134 64 19MB
German Pages [264] Year 2003
$
Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt und Jürgen Ziemer
Band 41
Vandenhoeck & Ruprecht
Grundmuster der Seele Pastoralpsychologische Perspektiven
Von Klaus Winkler
Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Elisabeth Hölscher und Michael Klessmann
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar ISBN 3-525-62376-3
© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. www.vandenhoeck-ruprecht.de Printed in Germany. – Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Inhalt Vorwort der Herausgeber ...............................................................................
7
1. THEOLOGISCHE REFLEXIONEN
Pastoralpsychologische Aspekte der Rede von Gott .................................
13
»Heile mich, denn ich habe gesündigt«. Theologische Überlegungen ...........................................................................
28
Die dunklen Seiten Gottes überschlagen? Zum Umgang mit schwierigen Bibeltexten aus tiefenpsychologischer Sicht ............................................................................
39
Das Problem »Hoffnung« zwischen Wunschdenken und exakter Phantasie ..............................................................................................
52
II. PSYCHOANALYTISCHE EINSICH1EN Ich- und Überich-Problematik im Umgang mit Normen .........................
65
Schuld und Schuldgefühl. Die Möglichkeit von Daseinsverfehlung .......
80
Ambivalenz als Grundmuster der Seele .......................................................
95
Der Ödipuskomplex - Ein Konstrukt zwischen Ideologie und Wirklichkeit ................................................................................................. 101
III. REUGIONSKRITISCHE PERSPEKTIVEN Was hat die Theologie von Freud gelernt? ................................................... 117 Anmerkungen zur neueren psychoanalytischen Religionspsychologie .... 130 Ist es vernünftig, psychoanalytisch von Gott zu reden? ............................. 143 5
»Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben ... «. Exakte Phantasien bezüglich einer zukünftigen Religionskritik ................ 153
IV. ÜBERLEGUNGEN ZUR SEELSORGE Symbolgebrauch zwischen Partizipation und Regression. CG. Jung und die Folgen für die Seelsorge ................................................. 169 Zum Umgang mit Normen in der Seelsorge ................................................ 186 Trost und Vertröstung in der Begleitung Sterbender .................................. 200
V. Aus GEGEBENEM ANLASS Umgang mit Fremden. Pastoralpsychologische Reflexionen .............................................................. 215 Vom Glauben wider die Toleranz. Der Fundamentalismus - pastoralpsychologisch gesehen ......................... 225 »Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein« - und doch ist Krieg. Psychologische Grundlagen und Probleme für die Neuorientierung von Friedensethik und Friedenspolitik .......................................................... 242
Verzeichnis der Veröffentlichungen von Klaus Winkler ............................ 255
6
Vorwort der Herausgeber I.
Klaus Winkler (1934-2000) gehört zu den Mitbegründern der deutschsprachigen Pastoralpsychologie. Er promovierte 1960 an der Humboldt-Universität bei Otto Haendler über das Thema »Dogmatische Aussagen in der neueren Theologie im Verhältnis zu den Grundbegriffen der Komplexen Psychologie eG. Jungs.« Gleichzeitig unterzog er sich einer Freud'schen psychoanalytischen Ausbildung und arbeitete sowohl als Gemeindepfarrer wie als Psychoanalytiker und Lehranalytiker. Er war Gründungsmitglied und erster Vorsitzender (von 1972-1978) der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) und von 1980 bis 1997 Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Seelsorge und Direktor des Seelsorgeinstituts an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Pastoralpsychologie ist für Klaus Winkler ein Mittel zur immer wieder notwendigen Aufklärung des Denkens und Glaubens; darin ist er konsequent ein Erbe Freuds. Seine Intention ist es, mit Hilfe des pastoralpsychologischen Denkansatzes die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens in Theorie und praktischem Vollzug zu erweisen; nur unter dieser Voraussetzung ist ein partnerschaftliches und wechselseitig kritisches Gespräch zwischen Theologie und den Humanwissenschaften möglich - und an diesem Gespräch lag ihm sehr. Die Vernünftigkeit des Glaubens zu erweisen bedeutet für Winkler unter pastoralpsychologischem Vorzeichen, von der Psychologie her kritische Fragen an die Theologie zu stellen: - Glaube muss als Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung begriffen werden. Er entfaltet sich aus der Biographie heraus und bedarf derselben Fortentwicklung und Ausdifferenzierung im Verlauf des Lebens wie die Persönlichkeit. Immer weitergehende Differenzierung des Erlebens, Denkens und Fühlens ist das Ziel für beide Prozesse. Sie münden in ein »persönlichkeits spezifisches Credo«, in dem sich Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung unverwechselbar durchdringen. - Aus pastoralpsychologischer Perspektive ist es aufschlussreich, die Funktionen des Glaubens für die Lebensbewältigung wahrzunehmen und zu analysieren. Ein kritischer Zugriff auf Glaubensaussagen und Glaubenshaltungen wird möglich, z.B.: - Glaube kann der Angstabwehr dienen, im guten und konstruktiven Sinn, indem er sich die Endlichkeit und Geschäpflichkeit des Lebens vor 7
Augen führt, im schlechten, regressiven Sinn, indem er Trost und Vertröstung verwechselt. - Glaube ist an der von M. Balint eingeführten Unterscheidung von maligner und benigner Regression zu messen: Maligne Regression hält Menschen unmündig, wehrt Differenzierung und das Wahrnehmen von Ambivalenzen auch im Glauben ab. - Glaube ist eine Möglichkeit, den Narzissmus des Menschen auf Gott zu beziehen, Größenvorstellungen zu externalisieren und damit nicht an den eigenen Allmachtsphantasien größenwahnsinnig zu werden. - Ambivalenzen in der Glaubens- und Lebenserfahrung sind wahrzunehmen, offen zu halten und nicht mit Scheinlösungen zu überdecken. Das gilt für den Glauben der Einzelnen, es gilt für Predigt und Unterricht der Kirche, es gilt auch für den Dialog zwischen Theologie und Psychologie. Im Unterschied zu anderen Pastoralpsychologen plädiert Winkler entschieden nicht für eine Integration beider wissenschaftlicher Zugänge, sondern benennt die Fragen, die gegenwärtig offen sind und voraussichtlich bleiben werden (z.B. die Frage nach der Bedeutung und Funktion von Transzendenz). Die Spannung in beiden Zugängen gilt es auszuhalten, um sie für ein kritisches Verstehen beider Seiten nutzen zu können. Winkler stellt aber nicht nur die Theologie von der Psychologie her in Frage, er formuliert immer wieder auch kritische Anfragen an die Psychologie von der Position seiner Theologie her: Er betont die Bedeutung der Annahme eines »extra nos« als Psychologiekritisches Element. In der Auseinandersetzung mit CG. Jung kritisiert er dessen Reduktion des Transzendenzbegriffs auf eine Bewusstseinstranszendenz. - Winkler kritisiert aus theologischer Sicht Ganzheitsvorstellungen, wie sie in der humanistischen Psychologie oder in der Esoterik vertreten werden. Sie führen zu regressiven, entdifferenzierenden oder totalitären Vorstellungen und Haltungen. - Winkler kritisiert ebenfalls die psychoanalytische Religionskritik, wenn sie sich als eine Kritik des »nichts als ... « (z.B.: Religion ist nichts als infantile Wunscherfüllung) gebärdet. Der Atheismus, der so argumentiert, ist naiv, weil er die Komplexität des Menschen unterschätzt. In seinem pastoralpsychologischen Vorgehen ist Winkler ein Vermittlungstheologe im besten Sinn. Er war letztlich zuversichtlich, dass es auf der Basis eines solchen vernünftigen und abgewogenen Vorgehens möglich sein müsste, im Streit um die Wirklichkeit doch miteinander im Gespräch zu bleiben.
8
II. Bei der Auswahl der hier abgedruckten Aufsätze haben uns mehrere Gesichtspunkte geleitet: Wir wollten Aufsätze von Klaus Winkler veröffentlichen, die für seinen pastoralpsychologischen Blickwinkel charakteristisch sind und einen Eindruck von der Breite seiner fachlichen Interessen vermitteln (gelegentliche Überschneidungen ließen sich dabei nicht vermeiden). Arbeiten, die in nicht leicht zugänglichen Sammelbänden abgedruckt bzw. noch unveröffentlicht waren, sollten bevorzugt berucksichtig werden; Seelsorgethemen sollten angesichts des großen Seelsorgelehrbuchs von 1997 (22001) eher zurücktreten; rein psychoanalytische Fachbeiträge haben wir nicht aufgenommen. Frau Elsbeth Winkler-Vink hat uns unveröffentlichte Aufsätze von Klaus Winkler und biographische Materialien zur Verfügung gestellt, ihr gilt unser besonderer Dank. Für großzügige Druckkostenzuschüsse danken wir der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP), der Kirchlichen Hochschule Bethel, den von Bodelschwingschen Anstalten Bethel und der Evangelischen Kirche von Westfalen. Frau Dorothee Schönau und Frau Christine Kregeloh haben das druckfertige Manuskript erstellt; ihnen und Frau Dr. Reinhilde Ruprecht vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, die bereit war, diesen Band in ihr Verlagsprogramm aufzunehmen, sei herzlich gedankt. Die Veröffentlichung dieses Bandes ist vor allem Ausdruck unseres Dankes an Klaus Winkler, mit dem wir als Kollege und Freund über viele Jahre zusammengearbeitet haben und der uns durch sein psychoanalytisches und theologisches Wissen, seine Kollegialität und seinen Humor unschätzbar und unvergesslich bereichert hat. Bochum/Wuppertal im Juni 2003
Elisabeth Hölscher und Michael Klessmann
9
I
THEOLOGISCHE REFLEXIONEN
Pastoralpsychologische Aspekte der Rede von Gott" A. Hiriführung: Zur Frage des methodischen Vorgehens und der speiffischen Aujgabenstellung
1. Derpastoralp.rychologische Ansatz im Kontext der praktischen Theologie als einer Handlungswissenschcift Der Praktische Theologe von heute hat in der Regel ein spezifisches Anliegen. Er möchte sein Fach nicht mehr im Sinne einer bloßen Anwendungswissenschaft, sondern als moderne Handlungswissenschaft vertreten. Das fordert ihn zunächst zu einer definitorischen Bestimmung heraus. H. S chriier definiert Handlungswissenschaft so: »Nicht nur das Sein der Dinge, sondern das Handeln der Menschen wird wissenschaftlich thematisiert, so dass Gesetzmäßigkeiten festgestellt und Voraussagen ermöglicht werden.«l Schon bei diesem Autor wird sehr deutlich, dass sich solches Handeln nur innerhalb eines abgegrenzten Handlungifeldes re flektierbar darstellt. Für den Praktologen ist deshalb Kirche »ureigenster Gegenstand seiner Wissenschaft«. Die »Kirchenreform« stellt sich seinem kritischen Ansatz nicht nur als analytische, sondern als projektive Aufgabe dar. 2 Die Beschäftigung mit der Kirche als einer »ecclesia semper reformanda« impliziert dabei stets auch empirische Bezüge. Das hat Konsequenzen für den methodischen Bereich! »Die Weiterentwicklung der Praktischen Theologie zur Handlungswissenschaft hängt vor allem daran, dass es gelingt, für sie eine überzeugende Methodologie zu entwickeln«, schreibt K-F. Daiber in seinem »Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft«.3 Und er stellt weiter fest: »Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den nichttheologischen Handlungswissenschaften ist durch die Komplexität der Handlungssituationen selbst bedingt.Übergängen< «, 149ff. 10 VgL R.D. Hinshelwood, Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse, Stuttgart 1993,254. 11 R.D. Hinshelwood, Wörterbuch, 251. 12 1Mose 3,21-24.
42
lungsmöglichkeit seines möglichen Rivalen. - Psychologisch gesehen wird auf diese Weise vor allem die Angst der Generationen voreinander kanalisiert. In der Folge der Überlegungen Meerweins geht es in dieser biblischen Geschichte um eine intrapsychische Auseinandersetzung. Soll die Realitätsanpassung und Weiterentwicklung gelingen, muss es zu einer schmerzlichen Trennung des menschlichen Individuums von allen Gifühlen der Gottähnlichkeit kommen. Das »Sein-wie Gott« geriete sonst zur lebensbegleitenden Obsession. Der dementsprechende Zustand muss angesichts der Gefahr immer neuer Einbrüchen resp. Durchbrüche mit »hauender« Energie abgewehrt werden. - Psychologisch gesehen wird auf diese Weise vor allem eine Individualisierung ermöglicht. Nach der Konzeption D. W. Winnicotts geht es in der biblischen Erzählung zunächst um die Erfahrung, dass jeder nahe Kontakt und jedes beruhigende Zusammensein mit einem versorgenden Gegenüber Grenzen hat. Das gilt nicht nur, aber eben auch für die Beziehung zwischen Gott und Mensch. In der Folge muss ein »zeitweises« Loslassen eingeübt und vollzogen werden. Menschen, die ununterbrochen mit Gottvater zusammen das Paradies genießen wollten, blieben naive, unaufgeklärte Kinder. Der erwachsene Mensch braucht und gestaltet seine eigene, abgegrenzte, dadurch harte Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit ist Gott abwesend, ist ein »deus absconditus«. Er hat den Menschenkindern seine Nähe entzogen. Aus der irdischen Ferne heraus kann der Mensch ihm nicht mehr direkt begegnen, ohne sich Illusionen hinzugeben. - Aber diese »Vertreibung aus dem Paradies« durch einen anscheinend kompromisslosen Gott hat eine besondere Folgegeschichte! In deren Rahmen gelten diese möglichen menschlichen Illusionen nicht einfach als gegenstandslos oder unwahr. Beruhen sie doch auf den vergangenen Erfahrungen mit der paradiesischen Gottesnähe. Und: Sie schlagen sich unter den veränderten Umständen, d.h. nach der scharfen Trennung in Himmel und Erde, als gegenständliche Gottesbilder in einem »Zwischenraum« (potential space) nieder. Es ist ein Raum nicht des Wissens oder der direkten Begegnung, wohl aber des Glaubens und Hr1ftns. Innerhalb dieses »Zwischenraumes« haben diese »Gottesbildet« als »Übergangsobjekte« eine Brückenfunktion: Sie überbrücken nämlich die Zeit bis hin zur iftküriftigen Anwesenheit Gottes. Als verheißener Zustand nach aller irdischmenschlichen Realitätsbewältigung wird diese im Glauben erhofft. - Psychologisch gesehen wird auf diese Weise trotz aller Verlassenheitsängste in der Folge von Ausgrenzungsvorgängen BeiJehung über Trennungen hinweg erhalten und Trost freigesetzt. Unter dem Vorzeichen der kleinianischen Psychoanalyse entspricht die Szene einem besonderen Umgang mit dem unausweichlichen Neidkomplex und dessen Aufhebung im Gefühl der Dankbarkeit. Der Gott des Paradieses kommt dem Menschen mit dessen rivalisierenden Absichten und seinen aus Neid geborenen Handlungen schlicht und einfach zuvor. Mit seiner Gewalttat etabliert sich Gott als der einzig Ewige, den kein menschlicher Neid tref43
fen und als »gutes Objekt« zerstören kann. In der Folge dieser Maßnahme können die »Kinder Gottes« bleibend froh und dankbar sein. Nicht nur, dass der Herrgott sie gekleidet hätte! Er hat auch sich selbst vor all ihrem Neid auf seine Ewigkeit und der damit verbundenen elementaren Zerstörungswut bewahrt. Es gibt ihn weiterhin! Zwar sind die Menschenkinder in für sie zunächst unverständlicher Weise hart und »abweisend« behandelt worden, aber »im Grunde« hat Gott mit seiner Selbstbewahrung auch den Menschen bewahrt. - Psychologisch gesehen wird auf diese Weise das grundsätzliche Junktim i}Vischen (Über-)Leben und Dankbarkeit plausibel gemacht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Anhand des biblischen Textes von der Vertreibung aus dem Paradies sollte unter religionspJ)lchologischen Vorzeichen eine Funktionsbeschreibung der Religion erfolgen. Religion spiegelt danach die mögliche Kanalisation der Angst der Menschen voreinander, den Prozess der Individualisierung, die Notwendigkeit, über Trennungen hinweg Beziehungen durchzuhalten und Trost freizusetzen sowie ein postuliertes Junktim zwischen Leben und Dankbarkeitsgefühl wider. Auffalligerweise wird dabei der Gedanke an die offensichtlichen »dunklen Seiten« Gottes durchgehend funktional behandelt und damit relativiert. Das hängt mit der Grundannahme »Der Mensch hat Gott geschaffen« eng zusammen. Weil die Entstehung des Gottesbildes aus der jeweiligen Lebensgeschichte und deren Grundmustern angenommen wird, gelten alle dunklen, traumatischen, unverständlichen Erlebnisse einerseits als ganz natürlich. Sie gelten anderseits als Herausforderung, alle dunklen, traumatisierenden Erlebnisse so weitgehend wie möglich zu bewältigen und in erwachsenes Ambivalenzerleben zu überführen. Wer in der ständigen Frage nach dem »Warum« seines Schicksals stecken bleibt, gilt fortan als lebensuntüchtig. Er hadert mit seinen Kindheitsträumen. Er ist an diese hemmend fixiert und muss gegebenenfalls therapiert werden. Dabei ist im Rahmen einer solchen Therapie Religiosität nicht mehr nur störend, sondern neuerdings sogar durchaus erwünscht! Religiöses Verhalten kann auch psychoanalytisch als Ausdruck einer basalen Vertrauensstruktur13 verstanden sein. Dann darf Religiosität allerdings nicht mehr nur als infantilisierendes, regressives Phänomen interpretiert bleiben. Vielmehr wird angenommen, dass sie als ein Verhaltenssegment unter anderen an den wachsenden Ausdifferenzierungen im Erlebensbereich vom I>unmöglichsten« Stellen durch. - Mit S. Freud lässt sich hier religions kritisch daran denken, dass der Glaube eine Art »gebrochener Infantilisierung« zur Folge haben kann. Dabei ist das frühkindlich unbefangene Erleben von wechselnden »guten« und »bösen Lebenslagen und deren unbegreiflichen Ursachen verloren gegangen. Geblieben ist aber die kindhafte Angst vor sofortigem Beziehungsverlust bei jeder kritischen Anwandlung gegenüber einer Elternfigur resp. Autorität. Gegen die dunklen Seiten Gottes kann sich ein Mensch dann nur in Form einer quälenden Symptomatik wehren. 2) Wo herrscht in Reaktion auf diesen oder auf ähnliche Texte eine nari}sstische Identifii}emng mit Gott vor? Bei einer solchen Haltung ist davon auszugehen, dass ein Individuum lebenslang nicht von seinen zur Frühentwicklung gehörenden Größenvorstellungen lassen kann. In der Folge kann etwa ein Prediger von hoher Kanzel herab seiner Gemeinde die Stelle aus dem Matthäusevangelium in einer Art und Weise auslegen, die ihn selbst als Verwalter von Gericht und Gnade erscheinen lässt. Für viele ebenso fromme wie autoritätsgläubige Christen fällt dann seine Stimme und Botschaft direkt mit Gottes Stimme und Botschaft in eins. Allgemeingefahrlich kann diese Identifizierung vor allem dann werden, wenn der gottgleiche Narzisst nicht nur mit Wortgewalt zu predigen, sondern tatsächliche Gewalt auszuüben vermag. Nach den Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre wird A. Eichmann vom ihn verhörenden Polizeihauptmann A. Less gefragt. »Wann traten Sie aus der evangelischen Kirche aus?« A. Eichmann: »Das muss 1937 gewesen sein ... Doch das war ein Kapitel, wo ich mich nicht zwingen ließ ... Ich habe auch 1935 kirchlich geheiratet, trotzdem man mich davon abbringen wollte. Es wurde mir nicht verboten, aber man bespöttelte die Sache. Meine Frau hätte auch gar nicht anders geheiratet als wie kirchlich, denn sie stammte aus einer alten, stockkatholischen Bauernfamilie.« »Was war dann der Grund Ihres Austritts?« A. Eichmann: »Ich kam immer mehr zu der Erkenntnis, dass Gott unmöglich so klein gewesen ist, wie in den Sachen, die in der Bibel stehen. Da glaubte ich nun, meine eigene Sache gefunden zu haben. Ich las auch Schopenhauer, dass der Weg der Konfessionen zwar ein sicherer wäre und der freie Weg gefahrlicher wäre und ewig ein Weg wäre, wo man an sich selbst zu arbeiten hätte. Ich sagte mir: Der Gott, an den ich glaube, ist größer als der Christengott, denn ich glaube an einen gewaltigen, einen ganz großen Gott, der das Universum geschaffen hat und in Bewegung hält, von niemanden beeinflusst - meine Frau hielt mich dauernd zurück, aber ich erzählte dann zu Hause nichts mehr, wie ich dienstlich zu Hause überhaupt nichts erzählte meiner Frau - ging ich 1937 zum Gericht eines Tages und ließ mich ausschreiben.«22 22 Vgl. J. von Lang, Das Eichmannprotokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982, 39.
