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German Pages 177 [178] Year 2017
Michael Schreiber Grundlagen der Übersetzungswissenschaft
Romanistische Arbeitshefte
Herausgegeben von Volker Noll und Georgia Veldre-Gerner
Band 49
Michael Schreiber
Grundlagen der Übersetzungs wissenschaft Französisch, Italienisch, Spanisch 2., aktualisierte und erweiterte Auflage
ISBN 978-3-11-047016-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047017-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047041-3 ISSN 0344-676X Library of Congress CataloginginPublication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und buchbinderische Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort zur ersten Auflage An deutschsprachigen Einführungen in die verschiedenen Ansätze der Übersetzungswissenschaft sowie an praktischen Lehrbüchern zum Übersetzen herrscht gewiss kein Mangel. Das vorliegende Arbeitsheft, das sich primär an Studierende und Lehrende in den Studiengängen für Übersetzen und Dolmetschen sowie an einschlägig interessierte RomanistInnen richtet, unterscheidet sich von anderen Einführungen und Lehrbüchern vor allem in den folgenden Punkten: Es ist sprachbezogen, ohne sich auf ein einziges Sprachenpaar zu beschränken, denn es bezieht sich auf drei romanische Sprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch) sowie auf das Deutsche (als Vergleichsgrundlage). Und es konzentriert sich auf ausgewählte Grundlagen aus drei Themenbereichen: Das erste Kapitel ist den historischen Grundlagen gewidmet und bietet einen Abriss der Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis in Frankreich, Spanien und Italien mit einführenden Bemerkungen zur Übersetzung in der Antike und gelegentlichen Ausblicken auf die Frankophonie und auf Hispanoamerika. Kapitel 2 gilt den theoretischen Grundlagen der modernen Translationswissenschaft (Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft). Der Schwerpunkt liegt auf französisch-, italienisch- und spanischsprachigen Autoren, welche in deutschsprachigen Einführungen ansonsten oft nur am Rande oder gar nicht behandelt werden. Ansätze aus der deutsch- und englischsprachigen Translationswissenschaft werden vergleichend herangezogen. Translationswissenschaftliche Vorkenntnisse sind für die Lektüre dieses Kapitels nicht notwendig. Das dritte Kapitel befasst sich mit Grundlagen der sprachenpaarbezogenen Übersetzungswissenschaft (unter gelegentlicher Einbeziehung des Dolmetschens) und zeigt anhand zahlreicher Beispiele sprachlich bedingte Probleme der romanisch-deutschen und innerromanischen Übersetzung auf. Elementare sprachwissenschaftliche Kenntnisse werden dabei vorausgesetzt. Alle Kapitel enthalten gezielte bibliographische Hinweise sowie Arbeitsaufgaben, die zu einer vertiefenden Beschäftigung mit der Materie anregen sollen. Französische, italienische und spanische Zitate werden aus Platzgründen nicht vollständig übersetzt, aber im Text paraphrasiert oder kurz zusammengefasst, damit die Argumentation auch für solche LeserInnen stets nachvollziehbar ist, die nicht alle dieser Sprachen passiv beherrschen. Das Arbeitsheft basiert in großen Teilen auf Vorlesungen und Seminaren zur allgemeinen und romanischen Übersetzungswissenschaft, die ich in den vergangenen Jahren in Heidelberg, Stuttgart, Graz, Innsbruck, Köln und Germersheim gehalten habe. Für dieses Arbeitsheft wurde der Stoff komplett überarbeitet und aktualisiert. Die Gliederung orientiert sich z.T. an meinem Übersichtsartikel „Translation“ im Lexikon der Romanistischen Linguistik (Schreiber 2001a). Dort finden sich auch
