden: VS, S. 87-114. Blumer, Herbert (1981[1969]). Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. 2 Bände. 5. Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 80-146.
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Mead, George Herbert (1973[1934]). Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Herausgegeben von Charles W. Morris. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Preglau, Max (2007). Phänomenologische Soziologie: Alfred Schütz. In: Morel, Julius/Meleghy, Tamás/Niedenzu, Heinz-Jürgen/Preglau, Max/Staubmann, Helmut, Soziologische Theorie. Abriss der Ansätze ihrer Hauptvertreter, 8., überarbeitete Auflage, München: Oldenbourg, S. 67-89. Schütz, Alfred (1971): Gesammelte Aufsätze. Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Martinus Nijhoff. Schütz, Alfred (1974[1932]). Der sinnhafte Auf bau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Max (1980[1922]). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
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Neben dem mitunter geradezu hegemonialen struktur- und systemtheoretischen Paradigma, das in der Nachfolge Talcott Parsons’ die amerikanische Soziologie der Nachkriegszeit dominierte, gab es kaum Platz für alternative Theorieentwürfe. Somit ist es kaum verwunderlich, dass andere Antworten auf die Frage nach sozialer Ordnung eher von Außenseitern formuliert wurden. Zwei prominente Standpunkte dieser Zeit gehen auf den amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel und den kanadischen Soziologen Erving Goffman zurück. Beiden ist nicht nur der Status des »Oppositionellen« gemein, sondern auch, dass sie vergleichsweise wenig Schülerinnen und Schüler um sich scharten und somit keine »Schulen« etablierten. Ähnlich wie Parsons, allerdings weitaus weniger akribisch in der terminologisch-systematischen Erarbeitung ihrer Positionen, setzt ihr Interesse für das Zustandekommen sozialer Ordnung am Handeln interagierender Individuen an. Wenn sie auch keine eigenständige Handlungstheorie entfalten, bleibt das Problem des Handelns in ihrem Denken zentral. Aus der Sicht des dominanten strukturfunktionalistischen Paradigmas wirken sie in ihrer vorübergehenden Randständigkeit als »Gespenster« unterschiedlicher vergessener oder verdrängter Theorietraditionen: Garfinkel distanzierte sich von Parsons, nachdem er den zu seiner Zeit bereits etablierten sozialphänomenologischen Ansatz von Alfred Schütz kennengelernt hatte; Goffman wird – auch wenn er sich selbst keiner solchen Tradition verpflichtet wissen wollte – mitunter der pragmatisch-interaktionistischen Position Herbert Blumers zugeordnet. Gemeinsam ist den beiden ansonsten durchaus unterschiedlichen Ansätzen, dass beide an Alltagshandlungen ansetzen, die einerseits als Ausgangspunkt für die Entstehung sozialer Ordnung und andererseits als deren Folge begriffen werden. Die Analyse des Handelns richtet sich
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Handlungstheorie
in beiden Fällen nicht darauf, Handlungsformen oder -typen zu entwickeln, sondern auf die Frage, wie in sehr unterschiedlichen Alltagssituationen so gehandelt wird, dass die soziale Ordnung bestehen bleibt. Während sich Garfinkel dafür interessiert, an welchen Stellen und in welchem Umfang alltägliches Handeln von versteckten Ordnungsprinzipien strukturiert wird – seine Methode bedient sich der Irritation gerade derjenigen Interaktionssituationen, deren »Funktionieren« von allen Beteiligten als selbstverständlich erachtet wird –, sammelt Goffman Hinweise darauf, wie es Handelnde bewerkstelligen, die soziale Ordnung auch dann aufrechtzuerhalten, wenn sie beispielsweise durch Abweichung oder Andersheit gefährdet ist. Goffman bedient sich dabei eher der teilnehmenden Beobachtung, vermittels derer er sehen kann, wie stark die Ordnung des Alltagshandelns durch die Inszenierung ihrer selbst gewährleistet wird. Mit dem Wiedererstarken der interpretativen Soziologie in den 1970er Jahren, an dem auch das Wirken Garfinkels maßgeblichen Anteil hatten, wurde den Arbeiten der beiden Theoretiker so viel Aufmerksamkeit zuteil, dass sie heute als soziologische Klassiker der zweiten Generation gelten können.
7.1 H AROLD G ARFINKEL : M ETHODEN DES A LLTAGSHANDELNS Das Schaffen des amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel ist untrennbar mit dem Begriff des Krisenexperiments und der auf ihn als Namensgeber zurückgehenden Forschungsorientierung der Ethnomethodologie verbunden. Auf den ersten Blick mag es als verwunderlich erscheinen, dass im Kontext handlungstheoretischer Überlegungen nun von »Experiment« und »Methodologie« die Rede ist. Beide Konzepte scheinen besser in einer Einführung zu Grundbegriffen der empirischen Forschung aufgehoben zu sein. Sie dennoch im Zusammenhang mit Handlungstheorien zu besprechen, rechtfertigt sich aus der hier beispielhaften Verbindung theorieinteressierten Nachdenkens über Fragen des sozialen Handelns mit den sich daraus ableitenden Konsequenzen für empirische Forschungsarbeit. Zur Beantwortung der von Talcott Parsons aufgeworfenen Frage, wie gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten werden kann, bedient sich Garfinkel der von Alfred Schütz angestellten Analysen zum Begriff des
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sozialen Handelns bei Max Weber. Dabei gelangt er zu der Einsicht, dass sich Rationalität nur aus der Interaktion zwischen Individuen ergeben kann. Für die empirische Forschung ist es daher notwendig, diese Art der Entstehung von Ordnung zu beschreiben. Dabei stellt sich das Problem, dass weite Teile des rationalen Alltagshandelns gar nicht bewusst oder geplant vonstattengehen, sondern in Form von Routinen. Man kann die Handelnden also nicht mit Gewinn fragen, warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten, sondern muss ihnen bei ihren Interaktionen zusehen. Daraus erklärt sich der etwas sperrige Begriff Ethnomethodologie; der Forscher soll soziale Interaktionen unvoreingenommen beobachten und in ähnlicher Weise beschreiben, wie dies in der ethnografischen Forschung mit Blick auf »primitive« Kulturen praktiziert wird. Methodologisch ist ein solches Vorgehen insofern, als eine grundlegende Reflexion über die Vorgehensweise bei der wissenschaftlichen Datengewinnung und -interpretation notwendig ist, zumal theoretische Annahmen über soziale Ordnungsprinzipien aus dem Beobachteten abgeleitet werden. Der Weg der Erkenntnisgewinnung verläuft also über die im Alltag vorfindlichen Praktiken. Dabei muss er sich stets mit dem Problem konfrontieren, dass seine eigene Praxis des Beobachtens und Schließens denselben Alltagsrationalitäten unterliegt wie jedes andere Handeln auch. Ein solcher Zugang muss ein weiter gefasstes Verständnis von Handlung zugrunde legen als es beispielsweise bei Weber angelegt ist. Ähnlich wie anderen Praxistheorien – etwa zeitgleich entwickelt Pierre Bourdieu in Europa seine Theorie der Praxis – geht es Garfinkel gerade nicht nur um eine Analyse intendierter Handlungen, sondern um alles, was Menschen in ihren Interaktionen so »tun«. Entsprechend analysiert der Ethnomethodologe seine Gegenstände mithilfe des etwas dehnbareren Begriffs »doing« und nicht im Kontext von »action«. Damit zeigt er an, dass intentionales Handeln nur ein kleiner Teil dessen sein kann, was die in jeder Interaktion sich reproduzierende soziale Ordnung konstituiert.
Zur Person Harold Garfinkel wird am 29. Oktober 1917 in Newark (New Jersey) als Sohn eines Möbelhändlers geboren. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften (Bachelor of Arts im Fach Accounting im Jahr 1939) in seiner Geburtsstadt engagiert er sich in einem »work camp« der Quäker, in dem er mit weltoffenen und vielfach interessierten Studenten
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in Kontakt kommt. Möglicherweise fällt aufgrund dieser Erfahrung seine Entscheidung, nicht den Laden des Vaters zu übernehmen oder eine Wirtschaftslauf bahn einzuschlagen. Nach dem Masterstudium der Soziologie an der Universität von North Carolina in Chapel Hill, das er 1942 abschließt, wird er zum Militärdienst bei der Luftwaffe eingezogen, den er – es ist Krieg – in den Vereinigten Staaten ableistet. Mittlerweile verheiratet mit Arlene Steinbach geht er 1946 nach Harvard, um bei Parsons weiterzustudieren. In dieser Zeit unternimmt er immer wieder Reisen nach Cambridge (Massachusetts) und New York, um die emigrierten Sozialphänomenologen Aron Gurwitsch und vor allem Alfred Schütz zu treffen. 1952 wird Garfinkel in Harvard promoviert und folgt nach einer Gastdozentur an der Ohio State University in Princeton einem Ruf an die zu dieser Zeit noch im Auf bau befindliche University of California in Los Angeles. Dort bleibt er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1987. Am 21. April 2011 stirbt er in Los Angeles (zur Biografie Garfinkels vgl. zum Beispiel Vester 2010). Der Karriereweg und einige prägende Kontakte Garfinkels geben Hinweise auf seinen erkenntnistheoretischen Standort. So vollzieht sich durch ihn der Brückenschlag zwischen dem voluntaristischen Handlungsverständnis Parsons’ und dem sozialphänomenologisch durchdachten Sinnverstehen im Anschluss an Schütz – eine Verbindung von amerikanischer und europäischer Handlungstheorie, die herzustellen Schütz, der vergeblich versucht hatte, mit Parsons ins Gespräch zu kommen, nicht mehr vergönnt war. Für Garfinkel ergibt sich aus dieser Verknüpfung ein Forschungsinteresse an den praktischen, routinehaften, scheinbar »automatisierten« und für die Individuen ganz selbstverständlich scheinenden Alltagshandlungen, die er als implizit geregelt begreift und deren Ordnungsprinzipien er aufdecken möchte. Das Werk Garfinkels umfasst nicht allzu viele schriftliche Arbeiten; und wenn mit Blick auf die Erscheinungsdaten der Eindruck entsteht, dass er vieles erst publiziert habe, nachdem er in Ruhestand versetzt worden war, dann täuscht auch dies. Unter seinen »neueren« Büchern finden sich Sammlungen von Aufsätzen, die teilweise bereits in den 1950er Jahren verfasst worden sind. Auch sein zum Klassiker avanciertes Buch »Studies in Ethnomethodology« (Garfinkel 1967) ist überwiegend eine Zusammenstellung älterer Arbeiten. Der große Ertrag seines Wirkens besteht zu einem großen Teil sicherlich auch in der durch ihn vollzogenen systematischen Weiterführung und Methodisierung der wissenssozio-
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logisch-sozialphänomenologischen Theorieperspektive sowie in seiner Fähigkeit, diese Position zu einer Schule oder gar soziologischen Subdisziplin auszubauen.
Fragestellungen und Erkenntnisse Im Wesentlichen richtet sich die Forschungsarbeit der Ethnomethodologie auf das Verstehen der Konstitutionsbedingungen und -formen sozialer Ordnung, und zwar unter explizit handlungstheoretischen Gesichtspunkten. Die dabei eingenommene Forschungsperspektive betrachtet alltägliche Interaktionen, aus denen diese Ordnung entsteht und in denen sie immer wieder aufs Neue hergestellt wird. Interaktionen umfassen mehr als ein wechselseitig aufeinander eingestelltes soziales Handeln. Analysegegenstände sind vor allem die Praktiken, vermittels derer Individuen ihren Alltag bewältigen, indem sie sich gegenseitig anzeigen, was aus ihrer Sicht der Fall ist. Die Definition der Situation ergibt sich aus der Situation selbst und nicht allein aus den Vorstellungen der beteiligten Individuen. Garfinkel sensibilisiert den soziologischen Blick für Zwischentöne und vermeintliche Nebensächlichkeiten. Er warnt eindringlich davor, sich bei der Interpretation sozialer Sachverhalte vom eigenen Vorwissen leiten zu lassen, und zeigt, dass beispielsweise auch die wissenschaftliche Reflexion keinen höheren Anspruch an Rationalität und Plausibilität, geschweige denn Legitimität, formulieren kann als das Alltagshandeln. Die Perspektive auf »doing« – das »Machen« oder »Tun« – hilft dabei, die vielen nichtreflektierten Aspekte des alltäglichen und nur scheinbar rationalen Handelns offenzulegen. Anwendung findet diese praxistheoretische Forschungsperspektive in Zusammenhängen, bei denen eine genaue Analyse auch verborgener sozialer Ordnungsmuster vorgenommen werden soll. So zeigt Garfinkel (1967) in eigenen Untersuchungen, wie leicht irritierbar die Interaktionsordnungen des Alltags sind, indem er Studierende dazu auffordert, sich zu Hause wie Gäste zu verhalten. An anderer Stelle rekonstruiert er aus der Befragung einer Transsexuellen, wie schwierig es ist, nicht nur den Wechsel der Geschlechtszugehörigkeit medizinisch vornehmen zu lassen, sondern auch sämtliche nicht weiter reflektierten Attribute geschlechtsspezifischen Verhaltens authentisch zu erlernen. Oder er arbeitet heraus, dass die Urteilsfindung von Geschworenen einer komplizierten Vermi-
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schung alltäglichen Urteilsvermögens und juristischer Vorgaben unterliegt, was letztlich zu anspruchsvollen Vermittlungsleistungen zwischen diesen Bereichen in der Praxis von Geschworenen führt. Auch eine ethnomethodologisch reflektierte Sozialforschung bedarf bestimmter Methoden, um ihr Untersuchungsobjekt zu erschließen. Garfinkel, der zunächst versucht, die handlungstheoretisch-sozialphänomenologischen Überlegungen von Schütz methodologisch umzusetzen, greift hierbei in durchaus freier Interpretation auf die von Karl Mannheim entwickelte dokumentarische Methode zurück. Einen anderen methodologischen Status haben die durch ihn berühmt und berüchtigt gewordenen Krisenexperimente, die in erster Linie dazu dienen, die Irritierbarkeit alltäglicher Ordnungen zu demonstrieren, und auf diese Weise zugleich darauf abzielen, so etwas wie Basisregeln sozialen Handelns herauszuarbeiten. Als eine Weiterentwicklung vor allem aus der ersten Phase ethnomethodologischen Denkens kann man das Verfahren der Konversationsanalyse bezeichnen, bei dem es ebenfalls um die Rekonstruktion der impliziten Ordnungen von Alltagskonversationen geht. Die hier entwickelten Methoden nutzt Garfinkel in späteren Jahren auch im Kontext von Arbeitsplatzstudien (»studies of work«). Die »breaching experiments« oder Krisenexperimente sind Illustrationspraktiken, die der Ethnomethodologie ihren Ruf als hochgradig alltagsevidente und mitunter vergnügliche Wissenschaft eingetragen haben. Mit Experimenten im streng wissenschaftlichen Sinn – also als Erzeugung kontrollierter Laborbedingungen und Arbeit mit wohloperationalisierten Variablen – haben diese Experimente wenig zu tun. Vielmehr handelt es sich um Versuche, mit deren Hilfe die Geordnetheit alltäglicher Interaktionen irritiert und deren Brüchigkeit beziehungsweise Fragilität aufgezeigt werden kann. Ein einfaches Krisenexperiment besteht beispielsweise darin, auf die höfliche Erkundigung »Wie geht’s?« mit einer Gegenfrage zu antworten: »Wie es mir geht in Bezug auf was? Meine Gesundheit, meine Finanzen, meine Schulleistung, meinen Seelenfrieden …?« Sehr schnell wird damit die Floskelhaftigkeit der Nachfrage aufgedeckt, und mitunter reagieren die Fragenden pikiert oder verstimmt, insbesondere dann, wenn man nicht lockerlässt und weiter nachhakt: »Schau! Ich habe nur versucht, höflich zu sein. Ehrlich gesagt ist es mir egal, wie es dir geht.« (Garfinkel 1967: 44)
7. Handeln als soziale Inszenierung
Die dokumentarische Methode Mannheims erscheint Garfinkel zunächst deshalb als angemessenste Form der Erforschung sozialer Gegenstände, weil sie nicht nur sprachliche Phänomene zu erfassen vermag. Gegenwärtige Erscheinungen werden dabei als »Dokumente« einer beziehungsweise als »Anzeichen auf« oder als »stehend für« eine allgemeinere zugrunde liegende Regel betrachtet. Dabei geht es nicht allein darum, eine generelle Regel aus einzelnen Hinweisen abzuleiten; die Indizien werden umgekehrt auch als Grundlage dessen verstanden, was über die allgemeine Regel »bekannt ist«. Es geht also um eine wechselseitige Ableitung der Regel aus einzelnen Hinweisen und ihrer Angemessenheit im Hinblick auf die Regel. Vor allem mithilfe dieser Methode, so stellt Garfinkel (ebenda: 77f.) fest, sei es möglich, die alltäglichen Notwendigkeiten des Anzeigens herauszuarbeiten, derer sich eine Person bedienen muss, wenn sie »über etwas« spricht, ohne dabei genau zu sagen, was sie meint, oder wenn Alltagserscheinungen wie der Postbote am Brief kasten, die höfliche Geste des Türauf haltens oder ein Versprechen untersucht werden sollen. Das Verfahren der Konversationsanalyse wurde von Harvey Sacks in engem Schulterschluss mit Garfinkels Ethnomethodologie entwickelt. Im Wesentlichen geht es auch hier um die Rekonstruktion der Ordnung oder Regelhaftigkeit in Interaktionen, wobei ebenfalls besonders auf die Darstellungen geachtet wird, die das gesprochene Wort begleiten. Die Forschungstätigkeit besteht günstigstenfalls in audiovisuellem Erfassen von Interaktionssituationen in Verbindung mit einer anschließenden Verschriftlichung des Materials. Bei der Analyse wird sowohl auf das – möglichst genaue – Transkript wie auf die Aufzeichnung selbst zurückgegriffen. Dabei sind die Forscher bemüht, ihre Alltagstheorien einzuklammern und nach neuen und bislang unerkannten Regeln der Konversation zu suchen. Thomas S. Eberle (1997) berichtet in diesem Zusammenhang von der Entdeckung, dass Einladungen spontan und sofort angenommen werden, während der Ablehnung ein kurzes Zögern vorangeht. Die weitere Analyse besteht dann in der Suche nach Fällen, anhand derer sich diese These bestätigen oder verwerfen lässt. In einem dritten Schritt geht es darum, das Problem zu identifizieren, welches zu einer solchen regelmäßigen Lösung geführt hat: Warum erfolgt zum Beispiel bei einer Einladung zum Abendessen eine Zusage sofort, eine Ablehnung jedoch zögerlich?
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Bei den »studies of work« richtet sich die ethnomethodologische Analyse im Unterschied zu einer an institutionalisierten Zusammenhängen orientierten Perspektive vor allem auf Routinen wie Gespräche oder den Umgang mit technischen Apparaten (vgl. auch hierzu Eberle 1997). Hatte sich Garfinkel bereits früh und in Anlehnung an das Denken von Schütz mit der wirklichkeits- und wahrheitskonstitutiven Arbeit von Geschworenen befasst, so erweitert er seinen Blickwinkel später durch die Integration der Phänomenologie des Leibes nach Maurice Merleau-Ponty. Dabei geht es nicht mehr um die Darstellung, sondern vielmehr um die Ordnung, welche in den verkörperten Praktiken der Akteure zu finden ist. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass Arbeitsplatz- oder Stellenbeschreibungen lediglich »theoretisch« darüber Auskunft geben, wie ein Arbeitsprozess abzulaufen habe. Die Beschäftigten lernen dann erst durch »learning by doing«, wie sie die an sie gerichteten Erwartungen erfolgreich erfüllen können. Ethnomethodologische Arbeitsplatzstudien zeigen also stets mehr als eine formale Analyse des Arbeitsplatzes. Und mitunter stellt dieses genaue Hinsehen Einsichten bereit, mithilfe derer man das zielgerichtete und formal beschreibbare Handeln verbessern kann.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Garfinkels Theorieperspektive kann man, zumindest im Hinblick auf ihre Wurzeln, als eine Verbindung soziologischer Handlungstheorien auf der einen und soziologischer Ordnungstheorien auf der anderen Seite bezeichnen. Ausgangspunkt seines Denkens war die Beantwortung der unter anderem von Parsons gestellten Grundfrage, wie soziale Ordnung möglich ist. Anders als Parsons, dessen maßgeblicher Beitrag in der Rekonstruktion universaler – und das heißt: allgemeingültiger – sozialer Strukturmomente besteht, nach denen sich die Akteure im Wesentlichen richten, lenkt er den Blick auf den Beitrag des Individuums zur Herstellung ebenso wie zur Aufrechterhaltung einer solchen Ordnung. Mit anderen Worten, das Soziale wird nicht von überindividuell vorgegebenen und schon immer bestehenden Regeln zusammengehalten, denen die Individuen als »kulturelle Deppen« (cultural oder judgemental dopes) ohne eigenes Urteils- und Gestaltungsvermögen folgen müssen (Garfinkel 1967). Regeln werden umgekehrt in den und durch die Handlungen
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der Einzelnen erst erzeugt und immer wieder bestätigt. Diese Regeln sind allerdings nicht willkürlich, sondern im Verlauf gesellschaftlicher Evolution gewachsen und erscheinen dem Handelnden als durchaus rational – man kann hier auch von einem sich selbst stabilisierenden Gewohnheitshandeln sprechen. Wenn man, wie Garfinkel dies erstmals vorgeführt hat, die sozialphänomenologische Handlungstheorie nach Schütz zum Ausgangspunkt empirischer Forschung macht, wird man die Rationalität eines Handelns weder einer übergeordneten Instanz zuschreiben noch einem bestimmten Gesetz. Rationalität ist dem Handeln nur insofern vorgelagert, als sie den Handlungsentwurf mitbestimmen kann. Dieser Handlungsentwurf ist nicht nur Gedanke, sondern wird formuliert, indem der Akteur sich selbst und anderen sein Verständnis einer Situation und die sich aus seiner Sicht daraus ableitenden Konsequenzen anzeigt. Für die kommunikative Aushandlung von Ordnung mag das durchaus rational sein – mit Zweckrationalität und rationaler Entscheidung im Sinne utilitaristischer Handlungstheorien hat dies allerdings nicht viel zu tun.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Die Frage, ob der situationale Kontext das Handeln bestimmt, wird aus Sicht der Ethnomethodologie mit einem entschiedenen »Sowohl-alsAuch« beziehungsweise einem »Weder-Noch« beantwortet. Auf der einen Seite ist der Akteur innerhalb seiner sozialen Umwelt Bezugspunkt der Handlungsanalyse; auf der anderen Seite wird die Annahme einer einseitigen Beeinflussung – des Handelnden durch den Kontext oder des Kontexts durch den oder die Handelnden – verworfen. Kennzeichnend für den ethnomethodologischen Standpunkt ist, dass im Hinblick auf das Verstehen von Handlungen eine wechselseitige Konstituierung von Handeln und Kontext angenommen wird. Dieses komplizierte Reziprozitätsverhältnis lässt sich gut anhand von drei in der ethnomethodologischen Analyse zentralen Begriffen verstehen, der Indexikalität, der Reflexivität und der accountability. Der nur schwer übersetzbare Begriff der accountability, der mehr meint als bloße Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit, bezeichnet ein Grundmoment des ethnomethodologischen Zugangs: Als Doppelbegriff für Darstellung und Beobachtbarkeit beziehungsweise Erzählbarkeit weist
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er darauf hin, dass sich Interaktionsteilnehmer gegenseitig den Sinn der Situation, in der sie sich selbst sehen, anzeigen und dass sie dieses Anzeigen durch andere in bestimmter Weise wahrnehmen. Somit besteht jede soziale Situation aus einer Verbindung von Schauen und Erzählen. Eine Darstellung ist deshalb nötig, weil allein Sprache bei Weitem nicht ausreicht, um alle Aspekte einer Situation zum Ausdruck zu bringen. Das Verstehen einer Situation ist somit auch auf ein solches »Drumherum« angewiesen, welches für die wissenschaftliche Beobachtung einer genauen Analyse unterzogen werden muss. Ein beliebtes Motiv nicht nur ethnomethodologisch orientierter Wissenschaftler – insbesondere wenn nicht nur die Rationalität des Handelns, sondern auch die Rationalität der Forschung selbst infrage gestellt wird – ist in diesem Zusammenhang die Vorstellung eines außerirdischen Beobachters, da nur der Idealtyp des Fremdlings den impliziten Regelzusammenhängen der menschlichen Alltagspraxis völlig neutral, weil »unbeleckt«, gegenüberstehen kann. D. Lawrence Wieder und Don H. Zimmerman (1976) stellen einem Aufsatz über diesen Vorgang des Anzeigens den fiktiven Bericht eines Außerirdischen an seinen Heimatplaneten voran. Das lange Zitat zeigt anschaulich, wie wenig selbstverständlich die im Alltag nicht hinterfragte Interaktionspraxis tatsächlich sein kann: »Jede soziale Gruppe von Erdenmenschen ist dadurch charakterisiert, daß ihre Mitglieder fast ohne Unterlaß damit beschäftigt scheinen, sich selbst zu beschreiben und zu erklären. Praktisch alle Erdenmenschen können solche Geschichten erzählen, aber nicht allen Geschichten wird dieselbe Aufmerksamkeit und Beachtung entgegengebracht. […] Die Geschichten der Menschen über sich selbst stellen Handlungen typischerweise als motiviert dar. Zumeist bedeutet das, daß die betreffende Handlung an der Erreichung irgendeiner antizipierten und erstrebten Sachlage orientiert war. Es bedeutet immer, daß die Handlung für den, der sie ausführt, irgendeine subjektive Bedeutung hat. […] Mit der Produktion ihrer Beschreibungen machen die Gruppenmitglieder die Struktur des kollektiven Lebens und der Einzeltätigkeiten, die zu dieser Struktur beitragen, zugleich beobachtbar und verständlich. In diesem Sinn ist Geschichtenerzählen kein einfacher passiver Kodierungsprozeß, sondern vielmehr eine aktive konstitutive Leistung. Derartige Beschreibungen sind für das gesellschaftliche Leben der Menschen, wie ich es beobachtet habe, essentiell, weil sie diesem Leben seine Strukturiertheit geben. Die Ordnung, welche die Erdenmenschen in ihrem eigenen Tun entdecken, ist eine
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geschaffene Ordnung und wird durch ihre eigene Beschreibungsarbeit hergestellt« (Wieder/Silberman 1976: 105ff., Hervorh. im Orig.).