48
Bei näherem Hinsehen kann ein auf diese Weise gläubiger Mensch letztlich nicht mehr zwischen sich und Gott unterscheiden. Er identifiziert sich völlig ungebrochen und ohne jede Gewissensbelastung mit den dunklen Seiten Gottes und kann diese unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen (wie im Extremfall A. Eichmann) sogar in grauenhafter Weise ausagieren. - Mit F. Meerwein lässt sich hier religionskritisch daran denken, dass Gottesglaube in einen Glauben des Menschen an sich selbst umschlägt. Das geschieht, wenn es einem Individuum nicht gelingt, seine präödipalen Größenphantasien »mit der Zeit« zu externalisieren und einem Gott »extra nos« zuzusprechen. Die dunklen Seiten Gottes erscheinen dann »] enseits von Gut und Böse« angesiedelt und damit dem Problembewusstsein entzogen. 3) Wo herrscht in Reaktion auf diesen oder auf ähnliche Texte einengend fromme Ideologiebildung vor? Bei einer solchen Haltung liegt nahe, dass ein Mensch Schwierigkeiten hat, die volle Realität zu bewältigen. Er reduziert sie deshalb durch ideologische Verzerrung auf ein für ihn erträgliches Maß.23 Alle Ängste, die die Todes-, Weltuntergangs- und Gerichtsvorstellungen z.B. des genannten Matthäus-Textes auszulösen vermögen, müssen dann in ihr Gegenteil, in freudige Erleichterung überführt werden. Gerade das gilt dann als besondere Glaubensleistung. Da sich das Weltbild ausschließlich mit einem »guten Gott« verbindet, werden alle schrecklichen Ereignisse umgedeutet. Alle tiefere Betroffenheit bleibt ausgeblendet. So berichtet eine junge Frau ihrem Seelsorger bei einem Gespräch, in dem es um die Beerdigung ihrer verstorbenen Mutter geht, mit leuchtenden Augen: »Sie hat in den letzten Monaten unter ihrer Krankheit noch furchtbar gelitten. Aber sie hat es um ihres Heilandes willen gern getan. Ach, was bin ich dankbar, dass sie jetzt im Himmel fröhlich sein kann! Ist sie nicht zu beneiden, Herr Pfarrer?« Dieser nickt etwas verlegen, wagt es aber nicht, die Anschauung der Frau in Frage zu stellen. Weiß er doch nicht, wie viel realen Schmerz und wie viel Angst und Trauer seine Besucherin überhaupt auszuhalten vermag und aus welchen inneren (Entwicklungs-)Gründen sie sich in ein ebenso enges wie einseitiges Deutungsmuster gegenüber den realen Gegebenheiten flüchten muss. Die Flucht vor der Wirklichkeit ist noch allemal das Pendant eines unreflektierten Wunderglaubens gewesen. - Mit D. W Winnicott lässt sich religionskritisch daran denken, dass eine erwachsene und sichere Trennung von Illusion und Wirklichkeit in Zusammenhang mit solch frommer Ideologiebildung eher gefürchtet als angestrebt wird. Gottes dunkle Seiten dürfen keinen Wirklichkeitswert haben. Gäbe es sie nämlich »wirklich«, so wären Leben und Tod nicht mehr zu bewältigen. 23 Die Ideologiebildung im hier gemeinten Sinne wird treffend in einem Gedicht von C. Morgenstern beschrieben. Es heißt »die unmögliche Tatsache« und endet mit den Zeilen »... weil, so schloss er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«. (Vgl. C. Morgenstern, Sämtliche Werke, Zürich 21990,125.)
49
4) Wo herrscht in Reaktion auf diesen oder auf ähnliche Texte eine dankbare Schadenfreude vor? Bei einer solchen Haltung ist davon auszugehen, dass die Genugtuung angesichts eines fremden Schadens zu den elementaren Empfindungen kleinkindlicher Existenz gehört. Das ISinn< Lebensbewältigung ist. Und von der Antwort auf die Frage nach dem Sinn wird erwartet, dass sie das Dasein meistern helfe, auch wenn sie nichts Greifbares an die Hand gibt.«2o - Mit dem Stichwort »Lebens bewältigung« erscheint uns der hier angesagte Kontext vertreten: Kann doch Lebensbewältigung durchaus unter das Vorzeichen von »Wunschdenken« geraten, d.h. eine »Als-ObStruktur« entwickeln, weitgehend auf ein sog. »falsches Selbst« (D. W. Winnicott)21 gegründet sein. - Demgegenüber hat eine »sinnvolle« Lebensbewältigung (im Gegensatz zu aller bloß passiven Erwartungshaltung) etwas mit aktiver Verzichtverarbeitung und kreativer Gestaltung der vorhandenen Möglichkeiten zu tun. Die entsprechende Lebenseinstellung korreliert dann mit einem tragfahigen Kompetenzgefühl: Ich bin als Individuum imstande, aus meinem Leben etwas zu machen. Dieses Kompetenzgefühl wiederum ist die Grundlage eines identischen Daseinsentwurfes. Es gilt, das, was mir passiert und das, was durch mich passiert, in einen Zusammenhang einzuordnen, der als Ganzer Sinn macht. Der Ring schließt sich dort, wo sich sagen lässt: Je exakter meine Phantasie einen Daseinsentwurf in genannter Weise als Zielvorgabe begleitet und damit orientiert, desto deutlicher macht mein Leben ganz offenbar Sinn! Mit anderen Worten: Der Umgang mit der Welt, mit der Mitmenschheit und mit mir selbst verliert den bloßen Zufälligkeitscharakter. Er bekommt eine handlungssteuernde Plausibilitätsstruktur. Was war und was kommt, ist nicht sinnlos, sondern ermöglicht und prägt meine gegenwärtige Befindlichkeit. Als eine typische Aussage im Rahmen entsprechenden Erlebens kann ein Dictum gelten, das M. Luther zugeschrieben wird: »Und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.« Hier richtet sich die exakte Phantasie auf einen Sinn aus, der nicht vom genauen Wissen dessen, was kommt, abhängig ist. Vielmehr besteht dieser Sinn »offenbar« in dem Bewusstsein, den Augenblick jedenfalls in ein umfassendes Ganzes eingebettet sehen zu können bzw. mithandelnd und mitverantwortlich an übergreifenden Zusammenhängen zu partizipieren.
19 W. Schwartz, Art. Sinn, Zitat 251. 20 VgL G. Sauter, Was heißt nach Sinn fragen? Eine theologisch-philosophische Orientierung, München 1982, 19. 21 VgL D.W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse (Geist und Psyche), bes. 17f.
59
Zusammenfassend kann an dieser Stelle gesagt werden: Exakte Phantasie erweist sich in verschiedenen Bereichen und Ausformungen als ein Schutz vor ziellosem Handeln. Sie ist gleichzeitig ein Moment, das die Gegenwart ganz dezidiert von Zukunftserwartungen bestimmt sein lässt, ohne dabei aber an starre Zukunfts bilder zu flxieren. Von daher ist es ein notwendiger Prozess, bloßes Wunschdenken immer weitergehend in exakte Phantasie zu überführen, wenn Hoffnung nicht nur gegen die Realität zu stehen kommen, sondern sich im Rahmen menschlicher Daseinsgestaltung als sinnvoll erweisen soll.
III. Hoffnung als Ergebnis prozesshaft entwickelter ubensbewältigung Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein Mensch seinen ubenslatifbewusst erlebt und gestaltet oder sich einfach einem ubensablauf ausliefert. Ein individuell angeeigneter Lebenslauf zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Geschehnisse (d.h. Lebenseinschnitte als freudig-beziehungseröffnende oder als schmerzlich-trennende Ereignisse) nicht einfach »vorübergehen«. Ihnen wird vielmehr ein »Sitz im Erleben« zugestanden. 22 Nur unter dieser Voraussetzung kann das Bewusstsein einer je einmaligen Biographie entstehen. Es können Vergangenheit und Gegenwart so aufeinander bezogen werden, dass sich ein konstruktives Nachdenken über Zukunft ergibt. Unausweichliche Krisen und Trennungssituationen werden unter dem Vorzeichen ihrer aktiven Bewältigung einem Gesamterleben zugeordnet. Traumatische Erlebnisse müssen durchaus nicht verdrängt werden! Aber ein angstkompensierender Erfahrungsschatz hinsichtlich einer persönlichkeitsspeziflsche (Über-)Lebensstrategie steht ihnen »aufhebend« gegenüber. Dieses prozesshafte Geschehen im Laufe eines Lebens sollte von drei Modalitäten des Nachdenkens unterstützt werden: 1. Es geht um Nachdenken über die Freisef:(ftng der Hoffnung. Gemeint ist damit die Eröffnung eines Zugangs zu tragfahigem Hoffnungserleben. Dann muss es dem einzelnen gelingen, zwischen Zweckoptimismus und Zweckpessimismus seinen Weg zu flnden. Der entsprechende Lernvorgang hat die kreative Fähigkeit, mit verschiedenen Erlebensmöglichkeiten zu »spielen«, zur Prozessmotivation, d.h. zum Erziehungsziel. In einem Buch, das diese Kreativität als Lebensthema behandelt, schreibt Erika Landau: »Die kreative Einstellung zur Erziehung strebt eine lebendige Beziehung zwischen den flexiblen menschlichen Fähigkeiten und den Herausforderungen und Bedürfnissen einer sich ständig ändernden Welt an.«23 Hoffnung wird in diesem Zusammenhang dadurch freigesetzt, dass ein Individuum 22 Der Ausdruck »Sitz im Erleben« ist in Anlehnung an den Alttestamentler H. Gunkel gebraucht, der für die Psalmen einen »Sitz im Leben« der Gemeinschaft aufwies. 23 Vgl. E. Landau, Kreatives Erleben, München/Basel 1984, 107.
60
lernt, sich auf seine Einfälle und Handlungsvollzüge in den verschiedensten Lebenslagen verlassen zu können. Aller Lebensangst entgegengesetzt kann sich so ein gesundes Selbstwertgefühl unter dem Motto entwickeln: Was auch immer kommt - wir werden es »hoffentlich« (und d.h. allen Vorerfahrungen entsprechend!) bewältigen. Als Lebensgefühl bedeutet diese Einstellung: Die Zukunft ist willkommen! 2. Es geht um Nachdenken über die Struktur von Hoffnung. Hierbei ist davon auszugehen, dass alle freigesetzte Hoffnung etwas mit dem Narzissmusproblem resp. mit der narzisstischen Befmdlichkeit des Menschen zu tun hat. Aller ungebrochen kindliche (und damit im Erwachsenenalter pathologische) Narzissmus ist naturgemäß in einem doppelten Sinne »hoffnungslos«: Zum einen verschmelzen in seinen elementaren Größenvorstellungen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem ebenso fraglos wie grenzenlos beherrschbaren Zustand. Alles, was es zu erhoffen gäbe, unterliegt bereits der eigenen Einflussnahme. - Zum anderen kann und muss solche Allmachtsphantasie angesichts der Realität ebenso plötzlich wie grausam enttäuscht werden. Dann stürzt diese Enttäuschung den Narzissten in das verzweifelte und damit absolut hoffnungslose Gefühl völligen Versagens. H. Kohut hat aufgewiesen, dass die mehr oder weniger umfangreiche narzisstische Besetzung der Psyche nicht einfach ein Schicksal ist. Der individuell ausgeprägte narzisstische Seelenanteil lässt sich (therapeutisch) bearbeiteten. Er lässt sich gestalten und wird dann zu einem wichtigen Moment der Lebenslust. Solch ein gestalteter Na1iJssmus entbindet neben der Kreativität eine besondere Fähigkeit. Es ist die Fähigkeit, die eigene Begrenifheit (bis hin zur Begrenztheit des Lebens) mit Weisheit und Humor zu ertragen. 24 Weisheit und Humor wiederum können zu Strukturelementen der Hoffnung geraten: Weisheit entspricht einer Seelenlage, die den Ve1iJcht als Teil der Lebensführung akzeptiert hat. (Gerade von den geliebten Kindern, die lange Zeit ein Teil meiner selbst sind, muss ich mich trennen, damit sie als selbständige »Hoffnungsträger« eine Funktion gewinnen können.) - Humor ist, wenn man trotzdem lacht, also unabänderliches Geschehen aus einer bis zuletzt selbsterhaltenden Distanz zu betrachten vermag. (Nach W. Busch will der Vogel, der auf dem Leim sitzt, angesichts des absolut tödlichen Katers, der sich ihn zu fressen anschickt, während des kurzen Lebensrestes noch ein wenig quinquilieren. 25) Hoffnung manifestiert sich in der Haltung, trotz aller widrigen Umstände nie aufgeben zu müssen. Als Lebensgefühl bedeutet diese Einstellung: Die Zukunft soll ruhig kommen! 3. Es geht um Nachdenken über den Inhalt der Hoffnung. In diesem Kontext stoßen die verschiedenen Menschenbilder mit ihren verschiedenen 24 Vgl. H. Kohut, N arzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt a.M. 1973, 364ff. 25 Vgl. W. Busch, Kritik des Herzens, Bielefeld 0.]., 7.
61
Weltanschauungen aufeinander. Die Frage nach dem, was man sich (selbstwertbestätigend!) erhofft, wird zur Glaubenssache. Sehen wir recht, so schlägt sich Hoffnung inhaltlich jedenfalls darin nieder, so oder so auf das bis dahin gelebte Geschehen bezogen zu bleiben. Psychologisch gesehen bedeutet das: Alle Krisen und Trennungsvorgänge bis hin zur anscheinend endgültigen Trennung durch den Tod vermögen »hoffnungsvoll« mit der Matrix des Urvertrauens, wie es E.H. Erikson beschrieben hat,26 zu korrespondieren. Anders gesagt: Ein Zustand ohne »irgendwie« vorhandene Bezogenheit erscheint bei näherem Hinfühlen undenkbar. Freilich lassen sich die entsprechenden Hoffnungsbilder mit geradezu konträren Symbolbildungen verknüpfen. Sie reichen von der endgültigen Partizipation an einem (endlich!) leblosen Nichts bis hin zu Vorstellungen vom »Ewigen Leben«. Jedenfalls aber »wird« etwas aus dem Einzelnen und lässt sich mit einem so oder so symbolisierten neuen Zustand verbinden. - Als Lebensgifühl bedeutet diese Einstellung: Die Zukunft ist so oder so »bedeutungs«-voll! Eine konkrete Trennungsszene spiegelt das Nachdenken über Freisetzung, Struktur und Inhalt der Hoffnung wider: Ein 92jähriger Großvater spricht bei einer Zusammenkunft der weitverzweigten Familie vor seinen Kindern, Enkeln und deren Partnern davon, dass nun bald der Abschied von ihm ins Haus stünde. Den gut gemeinten Protest seiner Angehörigen, daran sei doch noch lange nicht zu denken, weist er zunächst zurück. Dann sagt er weiter: »Man merkt es schon, wenn der Tod unausweichlich nahe kommt. Aber mich ängstigt dabei eigentlich nicht mehr viel. Ich werde zunehmend neugierig. Ich werde neugierig auf das, was jetzt auf mich zukommen kann.« - Die versammelten Nachkommen - gläubige, halbgläubige und ungläubige Christen oder Atheisten - sind gemeinsam beeindruckt. Sie sind davon beeindruckt, dass sich auch am Ende des Lebens tatsächlich Neugier erhalten und durchsetzen kann.
Schlussbemerkung »Dum spiro, spero« - aber auch: »Hoffen und Harren macht manchen zum Narren«. Es ist eingangs davon gesprochen worden, dass sich mit dem Problem Hoffnung eine Spannung verbindet, die es immer neu zu lösen gilt. Die Reflexionen über einen möglichst konstruktiven Lösungsversuch sollten deutlich werden lassen: Der Umgang mit dem lebensbegleitenden Thema »Hoffnung« macht der Psyche Arbeit. Alle tragfähige Hoffnung ist erarbeitete Hoffnung. Also packen wirts an!
26 Vgl. E.H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 51974, bes. 241ff.
62
II
PSYCHOANALYTISCHE EINSICHTEN
Ich- und Überich-Problematik im Umgang mit Normen* Ich beginne mit zwei Vorbemerkungen. Einmal: In den folgenden Ausführungen soll unser Thema unter pastoralpsychologischem Aspekt behandelt werden. Dabei gehen wir davon aus, dass die Pastoralpsychologie die dialektische Spannung zwischen der Unabdingbarkeit von Glaubensaussagen einerseits und deren Einbindung in humanwissenschaftliche Erklärungsund Verstehenskonzepte 1 andererseits bearbeitet und dadurch neuen Spielraum für seelsorgerliches Handeln erschließt. Im gegebenen Rahmen steht nicht so sehr die erkenntnistheoretische Reflexion der spezifisch theologischen oder spezifisch psychologischen Grundannahmen zur Debatte. Eher geht es um einen kritischen Vergleich von deren Folgeaussagen. Wir bemühen uns praxisbezogen um Situationsanalysen und um die Erweiterung des Problembewusstseins. Es geht uns um die Eröffnung neuer Fragestellungen und damit im ganzen gesehen um eine Wahrnehmungseinstellung, die sich ihrer Begrenztheit durchaus bewusst ist. Im Hinblick auf unsere spezielle Thematik formulieren wir auf dem Hintergrund dieser Aufgabenbeschreibung folgende Zielvorstellungen: a. Im Umgang mit Normen sollen die individuellen Auffassungs- und Verarbeitungs modalitäten zugänglicher gemacht werden. Oder: Die Norm des einen ist nicht die Norm des anderen, und das hat seinen durchschaubaren Grund. b. Im Umgang mit Normen soll das Individuum auf einen kontinuierlichen Erfahrungszuwachs hin ansprechbar gemacht werden. Oder: Mein normativ bestimmtes Vorgehen von gestern nagelt mich nicht »Unbedingt« auch heute fest, sondern schließt in zukunfts offener Weise Einstellungsund Verhaltensvariablen ein. e. Der so bestimmte Umgang mit Normen soll zu einem »persönlichkeitsspezifischen Credo« herausfordern. Oder: Ein von Normen bestimmtes Handeln ist letztendlich ohne weltanschaulichen Fixpunkt nicht denkbar und provoziert damit innerhalb unserer Fragestellung einen »Glaubensbezug«.
* Antrittsvorlesung, gehalten am 27.1.1981 im Rahmen der Ringvorlesung »Normenwandel und Normenbegründung«; veröffentlicht in Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel, N.F. 16, Bielefeld 1981, 201-216. 1 Vgl. hierzu: Der Standort der Psychoanalyse, in: A. Mitscherlich, Der Kampf um die Erinnerung, München u.a. 1975, 1 Hf. 65
Zum anderen: Die im Titel verwendeten Begriffe »Ich« und »Überich« weisen auf das Vokabular der Psychoanalyse hin. Ehe wir sie näher bestimmen, gilt es, zwei Grundpositionen zu klären, von denen wir bei allem, was folgt, ausgehen werden: 1. Mit S. Freud fassen wir Normen als Regulative des Lebens, Erlebens und Zusammenlebens auf, die nur mehr oder weniger bewusst sind. Nach dem psychoanalytischen Denkmodell stützt die Normenbildung einen Sozialisationsvorgang ab, der aus Natur (bzw. aus der Triebwelt) Kultur formt. 2 Dieser Vorgang hat im sog. ödipalen Konflikt seinen psychogenetischen Ansatzpunkt und mündet in die von den prägenden Elternfiguren beeinflusste Gewissensbildung ein. Die Einzelheiten dieses Prozesses hat D. Stol/berg im Rahmen einer übergreifenden Fragestellung dargestellt und unter der Überschrift »Das Gewissen in pastoralpsychologischer Sicht« in seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1971 an dieser Stelle behandelt. 3 Nach S. Freud hat das normenbezogene Gewissen fortan die Aufgabe der Trieb- und Angstabwehr. Es sichert gleichzeitig die sozialen Bezüge des Individuums ab. 4 Moralische Entscheidungen fallen dementsprechend wie eben schon angedeutet - weitgehend aufgrund unbewusster Voraussetzungen. Oder aber: Ihr Funktionieren ist vom bewussten Willensakt zumindest teilweise unabhängig, ist »psychische Reaktionsbildung«.5 Wir fassen diese Zustands beschreibung S. Freuds als Herausforderung auf. 2. Um eine systematische Darstellung der psychoanalytischen Theorie (wie sie bei S. Freud bekanntlich noch nicht vorliegt) hat sich in neuerer Zeit besonders D. Rapaport verdient gemacht. 6 Er beschreibt das Objekt der Psychoanalyse - also die Psyche - zusammenfassend als »Verhalten«. Für unser Thema wird wichtig, dass er dabei unter anderen Bestimmungen auch den Satz formuliert: »Alles Verhalten ist sozial determiniert«. 7 Diese Aussage wird dort von Bedeutung, wo der Psychoanalyse eine fatale Einseitigkeit hinsichtlich der für die Normenbildung so wesentlichen Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum vorgeworfen wurde und vorgeworfen wird. In dieser andauernden Auseinandersetzung formulieren wir unseren eigenen Standpunkt folgendermaßen: Der soziologische bzw. sozialpsychologische Aspekt wird durch die Psychoanalyse nicht einfach ausgeblendet. Im Hinblick auf Normenwandel und Normenbegründung erscheint uns die stärkere Betonung des Individuellen bzw. der persönlichen Psychogenese aber heute besonders notwendig. Sie entspricht einem kompensatorischen Akt gegenüber der Neigung humanwissenschaft2 Vgl. hierzu S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, 419ff. 3 D. Stollberg, Das Gewissen in pastoralpsychologischer Sicht, Wort und Dienst, N.F. 11, Bielefeld 1971, 141ff. 4 Vgl. S. Freud, Unbehagen, 502f. 5 S. Freud, Unbehagen, 471. 6 D. Rapaport, Die Struktur der psychoanalytischen Theorie, Stuttgart 31973. 7 D. Rapaport, Struktur, 66.