VI � Vorwort zur ersten Auflage
bibliographische Hinweise zu weiteren romanischen Sprachen, die ich im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht behandeln konnte. Für die kritische Lektüre von Teilen des Manuskriptes danke ich sehr herzlich Heidi Aschenberg (Heidelberg), Wolfgang Pöckl (Innsbruck), Lorenza Rega (Triest) sowie Sylvia Reinart und Holger Siever (Germersheim). Den Herausgebern der „Romanistischen Arbeitshefte“, Volker Noll und Georgia Veldre, danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe sowie für die problemlose Zusammenarbeit, Volker Noll darüber hinaus für konstruktive Hinweise zur Konzeption und Ausführung des vorliegenden Arbeitsheftes. Dieses „ersetzt“ den nicht mehr neu aufgelegten Band Linguistik und Übersetzung meines Lehrers Jörn Albrecht, dessen Lehrveranstaltungen und Publikationen ich mehr verdanke, als dies aus den Literaturverweisen in den folgenden Kapiteln deutlich wird. Germersheim, im März 2006
Vorwort zur zweiten Auflage Für die zweite Auflage dieses Romanistischen Arbeitsheftes wurde die im Vorwort zur ersten Auflage beschriebene Konzeption beibehalten. Da seit dem Erscheinen der ersten Auflage gut zehn Jahre verstrichen sind, wurden alle Kapitel einer Überarbeitung und Aktualisierung unterzogen. Es versteht sich von selbst, dass hierfür die relevante Sekundärliteratur nicht exhaustiv ausgewertet werden konnte, auch wenn der Umfang des Arbeitsheftes deutlich zugenommen hat. Mehrere Teilkapitel wurden neu aufgenommen: „Äquivalenz“ (2.4), „Translationsethik“ (2.5), „Korpusbasierte Translationswissenschaft“ (2.9), „Phraseologie“ (3.7) und „Rhetorik“ (3.11). Germersheim, im November 2016
Inhaltsverzeichnis � Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis � 1 �.� Antike � 1 �.� Französischer Sprachraum � 3 �.� Spanischer Sprachraum � 18 �.� Italien � 26 �.� Bibliographische Hinweise � 36 Aufgaben � 38 � �.� �.� �.�
Grundfragen der Translationswissenschaft � 41 Etablierung des Faches � 41 Das Problem der Übersetzbarkeit � 45 Übersetzungsmethoden – Übersetzungsverfahren – Übersetzungsprozess � 48 �.� Äquivalenz � 55 �.� Translationsethik � 57 �.� Literarische Übersetzung und Fachübersetzung � 59 �.� Audiovisuelle Übersetzung � 66 �.� Maschinelle und computergestützte Translation � 68 �.� Korpusbasierte Translationswissenschaft � 73 �.�� Dolmetschwissenschaft � 75 �.�� Didaktik � 81 �.�� Bibliographische Hinweise � 88 Aufgaben � 90 � �.� �.� �.� �.� �.� �.� �.� �.� �.� �.�� �.�� �.��
Sprachenpaarbezogene Translationswissenschaft � 93 Phonetik und Phonologie � 94 Graphetik und Graphemik � 98 Morphologie und Morphosyntax � 101 Wortbildung � 104 Lexikalische Semantik � 108 Onomastik � 113 Phraseologie � 115 Partikelforschung � 116 Syntax � 118 Textlinguistik und Pragmatik � 124 Rhetorik � 131 Varietätenlinguistik � 133
X � Inhaltsverzeichnis
�.�� Bibliographische Hinweise � 139 Aufgaben � 140 Literatur � 143
� Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis Der folgende Abriss der Übersetzungsgeschichte im französisch- und spanischsprachigen Raum sowie in Italien kann keine Vollständigkeit für sich beanspruchen. Er soll vor allem das Verständnis dafür wecken, wie stark die in einer Kultur vorherrschenden Übersetzungsmethoden historisch geprägt sind. Behandelt wird die Zeit vom Mittelalter bis ins 19. Jh., da in dieser Periode Übersetzungspraxis und -theorie untrennbar miteinander verknüpft sind – ergänzt durch einen einführenden Blick auf die Antike (ohne den man die europäische Übersetzungsgeschichte nicht verstehen kann) und einen Ausblick auf die Übersetzungspraxis im 20. und beginnenden 21. Jh. Die moderne Translationswissenschaft, die als nunmehr eigenständige wissenschaftliche Disziplin weniger eng mit der praktischen Übersetzungstätigkeit verbunden ist, wird in Kap. 2 behandelt. Die Geschichte des Dolmetschens, die schon aus rein praktischen Gründen weniger gut dokumentiert ist als die des Übersetzens, kann nur in Ansätzen erfasst werden. Die Beschreibung ist möglichst allgemeinverständlich gehalten und setzt lediglich historisches Grundwissen, aber keine übersetzungstheoretischen Vorkenntnisse voraus. Die beschriebenen Übersetzungsmethoden werden dabei relativ grob mit vorwissenschaftlichen Kategorien wie frei vs. wörtlich (d.h. sinngemäß vs. formgetreu) bzw. einbürgernd vs. verfremdend (d.h. an die Normen der Zielsprache und Zielkultur angepasst vs. an den Normen von Ausgangssprache und Ausgangskultur ausgerichtet) klassifiziert.1
�.� Antike Auch eine noch so knappe Skizze der romanischen Übersetzungsgeschichte ist wenig sinnvoll ohne einen – wenn auch nur selektiven – Blick auf die antiken Übersetzungen ins Lateinische und die daraus hervorgehenden Übersetzungstheorien, denn einige Autoren dieser Zeit werden in den folgenden Jahrhunderten (z.T. bis heute) immer wieder zitiert. Die Übersetzungstheorien drehen sich meist um die Unterscheidung frei vs. wörtlich. In Bezug auf die Übersetzungspraxis sind zwei Phasen zu unterscheiden: die römischen Übersetzungen aus dem Griechischen und die frühen christlichen Übersetzungen. Aus der ersten Phase sei hier zunächst Cicero erwähnt. Cicero wird oft zitiert als jemand, der sich angeblich für ein freies, sinn-
�� 1 Zu einer differenzierteren Klassifikation von Übersetzungsmethoden vgl. Schreiber (1993, 66ff.).
2 � Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis
gemäßes Übersetzen ausgesprochen habe. Angeführt wird meist das folgende Zitat, das ich hier in deutscher Übersetzung wiedergebe: Ich habe also die herausragendsten Reden übersetzt, die die beiden wortgewaltigsten attischen Redner, Aischines und Demosthenes, gegeneinander gerichtet haben. Und ich bin dabei nicht wie ein Dolmetscher [interpres], sondern wie ein Redner [orator] vorgegangen, unter Wahrung des Sinnes und der Form, gewissermaßen der Redefiguren, aber in einer Ausdrucksweise, die unserer eigenen Sprache angemessen ist. Dabei hielt ich es nicht für nötig, Wort für Wort wiederzugeben, sondern ich habe die Ausdrucksmittel insgesamt und ihre Wirkung [...] beibehalten. (Cicero, zit. nach Albrecht 1998, 54)
Cicero beschreibt hier im Rahmen seiner Schrift De optimo genere oratorum lediglich, was er mit den Reden zweier griechischer Rhetoren gemacht hat. Ob man mit fremdsprachigen Reden oder anderen Ausgangstexten generell so verfahren soll, sagt er nicht. Überhaupt ging es ihm wahrscheinlich gar nicht um einen Beitrag zur Übersetzungstheorie, wie Albrecht betont: „Es ging ihm um Rhetorik, nicht um Übersetzung“ (Albrecht 1998, 56). Von den Nachfolgern Ciceros sei hier lediglich noch ein weiterer wichtiger Autor erwähnt: der Rhetoriker Quintilian, der den Begriff der imitatio (Nachahmung) geprägt hat. Damit ist keine textgetreue Übersetzung gemeint, sondern eine freie Bearbeitung. Dies war in der römischen Literatur sehr üblich: Viele literarische Werke beruhten mehr oder weniger stark auf griechischen Vorlagen. Neben der reinen Nachahmung empfiehlt Quintilian sogar eine Verbesserung des Originals: An die Stelle der einfachen künstlerischen Nachahmung (imitatio) tritt die Nacheiferung, die Rivalität, der Wettstreit (aemulatio, certamen), so daß nicht nur ein Werk von gleichem Wert und gleicher Wirkung wie das Original geschaffen werden soll, sondern, wenn möglich, etwas Besseres [...]. (Kloepfer 1967, 24)