Garfinkel selbst verwendet als Beispiel für accountability das Kunststoffmodell eines Verbrennungsmotors. Anhand eines solchen Gegenstands kann man zeigen, wie ein Motor funktioniert – aber man kann ihn nicht als Motor einsetzen. Vielmehr liefert die Darstellung »eine genaue Repräsentation einiger Beziehungen und einiger Merkmale in der beobachtbaren Situation« (Garfinkel/Sacks 1979: 167) – auch wenn manche Informationen faktisch falsch sind: Der Plastikmotor kann so einfach nicht funktionieren. Der Darstellende muss, wenn er anderen die Funktionsweise eines Verbrennungsmotors erklärt, dazusagen, dass es sich beim Kunststoffmodell nur um etwas Ähnliches, nicht jedoch um einen funktionsfähigen Motor handelt. Darüber hinaus muss man, wenn man mit einem Modell arbeitet, wissen, wie man das Modell bedient und dass dessen Bedienung sich vom Gebrauch eines »echten« Motors unterscheidet. Hinzu kommt – auf der Seite des Schauens – die Voraussetzung, dass auch das Publikum, dem der Motor am Modell erklärt werden soll, verstehen muss, dass das Modell nur ein Modell ist und dass man das hier erworbene Wissen trotzdem anwenden kann, wenn man einen richtigen Motor laufen lassen will. Die Notwendigkeit der Darstellung ist eng verbunden mit dem Problem der Indexikalität. Dieser von Garfinkel aus der Sprachphilosophie und Linguistik in die Soziologie importierte Terminus besagt, dass Handlungen nur im Kontext verstanden werden können. Man kann sich das anhand der Interpretation von Sprechhandlungen, also von sprachlichen Ausdrücken, veranschaulichen. Am Beispiel des Satzes »Ich bin ein Eingeweihter« zeigt Garfinkel die großen Probleme, die sich dem Interpreten stellen, wenn er über keinerlei weitere Information zum Sinnzusammenhang verfügt, in den diese Aussage eingebettet ist. »Das Problem liegt in der Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, wenn er von A gesagt wird, er wahr ist, aber wenn B ihn äußert, er falsch ist; oder, wenn er von A zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt wird, er wahr ist, aber wenn A ihn zu einem anderen Zeitpunkt äußert, er falsch ist; oder wenn er von A aus einem bestimmten Status heraus gesagt wird, richtig ist, aber wenn er von A aus seinem anderen Status heraus gesagt wird, er falsch ist« (ebenda: 142).
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Garfinkel nimmt hier ein Problem auf, das, wie er feststellt, sehr viele Sprachphilosophen beschäftigt hat: das Problem der indexikalischen Ausdrücke, die ohne weitere Kontextinformation nicht richtig verstanden werden können. Wer ist »ich«? In was sollte dieser jemand »eingeweiht« sein? Auf welchen Zeitpunkt bezieht sich dieses »Eingeweiht-Sein«? Die hier aufgezeigten Interpretationsschwierigkeiten treten nicht nur beim Verstehen sprachlicher Ausdrücke, sondern bei jeder beobachteten Handlung auf: Man muss stets den zeitlichen Zusammenhang einer Handlung mit Blick auf die vorangegangenen Handlungen ebenso berücksichtigen wie die Situation, in der das Handeln stattfindet. Das indexikalische Moment des Handelns trägt also nicht in erster Linie dazu bei, den Entwurf eines Akteurs in die Tat umzusetzen; es dient der Erzeugung einer lokalen Ordnung innerhalb einer Situation. Und gerade das ist es, wofür sich die Ethnomethodologie besonders interessiert. Sie will die »Produktion von Ordnung im Handlungsstrom untersuchen« (Eberle 1997: 249, Hervorh. im Orig.). Nimmt man die Verschränktheit jedes Handelns und Verstehens mit der Situation ernst, gelangt man zu der Einsicht, dass es weder einen Kontext gibt, der unabhängig von seiner Deutung besteht, noch eine Deutung, die ohne Kontext sinnvoll wäre. Unter dem Begriff der Reflexivität versteht Garfinkel denn auch das Phänomen, dass sich Kontext und Deutung wechselseitig bedingen beziehungsweise konstituieren. Darstellungen (accounts) werden benutzt, um Alltägliches sowohl als alltäglich als auch um Alltägliches als erstmalig oder außergewöhnlich zu qualifizieren. Damit sind sie reflexive Verfahren, vermittels derer soziale Situationen als vom Handelnden unabhängig konstituiert und letztlich auch beobachtbar werden. Dazu bedarf es des Rückgriffs auf außerhalb des Handlungszusammenhangs liegendes Wissen, das dann in die jeweiligen Kontexte eingespielt wird. »Diese Eigenschaft der Reflexivität der eigenen Handlungen, welche die Mitglieder in die Lage versetzt, die Vernünftigkeit ihrer eigenen Handlungen für andere erkennbar zu machen, nehmen diese als gegeben hin; sie hinterfragen sie nicht, und in diesem Sinne ist sie ›uninteressant‹« (Weingarten/Sack 1979: 18f.).
Sobald die Beteiligten jedoch damit beginnen, über den Sinn ihrer Darstellungen offen zu reflektieren, stellen sie den common sense als System der Grundannahmen ihrer Alltagsrealität infrage.
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Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Die Abwendung Garfinkels von den als zu statisch empfundenen Momenten der strukturfunktionalistischen Handlungstheorie – später wird er allgemein von Ansätzen formaler Analyse sprechen (Garfinkel 1996) – erklärt sich durch den Einfluss Schützens, dessen sozialphänomenologische Handlungstheorie Antworten auf die Fragen nach den Grundbedingungen des individuellen Handelns ebenso wie des wechselseitigen Verstehens bereitstellt. Wenn man mit Schütz davon ausgeht, dass der Sinn jedes Handelns sich aus den situativen Umständen in Verbindung mit dem subjektiven Gewordensein ableiten lässt, kann man nicht mehr annehmen, dass die Handelnden überindividuellen Prinzipien folgen. Der Sinn ihrer Handlungen ist stets bei ihnen selbst zu suchen. Warum es dann trotzdem zu sozialem, also wechselseitig aufeinander bezogenem Handeln kommen kann und warum dennoch gegenseitiges Verstehen möglich ist, beantwortet Schütz mit einer Reihe von Grundannahmen. So stellt er fest, dass der Einzelne nur dann seine eigenen Handlungen als sinnhaft erfahren kann, wenn er zwei Idealisierungen vornimmt. Erstens muss er davon ausgehen, dass bestimmte Handlungsabläufe immer wieder durchführbar sind und zweitens, dass diese Handlungen in wiedererkennbaren Abfolgen organisiert sein können. Hinzu kommt, dass es für den Einzelnen keine Grundlage gibt, auf der er das Verhalten eines anderen verstehen könnte. Zudem kann er nicht davon ausgehen, von anderen verstanden zu werden. Wenn es unter diesen kontingenten Bedingungen dennoch zu sozialem Handeln kommt, muss jeder Einzelne in Bezug auf sein Gegenüber einige Vorannahmen machen: Die für Schütz zentrale Generalthese des Alter Ego besagt, dass jedes Individuum davon ausgeht, dass der andere im Grunde ähnlich wahrnimmt und denkt. In Schütz’ Worten, der sich hier auf den Sozialphilosophen Max Scheler bezieht, besteht dies in der Einsicht, »daß auch das Du Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine« (Schütz 1974[1932]: 138). Mithilfe der Generalthese von der Reziprozität der Perspektiven versichert sich ein Individuum darüber, dass sich andere grundsätzlich ebenso in seine eigene Situation hineinversetzen können, wie es selbst dies bei anderen kann. »Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite
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erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich« (Schütz/Luckmann 1979: 88). Intersubjektives Verstehen wird vor diesem Hintergrund zwar nicht systematisch begründbar, wohl aber als praktisch möglich nachvollziehbar. Zentral ist dabei, dass die soziale Wirklichkeit keinesfalls vorgegeben ist, sondern sich immer wieder aus den wechselseitigen Bezugnahmen der Individuen in Interaktionszusammenhängen herausbildet und fortsetzt. Aus diesen Vorüberlegungen leitet Garfinkel zwei Konsequenzen ab. So bezeichnet er die Art und Weise, in der die sozial Handelnden in ihrem aufeinander bezogenen Tun soziale Ordnung hervorbringen, als Methode, weil sie sich dabei einer der Situation geschuldeten überindividuellen Regelhaftigkeit sowie ihres Wissens bedienen. Das Wort »Methode« wird hierbei als Ethno-Methode – man könnte dies vielleicht auch übersetzen als »Volks-Methode« im Sinne einer Allgemeinmethode oder besser als Alltagsmethodik, die je nach beobachteter Kultur differiert – eher im Sinne von Praktik verstanden. Die Einsichten, welche sich aus der Analyse solcher Methoden der Alltagsbewältigung und -gestaltung ableiten, können dann im Sinne der Ethnomethodologie hinsichtlich ihrer Regelmäßigkeit und Geordnetheit untersucht werden. Der angemessene Weg zur Erkenntnisgewinnung oder -absicherung besteht bei Garfinkel in der Beschreibung des sozialen Geschehens, die er als realistische Rekonstruktion alltagsbezogener Wissensstrukturen begreift. Nimmt man diesen Zugang ernst, muss man eine solche Perspektive jedoch auch auf andere Handlungszusammenhänge übertragen – zum Beispiel auf die Wissenschaft. Warum sollte nicht auch das berufsmäßige Handeln der Wissenschaftler denselben oder zumindest sehr ähnlichen Regeln folgen wie das der Menschen in ihren Alltagsverrichtungen? Daraus ergibt sich, dass man auch die Ethnomethodologie ethnomethodologisch untersuchen kann. Als einer der Ersten hat Garfinkel die sozialphänomenologischen Überlegungen von Schütz empirisiert beziehungsweise methodisiert. Dass er sich für Alltagshandeln interessiert, welches bei ihm als Praktik oder Gewohnheitshandeln beschrieben wird, ist kein genuin neuer Beitrag. Entsprechende Ideen finden sich auch bei Blumer oder bei Berger und Luckmann. Soziologiegeschichtlich besteht seine Bedeutung zunächst darin, über ein neues Handlungs- beziehungsweise Praxisverständnis nicht nur die Fixiertheit strukturfunktionalistischer Analysen auf universelle gesellschaftliche Makrostrukturen, sondern auch die
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Grenzen des Objektivitätsanspruchs der Soziologie seiner Zeit aufzudecken (vgl. Patzelt 2007). Anders ausgedrückt: Garfinkels Zugang bricht ein realistisches Wirklichkeitsverständnis konstruktivistisch auf, ohne den Verkürzungen einer intentionalistischen Erklärung sozialer Ordnung zu erliegen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist sozial konstruiert, also »gemacht« – aber sehr viele Aspekte dieser »Gemachtheit« entziehen sich dem reflektierenden oder sinnzumessenden Denken des in Routinen und Praktiken eingebundenen Alltagsmenschen. Auch in diesem Sinn versteht sich sein Buch »Studies in Ethnomethodology« als Einladung zu einer qualitativ-empirischen Forschung, die gerade diejenigen Handlungszusammenhänge entdecken möchte, welche ausgeblendet bleiben, wenn man von einem voluntaristischen oder zweck- beziehungsweise wertrationalen Handlungsbegriff ausgeht.
Lernkontrollfragen •
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Unter welchem Hauptgesichtspunkt grenzt sich die Ethnomethodologie vom Denken Parsons’ ab und inwieweit schließt sie an die Sozialphänomenologie nach Schütz an? In welchem Zusammenhang stehen die Begriffe der Darstellung (accountability), der Indexikalität und der Reflexivität? Wie lässt sich die Irritierbarkeit alltäglicher Ordnungen mithilfe der Ethnomethodologie zeigen?
Literatur Primärliteratur Garfinkel, Harold (1967). Studies in Ethnomethodologie. Cambridge Malden, MA: Polity Press. Garfinkel, Harold (1996). Ethnomethodology’s Program. In: Social Psychology Quarterly, Jg. 59, H. 1, S. 5-21. Garfinkel, Harold/Sacks, Harvey (1979). Über formale Strukturen praktischer Handlungen. In: Weingarten, Elmar/Sack, Fritz/Schenklein, Jim (Hg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 130-176. Schütz, Alfred (1974[1932]). Der sinnhafte Auf bau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas (1979). Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Sekundärliteratur Eberle, Thomas S. (1997). Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Hitzler, Ronald/Honer, Anne (Hg.), Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Opladen: Leske + Budrich, S. 245-279. Lawrence, D. Wieder/Zimmermann, Don L. (1976). Regeln im Erklärungsprozess. Wissenschaftliche und ethnowissenschaftliche Soziologie. In: Weingarten, Elmar/Sack, Fritz/Schenklein, Jim (Hg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 105-129. Patzelt, Werner J. (2007). Harold Garfinkel. Studies in Ethnomethodology. In: Kaesler, Dirk/Vogt, Ludgera (Hg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart: Kröner, S. 136-139. Vester, Heinz-Günter (2010). Harold Garfinkel und die Ethnomethodologie. In: ders., Kompendium der Soziologie III: Neuere soziologische Theorien. Wiesbaden: VS, S. 37-50. Weingarten, Elmar/Sack, Fritz (1979). Ethnomethodologie. Die methodische Konstruktion der Realität. In: Weingarten, Elmar/Sack, Fritz/ Schenklein, Jim (Hg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-26.
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7.2 E RVING G OFFMAN : D IE S ELBSTDARSTELLUNG IM A LLTAG Während sich weite Teile der soziologischen Handlungsforschung in der Nachfolge Max Webers auf das zweckrationale Handeln als den der modernen Gesellschaft zugedachten Typus ausrichten, wird hin und wieder die Frage gestellt, ob die Webersche Typologie geeignet ist, den Sinn individuellen Handelns angemessen zu erfassen. Die von Erving Goffman in die soziologische Diskussion eingebrachte Idee der Selbstinszenierung, die bisweilen als »dramaturgisches« Handeln bezeichnet wird (vgl. Habermas 1988), kann man als einen die Weberschen Bestimmungsgründe des Handelns ergänzenden Typus auffassen.
Zur Person Am 11. Juni 1922 kommt Erving Goffman in Kanada als Sohn einer ukrainischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens zur Welt. In Manitoba beginnt er ein Studium der Chemie, das er jedoch nicht beendet. Stattdessen jobbt er beim Canadian National Film Board, wo sein Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge geweckt wird. 1944 nimmt er daraufhin das Studium der Soziologie und Kulturanthropologie an der Universität von Toronto auf – unter anderem bei dem der Durkheim-Tradition verpflichteten Charles William M. Hart und dem mit dem Anthropologen Gregory Bateson befreundeten Ethnologen Ray Birdwhistell –, das er binnen zwei Jahren mit dem Bachelor of Arts abschließt. Zum Masterstudium siedelt Goffman in die USA über. An der University of Chicago absolviert er nicht nur den Master of Arts im Fach Soziologie, sondern arbeitet auch in Forschungsprojekten mit, lernt seinen späteren Mentor, den Sozialanthropologen W. Lloyd Warner, kennen und studiert bei dem Soziologen Everett C. Hughes. Warner ermöglicht ihm einen Forschungsaufenthalt auf den schottischen Shetlandinseln, wo er empirisches Material für seine Dissertation sammelt. Im Jahr 1953, wieder zurück in den Vereinigten Staaten, promoviert er bei Warner, dem Psychologen Donald Horton und dem Soziologen und Blumer-Schüler Anselm L. Strauss. Seine akademische Ausbildung und die teilweise aus ihr resultierenden Forschungsinteressen machen Goffman mit Blick auf den Mainstream der amerikanischen Soziologie zu einem Grenzgänger, für den es zunächst nicht leicht ist, im universitären Leben Fuß zu fassen. Über sei-
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ne epistemologische Einordnung scheiden sich die Geister, da die einen Interpreten seines Werkes die pragmatisch-interaktionistischen, andere aber die strukturalistischen Lesarten akzentuieren. Trotz der auch von Goffman selbst stets abgelehnten Vereinnahmung durch eine bestimmte Denkrichtung ist sein erstes Buch, das auf den Erkenntnissen seiner Doktorarbeit auf baut und das er 1959 unter dem Titel »The Presentation of Self in Everyday Life« veröffentlicht, ein großer Erfolg. Bereits ein Jahr zuvor erhält Goffman eine Professur an der University of California, wo er mit Herbert Blumer zusammenarbeitet. Zehn Jahre später wechselt er auf eine Professur für Anthropologie und Soziologie an die University of Pennsylvania. Dort verfasst er die umfangreiche Studie »Frame-Analysis«, die 1974 erscheint. 1981 wird er zum Präsidenten der American Sociological Association (ASA) gewählt. Allerdings ist er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, seine Antrittsrede zu halten. Am 19. November 1982 erliegt er in Philadelphia einem Krebsleiden (zur Biografie Goffmans vgl. Burns 2002; Hettlage/Lenz 1991; Raab 2008 oder Vester 2010).