66
lieh interessierter Theologen, gerade im Bezug auf unser Thema, vorwiegend der Soziologie ihr Ohr zu leihen. Um so nötiger erscheint es uns, hier ausgleichend und ergänzend den Schwerpunkt des Interesses auf die Erlebensmodalität des einzelnen zu legen. Wir unternehmen damit den Versuch, vergleichbar zu machen, was sonst unvergleichbar dem rein persönlichen Bereich zugesprochen werden muss. Dann aber entzieht es sich paradoxerweise der objektivierenden Betrachtung und damit der anstehenden Auseinandersetzung. - Soweit die Vorbemerkungen.
1. Die Psychoanalyse basiert auf einer Triebtheorie} die S. Freud zunächst völlig in den Mittelpunkt seines Forschens stellte. Menschliches Verhalten wird von libidinösen Grundbedürfnissen, wird von Hunger und Fortpflanzungstrieben maßgeblich gesteuert. Der freien Entfaltung dieser primären Wünsche, die unter dem Lustprinzip stehen, tritt aber bald ein sog. Realitätsprinzip gegenüber. Der Mensch lernt sekundär - je mehr er nämlich mit der Umwelt zusammenstößt - zu denken und damit Bedürfnisse aufzuschieben. Er erlernt damit, im Geiste, »auf Probe« zu handeln. Er lernt zu beurteilen, ob eine gewünschte Handlung gegenwärtig oder aber überhaupt angebracht ist oder nicht.8 Aus dem Konflikt zwischen dem Triebanspruch einerseits und dessen Einfädelung in die realen Möglichkeiten andererseits entsteht im Zusammenhang mit dem später von S. Freud zusätzlich konzidierten und konzeptualisierten Selbsterhaltungstrieb eine die Wirklichkeit wahrnehmende und abtastende Steuerungszentrale. Der frühe S. Freud nennt diese (die Verhaltensnormen vermittelnde) Größe das »Selbst« oder das »Bewusstsein« oder auch das »Ich«. Jedenfalls ist es eine im eigentlichen Sinne des Wortes atifgesetife Größe, wie ein charakteristisches Bild zu ihrer Erklärung zeigt: Wie ein Reiter mühselig und angestrengt das Ross zügelt und beeinflusst, auf dem er sitzt und das ihn trägt, so versucht das grundsätzlich abhängige »Ich« das »Es« als den Bereich der Triebe zu regieren. 9 Ein solches Erklärungsmodell menschlichen Verhaltens musste nicht nur auf kognitive, sondern vor allem auf emotionale Abwehr stoßen. Nicht göttliches Gebot, nicht souveräner Geist dirigierte demnach menschliches Verhalten. Vielmehr erschien die Frage nach der Normenbegründung und damit die Frage nach den Voraussetzungen ethischen Verhaltens überhaupt einem mehr oder weniger biologistischen Reduktionismus ausgeliefert zu werden. Die Psychoanalyse bekam zumindest einen ganz bestimmten und 8 Vgl. S. Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, GW VIII, 229ff. 9 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, GW XIII, 235ff, bes. 253.
67
bis auf den heutigen Tag wahrnehmbaren moralrelativierenden Geruch. Hinter ihrem Umgang mit tradierten Normen wurde und wird eine unterschwellig wirksame Zersetzungstendenz vermutet. Das änderte sich auch dann nicht, als S. Freud in einer späteren Phase seine Modellvorstellungen über die Psyche differenzierte und die sog. Strukturtheorie entwickelte. Wieder ging es um ein Konfliktmodell: Statt des Zusammenstoßes von Triebbedürfnis und realer Möglichkeit war jetzt (im Zusammenhang mit einer Neubestimmung des Angsterlebens und dessen Funktion) ein intrapsychischer Konflikt ausschlaggebend. Dem bewussten »Ich« stand neben den einflussreichen und tragenden Kräften des »Es« jetzt auch die verhaltenssteuernde Instanz des »Überich« gegenüber. »Überich«: damit wurde eine wiederum größtenteils unbewusste Größe bezeichnet. Psychogenetisch erschien sie als Erbe des sog. Ödipuskonfliktes. Um sich mit den bedrohlichen und jedenfalls überlegenen Elternfiguren nicht konkret auseinandersetzen zu müssen, identifiziert sich der kleine Junge, das kleine Mädchen mit deren Verhalten. Das Kind verinnerlicht deren Lebensgesetze und Ideale. Es etabliert so ein regelndes Gewissen in seiner Psyche und übernimmt damit ein komplexes und schon vorgelebtes Normengeflecht gegenüber allen individuellen Lustbedürfnissen und Triebansprüchen. In diesem Vorstellungsmodell wird das »Ich« zur Stätte des Balancierens zwischen animalischer Vitalität und sozial einbindender und schützender Moralität. Drängen Triebforderungen ins Bewusstsein, so müssen sie jetzt nicht mehr nur auf ihre Realitätsangepasstheit hin überprüft werden. Sie müssen zugleich - über die Wahrnehmung von Schuldgefühl und Ängsten - mit dem erworbenen Bild von anständigem und unanständigem Verhalten abgestimmt werden. Mit der psychischen Instanz »Überich« erschienen S. Freud (und damit zunächst auch der Psychoanalyse schlechthin) die Entwicklungen von Kultur und Religion neu verstehbar. Die Religion wurde - in deutlicher Afflnität zu Feuerbach! - als projektiver Vorgang aus dem Überich-Bereich heraus verstanden. Ihre Funktion war es, über den mit der Kulturetablierung notwendig gewordenen Triebverzicht als eine immer weitergehend ausdifferenzierte Illusion hinwegzutrösten und diesen dabei immer neu zu ermöglichen. Sie hatte die Aufgabe, das »Unbehagen in der Kultur«10 zu kompensieren. Diese Zuordnung löste ihrerseits starkes Unbehagen aus. Wiederum drohte das Gespenst eines alle tieferen anthropologischen Einsichten verflachenden Reduktionismus. Es dauerte geraume Zeit, bis S. Freuds Wahrnehmungseinstellung hinsichtlich der Religion von den Theologen nicht nur als gezielte Infragestellung ihrer Grundannahmen, sondern auch als
10 Vgl. S. Freud, Unbehagen.
68
Herausforderung für den christlichen Glauben empfunden werden konnte (wie J. S chaifenberg das formuliert hat).l1 Die kontinuierliche Auseinandersetzung um einen theologisch oder psychologisch bestimmbaren Schuldbegriff(von H. Harsch12 als protestantischem Theologen über G. Condrau13 als Daseinsanalytiker bis zu R Goetschz14 von katholischer Seite) zeigt an, dass ein entsprechendes Misstrauen gegenüber scheinbar normennivellierenden Tendenzen der Psychoanalyse wirksam ist und wirksam bleibt. Die Klebrigkeit, mit welcher in der pastoralen Praxis innerhalb dieser Schulddebatte an Wiederholungsmechanismen festgehalten wird, hat ihren Grund. Die Verhältnissetzung des Begriffes »Überich« zum Normenerleben ist offensichtlich nicht nur ein theoretisches Problem. Im menschlichen Verhalten, das uns tagtäglich begegnet, wird das so Bezeichnete emotional und als praktische Position so gehäuft vertreten, dass uns eine sich selbst ständig fortschreibende kognitive Auseinandersetzung bzw. affektive Bekämpfung nicht erstaunt. Nur schlägt man gerade in diesem Zusammenhang nur allzu oft den Sack und meint den Esel! Vielleicht hat es aber denselben Grund, dass sich auch innerhalb der Psychoanalyse nach Einführung der Strukturtheorie der Schwerpunkt des Interesses relativ spät verlagerte. Die »Triebschicksale« und der Einfluss des »Überich« auf die Normenentstehung besetzten das psychoanalytische Nachdenken im Dienste seiner therapeutischen Absichten ganz offensichtlich in hervorragender Weise und über lange Zeit. Worum aber geht es gegenwärtig, und was bedeutet die genannte Schwerpunktverlagerung für unsere Fragestellung nach dem Umgang mit Normen? Aufbauend auf das Freudsche Strukturmodell mit den drei Instanzen »Es«, »Ich« und »Überich« hat neuerdings die sog. »Ich-Psychologie« innerhalb der Psychoanalyse einschneidend an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung ist mit dem Namen H. Hartmanns besonders eng verbunden. Sehr wohl an S. Freuds Grundaussagen über das »Ich« und an A. Freuds wichtiges Buch »Das Ich und die Abwehrmechanismen«15 von 1936 anknüpfend, veröffentlichte Hartmann selbst schon kurz vor dem zweiten Weltkrieg den Band »IchPsychologie und Anpassungsproblem«.16 Sein theoretischer Ansatz kam aber erst in den Jahrzehnten nach dem Kriege (zuerst in Amerika und dann
11 Vgl. J. Scharfenberg, Sigmund Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 1968. 12 Vgl. H. Harsch, Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie, Heidelberg 1965. 13 Vgl. G. Condrau, Angst und Schuld als Grundprobleme der Psychotherapie, Bem u.a.1962. 14 Vgl. R. Goetschi, Der Mensch und seine Schuld, Zürich u.a. 1976. 15 Anna Freud, Das Ich und die Abwehrmechanismen, Frankfurt a.M. u.a. o.J. 16 H. Hartmann, Ich-Psychologie und Anpassungsproblem, Stuttgart 21970.
69
wiederum in Deutschland) voll zur Geltung. 17 Eine gute Übersicht über die vollzogene Weiterentwicklung innerhalb der Psychoanalyse bietet einmal der von P. Kutter und H. Roskamp herausgegebene Sammelband »Psychologie des Ich«18 und das Buch von G. und R Blanck »Angewandte IchPsychologie«. 19 Für unser Thema wird dabei Folgendes wichtig: Im Gegenüber zur reinen Triebpsychologie und als deren Ergänzung tritt nunmehr die Entwicklung des »Ich« und seiner Funktionen in den Mittelpunkt des Interesses. Dieses »Ich« - wie S. Freud es ursprünglich tat - nur als aufgesetzten Reiter bezüglich der Triebsphäre zu sehen und es damit als Epiphänomen eines konstitutiven Konfliktgeschehens zu beschreiben, erscheint jetzt als Verkürzung. Zwar werden seine Funktionen hinsichtlich des menschlichen Verhaltens ganz ähnlich wie vorher bestimmt. Die genuinen Ich-Leistungen sind Perzeption, Intention Objektwahrnehmung, Denken, Sprechen, Erinnern usw. Mit ihrer Hilfe und bei deren Ausdifferenzierung übernimmt das »Ich« im Laufe der Entwicklung und im Rahmen eines umfassenden Verhaltens immer mehr »organisierende Funktion«. Aber nun: Diesen sog. »Apparaten« der Verhaltenssteuerung wird jetzt eine »primäre Autonomie« zugesprochen. H. Hartmann und seine Nachfolger siedeln die psychische Instanz »Ich«, wenn es »normal« zugeht, in der »konfliktfreien Sphäre« des Erlebens an. Das ist eine Aussage mit weitreichenden Konsequenzen. Das »Ich« ist damit eben nicht nur Konfliktfolge, Appendix des Triebgeschehens, die der Umwelt zugewandte »Kruste des Es«. Die geistige Entwicklung des Menschen zeigt eine eigene Linie. Sie ist in sich selbständig angelegt, wenn auch bleibend auf Triebschicksal und Überich-Entwicklung bezogen. Nach wie vor geht es um eine lebensgestaltende 8"edem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zu Stande bringt, ist der Neurose verfallen.« Ob dieser apodiktische Satz bei näherer Untersuchung seinen Realitätsanspruch behält, wird uns später beschäftigen.
7 G. Schwab, Oidipus, in: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Wien 1997,166, hier 170. 8 Sophokles, König Oidipus (übers. v. F. Hölderlin), in: Sophokles. Tragödien. Dichtungen der Antike in klassischen und neuen Übersetzungen in 11 Bänden, Bd. IV, Weimar 1959,145, hier 200. 9 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Vokabular, Frankfurt a.M. 1972. 10 S. Freud, Die Traumdeutung, GW II/III, Frankfurt a.M. 1987,267. 11 S. Freud, Traumdeutung, (zuerst: 1900) 270.
103
Zunächst beruht die Freud'sche Annahme eines Ödipuskomplexes als Kern aller individuellen Auseinandersetzung mit Mensch und Welt auf drei Grundannahmen. Erstens: Alles psychische Erleben konstituiert sich aus der Spannung zwischen bewussten und unbewussten Elementen. Zweitens: Die dementsprechende Psychologie ist eine Konfliktpsychologie. Drittens: Das menschliche Verhalten wird von unbewussten Fantasien strukturiert. Zum Ersten: S. Freud ist mitnichten der oft so genannte »Entdecker« des Unbewussten. Dieser Begriff war im Zuge der Romantik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts durchaus geläufig. 12 S. Freud's abtrünniger Meisterschüler CG. Jung hat diese romantische Linie ganz offensichtlich in seiner Lehre von den Archetypen und vom Kollektiven Unbewussten fortgesetzt. S. Freud dagegen bleibt letztlich der Aufklärung verpflichtet. 13 Er entmystifiziert gezielt. Er interessiert sich für die Abkömmlinge des Unbewussten, für deren Manifestationen im Bewusstsein. Diese Abkömmlinge bleiben als Fehlhandlungen und Versprecher, aber eben auch als krankhafte Symptome unerklärlich, wenn man sie nicht als Folgen einer wirksamen Spannung zwischen dem rationalgesteuerten Bewusstsein und einem triebgesteuerten Unbewussten versteht. Außerdem will der Mensch manches, was in ihm und durch ihn real passiert, gar nicht wissen. Er sucht es so konsequent wie möglich zu vergessen, weil es ihm zu schmerzlich, zu peinlich, zu unpassend, zu unmoralisch erscheint. So müssen viele Erlebnisse ins Unbewusste abwandern. »Für Freud wird daher die Vorstellung wichtig, dass ein Nichtwissen im Sinne des Vergessenhabens mit einer strukturierenden Wirksamkeit auf Grund eines alterierten Zustands des Wissens verbunden sein kann. Er postuliert eine Tendenz der Verdrängung, später der Abwehr, die dieses Wissen vom Zusammenhang mit dem Bewusstsein trennt ...«, schreibt der Philosoph und Psychoanalytiker A. Schopj14 Dieses Unbewusste kennzeichnet fortan die sog. Tiefenpsychologie und hebt sie von allen anderen Psychologien ab. Aber »gibt« es dieses Unbewusste überhaupt? Der Streit um die Antwort auf diese Frage dauert an. Zum Zweiten: Der Mensch ist nicht nur ein »zoon politikon«, er ist nach S. Freud ebenso basal ein Konfliktwesen. Generell bedeutet das: Es gibt keine menschliche Entwicklung - sei sie individuell oder kollektiv verstanden -, deren Fortschreiten vom Kind zum Erwachsenen oder deren geschichtlicher Fortgang nicht durch kontinuierliche Konflikthaftigkeit und deren mehr oder weniger gelingende Bewältigung bestimmt wäre. Speziell für den psychoanalytischen Umgang mit menschlicher Beftndlichkeit unterscheidet der Psychiater und Psychoanalytiker S. Mentzos dann äußere und 12 H. Müller-Pozzi, Psychoanalytisches Denken. Teil II: Das Unbewusste und die Sinnlichkeit, Bern/Stuttgart/Toronto 1991. 13 A. Schöpf, Das Unbewußte, in: W. Mertens, Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, Stuttgart 1995,151-159. 14 A. Schöpf, Unbewußte, 153.
104
innere, bewusst und unbewusste Konflikte und beschreibt sie im Einzelnen so: »Ein äußerer K01iflikt ist z.B. derjenige zwischen dem Freiheitsbedürfnis eines Gefangenen und der äußeren Gewalt, die ihm die Freiheit entzieht. Ein innerer Konflikt besteht, wenn man sich z.B. nicht entscheiden kann, ob man seinem inneren Bedürfnis nach Ruhe nachgeben oder ob man sich die für die Erreichung eines ehrgeizigen Zieles erforderliche Leistung abverlangen soll. Ein innerer unbewusster Konflikt schließlich ist vorhanden, wenn z.B. dem Wunsch nach erotischer Annäherung an einen Partner ein unbewusster Widerstand entgegensteht, z.B. weil ein sexueller Kontakt die Verletzung des Inzesttabus bedeuten würde.«15 Auch wenn die Ubiquität menschlicher Konflikthaftigkeit immer wieder und von verschiedenen Seiten in Frage gestellt worden ist: Die Strukturierung menschlichen Verhaltens durch eine konflikthafte Psychodynamik ist und bleibt eine Basisannahme der Psychoanalyse. Zum Dritten: Manche Märchen beginnen mit dem Satz: »Zu der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat ... « Sie verraten damit ein kindhaftmenschliches Urbedürfnis. Demnach wäre es »fabelhaft«, sich die Welt nach eigenen Vorstellungen zurechtwünschen zu können. Solches Wunschdenken muss allerdings sehr bald einem Realprinzip weichen. Die Welt ist in aller Regel gerade nicht so, wie man sie gern haben möchte. So bleiben die Wünsche an eine Fantasiewelt gebunden, fristen ihr Dasein im Unbewussten. Nicht aber, dass sie deshalb unwirksam wären! Nach S. Freuds Auffassung bestimmen sie Fühlen, Denken und Handeln ebenso vital wie unbemerkt weiter. Unbewusste Fantasien stehen in verarbeiteter Form hinter den Träumen, den Spielen der Kinder, den Symptomen der Neurosen und Psychosen, aber auch hinter den Märchen, den Mythen, den Kunstwerken, den Religionen. Zu ihrer mächtigsten und nachhaltigsten Wirkung aber kommt die »Unbewusste Fantasie« im Kontext des Ödipuskomplexes: Hier setzen sich die verborgenen, weil streng verbotenen Wünsche am eindrucksvollsten durch - freilich verdreht und verschoben, larviert und kultiviert, dennoch aber »irgendwie« wirksam und handlungsbestimmend. Die reale ödipale Auseinandersetzung in der Seele des (männlichen) Kindes spielt sich nach S. Freud im Alter zwischen drei und fünf Jahren ab.1 6 Diese Auseinandersetzung endet mit einem »Untergang«: Die triebhaften Wünsche des Kindes machen diesem Angst. Es fürchtet, mit der Entfernung des Gliedes bestraft zu werden, das diesen Trieb repräsentiert. Aus dieser »Kastrationsangst« heraus entwickelt es ein psychisches Kontrollsystem, verinnerlicht die Normen seiner mitmenschlichen Umgebung, etabliert 15 S. Mentzos, Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven, Frankfurt a.M. 1994, 74f. 16 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Vokabular, Frankfurt a.M. 1972.
105
ein »Überich«, bildet ein Gewissen aus. Letzteres lässt die ödipalen Wünsche )>untergehen«, ohne dass sie deshalb ihrer (nunmehr heimlichen) Wirkkraft beraubt wären. So weit das klassische Konstrukt, das sehr schnell die Gemüter der Psychoanalytiker erregte. Neben einem durchgehenden Gebrauch als Lehrsatz geschieht deren kritische Auseinandersetzung mit S. Freuds Auffassung vom Ödipuskomplex als Angelpunkt psychoanalytischer Wahrnehmungs einstellung in drei Richtungen: Kritisch reflektiert wird heute S. Freuds zeitliche Festlegung, seine Vorstellungen von der Weiblichkeit und seine einengende Fixierung auf das intrapsychische Triebgeschehen. Zum ersten Punkt: Bereits der aus Ungarn stammende Londoner Psychoanalytiker M. Balint (1896-1970) hat in seinem Spätwerk »Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung«17 das zentrale Interesse S. Freuds an der ödipal getönten Lebensphase auf den präödipalen Lebensbereich verlagert. Der prägenden Dreierkonstellation gehe demnach eine ebenso das spätere Verhalten steuernde Erlebensdyade zwischen Mutter und Kind voraus. Diese wiederum werde von einer monadischen Befmdlichkeit unterlegt, in der alle selbstständige Kreativität eines Individuums wie in einer Matrix verankert ist. Die entscheidende Wirkung des Ödipuskomplexes erscheint damit nicht ausgesetzt, aber relativiert. Diese V orverlegung prägender Elemente charakterisiert auch die Schule der Kleinianischen Psychoanalyse in besonderer Weise: »M. Kleins klinische Beobachtungen führten zur Modifizierung von S. Freuds Theorie des Ödipuskomplexes. Indem sie die Fantasieinhalte der Triebtheorie hervorhob, zeigte M. Klein insbesondere die prägenitalen (oralen und analen) Komponenten ödipaler Fantasien auf und betrachtete sie als Beweis für den frühen und prägenitalen Ursprung des Ödipuskomplexes«, heißt es im »Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. 18 Naturgemäß hat diese Position auch die Annahme einer früheren Überichbildung (bzw. die Konstatierung von dementsprechenden »Vorläufernschwarzen Kontinenterniedrigt und beleidigt< werden, verrät eine tiefe Unsicherheit sowie die Furcht, von der überwältigenden Macht der mütterlichen Urimago vernichtet zu werden. Eine Welt, in der der Vater verschwunden ist, ist eine Welt, in der auch die Fähigkeit zu denken abhanden gekommen ist. Die Vereinigung von Vater und Mutter gebiert nicht nur das Kind, sondern auch den Intellekt in seiner ganzen Kraft.«23 Mit den fatalen Folgen von S. Freuds »phallokratischer« Einseitigkeit setzt sich besonders vehement auch C. Olivier auseinander. Sie schreibt: »Es ist offensichtlich, dass die psychoanalytische Theorie eindrucksvoll verkündigt, wie eine Frau nach den Erwartungen eines Mannes sein soll, aber sie gibt ganz sicher nicht wieder, wie die Frau ist.«24 Und an anderer Stelle: »Wäre Freud weniger von der Idee beeinflusst gewesen, die Sexualität der Frau auf ihre im sozialen Bereich festgestellte Minderwertigkeit zurückzuführen, und hätte er seinen Patientinnen besser zugehört statt sich von seinen Vorstellungen leiten zu lassen, so wäre er nicht auf jenem berühmten >dark continent< gelandet, mit all seinen Schrecken für beide Geschlechter.«25
21 J. Chasseguet-Smirgel (Hg.), Psychoanalyse der weiblichen Sexualität, Frankfurt a.M.1977. 22 J. Chasseguet-Smirgel, Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Psychoanalytische Studien, München/Wien, 1988. 23 J. Chasseguet-Smirgel, Bäume, XIX. 24 C. Olivier, Jokastes Kinder. Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter, Düsseldorf 1987, 17. 25 C. Olivier,Jokastes Kinder, 23.