Aus der Periode der christlichen Übersetzungen der Spätantike ragt ein Vertreter hervor, dessen Übersetzungstheorie und vor allem dessen wichtigste Übersetzungsarbeit (die seit dem 16. Jh. als offizielle lateinische Version der Bibel anerkannte Vulgata) Jahrhunderte lang nachwirkten: der heilige Hieronymus (ca. 342–420). Auch von Hieronymus wird immer das gleiche Zitat angeführt (hier in der bei Störig abgedruckten deutschen Übersetzung): Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist –
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nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke. (Hieronymus 1973, 1)2
Auch Hieronymus beschreibt an dieser Stelle lediglich seine eigene Vorgehensweise. „Modern“ hieran ist jedoch, dass er gewissermaßen schon eine „textsortenbezogene Übersetzungstheorie“ vertrat: die Bibel habe er Wort für Wort übersetzt (schließlich handele es sich um das Wort Gottes), andere Texte habe er sinngemäß wiedergegeben. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es aus der Antike auch bereits Hinweise auf die Tätigkeit von Dolmetschern gibt. Die frühesten, rudimentären Zeugnisse stammen aus dem alten Ägypten. Ein wenig genauer weiß man über das Dolmetschen im alten Rom Bescheid: Für den Staat waren Dolmetscher bei offiziellen Kontakten mit ausländischen Vertretern wichtig – zum einen aus praktischen Gründen, zum anderen aber auch, weil die Römer das Griechische und die Barbarensprachen aus Prestigegründen nicht verwendeten. So wurde auch dort, wo wegen der Kenntnis der Fremdsprache ein Dolmetscher eigentlich überflüssig gewesen wäre, mitunter ein solcher eingeschaltet, um auf diese Weise die Distanz zu den Barbaren zu vergrößern und das eigene Prestige zu erhöhen. (Kurz 1986, 217)
Ein weiteres wichtiges Aufgabengebiet war das Heeresdolmetschen, das auch den Einsatz bei Friedensverhandlungen umfasste (Kurz 1986, 218f.) und somit eine frühe Vorform des modernen Konferenzdolmetschens war. Interessanterweise gab es auch bereits in der Antike schon verschiedene Dolmetschmodi. Die übliche Form des Dolmetschens war das Konsekutivdolmetschen. Als Variante ist bereits eine Form belegt, die Wiotte-Franz als Sukzessivdolmetschen bezeichnet und die man heute als Relais-Dolmetschen bezeichnen würde: „Das Sukzessivdolmetschen wandte man an, wenn keine Dolmetscher vorhanden waren, die die Sprache des Auftraggebers und des Adressaten beherrschten. In diesen Fällen mussten Zwischendolmetscher eingeschaltet werden“ (Wiotte-Franz 2001, 162).
�.� Französischer Sprachraum Ein aus übersetzungsgeschichtlicher Sicht nicht uninteressantes Phänomen liegt darin, dass die überlieferte französische Sprachgeschichte mit mehrsprachigen Texten beginnt. Dies ist kein Zufall: Die Emanzipation einer Volkssprache geht oft den Weg über mehrsprachige Texte. Der erste überlieferte „französische“ Text sind bekanntlich die Straßburger Eide (842). Hierbei handelt es sich um Eidesformeln, die zwei Enkel Karls des Großen, Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche, geschworen �� 2 Achtung: nicht die erste, fehlerhafte Auflage von Störig (1963) verwenden!