Fragestellungen und Erkenntnisse Eine frühe eigenständige Forschungsarbeit Goffmans, die geradezu quer zu den im Tagesgeschäft soziologischer Forschung seiner Zeit produzierten Wissensinhalten liegt, ist die im Anschluss an seine Beobachtungen auf den Shetlandinseln vorgelegte Studie über Formen der Selbstdarstellung im Alltag. Bereits hier zeichnet sich eine Besonderheit aller folgenden Goffmanschen Untersuchungen ab: Sie werden »naturalistisch«, und das meint: sehr nah am empirischen Material, entwickelt und mit durchaus »bunt« zusammengestellten Beispielen und »Belegstellen« illustriert. Terminologische Festschreibungen oder Definitionen seiner Begriffe lehnt er ab. Seine offenbar im Zuge der Zusammenarbeit mit Blumer entwickelte Skepsis gegenüber der Tragweite wissenschaftlicher Begriffe begründet er damit, dass die »Umgangssprache und die gewöhnliche Schreibpraxis so flexibel sind, daß man alles ausdrücken kann, was man möchte« (Goffman 1980: 20). Wie auch bei Blumer sollte man eine solche Zurückhaltung jedoch nicht als Ignoranz gegenüber begrifflicher Präzision auffassen – sie verweist vielmehr auf Goffmans Sensibilität im Umgang mit theoretischen Konzepten, die die Gefahr bergen, zu Analyseschablonen zu verhärten, anhand derer die soziale Wirklichkeit den
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Vorannahmen und Vorstellungen der Forschung angepasst wird. Damit wird verständlich, warum Goffman den in seinen Arbeiten recht zentralen Handlungsbegriff nicht als eigenständiges Konzept definiert. Entsprechend finden sich auch unterschiedliche Lesarten der Wörter »Handeln« oder »Handlung« bei Goffman. Drei dieser mithin sehr unterschiedlichen Begriffsverständnisse sollen im Folgenden kurz umrissen werden. Vom Standpunkt des auf begriffliche Präzision angewiesenen Handlungstheoretikers muss Goffmans Abhandlung zum Phänomen der Action – vielleicht trifft die phonetische Ausführung dieses auch im Deutschen gängigen Anglizismus als Äktschn, wie zum Beispiel in der Verbindung mit Actionfilm oder Actionpainting, ganz gut die hier implizierte Bedeutung – schon fast als Provokation aufgefasst werden (vgl. Goffman 1986). Eindeutig geht es hier um eine alltagssprachliche Bedeutungsdimension des in der sozialwissenschaftlichen Handlungsforschung zentralen Wortes, um die sich die strenge Theoriearbeit kaum schert: Es ist zwar von Handlung (»action«) die Rede – allerdings geht es eben überhaupt nicht oder nur am Rande um eine grundlegende Konzeption des Tuns, Duldens oder Unterlassens. Im Blick steht vielmehr die Suche des Individuums nach Äktschn, also nach Situationen, in denen »was los ist«. Goffman, der zunächst einen traditionell handlungstheoretischen Einstieg wählt, indem er eine Typologie von mehr oder weniger entscheidungsträchtigen Gelegenheiten entfaltet, richtet den Blick dann auf Situationen, in denen sich Individuen auf die Suche nach Risiken begeben. Zentrales Motiv ist dabei nicht nur die Vernünftigkeit zielgerichteten Handelns, sondern vor allem das Begleitmotiv des Nervenkitzels, wenn zum Beispiel am »Action-Tisch« im Casino mit erhöhten Einsätzen gespielt wird. Die im Grunde irrationale Intention, sich auf ein in aller Regel unfaires Spiel einzulassen und dabei hohe Geldsummen zu riskieren, tritt gegenüber der durchaus rationalen Suche nach risikoreichen Situationen in den Hintergrund. Ein anderes Beispiel Goffmans ist die Zulassung »sportlicher« Autos für den Straßenverkehr. Alle Vernunft spricht dafür, vorausschauend, defensiv und mit Bedacht zu fahren; Eigenschaften von Sportwagen sind allerdings Schnelligkeit, Wendigkeit und eher aggressives Design. Warum sollte jemand, der sich einen Sportwagen kauft, lediglich mit der potenziellen Verfügbarkeit dieser Eigenschaften zufrieden sein? Schnelle Autos sind nach Goffman dazu geeignet, einen riskanten Fahrstil zu pflegen. Auch hier ist der Einsatz hoch und es geht nicht nur um Angeberei
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oder Distinktion, sondern eben auch darum, gelegentlich die technischen Möglichkeiten des Geräts auszureizen. Goffman zeigt, dass in der von rationalen Sicherheitskonstruktionen befestigten sozialen Welt Bereiche von Irrationalität und Unsicherheit kultiviert werden beziehungsweise dass unterschiedliche Zielrichtungen oder Motivationen von Rationalität berücksichtigt werden müssen. Die Goffmansche Provokation, die darin besteht, einen sozialwissenschaftlichen Grundbegriff weitgehend abseits seiner wissenschaftlichen mit einer bestimmten alltagssprachlichen Bedeutung zu konfrontieren, wird damit zu einer Warnung vor einer Engführung theoretischer Konzepte einerseits und vor den Gefahren der begrifflichen Abstraktion andererseits. Handeln ist eng verbunden mit Entscheiden – allerdings lässt sich nur schwer einschätzen, wie es um die Motive beziehungsweise den Sinn des Handelns bestellt ist. Der Sinn leitet sich bei Goffman aus den Gegebenheiten der jeweiligen Handlungssituation ab und kann nur aus ihr bemessen werden. In einem frühen Aufsatz beschreibt Goffman (1952) einige Randbedingungen der Interaktion beim sogenannten Pyramidenspiel. Das Prinzip dieses zwielichtigen »Spiels« besteht darin, dass Mitspieler dadurch zur Teilnahme motiviert werden, indem sie einen höheren Geldbetrag investieren und später ein Vielfaches ihres Einsatzes ausbezahlt bekommen. Dieses »todsichere« System funktioniert aber nur dann, wenn jeder Investor seinerseits mehrere Investoren findet, die nicht nur seinen Gewinn, sondern auch den der höheren Ebenen einer schnell wachsenden »Pyramide« finanzieren. In der Regel endet das Wachstum der Pyramide, sobald an der breiten Basis nicht mehr genügend Geldmittel zur Verfügung gestellt werden. Die unteren Ebenen verlieren dann ihren Einsatz ohne Anspruch auf Erstattung. Obwohl das Pyramidenspiel in vielen Ländern verboten und das Risiko einer Beteiligung vergleichsweise leicht durchschaubar ist, lassen sich mögliche Opfer immer wieder von der Aussicht auf schnelles Geld blenden. Auf der Seite der Pyramidenbetreiber hat sich zudem die Praxis etabliert, durch Trost und Drohung den Geschädigten über ihren Verlust hinwegzuhelfen, um einerseits die Möglichkeit einer erneuten »Investition« offenzuhalten und andererseits eine Anzeige zu vermeiden. Goffmans Analyse setzt da an, wo »Investoren« viel Geld verloren haben und sich darüber klar werden, dass sie »ausgenommen« worden sind. Da das Risiko offensichtlich ist, müssen die Opfer sich ihren (Gesichts-)
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Verlust in der Regel selbst zuschreiben, zumal sie freiwillig teilgenommen haben. Sowohl für die Organisatoren der Pyramide als auch für die Geschädigten geht es nun darum, das durch Gesichtsverlust beschädigte Selbst wieder aufzurichten beziehungsweise die in mehrfacher Hinsicht gestörte soziale Ordnung wieder herzustellen. Aus der Sicht des Betrügers muss eine Unterbrechung des Pyramidenspiels durch Anzeige oder Selbstjustiz vermieden werden, und für die Opfer sollte der Sachverhalt der Schädigung weitestmöglich bagatellisiert und normalisiert werden. Auf der Grundlage dieser Diagnose sucht Goffman nach sozialen Handlungszusammenhängen, in denen Menschen hinsichtlich ihrer Identität Schaden nehmen, indem sie einer der von ihnen eingenommenen sozialen Rollen nicht genügen, scheitern und mit sozialem Statusverlust konfrontiert sind. Nach einer Bestandsaufnahme solcher Situationen erweitert er in Anlehnung an seinen Einstieg über das Pyramidenspiel seine Analyse auf diejenigen Akteure, deren Aufgabe darin besteht, das »verletzte« Selbst wieder aufzurichten. Abhängig vom sozialen Zusammenhang, in dem das Scheitern stattgefunden hat, identifiziert Goffman auch hier eine Reihe von Handlungsstrategien. Seine Folgerung aus der Darstellung dieser Interaktion des »Herunterkühlens« bei emotionalen Kränkungen mündet jedoch schließlich in eine handlungsbezogene Strukturdiagnose. In der Verallgemeinerung über seine Fälle stellt er fest, dass Gesellschaften offenbar institutionelle Einrichtungen bereithalten (vgl. auch Goffman 1961), wie mit Beschädigten umgegangen wird beziehungsweise wie Beschädigte sich selbst im Hinblick auf die Zeugen ihrer Beschädigung verhalten. So müssen in der Interaktion wechselseitig Handlungsinszenierungen abgestimmt werden, die dazu dienen, die irritierte Ordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen (vgl. auch Goffman 1996). Dies sind neben gelungenen Neuorientierungen und Reintegrationen durch ad hoc eingesetzte oder professionelle »Abkühler« – Goffman denkt hier beispielsweise an Psychotherapeuten – die vielfältigen »Abstellgleise«, auf denen die Beschädigten dann »geparkt« werden: Gefängnisse, Altersheime, geschlossene Anstalten, aber auch Brücken, unter denen die Obdachlosen schlafen oder Abteilungen von »Frühstücksdirektoren«. Goffmans Analyse erfasst strategisches Handeln in sehr spezifischen Interaktionszusammenhängen, die er als sozial problematisch erkennt. Die Funktion einer solchen Inszenierungsrationalität besteht hierbei in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der sozialen Ordnung.
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Auch im ersten Buch Goffmans steht soziales Handeln im Mittelpunkt. Dieses Handeln ist durchaus rational, jedoch nicht im Sinne einer einfachen Zweck-Mittel-Relation. So beobachtet Goffman alltägliche Interaktionssituationen und geht bei seiner Interpretation davon aus, dass es den Individuen nicht allein darum geht, ein offensichtliches Ziel zu erreichen. Alltagshandeln müsse vielmehr stets auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstdarstellung des Handelnden verstanden werden. Der Titel des Originals enthält den Hinweis darauf, dass alltägliche Handlungen dazu dienen, das Selbst oder die Identität des Einzelnen nach außen zu tragen: »The Presentation of Self in Everyday Life«. Die deutsche Fassung des Titels spitzt dies auf die Scheinwelt des Theaters zu: »Wir alle spielen Theater« (Goffman 1985[1959]). Erst im Untertitel erscheint dann eine Übersetzung des Originaltitels: »Die Selbstdarstellung im Alltag«. Das Handeln bleibt dabei im Grunde autonom – allerdings folgt es bestimmten Orientierungen, die sich daran bemessen, wie soziale Ordnung aufrechterhalten werden kann. Goffman bettet dieses dramaturgische Handeln in spezifische, sozial strukturierte Ordnungen ein, die er als gesellschaftliche Einrichtungen oder geschlossene Systeme bezeichnet. In diesen Einrichtungen findet Handeln nicht völlig frei statt, sondern ist weitgehend durch Regelungszusammenhänge vorgegeben, die er in vier typische Kontexte unterscheidet: Als technisch ist eine soziale Einrichtung zu begreifen, wenn es um das Erreichen vorbestimmter Zwecke geht. Von einer politischen Einrichtung ist die Rede, wenn sich das Handeln auf die Beeinflussung anderer, auf soziale Kontrolle, richtet. Als strukturelle Einrichtungen bezeichnet er Kontexte, in denen soziale Statusunterschiede kommuniziert werden, und unter einer kulturellen Institution versteht er Bereiche, in denen sich Handeln an moralischen Werten orientiert. In jedem dieser Zusammenhänge findet insofern dramaturgisches Handeln statt, als sich die beteiligten Akteure permanent den Sinn ihrer Interaktionssituation wechselseitig anzeigen beziehungsweise vorschlagen und sich so der Richtigkeit ihres Deutungskonsenses versichern. Rationalität liegt nun in der Abstimmung des dramaturgischen Handelns auf die jeweils typische Situation. Im Bereich der als technisch bezeichneten Tätigkeiten – etwa in einem Industriebetrieb – könnte ein solches Handeln darin bestehen, dass eine Personengruppe die Arbeit einer anderen Gruppe überprüft. Die so überwachte Gruppe wird nun nicht nur bemüht sein, den Anforderungen zu genügen; der Zweck ihres Tuns besteht darüber hinaus darin,
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Strategien zu entwickeln, wie sie einen besonders eifrigen und fleißigen Eindruck erwecken kann, um künftig von den Kontrolleuren in Ruhe gelassen zu werden. Bei den als politisch typisierten Handlungsarrangements kann man sich einen Vorgesetzten vorstellen, der strategische Geheimnisse nicht an seine Mitarbeiter weitergibt und so tut, als wüsste er von nichts. »Macht jeder Art muß mit wirksamen Mitteln der Zurschaustellung verbunden sein und wird verschiedene Auswirkungen haben, je nachdem, wie sie dramatisiert wird« (Goffman 1985[1959]: 220). Goffmans Interesse an sozialen Struktur- oder Ordnungsmustern, die unmittelbare und mit unter kurzfristige Beziehungen organisieren, mündet schließlich in das Buch »Rahmen-Analyse« (Goffman 1980). Dort wird im Rückgriff auf die Metapher des Rahmens ein Phänomen diskutiert, anhand dessen sich Interaktionspartner wechselseitig den intendierten Sinngehalt ihres sozialen Handelns anzeigen. In diesen mikrosoziologischen Analysen geht es immer wieder um Handlungen; allerdings richtet sich das soziologische Forschungsinteresse weniger auf das Sinnverstehen durch einen sozialwissenschaftlichen Beobachter als vielmehr auf die Suche nach der Möglichkeit des wechselseitigen Verstehens in Interaktionssituationen und damit nach den Strukturbedingungen, unter denen soziales Handeln überhaupt stattfinden kann. Entsprechend bekennt sich Goffman in seiner in Abwesenheit verlesenen Rede, die er als Vorsitzender der ASA krankheitsbedingt nicht mehr selbst halten konnte, zu einer Mikroanalyse sozialer Strukturmomente: »Es war in all den Jahren mein Anliegen, Anerkennung dafür zu finden, daß diese Sphäre der unmittelbaren Interaktion der analytischen Untersuchung wert ist – eine Sphäre, die man, auf der Suche nach einem treffenden Namen, Interaktionsordnung nennen könnte –, eine Sphäre, die am besten mit den Mitteln der Mikroanalyse untersucht werden sollte« (Goffman 2001: 55, Hervorh. im Orig.).
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Rationalität ist bei Goffman nicht der maßgebliche Bestimmungsgrund des Handelns, sondern dessen ständiger Begleiter. Rationales Handeln unterliegt dabei eher pragmatischen Zielen, die mit der Aufrechterhaltung gelingender Interaktion einhergehen. Zwar äußert sich Goffman
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kaum explizit zur Rationalitätsproblematik. Aber »rational« ist ein Handeln dann, wenn es gelingt, einen Abbruch der Interaktion zu vermeiden und sich selbst möglichst gut darzustellen – in diesem Sinne kann man von einer »Inszenierungsrationalität« sprechen. Indem Rationalität weitgehend mit Ordnungsstrukturen verknüpft ist, sind zum Beispiel auch Interaktionsrituale – wie etwa der Händedruck bei der Begrüßung – als feste Inszenierungsformen rational: Sie stellen den Teilnehmenden in einer Interaktion einen erwartbaren Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen sie gemeinsam mit anderen und mit Bezug auf diese ihre Ziele verfolgen können. Es ist, mit anderen Worten, sehr vernünftig, den rituellen Rahmungen von Interaktionssituationen zu entsprechen, wenn man von anderen etwas will. Ignoriert man diese sozialen Vorgaben, die beispielsweise eine friedliche Unterhaltung, ein Geschäft, einen Flirt anzukündigen helfen, sinken die Erfolgschancen deutlich.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Inwieweit ein Handelnder bei Goffman »frei« beziehungsweise autonom handelt oder inwieweit der situationale Kontext sein Tun, Dulden oder Unterlassen bestimmt, ergibt sich aus dem in jeder Interaktion vollzogenen Handeln. Dabei findet stets auch die Interpretation und Veränderung von Rahmen statt. Das Rahmenkonzept, das Goffman (1980) in seinem Buch zur Rahmen-Analyse entfaltet, weist auf die starke Einbindung des Handelns in erwartbare Zusammenhänge – also situativ vorgefundene und erwartete Strukturen – hin. Dazu gehört, dass auch die Definition einer Situation, die als Handlung begriffen werden kann, bei Goffman nicht undeterminiert ist. In scharfer Abgrenzung zu einer allzu relativistisch-dezisionistischen Lesart des auf William Isaac Thomas und Dorothee Thomas (1973) zurückgehenden Thomas-Theorems, demzufolge eine Situation dann in ihren Folgen real ist, wenn sie als real definiert wird, insistiert Goffman (1980) auf der strukturell vorgegebenen Handlungssituation. Jede Handlung wird in Anlehnung an einen Rahmen – eine bestimmte, in der Situation kulturspezifisch für relevant erachtete Interaktionsordnung – konzipiert. Diese Rahmen begegnen dem handelnden Individuum als soziale Tatsachen – es weiß, dass es gut daran tut, sich an ihnen zu orientieren, wenn es mit seinem Tun nicht »aus dem Rahmen fallen« möchte.
7. Handeln als soziale Inszenierung
Bemerkenswert ist, dass Goffman seinen Rahmenbegriff nicht nur als in Handlungen situativ und volitional erzeugtes wechselseitiges Anzeigen der Begrenzung von Interaktionssituationen entwickelt. Als primäre Rahmen begreift er Muster, die nicht weiter auf grundlegendere Orientierungen zurückführbar sind. Diese können weiter nach einer natürlichen und einer sozialen Ausprägung unterschieden werden. Natürliche Primärrahmen sind Handlungsorientierungen, die sich aus dem Geschehen in der äußeren Natur ableiten. So scheint es bei einer Überflutung naheliegend, sich ins Trockene zu begeben. Soziale Primärrahmen stellen demgegenüber Handlungsorientierungen dar, die auf sehr grundlegendem Niveau die Begegnungen von Individuen regeln. Rahmen sind dabei keine streng determinierenden Strukturvorgaben, aus denen es kein Entrinnen gibt. Sie bestehen in fortlaufender Wiederholung der in ihnen vonseiten der Handelnden als angemessen erachteten Abläufe fort. Dabei obliegt den Handelnden jedoch nicht nur die Interpretationsfreiheit darüber, wie sie im Wissen um die Vorgaben, die der Rahmen setzt, letztlich agieren; sie stoßen mitunter auch an praktische Grenzen, wenn ihnen ihr Handeln nicht so gelingt, wie sie es selbst für angemessen halten. Zentraler als die primären Rahmen sind daher bei Goffman deren Veränderungen. Diese bezeichnet er als Modulationen und Täuschungen. Modulationen sind alle Rahmen oder Handlungsorientierungen, die auf grundlegendere Muster zurückgeführt werden können. Aber nicht allein das Unvermögen des Handelnden, sich gemäß den institutionalisierten Vorgaben des Rahmens angemessen zu verhalten, führt zu Modulationen. Zwar zeigen sich die an einer Interaktionssituation Beteiligten wechselseitig die Rahmen der Situation an; da die Selbstpräsentation jedoch stets der subjektiven Deutung aufruht, kann die Adressierung solcher Rahmen im Vollzug der Interaktion stets leicht modifiziert beziehungsweise »frei interpretiert« werden. Eine Veränderung der Grundkonstitution von Rahmen scheint allein mit Blick auf die Ungenauigkeiten bei ihrer Reproduktion sogar eher der Normalfall denn die Ausnahme zu sein. Hinzu kommt die Möglichkeit, dass die Rahmenbedingungen durch die Beteiligten gezielt verändert werden. Ein nach Goffman typischer Fall solcher Veränderungen ist die Täuschung. Eine Täuschung liegt dann vor, wenn ein Interaktionspartner gegenüber einem anderen eine bestimmte Rahmung vorgibt und zugleich insgeheim einer ganz anderen Interaktionsordnung folgt.
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Mit Blick auf die Frage nach der Determiniertheit von Handlungen durch sozial strukturierte Situationen lässt sich somit festhalten, dass soziale Kontrolle in den Interaktionen praktiziert wird. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang das wechselseitige Anzeigen situativer Bedingungen im Zuge individueller Selbstpräsentation. Mit anderen Worten, Rahmen werden als soziale Strukturmomente nur an und durch Individuen sichtbar. Während also der Strukturalist Goffman von einer starken Ordnungsorientierung des Handelns ausgeht, betont der Interaktionist Goffman einen sehr flexiblen und der Handlungsfreiheit des Individuums unterworfenen Ordnungsbegriff. Handeln erfolgt ordnungsorientiert, gibt aber auch die Möglichkeit, die Ordnung umzudeuten oder dadurch zu bewahren, dass Situationen durch Inszenierung und mithin durch Täuschung passend gemacht werden. Festzuhalten ist mit Blick auf Goffmans Handlungskonzepte, dass die Handlungsautonomie strukturell, wenn auch nicht explizit normativ begrenzt ist. Das Individuum ist keine Marionette, die durch die Situation und soziale Strukturvorgaben determiniert wird. Gleichwohl jedoch finden fast alle Interaktionen – als soziale Handlungszusammenhänge – nicht auf einer tabula rasa statt; sie sind kulturell-historisch in Situationen beziehungsweise Rahmen eingebettet. Die in der wechselseitigen Ausrichtung von Handelnden aufeinander vorgefundenen Orientierungsmuster können allerdings – und hier wird jeder Determinismusverdacht ausgeräumt – verändert werden; es ist sogar anzunehmen, dass das praktische oder routinisierte Handeln ständig Modulationen erzeugt, die allerdings häufig kaum bemerkt werden dürften.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Goffmans Methode der Erkenntnisgewinnung geht dezidiert nicht von theoretischen Annahmen aus, mit deren Hilfe soziale Phänomene deduktiv geordnet oder interpretiert werden – es geht ihm um »unsystematische naturalistische Beobachtung« (Goffman 1982: 17). Goffman beobachtet, interpretiert, abstrahiert und kann damit auch als erkenntnistheoretischer Induktivist bezeichnet werden. Um seine Aussagen zu illustrieren, zu plausibilisieren, bisweilen sogar, um sie zu belegen, sammelt er empirische Beispiele, wobei er davon absieht, ausführlich gemäß der einen
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oder anderen Schule quantitativer oder qualitativer Datenerhebungsverfahren über seine empirischen Quellen kritisch zu reflektieren. Entsprechend stützt er seine Argumentation auf eine mehr oder minder »bunte« Mischung unterschiedlicher Datenformate und -quellen. Der durchgängige Bezug auf Interaktionen der sozialen Mikroebene sowie die Praxis, in Ermangelung empirischer Beispiele seine Überlegungen durch erfundene Beispiele zu illustrieren (vgl. Hitzler 1992) und sich dabei wenig um theoretisch-konzeptionelle Anschlussfähigkeit zu scheren, hat ihm mitunter den Ruf soziologischer »Kleinkunst« eingetragen (vgl. Elias, zitiert nach Willems 1997: 24f.). Der Umstand, dass sich Goffman – auch nach eigenem Bekunden – einer Zuordnung zu den Theorieschulen der Soziologie entzieht, hat auch dazu geführt, dass sich seine Leser in der Wissenschaft hinsichtlich der Einordnung seines Werkes sogar über die Grundlinien uneins sind. So wird darüber gestritten, ob er nun dem Lager der Interaktionisten – Goffmans Forschungsinteresse richtet sich auf die soziale Mikroebene, wobei Handeln einer seiner zentralen Gegenstände ist – oder aufgrund der strukturtheoretischen Momente seines Rahmenkonzepts doch eher dem der Strukturalisten zuzurechnen ist (vgl. Lenz 1991).
Lernkontrollfragen • •
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Was ist nach Goffman »dramaturgisches« Handeln? Welche Unterscheidungen nimmt Goffman in seiner Rahmentheorie vor und was bedeutet es unter diesen Umständen, »aus dem Rahmen zu fallen«? Warum muss Goffman sowohl als Interaktionist als auch als Strukturalist bezeichnet werden?
Literatur Primärliteratur Goffman, Erving (1952). Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaption to Failure. In: Psychiatry, Jg. 15, S. 451-463. Goffman, Erving (1961). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (1980). Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Goffman, Erving (1982). Das Individuum im öffentlichen Austausch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (1985[1959]). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 5. Auflage, München: Piper [Amerikanisches Original von 1959: The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City et al.: Doubleday]. Goffman, Erving (1986). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (1996). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, Erving (2001). Die Interaktionsordnung. In: ders., Interaktion und Geschlecht, herausgegeben und eingeleitet von Hubert A. Knoblauch, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 50-104.
Sekundärliteratur Burns, Tom (2002). Erving Goffman. London: Routledge. Habermas, Jürgen (1988). Theorie des kommunikativen Handelns. Erster Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hettlage, Robert/Lenz, Karl (1991). Erving Goffman – ein unbekannter Bekannter. In: dies. (Hg.), Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, Bern/Stuttgart: Haupt (UTB), S. 7-93. Hitzler, Ronald (1992). Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie. In: Soziale Welt, Jg. 43, S. 449-461. Lenz, Karl (1991). Goffman – ein Strukturalist? In: Hettlage, Robert/Lenz, Karl (Hg.), Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, Bern/Stuttgart: UTB. Raab, Jürgen (2008). Erving Goffman. Konstanz: UVK. Thomas, William Isaac/Thomas, Dorothy S. (1973). Die Definition der Situation. In: Steinert, Heinz (Hg.), Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie, Stuttgart: Klett, S. 333-335. Vester, Heinz-Günter (2010). Kompendium der Soziologie III: Neuere soziologische Theorien. Wiesbaden: VS. Willems, Herbert (1997). Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans: Vergleiche, Anschlüsse und Anwendungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
8. Handlungstheorie in gesellschaftstheoretischer Absicht
Die klassische Handlungstheorie thematisiert Handeln dominant unter mikrosoziologischen Perspektiven. Sie versucht, das Handeln individueller Akteure entweder zu »erklären« – so die Intention der individualistischen und zumeist in der Tradition behavioristischer Wissenschaftskonzeptionen stehenden Ansätze – oder in seinem gemeinten Sinn zu »verstehen« – hier liegt die Akzentsetzung der eher geisteswissenschaftlich orientierten, phänomenologischen und interaktionistischen Ansätze. Allerdings ist die Grenzziehung zwischen beiden Richtungen in mancher Hinsicht eine Stilisierung, insofern es Zwischenpositionen und Vermittlungsversuche gibt. Und auch die Fokussierung auf die mikrosziologische Perspektive ist keineswegs eindeutig. Zwar wandte sich Max Weber nachdrücklich gegen den Gebrauch von »Kollektivbegriffen« bei der Handlungserklärung, und George C. Homans argumentierte vehement gegen die Berücksichtigung der institutionellen Ebene als eigenständiger Dimension der Handlungsbeeinflussung. Auf der anderen Seite zeichnet sich gerade die individualistische Traditionslinie durch eine zunehmend differenzierte Berücksichtigung von »Makrovariablen« aus – exemplarisch sei nur auf Mancur Olsons Beschreibung des kollektiven Handelns hingewiesen oder auf den Versuch von James S. Coleman, Mikro- und Makrofaktoren bei der Handlungserklärung zu verknüpfen (»Colemansche Badewanne«). Allerdings betreiben weder Olson noch Coleman (oder auch Albert O. Hirschman und Peter Hedström) Handlungstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive. Davon kann nur die Rede sein, wenn ein spezifischer Perspektivenwechsel vollzogen und die Analyse des individuellen Handelns eher aus der Perspektive der gesellschaftlichen Rahmenbedin-
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gungen und Zielsetzungen vorgenommen wird. Dies muss keineswegs bedeuten, dass individuelles Handeln aus Makrovariablen heraus erklärt wird. Vielmehr geht es darum, die gesellschaftlichen Prägungen, Verortungen und Folgen individuellen Handelns und damit die Dialektik von Mikro- und Makroebene herauszuarbeiten. Was dies heißt, soll im Folgenden anhand von drei Autoren erläutert werden: Anhand der »Theorie des kommunikativen Handelns« von Jürgen Habermas, anhand der Handlungskonzeption von Anthony Giddens und seiner These der Dualität von Handlung und Struktur sowie anhand der Konzeption von Pierre Bourdieu mit seiner Verortung des Handelns im Spannungsfeld von Habitus, sozialem Raum und sozialem Feld.