107
Schließlich veröffendicht C. Rohde-Dachser mit einem Team 1993 einen Forschungsbericht, in dem die Annahme eines geschlechtsspezifischen Unbewussten fundiert wird. Danach werden die Begriffe »Vater« und »Mutter« von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen ebenso unbewusst wie deudich mit verschiedenen Konnotationen versehen. Das wiederum führt zu unaufgearbeiteten Gegenübertragungsreaktionen und verzerrt die Wirklichkeit. 26 So wirkt sich die leidige Einseitigkeit des »Mannes« S. Freud bis in die fundamentalen Praxisvollzüge hinein aus. Zum dritten Punkt: S. Freudhat im Rahmen seiner Triebpsychologie vorwiegend ein intrapsychisches Geschehen im Auge. Dieser Tatbestand lässt zeitgenössische Psychoanalytiker »Für ein revidiertes Verständnis des Ödipuskomplexes« plädieren. Danach gilt, was W. Mertens so formuliert: »Die Theorie vom Ödipuskomplex implizierte in der ursprünglichen Freud'schen Fassung ein nahezu ausschließlich intrapsychisches Geschehen im Kind. Es gelang nicht, die Polarität Verführung von Seiten der Eltern versus kindliche Triebfantasie als familiendynamisches Geschehen zu begreifen, wobei freilich sexuelle Verführung nur eine von mehreren traumatisierenden Sozialisationsbedingungen darstellt.«27 Drei Punkte, in deren Rahmen S. Freuds faszinierende Entdeckung, auf deren alles entscheidender Funktion er lebenslang beharrte, unter ebenso entscheidenden Gesichtspunkten modif1Ziert und relativiert wurde. Ist dieser Angelpunkt der Psychoanalyse bei näherem Hinsehen damit nicht eigendich aus den Angeln gehoben? Weht uns hier vielleicht nur noch die Erinnerung an eine imponierende, aber längst unfunktional gewordene Idee an? Verteidigen möglicherweise nur noch psychoanalytische Ideologen ein Konstrukt, das den Wirklichkeitstest nicht bestehen kann? Diese Fragen sind zumindest ernst zu nehmen. Deshalb ein nächster Reflexionsgang.
Der Ödipuskomplex- ein nicht validierbares Phänomen? Grundsätzliche Anfragen und Infragestellungen lassen nicht auf sich warten. Sie kommen vor allem aus den Bereichen benachbarter Wissenschaften. So behandelt der Psychologe, Philosoph und Zoologe N. Bischof »Das Rätsel Ödipus«28 in einer breit angelegten interdisziplinären Untersuchung. Er möchte »eine systematische Lehre von den Antriebsgrundlagen des zwi-
26 C. Rohde-Dachser u.a., >Mutter< und >Vater< in psychoanalytischen Fallvignetten. Über einige latente Regeln im Diskurs der Psychoanalyse, in: Psyche 47 (1993) 7,613646. 27 W. Mertens, Ödipuskomplex, in: W. Mertens (Hg.), Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, Stuttgart 1995, 209-223, hier 209. 28 N. Bischof, Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie, München, 1997.
108
schenmenschlichen Beziehungsgefüges überhaupt«29 entwickeln und nimmt dabei entgegen S. Freuds Libidotheorie, einen Urkonflikt zwischen den menschlichen Bedürfnissen nach Nähe, Wärme, Intimität einerseits und denjenigen nach Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Autonomie andererseits an. Auf dieser Matrix hält er Inzestbarrieren eben nicht für eine Folgeerscheinung von Auseinandersetzungen in der ödipalen Entwicklungsphase. Sie sind für ihn im Anschluss an die ethologischen Forschungsergebnisse eine »universale Naturerscheinung«}O Ein heranwachsender Mensch ist nach N. Bischof eben nicht erst für einen generationsgleichen Sexualpartner frei, weil ihm die Sexualität mit den Elternfiguren so strikt »verboten« wurde. Im Gegensatz dazu wird von ihm ausgeführt: »Freud hat selten eine so deutliche Sprache gesprochen. Mit diesem Dogma war es ihm kompromisslos ernst: Alle Gefühlsbindung ist im tiefsten Wesen Sexualität. Wenn wir daran heute Anstoß nehmen, dann sicher nicht mehr, wie vielleicht seine Zeitgenossen, aus bourgeoiser Prüderie, sondern deshalb, weil die Fülle des empirischen Materials, auf die in unserem Buch verwiesen ist, uns nötigt, die Bindung an das primär-vertraute Elternobjekt von der an den sekundär vertrauten Geschlechtspartner grundsätzlich zu trennen.«31 - Fraglich bleibt bei dieser kritischen Stellungnahme allerdings, ob N. Bischof den hochartifiziellen Libidobegriff S. Freuds als solchen wahrgenommen und richtig erfasst hat. In einem anderen Kontext kommt eine weitere Kritik zum Tragen: Der Grad ödipaler Befindlichkeit lässt sich möglicherweise einschätzen, bestimmt aber nicht messen. Vielleicht kann man jedoch wenigstens das Vorhandensein ödipaler Strukturen als solcher validieren. Die Forscher W. Greve und]. Roos32 machen diesen Versuch. Das Ergebnis ist ernüchternd: »Eine eigene Untersuchung an 130 Kindern legt die Vermutung nahe, dass der Ödipuskomplex keine universelle Entwicklungsphase, sondern allenfalls eines von vielen Mustern kindlicher Entwicklung darstellt.«33 Warum aber wird hier wiederum nur vermutet? Der Nachweis, dass es den Ödipuskomplex nicht gibt, ist offensichtlich ebenso kompliziert wie der Nachweis, dass es ihn gibt. Dabei gehen die Autoren mit bewundernswerter Akuratesse vor: Das psychoanalytische Konzept wird ebenso ausführlich wie sachlich dargestellt, S. Freud als historische Figur durchaus gewürdigt. Der Untersuchungsansatz erscheint aufwändig begründet. Kinder in verschiedenen Altersgruppen (präödipal - ödipal - postödipal) werden projektiven und semiprojektiven Tests unterworfen. Deren Ergebnisse sollen die jeweiligen Beziehungen von Jungen und Mädchen zu den beiden Elternfiguren wider29 N. Bischof, Rätsel, II. 30 N. Bischof, Rätsel, 27. 31 N. Bischof, Rätsel, 489. 32 W. Greve und]. Roos, 1996. 33 W. Greve/J. Roos, Der Untergang des Ödipuskomplexe. Argumente gegen einen Mythos, Bern/Göttingen/Toronto/Seatde 1996, Klappentext.
109
spiegeln. Das geschieht mit Hilfe von Strichmännchen, durch Differenzierung von Emotionsausdrücken in gezeichneten Gesichtern und durch die Erhebung von Farbpräferenzen resp. »Lieblings farben« für Vater oder Mutter. Korrespondierend wird in davon unabhängiger Weise nach den Verhaltensmodalitäten der Eltern gefragt. Auch sie werden skalenmäßig erfasst. Alle nur möglichen Einwände aus forschungsmethodischer, psychoanalytischer und methodologischer Sicht sind einem weiteren Reflektionsgang zugeführt. Als Ergebnis wird der Ödipuskomplex nicht einfach als gegenstandslos bezeichnet: >8"edoch stellt, wenn man den hier aufgeführten Argumenten folgen kann, die genauere Kenntnis einer >ödipalen< Phase der ontogenetischen Entwicklung kein entwicklungspsychologisches, sondern psychologiegeschichtliches Wissen dar (wie etwa die Kenntnis mittelalterlicher oder altertümlicher Vermutungen, >Hysterie< entstehe durch Säfte oder Dämpfe aus der Gebärmutter; auch diese Vorstellungen galten, nebenbei bemerkt, jahrhundertelang als wahr und wissenschaftlich erwiesen). Es lohnt sich nicht, diese Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie zu vermitteln, denn nichts spricht dafür (und vieles dagegen), dass es eine solche Entwicklungsphase - als universelles Phänomen - überhaupt gibt. Damit ist, wie mehrfach gesagt, keinesfalls ausgeschlossen, dass es in EinzelfaJ1en >ödipale< (Fehl-)Entwicklungen oder Störungen gibt ... «34 Aber die Untersuchungen wollen den Schwerpunkt ja gerade nicht auf diese »EinzelfaJ1e« legen. »Sie legen vielmehr den Schluss nahe, dass der Ödipuskomplex - in einem etwas schlichteren Sinne als sein Namensgeber - ein Mythos ist.«35 Damit ist ein klares Urteil gesprochen: Wann immer die Psychoanalyse am Ödipuskomplex als an einer wesens bestimmenden Grundaussage fest hält, wird sie im Ganzen als »mythologisch« zu kennzeichnen sein. Sie ist damit so einzustufen, wie S. Freud selbst die Religion eingestuft hat: Sie ist alles andere als zufanig existent und äußerst zäh wirksam. Sie muss aber wissenschaftlich »entmythologisiert« und auf ihren empirisch fassbaren Kern reduziert werden. Anders gesagt: Immer dort, wo sie zur Ideologie gerät, tut empirische Überprüfung Not.
Die iidipale Struktur als Teil der Wirklichkeitserfassung Wie gehen die Vertreter der Psychoanalyse mit solcher empiriebezogenen Infragestellung um? Wie können sie die Kritik an einer ihrer Grundannahmen verarbeiten, ohne S. Freuds anthropologischen Ansatz in Inhalt und Form zu verraten? Sicher so, dass sie kontinuierlich und so konsequent wie möglich den ideologischen Elementen in der eigenen Konzeption von Wirklichkeit auf der Spur bleiben. Wie gesagt, engt alles ideologische Den34 W. Greve/J. Raas, Untergang, 146. 35 W. Greve/J. Raas, Untergang, 29.
110
ken den Horizont der Wirklichkeits erfassung strikt ein. Es gibt sich dabei kritikresistent nach dem Motto: Jede Detailkritik ist Totalkritik, jedes Hinterfragen einer Grundannahme führt automatisch zum Einsturz des ganzen Gedankengebäudes. Demgegenüber kann ein unideologisches psychoanalytisches Denken und Vorgehen durchaus in der Lage sein, die Wirklichkeitserfassung in Verbindung mit problembewusster Offenheit gegenüber interner und externer Kritik zu sehen. In der Folge wird die jeweils eigene Konzeption des therapeutischen Handelns zwar als solche benennbar bleiben müssen. Sie kann aber gleichsam »spielerisch« gehandhabt werden. Die moderne und zeitgemäße Psychoanalyse muss sich dabei allerdings ständig darauf besinnen, dass sie konstitutiv als Erfahrungswissenschaft zu fungieren hat. Wie T. Naatz in einer Abhandlung »Psychoanalyse und Wirklichkeit« schreibt, steht sie sonst in der Tat in Gefahr, »... hinter erfahrungswissenschaftliche Bewertungskriterien ihrer Aussagen wieder zurückzufallen und sich mit der metaphysisch-idealistischen bloßen Denkmöglichkeit ihrer Aussagen zu begnügen und so nun wirklich zum Aberglauben des Jahrhunderts, zu einer der dramatischen Kolossalmythen zu werden ... «36 Im Hinblick auf den Ödipuskomplex lässt sich ein dementsprechend erkenntnistheoretisch flexibles Vorgehen an den folgenden Momenten festmachen. Zum einen führt das sich immer weiter gehend durchsetzende Konzept einer »frühen Triangulierung« weg von der Fixierung an ödipales Erleben als ein begrenztes und relativ »spätes« Phasengeschehen. Damit bekommt die »ödipale Triade« einen veränderten, aber zugleich im Hegel'schen Sinne »aufgehobenen« Stellenwert. Diese Triade ist nicht erst die Folge oder gar Krönung vorhergehender Phasen. Sie folgt nicht anschließend an ein zunächst ausschließlich selbstbezogenes und später ausschließlich auf Zweisamkeit ausgerichtetes Wirklichkeitserleben. »Die Dyade ist, was die Säuglingsforscher bestätigen, Illusion. Nicht die Symbiose und Triade stehen gleichsam in Opposition zueinander; es geht vielmehr darum, Entwicklung als Abfolge triadischer Entwicklungsetappen zu sehen«, schreibt M. BuchholZ,37 Diese Annahme einer ganz frühen triadischen Form der Objektbeziehung hat sich als außerordentlich anregend für die klinische Theorie erwiesen und steht so in ihrer Konkretion auf erfahrungswissenschaftlichem Grund,38 Damit sind gleichzeitig jene kritischen Stimmen aufgegriffen, die mit Recht S. Freuds defizitäres Weiblichkeitsverständnis herausstellten oder seinen Grundgedanken systemisch-familiendynamisch erweitert sehen wollten. Von der Annahme einer präödipalen Triangulierung her können die 36 T. Naatz, Psychoanalyse und Wirklichkeit, in: K. Bell/K. Höhfeld (Hg.), Psychoanalyse im Wandel, Gießen 1995,22-31, hier 25. 37 M. Buchholz, »Anders sehen« und »Herstellung des Dreiecks« in: E. Brech/K. Bell/C. Mahrens-Schürg (Hg), Weiblicher und männlicher Ödipuskomplex, Göttingen 1999,18. 38 M. Ermann, »)Frühe< Triangulierung«, in: W. Mertens (Hg.), Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, Stuttgart 1995, 200-208.
111
dementsprechenden Auseinandersetzungen auf einer veränderten Grundlage geführt werden. Zum anderen schließt sich an diese veränderte erweiterte Auffassung bezüglich des ödipalen Erlebens ein eindrucksvoller Formalisierungsprozess an. Es geht zunächst sicher nur um die universelle Wirkungsweise unbewusster Fantasien, wenn C. Nedelmann in seiner Abhandlung »Der Wahrheitskern in der Konstruktion des Ödipuskomplexes« schreibt: »Das Ödipale denken, hilft, bestimmte Verhältnisse gedanklich zu ordnen.«39 In der Folge wird der Wirklichkeit kein nachweisbares Kindheitserleben mehr abgerungen, sondern eine hermeneutisch vorgezeichnete Wahrnehmungseinstellung entgegengebracht: Bei aller unvermeidlich konflikthaften Lebensgestaltung und Realitätsbewältigung kommt ein ödipales Muster zum Tragen, das freilich »... gleichermaßen als Komplex, als Struktur und als ein Modell begriffen werden muss. Nur unter dieser Voraussetzung wird die Psychoanalyse in der Lage sein, für den Ödipuskomplex universelle Geltung zu beanspruchen.« So schreibt der französische Psychoanalytiker A. Green. 4D Damit wird einer Anthropologie das Wort geredet, in deren Rahmen die menschliche Wirklichkeit mit Hilfe eines äußerst vielgestaltigen, aber jeweils »offenen Dreiecks«41 erfasst, gestaltet und bewältigt erscheint. Dieses »offene Dreieck« kann sich im klinischen Bereich als ein Komplex manifestieren. Es kann sich in einem Modell von der menschlichen Entwicklung niederschlagen. Es entspricht gleichzeitig einer Wirklichkeits auffassung, in deren Rahmen die unabdingbar »wirksame« Vater-MutterKonstellation als elementare Struktur angenommen und erkenntnistheoretisch genutzt wird. Schließlich und endlich ist Theoriebildung im psychoanalytischen Bereich keine Angelegenheit »l'art pour l'art!«. Soll sie sich in psychotherapeutischen Handlungsvollzügen niederschlagen, so ist sie nicht unabhängig von Erfolgskontrolle. Das zwingt sie einerseits zum Vergleich mit anderen psychotherapeutischen Richtungen und Einstellungen. Das kann andererseits als Herausforderung verstanden werden, sich ständig konstruktiv kritisch zu hinterfragen bzw. hinterfragen zu lassen. Vor fast vier Jahrzehnten war Alfred A. Lorenzer mit seinem Buch über den psychoanalytischen Symbolbegriff an einer zentralen Stelle um den Dialog mit konkurrierenden Nachbarwissenschaften bemüht. 42 In letzter Zeit hat R Krause nicht nur hinsichtlich der das ödipale Geschehen betreffenden psychoanalytischen Begrifflichkeit 39 C. Nedelmann, Der Wahrheitskern in der Konstruktion des Ödipus-Komplexes, in: L. Gast/]. Körner, Psychoanalytische Anthropologie lI-Ödipales Denken in der Psychoanalyse, Tübingen 1999,44-61, hier 44. 40 A. Green, Zur Universalität des Ödipuskomplexes in Anthropologie und Psychoanalyse, in: L. Gast/]. Körner, Psychoanalytische Anthropologie II - Ödipales Denken in der Psychoanalyse, Tübingen 1999, 165. 41 A. Green, Universalität, 164-187, hier 183. 42 A. Lorenzer, Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs, Frankfurt a.M., 1970.
112
eine genauere Präzisierung eingefordert. 43 Er postuliert auch eine allgemeine Psychotherapietheorie und Praxis 44 und nennt »Empirische Gründe, die für die Erarbeitung einer Dachtheorie sprechen«.45 Bei all diesen Bemühungen ist die Frage nach der Wirklichkeit und damit nach dem, was nun »eigentlich wirklich und wirksam ist«, eine bleibend offene Frage. Sie wird auch weiterhin positionell beantwortet werden. Die verschiedenen Antworten werden im Sinne eines wohlverstandenen und d.h. pragmatischen Konstruktivismus »aus Überzeugung«46 aufeinander prallen. Aber dieses Aufeinanderprallen wird umso mehr progressive Wirkung haben, wenn es so ideologiebewusst und ideologiekritisch wie möglich geschieht und in dieser ebenso problembewussten wie kritischen Einstellungen gemeinsame Basis findet.
Schlussbemerkung Was die Psychoanalyse auszeichnet, ist ihr im guten Sinne des Wortes aufklärerisches Potenzial. Sie nutzt diesen Schatz. am besten, wenn sie nicht nur, aber auch im Hinblick auf den Ödipuskomplex kontinuierlich Psychoanalyse der Psychoanalyse betreibt. Dann nämlich müssen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker weder gekränkt noch entmutigt reagIeren, wenn die Einsicht von heute zum Widerstand von morgen gerät.
43 R. Krause, Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre, Bd. 1: Grundlagen, Stuttgart/Berlin/Köln, 1997, 42. 44 R. Krause, Krankheitslehre, 144f. 45 R. Krause, Krankheitslehre, 163ff. 46 M. Gill, Psychoanalyse im Übergang, Stuttgart 1997.