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hatten, um sich gegen ihren Bruder Lothar zu verbünden. Die Brüder schworen in der jeweils anderen Sprache: Ludwig der Deutsche auf „Französisch“ (bzw. Romanisch) und Karl der Kahle auf Deutsch. Eingebettet sind die volkssprachlichen Formeln in einen auf Latein verfassten Bericht. Aufgrund dieser mehrsprachigen Kommunikationssituation spricht Baum von der „Geburt des Französischen aus dem Geist der Übersetzung“ (Baum 1995). Auch andere frühe Sprachdenkmäler, nämlich die Reichenauer Glossen und die Kasseler Glossen, die lateinisch-romanische bzw. germanisch-romanische Wortgleichungen enthalten, zeugen von der Notwendigkeit des Übersetzens in einer Situation, in der sich das Französische deutlich vom Lateinischen entfernt hatte und in der es Kontakte zu germanischsprachigen Sprechergruppen gab. Wir machen nun einen Sprung von ca. 400 Jahren ins 13. Jh. In dieser Zeit entstand die erste französische Bibel, eine anonyme Kompilation. Eine größere Verbreitung als diese Bible du XIIIe siècle erreichte jedoch Guyart des Moulins‘ Bible Historiale, die nicht auf der Vulgata, sondern auf einer freieren lateinischen Bibeladaptation beruht. Sie entstand im letzten Jahrzehnt des 13. Jh. und war noch bis ins 16. Jh. verbreitet (vgl. Bogaert 1991, 25ff.) Als die erste wirkliche Blütezeit der Übersetzung in Frankreich gilt das 14. Jh. In dieser Zeit bildet sich zum ersten Mal ein Berufsbild des Übersetzers heraus, und zwar des Übersetzers am Hofe eines Monarchen (vgl. Pöckl 2006a). Der aus sprachgeschichtlicher Sicht bedeutendste Übersetzer dieser Zeit war Nicole Oresme, der im Auftrag Karls des Weisen, des bedeutendsten Mäzens von Übersetzungen seiner Zeit, u.a. Werke von Aristoteles (in der Regel über lateinische Zwischenversionen) in die französische Volkssprache übersetzte und das Französische um ca. 450 Fachausdrücke bereicherte (vgl. Dotoli 2010, 58), welche er oft durch ein bedeutungsähnliches volkssprachliches Wort zu erklären versuchte: Der Übersetzer führt einen Latinismus ein und „erklärt“ ihn im Anschluß durch ein volkssprachliches Wort, das das Verständnis des mot savant erleichtern sollte. So finden wir bei Oresme agent et faiseur, puissance auditive ou puissance de oïr, velocité et hastiveté [...] (Albrecht 1995, 21)
Nach Ansicht von Albrecht haben Oresme und seine Zeitgenossen (wie Pierre Bersuire) somit viel zur „Relatinisierung“ des Französischen beigetragen. Eine ausgearbeitete Übersetzungstheorie gab es im Mittelalter noch nicht. Die Vorworte der Übersetzer sind die wichtigsten Quellen einer übersetzerischen Methodenreflexion, welche sich meist auf die oben erwähnten Autoritäten wie Hieronymus stützt, wobei im Bereich der literarischen Übersetzung Bekenntnisse zur Wörtlichkeit überwiegen (die sich bei näherem Hinschauen oft als Lippenbekenntnisse entpuppen). In den Vorworten von Übersetzungen nichtliterarischer Texte finden sich dagegen nicht selten Hinweise darauf, dass der Übersetzer den Text gezielt an die Bedürfnisse eines breiteren Publikums anpassen wollte (vgl. Buridant