8.1 A NTHONY G IDDENS : D UALITÄT VON H ANDLUNG UND S TRUKTUR Die Arbeiten des britischen Soziologen Anthony Giddens, in denen er sich mit handlungstheoretischen Fragen auseinandersetzt, fallen in eine Zeit großer integrierender Theorieentwürfe innerhalb der Soziologie. Als Giddens seine Theorie der Strukturierung mit dem zentralen Motiv der Dualität von Handlung und Struktur in den 1980er Jahren vorlegt, stellt er sich in eine Reihe mit weiteren Großtheoretikern des Faches wie Jürgen Habermas oder Pierre Bourdieu. Mit den beiden Erstgenannten teilt er auch die Herkunft seines Denkens. Wie Bourdieu und vor allem auch Habermas hat er sich intensiv mit der marxistischen Gesellschaftstheorie auseinandergesetzt und seine Gegenstände vor dem Hintergrund dieser Provenienz zu erschließen begonnen. Charakteristisch für Giddens’ Strukturierungstheorie ist allerdings eine systematisch ausgearbeitete Wechselwirkung zwischen dem Handeln auf der Ebene des Individuums und der starken Determinationskraft sozialer und damit übergeordneter Strukturen. Mit anderen Worten: Handlung erzeugt Struktur und Struktur ermöglicht Handlungen.
Zur Person Es ist bemerkenswert, dass Giddens, der als einer der weltweit bekanntesten Soziologen gilt, aus vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen stammt. Er teilt diese biografische Besonderheit mit dem Franzosen Bour-
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dieu. Geboren am 18. Januar 1938 im Londoner Vorort Edmonton wächst er als Sohn eines Angestellten der Londoner Nahverkehrsbetriebe London Transfer auf. Möglicherweise als Reaktion auf das Fehlen von Büchern im elterlichen Haushalt beginnt er sich für philosophische Literatur zu interessieren und schreibt sich im Jahr 1956 an der University of Hull zum Studium der Soziologie und Psychologie ein, an das er drei Jahre darauf ein Graduiertenstudium an der London School of Economics and Political Science (LSE) anschließt. Nach seinem Abschluss 1961 tritt er eine Stelle als Lecturer an der University of Leicester an, wo er Norbert Elias kennenlernt. Nach Lehraufträgen in Kanada und den USA verlässt Giddens 1969 Leicester und wechselt an die University of California in Los Angeles. Dort erlebt er aus der Sicht des Lehrenden die Hippie- und Studentenbewegung mit. Unter deren Eindruck verfasst er seine erste längere Abhandlung, eine Auseinandersetzung mit Max Weber, Émile Durkheim und Karl Marx, mit der er Letzteren wieder in die soziologische Diskussion integrieren möchte. Bereits 1970 kehrt er nach England zurück, um dort zunächst eine Lehrtätigkeit am King’s College der University of Cambridge zu übernehmen. 1985 wird er dort ordentlicher Professor für Soziologie, ab 1989 tritt er im Halbjahreswechsel zusätzlich eine Professur an der University of California in Santa Barbara an. Im Jahr 1997 wechselt er als Direktor an die London School of Economics, engagiert sich in der Politikberatung im Kontext von New Labour und erhält 2004 den Adelstitel Baron Giddens of Southgate in the London Borough of Enfield, mit dem eine Mitgliedschaft im Britischen Oberhaus (House of Lords) verbunden ist. Vielleicht der wichtigste Einfluss auf das Denken des Sozialtheoretikers ist seine Begegnung mit der Ethnomethodologie Harold Garfinkels, über die sich Giddens das sozialphänomenologische Denken Alfred Schützens erschließen kann. Hier finden sich zentrale Motive auch im Hinblick auf die Fundierung des von ihm verwendeten Handlungsbegriffs. Giddens’ Schaffen lässt sich in mehrere Themenbereiche gliedern. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit klassischen Theorieperspektiven und Theoretikern der Soziologie in den 1970er Jahren – insbesondere mit Marx – entstehen einige grundlagentheoretisch-terminologische Arbeiten, zu denen sowohl sein Buch über die »Interpretative Soziologie« (Giddens 1976, deutsch 1984a) als auch sein Hauptwerk Die Konstitution der Gesellschaft« (Giddens 1984b, deutsch 1997) gerechnet werden kann. Zu Beginn der 1990er Jahre konzentriert sich Giddens auf die Analyse
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von Problemen, die mit Prozessen der Globalisierung verbunden sind. Sein Ruf als einer der bekanntesten Soziologen gründet nicht zuletzt auf seiner regen Publikationstätigkeit – so hat er seit dem Erscheinen seines Erstlingswerks im Jahr 1971 über 34 Bücher und mehr als 200 Fachartikel verfasst (vgl. zu diesen biografischen Angaben vor allem Lamla 2003; Reckwitz 2007).
Fragestellungen und Erkenntnisse Nur auf den ersten Blick mutet Giddens’ Hauptbeitrag zur Diskussion über Sozialtheorie als Strukturtheorie an. Die Theorie der Strukturierung weist sich dadurch aus, dass sie – ähnlich wie die anderen großen soziologischen Theorieentwürfe der 1970er und 1980er Jahre – mit dem Anspruch der Formulierung einer facheinheitlichen beziehungsweise einheitsstiftenden Theorie den Gegensatz zwischen dem auf der sozialen Mikroebene angesiedelten Konzept des Handelns und dem der sozialen Makroebene zugeordneten Konzept der Struktur zu überwinden sucht. Zentrales Motiv der Theorie der Strukturierung ist die wechselseitige Bedingtheit individuellen Handelns und relativ stabiler sozialer Strukturen. Giddens entwirft nicht nur einen autonomen, vernunftgesteuerten Entscheider, der wirkend und zugleich selbst sozial geformt der Gesellschaft gegenübersteht. Vielmehr kann man von einer doppelten Strukturierung ausgehen, da das autonome Verhalten des Einzelnen durch eine weitere Art von Struktur maßgeblich mitbestimmt wird: Die innere Struktur habitualisierter, routinisierter, inkorporierter Bewegungsabläufe, die auch die Wahrnehmung beeinflusst, bestimmt weite Teile des alltäglichen Handelns. Handlungen, die im Laufe des Lebens so verinnerlicht wurden, dass man überhaupt nicht mehr nachdenkt, während man sie durchführt, stehen der entworfenen Handlung in ähnlicher Weise gegenüber wie die gesellschaftlichen Strukturen.
Welche Rationalitätsannahme wird gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Giddens entwickelt seine Standpunkte zum Problem des Handelns im Anschluss an eine intensive Auseinandersetzung mit der ethnomethodologischen Perspektive Garfinkels, die ihn auch dazu bewogen haben mag,
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sich mit dem Werk von Schütz vertraut zu machen. Ähnlich wie Garfinkel distanziert sich Giddens von dem bei Parsons entfalteten strukturfunktionalistischen Handlungsbegriff, demzufolge Handeln als zielgerichtet und normenorientiert zu begreifen sei. Auch die Positionen der analytischen Handlungsphilosophie, die sich mitunter um eine theoretisch fundierte Abgrenzung und Heraushebung einzelner Akte beziehungsweise um die Untersuchung der Verkettung von Einzelhandlungen verdient gemacht haben, verwirft er als irreführend. Handeln sei vielmehr – und hier bezieht sich Giddens auf das auch bei Schütz zugrunde liegende Konzept der Dauer (durée) des französischen Lebensphilosophen Henri Bergson – ein »Strom tatsächlichen oder in Betracht gezogenen ursächlichen Eingreifens von körperlichen Wesen in den Prozess der in der Welt stattfindenden Ereignisse« (Giddens 1984a: 89). Bereits in dieser Begriffsbestimmung zeichnen sich einige weitere Konsequenzen für die Giddenssche Handlungskonzeption ab. Handeln wird als Bewirken verstanden und ist eng verbunden mit einer eigentümlichen Lesart des Machtbegriffs. Indem Handelnde in den Lauf der Ereignisse eingreifen, können sie die einen Dinge verändern und andere belassen – sie verfügen in diesem Sinn über Gestaltungsmacht (vgl. Giddens 1997: 65ff.). Allerdings befindet sich alles stets im Fluss, weshalb es schwer ist, einzelne Handlungen auch hinsichtlich ihrer Intentionalität herauszuheben. Giddens diskutiert diese Problematik anhand der ebenfalls aus der analytischen Handlungstheorie bekannten Unterscheidung von Zwecken, Gründen und Motiven. In Abgrenzung zu anderen Handlungskonzeptionen wie beispielsweise der von Weber (1980) – Handeln wird dort verstanden als ein menschliches Verhalten, das mit einem subjektiven Sinn verbunden ist, welcher bekanntlich gemäß den vier Bestimmungsgründen zweckrational, wertrational, traditional und affektuell typisiert wird – weist Giddens darauf hin, dass ein Handelnder die Zweckgerichtetheit seines Handelns gar nicht explizit formulieren können muss. Der Handlungszweck ist somit nicht notwendig mit der Handlungsbegründung verbunden, was Giddens anhand von zwei Argumenten plausibilisiert: Einerseits können sich die Absichten eines Individuums erfüllen, ohne dass es auch nur einen Finger rührt, und andererseits kann es durch sein Handeln Wirkungen hervorrufen, die es gar nicht beabsichtigt hat. Die Welt wird so oder so mit einem gewissen Gestaltungspotenzial verändert – allerdings gerade nicht in einer Weise, die eine eindeutige Zuordnung von vermeintlichen Zwe-
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cken und etwaigen Konsequenzen ermöglicht. Allerdings spricht Giddens seinen Akteuren keinesfalls jeden Einfluss ab; er versteht Handeln als steuerbares Gestalten. Wenn auch gemäß der Vorstellung vom Fluss kein Innehalten möglich ist, so kann der Handelnde sein Einwirken zumindest auf unterschiedliche Flüsse im Sinne thematischer Kontexte beziehen. All dies findet in einem Zustand statt, den Giddens als praktisches Bewusstsein bezeichnet. Die Steuerung des eigenen Handelns erfolgt also nicht, indem man es ein- oder ausschaltet, sondern indem man es auf bestimmte Zusammenhänge richtet. Auch dies muss gar nicht explizit reflektiert werden – man »macht« einfach. Dieser Bewusstseinszustand ist von einem diskursiven Bewusstsein zu unterscheiden, welches das Reflektieren über das eigene Handeln beschreibt. Bewusstes Tun wird somit stärker als bei Weber von reflektiertem Tun unterschieden, was wiederum Konsequenzen für die Unterscheidung von Gründen und Motiven sowie für das Verständnis von Rationalität hat. So ist das reflektierte Handeln von den Motiven einer Handlung zu unterscheiden. Motive sind in der Regel nicht explizierbar. Sie entsprechen eher Bedürfnissen, über die nicht gesprochen wird, und sind als Momente des praktischen Bewusstseins als Handlungspotenzial zu begreifen. Giddens sieht hier eine Parallele zum Begriff des Unbewussten bei Sigmund Freud (vgl. Giddens 1997). Aus dieser Einsicht lässt sich ableiten, dass es kein ursprünglich rationales Handeln geben kann, welches ausschließlich einem vernunftorientierten Handlungsentwurf aufruht. Gleichwohl ist zumindest in der westlich-modernen Gesellschaft ständig von Rationalität die Rede: Offenkundig muss es also doch so etwas wie Handlungsrationalität geben. Giddens löst dieses Problem, indem er feststellt, dass vielen Handlungen erst im Nachhinein Rationalität zugeschrieben wird. Der Akteur passt einen vielleicht bereits im Vorfeld der Handlung entwickelten vernunftgesteuerten Plan nach Handlungsvollzug und damit erst in der Erinnerung an die tatsächlich im Handlungsverlauf erfahrenen Unwägbarkeiten an. Erinnerung ist somit nicht einfach ein Rückgriff auf vergangene Ereignisse, sondern eine stets in der Gegenwart stattfindende Konstruktionsleistung, deren Themen vergangene Erlebnisse sind. Die bereits von Schütz als Lösung des Intersubjektivitätsproblems entfaltete Generalthese des Alter Ego sowie der Reziprozität der Perspektiven wird somit von Giddens in einen in der modernen Gesellschaft anzutreffenden Rationalitäts- oder Begründungsimperativ (Dimbath 2008) umgedeutet, wenn er feststellt:
8. Handlungstheorie in gesellschaf tstheoretischer Absicht
»Kompetente Akteure erwarten jedoch voneinander […], daß sie normalerweise dazu in der Lage sind, für ihr Handeln in aller Regel eine Erklärung abzugeben« (Giddens 1997: 55). Man kann also sagen, dass Akteure nicht nur durch erinnernde Reflexion den Fluss ihres Handelns kontrollieren, sondern dass sie dies auch von anderen erwarten. Die Rationalisierung besteht somit nicht darin, dass die Akteure ihr Handeln durch Vernunftgebrauch optimieren, sondern darin, dass sie en passant ein theoretisches Verständnis für die Gründe ihres Handelns entwickeln. Aus einem solchen ständigen Sichselbst-über-die-Schulter-Gucken entsteht – neben einem sich permanent erneuernden praktischen Bewusstsein – das sich selbst und andere kommentierende sowie gleichermaßen wirkmächtige diskursive Bewusstsein. Man ist dann in der Lage, über die eigenen Handlungen mit anderen zu sprechen und die Kommentare der anderen nicht nur zu verstehen, sondern gegebenenfalls auch als »normal« hinzunehmen.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Mit Blick auf das bisher Gesagte zeigt sich bei der Handlungstheorie von Giddens, dass sich eine eindeutige Verortung des »Motors« von Handlungen weder beim autonomen Individuum noch bei den vermeintlich übermächtigen sozialen Bedingungen vornehmen lässt – und dabei ist gleichgültig, ob man von einer Determination durch die Interaktionssituation oder durch normative gesellschaftliche Strukturen ausgeht. Mit der Unterscheidung eines praktischen Bewusstseins von einem diskursiven Bewusstsein wird die Reflexivität des Handelns klar akzentuiert. Reflexivität heißt jedoch nicht nur Erinnerbarkeit, sondern ist als mehr oder weniger bewusstes Einwirken sowohl kognitiv als auch »unbewusst« vollzogener Rückblicke auf weiteres Handeln – im Sinne von Erfahrungen – zu verstehen. Die das diskursive Bewusstsein bedienende Rationalisierung ist dafür »verantwortlich«, dass sich die handelnden Individuen einreden, sie hätten die Situationen, denen sie sich gegenübersehen, prinzipiell »im Griff«. Auch hier passt der in der soziologischen Entscheidungsforschung immer wieder bemühte Satz aus der Walpurgisnacht in Goethes »Faust«: »Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.« Die Struktur als das, was da »schiebt«, sollte jedoch noch einer näheren Betrachtung unter-
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zogen werden zumal Giddens einer normativ-institutionellen Determination des Handelns mit Skepsis gegenübersteht. Seine Kritik an Vorstellungen, nach denen Handeln stets intentional erfolgen müsse, entwickelt Giddens vor dem Hintergrund einer Analyse der Wirkung von Handlungen. So stellt er fest, dass man beispielsweise beim Anschalten des Lichts in der Tiefgarage einen Dieb aufschrecken könnte, der daraufhin die Flucht ergreift – obwohl man eigentlich nur den dunklen Raum beleuchten wollte und gar nicht damit gerechnet hat, einen Dieb zu verscheuchen. Die Flucht des Diebes wäre ganz offensichtlich eine nichtintendierte Nebenfolge des Lichtanschaltens. Da der Dieb beim Verlassen der Tiefgarage durch einen Belüftungsschacht von der Polizei bemerkt und festgenommen wurde, müsste man nun auch diesen Vorfall als eine weitere Wirkung begreifen. Das bereits von dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton aufgeworfene Problem der Nebenfolgen wird hier von Giddens in mehrfacher Hinsicht erweitert. Zunächst kann er zeigen, dass es eine Verbindung zwischen unbeabsichtigten Handlungsfolgen und institutionalisierten Praktiken geben muss. Damit beginnt die Analyse jedweden Handelns bei einem Ausgangsereignis und fragt, was geschehen wäre, wenn das Ereignis des Lichtanschaltens nicht stattgefunden hätte. Im Gegensatz dazu kann man jedoch auch von einem zu erklärenden Phänomen ausgehen und nach den verschiedenen nichtintendierten Handlungsfolgen fragen, die das Ereignis »Festnahme des Diebes« veranlasst haben könnten – dies wären beispielsweise die Leistungen des »Kommissars Zufall«, über die sich der Dieb später in seiner Zelle Gedanken macht: »Wie konnte es geschehen, dass ich gestört wurde? Warum musste ausgerechnet im Augenblick meiner Flucht ein Streifenwagen vorbeikommen?« Schließlich sind die Mechanismen der Reproduktion institutionalisierter Praktiken in den Blick zu nehmen, da mit jedem geregelten und auf Dauer gestellten Verhalten zumindest in zweiter Instanz unbeabsichtigte Folgen einhergehen können. Hierzu gehört, um im Beispiel zu bleiben, zunächst einmal die Angewohnheit, das Licht einzuschalten, wenn man die Tiefgarage betritt; der Dieb hätte mit einer solchen Situation rechnen können. Ferner gehört zu solchen erwartbaren Verhaltensweisen der Zugriff durch die Polizei, wenn sie eine vermummte Person aus einem Lüftungsschacht kriechen sieht.
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Diese drei Untersuchungsperspektiven, die, jede für sich, naive Intentionalitätsannahmen hinterfragen, thematisieren das doppelte und wechselseitige Beeinflussungsverhältnis von Strukturen und Handeln: So zeichnet sich, ganz unabhängig von der Nebenfolgenproblematik, im Hinblick auf die Veränderung gesellschaftlicher Strukturmomente neben der sichtbaren »Eisbergspitze« intentionaler Handlungsentwürfe ein dem Bereich eingelebter Praxis zuzurechnender, gewaltiger und weitgehend verborgener Rest an Veränderungspotenzialen ab, die im Verlauf weitgehend »automatisierter« Handlungsketten ihre Wirkung entfalten können. Mit anderen Worten, das Handeln Einzelner wirkt auf soziale Strukturen und umgekehrt wirken soziale Strukturen – nicht eindeutig funktional, sondern »irgendwie« – auf das Handeln der Individuen. Was sich in der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft abzeichnet, findet seine Entsprechung in der Wechselwirkung zwischen verinnerlichten Routinen und den Handlungen des Individuums. So besteht jedwedes Tun des Einzelnen in der Produktion und Reproduktion, also im permanenten Einüben und damit im Verinnerlichen oder Inkorporieren, von Handlungsabläufen. Diese praktischen Verhaltensroutinen sind ebenfalls weitgehend abgekoppelt von einem reflektierenden Nachdenken über sie. Man kann sich dies anhand der Entschlüsselungsversuche von Körpersprache veranschaulichen: In bestimmten Situationen, wie zum Beispiel bei Vorstellungsgesprächen, Verhandlungen über Investitionsentscheidungen oder Verkaufsgesprächen im Schmuckgeschäft, mag es sich – so die Ratgeberliteratur – lohnen, unabhängig vom Gesagten das ungewollte und unreflektierte Mienenspiel des Gegenübers zu deuten, um über die von ihm möglicherweise genannten Gründe hinaus auf seine Motive schließen zu können. Das gelingt freilich nur, solange man es nicht mit einem Schauspieler zu tun bekommt – der würde über seine instrumentell eingesetzte Mimik, Gestik und Körpersprache auch reflektieren können. Man kann also sagen, dass sich durch das alltägliche Tun bestimmte Regelmäßigkeiten in Haltungen und Bewegungsabläufen, aber auch in »automatisierten« oder routinisierten Handlungen einschleifen, die man in ähnlicher Weise als Struktur bezeichnen kann – wie das, was sich im Sozialen in Form von bestimmten Regelmäßigkeiten des Wissens und Verhaltens verfestigt und auf Dauer stellt. Was für den bei Schütz auch als praktisches Routinewissen entwickelten Erfahrungszusammenhang
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festgehalten werden kann, gilt ebenso für das gemeinsame Wissen, das Giddens – auch hier im Anschluss an Schütz – wie folgt charakterisiert: »Die große Masse des ›Wissensvorrats‹ (Schütz) bzw. dessen, was ich lieber das in Begegnungen inkorporierte gemeinsame Wissen nenne, ist dem Bewusstsein der Akteure nicht direkt zugänglich. Das meiste derartige Wissen ist seinem Wesen nach praktisch: es gründet in dem Vermögen der Akteure, sich innerhalb der Routinen des gesellschaftlichen Lebens zurechtzufinden« (Giddens 1997: 54f., Hervorh. im Orig.).
Zentraler Aspekt und Ziel der handlungstheoretischen Überlegungen Giddens’ ist allerdings nicht (nur) eine Theorie der sozialen Praxis, sondern eine Theorie der Strukturierung. Ein Strukturverständnis, das mit Struktur ein Muster oder ein Gefüge festgelegter sozialer Beziehungen beschreibt, ist in diesem Zusammenhang jedoch genauso unbrauchbar wie die Vorstellung, dass Struktur etwas dem menschlichen Handeln Äußerliches wäre, das »als eine Quelle von Einschränkungen der freien Spontaneität des unabhängig davon konstituierten Subjekts« zu gelten habe (ebenda: 68). Giddens’ Strukturbegriff lehnt sich eher an Konzeptionen an, wie sie das strukturalistische Denken hervorgebracht hat. Hier wird Struktur als Schnittpunkt von Gegenwärtigem und Abwesendem gefasst, was als ständige Anwesenheit von in Symbolsystemen – wie beispielsweise der Sprache – fixierten vergangenen Ereignissen zu verstehen ist. Wie man im Hier und Jetzt sprechend auf Gewesenes zurückgreifen kann, geht nicht beliebig, sondern nach bestimmten Regeln vor sich. Diese Regelzusammenhänge bezeichnet Giddens als Strukturmomente sozialer Systeme, die es ermöglichen, dass »soziale Praktiken über unterschiedliche Spannen von Raum und Zeit hinweg als identische reproduziert werden«. Der Strukturbegriff im Singular lässt sich dann als Zusammenhang von Regeln und Ressourcen definieren, sein Plural »Strukturen« als abgrenzbare und voneinander unterscheidbare Mengen dieser Regeln und Ressourcen. Mit einem solchermaßen dynamisierten Strukturbegriff ist es nun möglich, den Grundgedanken der Theorie der Strukturierung zu formulieren: »Eine der Hauptaussagen der Theorie der Strukturierung ist, daß die Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen Handelns einbezo-
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gen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen (der Strukturdualität)« (ebenda: 70).