113
III
RELIGIONSKRITISCHE PERSPEKTIVEN
Was hat die Theologie von Freud gelernt?* Unser Thema ist eine sogenannte »offene Frage«. Es geht also nicht um eine begrenzte Anzahl exakter Angaben, die als Antworten richtig oder falsch sein können. Es geht vielmehr darum, die Verarbeitung von Anstößen, Einflussnahmen, ausgelösten Veränderungen nachzuzeichnen, die von der Psychoanalyse her auf die Theologie hin erfolgt sind. Dieser Vorgang ist ein noch nicht abgeschlossener Lernprozess. Zunächst definiere ich, was wir im gegebenen Kontext als Theologie bezeichnen wollen: Ich fasse Theologie als das wissenschaftliche Nachdenken darüber auf, wie sich der Mensch »um Gottes Willen« verhalten kann und soll. Dabei ist »Verhalten« als die strukturierte Gesamtheit aller kognitiven, emotionalen und körperlichen Tätigkeiten aufgefasst. Mit zunehmendem Erwachsenwerden des Individuums ist das Verhalten auch zunehmend an Entscheidungsvorgänge gekoppelt. Entscheidungsfähigkeit setzt Kritikfähigkeit voraus. Kritik wiederum will nicht nur ausgeübt, sondern auch ertragen werden. Sie kann nicht nur das gesamte menschliche Verhalten, sondern auch dessen weltanschauliche Begründung betreffen. Wenn sich Theologie einerseits um menschliches Verhalten, andererseits um dessen Begründung aus Glaubensannahmen heraus bemüht, ist zunächst die Frage zu stellen, auf welche Weise sie welche Art von Kritik einmal ausübt, zum andern erträgt. Unser Thema lässt sich deshalb auch so formulieren: Was hat der Theologie die kritische Auseinandersetzung mit S. Freud, dem epochalen Aufklärer im Hinblick auf menschliches Verhalten, tatsächlich eingebracht? Wie verarbeitet der Theologe die konsequent auf Säkularisierung der Anthropologie ausgerichtete Denk- und Vorgehensweise der Psychoanalyse? Es geht - so meine ich - im gegebenen Zusammenhang für den Theologen zunächst um zwei Stellungnahmen vorab: 1. Er hat dazu Stellung zu nehmen, ob er sich bei einer Beschäftigung mit S. Freud auf etwas einlassen möchte, was mit dem klassisch-theologischen Ausdruck »Fremdprophetie« bezeichnet werden kann. D.h., dabei geht es nicht so sehr darum, S. Freud besser zu verstehen als dieser sich selbst und hinter seinem Vorgehen letztendlich ein »religiöses« Anliegen zu sehen. Vielmehr wird die kritische Auseinandersetzung von einem wirklich und wirksam Außenstehenden provoziert, der nicht mich und meine theo-
* Veröffentlicht in: Herrenalber Protokolle 64 (1989), Wo es war, soll ich werden. Psychoanalyse und christlicher Glaube. Zum 50. Todesjahr von Sigmund Freud, 37-52. 117
logische Weltanschauung wohlwollend reformieren will. Er stellt vielmehr mein Verhalten als solches in Frage, versucht dessen Sinnhaftigkeit zu destruieren. Ist das für mich vernichtend oder gerade eine radikale Herausforderung, eine Neubesinnung an der Wurzel? 2. Der Theologe hat weiter vorab dazu Stellung zu nehmen, wie er mit dem beliebt gewordenen, aber meist beliebig verwendeten Begriff der »Hilfswissenschaft« umzugehen gedenkt. Von E. Thurnrysen, jenem Kampfgefährten K Barths, ist dieser Begriff neu aktualisiert worden. Auf S. Freud bzw. die Psychoanalyse angewendet, fordert er dazu auf, gezielt, selektiv vorzugehen. Dann nämlich erscheinen viele Detaileinsichten S. Freuds als akzeptabel. Seine Grundannahmen dagegen bleiben als »theologisch nicht gesellschaftsfähig« draußen vor der Tür. Vielleicht könnte aber der Begriff Hilfswissenschaft auch so eingesetzt werden, dass hiermit die Rolle dessen bezeichnet ist, der mit mir um den »Sitz im Leben« konkurriert, mir die Anhänger und Abnehmer meines besonderen Angebotes abzuwerben droht und mich gerade dadurch zur Wahrnehmung meiner letztlich besseren Möglichkeiten zwingt? Dann hätte der Theologie jene Hilfswissenschaft »Psychoanalyse« nicht so sehr zusätzliche Erkenntnisse vermittelt, sondern eher hilfreich-kränkend »auf die Sprünge« geholfen. Das lässt dann freilich drängend und neu nach der Identität des Theologen und seiner Theologie fragen. Es ist dann aber auch danach zu forschen und darüber nachzudenken, wie man sich umgekehrt konkurrierend-hilfswissenschaftlich zu revanchieren vermag! Auf der Basis dieser doppelten Stellungnahme im Vorfeld ist nunmehr die Ausgangsfrage wieder aufzunehmen: Was hat Theologie von S. Freud gelernt?
Möglicher Lernprozess I Das erweiterte Menschenbild oder: Die bedeutsamen Nebensachen oder: Ich seh' etwas, was du nicht siehst Man kann es einmal so formulieren: S. Freud stellt die Harmlosigkeit des zeitgenössischen und des theologischen Menschenbildes in Frage. In seiner populären weil leicht zugänglichen Veröffentlichung von 1904 »Zur Psychopathologie des Alltagslebens« scheint es bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Vergessen von Eigennamen, dem Versprechen, V erlesen, Verschreiben usw. in der Tat um eher komische oder peinliche als wichtige oder gar wesentliche Verhaltens segmente zu gehen. S. Freud führt an, was ein Verehrer seiner Angebeteten nicht nur sagen will, sondern auch tatsächlich sagt: »Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich Sie begleiten.«, und er kommentiert, dass die Absichten des jungen Mannes sicher 118
nicht die lautersten waren. 1 Ebenso deckt er auf, was eine Mutter eigentlich fühlen kann, aber nicht zu denken wagt: »Bei welcher Waffe befmdet sich Ihr Herr Sohn?« wird eine Dame zu seiner Zeit gefragt. Sie antwortet: »Bei den 42er Mör-d(s)-ern«. Sollte man solchen und vielen ähnlichen Nebensachen nicht doch lieber ihre Harmlosigkeit lassen? Geht es doch eben nicht nur um die sachliche (und übrigens wissenschaftstheoretisch nach wie vor umstrittene) Konstatierung eines >>Unbewussten Bereichs« im Seelenleben des Menschen, sondern um die Annahme einer grundlegenden Triebabhängigkeit des Verhaltens und dessen zunächst unabsehbare Folgen. Wenn die genannten Versprecher nicht harmlos sind, sondern Ausdruck eigentlicher Tendenzen, dann hat das Konsequenzen! Das so gern als souverän erlebte »Ich« als die freie Entscheidungsinstanz, als Verantwortungsträger, als Selbständigkeitsgarant im Menschen wird unbarmherzig relativiert. Damit nicht genug: Das bisher Gott und den Menschen aufeinander abstimmende Gewissen soll ernüchternd und versachlichend zugleich auf das sogenannte »Über-Ich«, ein Sozialisationsergebnis im Rahmen der individuellen und kollektiven Realitätsbewältigung, zurückschrumpfen. Damit ist zugleich aus der beziehungs strukturierenden Instanz zwischen Mensch und Gott eine innerweltliche Größe geworden. Sie kann freilich höchst immanent mit der »Stimme Gottes« gleichgesetzt werden, eben weil das »Ich« des Menschen zwischen den bewussten und unbewussten Forderungen und der unausweichlichen Triebnatur des homo sapiens bleibend zu vermitteln hat. Natürlich: wo Es war, soll Ich werden! Das Motto betrifft aber eben nicht nur die autonome Beherrschung der Triebsphäre, sondern auch die Entrnächtigung aller jetzt nur scheinbar Gott gegebenen Verhaltensnormen im Rahmen einer Anthropologie, die einen gleichsam »real existierenden Positivismus« zum Tragen bringt. Die auf das neue Wahrnehmungsschema »bewusst-unbewusst« aufbauende und diese modiflZierende Strukturtheorie S. Freuds mit ihren Bestimmungen zu »Es«, »Ich« und »Über-Ich« liefert ja eben nicht nur die Erklärbarkeit offensichtlich nebensächlicher Verhaltensweisen! Sie fasziniert vor allem, weil mit ihrer Hilfe die menschliche Grundproblematik einer ganz neuen Verstehbarkeit zugeführt wird. Da ist S. Freuds Schlüsselbegriff einer aus Anpassungsgründen von jedermann vollzogenen Verdrängung von Triebwünschen im Kontext der von ihm vertretenen Konfliktpsychologie. Damit ist gleichzeitig ein Existential des Humanum angesprochen: Denn ob nun die Verdrängung Angst oder aber die Angst die Verdrängung macht - das »ängstliche Harren der Kreatur« (Röm 8,19) steht jedenfalls neu zur Debatte und wird mit bisher völlig ungewohnten Deutungen versehen. Denn in neuer Weise verständlich werden eben nicht nur die bisher so nebensächlichen Träume als Verhaltensformen zensierter Wunscherfüllungen. 1
S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW N, 77.
119
Neu verständlich - und damit plötzlich aufregend hinterfragbar - werden auch die sich ständig wiederholenden Handlungsabläufe samt den dahinterstehenden Einstellungsweisen und Charakterstrukturen. Verständlich wird vor allem, warum sowohl das einzelne Individuum als auch das Kollektiv der Aufdeckung unbewusst-motivierter Zusammenhänge ihres Verhaltens eine so strikte Abwehr - einen so psychosomatisch »eingefleischten« Widerstand entgegensetzen müssen. Letztlich dient alle im Entwicklungsgang eingeübte und erprobte Strategie charaktertypischen Verhaltens ebenso wie alle mühsam erworbene innere Überzeugung und Weltanschauung der kontinuierlich geforderten Angstbewältigung. Angst wiederum aber ist nach S. Freud nicht vor allem notwendiger »Schwindel der Freiheit«, auf den schmerzhafter-, aber ehrlicherweise nicht verzichtet werden kann. Angst ist für den Psychoanalytiker vielmehr ein Epiphänomen, eine Folgeerscheinung ungelöster Konflikte, die es zuerst in Furcht zu verwandeln und daraufhin gezielt »aufzuheben« gilt. Das hat bei näherem Hinsehen unerwartete Konsequenzen. S. Freud sagt der Theologie (bzw. die Psychoanalytiker sagen den Theologen) nicht nur »Ich sehe die Dinge, ich sehe Gott und die Welt ganz anders als du sie siehst!« Er sagt: »Ich sehe etwas, was du nicht siehst. Ich verstehe auf eine Art und Weise, mit der du gar nicht verstehen kannst, weil dich deine fromme Wahrnehmungseinstellung an diesem erweiterten Verstehen hindert.« Es ist die Frage, ob Theologie (bzw. der Theologe) unter solchen ihr gesamtes Selbstverständnis bedrohenden Bedingungen etwas lernen will und kann. Ich meine, sie kann sich dennoch am ehesten einen Lernprozess leisten, wenn ihr S. Freud gerade nicht (im doppelten Sinne des Wortes!) zum »Angst-Gegner« gerät, sondern wo bei allem Erkenntniszuwachs und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck nach wie vor offengebliebene Fragestellungen fruchtbar zum Tragen gebracht werden können. Im gegebenen Zusammenhang halte ich das Problem der Verstehbarkeit menschlichen Verhaltens in Geschichte und Gegenwart, also das sogenannte hermeneutische Problem für eine solche offene Fragestellung zwischen den Wissenschaften. Für unser Thema kommt ihm eine extraordinäre Bedeutung zu! Denn wer immer nach dem Verstehen fragt, muss nach Schleiermacher und nach Diltheys entsprechendem Vorgehen immer auch psychologisch argumentieren. Die spezifisch theologische Ausprägung der Verstehensfrage lautet also folglich: Wie deutlich (über alle rein empirischen Erklärungsmodelle hinaus) und wie weitgehend überhaupt versteht sich der Mensch selbst und kann sich daraufhin wiederum selbst (reflektierend) als (konstitutiv) von Gott her bestimmt definieren? Stößt S. Freud in Gefilde menschlichen Erlebens, die bisher als terra incognita galten und dementsprechend nur mit Glaubensvorstellungen besetzbar zu sein schienen, vor, so bedeutet dies, dass die Psychologie S. Freuds die Theologie zur Überprüfung ihrer Hermeneutik auffordert, vielleicht sogar zwingt. Denn durch S. Freud
120
ist der Radius psychologischen Erfassens innerhalb des menschlichen Verstehensvorganges grundsätzlich erweitert worden. Gerade das macht die epochale Leistung dieses Mannes aus. Ausgerechnet im Hinblick auf menschliches Verhalten hat sich der Anteil des sehr direkt Erklärbaren in einer ungewohnt plötzlichen Weise ausgedehnt. Wo vorher schon lange »Unerforschliches« das Erleben eines Menschen bestimmte und den Theologen engagierte, ist jetzt noch immer empirisch vorgehende Anthropologie angezeigt. Anders ausgedrückt: Theologie mit ihrem besonderen Verstehen des Menschlichen ist gewissermaßen ebenso plötzlich viel »später«, das heißt erst »jenseits« der unbewussten Determinanten menschlichen Verhaltens zuständig. Sie muss also von S. Freud zunächst einmal lernen, sich im genannten Sinn zurückzunehmen, ohne sich selbst aufgeben zu müssen. Naheliegenderweise ist diese Rücknahme als freiwillige Leistung nur zumutbar, wenn sie auch deutliche Vorteile bringt. Diese Vorteile müssen nach Lage der Dinge und in der gegebenen Konkurrenzsituation außerdem im Konkreten angesiedelt sein, weil sowohl Theologie als auch Psychoanalyse ja menschliches Verhalten bestimmen und verändern möchten. Ich denke, diese Vorteile für Theologie könnten dort liegen, wo sie durch die genannte Rücknahme frei wird, sich wirklichkeits freundlicher (und das heißt »weltoffener>universalen Zwangsneurose« der Religion nieder. S. Freud selber hatte die religiöse Grundvorstellung und ihre psychologische Entstehung sehr eng und konsequent mit der ödipalen Phase des heranwachsenden Individuums verknüpft. Im Zuge der hier angesiedelten Gewissensbildung ist das »Über-Ich« die das Glaubensverhalten prägende Instanz. Religion, vor allem im christlichen Gewande, definiert sich so selbst als »Vaterreligion«, die ihre Funktion dann hat, Schuldgefühle zu kompensieren. Nach S. Freud, aber weiter im Rahmen der Psychoanalyse, ist dieses grobe Raster in spannender Weise ausdifferenziert worden. Analog zur psychotherapeutischen Symptombehandlung und Charakteranalyse wurden die Zuordnungsmodelle fortschreitend (oder besser rückschreitend!) präödipal angesiedelt. Jetzt kam durchaus auch elementare »Mutterreligion« ins Gesichtsfeld. Die Einbettung des Glaubensverhaltens wurde nicht nur analnormativ, sondern auch unter oral-depressivem Vorzeichen gesehen. Es wurde deutlich, dass Gott von vielen Frommen auch als die mütterlich bergende, die alte Trennung aufhebende und Gemeinschaft vermittelnde Instanz erlebt wird. Noch faszinierender weitete sich das Gottesbild in der Folge der sogenannten Narzissmusdebatte aus. Jetzt lag die Frage nahe, ob und wie weitgehend sehr frühe Größenvorstellungen, die die notwendige Funktion haben, jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung Winzigkeitsgefühle und Vernichtungs ängste zu kompensieren, lebenslang prägend auf die Gottesvorstellungen einwirken. Vor allem Fritz Meerwein hat in seinem Aufsatz »Neuere Überlegungen zur psychoanalytischen Religionspsychologie« Wesentliches zu dieser veränderten Sicht der Dinge gesagt. 3 Gleichzeitig da2 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, GW V, 73. 3 F. Meerwein, Neuere Überlegungen zur psychoanalytischen Religionspathologie, in: E. Nase/]. Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse und Religion, Darmstadt 1977, 343ff.
122
mit wurde die Frage nach der Glaubensbildung und -funktion neu aufgeworfen. Jetzt ist es möglich, ein religiöses Über-Ich-Gewissen von einem religiösen Ich-Ideal-Gewissen abzuheben, wie ich das in meiner Studie über Luther als Seelsorger bzw. »Die Zumutung im Konfliktfall« versucht habe darzustellen. Im Hinblick auf die Grundstrukturen des Glaubensverhaltens bzw. im Hinblick auf das jeweils individuelle Gottesbild und dessen »Sitz im Erleben« wurde und wird Theologie von der Psychoanalyse angeregt, flexibler die Gegebenheiten wahrzunehmen. Darüber hinausgehend ist nun aber von s. Freud ein weiterer Impuls ausgegangen. Er hängt aufs engste mit seiner Religionskritik zusammen und betrifft hier das auf seine Entwicklungspsychologie bezogene Phänomen der Regression. S. Freud selbst fasste Religion als ein auflösbares Epiphänomen auf. Danach muss der Mensch gegenüber den Kulturforderungen Triebverzicht leisten. Er leidet unter seinem Verzicht so, dass er in, mit und unter diesem ständigen Leistungsdruck ein sehnsuchtsvolles Kind bleibt, das sich illusionär in Gef1lde des entbehrungsfreien und geschützten Zustandes zurückwünscht. Deshalb strebt S. Freud eine Auflösung allen religiösen Erlebens unter einem veränderten weltanschaulichen Vorzeichen an: »Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss hinaus ins feindliche Leben. Man darf das die Erziehung zur Realität heißen ... Der Primat des Intellekts liegt jeweils in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht unendlicher Ferne«.4 Es geht im gegebenen Zusammenhang nicht darum, ob oder auch wie weitgehend S. Freud eine heute noch diskussionswürdige oder längst überholte Religionskritik vertritt. Wichtig erscheint vielmehr zu fragen, welches Kuckucksei er mit jenem spezifischen Regressionsbegriff ins theologische Nest gelegt hat. Was bei S. Freud negativ besetzt ist, erscheint beim ersten frommen Hinsehen durchaus ein positives Glaubensziel: »Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, dass ihr umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (Mt 18,3). Also doch Regression um Gottes Willen und das mit allen Konsequenzen der Relativierung des emanzipatorischen Intellekts, des geistigen und seelischen Erwachsenwerdens? Das kann so nicht sein! Es sollte aber dennoch anstößig genug sein, den Theologen zu vielleicht ungewohntem Nachdenken über die Wirkungsweise seiner Grundannahmen und Grundaussagen anzuregen. Zunächst sollte er sich um den Regressionsbegriff und um dessen Ausdifferenzierung in der Nachfolge S. Freuds kümmern. Von M. Balinf> kann er z.B. lernen, dass es eine benigne (gutartige) von einer malignen (bösartigen) Regression zu unterscheiden gilt.
4 5
S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, GW XIV, 373 u. 377. M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression, Stuttgart 1970.
123
In vorteilhafter Weise regrediert ein Mensch unabdingbar dann, wenn es gilt auszuruhen, für neue Progression Kräfte zu sammeln. In nachteiliger, ja pathologischer Weise aber regrediert derjenige, der den Konflikten dieser Welt und des Erwachsenendaseins ausweichen will oder muss. Bei ihm verfestigt sich das Rückzugsverhalten. Und nun: Worauf zielt die Aufforderung Jesu, wie Kinder zu werden, eigentlich ab? Es ist von entscheidender Bedeutung, jenes »wie ein Kind werden« als Prozessgeschehen auf eine noch nicht erreichte, noch unbekannte Zielvorstellung auffassen zu lernen. Hier geht es um jene »zweite Naivität«, die wir progressiv erfassen können. Ihre Leistung zeigt sich im Loslassen erwachsener Möglichkeiten durch Einsicht in die eigene Begrenztheit und Machtbeschränkung, die mittels Weisheit und Humor zu erreichen sind. Insofern ist »wieder ein Kind werden« eine sehr erwachsene Aufgabe! Auch der ich-stärkste Mensch muss sich ab und zu ausruhen und gegebenenfalls trösten lassen. liegt S. Freud aber so ganz falsch, wenn er Religiosität, so wie er sie bei vielen Menschen vorfand, mit maligner Regression, mit Rückfall ins unkomplizierte, ambivalenzfreie Dasein in eins setzte? Im Zeichen des »New Age« lassen sich erstaunlich viele sonst ganz nüchterne Zeitgenossen in eine neue Religiosität fallen. All das hat etwas mit jener Sehnsucht »zurück« zu tun, in der S. Freud vielleicht kurzschlüssig, aber nicht eben zufällig alle Religion aufgehen lässt. liegt hier die Flucht in frühnarzisstische Gefilde, die regressive Wiederbelebung symbiotischer Wünsche für jeden, der sich nur etwas mit S. Freud beschäftigt hat, nicht deutbar nahe? Wo Ich war, soll wieder Es werden! Verständlich wird diese Tendenz in der Folge des gefühlsfernen Kognitivismus unserer Epoche wahrlich. Aber der Umschlag ins Gegenteil ist gerade kein Fortschritt. So ist C. Schorsch Recht zu geben, wenn er unter der Kapitelüberschrift »Regression statt Transformation« schreibt: »Der Mythos von der Rückkehr zur paradiesischen Unschuld muss verkennen, dass das reale Paradies kein Zustand der Glorie, der vollkommenen und gott-gleichen Selbstverwirklichung war, sondern der unbewussten ... Einheit von Mensch und Natur«.6 Von S. Freud lernen hieße in diesem Zusammenhang nicht nur allgemein, dass die Theologie S. Freuds Religionskritik ernst nimmt und in sachlicher Auseinandersetzung mit dem Regressionsproblem bearbeitet, von S. Freud lernen hieße für die Theologie darüber hinaus, neu zu defInieren, was sie eigentlich unter »religiöser Erfahrung« (und damit unter Offenbarung!) im Hinblick auf den genannten Zeitgeist versteht oder nicht versteht! Ist doch das alte Sprichwort »Der Mensch denkt, aber Gott lenkt« je nach Erfahrungsbezug folgenreich verschieden interpretierbar. Die Aussage kann die nüchterne Erkenntnis ausdrücken, dass alle Wirklichkeitserfahrung begrenzt ist und das »Lenken Gottes« jenseits aller direkten Erfahrbarkeit im 6 C. Schorsch, Die New-Age-Bewegung. Utopie und Mythos der Neuen Zeit, Gütersloh 1988.
124
Glauben angenommen werden möchte. Das Sprichwort kann aber auch die direkte Erfahrung mit der lenkenden Hand Gottes ausdrücken wollen. Wenn das so ist, liegt ein Kurzschluss nahe: Plötzlich gerät die Erfahrung neuer Ganzheit, die Erfahrung mit Spiritualität und Bewusstseinserweiterung, eben die Erfahrung mit all dem, was New Age bedeuten kann, zur Transzendenz-Erfahrung schlechthin. Anders gesagt: Es ist »die Stimme Gottes«. Bewusstsein, Transzendierendes, kollektive Unbewusstheit und symbolisch vermitteltes archetypisches Gedenken fallen mit Gotteserfahrung zusammen Noch anders gesagt: Offenbarung ereignet sich bestimmbar in der plausibilitätsstiftenden Gemütsbewegung. Die Spannung zwischen dem deus absconditus (dem verborgenen Gott) und dem deus revelatus (dem offenbaren Gott) hat sich verflüchtigt. Einen guten Einstieg, wie Erfahrung theologisch zu reflektieren, aber dennoch auf Humanwissenschaft zu beziehen ist und dabei die Festlegung auf einen angebbaren Wirklichkeitsbegriff herauszufordern, gibt E. Herms. 7 Zusammenfassend kann jedenfalls gesagt werden: Es gibt kein Zurück hinter S. Freuds religionskritischen Regressionsverdacht hinsichtlich aller Gotteserfahrung. Wenn immer sich Theologie um die heute wieder besonders notwendige Differenzierung des Erfahrungsbegriffs bemüht, sollte sie sich dieses Lernangebotes erinnern.