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1983, 111ff.), denn Fachleute benötigten keine Übersetzungen, da sie Latein verstanden. Die frühen Fachübersetzungen aus dem Lateinischen ins Französische waren daher immer auch Popularisierungen. Häufig wurden Übersetzungen auch vorgelesen, denn Lesen konnte ja damals nur eine kleine Minderheit (vgl. Nies 2009, 23). Außerdem sei daran erinnert, dass es in Frankreich nicht nur Übersetzungen ins Französische gab, sondern auch ins Okzitanische, speziell ins Provenzalische, das aufgrund des Prestiges der provenzalischen Troubadourlyrik im Mittelalter eine hoch angesehene Literatursprache war. Buridant erwähnt in diesem Zusammenhang den als eine der ersten romanischen Grammatiken bekannten Donatz proensals, eine im 13. Jh. in Italien entstandene provenzalische Adaptation der lateinischen Donatus-Grammatik aus dem 4. Jh. (vgl. Buridant 1983, 95). Aus dem 13. Jh. stammt auch die älteste erhaltene okzitanische Übersetzung des Neuen Testaments. Wenden wir uns nun dem 16. Jh. zu. In diesen Zeitraum fallen mehrere Ereignisse, die für die Geschichte der Übersetzung von Bedeutung sind: Eine wichtige technische Rahmenbedingung für die Verbreitung von Übersetzungen (wie natürlich auch von anderen Büchern) war die endgültige Umstellung von der Handschrift auf den Buchdruck, die im 16. Jh. erfolgte. Die Ausstrahlung der Renaissance auf Frankreich wirkte sich u.a. auf die Auswahl der Ausgangssprachen bzw. Ausgangstexte aus. Während des Mittelalters war das Lateinische die dominierende Ausgangssprache. Nun kamen zwei weitere wichtige Ausgangssprachen hinzu: das Griechische, das im Mittelalter nur eine untergeordnete Rolle spielte (griechische Autoren, wie Aristoteles, wurden vorwiegend in lateinischen Übersetzungen gelesen) und das Italienische. Aufgrund der zentralen Bedeutung Italiens in der Renaissance stieg die Zahl der Übersetzungen aus dem Italienischen im Laufe des 16. Jh. deutlich an, und die italienische Sprache und Kultur eroberte nicht nur Lyon, das als Tor zu Italien galt, sondern auch Paris (vgl. Balsamo 1998, 90). Eine der tragischsten Figuren der Übersetzungsgeschichte war der Buchdrucker und Übersetzer Etienne Dolet (1508–46), der aufgrund der Bücher der von ihm gedruckten Autoren (u.a. Erasmus von Rotterdam) und seiner eigenen Schriften mehrmals wegen Ketzerei angeklagt wurde. Zum Verhängnis wurde ihm ein kleiner Zusatz in einer Platon-Übersetzung, der angeblich die Unsterblichkeit der Seele in Frage stellte: Aufgrund dieser „ketzerischen“ Übersetzung wurde Dolet am 3. August 1546 verbrannt. Dolet ist jedoch nicht nur wegen seines Lebenslaufes bemerkenswert, sondern er war auch der erste bedeutende Übersetzungstheoretiker Frankreichs. In seiner kleinen Abhandlung La manière de bien traduire d’une langue en aultre aus dem Jahre 1540 (abgedruckt in Cary 1963) stellte Dolet fünf Regeln für eine gute Übersetzung auf. Die ersten drei sind aus heutiger Sicht wenig spektakulär: Es ging dabei um das Verständnis des vollen Textsinns des Originals, um die ausgezeichnete Beherrschung von Ausgangs- und Zielsprache sowie um die Vermeidung von Wort-für-Wort-Übersetzungen. Besonders wichtig im historischen Kontext ist die vierte Regel:
6 � Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis
Le quatrième principe énoncé par Dolet est remarquable. Il met en regard les langues jeunes de son époque, dites vulgaires, et les grandes langues de l’antiquité classique, pour conseiller de ne pas se laisser envoûter par la richesse, la finesse, la variété de la langue de l’original et de suivre „le commun langage“. (Cary 1963, 12)