Unter dem Begriff des sozialen Systems versteht Giddens die reproduzierten Beziehungen zwischen sozialen Entitäten, die in regelmäßigen sozialen Praktiken organisiert sind. Man kann also sagen, dass im sozialen System das situationsspezifische Tun von Akteuren stattfindet. Als Strukturierung begreift er dann die Bedingungen, die das Beibehalten oder den Wandel der Regeln und Ressourcen (Strukturen) bestimmen. »Die Strukturierung sozialer Systeme zu analysieren bedeutet, zu untersuchen, wie diese in Interaktionszusammenhängen produziert und reproduziert werden; solche Systeme gründen in den bewußt vollzogenen Handlungen situierter Akteure, die sich in den verschiedenen Handlungskontexten jeweils auf Regeln und Ressourcen beziehen. Entscheidend für den Begriff der Strukturierung ist das Theorem der Dualität von Struktur. […] Gemäß dem Begriff der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren. Struktur ist den Individuen nicht ›äußerlich‹: in der Form von Erinnerungsspuren und als in sozialen Praktiken verwirklicht, ist sie in gewissem Sinne ihren Aktivitäten eher ›inwendig‹ als ein – im Sinne Durkheims – außerhalb dieser Aktivitäten existierendes Phänomen« (ebenda: 77f.).
Die Dualität von Handeln und Struktur bezeichnet somit nicht aufeinander reduzierbare Impulse der Strukturierung, da beide Seiten in ständiger Wechselwirkung im Fluss der permanenten Produktion und Reproduktion untrennbar aufeinander verweisen (vgl. Lamla 2003). Giddens (1997: 52) formuliert dies folgendermaßen: »In und durch ihr Handeln reproduzieren die Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen«. Ein menschliches Wesen zu sein, heißt nach ihm: »ein zweckgerichtet Handelnder zu sein, der sowohl Gründe für seine Handlungen hat, als auch fähig ist, diese Gründe auf Befragung hin diskursiv darzulegen (oder auch: sie zu verbergen) […] Zweckgerichtetes Handeln ist nicht aus einem Aggregat oder einer Serie separater Intentionen, Gründe und Motive zusammengesetzt. Es ist vielmehr sinnvoll, Reflexivität in der ständigen Steuerung des Handelns verankert zu sehen, die menschliche Wesen entwickeln und die sie von anderen erwarten. Die reflexive Steuerung des Handelns hängt von seiner Rationalisierung
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ab, die hier mehr als ein Prozeß, denn als ein Zustand und als ein Bestandteil der Kompetenz der Handelnden verstanden wird« (ebenda: 53).
Resümierend kann man festhalten, dass die Frage nach der Konstitution sozialer Ordnung nicht im Rückgriff auf die Parsonssche Annahme beantwortet wird, nach der die gesellschaftlichen Interessenkonflikte durch ein System von Normen und Werten befriedet werden. Giddens geht vielmehr davon aus, dass Ordnung oder Geordnetheit praktisch und immer wieder aufs Neue hervorgebracht wird (vgl. hierzu auch Joas/Knöbl 2004).
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung den Stellenwert der Handlungsebene? Giddens ist kein empirisch forschender Soziologe, sondern zunächst ein der Theorieentwicklung verpflichteter Wissenschaftler. Im Unterschied zu vielen Fachkollegen, die die Gesellschaft beobachten, um dann aus diesen Beobachtungen ihre Schlüsse zu ziehen und abstrahierend zu gehaltvollen Aussagen zu gelangen, orientiert sich Giddens an der Auseinandersetzung mit bestehenden Theorieperspektiven. Diese werden geprüft, neu arrangiert – etwas despektierlich spricht Ian Craib (1992) in seiner Giddens-Einführung von einem »theoretical omelette« – und dann mitunter zur Beschreibung, Erklärung und Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwendet. Sowohl die Architektur der New Labour beziehungsweise die Konzeption des dritten Weges als auch Giddens’ im Kontext des Globalisierungsphänomens angestellte Gegenwartsdiagnostik wurden von diesen Synthesen mitgeprägt. Die Methode der Erkenntnisgewinnung ist, wenn sie denn auf Begriffe und Theorien zurückgreift, somit vor allem die des Theorievergleichs sowie der Theoriesynthese. Mit Blick auf ihren sozialtheoretischen Standort lässt sich Giddens’ erkenntnistheoretische Grundposition zunächst in Opposition zu dem als allzu statisch kritisierten Strukturfunktionalismus Parsonsscher Prägung charakterisieren (vgl. hierzu und im Folgenden Schönbauer 1994). Dabei wird jedoch der dort angelegte analytische Realismus beibehalten, der besagt, dass Theorie dazu dient, empirische Befunde in raumzeitliche Zusammenhänge einzustellen, mithilfe analytischer Merkmale zu benennen sowie ihre Ausprägungen und Verknüpfungen anhand entsprechender Situations- oder Strukturgegebenheiten zu bestimmen. Was hier
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als Programm für jedwede Sozialwissenschaft bezeichnet wird, bedarf einer Fundierung durch eine einheitliche kategoriale und konzeptuelle Grundlage. Eine solche zu liefern, ist nach Giddens die Aufgabe einer allgemeinen sozialtheoretisch interessierten Arbeit. Damit erklärt sich der bei der Lektüre der Schriften Giddens’ leicht entstehende Eindruck des Eklektizismus: Er sammelt die ihm für grundlegende sozialtheoretische Konzepte als weiterführend erscheinenden Begriffe und Theorien und überführt sie in eine neue Synthese. Entsprechend findet sich bei Giddens ein Handlungskonzept, das in der Lage ist, möglichst viele Momente aus unterschiedlichen sozialtheoretischen Perspektiven zu integrieren: der phänomenologisch beziehungsweise ethnomethodologisch inspirierte Handlungsbegriff, der Handlung immer in den Kontext von Dauer und Prozess stellt und der das Extrahieren einzelner Teilhandlungen als wenig fruchtbar begreift. Wenn es dennoch erforderlich ist, Einzelhandlungen in den Blick zu nehmen, müssen diese nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Motiviertheit betrachtet werden, sondern vor allem auch mit Blick auf ihre Rationalisierung – im Sinne des Anführens von Gründen und Zielen – sowie hinsichtlich einer permanent mitlaufenden reflexiven Steuerung des Handlungsablaufs. Im Unterschied zur Theorie von Parsons bleiben allerdings die sozialen Strukturaspekte stets im Hintergrund. Sie wirken zwar auf den Akteur – welche Konsequenzen dieser allerdings aus jenen Impulsen zieht, liegt letztlich bei ihm beziehungsweise bestimmt sich im Kontext der (biografischen) Situation, in der er sich gerade befindet. Der Anspruch der Theoriesynthese ist nicht völlig neutral; zwar integriert Giddens ein weites Feld unterschiedlicher Theorieperspektiven, aber letztlich bleibt die Giddenssche Strukturierungstheorie, was ihre wichtigsten Basisannahmen angeht, im Grunde handlungstheoretisch.
Lernkontrollfragen • • •
Worin sieht Giddens den Unterschied zwischen Gründen und Motiven? Worauf zielt Giddens’ Unterscheidung von praktischem und diskursivem Bewusstsein ab? Was versteht Giddens unter dem Konzept der Dualität von Struktur?
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Literatur Primärliteratur Giddens, Anthony (1976). New Rules of Sociological Method. London: Hutchinson. Giddens, Anthony (1984a). Interpretative Soziologie. Frankfurt a.M./New York: Campus. Giddens, Anthony (1984b). The constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration. Berkeley: University of California Press. Giddens, Anthony (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. 3. Auflage, Frankfurt a.M./New York: Campus. Weber, Max (1922). Wirtschaft und Gesellschaft (= Grundriß der Sozialökonomik, 3. Abteilung) Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Sekundärliteratur Craib, Ian (1992). Anthony Giddens, London: Routledge. Dimbath, Oliver (2008). Intuition in der Berufswahl. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. 2 Bände, Frankfurt a.M./New York: Campus, CD-ROM. Joas, Hans/Knöbl,Wolfgang (2004). Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lamla, Jörn (2003). Anthony Giddens: Einführungen. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Reckwitz, Andreas (2007). Anthony Giddens. In: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens, 5., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, München: C. H. Beck, S. 311-335. Schönbauer, Günther (1994). Handlung und Struktur in Anthony Giddens’ »social theory«. Regensburg: Roderer.
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8.2 P IERRE B OURDIEU : H ABITUS UND F ELDTHEORIE Nicht viele Soziologen haben die Aufmerksamkeit gefunden, die Pierre Bourdieu bis heute zuteil wird. Bourdieu hat in den 1950er Jahren das Erbe der philosophischen Praxistheorie von Karl Marx über die »Philosophie des Begriffs«, Sprachtheorien und den Pragmatismus angetreten. Von Anfang an stand bei ihm damit die Überwindung des klassischen Dualismus von Objektivismus und Subjektivismus im Mittelpunkt. Er hat sich aber auch – aus der Philosophie kommend – kritisch mit den soziologischen Klassikern Max Weber, Émile Durkheim sowie George Herbert Mead und Alfred Schütz auseinandergesetzt und wollte das »soziale Handeln« mit einer eigenständigen theoretischen Position erfassen. In der Soziologie wurde er früh mit seiner Studie über »Die feinen Unterschiede« (1982, französisches Original von 1979) rezipiert, die bis heute als eine neue Form der empirisch-theoretischen Untersuchung sozialer Ungleichheiten gilt. Öffentliche Aufmerksamkeit fand er überdies durch seine vehemente Kritik am Neoliberalismus und am »Elend der Welt« (Bourdieu et al. 1997).
Zur Person Pierre Félix Bourdieu wird am 1. August 1930 in Denguin (Frankreich) geboren. Er studiert Philosophie an der École Normale Supérieure (ENS) in Paris und schließt 1954 erfolgreich ab. Nach einer kurzen Phase als Lehrer in der französischen Provinz (1954-1955) wird er zum Wehrdienst nach Algerien eingezogen (1955-1958). Bourdieu hat von 1958 bis 1960 eine Assistenzprofessur in Algier inne und beginnt dort eine empirische Feldarbeit, welche die Grundlageseiner ethnologischen Studie über das »kabylische Haus« werden sollte (Bourdieu 1976, französisches Original von 1972). Als er nach Frankreich zurückkehrt, findet er durch die Vermittlung von Raymond Aron eine Assistentenstelle in Lille (1960/61), die später zu einer Lehrprofessur angehoben wird (1961-1964). Es folgen eine Professur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris (1964-1982) und 1980 eine Professur für Soziologie am Collège de France in Paris, die er bis zu seiner Pensionierung 2001 innehat. Er ist Begründer und Herausgeber der Zeitschrift »Actes de la Recherche en Sciences Sociales«. Pierre Bourdieu ist am 14. Januar 2002 in Paris verstorben (vgl. Rehbein et al. 2003).
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Der lebens- und werkgeschichtliche Hintergrund ist vor allem durch drei zeitgenössische Kontroversen bestimmt: (1) den Konflikt zwischen reiner Philosophie und den erfahrungswissenschaftlich ausgerichteten Sozialwissenschaften; (2) den Dualismus zwischen Subjektivismus und Objektivismus zwischen einer individualistischen und einer kollektivistischen Soziologie; und (3) den Konflikt zwischen Werturteilsfreiheit und der Position eines engagierten Intellektuellen (vgl. dazu Wacquant 2003). Für Bourdieu folgt daraus der Anspruch, eine »erkenntnistheoretische Position« auszuarbeiten, welche als »Theorie der Praxis« angelegt ist und – den »sozialen Sinn« betonend – den Dualismus zwischen Subjektivem (Individuum) und Objektivem (Struktur) überwindet. Bourdieu hat sich offen gegen den »Subjektivismus« der Phänomenologie, der Ethnomethodologie und des symbolischen Interaktionismus gewendet. Dieser Tradition warf er vor, die Konstitution von Gesellschaft allein durch die Innenperspektive der Individuen erfassen zu wollen (vgl. Wacquant 2003: 61). Auf der anderen Seite wendet sich Bourdieu ausdrücklich gegen alle Versuche einer »Sozialphysik« oder reiner Strukturtheorien. An Durkheim und seinem Zeitgenossen Claude Lévi-Strauss kritisiert er, dass Gesellschaft nicht ausschließlich durch »objektive« Größen und somit losgelöst von den Individuen zu erklären ist (vgl. dazu ebenda: 60ff.; Papilloud 2003: 9ff.; Gamm 2001: 226ff.). Bourdieu hat sich aber auch energisch gegen die Theorie der rationalen Wahl ausgesprochen, weil er stattdessen dem Argument der »Ökonomie der Praxis« folgend – davon ausgeht, dass die Akteure im Alltag zumeist nicht bewusst und zweckrational handeln, sondern unbewusst inkorporierten Deutungs- und Handlungsmustern folgen. Zu diesem Zweck baut Bourdieu seine empirischen Feld- und Gesellschaftsanalysen auf der aus der Philosophie kommenden »Theorie der Praxis« auf. Und nicht zuletzt nimmt Bourdieu in einer dritten geisteswissenschaftlichen Diskussion Stellung, die in der Nachkriegszeit in Frankreich und anderswo zu großen Spannungen geführt hat und unter dem Etikett »Werturteilsfreiheit« versus »gesellschaftliches Engagement« verhandelt wurde. Bourdieu geht auf Basis der praktischen Erkenntnistheorie davon aus, dass die Wissenschaft eine Form der Praxis ist, die allenfalls gegenüber der Alltagspraxis vom direkten Zeitdruck entlastet ist. Aber: Auch die Arbeit des »homo academicus« findet in einem sozialen Feld und unter dessen Einflüssen statt (Bourdieu 2001). Bourdieu vollzieht – anders als Michel Foucault – die Wende vom Philosophen zum Soziologen und wird
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zum aktiven Gesellschaftskritiker. Die von Bourdieu zugrunde gelegte praxisphilosophische Position mit der Ausrichtung auf eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse markiert eine wichtige Grenze innerhalb der zeitgenössischen französischen Soziologie; auf der anderen Seite befindet sich beispielsweise Raymond Boudon, der – in der Tradition von David Hume stehend – die soziale Welt ausgehend von einem möglichst »realistischen«, das heißt eigeninteressierten Handeln erfassen will (vgl. Moebius/Peter 2004; Rehbein et al. 2003). Die ersten Arbeiten Bourdieus beschäftigen sich mit dem durch die französische Kolonialmacht erzwungenen Umbruch der algerischen Gesellschaft hin zum Kapitalismus und den dabei zu beobachtenden Schwierigkeiten der algerischen Bevölkerung, sich an die neuen Gewohnheiten und Regeln anzupassen (Bourdieu 1976). Bourdieu wird durch diesen Bruch auf die Existenz alltäglicher gesellschaftlicher Denk- und Handlungsmuster aufmerksam, vor allem auf die traditionalen Tauschformen und Zeitmuster der Kabylen, die zu denen der französischen Kolonialmacht in Widerspruch gerieten. In seiner wohl bekanntesten Studie »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982) hat Bourdieu schichtspezifische Lebens- und Denkstile empirisch untersucht. Er hebt vor allem die klassenabhängigen Unterschiede im Umgang mit Kultur und Bildung hervor und beschreibt den schichtspezifischen Habitus als zentrales Distinktionsmittel von Einzelnen und Gruppen (Krais/Gebauer 2002: 10). Sein praxistheoretisches Fundament hat Bourdieu – wie oben gezeigt – in kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Strömungen der Philosophie und der modernen Sozialwissenschaften parallel dazu ausgearbeitet. Dazu zählen zuvorderst seine Theorie der Praxis (Bourdieu 1976; 1985) und die erkenntnistheoretischen Arbeiten (Bourdieu 1993; 2001), die durch viele Arbeiten begleitet werden, in denen Bourdieu seine Rolle als Wissenschaftler reflektiert. Als öffentlicher Intellektueller tritt Bourdieu mit dem von ihm herausgegebenen Band »Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft« (Bourdieu et al. 1997) auf. Am Beginn der wissenschaftlichen Arbeit von Bourdieu steht die Auseinandersetzung mit den dominanten Dichotomien des philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denkens: Subjektivismus versus Objektivismus sowie auch praktische versus theoretische Vernunft. Der wesentliche Impuls zur Hinwendung zu einer erfahrungs- und hand-
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lungswissenschaftlichen Soziologie waren praktische und theoretische Erfahrungen in Algerien (vgl. Rehbein et al. 2003).
Fragestellungen und Erkenntnisse Die Arbeiten von Bourdieu verwenden vier Grundbegriffe: Habitus, Feld, Illusio und Kapital. Der zentrale Habitusbegriff steht für eine gesellschaftlich vermittelte Erfahrungspraxis der Individuen, das soziale Feld beschreibt die gesellschaftlich wirksamen Kräfte, die Illusio wird als grundlegendes Interesse der Individuen eingeführt und Kapitalsorten beschreiben die in einem Feld wichtigen Kräfte. Eine besondere Bedeutung schreibt Bourdieu später dem symbolischen Kapital zu, das den »sozialen Akteur« mit Richtigkeitsargumenten versieht (Bourdieu 1993: 244). Bourdieus zwiespältige Stellung zur Wissenschaft wird darin deutlich, dass er sie zum einen als ein soziales Feld definiert, in dem ebenso wie auf allen anderen Handlungsfeldern Kämpfe um Positionen und Chancen stattfinden. Zum anderen sieht er in der Wissenschaft aber auch die Instanz, welche über die Logik der Felder »aufzuklären« vermag. Konstitutiv für die Sozialtheorie Bourdieus ist die Annahme einer eigenen »Logik der Praxis« und eines dialektischen Verhältnisses von Habitus und Feld(positionen). Mit dem Anspruch, das passende Handeln der Individuen mit Blick auf die Logik des Feldes zu erschließen und daraus wiederum die Reproduktion des Feldes zu folgern, will Bourdieu die Einseitigkeiten der Klassiker – den Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus – überwinden und eine Alternative zu jenen mehrstufigen Erklärungen vorlegen, die explizit eine Theorie der bewussten Handlungswahl einsetzen, wie dies seine zeitgenössischen Gegenspieler Boudon in Paris und Coleman in Chicago anstreben. Bourdieu fundiert seine Analysen weder mit einer allgemeinen Handlungstheorie noch mit allgemeinen Annahmen über individuelle Eigenschaften, sondern beschreibt das Handeln der Individuen als Ausdruck gesellschaftlicher Habitusformen. Habitus meint bei Bourdieu Systeme dauerhafter Dispositionen oder sozial generierter Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsmuster (Bourdieu 1976: 164ff.). Sie sind zugleich Ergebnis vorgängigen Handelns und damit Manifestation individuell-sozialer Erfahrungen und Vorgaben für ein adäquates feldspezifisches Handeln.
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»Als Einverleibung der objektiven Situation stellt der Habitus die einheitsstiftende Struktur des Ensembles aller Dispositionen dar, welche einen praktischen Bezug zur objektiven Zukunft voraussetzen […].« (Bourdieu 2000: 140)
Der Habitus drückt ein gewisses Maß an sozialer Determiniertheit des individuellen Handelns aus, lässt aber insoweit zugleich auch Spielraum für neue Lösungen, als Habitusformen immer auf objektive soziale Felder bezogen sind, die Veränderungen erfordern und durch den Pragmatismus der Einzelnen ein Mindestmaß an Offenheit beinhalten. Die Logik der Praxis ist bestimmt von der quasi-automatischen, ökonomischen Orientierung an gemachten Erfahrungen. »Ökonomisch« meint hier allgemein »sparsam«, im Sinne von wenig aufwendig, und nicht den effizienten Umgang mit knappen ökonomischen Ressourcen. Ausdruck davon sind Dispositionen, die dem Einzelnen ein adäquates Agieren in seinem Feld entsprechend seiner Position erlauben. Diese »pragmatische« Haltung kann aber in bewusst reflektierte Strategien überführt werden, wie dies Bourdieu anhand der Praktiken der modernen kapitalistischen Ökonomie in Form der Profit- oder Konsumorientierung darlegt, die im Kontrast zu traditionalen Tauschformen ein hohes Maß an Rationalität aufweisen (Bourdieu 1998; 2000). Der Habitus findet nach Bourdieu seinen Ausdruck in sozialen Handlungen entsprechend der jeweiligen Feld- oder Klassenlage und kann sowohl als Träger guter Gründe im Sinne von bewährten allgemeinen Erfahrungen als auch als Verkörperung individueller Interessen oder auch von Klassenlagen verstanden werden. Felder sind durch ihre jeweils eigene Logik voneinander abgrenzbare Handlungsbereiche; insoweit kann Bourdieu auch als Differenzierungstheoretiker gelesen werden (vgl. Schimank/ Volkmann 1999). Relevant für das Handeln in den einzelnen Feldern sind spezifische Kapitalsorten, deren Verteilung durch die Strategien und die Positionen der Einzelnen weitgehend festgelegt wird. Felder sind daher nach Bourdieu immer als Macht- und Konfliktkonstellationen zu interpretieren, die die Einzelnen dazu veranlassen, durch passende Strategien ihre Position im Feld zu halten oder zu verbessern. Die Einzelnen erwerben einen zu ihrer Feldposition passenden Habitus und können sich daher in den einzelnen Feldern richtig bewegen. Soziales Handeln resultiert aus der Passung von feldund positionsadäquaten Habitus mehrerer Akteure. Ähnlichkeiten beziehungsweise Unterschiede im Handeln resultieren aus der Ähnlichkeit beziehungsweise der Unterschiedlichkeit der feldabhängigen Positionen.
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Bourdieus Theorie der Ausbildung verschiedener Felder in einer Gesellschaft greift die Differenzierungstheorien der Klassiker Durkheim (funktionale Arbeitsteilung) und Weber (Ausdifferenzierung von Wertsphären) auf. Allerdings wird von Bourdieu die Ausdifferenzierung von Feldern nicht auf integrationsbedürftige Tätigkeitsunterschiede beziehungsweise auf auseinanderstrebende Wertüberzeugungen zurückgeführt, sondern eng mit dem dort jeweils dominanten Kapital verbunden. So wird das heutige ökonomische Feld von ihm als Ablösung des einfachen Gabentauschs vormoderner Ökonomien durch die Verbreitung von Markt, Unternehmen und Haushalten dargestellt, deren Logik die Aneignung verdinglichter und lebendiger Arbeit ist. Zur näheren Analyse moderner Sozialstrukturen Bourdieu drei Kapitalsorten: das ökonomische, das soziale und das kulturelle beziehungsweise symbolische Kapital. Stehen zu Beginn und am Ende seines Schaffens die Ökonomie und das ökonomische Kapital im Mittelpunkt, sind vor allem die Arbeiten seiner mittleren Schaffensphase durch Analysen des kulturellen Feldes bestimmt.