Mö'glicher Lernprozess 111 Die sensiblere Umgangiform untereinander oder: Der Mitmensch als Gebrauchs-Gegenstand? oder: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Es war ein weiter therapeutischer Weg mit vielen theoretischen Reflexionen, bis S. Freud 1923 in seiner übersichts artigen Abhandlung »Psychoanalyse und Libidotheorie« zum Phänomen Übertragung schreiben konnte: »Diese Übertragung, welche in ihrer positiven wie in ihrer negativen Form in den Dienst des Widerstandes tritt, wird in den Händen des Arztes zum mächtigsten Hilfsmittel der Behandlung und spielt in der Dynamik des Heilungsvorgangs eine kaum zu überschätzende Rolle«. 8 J. LaplanchejJ.B. Pontalis bezeichnen Übertragung im Hinblick auf deren beziehungssttukturierende Wirkung so: »Es handelt sich dabei um die Wiederholung infantiler Vorbilder, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden«.9 7 Vgl. EKL 1, Göttingen 31986. 8 S. Freud, Psychoanalyse und Ilbidotheorie, GW XII, 209. 9 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse 2, Frankfurt a.M. 1979,550.
125
Der Spezialfall der Übertragungshandhabung im therapeutischen Setting ist sicher nicht auf das Beziehungsgeschehen im Alltag anzuwenden. Aber die Auswirkungen der entsprechenden Basis-Einsichten bezüglich projektiver Vorgänge im zwischenmenschlichen Bereich sind in vielen Zusammenhängen erkenntnisleitend und handlungsbestimmend geworden. Muss doch die beziehungsstrukturierende Frage »Wie gehen wir in dieser oder jener Konstellation konstruktiv miteinander um?« nach S. Freud unter ein verändertes Vorzeichen gestellt werden. Sind doch mein Mann, meine Frau, mein Genosse, mein Vorgesetzter, meine Mutter, mein Kind, meine Schüler, mein Bundeskanzler usw. eben nicht nur jene Mitmenschen, mit denen ich als Helfer oder als Gehilfe oder als Hilfsbedürftiger zusammenstehe, um gemeinsam Lebenswelt zu bewältigen! Jede Beziehungsaufnahme zu ihnen - sei sie innerlich oder äußerlich - aktualisiert vielmehr automatisch Übertragungsvorgänge. Anders gesagt: Ich nehme im Erleben des anderen zuerst und zunächst nur das wahr, was sich in der gegebenen Szene an Eigenleben aus früheren Situationen wiederholt. Zugespitzt lässt sich das einmal so formulieren: Unter den unbewussten und durch meine individuelle Psychogenese geprägten Übertragungs figuren gerät mir mein jeweiliger Beziehungspartner zum »Gebrauchs-Gegenstand«. Ich gebrauche ihn, um mich in ganz bestimmter Weise immer selber wieder zu finden, mich durch ihn in meinem Erlebnismodus bestätigen zu lassen. Der/die Verliebte ist bekanntlich blind; er/sie liebt die Angebetete/den Angebeteten eben gerade nicht so, wie er ist, sondern so, wie man ihn sich vorstellt. Da wird im Kriegsfall - und eben nicht nur dort - Verbrüderung mit dem sogenannten Feind schärfstens geahndet, soll sich dieser doch gerade nicht durch Begegnungen als der Mensch erweisen können, der er eigentlich ist, sondern Feind sein und Feind bleiben! Da hat in jüngster Zeit W. Schmidbauer an äußerst empfindlicher Stelle auf höchst negative Auswirkungen unerkannter Übertragungsmechanismen aufmerksam gemacht, indem er unter den speziellen Gesichtspunkten der psychoanalytischen Narzissmustheorie beschreibt, wie sich eine verdeckt und verkehrt übertragene Bedürftigkeit und Hilflosigkeit des professionellen Helfers auswirkt. Nagelt sie doch nicht nur ihn selbst, sondern auch seinen Klienten auf nicht mehr kommunizierbare Befindlichkeiten und auf Rollen fest, die jede Veränderung und damit Besserung ausschließen. lO Der berufsmäßige Helfer nimmt also bleibend Hilfsbedürftige »in Gebrauch« (und umgekehrt), um sein Selbstverständnis stabil halten zu können. Da ist schließlich ein Theologe, ein Christ, ein gläubiger Mensch mit respektablem missionarischem Engagement bemüht, nicht nur allgemein auf alle Menschen guten Willens, sondern besonders auf die ihm sehr nahestehenden seine Überzeugung zu übertragen.
10 W. Schmidbauer, Die hilflosen Helfer, Reinbek 1977; ders., Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek 1983.
126
Den Mitmenschen zum Träger eigener Vorstellungen, Bilder, Wünsche, Ängste, Erwartungen zu machen, ihm eigenes Erleben überzustülpen, ihn insofern »eigensüchtig« in Gebrauch zu nehmen - S. Freud hat mit seinem Übertragungsbegriff einen Widerstand gegen Neuanfang und damit eine Kommunikationsstörung wahrzunehmen gelehrt. Er hat damit aber auch die Theologie gelehrt, im Mitmenschen, im Nächsten jenen »gegenständigen« Faktor zu sehen, der notwendig gebraucht wird, um die Übertragungen langsam, aber gezielt zurücknehmen zu können. Denn in gewisser Analogie zum therapeutischen Setting gilt auch für den alltäglichen Beziehungsbereich: Übertragungsgefahr muss zuerst als solche erkannt werden, Übertragungsgefahr wird daraufhin als Wahrnehmungshilfe anerkannt und schließlich durch Bewusstmachung gebannt! Diese Bewusstmachung bzw. die davon abhängige Rücknahme kommunikationseinschränkender Projektionen ist freilich kein Kinderspiel, sondern ein emanzipatorischer Akt, der mit »Ent-Täuschungen« erkauft werden muss. Dann ist der oder die Geliebte bei unausweichlich realer Begegnung nicht so, wie er sein soll, meine nahe bzw. täglich auf mich ausgerichtete Beziehungsperson korrigiert meine Vorstellungen, enttäuscht meine Erwartungen - aber ebenso kann sich Verliebtsein zu Liebe verändern! Dann ist bei intensiver Begegnung die Wahrnehmung nicht zu vermeiden, dass der Feind, der Konkurrent, der Andersgläubige ein Mensch ist, der auch liebenswerte Züge hat. Das korrigiert mein bequemes Weltbild, enttäuscht auch den Politiker, den Offizier, den Manager, den Theologen und ist dennoch die Voraussetzung dafür, vorurteilsfreier und damit zwangsläufig friedfertiger miteinander umzugehen. Dann wird auch erschreckend deutlich: Zwischenmenschliche Hilfe ist nicht von vornherein durch hohen Aufwand, gute Absicht, drängendes Mitleid, unbegrenztes Engagement garantiert. Das muss unzählige Helfer enttäuschen, die damit den Sinn ihres Berufs-Lebens in Frage gestellt sehen, aber nur so kann schließlich Hilfe zur Selbsthilfe freigesetzt werden! Dann ist bei offenen und entkrampften Gesprächen unter besinnlichen Christen die zunehmende Einsicht unabweisbar, dass jedermann die allgemeingültige christliche Wahrheit auf höchst individuelle Weise in sein kognitives, emotionales und praktischtätiges Verhalten integriert. Das muss alle enttäuschen, die Gemeinschaft im Heiligen Geist mit Gleichklang hinsichtlich seelischer Gestimmtheit gleichsetzen wollen. Doch nur so kann persönlichkeits spezifisches »Credo« für jeden Christen entbunden werden, ein Credo, das zur Kommunikation über analoge Erlebensstrukturen herausfordert und diese Kommunikationsvertiefung im Glaubensbereich zur gemeinsamen Sache macht. Es bleibt bei all dem festzustellen: Auch und gerade im Umgang mit unterschiedlichen Beziehungsstrukturen bzw. mit deren psychoanalytischer Reflexion hat S. Freud in besonderer Weise auf Theologie aufklärend gewirkt. Nun ist Aufklärung aber als solche noch keine Handlungs strategie. Wer sich die unbewussten Determinanten seines Verhaltens bewusst macht, 127
kann seine mühsam erworbene Lebenseinstellung und Lebenshaltung noch lange nicht ändern - zumal wenn diese sich in einer Tätigkeit niederschlagen, die man in der Gesellschaft dringend braucht. Als ein aufklärerisch gestimmter, psychoanalytisch vorgebildeter Sozialarbeiter eine Diakonisse fragte: »Wissen Sie eigentlich, dass Ihr ganzes aufopferungsvolles Handeln eigentlich nichts anderes als eine Mischung aus verdrängter Sexualität, ausgeblendeter Aggressivität und narzisstisch unterlegtem Bemächtigungstrieb ist?«, antwortete diese: »Na und?« Diese Antwort ist jedenfalls entwaffnend, sie kann es aber aus verschiedenen Gründen sein. Einmal ist sie natürlich völlig naiv möglich. Es gibt genug Menschen, Christen, Theologen, die nicht im Traum daran denken, von S. Freud etwas lernen zu wollen. Das mag gerade den Pastoralpsychologen ärgern oder ungeduldig machen. Deutlich muss dennoch bleiben: Wenn der einzelne (Christen-)Mensch sich nicht leisten könnte, auf längst mögliche Einsichten und lebens erleichternde Erkenntnisse zu verzichten, wäre unser Zusammenleben vielleicht perfekter, aber sicher )>unmenschlich« farblos. Zum anderen ist die Antwort der Diakonisse aber auch souverän möglich. Dann hat sie von S. Freud gelernt, nicht nur über psychoanalytische Leistungsmöglichkeiten, sondern auch über ihr eigenes spezifisches Involviertsein in die Beziehungsabläufe mehr oder weniger Bescheid zu wissen. Sie hat auf Grund mühsam erworbenen, d.h. in engster Verbindung mit Selbsterfahrung erlernten Wissens mehr Entscheidungs- und Handlungsspielraum gewonnen. Anders gesagt: Von S. Freud zu lernen, heißt dann nicht, in Folge des bewusstseinserweiterten Prozesses nunmehr »ein ganz anderer« werden zu müssen. Von S. Freud zu lernen, kann auch heißen, sich neu für dasselbe Lebens- und Glaubenskonzept zu entscheiden, das das Verhalten bisher getragen hat, man muss ja weiter handeln. Mögliche Zurückhaltung - etwa bis zu jenem Zeitpunkt, an dem man bei S. Freud »ausgelernt« hat, geht nicht. Denn: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«. Gerade bei fortgesetzter Tätigkeit könnte für einen Theologen unter den heute gegebenen Bedingungen allerdings die Einsicht an Bedeutung gewinnen, dass dieses Tun immer dort an Menschen vorbeizugehen droht, wo auf die genannten bewusstseinserweiternden Erkenntnisse aus unreflektierten und aus sogenannten »Glaubens-Gründen« verzichtet wird. Theologisch begründetes Handeln unter diesem Aspekt kontinuierlich zu reflektieren und den sich dadurch erweiternden Handlungsspielraum faktisch zu nutzen, setzt freilich auch an dieser Stelle wiederum einen gezielten Differenzierungswillen und Differenzierungsaufwand voraus.
Schlussbemerkungen Was hat Theologie von S. Freud gelernt? Grundsätzlich kann Theologie von S. Freud immer nur dann lernen, wo es ihr nicht nur um die Aufhellung von 128
Zerrformen des Christentums geht, sondern wo kränkende Kritik an als selbstverständlich erlebtem religiösen Verhalten zu verarbeiten ist. Auf dieser Basis hat die Psychoanalyse das theologische Nachdenken darüber, wie ein Mensch sich auch und gerade »um Gottes Willen« wirklichkeitsnah verhalten kann, an einem zentralen Punkt befruchtet. Bei diesem Angelpunkt handelt es sich um die anthropologischen Zugänge zu der theologisch verwalteten Mit-Teilung einer sich selbst offenbarenden Wirklichkeit Gottes. Wir haben die Differenzierung des Verstehensvorgangs, die Differenzierung des Erfahrungsbegriffs und die Differenzierung der Handlungsvollzüge als mögliche Momente eines andauernden theologischen Lernprozesses bezeichnet. Über alle Einzelheiten hinaus finde ich freilich, dass ein Theologe von S. Freud dort am meisten lernen kann, wo dessen Grundeinstellung ihm vermittelt, dass jede Einsicht von heute zum Widerstand von Morgen gerinnen kann. Das gilt auch für die hoffentlich (d.h. auf Hoffnung hinaus!) wachsende Glaubenseinsicht. In diesem Sinn hat das Lernen immer wieder gerade erst begonnen. ll
11 Von den Herausgebern leicht redigierte Fassung eines frei gesprochenen Vortrags.
129
Anmerkungen zur neueren psychoanalytischen Religionspsychologie * Thesen 1. Religionspsychologie schließt grundsätzlich ein religionskritisches Moment ein und stellt so eine Herausforderung für den christlichen Glauben dar. Unmittelbares Ergriffensein weist die wissenschaftliche Reflexion dessen, was dabei geschieht, in einer spontanen Abwehrbewegung zurück. 1
*
Veröffentlichtin: PTh 84 (1995), 3-11. Die Differenzierung dieser Abwehrbewegung hat eine lange Tradition. Schon M. Luther kann die in diesem Kontext tätige Vernunft einerseits würdigen, spricht ihr aber andererseits die Fähigkeit zu wahrer Selbsterkenntnis völlig ab - zumal wenn es um die religiöse BefIndlichkeit des Menschen geht. So führt er in der »Disputation über den Menschen« von 1536 aus: »(I) Die Philosophie, die menschliche Weisheit, defIniert den Menschen als vernunftbegabtes, mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen. - (11) Vergleicht man ... die Philosophie oder die Vernunft selbst mit der Theologie, so wird sich zeigen, dass wir über den Menschen nahezu nichts wissen. - (40) Deshalb hält Paulus diese Reiche der Vernunft nicht einmal für wert, sie >Welt< zu nennen, sondern bezeichnet sie lieber als >Schemen der Welt< (lKor 7,31).« (Ausgew. Schriften 2, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, München 1982, 294, 297) - Das modifIziert z.B. F.D.E. Schleiermacher. In den >Monologen< von 1800 schreibt er unter dem Stichwort »Reflexionen« zunächst einschränkend: »Für den soll es kein Nachdenken und keine Betrachtung geben, der das innere Wesen des Geistes nicht kennt ...« Eben dieses Wesen erschließt sich dann aber in freiheitlicher Selbstbetrachtung: »Auf mich selbst muss mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu lassen als ein Teil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn herauszugreifen und in ein höheres, freieres Leben zu verwandeln.« Unter diesem Vorzeichen wird eine besondere Art von Reflexion dort legitim möglich und nötig, wo Ergriffenheit erlebt wird und sich auswirkt: »Es sagen die Künsder, indem du bildest und dichtest, müsse die Seele ganz verloren sein in das Werk und dürfe nicht wissen, was sie beginnt. Aber wage es mein Geist, trotz der verständigen Warnung!« (philosophische Schriften, hg. u. eingel. v. J. Rachold, Berlin 1983, 69, 71, 76) - Von hier aus ist es ein weiter und die Wahrnehmungseinstellung deutlich verändernder Sprung zu der lapidaren Feststellung von H.-J. Fraas: »Gegenstand der Religionspsychologie im herkömmlichen Sinn ist die Religiosität des Menschen: die religiöse Erfahrung und ihre Ausdrucksformen, das religiöse Verhalten des einzelnen und von Gruppen.« Die inhärente Spannung ist offensichtlich, wenn es in der Folge heißt: »Innerhalb der Theologie ist die Religionspsychologie unter dem Verdacht, den Glauben zu psychologisieren, weithin auf Skepsis bzw. auf Ablehnung gestoßen (Dialektische Theologie).« »Wenn Religiösität sowohl im christlichen als auch im außerchristlichen Rahmen als typisch menschliche Verhaltensweise bezeichnet wird (der Mensch als homo religiosus) ... « ist das auch nicht verwunderlich! (Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1990, 9, 11) Als Problemanzeige ist jeden-
130
Gefürchtet wird in diesem Kontext sofort eine Verbindung mit Feuerbaehsehen Intentionen: Wo Theologie war, soll Anthropologie werden. Genau dieses Postulat aber wird dann nicht nur unter philosophischem Vorzeichen als ein gefährliches, weil reduktionistisches Vorgehen empfunden und abgelehnt. - Reflexionen, die einen emotional so hoch-besetzten Bereich betreffen, werden zusätzlich als destruktiv erlebt und lösen so Unsicherheiten im Selbstwertgefühl aus. - Demgegenüber ist zunächst einmal der Doppelcharakter einer solchen Abwehrbewegung zu durchschauen: Alle psychische Abwehr schützt und engt zugleich ein. 2 Hier ist genau zu differenzieren, um daraufhin den >Schutz< als notwendig erachten oder aber die >Einengung< auf Grund irrationaler Ängste bemerken und gegen sie angehen zu können. - Die genannte Herausforderung besteht darin, »Angst und Glaube«3 so zu konfrontieren, dass in der Folge auch religionspsychologische Reflexionen nicht mehr als grundsätzliche Infragestellungen erlebt werden müssen, dabei aber durchaus ein religionskritisches Potential entfalten können. Einzuüben ist dabei »Ein neuer Umgang mit weltanschaulicher Kritik«!4 Religionskritik kann den überzeugten Christen naturgemäß irritieren, schmerzen und kränken. Sinnvoll sind solche Momente von Irritation, Schmerz und Kränkung allerdings nur, wenn sie auf Dauer innovativ wirken und aus glaubhafter Fremdkritik glaubensdifferenzierende Selbstkritik entsteht. 2. Tiefenpsychologische Religionspsychologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie (bei der Verankerung alles späteren Verhaltens in der Psychogenese) auch im Hinblick auf religiöses Erleben der spekulativen Größe >Unbewusstes< eine entscheidende Rolle zumisst. Daraufhin entsteht eine spezifische Konkurrenzsituation im Umgang mit dem Begriff >Transzendenztiefenpsychologischer< Ansatz bzw. seine >Psychoanalyse< ist ohne die Grundannahme eines >Unbewussten< nicht denkbar. 5 Das so Befalls zu beachten, was KE. Nipkow (in seinem Geleitwort zu ].W. Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991, 12) im Hinblick auf die Verhältnissetzung von Psychologie und Religiosität schreibt: »Psychologische, pädagogische und theologische Kriterien stehen in Spannung zueinander, gerade insofern sie miteinander verbunden werden müssen.« 2 Vgl. dazu J. Laplanche/].-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 21975,24, unter dem Stichwort »Abwehr«: »Gesamtheit von Operationen, deren Finalität darin liegt, jede ModifIkation einzuschränken oder zu unterdrücken, die geeignet ist, die Integrität und die Konstanz des biopsychologischen Individuums zu gefährden.« 3 Angst und Glaube, so der Titel eines Buches von O. Haendler, Berlin 1952. - Dort zusammenfassend (166): »Soweit wir Angst erfahren, muss der Glaube sich darin üben, sie als von Gott gesandt zu nehmen.« Damit ist gleichzeitig die Angstüberwindung in den verschiedensten Zusammenhängen als besondere Herausforderung gekennzeichnet. 4 Vgl. dazu das so überschriebene Kapitel in K Winkler, Werden wie die Kinder? Der Christenglaube und die Regression, Mainz 1992, 117 ff. 5 Vgl. zum Folgenden]. Laplanche/B. Pontalis, Vokabular, 562ff.