Der Übersetzer sollte sich also möglichst gemeinverständlich ausdrücken und sich nicht an den Strukturen der Ausgangssprache orientieren. Konkret hieß dies insbesondere Vermeidung von lexikalischen und syntaktischen Latinismen (ähnlich hatte sich Dolets Zeitgenosse Luther geäußert). Die fünfte Regel ist ebenfalls relativ modern und bezieht sich auf die Beachtung der stilistischen Regeln der Zielsprache. Der seinerzeit berühmteste Übersetzungspraktiker war jedoch nicht Dolet, sondern Jacques Amyot (1513–93). Amyot übersetzte vor allem aus dem Griechischen. Er wurde insbesondere wegen seines klaren und verständlichen Stils gelobt. In inhaltlicher Hinsicht passte Amyot seine Übersetzungen deutlich an die Zielkultur an. In der Übersetzung des griechischen Schäferromans Daphnis und Chloe von Longos findet sich z.B. eine Modernisierung der Esskultur: „Chez Amyot, les lits de feuillage sur lequel on mange allongé deviennent des sièges“ (Mounin 1955, 135). Wegen seiner kulturell einbürgernden Übersetzungsmethode wurde Amyot von späteren Kritikern als Vorgänger der so genannten belles infidèles (s.u.) eingestuft. Zu einer positiven Einschätzung kommt der französische Übersetzungswissenschaftler Antoine Berman, der die einbürgernden Übersetzungsverfahren am Beispiel von Amyots Plutarch-Übersetzung als Dienst am Leser versteht: „En d’autres termes, Amyot francise, modernise et explique [...] le texte de Plutarque, évidemment pour le rendre plus accessible au lecteur français de son époque“ (Berman 2012, 185). Das 16. Jh. hat jedoch im Schatten von Amyot auch weniger prominente Berufsübersetzer hervorgebracht: Einer der produktivste Übersetzer seiner Zeit war Gabriel Chappuys, der ab 1576 bis Ende des Jahrhunderts im Durchschnitt fünf Übersetzungen pro Jahr publizierte und in dieser Zeit allein für 30% der Übersetzungen aus dem Italienischen verantwortlich zeichnete (vgl. Duché/Uetani 2015, 377ff.). Im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation entstanden im französischen Sprachraum ferner zwei getrennte Traditionslinien der Bibelübersetzung (vgl. Albrecht 2006, 1397): eine reformatorische (beginnend mit den Übersetzungen von Lefèvre d’Etaples, 1530, und Olivétan, 1535) und eine katholische (beginnend mit der Bible de Louvain, 1550). Bibelübersetzungen haben in den katholisch geprägten romanischen Ländern allerdings nie eine vergleichbare Wirkung auf die Zielsprache gehabt wie Luthers Bibelübersetzung auf das Deutsche oder die King-James Bibel auf das Englische (vgl. Bogaert 1991, 249). Mit der Funktion von Übersetzungen für die Zielsprache und -kultur befasste man sich jedoch schon in der Übersetzungstheorie, allerdings bezogen auf literarische Übersetzungen. Der bekannteste Gegner von Übersetzungen im engeren Sinn war der Pléiade-Dichter Joachim du Bellay (1522–60), der in seiner programmati-
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schen Schrift La deffence et illustration de la langue françoyse die Ansicht vertrat „Que les Traductions ne sont suffisantes pour donner perfection à la Langue Françoyse“. Statt dessen empfahl er im Anschluss an Quintilian die imitatio (Nachahmung) (vgl. Aschenberg 1994, 136). Als „Gegenspieler“ Du Bellays kann Jacques Peletier du Mans (1517–82) genannt werden, der in seinem Art Poëtique (1555) Übersetzungen, und dabei insbesondere das Verfahren der Lehnübersetzung als Mittel der sprachlichen Bereicherung empfahl: „Les traduccions quand eles son bien faites, peuvet beaucoup anrichir une Langue. Car le Traducteur pourra fere Françoese une bele locucion Latine ou Grecque“ (zit. nach Delisle 2007, 80). Obwohl Peletier