Anwendungsfelder und Erkenntnisse Die Faszination, die Bourdieu innerhalb der Soziologie und vor allem in der Kultur- und Bildungssoziologie entgegengebracht wird, ist sicherlich wesentlich im Feld- und Habituskonzept begründet. Vor allem die empirische Untersuchung von Feldlogiken oder feldspezifischer Habitus und die dabei wirksame Reproduktion von Macht und Ungleichheit ist für viele Soziologen attraktiv. Schon in »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1982) hat Bourdieu die Logik des kulturellen Feldes anhand der Kunstproduktion von Museen, Film, Fotografie, Literatur und so weiter analysiert und damit Bildung und Bildungsinstitutionen als zentrale Formen der Ungleichheitsvermittlung und -stabilisierung in modernen Gesellschaften »entlarvt« (ebenda: 380). Noch deutlicher wird der kritische Blick durch die Hinzunahme des »symbolischen Kapitals« als einer feldübergreifenden Kapitalsorte, deren Macht- und Herrschaftscharakter gerade daraus resultiert, die bestehenden Verhältnisse als »richtig« zu legitimieren (Bourdieu 1993: 244). Seit Kurzem findet auch Bourdieus Betrachtung des ökonomischen Feldes moderner Gesellschaften reges Interesse (vgl. Florian/Hillebrandt 2006). Wie schon vor ihm Max Weber, so zeichnet auch Bourdieu vor
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allem die Ausbildung eines eigenen Habitus in Form eines rationalen Umgangs mit der Zukunft, Zeitkalkulation und reiner Profitorientierung nach. Allerdings ist für Bourdieu die Logik des ökonomischen Feldes mit der Aneignung und Ausbeutung fremder Arbeitskraft gleichzusetzen. Bourdieu hat durch seine kritische Sicht auf Neoliberalismus und Globalisierung (vgl. unter anderem Bourdieu et al. 1997) sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in den neuen sozialen Bewegungen große Aufmerksamkeit gefunden.
Wird eine Rationalitätsannahme gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Wichtig zu erkennen ist, dass Bourdieu sich ausdrücklich gegen jede Form von Bewusstseinsphilosophie wendet und daher die Annahme ablehnt, die Individuen würden ihr Handeln bewusst wählen beziehungsweise ihr Handeln zum Gegenstand freier und rationaler Entscheidungen machen. Vielmehr fundiert Bourdieu seine Sozial- und Gesellschaftstheorie mit der Annahme, dass sich in sozial-historischen Kontexten aufgrund spezifischer und feldbezogener Erfahrungen verschieden gestaltete Habitusformen ausbilden, die von den Einzelnen in Sozialisationsprozessen übernommen und im Alltag unbewusst als Orientierung gebraucht werden. Das Handeln der Einzelnen ist dann allenfalls in dem Sinne rational, als es sich an den (erfolgreichen) sozialen Erfahrungen vorgängiger Praxis orientiert. Damit ist auch schon gesagt, dass das zweckrationale Handeln von Bourdieu nicht als allgemeingültige Handlungsform, sondern als eine spezifische, sozial konstituierte Handlungsweise verstanden wird, die (vornehmlich) die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der modernen kapitalistischen Ökonomie beschreibt. Die Ausbreitung sowohl des zweckrational kalkulierenden Unternehmers als auch des materialistisch orientierten Konsumenten wird als ein historisch-kontingentes Faktum dargestellt.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Für das Werk von Bourdieu ist der dialektische Zusammenhang von Objektivem (Struktur) und Subjektivem (Handeln) kennzeichnend. Aber
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anders als strukturindividualistische Erklärungen in Form der »Colemanschen Badewanne«, die ausgehend von einer Theorie der rationalen Wahl Strukturen erschließen, sowie auch im Unterschied zum symbolischen Interaktionismus und zur Phänomenologie, denen er vorwirft, das Soziale allein aus der Handlungsebene beziehungsweise der Sichtweise des einzelnen Akteurs erschließen zu wollen, will Bourdieu den Struktur-Handeln-Dualismus überwinden. Dazu setzt er beide Ebenen wechselseitig zueinander in Beziehung, indem er historisch konstituierte Habitus und Feldbeschreibungen anhand von Kapitalsorten miteinander verbindet und so die Logik von Feldern erschließt. Den Individuen kommt damit freilich eine bloß umsetzende Funktion zu: Sie verwirklichen historisch-soziale Erfahrungen in Form von Habitus und ergreifen im jeweiligen Feld die zu ihrer Kapitalausstattung passenden Strategien. Das führt dazu, dass Bourdieu im Grunde immer die Reproduktion der für ein Feld kennzeichnenden Macht- und Ungleichheitsstrukturen im Blick hat. Die Attraktivität seines Werkes liegt wesentlich darin begründet, dass sich mit den Mitteln der Feld- und Habitusanalyse verschiedenste soziale Handlungsbereiche – Religion, Kunst, Literatur, Fotografie, Wissenschaft, Erziehung und nicht zuletzt auch das ökonomische Feld – thematisieren und empirisch untersuchen lassen. Bourdieu selbst hat für diese unterschiedlichen Felder zu zeigen versucht, wie die Akteure jeweils über das dort relevante Kapital miteinander verbunden sind und wie sich daraus eine Reproduktion des Feldes ergibt. Oder anders formuliert: Er hat die jeweilige Logik eines Feldes charakterisiert. Zwar geht Bourdieu von der relativen Autonomie der einzelnen Felder aus, unterstellt jedoch, dass in allen Feldern der Konkurrenzkampf um Macht, Kapital oder Positionen wirkt. Nicht wenige Soziologen beziehen sich auf Bourdieu, um sich mit Kunst, Wissenschaft und vor allem Bildung und Kultur zu beschäftigen, aber auch Wirtschafts- und Arbeitssoziologen entdecken Bourdieu mehr und mehr.
Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Bei Bourdieu ist die Unterscheidung zwischen einer vornehmlich theoretischen Vernunft, die der Logik und der Abstraktion verbunden ist, und
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der Logik der Praxis (der »soziale Sinn«), die unbewusst-habituell den in der Praxis gemachten Erfahrungen entspricht, auch für seine erkenntnistheoretische Position konstitutiv. Das bedeutet für ihn, dass ein theoretisch-wissenschaftliches Erkennen der Praxis zumeist nicht angemessen ist – zumindest nicht, solange dieser Unterschied übersehen wird (vgl. Gamm 2001: 225). Vielmehr leiten Habitus das Alltagshandeln und lassen wenig Platz für bewusste Reflexion, Kalkulation und Entscheidung. Der Habitus wird gegen den Ansatz von George Herbert Mead (Bourdieu 1993: 148), aber auch gegen die Theorie der rationalen Wahl gesetzt und behauptet die Dominanz unreflektierten Erfahrungswissens im Alltagshandeln der Menschen und deren gesellschaftliche Prägung. »Wenn man den theoretischen Fehler ausgemacht hat, der darin besteht, die theoretische Sicht der Praxis für das praktische Verhältnis zur Praxis auszugeben, genauer noch darin, der Praxis das Modell zugrunde zu legen, das man zu ihrer Erklärung erst konstruieren muß, wird man auch schon gewahr, daß dieser Fehler auf der Antinomie zwischen dem Zeitbegriff der Wissenschaft und dem Zeitbegriff des Handelns beruht.« (ebenda)
Bourdieu setzt daher den »sozialen Sinn« als Bezugspunkt der Kritik an der »theoretischen Vernunft« ein. Das alltägliche Handeln beruhe demnach nicht auf bewusstem Erkennen und zweckgeleitetem Handeln, sondern auf gemachten Erfahrungen und praktischen Schemata. Die Wissenschaft basiere dagegen auf bewusster Erkenntnis und der Verwendung von Begriffen zweiter Ordnung, auf logischen Ableitungsverfahren und der Möglichkeit, entlastet von konkretem Entscheidungs- und Zeitdruck zu denken. Gesellschaftskritik beruhe wiederum auf der Darstellung des Übergangs vom vormodernen Gabentausch und den dabei noch ins »Soziale« integrierten Formen des wirtschaftlichen Handelns hin zur modernen kapitalistischen Ökonomie, welche für Bourdieu über eine solche Integrationsbasis nicht mehr verfügt und die daher allenfalls noch durch kritische Intellektuelle sowie Gewerkschaften und Sozialverbände verbessert werden kann.
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Lernkontrollfragen • • •
Was versteht Bourdieu unter »Habitus« und wie erklärt er damit Handeln? Welche Felder und welche Kapitalformen unterscheidet Bourdieu bei der Analyse moderner Gesellschaften? Was steht im Mittelpunkt der Bourdieuschen Gesellschaftskritik?
Literatur Primärliteratur Bourdieu, Pierre (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Französisches Original von 1972]. Bourdieu, Pierre (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Französisches Original von 1979]. Bourdieu, Pierre (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Französisches Original von 1980]. Bourdieu, Pierre (1998). Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Französisches Original von 1994]. Bourdieu, Pierre (2000). Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz: UVK [Französisches Original von 1977; 1963]. Bourdieu, Pierre (2001). Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp [Französisches Original von 1997]. Bourdieu, Pierre et al. (1997). Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK [Französisches Original von 1993].
Sekundärliteratur Florian, Michael/Hillebrandt, Frank (Hg.) (2006). Pierre Bourdieu: Neue Perspektiven für die Soziologie der Wirtschaft. Wiesbaden: VS. Gamm, Gerhard (2001). Bourdieu: Sozialer Sinn. In: ders./Hetzel, Andreas/Lilienthal, Markus, Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart: Reclam, S. 225-248. Krais, Beate/Gebauer, Gunter (2002). Habitus. Bielefeld: transcript.
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Moebius, Stephan/Peter, Lothar (Hg.) (2004). Französische Soziologie der Gegenwart. Konstanz: UTB. Papilloud, Christian (2003). Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Mit einem Nachwort von Loic Wacquant. Bielefeld: transcript. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot/Schwengel, Hermann (Hg.) (2003). Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz: UVK. Schimank, Uwe/Volkmann, Ute (1999). Gesellschaftliche Differenzierung. Bielefeld: transcript. Wacquant, Loic (2003). Zwischen Soziologie und Philosophie. In: Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot/Schwengel, Hermann (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz: UVK, S. 59-65.
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8.3 J ÜRGEN H ABERMAS : K OMMUNIK ATION UND H ANDELN Jürgen Habermas ist kein soziologischer Handlungstheoretiker im engeren Sinne. Sein gleichermaßen philosophisch wie soziologisch geprägtes Werk umgreift weit mehr Fragestellungen (vgl. Görtzen 1987; Reese-Schäfer 2001; Wiggershaus 2004). Unter handlungstheoretischen Perspektiven geht es Habermas nicht darum, Einzelhandlungen im Detail zu erklären oder zu verstehen, sondern das Problem der »Rationalität von Meinungen und Handlungen« (Habermas 1988[1981]: 15) zum Thema zu machen. Vor diesem Hintergrund zielen seine Überlegungen darauf ab, viele der in diesem Buch präsentierten Konzeptionen zu relationieren und auf Defizite der bisherigen soziologischen Handlungstheorien aufmerksam zu machen. Diese Defizite liegen in seinen Augen vor allem in der weitgehenden Ausblendung des »kommunikativen Handelns«, das er letztlich doppelt konzeptualisiert. Zum einen ist Handeln für Habermas immer insofern kommunikativ basiert, als es stets sprachlich verfasst ist und eine wie auch immer geartete Form interaktiver Verständigung voraussetzt. Auf der anderen Seite begreift er kommunikatives Handeln aber auch als einen spezifischen Handlungstypus, der immer dann aktuell wird, wenn die alltäglich eingeschliffenen Handlungsroutinen insbesondere im öffentlichen Raum infrage stehen und die Beteiligten sich über Norm und Normalität verständigen müssen. Dies ist letztlich nur in Krisensituationen der Fall, also dann, wenn die Beteiligten unterschiedliche Vorstellungen über die Ziele und Verfahren sozialen Handelns haben. Oder am Beispiel formuliert: Man streitet sich über Atomtechnologie, Gentechnologie oder über die Zukunft Europas und muss sich darüber irgendwie »verständigen« (sei es im Sinne eines Konsenses, eines Dissenses oder eines Kompromisses). Die Verfahren und Rationalität eben dieses Prozesses will die Theorie des kommunikativen Handelns klären.
Zur Person Jürgen Habermas wird am 18. Juni 1929 in Düsseldorf als Sohn des Geschäftsführers der IHK Köln, Ernst Habermas, und der Hausfrau Grete Habermas geboren. Er wächst in Gummersbach in einer bürgerlichen Familie auf, die sich gegenüber dem Nationalsozialismus angepasst verhält. Sein Vater ist Mitglied der NSDAP, und auch Habermas steht der national-
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sozialistischen Ideologie als Kind und HJ-Mitglied zunächst keineswegs kritisch gegenüber. Das ändert sich angesichts seiner Kriegserfahrung als Jugendlicher nachhaltig. Ende 1944 kommt er als Fronthelfer an den Westwall und gehört somit zur sogenannten »Flakhelfer-Generation« (Bude 1987). Nach dem »nachgeholten« Abitur 1949 in Gummersbach studiert Habermas an den Universitäten Göttingen (1949/50), Zürich (1950/51) und Bonn (1951-54) Philosophie, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er promoviert 1954 in Bonn bei Erich Rothacker und Ernst Becker über das Thema »Das Absolute und die Geschichte: Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken«. Danach arbeitet er als freier Journalist, bevor er 1956 auf Einladung von Theodor W. Adorno eine Stelle als Forschungsassistent am Frankfurter Institut für Sozialforschung übernimmt. 1961 habilitiert er in Marburg bei Wolfgang Abendroth mit der Schrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft« (1962), und noch vor deren Veröffentlichung erhält er eine außerordentliche Professur für Philosophie an der Universität Heidelberg. 1964 bis 1971 übernimmt er eine ordentliche Professur für Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main. In diese Zeit fallen seine Schriften »Theorie und Praxis« (1963), »Zur Logik der Sozialwissenschaften« (1967), »Erkenntnis und Interesse« (1968a), »Technik und Wissenschaft als Ideologie« (1968b) sowie seine Beträge zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« (siehe Adorno et al. 1969). 1971 wechselt er als Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt nach Starnberg. Im Übergang von Frankfurt nach Starnberg liegt die Kontroverse mit Niklas Luhmann, die unter dem Titel »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie« (1971) veröffentlicht wird. Aus der Starnberger Zeit stammen unter anderem die Publikationen über »Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus« (1973), »Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus« (1976) sowie die zweibändige Abhandlung über die »Theorie des kommunikativen Handelns« (1981), die oftmals als sein Hauptwerk bezeichnet wird und vielfach kommentiert worden ist (vgl. unter anderem Honneth/Joas 1996; Steinhoff 2006; Schneider 2009). Nach der Auflösung des Starnberger Instituts kehrt Habermas nach Frankfurt zurück und wirkt bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 als Professor für Philosophie in Frankfurt. In dieser Zeit setzt er seine Studien zum kommunikativen Handeln fort (vgl. Habermas 1983; 1984; 2001), widmet sich dem »philosophischen Diskurs der Moderne« (1985), beschäftigt sich mit
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einer »Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats« (1992), mit religionsphilosophischen Fragestellungen (Habermas/Ratzinger 2004) sowie politischen Themen (zum Beispiel Habermas 2011). Er ist bis heute ungebrochen produktiv und gehört zu den weltweit am meisten respektierten lebenden Intellektuellen.
Fragestellungen und Erkenntnisse Habermas und seine Fragestellungen sind nur mit Bezug auf die »Kritische Theorie« der Gesellschaft zu begreifen, wie sie im Rahmen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Leo Löwenthal und anderen entwickelt worden ist. Zwar knüpft Habermas keineswegs unvermittelt an jene Argumentationen an, aber er begreift sich sehr wohl im Kontext kritischer Theorie. Und dies gilt nicht nur für die Frühphase seines Werks (Habermas 1963; 1967; 1968), sondern auch für die anders akzentuierten Arbeiten der 1970er Jahre und erst recht für die »Theorie des kommunikativen Handelns«, die er explizit im Kontext der »Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie« (Habermas 1988[1981]/II: 548ff.) verortet. Als »kritisch« charakterisiert er in diesem Zusammenhang eine Theorie der kapitalistischen Modernisierung (ebenda: 549), die darauf hinweist, dass moderne Gesellschaften das in ihnen angelegte Lernpotenzial nicht ausschöpfen und den Blick auf das »mögliche Anderssein« und auf die emanzipatorischen Potenziale moderner Gesellschaften eher verstellen. Dieses Defizit zeigt sich in seinen Augen auch bei den Entwürfen zur Handlungstheorie, wie sie in Philosophie und Soziologie formuliert worden sind. Um dies zu verdeutlichen, argumentiert Habermas historischsystematisch: Er rekonstruiert eine Entwicklungsgeschichte sowohl der Rationalitäts- als auch der Handlungskonzeptionen, wobei er – wie schon Max Weber – zunächst davon ausgeht, dass es kein universalistisches Handlungskonzept gibt, sondern eine Pluralität von Handlungsrationalitäten. Was dies heißt, verdeutlicht er im ersten Schritt in indirekter Anknüpfung an seinen »Gegner« aus dem Positivismusstreit: Karl Raimund Popper. Ähnlich wie dieser unterscheidet Habermas unter philosophisch-erkenntnistheoretischen Perspektiven zwischen verschiedenen Wirklichkeiten, in denen die Akteure sich bewegen und die auf unterschiedliche Weltbezüge und Handlungstypen verweisen (vgl. Habermas 1988[1981]/I: 115ff.):
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Auf der einen Seite gibt es die »objektive« Welt der äußeren Natur, die sich mit den Mitteln der Naturwissenschaften instrumentell handhaben lässt. Hier gibt es subjekt- und situationsunabhängige »Wahrheiten« und optimale Lösungen, die sich aus den Möglichkeiten und Grenzen der Naturgesetze ergeben. Davon abzugrenzen ist die soziale Welt der Normen und Interaktionen, also die alltägliche gesellschaftliche Wirklichkeit, deren Wirklichkeitsgehalt sich nicht objektivistisch-instrumentell, sondern allein interaktiv und geistes- beziehungsweise sozialwissenschaftlich bestimmen lässt. In dieser Welt gibt es keine naturwissenschaftlich-objektiven »Wahrheiten«, sondern nur sozial-kulturell feststellbare (und bestreitbare) »Richtigkeiten«. Jenseits von objektiver und sozialer Welt verortet Habermas die »subjektive« Welt der individuellen Gefühle und Empfindungen, die nicht nur eine eigenständige Wirklichkeitsdimension bezeichnet, sondern ebenfalls auf ein eigenständiges Wahrheitskonzept verweist: In der subjektiven Welt geht es nicht um »Wahrheit« oder »Richtigkeit«, sondern um »Wahrhaftigkeit«, also um die Fähigkeit, eine (wie auch immer geartete) normative Position glaubhaft zu vertreten. Nach Habermas können mit den drei Welten unterschiedliche Traditionen der Handlungskonzeptionen verknüpft werden (vgl. Habermas 1988[1981]/I: 126ff.). So wird Handeln in der »objektiven« Welt der äußeren Natur seit Aristoteles als »teleologisches« Handeln beschrieben. Teleologisches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es monologisch gedacht, also nur aus der Perspektive des Handelnden ohne Berücksichtigung seiner Umwelt betrachtet wird, wobei der Akteur sich unter verschiedenen Handlungsalternativen für diejenige entscheidet, die in einer gegebenen Situation die erfolgversprechendsten Mittel unter der Perspektive seiner eigenen Zweckerreichung bereitstellt. Das teleologische Handlungskonzept wird in Ökonomie und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert zum Konzept des »strategischen Handelns« weiterentwickelt. Das »strategische Handeln«, wie es in der Spieltheorie und später in den diversen Konzeptionen des »Rational Choice« formuliert worden ist, ist durch zwei Momente bestimmt: Auf der einen Seite werden die Aspekte des Instrumentellen und Erfolgsorientierten betont. Handeln ist »instrumentelles Handeln«, insofern die Akteure davon ausgehen, dass sie im Hinblick auf ihre Intentionen und auf der Grundlage gegebener Mittel die Welt vor dem Hintergrund des Kriteriums der Erfolgsorientierung letztlich beliebig verändern können. Sie sind nicht durch eine Eigensinnigkeit der Natur oder durch normative Begrenzungen
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beschränkt, sondern können ihre individuelle Zweck-Mittel-Rationalität in den Grenzen der Naturgesetze im Prinzip unbeschränkt ausleben. Auf der anderen Seite – und dies relativiert den radikalen Instrumentalismus – ist das strategische vom teleologischen Handlungsverständnis in einem Punkt unterschieden: Das strategische Handeln ist insofern dialogisch konzipiert, als es die Erwartungen möglicher Interaktionspartner mit einbezieht. In der soziologischen Handlungstheorie spielen Konzepte des »strategischen Handelns« eine ebenso wichtige wie problematische Rolle. Denn die an der Idee der »objektiven« Welt gewonnenen Handlungskonzepte lassen sich kaum umstandslos auf die »soziale« Welt übertragen, auch wenn dies in der Tradition behavioristischer und individualistischer Handlungskonzeptionen immer wieder versucht worden ist. Demgegenüber weist Habermas darauf hin, dass in der sozialen Welt andere Kriterien gelten als in der naturwissenschaftlich beschreibbaren und instrumentell handhabbaren »objektiven« Welt. Nach ihm ist Handeln in der »sozialen« Welt dominant normenreguliert. Dem instrumentellen Handeln, wie es für die objektive Welt kennzeichnend ist, steht somit das normenregulierte Handeln gegenüber, wie es von Durkheim über Weber bis hin zu Parsons beschrieben worden ist. Diese gingen davon aus, dass Handeln zwar durchaus strategisch gedacht werden kann, aber in letzter Instanz durch den jeweiligen normativen Kontext bestimmt und begrenzt wird, der nicht nur kulturell, sondern auch binnenkulturell divergieren kann. So orientieren sich Unternehmer an spezifischen normativen Bezugspunkten und Prinzipien, nämlich an der Unterscheidung von »Gewinn« und »Verlust« und am Prinzip der Gewinnmaximierung. Für Wissenschaftler hingegen ist die Abgrenzung von »wahr« und »falsch« leitend und damit die Wahrheitsorientierung. Für Ethiker wiederum ist die Unterscheidung von »gut« und »böse« von zentraler Bedeutung, und diese kann in normativer Hinsicht mit der Gewinnorientierung ebenso in Konflikt geraten wie mit der Wahrheitsorientierung. Handeln lässt sich aber nicht nur aus der Perspektive der objektiven und der sozialen Welt konzeptualisieren, sondern auch aus der Perspektive der subjektiven Welt. Prototypisch hierfür erscheint Habermas die Konzeption des »dramaturgischen« Handelns bei Erving Goffman. Goffman, so Habermas, beschreibt Handeln als eine Inszenierung des eigenen Selbst, das prinzipiell gefühlsorientiert, aber gleichwohl strategisch orientiert ist. Denn wer sich möglichst gut nach außen darstellen will, muss die mit seiner Rolle verknüpften Außenerwartungen entsprechend
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antizipieren. Die Inszenierung des eigenen Selbst muss situationsangemessen erfolgen, wobei die Berücksichtigung von Gewinnorientierungen ebenso eine Rolle spielen kann wie die Berücksichtigung von normativen Vorgaben und Rahmungen. Der Verweis auf die Drei-Welten-Theorie – und die damit parallelisierbaren handlungstheoretischen Positionen – ist für Habermas allerdings nur ein erster Schritt zur Entfaltung seiner eigenen handlungstheoretischen Optionen. Mit dem Stichwort des kommunikativen Handelns versucht er eine gleichermaßen alternative wie ergänzende Konzeption zu entwickeln. Richtet man den Blick auf die alternativen Akzentsetzungen, so ist zweierlei festzuhalten: Zum einen begreift Habermas in Anknüpfung an den »Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim« (Habermas 1988[1981]/II: 9) Handeln als prinzipiell dialogisch beziehungsweise interaktionistisch und weiterführend als kommunikationstheoretisch basiert. Zum anderen wird die kommunikationstheoretische Fundierung unter Bezug auf Autoren wie John L. Austin (1962[1985]) und John Searle (1983[1969]) im Wesentlichen sprachtheoretisch begründet. Hiermit knüpft Habermas an den »linguistic turn« in den Sozial- und Geisteswissenschaften an, wie er breitenwirksam erstmals von Richard Rorty (1967) ausgerufen wurde. Rorty lenkt den Blick darauf, dass es – insbesondere im Sozialen – keine »Dinge an sich« gibt, sondern die Dinge über Sprache konstituiert und damit wirklich werden. Diesen Gedanken greift Habermas mit seiner gesellschaftstheoretisch gewendeten (und durch Rekurs auf Noam Chomsky ergänzten) Interpretation der Sprechakttheorie von Austin und Searle auf. Habermas operiert mit der Überlegung, dass Handeln jenseits von Gesten und anderen außersprachlichen Anteilen dominant sprachlich bestimmt sei. Sofern Interaktion – und damit Handeln – in letzter Hinsicht sprachlich verfasst ist, bedeutet dies auch, dass sich aus den Strukturen und Implikationen der Sprache Rückschlüsse auf die Interaktionsbeziehung selbst ziehen lassen. In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig: zum einen das Konzept der »Sprechakte«. Nach Austin, Searle und Habermas sind Sprechakte nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern »illokutionäre Handlungen mit propositionalem Gehalt«. Sie verweisen auf eine handlungsrelevante, bedeutungsvolle Absicht des Sprechers, auf eine Überzeugung, einen Wunsch, eine Absicht oder eine Emotion. Unter linguistischer Perspektive lassen sich dabei drei universale Typen von Sprechakten unterscheiden, denen unterschiedliche Bedeutungsdimen-
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sionen und Geltungsansprüche zugeordnet sind: Auf der einen Seite stehen die Konstativa (beschreiben, berichten, erklären, voraussagen), die sich auf die kognitive Ebene und auf die Darstellung eines Sachverhaltes im Orientierungssystem der naturwissenschaftlich beschreibbaren »äußeren Welt« beziehen. Diese Beschreibungen und Behauptungen müssen dem Geltungsmaßstab der Wahrheit genügen. Davon abzugrenzen sind die Regulativa (entschuldigen, befehlen, warnen, versprechen), die sich auf soziale Normen und Institutionen im Kontext einer gemeinsamen Lebensweltbeziehen. Auf dieser Ebene ist der Geltungsmaßstab für die jeweilige Äußerung nicht Wahrheit, sondern Richtigkeit. Denn die jeweiligen Äußerungen lassen sich nicht universell behaupten, sondern sind je nach kulturellem und politischem Kontext bestreitbar. Als dritte Äußerungsklasse sind schließlich die Expressiva zu notieren. Expressiva (wünschen, hoffen, eingestehen) beziehen sich auf Intentionen und Einstellungen. Sie sind Ausdruck eines Erlebens in einer subjektiven Welt, und hier ist der Geltungsmaßstab weder Wahrheit noch Richtigkeit, sondern Wahrhaftigkeit: Unter dieser Perspektive muss der Akteur nicht nur »objektiv« wahre und »sozial« richtige Aussagen formulieren, sondern diese überzeugend darstellen – frei nach dem Lutherschen Motto: »Hier stehe ich und kann nicht anders«. Neben der Klassifikation und Bewertung der unterschiedlichen Sprechakte ist zum anderen das Stichwort der »kontrafaktisch idealen Sprechsituation« wichtig, das erstmals in den »Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz« (Habermas 1971) eingeführt wurde. Eine »ideale Sprechsituation«, so Habermas, liegt dann vor, wenn die Redechancen gleich verteilt sind, also alle Beteiligten ihre Argumente vorbringen, die Argumente des Interaktionspartners kritisieren können und in ihren Äußerungen als gleichberechtigt anerkannt werden (vgl. Habermas 1971: 135ff.). In empirischer Hinsicht ist dies zwar eine eher unrealistische Annahme; gleichwohl gilt, dass wir für einen Diskurs stets »kontrafaktisch« eine ideale Sprechsituation unterstellen. Denn nur unter dieser Voraussetzung machen die Ideen einer gleichberechtigten Rede und des »zwanglosen Zwangs des besseren Arguments« (ebenda: 137; 1972: 161) Sinn. Wenn man in einen Diskurs eintritt, muss man zwangsläufig unterstellen – und sei es noch so »kontrafaktisch« –, dass die eigenen Sprechakte ebenso wie die des Interaktionspartners ernst genommen und idealiter nur nach den Kriterien Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit beurteilt werden.