131
zeichnete ist allerdings vieldeutig, seine Verwendung im wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Zunächst ist mit dem Begriff >Unbewusstes< rein deskriptiv die Gesamtheit der im Bewusstseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte psychischen Erlebens gemeint. Dann muss die Auseinandersetzung zum einen bei der Frage einsetzen, ob eben diese Gesamtheit vor allem aus Triebrepräsentanzen bzw. aus verdrängtem psychischem Material besteht und die Psychogenese damit als eine individuelle Geschichte der Triebverdrängung bzw. Triebneutralisierung und -einpassung im Rahmen des sozialen Umfelds zu verstehen ist (5. Freud). - In Abhebung von dieser Hypothese kann auch angenommen werden, dass das Unbewusste vor allem von den alle Individualität übergreifenden >Archetypen< konstituiert und strukturiert ist und jede einzelne haltungsprägende Psychogenese stets auch zugleich die persönliche Verarbeitung kollektiver, d.h. umfassend menschheitlicher Größen einschließt. 6 - Bei all dem fragt sich dann aber zum anderen, ob sich die hypothetische Annahme eines Unbewussten im menschlichen Seelenleben im facherubergreifenden Disput der Humanwissenschaften als förderlich oder aber als hemmend (und die Tiefenpsychologie wissenschaftlich isolierend!) auswirkt. Der Gebrauch bzw. die Vermeidung des Begriffs >Unbewusst< erweist sich damit geradezu als ein >Politikum< im (psychologischen) Wissenschaftsbetrieb, wie im deutschen Raum der Neoanalytiker H. 5chulz-Hencke7 und der Neomarxist A. LorenzerB deutlich gemacht haben. 6 c.G. Jung beschreibt das sog. kollektive Unbewusste in Abhebung vom sog. persönlichen (in der Folge von Verdrängungsvorgängen entstandenen) Unbewussten so: »Darüber hinaus aber finden wir im Unbewussten auch die nicht individuell erworbenen, sondern vererbten Eigenschaften, also die Instinkte als die Antriebe zu Tätigkeiten, die ohne bewusste Motivierung, aus einer Nötigung erfolgen. Dazu kommen die apriori vorhandenen, d.h. angeborenen Formen der Ausschauung, der Intuition, die Arche!JPen von Wahrnehmung und Erfassung, welche eine unvermeidliche und apriori determinierende Bedingung aller psychischen Prozesse sind. Wie die Instinkte den Menschen zu einer spezifisch menschlichen Lebensführung veranlassen, so zwingen die Archetypen die Wahrnehmung und Anschauung zu spezifisch menschlichen Bildungen. Die Instinkte und die Archetypen der Anschauung bilden das kollektive Unbewusste. Ich nenne dieses Unbewusste kollektiv, weil es im Gegensatz zu dem oben definierten Unbewussten nicht individuelle, d.h. mehr oder weniger einmalige Inhalte hat, sondern allgemein und gleichmäßig verbreitet.« (Über psychische Energetik und das Wesen der Träume, Zürich 1953, 268f.) 7 Um jeder mit dem unbefangenen Gebrauch drohenden Ontologisierung des Begriffs zu wehren, will dieser Schüler und Kritiker S. Freuds das Wort unbewusst nur noch so gebrauchen, dass damit die »Gesamtheit aller Schwererinnerlichkeiten« bezeichnet wird. (Vgl. H. Schultz-Hencke, Der gehemmte Mensch, Stuttgart 21967,59.) 8 Vor allem zuerst in seiner Monographie »Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs«, Frankfurt a.M. 1972. - Später (Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt a.M. 1981) schreibt er im Hinblick auf die kritische Erschließung aller religiösen Mythen »Jenseits vom Rationalen« (11): »Psychoanalytische Theorie selbst muss für diese gesellschaftskritische Aufgabe in historisch-materialistischer Perspektive lesbar gemacht werden, um aus dem bloß negativen Begreifen
132
Bei näherem Hinsehen lässt die höchst unterschiedliche Deflnition des Begriffs >Unbewusstes< die jeweilige weltanschauliche Verankerung und Zuordnung deutlich erkennen. Viel undeutlicher aber ist und bleibt in diesem Kontext der Begriff >Transzendenzinnere Transzendenz< des Menschen, die Verankerung seines Erlebens, Denkens und Handelns im 8" enseits des Rationalen< ...« (womit ein emotionales, kein metaphysisches Jenseits gemeint ist!).9 Wesentlich unklarer kommt der Transzendenzbegriff in der sog. Komplexen Psychologie zu stehen: c.e. Jung kann in scheinbarer Unbefangenheit von >Bewusstseinstranszendenz< reden und damit einen im Rahmen der tiefenpsychologischen Methodik empirisch zugängigen Tatbestand meinen.1° Er kann aber auch alle christliche Doktrin als Ausdruck für das transzendent Psychische bezeichnen. tl Da allerdings die Transzendierungsvorgänge nach Jung grundsätzlich unabschließbar sind, entsteht eine merkwürdige Grauzone, die eine Abgrenzung zwischen psychologischen und theologischen Wahrnehmungseinstellungen und Zuordnungen kaum noch möglich erscheinen lässt. - Hier ist - auch im Hinblick auf alle tiefenpsychologisch vorgezeichnete Religionspsychologie! - entgegen Harmonisierungstendenzen eine klare Unterscheidung im weltanschaulichen Bereich und ein dementsprechendes Konkurrenzverhalten dort angezeigt, wo der Begriff >Transzendenz< entweder (tiefen-)psychologisch oder theologisch ins Spiel gebracht und damit einer höchst unterschiedlich vorgezeichneten Anthropologie zugeordnet wird. 1z Eine »Einführung in die Religionspsychologie«, die den tiefenpsychologischen Ansatz als eine Möglichkeit neben anderen abhandelt, rückt die damit verbundenen entscheidenden Fragestellungen kaum ins Blickfeld. 13 - Problembewusster reagiert in dieser Hinsicht B. Grom, wenn er in seiner »Religionspsychologie« von einer aufzuhebenden Spannung »Zwischen antipsychologischem Theologismus und anti-religiösem Reduktionismus« spricht. 14 Um eine solche Spannung aufzulösen, muss man sie zunächst einmal wahrnehmen, um sie daraufhin als eine innovative Größe innerhalb aller
des Unbewussten als Unbewussten, als dem >jenseits von Bewusstsein< herauszukommen, ohne dem ersatzreligiösen Irrationalismus eines kollektiven Unbewussten a la e.G. Jung zu verfallen. Das Unbewusste muss als gesellschaftlich hergestellt erkannt werden.« 9 A. Lorenzer, Konzil, 11. 10 Vgl. e.e. Jung, Mysterium Coniunctionis, Zürich 1955, 4. 11 Vgl. e.e.Jung, Aion, Zürich 1951, 253. 12 Vgl. dazu K. Winkler, Eduard Thurneysen und die Folgen für die Seelsorge, in: PTh 77 (1988), 444ff; bes. den Abschnitt »Ungeübtes Konkurrenzverhalten und Thurneysens Folgen für die Seelsorge«, 453ff. 13 Vgl. hierzu die in ihrer kurzen und plakativen Darstellung eher zu Kurzschlüssen verleitenden Ausführungen unter dem Stichwort »Tiefenpsychologie« bei N.G. Holm, Einführung in die Religionspsychologie, München/Basel 1990, 112ff. 14 Vgl. B. Gram, Religionspsychologie, Göttingen 1992, 370.
133
weltanschaulichen (und wissenschaftlichen!) Auseinandersetzung verstehen und auf konkurrierende Positionsmöglichkeiten beziehen zu können. So nämlich kann sie in >Spannung< zur Basis eines (selbst-)kritischen Instrumentariums geraten und am Ende auch gemeinschaftliche Zielvorstellungen verwirklichen helfen. 3. S. Freuds Religionspsychologie (und Religionskritik) ist heilsam einseitig. Damit beschränkt sie sich zwar selbst, sollte aber dennoch nicht im gegenabhängigen >religiösen Widerstand< stecken bleiben. Dass S. Freud mit L Feuerbach, K Marx und F. Nietzsehe in die Reihe der wichtigsten Religionskritiker in der Moderne einzuordnen ist, dürfte unstreitig sein. Kritik anzunehmen und auszuhalten, ist eine besondere Kunst! Vor allem liegt die Tendenz, Kritik entweder auf ein harmloses Nebengleis abzuleiten oder sich vor ihr gekränkt zurückzuziehen, dann besonders nahe, wenn die notwendige kritische Auseinandersetzung einen Punkt betrifft, der für das Selbstverständnis des einzelnen von zentraler Bedeutung ist. Religionskritik aber betrifft einen solchen zentralen Punkt, und S. Freud gilt auch gegenwärtig noch als besonders >herausfordernder< Religionskritiker. 15 Worum geht es dabei im einzelnen? Zunächst liegt eine besondere Herausforderung für den Theologen und denkenden Christen darin, dass S. Freud es in der Folge seines Begriffs von Wissenschaft für unvermeidlich hält, an der Religion Kritik zu üben. In diesem Kontext ist sie für ihn der »ernsthafte Feind«, wobei die Betonung durchaus auf >ernsthaft< liegt.16 Denn sie ist alles andere als zufällig oder funktionslosP7 In besonders eindrücklicher Weise stellt S. Freud weiter heraus, dass sich bei Religionsübungen und bei neurotischen Zwangshandlungen gemeinsame Wurzeln feststellen lassen. Sie liegen im Bereich der Triebregungen und deren Abwehr, lassen u.a. Schuldbewusstsein sowie Erwartungs- und Bestrafungsangst entstehen.1 8 Das psychoanalytisch-kritische Erklärungsmodell setzt sich fort, wo S. Freud in seiner Studie »Totem und Tabu« alle Religionsbildung mit einer >Grundszene< verbindet: es geht (konkret bezogen auf als real angenommene Zustände in einer mit Darwin vorausgesetzten >UrhordeAufhebung< des in diesem Kontext 15 Dazu besonders J. Scharfenberg, S. Freud und seine Religionskritik als Herausforderung für den christlichen Glauben, Göttingen 1968. 16 Vgl. S. Freud, Über eine Weltanschauung, GW XV, 170ff, bes. 172f. 17 So schreibt S. Freud: »Will man sich vom großartigen Wesen der Religion Rechenschaft geben, so muss man sich vorhalten, was sie den Menschen zu leisten unternimmt. Sie gibt ihnen Aufschluss über Herkunft und Entstehung der Welt, sie sichert ihnen Schutz und endliches Glück in den Wechselfällen des Lebens, und sie lenkt ihre Gesinnungen und Handlungen durch Vorschriften, die sie mit ihrer ganzen Autorität vertritt. Sie erfüllt also drei Funktionen.«, Weltanschauung, 174. 18 Vgl. dazu S. Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, GW VII, 131ff; »Die Zwangsneurose liefert hier ein halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion.«, 132.
134
naheliegenden >Vatermords< in die Gewissensbildung hinein, es geht bei all dem um die Verarbeitung einer fundamentalen Gefühlsambivalenz als Ausgangspunkt allen religiösen Erlebens und Verhaltens. 19 Das zentrale religionskritische Element ergibt sich jedoch aus S. Freuds psychoanalytischer Einsicht (eng verbunden mit seinem klassischen Werk »Die Traumdeutung«20), dass auch der realistischste Mensch von der Kindheit bis zum Greisenalter mit unerledigten Wünschen fertig werden muss. In Tag- und Nachtträumen setzt er ein Leben lang der alltäglichen Realität dieser Welt gezielt die Illusion einer anderen, einer >wünschenswerten< Befindlichkeit entgegen. Ihren deutlichsten Niederschlag findet diese Illusion in der Religion. Wenn aber (mit S. Freuds bleibendem Hang zur >Aufklärung< deutlich verbunden!) das individuelle Erwachsenwerden des Menschen an das bewusste Erleben von Ambivalenzgefühlen und dabei an die bewusstheitsfördernde Desillusionierung unabdingbar geknüpft erscheint, muss alle Religiosität mit einem über seine >notwendige< Zeit hinaus gehätschelten Infantilismus in eins fallen. 21 Religionskritik gipfelt deshalb für S. Freud in dem Postulat an jeden >aufgeklärten< Zeitgenossen: Verzichte auf deine emotional so fest verankerte Religiosität und werde geistig und psychisch erwachsen! Nun ist in der Tat leicht aufweisbar, dass S. Freuds Religionskritik sowohl unter philosophischen als auch unter psychoanalytischen Gesichtspunkten sehr einseitig angelegt ist und sich in ihrer Allgemeingültigkeit und Durchsetzungskraft damit selbst beschränkt. Gegen S. Freuds optimistische Hoffnung für die Zukunft der Menschheit (»Der Primat des Intellekts liegt gewiss in weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.«22) ist aus gegenwärtiger Sicht sicherlich einzuwenden, dass gegenüber einem zunehmenden Irrationalismus diese Grundeinstellung nicht mehr zu greifen scheint. Wenn sich schon eine philosophisch unterlegte Religionskritik als beständiger Stachel im Fleisch des Christentums erweisen sollte, dann doch schon eher diejenige des vom Antiintellektualismus ebenso beherrschten, aber unbestechlich abstrahierenden Wahrheits suchers F. Nietzsehe mit seinem ganz anders vorgezeichneten »Glauben an die Wissenschaft«!23 19 VgL zum Ganzen S. Freud, Totem und Tabu, GW IX. 20 S. Freud, Die Traumdeutung. Über den Traum, GW II/III. 21 VgL in: »Die Zukunft einer Illusion«, GW XIV, 323ff, zur geforderten Auflösung der illusionär religiösen Wunschwelt: »Gewiss wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befmden, er wird sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung. Er wird in derselben Lage sein wie das Kind, welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es so warm und behaglich war. Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss endlich hinaus ins >feindliche Lebendie Er.Regression< zusammen: Regression und >Rückzug< werden nicht mehr mit bloßem Ausweichen vor der erwachsenen Realitätsbewältigung gleichgesetzt, sondern als maligne und benigne Verhaltensmöglichkeiten unterschieden und im positiven Fall in Verbindung mit kreativen Möglichkeiten gebracht. 24 Des weiteren aber hat die sog. Narzissmusdebatte in jüngerer Zeit im Rahmen einer weiterentwickelten >Selbstpsychologie< veränderte Denkansätze vermittelt. 25 - Hinzuweisen ist auch auf den Einfluss der Erkenntnisse von D. W. Winnicoltj der unter den Stichworten »intermediärer Raum« und »Übergangsobjekt« im Rahmen seiner Forschungen zu frühesten Kindheitsstadien neue Zugangsmöglichkeiten zu Entstehung des Subjekt-Objekt-Erlebens eröffnet und damit gleichzeitig die Herausbildung religiöser Erfahrungen in einem neuen Licht zeigt.26 Als Paradigma für die Integration der neuen psychoanalytischen Ansätze in den logischen Diskurs kann H.-G. Heimbrocks Arbeit gelten. Die wesentlichen Veröffentlichungen zum Thema (u.a. in den letzten Jahrgängen »Wege zum Menschenerledigtandere Welt< bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt unsre Welt - verneinen? ... Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metapf?ysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht ...« Eben diese Bestimmung wird dann von F. Nietzsche als ihrerseits irrtums- und lügenträchtig noch weitergehend hinterfragt (198). 24 Dazu vor allem M. Balint, Therapeutische Aspekte der Regression, Stuttgart 1970 (= Regression. Therapeutische Aspekte und die Theorie der Grundstörung,1987; vergriffen). 25 Als Einstieg vgl. H. Kohut, Narzißmus, Frankfurt a.M. 1977; zur Debatte um das neue Konzept vgl. Psychoanalytisches Seminar Zürich, Die neuen Narzißmustheorien: zurück ins Paradies?, Frankfurt a.M. 1981. 26 Vgl. einführend D.W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1973. - Lit. zur Entwicklung der Re1igionspsychologie und -kritik seit Freud findet sich bei F. Meerwein, Psychoanalytische Schriften (nach S. Freud) zur religiösen Thematik, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts XV, Zürich, 1979, 166f. Vgl. H.-G. Heimbrock, Phantasie und christlicher Glaube. Zum Dialog zwischen Theologie und Psychoanalyse, München 1977.
136
erweist: Die mit ihm aufgeworfenen Fragestellungen bleiben bestehen. Vor allem aber gerät in der alltäglichen Praxis das Glaubensverhalten des einzelnen nach wie vor im Sinne einer malignen Regression zum Ausweichmanöver vor der (individuell vielleicht überfordernden) Realitätsbewältigung, so dass zumindest eine Frage immer wieder gestellt werden sollte: ob die Ablehnung der Freud'schen Religionskritik einer tatsächlichen inneren Auseinandersetzung entspricht oder ob sie lediglich im Dienste der Abwehr zum Tragen kommt, wenn ein vorhandener angstbedingter Infantilismus >aus Glaubensgründen< weitergehend verteidigt werden muss. 4. c.G. Jungs Zuordnung von Tiefenpsychologie und Religiosität entspricht einer weltanschaulichen Umarmungstaktik, die zugleich fasziniert und entdifferenziert. Vorausgesetzt werden muss zunächst eine Klärung des Begriffs >Umarmungstaktikweltanschauliche Umarmungstaktik< ein charakteristisches Epiphänomen des tiefenpsychologischen Ansatzes bei c.G. Jung. Im schroffen Unterschied zur äußerst religionskritischen Psychoanalyse Freuds wirkte und wirkt sich dieser ganz offensichtlich >entspannend< für die Verhältnissetzung psychologischer und religiöser Positionen aus. Ja, er scheint die Arbeit der Theologen oft geradezu zu bestätigen.27 Nach c.G. Jungs dezidierter Aussage sollten Tiefenpsychologen und Seelsorger zum Wohle der leidenden Menschen in der Praxis kooperieren. 28 Ein völlig neuer Ton wird angeschlagen! Für Theologen - besonders für die Pastoralpsychologen unter ihnen! - geht von der Komplexen Psychologie c.G. Jungs etwas >VerbindendesEinladendes< oder sogar >Notwendiges< aus, das sie fasziniert und ihrem (theologischen) Nachdenken über Gott und die Welt zweifellos neue Impulse zu vermitteln vermag. 29 Es 27 So etwa wenn c.G. Jung formuliert: »Die Archetypen des Unbewußten sind empirisch nachweisbare Entsprechungen der religiösen Dogmen.« (psychologie und Alchemie, Zürich 1944, 32.) 28 Vgl. dazu c.G. Jung, Die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, Zürich 1932. 29 Ein frühes Beispiel für diese Faszination und Impulsvermittlung ist der Praktische Theologe und Pionier der Pastoralpsychologie O. Haendler. In seinem klassischen Werk »Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen«, Berlin 1941, schreibt er z.B.: »Wer von der Theologie herkommend und in ihr verwurzelt die Psychologie nicht nur literarisch erarbeitet, sondern als Schicksal erfahren hat, ist in die Lage versetzt, beide Gebiete als Wirklichkeiten mit ihren befreienden und bedrängenden Mächten erleben zu dürfen - und zu müssen.« (VIII) Und dann später: »Jungs bedeutsamste Entdeckung ist die Herausarbeitung des kollektiven Unbewussten neben dem persönlichen Unbewussten. Im kollektiven Unbewussten ist die gesamte urgründig tiefe und weite Erfah-
137
scheint, als ob unter zwei einander freundlich ergänzenden Aspekten die letzthinnig ja unzweifelhaft eine Wirklichkeit gemeinsam besser - und das bedeutet: in neuer >TiefeZeichen< ab und schreibt dann: »Das S... setzt immer voraus, dass der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand ist.« Kurz gefasst: Sonst Unaussprechliches wird in unübertrefflicher Weise dargestellt,30 An anderer Stelle heißt es: »Der Ort oder das Medium der Verwirklichung (sc. des Menschen) ist weder der Stoff noch der Geist, sondern jenes Zwischenreich subtiler Wirklichkeiten, das einzig durch das Symbol zureichend werden kann. Das Symbol ist weder abstrakt noch konkret, weder rational noch irrational, es ist jeweils beides ... «31 - Natürlich ist P. Tilliehs theologisch reflektierte Ontologie nicht einfach mit ce. Jungs ontologischem Ansatz »esse in anima«32 gleichzusetzen! Natürlich bildet eine entscheidende Differenzierung den Hintergrund, wenn P. Tillieh z.B. schreibt: »Gebraucht man das Wort >Vater< als Symbol für Gott, so wird die Vaterschaft in ihrer theonomen, sakramentalen Tiefe gesehen. Man kann nicht willkürlich aus einem Ausschnitt säkularer Wirklichkeit ein religiöses Symbol >machenUnbewusste< wird (im Gegensatz zu S. Freuds Selbstverständnis, die >Aufklärung< fortzuführen 36 und der entsprechenden Intention c.e. Jungs folgend) an einen romantischen Traditionsstrang angebunden. Dass die Komplexe Psychologie - verbunden mit ihrem schillernden Transzendenzbegriff (s.o.) - eine >letzte OffenheitZwischenreich subtiler Wirklichkeiten< einräumt, wird (bei etlicher theologischer Kurzschlüssigkeit!) mit der Konstatierung eines >Mysteriums< gleichgesetzt. Dann werden >Symbole< allerdings nicht nur zu >Brücken zum UnbewusstenEigentlichen< verbinden und damit die nur scheinbaren Gegensätze zwischen einer theologisch und tiefenpsychologisch vorgezeichneten Anthropologie harmonisierend einebnen. Der Kreis schließt sich, wo unter diesen bestimmten Voraussetzungen in aller Regel ein bestimmtes >Wunschdenken< zum Tragen kommt. Es manifestiert sich in dem gegenwärtig geradezu inflationär erklingenden und offensichtlich sehr wirksamen Ruf nach >Ganzheit< im Erleben und Handeln auf den verschiedensten WissenschaftsgebietenY Hier nun muss tiefenpsychologisch wie theologisch gesehen auf Gefahren für den Emanzipationsprozess des einzelnen und der Gesellschaft aufmerksam gemacht werden: Die alte Sehnsucht nach Ganzheit kann einem mit Nostalgie besetzten Mythos, einer >Hoffnung< unter regressivem Vorzeichen entsprechen. Die entsprechende Phantasie wird von symbiotischen Wünschen unterwandert. Statt der nüchternen Fähigkeit, Individualität (auch und besonders im Glauben!) so frei und >ich stark< wie möglich zu erleben, wird die Partizipation am kollektiven Daseinsgefühl gefördert. Die fruchtbare Spannung, die unabdingbare Konflikthaftigkeit innerhalb der menschlichen Daseinsgestaltung erscheint damit aufgehoben. Gerade das aber bedeutet bei näherem Hinsehen nicht Fortschritt, sondern eine (ideologisch verbrämte) Ausblendung der wirklichen und wirksamen antinomischen Struktur menschlichen Lebens und Zusammenlebens unter den jetzt (zwar unter eschatologischem Vorzeichen stehenden, aber immer noch) wirksamen Daseinsbedingungen. Anders gesagt: Weltanschauliche Umarmungen im Rahmen ebenso >toleZweckmäßigkeit, aber Symbole wachsen oder sterben. Sie sind abhängig von der Wechselbeziehung zwischen dem, für das sie Symbol sind und dem, was sie symbolisieren. Deshalb kann das religiöse Symbol nur dann ein wahres Symbol sein, wenn es an der Mächtigkeit des Göttlichen partizipiert, auf das es hindeutet.« (283) - Dieser Abschnitt könnte durchaus auch aus eG. Jungs Feder stammen! 36 V gl. dazu vor allem J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1973, bes. 300ff und dort speziell 309. 37 Vgl. hierzu K. Winkler, Die ernüchterte Phantasie vom ganzen Menschen, in: Wort und Dienst, N.F. 21, Bielefeld 1991, 305ff.