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Ursprünglich wollte Habermas seine handlungstheoretischen Überlegungen gänzlich sprachtheoretisch begründen (vgl. Habermas 1971). Aber im Vorwort zur »Theorie des kommunikativen Handelns« merkt er an, dass sich diese Intention in letzter Hinsicht als »falsch« erwiesen habe (vgl. Habermas 1988[1981]/I: 7). Zwar hält er an der sprach- und diskurstheoretischen Ausrichtung seiner Argumentation grundsätzlich fest. Aber die Begründung seines eigenen handlungstheoretischen Ansatzes ist anders akzentuiert. Der Ausgangspunkt der soziologischen Handlungstheorie liegt für ihn in dem von Talcott Parsons beschriebenen Problem der »doppelten Kontingenz« und der sich daraus ergebenden Frage der Handlungskoordinierung (vgl. Habermas 1988[1981]/II: 320f.). »Doppelte Kontingenz« bedeutet, dass innerhalb einer Interaktionsbeziehung beide Interaktionspartner theoretisch über eine vollständige Handlungsautonomie verfügen. Sie könnten sich in ihrem Handeln immer auch anders entscheiden, also dem Interaktionspartner nicht gesittet antworten, sondern ihn beschimpfen oder auch verprügeln. Allerdings passiert dies nur in Ausnahmefällen. In der Regel agieren die Interaktionspartner aufgrund antizipierter Erwartungen an die jeweilige Handlungssituation; sie wissen, was zu tun ist und wie sie ihre Handlungen wechselseitig koordinieren müssen. Das Problem der doppelten Kontingenz »macht Ordnungsleistungen funktional notwendig« (ebenda: 320). Dieser von Parsons nachdrücklich betonte Punkt lässt sich in dessen Konzeption jedoch kaum zureichend beschreiben. Nach Habermas verweisen die notwendigen »Ordnungsleistungen« in letzter Instanz auf »sprachabhängige Verständigungsprozesse […], [die sich] vor dem Hintergrund einer intersubjektiv geteilten Überlieferung, vor allem gemeinsam akzeptierter Werte ab[spielen]« (ebenda: 321). Eben dieser Befund lenkt Habermas’ Blick auf den Aspekt der Sprache und der Sprechakte, die gleichsam als empirischer Indikator für gelingende oder nicht gelingende Handlungskoordinierungen gelten können. Für die Sprechakte wiederum gilt, dass sie unter funktionalistischer Perspektive letztlich in allen drei Dimensionen: Konstativa, Regulativa, Expressiva, konsistent sein müssen. Denn in der Regel implizieren Äußerungen in einer Interaktionssequenz Behauptungen über die objektive, soziale und subjektive Welt gleichermaßen. Und diese Äußerungen müssen vom jeweiligen Interaktionspartner als »wahr« (in Bezug auf die »objektive« Welt), als »richtig« (in Bezug auf die soziale Welt) und als »wahrhaftig« (in Bezug auf die subjektive Welt) akzeptiert werden. Oder am Beispiel formuliert: Wenn ich sage: »Herr Meier hat meinen Garten-
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zaun zerstört!«, dann muss Herr Meier das tatsächlich getan haben (objektive Welt), es muss aus juristischen und sonstigen Gründen unbestreitbar sein, dass dies nicht akzeptabel ist (soziale Welt), und ich muss dies auch so vortragen, dass meinem Gegenüber klar wird, dass mich diese Aktion von Herrn Meier zutiefst trifft (subjektive Welt). Insofern diese Konsistenz von Konstativa, Regulativa und Expressiva in empirischer Hinsicht nicht unbedingt vorhanden ist, stellt sie ein normatives Ideal dar, das freilich umgekehrt als Kritikmaßstab für die Analyse konkreter Handlungsvollzüge gelten kann, und zwar sowohl für die sozialwissenschaftliche Analyse als auch im konkreten Alltag, in dem es dann zu Kontroversen kommt, wenn die funktional erforderliche Konsistenz in den drei Dimensionen nicht gegeben ist. An genau dieser Stelle wechselt auch der Sprachgebrauch bei Habermas. Das kommunikative Handeln erscheint jetzt nicht mehr als grundlegend für jegliches Handeln, sondern als ein spezifischer Handlungstyp, der abzugrenzen ist vom »instrumentellen« und vom »strategischen« Handeln. Die von Vilfredo Pareto über Max Weber bis hin zu Parsons formulierte These, dass Handeln nicht nach ein und demselben Muster begriffen werden kann, sondern dass es unterschiedliche »Handlungstypen« gibt, wird damit in spezifischer Weise aufgegriffen und reformuliert. Unterscheidet Habermas in seiner historischen Rekonstruktion entsprechend der »Drei-Welten-Theorie« zwischen teleologischem, normenreguliertem und dramaturgischem Handeln, so spricht er jetzt von instrumentellem, strategischem und kommunikativem Handeln als den drei Grundtypen. Diese Sortierung ergibt sich aus zwei spezifischen Differenzierungskriterien, nämlich der »Handlungsorientierung« einerseits und der »Handlungssituation« andererseits (vgl. Habermas 1988[1981]/I: 384). Orientierung erfolgsorientiert
verständigungsorientiert
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instrumentelles Handeln
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sozial
strategisches Handeln
kommunikatives Handeln
Situation
Abb. 8.3-1: Handlungstypen (in Anlehnung an Habermas 1982/I: 384, Figur 14)
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In der »objektiven« Welt geht es um die erfolgreiche Beherrschung der »äußeren Natur«. Diese Welt ist »nicht-sozial«, weil sie nicht durch bestreitbare soziale Normen tangiert wird. Das Handeln auf dieser Ebene ist an der Frage orientiert: »Gelingt es, ein technisches Problem zu lösen oder nicht?«, und ist dementsprechend rein erfolgsorientiert. Das ist die Sphäre des »instrumentellen Handelns«, das darauf abzielt, die äußere Natur technisch zu beherrschen, und zwar unabhängig davon, ob dies sinnvoll und normativ vertretbar sein mag oder nicht. Die Erfolgsorientierung ist auch im sozialen Alltag oft zu beobachten – und wahrscheinlich sogar dominant. Hier freilich verwandelt sich das »instrumentelle« in ein »strategisches« Handeln. Dieses unterscheidet sich vom »instrumentellen« dadurch, dass Handeln zu sozialem Handeln wird, also die Handlungsmöglichkeiten anderer einbezogen werden. Allerdings geschieht dies unter der Voraussetzung, dass auch die anderen erfolgsorientiert handeln, dass also niemand ein Problem mit der instrumentellen Unterwerfung der äußeren Natur und dem Diktat des ökonomischen Wachstums hat. Vom »strategischen Handeln« abzugrenzen ist das »kommunikative Handeln«, das nicht erfolgs-, sondern »verständigungsorientiert« angelegt ist. Das kommunikative Handeln wird erst dann wichtig und entscheidend, wenn die Erfolgsorientierung des strategischen Handelns in die Krise gerät und wir uns darüber verständigen müssen, was für Ziele wir erreichen wollen. Oder am Beispiel formuliert: Solange wir uns einig sind, dass die gentechnologische Veränderung des Menschen kein Problem ist, sondern möglichst rasch und möglichst günstig realisiert werden sollte, passen die Modelle des instrumentellen und strategischen Handelns. Problematisch wird es nur und erst, wenn dieser normative Konsens aufgekündigt wird und nicht mehr klar ist, ob die Strategie der gentechnologischen Verbesserung der Menschheit nach dem Stand der technischen Möglichkeiten tatsächlich verfolgt werden soll. Ist hier kein Konsens mehr gegeben, schlägt die Stunde des verständigungsorientierten »kommunikativen Handelns«. Unter dieser Perspektive erscheint das kommunikative Handeln (jenseits der prinzipiellen kommunikativen Fundierung jeglichen sozialen Handels) letztlich als eine Art »Krisenhandeln«. Es wird dann notwendig, wenn kein Konsens über grundlegende Entwicklungslinien besteht, also zum Beispiel bestritten wird, dass Gentechnologie, Atomtechnologie oder auch neuere Sicherheitstechnologien wirklich notwendig sind. Die
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Akteure müssen in einen (prinzipiell ergebnisoffenen) Diskurs eintreten und sich darüber verständigen, welche Alternativen sie als realisierungswert erachten, wobei dieser Prozess für Habermas prinzipiell sprachtheoretisch rekonstruierbar erscheint. Mit dieser Akzentuierung formuliert Habermas letztlich eine doppelte These zum »kommunikativen Handeln«. Auf der einen Seite behauptet er in Anknüpfung an Mead und in Abgrenzung von individualistischen Handlungskonzepten, dass Handeln stets dialogisch und kommunikativ begriffen werden muss, wobei der Aspekt des Kommunikativen sprachtheoretisch erläutert und vertieft wird. Auf der anderen Seite führt er das kommunikative Handeln als eine Art »Ausnahmefall« ein, der dann zum Tragen kommt, wenn sich die Beteiligten über die normativen Grundlagen ihres Handelns nicht mehr im Klaren sind. Sofern der Alltag funktioniert, sind instrumentelle und strategische Handlungsmuster vorherrschend (und dies dürfte in der Mehrzahl der Fälle des Alltagshandelns gegeben sein). Gleichwohl steigt die Anzahl der Konfliktfälle, bei denen eine Verständigungsorientierung nicht als vorausgesetzt beziehungsweise realisiert gelten kann, und genau deshalb werden nach Habermas die in der Soziologie bislang kaum behandelten Fragen nach der Ausgestaltung des kommunikativen Handelns wichtig. Oder anders ausgedrückt: Gerade in pluralisierten Gesellschaften, die nicht mehr ohne Weiteres über einen Wertekonsens verfügen, gewinnt der »Krisentypus« des kommunikativen Handelns systematisch an Bedeutung.
Welche Rationalitätsannahme wird gemacht, wie wird »rational« beziehungsweise »nicht-rational« definiert und welche Bedeutung hat diese Definition? Ähnlich wie Weber, Émile Durkheim oder Parsons begreift auch Habermas Handeln als eine intentionale und letztlich rationale Angelegenheit. Allerdings ist diese Feststellung insofern zu relativieren, als er nicht mit einem »festen« Rationalitätsbegriff operiert, sondern Rationalität zu differenzieren versucht. Hierbei unterscheidet er grundsätzlich zwei Rationalitätsmuster, nämlich zum einen die instrumentelle (beziehungsweise weiterführend strategische) Rationalität und zum anderen die kommunikative Rationalität. Die meisten Alltagshandlungen gehorchen der strategischen Rationalität. Diese kommt dann zum Einsatz, wenn für alle Beteiligten sowohl aus ihrer Perspektive als auch aus der Situation heraus
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klar ist, wie gehandelt werden muss, und die Differenz der Perspektiven strategisch gehandhabt werden kann. Anders sieht es aus, wenn der prinzipielle Konsens nicht mehr gegeben ist und das strategische Handeln des anderen als unangemessen empfunden wird. Hält der andere bestimmte Zielsetzungen und Strategien – wie die Umsetzung einer gentechnologischen Verbesserung der Menschheit – für selbstverständlich, die für Ego höchst problematisch erscheinen, dann muss man in einen Diskurs eintreten und sich über die Zielsetzungen »verständigen«. Was »Verständigung« in diesem Zusammenhang bedeutet, ist dabei durchaus umstritten. So ist Habermas vorgeworfen worden, dass »Verständigungsorientierung« für ihn letztlich stets »Konsensorientierung« bedeute und er die nicht-rationalen Momente des Handelns unterschätze. Dies ist insofern richtig, als er die Möglichkeiten von Dissens und Kompromiss zwar einräumt, aber in ihrer empirischen Bedeutung ebenso wenig analysiert wie die Frage der nicht-rationalen Aspekte. Diese interessieren ihn letztlich weniger als der Aufweis der Möglichkeit einer rationalen Verständigung über strittige Fragen.
Welche Bedeutung hat der situationale Kontext für das Handeln? Im Unterschied zu Weber und in Anknüpfung an George H. Mead und Parsons geht Habermas nicht davon aus, dass Handeln allein aus der Perspektive des Handelnden heraus analysiert werden kann. Handeln ist immer in einen interaktiven Kontext eingebunden und nur aus diesem heraus zu verstehen. Vor dem Hintergrund des Modells der »kontrafaktisch idealen Sprechsituation« sind die konkreten sozialen Kontexte freilich nur Randbedingungen, insofern sie die Möglichkeiten einer gelingenden Kommunikation – sei diese nun eher strategisch oder eher kommunikativ akzentuiert – verändern, einschränken und vielleicht sogar verhindern können. Unter eben dieser Perspektive sind sie in den Blick zu nehmen – und dies verweist auf eine spezifische Aufmerksamkeitsfokussierung. Auf der einen Seite begreift Habermas Handeln immer im Horizont dessen kontextueller Bedingungen. Auf der anderen Seite werden Letztere vor dem Hintergrund des Ideals der »kontrafaktisch idealen Sprechsituation« weniger als konstitutive, sondern eher als einschränkende Bedingungen zum Thema.
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Was ist die erkenntnistheoretische Grundposition und welche Konsequenzen hat diese für die Fassung und den Stellenwert der Handlungsebene? Habermas ist eindeutig kein Anhänger der behavioristischen Idee von Sozialwissenschaft, sondern der verstehenden Soziologie. Hier knüpft er an die seit Wilhelm Windelband (1894) und Heinrich Rickert (1899) bekannte (und inzwischen durchaus infrage stehende) Unterscheidung zwischen »ideographischen« und »nomothetischen« Wissenschaften an. Die Naturwissenschaften, die sich auf die »objektive« Welt beziehen, sind demnach »nomothetisch«, weil sie nach universell geltenden Gesetzmäßigkeiten der äußeren Natur suchen. Demgegenüber beziehen sich die Sozial- und Geisteswissenschaften auf die »soziale« (und auch auf die »subjektive«) Welt, in der es keine universellen Gesetze gibt und die sich nur verstehend erschließen lässt. Methodisch bedeutet dies, dass Habermas die Erkenntnisse der behavioristischen Wissenschaften zwar keineswegs verwirft, aber ihre Defizite ebenso betont wie die größere Angemessenheit verstehender Methoden (vgl. Habermas 1967). Handeln lässt sich nur verstehend, unter Bezug auf seine prinzipielle kommunikative Verfasstheit dechiffrieren, wobei es bei dieser Dechiffrierung allerdings weniger um eine empirisch korrekte Beschreibung dessen geht, was beobachtbar ist, sondern um die Frage, was das empirisch Beobachtbare unter dem Gesichtspunkt gelingender oder gestörter Verständigung bedeutet. Zu eben dieser Perspektive liefert Habermas einen wichtigen Beitrag, wobei seine Arbeiten über die soziologische Handlungstheorie im engeren Sinn hinausgehen.
Lernkontrollfragen • • •
Inwiefern ist Handeln nach Habermas immer kommunikativ basiert? Was bedeutet das Stichwort der »idealen Sprechsituation« und inwiefern ist die ideale Sprechsituation kontrafaktisch? Erläutern Sie den Unterschied zwischen »strategischem« und »kommunikativem« Handeln bei Habermas.
8. Handlungstheorie in gesellschaf tstheoretischer Absicht
Literatur Primärliteratur Adorno, Theodor W./Albert, Hans/Dahrendorf, Ralf/Habermas, Jürgen/ Pilot, Harald/Popper, Karl Raimund (1969). Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Herausgegeben von Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1963). Theorie und Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1967). Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1968a). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1968b). Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jürgen Habermas (1971). Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 101-141. Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas (1971). Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1972). Wahrheitstheorien. Wiederabgedruckt in: ders. (1995), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 127-186. Habermas, Jürgen (1973). Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1976). Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. 4. durchgesehene Auflage 1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1983). Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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8. Handlungstheorie in gesellschaf tstheoretischer Absicht
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9. Schluss
Wir haben dieses Buch mit der Feststellung begonnen, dass in der Soziologie Beschreibungen, Modelle und Theorien des individuellen Handelns allgegenwärtig und unverzichtbar sind, dass aber zugleich unterschiedliche Vorstellungen die Soziologie durchziehen, mit welchen Handlungsbeschreibungen zu welchem Zweck an welcher Stelle zu arbeiten sei. Wir haben versucht, die scheinbar unendliche Vielfalt an Handlungsbeschreibungen gemäß ihrer chronologisch-historischen Entwicklung und entlang ihrer theoretischen Ausarbeitungslinien zu systematisieren und auf drei übergreifende Fragestellungen zu beziehen. Vor diesem Hintergrund haben wir gezeigt, dass sich die in der Soziologie gegenwärtig verwendeten Beschreibungen, Modelle und Theorien des Handelns durchaus aufeinander beziehen lassen und Verbindungs- und Entwicklungslinien kenntlich zu machen sind. Damit wollen wir zu dem gemeinsamen Projekt beitragen, soziologisches Wissen und vorhandene Werkzeuge kritisch zu sichten und eine Basis für weitere Arbeiten auf- und auszubauen. Wir schließen nun mit fünf zusammenfassenden Einsichten. Unser erster Befund ist, dass Theorien des Handelns nach wie vor im Zentrum der Soziologie stehen. Seit Pareto und Weber, aber auch bei den meisten ihrer Nachfolger, begreift sich Soziologie zunächst und vor allem als eine Wissenschaft des sozialen Handelns, die darauf abzielt, die soziale Welt nicht mithilfe metaphysischer, philosophischer oder theologischer Begründungen zu erschließen, sondern als Ergebnis menschlichen Handelns zu erklären. Dahinter steht die Annahme, dass der Mensch über bestimmte kognitive Fähigkeiten und eine gewisse »Vernunft« oder »Sinnhaftigkeit« verfügt und seine Geschichte selbst macht. Die Soziologie ist im Kanon der modernen Sozialwissenschaften denn auch als Real- und Handlungswissenschaft etabliert worden, die zur Beschreibung der han-
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delnden Menschen wie auch der sozialen Welt nicht »spekulatives« Wissen einsetzt, sondern Beschreibungen, die aus Erfahrungen und aus der Beobachtung der realen Welt resultieren und geprüft werden können. Die Vorläufer der Sozialwissenschaften, vor allem die hier dargestellten David Hume und Adam Smith, haben in ihren Werken eine sozial- und gesellschaftstheoretische Perspektive entwickelt, welche die soziale Gestaltung der Welt unter Bezug auf als absichtsgeleitet beschriebene Akteure begründet und erklärt. Dies markiert den Anfang der modernen Sozialwissenschaft, die sich fortan mit den Grundlagen und Formen des sozialen Zusammenlebens beschäftigen sollte. Nach den Grundannahmen der Klassiker wie Hume oder Smith ist das menschliche Handeln als ein durch Absichten motiviertes Tun zu betrachten, das auf die Selbsterhaltung und die Verfolgung darauf bezogener Interessen abzielt. Jenseits dieser allgemeinen Bestimmung kann man freilich darüber streiten, welche Absichten, Zwecke und Fähigkeiten dafür ausschlaggebend sein sollen. Die Aufklärung hat anfänglich den »Verstand« als die entscheidende Kapazität hervorgehoben; hiernach wäre Handeln untrennbar mit der Fähigkeit verknüpft, logisch denken und die Welt mit Bezug auf Absichten richtig wahrnehmen und einschätzen zu können. Bereits Smith und später der Pragmatismus sowie die interpretativen Ansätze haben demgegenüber auf die Fähigkeit zur Empathie, zur Deutung und zum Verstehen hingewiesen. Neben der Intentionalität des Handelns tritt somit zunehmend der Aspekt seiner Sinnhaftigkeit in den Vordergrund. Unter dieser Perspektive lässt sich Handeln nicht nur qua Beobachtung erfassen, sondern muss immer auch »verstanden« werden. Zwar kann man darüber streiten, was »verstehen« hier konkret bedeutet und welchen Stellenwert es einnimmt. Ungeachtet dessen können jedoch die verschiedenen Handlungstheorien und -modelle vor diesem Hintergrund als Varianten rekonstruiert werden, die zwar ein an sich sinnhaftabsichtsvolles Handeln annehmen, aber verschiedene Absichten und spezifische Fähigkeiten hervorheben. Wie schon Max Weber betont hat, ist Soziologie zunächst und vor allem eine Wissenschaft des Handelns. Inwiefern das individuelle Handeln durch »Makrophänomene« (wie sozialstrukturell ungleiche Handlungsbedingungen) beeinflusst wird, ist ebenso umstritten wie die vorab zu stellende Frage, ob Handeln eher durch den »Verstand« oder die »Gefühle« gesteuert wird und ob es sich, wie von Hume oder Smith behauptet, mit einem »Einheitsmodell« beschreiben lässt. In Abgrenzung vom »Ein-
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heitsmodell« rationalen Handelns, wie es von Hume oder Smith vorweggenommen worden ist, startete die soziologische Handlungstheorie im engeren Sinne – und dies ist ein zweiter wichtiger Befund – zunächst mit der von Pareto und Weber formulierten These, dass Handeln oft weniger »rational« als »irrational« motiviert sei und letztlich eben nicht mit einem »Einheitsmodell« beschrieben werden könne. Sofern sich unterschiedliche »Handlungstypen« vom »traditionalen« bis hin zum »zweckrationalen Handeln« identifizieren lassen, müsse die Handlungstheorie dementsprechend differenziert werden – eine These, die nicht nur von Pareto und Weber formuliert wurde, sondern auch für spätere Autoren wie Parsons oder Habermas kennzeichnend ist. Ungeachtet der sich hier andeutenden Differenzen zwischen jenen Autoren, die Handeln mit einem »Einheitsmodell« zu erfassen versuchen, und jenen, die genau dies bestreiten und die Vielfalt von Handlungsmodellen betonen, bleibt freilich drittens festzuhalten, dass soziologische Handlungstheorien nicht danach streben, einen »idealen Menschen« im normativen oder ästhetischen Sinne zu konstruieren, sondern »reale« Menschen zu beschreiben suchen. Sie sind analytisch orientiert und zielen darauf ab, eine realistische Analyse der Probleme, der Grundlagen und der Funktionsweisen von Gruppen, Handlungszusammenhängen und Gesellschaften zu gewinnen. Wie komplex Handlungsbeschreibungen anzulegen sind, hängt dann von der zugrunde liegenden Erkenntnistheorie und vom betrachteten Gegenstand ab. In der Soziologie finden sich heute sowohl Ansätze, die eine allgemeine Handlungstheorie für verschiedene Probleme und Handlungsfelder zugrunde legen und dazu ein allgemeines Handlungsprinzip, wie das des zweckrationalen oder gewohnheitsmäßigen Handelns, unterstellen. Dem stehen Theorien mittlerer Reichweite gegenüber, die empirische Handlungsbeschreibungen oder -typen einsetzen, das heißt, die Handlungsbeschreibung auf Anwendungsbereiche beziehen. In beiden Fällen wird die Handlungsbeschreibung allerdings »erfahrungsbezogen« formuliert. Wie und welche Aspekte des menschlichen Handelns weitergehend hervorgehoben und welche vernachlässigt werden, hängt von den jeweiligen erkenntnistheoretischen Positionen und Forschungsfragen ab. In den verschiedenen Paradigmen und Ansätzen finden sich dazu meist grundsätzliche Überlegungen zur Frage, ob und wie die Handlungsbeschreibungen komplexer oder einfacher angelegt werden könnten und welche Handlungsaspekte denn betont werden sollten.