139
ranter< wie >vernünftiger< Harmonisierungsbestrebungen können zwar zur Entspannung führen, dabei gleichzeitig aber ein folgenreiches Ausweichverhalten sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch im Glaubensbereich darstellen. 38 5. Auch im Rahmen der Religionspsychologie kann die psychoanalytische Wahrnehmungseinstellung dort am ehesten zur Herausforderung für den christlichen Glauben geraten, wo die theologische Bestimmung des >extra nos< ihrerseits gegenüber aller Humanwissenschaft einen herausfordernden Charakter bekommt. Es ist davon auszugehen, dass innerhalb der neueren psychoanalytischen Religionspsychologie die präodipalen Zuordnungs- und Erklärungsmodelle einen neuen Verstehenshorizont eröffnen. 39 Wie (in den Erläuterungen zu These 3) schon gesagt ist aber ebenfalls davon auszugehen, dass damit religionskritische Fragestellungen zwar an Differenziertheit zunehmen, jedoch durchaus nicht als aufgehoben betrachtet werden sollten. Wird doch mit den neueren Erkenntnissen eine funktionalistische Betrachtungsweise der Religion unter rein psychologischem Vorzeichen mitnichten relativiert oder gar ausgesetzt! Sehen wir recht, so ist es gerade dieser (in der Tat nicht mehr grobschlächtig religionsabweisende, sondern zugewandt differenzierende) Funktionalismus, der die wachen Gegner eines psychologischen Zugangs zum christlichen Glauben auf den Plan ruft. Gefürchtet wird nach Ganzheit< ist einer der populärsten Grundbegriffe der Bewegung ...«, 32. - Und: »Ganzheit wird als Vereinigung von Außen und Innen, Profanem und Heiligem, als >Synthese aller Widersprüche< ... und damit als Überwindung destruktiver Dualismen ... begriffen, verbunden mit einem neuen Nachdenken.«, 33. 39 VgL dazu etwa schon die ältere Arbeit von F. Meerwein, Neuere Überlegungen zur psychoanalytischen Religionspsychologie, in: E. Nase/]. Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse und Religion, Darmstadt 1977, 343ff sowie Meerweins bereits angeführten Aufsatz in »Die Psychologie des 20. Jahrhunderts« (Anm. 26) mit dem besonderen Hinweis aufD.W. Winnicott. - Dem Psychoanalytiker Meerwein geht es darum aufzuweisen, dass unter Voraussetzung der Narzissmustheorie die theologische Rede vom >extra nos< psychoanalytisch gesehen eine unabdingbar notwendige Funktion erfüllt: Da die frühkindlichen Größenphantasien zunächst auf die als >allmächtig< erlebten Elternfiguren projiziert werden können, dann aber bei unausweichlichen >Ent-Täuschungen< zurückgenommen werden müssen, würde das Zurückfluten unrealistischer Größenvorstellungen in die eigene >kleine< Psyche zwangsläufig deren Verarbeitungsmöglichkeiten und Grenzen sprengen und damit zur Psychose führen. Es sei denn, diese die Einzelseele gefährdenden Inhalte können auf eine Größe >extra nos< geworfen werden und damit auf Dauer einem >Gegenüber< zugeordnet sein. 40 VgL dazu R. Riess, Seelsorge. Orientierung, Analysen, Alternativen, Göttingen 1973, dort 40ff das Kapitel »Muster eines Mißverhältnisses II: Auslieferung«. Hier heißt es: »Ein Konflikt, wie er mit der Konkurrenz gegeben ist, wird nicht selten so gelöst, dass man die inhärente Ambivalenz zugunsten eines Aspekts auflöst.«, 40.
140
wäre gleichzeitig jede herausfordernde Spannung eingeebnet. Das >kritische Gegenüber< löste sich in ein Kompensations- oder Kooperationsmodell hinein auf. So aber fiele ein wesentliches Postulat aller theologischen Zusammenarbeit mit den an Religion interessierten Psychologen aus, das von J. Schaifenberg und H. Kämpfer so formuliert wurde: »Unserer Meinung nach sollte es nicht nur eine psychologische Religionskritik, sondern auch eine religiöse Psychologiekritik geben.«41 Eben diese religiöse Psychologiekritik kann auf die Bestimmung eines für alle theologische Aussage konstitutiven >extra nos< weder verzichten noch dessen grundlegende Bedeutsamkeit ins allgemein Unverbindliche hinein verflüchtigen! Im kritischen Gegenüber zu allem zeitgemäß dem Wissensstand entsprechenden psychologischen >Verstehen< religiöser Phänomene ermöglicht erst die konsequente Voraussetzung eines >extra nos< das, was man lebendigen Glauben nennen kann: In, mit und unter aller (pastoral-)psychologischen Einsicht und Erkenntnis kommt eine ebenso existentielle wie persönlichkeits spezifische Betroffenheit zum Tragen, die das denkende, fühlende und handelnde Individuum bei all seinem Verhalten gleichzeitig veranlasst, im Hinblick auf sein Dasein zu staunen, zu danken und zu bitten. 42 Ein in diesem Kontext bestimmtes >extra nos< muss freilich weiteres Nachdenken sowohl über den Erfahrungs- als auch über den Offenbarungsbegriff der religionspsychologisch reflektierenden Theologen provozieren. Im gegebenen Rahmen müssen hier Hinweise genügen. - So muss im Hinblick auf die theologische Verwendung des Begriffs >Erfahrung< deutlich sein, dass es nicht darum gehen kann, in undifferenzierter Gemeinsamkeit mit einer sich selbst als empirische Wissenschaft verstehenden Psychologie von einer >im Grunde< allgemein zugänglichen >religiösen Erfahrung< zu sprechen. Denn - so schreibt E. Herms mit Recht -: »Wenn die Gegenstände der theoriefahigen E. auf den Bereich der Sinnes affektionen eingeschränkt werden, dann fallt der Gegenstand der Theologie (der Glaube an die Offenbarung in Jesus Christus) jedenfalls aus diesem Bereich heraus, und Theologie kann daher keine E.swiss. sein.«43 - Der Bezug zum >extra nos< und zu einem die (religions-)psychologischen Erkenntnisse kritisch begleitenden Verhalten scheint indessen gewahrt, wenn D. Lange ausführt: »Die Mitteilung von Erfahrung führt also auch und gerade im Bereich des Glaubens zu keiner Sicherheit gewährenden Eindeutigkeit, sondern bleibt dem Zweifel ihrer Glaubwürdigkeit ausgesetzt.«44 So gesehen 41 VgL]. Scharfenberg/H. Kämpfer, Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung, Freiburg i.Br. 1980, 80. 42 Verbunden mit der christlichen Symbolik lässt sich diese Trias leicht auf die drei Artikel des Glaubensbekenntnisses beziehen und damit in den Vorstellungsbereich transponieren. 43 VgL E. Herms, Art. Erfahrung, EKL 1, Göttingen 31986, 1067ff, 1071. 44 VgL D. Lange, Erfahrung und die Glaubwürdigkeit des Glaubens, Tübingen 1984, 103.
141
wird alle >religiöse Erfahrung< in der Tat zu einer gebrochenen Erfahrung: Unter dem besonderen Aspekt der unbedingten Annahme eines >extra nos< kann es bestenfalls darum gehen, in bestimmter Weise »Erfahrung mit der Erfahrung« als ein herausfordernd kritisches Element in die Auseinandersetzung einzubeziehen. 45 Ebenso muss im Hinblick auf den Begriff >Offenbarung< deutlich sein, dass mit ihm eine Herausforderung der Theologie an die Psychologie verbunden ist und verbunden bleiben muss. K Barths Christozentrismus auch in diesem Kontext ist gerade von Religionspsychologen beklagt und bemängelt worden. 46 Tatsächlich entspricht er einer Verkürzung! Diese betrifft möglicherweise den kognitiven theologischen Diskurs als solchen, mit Sicherheit aber den Bereich des emotionalen Zugangs zum Glauben. Für diesen möglichst breitgefächerten Zugang bleibt es wesentlich wichtig, dass >Anknüpfungspunkte< in der individuellen >weltanschaulichen< Plausibilitätsstruktur nicht ein »von anderswo mitgebrachtes anthropologisches Konzept« repräsentieren und damit die eigentliche Offenbarung in Jesus Christus konterkarieren. 47 In dieser Beziehung ist die Einseitigkeit der >Dialektischen Theologie< sicher nicht fortzuschreiben! Diese Position und Einsicht sollte nicht ausschließen, gerade seitens der Religionspsychologen (und Pastoralpsychologen) in K Barths christozentrischem Offenbarungspositivismus den bleibend wichtigen Hinweis zu entdecken, gegenüber den Humanwissenschaften das >extra nos< und die mit ihm notwendig verbundene Rede von der Offenbarung dort kritisch und selbstkritisch ins Spiel zu bringen, wo >sympathische< Harmonisierungstendenzen durchschlagen und die Theologie gegenüber der Psychoanalyse ihren herausfordernden Charakter einbüßt.
45 Vgl. dazu E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 31978, XIII: »Die für den christlichen Glauben kennzeichnende Erfahrung, die es erlaubt, Gott als Geheimnis der Welt zu denken und zu erzählen, ist eine durch das Wort vom Kreuz ermöglichte Erfahrung mit der Erfahrung. Sie ist dadurch ausgezeichnet, dass in ihr alle gemachten und noch zu machenden Erfahrungen des Wirklichen, ja das Erfahren selbst noch einmal erfahren werden, weil sie im Horizont der - am Kreuz Christi besiegten, gerade dadurch aber denkbar gewordenen - Möglichkeit des Nichtseins begegnen.« 46 Vgl. an dieser Stelle nochmals H.-J. Fraas, Religiosität. 47 Vgl. K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV, 1, 98ff: »Das Sein des Menschen in Jesus Christus«, bes. 127, wo es weiter heißt, die christliche Botschaft sei »... dann und nur dann verstanden, wenn es gesehen und verstanden ist und bleibt, dass sowohl das göttliche Urteil und die göttliche Weisung als auch die göttliche Verheißung der Zukunft des menschlichen Seins nicht nur allein in J esus Christus '!iftnbart sondern allein in ihm auch wirklich, Ereignis, also ganz und gar, noetisch nicht nur, sondern auch ontisch in ihm beschlossen, ja mit ihm identisch ist.«
142
Ist es vernünftig, psychoanalytisch von Gott zu reden?* Hinführung
Wenn es darum geht, nicht nur hereditär, situativ, sondern zeitübergreifend vernünftig von Gott zu reden, kommt es für H. Braun vor allem auf ein Doppeltes an: Es ist ihm wichtig, »die Implikationen der Gesprächslage [zu] analysieren, in der die Frage nach Gott gestellt wird, und sich die Lebensformen und Sprachregeln klarzumachen [die >Sprachspiele< im Sinne Wittgensteins], von denen die Gesprächspartner ausgehen«. Und er fordert dazu auf, »Verhältnisse der Verständigung [zu] schaffen, in denen der Disput die dem Thema angemessene Form des Diskurses erreicht«.! Über den Rahmen der Religionsphilosophie hinausgehend, erhalten diese Postulate dort eine wichtige Funktion, wo Religionspsychologie fast durchgehend mit Religionskritik in eins fällt: in der Psychoanalyse. - Zu fragen ist deshalb, ob und in welcher Weise die Forderungen H. Brauns auch in diesem Kontext konstruktiv zum Tragen kommen und der andauernden Auseinandersetzung dienlich sein können. Dieser Frage soll in den folgenden Reflexionsgängen nachgegangen werden.
1. Zur unterschiedlichen Relationalität von Religion und Vernutift Der Gebrauch des Begriffes Vernutift in Theologie und Psychoanalyse hat in der Tat jeweils ganz andere Implikationen und spiegelt sehr deutlich voneinander unterschiedene Lebensformen und Sprachregeln wider. Das ergibt schon ein Vergleich entsprechender Aussagen von M. Luther und S. Freud, die im gegebenen Zusammenhang als prototypisch für die protestantische Theologie einerseits und für die klassische Psychoanalyse andererseits bezeichnet werden können. In seiner Disputation über den Menschen von 1536 kann M. Luther die tätige Vernunft zwar als »das Beste im Vergleich mit den übrigen Dingen des Le-
* Veröffentlicht in: T. Holzmüller/K.N. Ihmig (Hg), Zugänge zur Wirklichkeit. Theologie und Philosophie im Dialog, Bielefeld 1997,205-214. 1 Vgl. H. Braun, Vernünftig von Gott reden. Probleme gegenwärtiger Religionsphilosophie, in: M. Klessmann/K. Lückel (Hg.), Zwischenbilanz: Pastoralpsychologische Herausforderungen. Zum Dialog zwischen Theologie und Humanwissenschaften, Bielefeld 1994, 111. 143
bens und geradezu etwas Göttliches« charakterisieren und das menschliche Geschöpf durch sie vom Tier abgehoben sehen. Das gilt aber einzig und allein für den irdischen und sterblichen Menschen! Wenn es um dessen religiöse Befindlichkeit geht, spricht ihr der Reformator jede Fähigkeit zur Selbsterkenntnis völlig ab. 2 Damit relativiert sich alle Vernunft hinsichtlich der religiösen Befindlichkeit, erhält eine untergeordnete Funktion, wird zu einer Begabung neben anderen. Bei S. Freud sind zunächst die Begriffe Vernunft, Intellekt, wissenschaftliche Logik unbefangen synonym gebraucht. Sie entsprechen bei solch einer Sprachregelung aber jedenfalls dem unüberbietbar höchsten Gut des Menschen: »Es gibt keine Instanz über der Vernunft.«3 - Zwar wird der Religion in diesem Kontext in herausragender Weise Beachtung geschenkt! Jede religiöse Befindlichkeit erscheint im Hinblick auf die alles dominierende Vernunftinstanz aber relativiert. Sie erhält eine ebenso erklärbare wie »vorläufige« Funktion: Je weitergehend der Mensch in der Lage ist, auf den infantilisierenden Einfluss der Religion zu verzichten, desto menschlicher wird die allgemeine Lage. Religion relativiert Vernunft versus Vernunft relativiert Religion! Die Prägung der (Er-)Lebensform durch das eine oder das andere (Denk-) Modell muss zu Disputen fuhren, die von dem gesteuert sind, was man »existentielle Verlustangst«4 nennen konnte Mit der Aufgabe seines inneren 2 Vgl M. Luther, Disputation über den Menschen, in: M. Luther, Ausgew. Schriften 2, hg von K. Bornkamm u. G. Ebeling, München 1982, 293ff. Hier heißt es u.a.: »(1) Die Philosophie, die menschliche Weisheit, defIniert den Menschen als vernunftbegabtes mit Sinnen und Körperlichkeit ausgestattetes Lebewesen - (11) Vergleicht man [...] die Philosophie oder die Vernunft selbst mit der Theologie, so wird sich zeigen, daß wir über den Menschen nahezu nichts wissen. - (40) Deshalb hält Paulus diese Reiche der Vernunft nicht einmal für wert, sie >Welt< zu nennen, sondern bezeichnet sie lieber als >Schemen der Weltmn-endlichen« Anstrengungen in seiner Lebenswelt herausfordernden Wunschvorstellung. Er muss sich in der Folge dieser (offensichtlich ganz und gar nicht fruchtlosen) Anstrengungen sogar den 7 Vgl. C. Laseh, Das Zeitalter des Narzißmus, München 21995. 8 Unter Hinweis auf D. Rapaport, Die Struktur der psychoanalytischen Theorie, Stuttgart 31973, verstehen wir unter »Verhalten« die strukturierte Gesamtheit der seelischen, geistigen und körperlichen Tätigkeiten eines Menschen. 9 Neben dem Sammelband von W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, vgl. in diesem Kontext vor allem M. Auge, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a.M. 1994. 10 Vgl. A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1970. 11 Zum Ambivalenzproblem vgl. E. Otscheret, Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit, Heidelberg 1988, mit der Aussage: »[...] das Akzeptieren der eigenen Widersprüchlichkeit bedeutet einen schmerzhaften Abschied von der Idealvorstellung.«, 153. 12 Diese narzisstische Herausforderung wird von H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Berlin 1980, nicht in Rechnung gestellt, wenn er die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Hinweis auf eine von vornherein untergeordnete »Entsprechung des Menschen zu Gott hin« auslegt und daraus folgert: »Demnach ist das Entsprechungsverhältnis, auf das die Wendung >Bild Gottes< hinweist, zuerst darin zu sehen, dass der Mensch im Hören und dann auch im Gehorchen und im Antworten dem Worte der Anrede Gottes entspricht.«, 149f.
146
buchstäblich tödlichen Vorwurf der Sünde gefallen lassen Es sei denn, er unterwirft sich der Gnade seines bleibenden »Gegenübers« Gott und gibt damit seinen narzisstischen Anspruch auf, d.h. delegiert alle menschlichen Größenvorstellungen an den einzig allmächtigen Gott. Die Rede vom Narzissmus in dieser Form erfordert vom einzelnen Individuum eine spezifische Auseinandersetzung. Diese führt entweder zu einem anthropozentrischen oder einem theozentrischen »Glaubensbekenntnis«: Es gilt, sich alternativ für eine Lebenseinstellung zu entscheiden, die sich entweder als in sich stimmige Selbstverantwortung oder als fremdbestimmte Geborgenheit charakterisieren lässt. Im Sprachspiel der Psychoanalyse ist die wirkliche Rede vom Narzissmus zunächst eine von internen Kontroversen um die eigenen Grundannahmen bestimmte Rede. Sie spiegelt eine basale Ambivalenz wider: Für S. Freud und seine Nachfolger im engeren Sinne bedeutet bis zum heutigen Tag die »Einführung des Narzißmus« eine Modifumtion jener anthropologischen Grundbestimmung, die den Menschen als ein aus der bleibenden Unbewusstheit approximativ zur Bewusstheit durchdringendes Lebewesen beschreibt, das sich aus der Spannung zwischen Triebbestimmtheit und Realitätsbezug heraus konstituiert. - Für den um zwei Generationen von S. Freud entfernten Psychoanalytiker H. Kohut und seine Anhänger ist der Narzissmus im Rahmen der sog. »Selbstpsychologie« eine von allem Triebgeschehen und den entsprechenden Anpassungsvorgängen unabhängige Größe. Narzisstisches Erleben reguliert danach das sensible Eigenwertempfinden eines Individuums, das in der Folge seiner Erlebensgeschichte zwischen (illusionärer) Selbstüberschätzung und (unabgegrenztem) Versagensgefühl hin und her schwankt. Unabhängig von diesen kontroversen psychoanalytischen Einstellungen zu einer wesentlichen menschlichen Verhaltenskomponente korrespondiert nun aber die psychoanalytische Rede vom Narzissmus jedenfalls der psychoanalytischen Rede von Gott. Und unabhängig von der Bestimmung des Narzissmus im einzelnen Kontext besteht eine für unseren Kontext wichtige anthropologische Kontroverse um die Frage: Ist die »Rede vom Narzissmus« eine die »Rede von Gott« ersetzende oder eine die »Rede von Gott« bestätigende Rede? Liest man eine der neuesten Veröffentlichungen zum Thema »Religionskritik«, so zeigt sich geradezu überdeutlich die Absicht, mittels auf den Narzissmus verweisender Erklärungsmuster die »Rede von Gott« zu ersetzen: Der renommierte Narzissmusforscher H. Henseler legt mit seiner Monographie Religion - Illusion? eine hochinteressante psychoanalytische Deutung religiösen Erlebens vor,13 Deren Basisannahme lautet: Der Mensch hält es aus narzisstischen Gründen und Bedürfnissen heraus nicht aus, die großen 13 VgL H. Henseler, Religion - Illusion? Eine psychoanalytische Deutung, Göttingen 1995.
147
und bleibenden Geheimnisse dieser Welt als solche stehen zu lassen: »Das sind im kognitiven Bereich die ungelösten, unlösbaren Rätsel des WoherWohin-Wozu unserer Existenz. Das sind emotional die Erfahrungen des drohenden Chaos, des Bösen von Schuld und von Tod.«14 Deshalb braucht er die Religion im Sinne eines »Übergangs objekts« im Sinne V.V. Winnicotts: 15 »So muss die Religiosität notgedrungen ein Übergangsphänomen bleiben, nicht ein Wunschtraum also, aber auch nicht der Ausdruck der Erfahrung einer äußeren, gar transzendenten Realität, sondern eine Deutung des Unbegreiflichen, die dem Leben des Gläubigen einen Sinn verleiht.«16 Die Folgen sind fatal! Religion setzt einen Entschuldigungsprozess in Gang, in dem die »Rede von Gott« zwar vom Bewusstsein her einen zentralen Platz hat. Vom Unbewussten her aber wird diese Rede zum Vehikel der Desintegration. Das Böse wird vom Gläubigen nicht verarbeitet, sondern in aller Regel abgespalten. Die Schuld wird (aller geschichtlichen Erfahrung mit gelebter Religion nach) hauptsächlich bei anderen gesucht oder von ihrer Ursache her in einem »Reich des Bösen« angesiedelt: »Betrachten wir den Umgang der Gläubigen mit dem Bösen. Impulse von Hass, Neid, Verachtung, Grausamkeit, Begierde werden als von außen kommend verstanden, als Einflüsterungen des Teufels, als Heimsuchung durch Dämonen, als Versuchung >des Bösenesse in anima