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Wir haben viertens argumentiert, dass auf Basis der vorgestellten Handlungsbeschreibungen, -modelle und -theorien einerseits soziale Sachverhalte wie Sinnstrukturen, Deutungsmuster, Vertrauen, Organisationen, Hierarchien, soziale Ungleichheit, Revolutionen, Kultur und so weiter als Resultate individuellen Handelns begriffen werden können. Andererseits werden aber auch soziale Strukturen in ihrer Wirkung auf die Handelnden erschlossen, indem sie entweder als ermöglichender beziehungsweise beschränkender gesellschaftlicher Rahmen (Giddens, Bourdieu, Habermas), als zu erschließender Interaktionsrahmen (Goffman, Garfinkel), als objektive Sinnstrukturen (Schütz, Blumer, Luckmann) oder als Gelegenheitsstrukturen (Olson, Coleman, Hirschman, Hedström) dargestellt und in ihren handlungsleitenden Wirkungen erschlossen werden. Fünftens und letztens können wir die von uns vorgestellten Handlungsbeschreibungen, -modelle und -theorien nunmehr im Hinblick auf die jeweils zugrunde liegenden »Rationalitätsannahmen« vergleichen und systematischer zueinander stellen, als dies bislang der Fall war. Wir können dies abschließend leisten, indem wir die rekonstruierten Rationalitätsbeschreibungen auf der Ebene des individuellen Handelns und der daraus folgenden Rationalitätsthesen auf der Ebene sozialer Institutionen, Strukturen oder Prozesse einander vergleichend gegenüberstellen. Die Arbeiten von David Hume und Adam Smith sind erste Versuche, »realistische« Beschreibungen des Handelns auszuarbeiten, die allerdings auch spezifische Rationalitätsunterstellungen für das menschliche Handeln beinhalten. Hume beschreibt das menschliche Handeln als durch das Streben nach Glück motiviert und durch eng begrenzte intellektuelle Fähigkeiten gerahmt. Für Smith ist die Notwendigkeit des Menschen, sich selbst zu versorgen und zu erhalten, wesentliche Handlungsgrundlage. Beide treffen sich in der Annahme, dass die prinzipiell selbstbezüglichen Menschen in der Lage sind, die Handlungsgrundlagen und Ziele rational, nämlich durch das Abwägen von Vor- und Nachteilen, zu realisieren. Vilfredo Pareto und Max Weber haben die individualistische Methodologie in die Soziologie eingeführt. Beide gehen von der Annahme aus, dass der Mensch zwar grundsätzlich rational handeln könne, dass aber nicht alles menschliche Handeln rational sei. Letztlich betonen beide, dass sich das alltägliche Handeln mit einem Modell »rationalen Entscheidungshandelns« nur begrenzt erfassen lasse. Pareto hat den Anteil des
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rationalen Handelns als relativ gering angesehen, aber ausgehend von der Differenz zwischen rationalem und nicht-rationalem Handeln zwei gesellschaftliche Sphären und zwei wissenschaftliche Disziplinen unterschieden. Das rationale Handeln sei demnach kennzeichnend für den Bereich der Wirtschaft und entsprechend Gegenstand der ökonomischen Theorie, das nicht-rationale Handeln für den gesellschaftlichen Bereich und somit Bezugspunkt der Soziologie. Weber wiederum hat den für die Soziologie fruchtbaren Hinweis gegeben, dass erst das sinnhafte Handeln der Menschen ein deutendes Nachvollziehen und Erklären möglich mache und dass das zweckrationale Handeln auf Grundlage von vorliegendem Erfahrungswissen objektiv erklärt werden könne. Entsprechend hat Weber seine Handlungstypologie entlang verschiedener Stufen der Versteh- und Nachvollziehbarkeit angelegt, wobei das zweckrationale Handeln ein Höchstmaß an Nachvollziehbarkeit oder Evidenz aufweise und daher die soziologische Erklärungsarbeit entsprechend mit der Rekonstruktion des zweckrationalen Handelns in bestimmten Situationen beginnen solle. Für eine sozial- und gesellschaftstheoretische Perspektive nutzt Weber das »Rationalitätsargument«, um zu fragen, welche Institutionen den Menschen dabei helfen, individuelles und soziales Handeln »rationaler« – im Sinne von verstehbar, erwartbar und planbar – zu machen. Nach Weber sind dies vor allem legale Herrschaftsverbände, Massengütermärkte, die Kapitalrechnung in Geld und auch die Ideen des Protestantismus. Im Anschluss an Weber hat Talcott Parsons das menschliche Handeln als einen intentionalen Prozess beschrieben, der in seinen Augen meist bewusst und rational erfolgt. Dabei geht Parsons – ähnlich wie Weber und anders als Hume oder Smith – davon aus, dass es nicht ein Handlungsmodell gibt, sondern unterschiedliche Rationalitäts- und Nutzenmuster: So unterscheidet er die kurzfristige materielle Nutzenmaximierung, wie sie für Unternehmer charakteristisch ist, von der Orientierung an der »Wahrheit«, wie sie für Wissenschaftler kennzeichnend ist, und von der Orientierung an moralischen Wertmustern. Das eigentlich Neue bei Parsons ist die Annahme, dass menschliches Handeln nicht (allein) über individuelle Absichten, sondern (vor allem) über Erfordernisse der Handlungssituation erklärt werden sollte. In seinem bekannten AGIL-Schema benennt Parsons vier Grundvoraussetzungen des menschlichen Handlungsakts: biologische Fähigkeiten, Entscheidung zwischen Handlungsmöglichkeiten, egoistische und Systemziele sowie kulturelle Werte und Normen. Mithilfe dieses Kategoriensystems will Parsons die Vielfalt des
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individuellen Handelns systematisieren und den Bezug auf die jeweiligen Grundfunktionen für das System aufzeigen. Das Problem sozialer Ordnungsbildung ist für Parsons daher nicht das Problem autonomer Akteure, sondern es ist durch die Einbindung in soziale Werte und Normen immer schon entschärft. Landsmann und wichtigster zeitgenössischer Gegenpart Parsons’ war George C. Homans. Dieser hat nach dem Zweiten Weltkrieg die »elementaren« sozialen Prozesse in kleinen Gruppen untersucht. Die Akteure hat er dazu als ertragsmotiviert und lernfähig beschrieben. Damit widerspricht Homans der von Pareto formulierten Überlegung, für die einzelnen Disziplinen beziehungsweise für die Erklärung verschiedener Handlungsfelder unterschiedliche Handlungsmodelle ausarbeiten zu müssen. Allerdings hat er sich dabei auf eine Form der Handlungstheorie konzentriert, die in doppelter Hinsicht als »unvollständig« gelten muss. Zum einen kann er nur schwerlich die Fälle berücksichtigen, in denen sich die Akteure an nicht-individuellen Zielsetzungen orientieren, und zum anderen muss er im Rahmen seiner mikrostrukturellen Analyse interaktiv geordneter Beziehungsverhältnisse darauf verzichten, makrotheoretische Thesen darüber zu formulieren, wie sich Gesellschaften entwickeln und verändern und wie die damit verbundenen »globalen« Prozesse theoretisch zu bewerten sind. Mancur Olson, James S. Coleman, Albert O. Hirschman und Peter Hedström, die sich ausdrücklich in der Tradition der Schottischen Moralphilosophie sehen und mit Adam Smith und David Hume die sozialen Institutionen erklären wollen, auf denen menschliches Zusammenleben auf baut, verwenden grundsätzlich eine Theorie des individuellen Entscheidens. Das Ziel sind demnach Erklärungen sozialer Sachverhalte, die individuelles Handeln und soziale Strukturen verbinden und so auch ungeplante und ungewollte Effekte eines absichtsgeleiteten Handelns erfassen. Wir haben zwei Wege der Weiterentwicklung entdeckt und festgehalten: Zum einen verwenden Theoretiker wie Coleman und Olson eine einfache Ausarbeitung der Theorie rationaler Wahl – vor allem die eines zweckrational orientierten Handelns und begrenzter individueller Informationsverarbeitungsfähigkeiten – in Kombination mit soziologisch gehaltvollen Beschreibungen sozialer Situationen, um starke Thesen über die daraus folgenden sozialen Effekte und Institutionen aufzustellen. Dahingegen arbeiten Hedström oder Hirschman mit komplexeren Handlungsmodellen, in denen realistischerweise die soziale Definition
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und Veränderbarkeit von Zwecken und darüber eigene soziale Dynamiken erfasst werden können. Das verbindende Anliegen ist und bleibt wie schon bei Smith und Weber die Erklärung und vergleichende Analyse der sozialen Institutionen und Mechanismen, welche es den Menschen angesichts realer sozialer Verhältnisse erlauben, ihr Zusammenleben sicher und vorteilhaft zu gestalten. Andere Akzente setzen George Herbert Mead, Alfred Schütz, Herbert Blumer sowie Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Ihnen geht es nicht um die Beschreibung individuellen Entscheidungsverhaltens im Kontext sozialer Bedingungen, sondern um die Rekonstruktion der Sinnwelten der Handelnden. Letztlich fragen sie damit nach etwas, was in den Konzeptionen der »individualistischen« Theoretiker von Homans bis Hedström stillschweigend vorausgesetzt wird: dass die Individuen ihre Entscheidungen »sinnhaft« treffen und dass sie in einer »Sinnwelt« agieren, die nur verstehend entschlüsselt werden kann. Ihnen geht es dementsprechend um die Frage, was Sinnwelten sind, wie diese strukturiert sind und was sie für das konkrete Entscheidungsverhalten bedeuten. Denn die für Letzteres oftmals unterstellte Zweckrationalität ist selektiv, und die tatsächliche Struktur von Handlungsprozessen lässt sich nur dechiffrieren, wenn die Prozesse der Konstruktion und Veränderung von »Bedeutungen« verstanden werden. Vor diesem Hintergrund eröffnen Autoren wie Harold Garfinkel und Erving Goffman weiterführende Perspektiven: Sie begreifen Handeln als Inszenierung. Handelnde, so ihre Unterstellung, sind nicht unbedingt auf ihren konkreten Vorteil aus, sondern daran interessiert, sich optimal darzustellen. Dies ist ein Aspekt, der in modernen Gesellschaften ohne Frage an Bedeutung gewinnt. Handlungstheorie, so die Schlussfolgerung von Garfinkel und Goffman, kann nicht mehr länger rein entscheidungstheoretisch gedacht, sondern muss mindestens ebenso sehr inszenierungstheoretisch begriffen werden. Im Unterschied zu den dargestellten Theorieangeboten, die aus Sicht des Menschen und dessen Absichten und Fähigkeiten, die in einem Entscheidungshandeln realisiert werden, die Konstitution und Gestaltung der sozialen Welt erfassen, finden sich in der Soziologie auch Erklärungsversuche, die eine »starke Strukturannahme« mit »schwachen Handlungsmodellen« verbinden. Es wird eine starke Wirkung sozialer Strukturen »über« die Köpfe und Hände der Menschen hinweg unterstellt. So werden die Defizite reiner Strukturtheorien vermieden; stattdessen wird versucht, eine Verbindung von Struktur- und
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Handlungsannahmen anzulegen. Allerdings wird der Handlungsfähigkeit und vor allem der Entscheidungsautonomie der Akteure ein enger Rahmen gesetzt und die gesellschaftliche Prägung des Handelns betrachten. Die Arbeiten von Anthony Giddens, Pierre Bourdieu und Jürgen Habermas stehen gegenwärtig prominent für das Ziel, Akteursbeschreibungen und Gesellschaftskritik zu verbinden. Giddens betont in diesem Zusammenhang die wechselseitige Bedingung individuellen Handelns und stabiler sozialer Strukturen. Handeln wird als bewusste oder unbewusste Wirkmächtigkeit, als ein Eingreifen in den Fluss des Geschehens definiert, das durch Handlungsmotive und Intentionen ebenso bestimmt wird wie durch Erfahrungen und den unmittelbaren Handlungskontext. Die Handlungsmotive entsprechen praktischen Bedürfnissen und können sowohl bewusst als auch unbewusst das Handeln der Menschen leiten. Rationales Handeln meint, dass die Menschen sich und anderen eine Erklärung für ihr Tun angeben können. Da sich das Handeln in Routinen und Regelmäßigkeiten niederschlägt, verfestigen sich Strukturen und Wissen und bedingen so wiederum das Handeln. Die Theorie der Strukturierung beschreibt, wie sich das Alltagswissen oder die Alltagserfahrung der Menschen in ein erfahrungsgesättigtes Handeln umsetzt und Strukturen hervorbringt, die dann wieder Handeln generieren: eben die Dualität von Struktur und Handeln. Solcherart reproduzierte Strukturen sind Gegenstand soziologischer Analyse und Kritik. Ähnlich wie Giddens fundiert Bourdieu seine Sozialtheorie in einer Praxisphilosophie, welche annimmt, dass das menschliche Wissen und Handeln in praktischen Erfahrungen gründet. Bourdieu hat sich daher vehement gegen Handlungskonzepte ausgesprochen, die ein bewusstes Entscheiden annehmen, und stattdessen das Habituskonzept ausgearbeitet. Das zweckrationale Handeln wäre entsprechend eine besondere Habitusform. Im Normalfall wird menschliches Handeln als automatisches Umsetzen gesellschaftlich vermittelter und von den Einzelnen verinnerlichter Erfahrungen beschrieben. Weiterhin wird angenommen, dass die Menschen in verschiedenen sozialen Feldern um knappe Ressourcen und Positionen konkurrieren, wobei sich ihr jeweiliger Habitus als mehr oder weniger vorteilhaft erweist. Die Frage, welche Kapitalverteilungen sich in sozialen Feldern ergeben und in welchem Maße diese Verteilungen Ungleichheit und Herrschaft konstituieren, steht im Mittelpunkt der gesellschaftskritischen Sichtweise Bourdieus. Eine andere gesellschaftstheoretisch akzentuierte
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Perspektive entwickelt Habermas in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns«. Ihm geht es weniger um das Verhältnis von Handlung und Struktur, sondern um die unterschiedlichen Typen sozialen Handelns. Er hat die hier behandelten Autoren drei Traditionslinien zugeordnet: auf der einen Seite Homans bis Coleman zu denjenigen, welche Handeln als »instrumentell«, das heißt als erfolgsorientiert-zweckrational in einer objektiven Welt begreifen. Daneben stehen die Theoretiker eines normengeleiteten Handelns von Durkheim bis Parsons. Und als dritte Richtung nennt Habermas die inszenierungstheoretischen Ansätze von Goffman bis Garfinkel, die Handeln expressiv-dramaturgisch beschreiben. Völlig ausgeblendet in der soziologischen Handlungstheorie, so Habermas, bleibe das kommunikative Handeln. Dieses werde immer dann wichtig, wenn strategisches und normengeleitetes Handeln nicht mehr richtig funktionieren und sich die Gesellschaftsmitglieder im politischen Diskurs über das Verhältnis von objektiver, subjektiver und sozialer Welt verständigen müssen und damit darüber, welche gesellschaftlichen Zielsetzungen sie verfolgen oder verwerfen wollen. Zur Beschreibung des funktionierenden Alltags, so Habermas, sind die Verfechter der genannten drei Richtungen mit ihren jeweiligen Akzentsetzungen durchaus zureichend. Aber die unter gesellschaftskritischer Perspektive wichtige Situation einer Verständigung über gesellschaftliche Zielsetzungen könnten sie nicht erfassen – und hier bedarf es einer Theorie des kommunikativen Handelns und der Diskursrationalität. Auf unserer Entdeckungsreise durch die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Handlungsmodelle und -theorien sind wir darauf gestoßen, dass sich diese vor allem durch die verwendeten Annahmen zur Konkretisierung der Absichten und Fähigkeiten der Handelnden unterscheiden und sich als Variationen durchaus zueinander in Beziehung setzen lassen. Indem wir die je spezifischen inhaltlichen Annahmen über die Motive und die Fähigkeiten der Menschen herausgearbeitet und dabei insbesondere die »Rationalannahme« rekonstruiert haben, konnten wir erkennen, dass in den einzelnen Ansätzen jeweils ein Ausschnitt der komplexen sozialen Welt hervorgehoben wird. Dies wird dann soziologisch gewendet, indem die Orientierungs-, Interaktions-, Interpretations- oder Abstimmungsfragen der Akteure im sozialen Zusammenleben erkannt und die dafür möglichen sozialen Lösungen diskutiert werden. Dass die einzelnen Theorieprogramme durch das Hervorheben spezifischer Aspekte des Handelns spezifische Lösungen in den Mittelpunkt stellen (Moral,
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Normen, Gruppen, Herrschaft und so weiter), sollte also nicht davon ablenken, dass auch andere Aspekte und Gestaltungsformen der sozialen Welt wichtig sein können, die in anderen Programmen bearbeitet werden. Gleichwohl lassen sich abschließend auch Ansätze einer spezifischen »Lerngeschichte« der soziologischen Handlungstheorie feststellen. Diese basiert zunächst auf vergleichsweise einfachen Vorstellungen von Handeln als einem Prozess, in dem Menschen Ziele haben, reflektieren und absichtsvoll verfolgen. Die soziologische Handlungstheorie im engeren Sinne beginnt mit der Feststellung, dass das menschliche Handeln als sinnhaft beziehungsweise absichtsgeleitet zu beschreiben ist, dass dies aber keineswegs immer zweckrational sein muss, sondern dass es verschiedene »Rationalitätsgrade gibt. Ein wichtiger Aspekt bei der Ausarbeitung von Handlungsmodellen und Menschenbildern war daher die Frage, welche Absichten in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken sind. Einen bis heute unabgeschlossenen Diskussionsstrang bildet auch die Frage nach dem Auf bau und der Dechiffrierung von Sinnstrukturen als Basis und Bezugspunkt individueller Handlungsmotive und -entscheidungen. Und schließlich wird bis heute an einem dritten Problemkreis gearbeitet, nämlich an dem Verhältnis von individuellen Handlungsentscheidungen und sozialen Prägungen. Stand ursprünglich der einzelne Handelnde mit seinen subjektiven Sinnkonstruktionen und Entscheidungen im Zentrum, so konzentrieren sich die Analysen in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf das Verhältnis von Handlung und Struktur und versuchen, soziale Kontextvariablen und gesellschaftliche sowie kulturelle Einbettungen genauer zu erfassen. Auch dieser Diskussionsstrang ist unabgeschlossen, und es ist bislang kaum damit zu rechnen, dass sich in absehbarer Zeit eine übergreifende »Einheitstheorie« entwickeln wird. Aber es zeichnen sich in den verschiedenen Ansätzen und Theorien produktive Erweiterungen ab, die sich als aufeinander beziehbar erweisen und vor allem eine perspektivische Ausdifferenzierung der soziologischen Handlungstheorie ermöglichen, die durchaus produktiv ist und für die zu hoffen bleibt, dass die verschiedenen Perspektiven und Ansätze miteinander im Gespräch bleiben.
Sozialtheorie Marc Amstutz, Andreas Fischer-Lescano (Hg.) Kritische Systemtheorie Zur Evolution einer normativen Theorie Juni 2013, 410 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2412-0
Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Oktober 2013, 376 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-1717-7
Daniel Innerarity Demokratie des Wissens Plädoyer für eine lernfähige Gesellschaft (übersetzt aus dem Spanischen von Volker Rühle) September 2013, 264 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2291-1
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Sozialtheorie Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I Februar 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2469-4
Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2
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Leon Hempel, Marie Bartels, Thomas Markwart (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart Mai 2013, 454 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6
Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft Januar 2013, 466 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6
Martin Petzke Weltbekehrungen Zur Konstruktion globaler Religion im pfingstlichevangelikalen Christentum Mai 2013, 530 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2241-6
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