du Mans hier nur die klassischen Sprachen als Quelle nennt, haben auch Übersetzungen und Bearbeitungen aus dem Italienischen die französische Sprache und Kultur bereichert: Peletier selbst übersetzte (neben Du Bellay, Ronsard, Marot u.a.) Sonette Petrarcas. Durch Übersetzungen und Nachahmungen sind zahlreiche Italianismen (gemeinsam mit den bezeichneten Sachverhalten) ins Französische gelangt, so z.B. nicht nur die Gedichtform Sonett als solche, sondern mit ihr auch der Terminus sonnet (Erstbeleg 1537). Gerade im Petrarkismus zeigt sich im Übrigen, wie eng Übersetzung und Nachahmung miteinander verbunden waren (vgl. Cernogora et al. 2015, 1113). Fast zeitgleich beginnt übrigens in einem völlig anderen Kontext die kanadische Übersetzungsgeschichte: 1534 entführte der Seefahrer Jacques Cartier zwei Irokesen nach Frankreich, um sie auf seiner nächsten Expedition als Dolmetscher einsetzen zu können (Delisle 1998, 356). Diese Form der „Ausbildung“ von Dolmetschern war für Eroberungs- und frühe Kolonialzeit durchaus charakteristisch. Fazit zum 16. Jh.: Die Übersetzung steht hier in Frankreich oft im Dienst der sprachlichen und kulturellen Bereicherung, da sich noch keine festen sprachlichen und literarischen Normen im Französischen entwickelt haben. Das sieht im 17. Jh. ganz anders aus. Das 17. und z.T. auch noch das 18. Jh. gelten im Allgemeinen als Blütezeit der belles infidèles. Diese Bezeichnung geht auf eine Bemerkung zurück, die der Gelehrte Gilles Ménage angeblich über eine Übersetzung des bekanntesten Vertreters dieser Übersetzungsmethode gemacht hat: Nicolas Perrot d’Ablancourt (1606–64). Das oberste Prinzip der Übersetzungen dieses Typs war die absolute Anpassung an den goût classique, den sie gleichzeitig mit prägten und konsolidierten (vgl. Zuber 1968). Dies implizierte sprachliche und kulturelle Einbürgerungen verschiedenster Art. Als eklatantestes Beispiel zitiert Stackelberg die folgende, offenkundig im Hinblick auf das Pariser Salonpublikum vorgenommene „galantisierende“ Hinzufügung in Perrot d’Ablancourts Tacitus-Übersetzung (Germania): nam primum in omnibus proeliis oculi vincuntur (denn als erstes werden in allen Kämpfen die Augen besiegt) car les yeux sont vaincus les premiers en guerre comme en amour. (zit. nach Stackelberg 1972, 48)
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Nach Perrot d’Ablancourts eigener Aussage sollte dieser Zusatz „égayer la pensée de l’auteur“, also Tacitus gewissermaßen „aufpeppen“. Umgekehrt wurden jedoch Stellen, die als anstößig oder auch einfach nur langweilig empfunden wurden, in Übersetzungen dieses Typs gestrichen oder umschrieben. Perrot d’Ablancourt äußerte sich selbst zu diesem Verfahren in der Widmung zu seiner LukianÜbersetzung (1654). Weggelassen oder geändert habe er u.a. Stellen mit pädophilem Inhalt sowie Verweise auf klassische Texte: Toutes les comparaisons tirées de l’amour, parlent de celuy des Garçons, qui n’estoit pas étrange aux mœurs de la Grece, et qui font horreur aux nostres. L’Auteur alegue à tous propos des vers d’Homère, qui seroient maintenant des pédanteries, sans parler des vieilles Fables trop rebâtües, de Proverbes, d’Exemples et de Comparaisons surannées, qui feroient à présent un éfet tout contraire à son dessein; car il s’agit icy de Galanterie, et non pas d’érudition. Il a donc falu changer tout cela, pour faire quelque chose d’agréable; autrement, ce ne seroit pas Lucien; et ce qui plaist en sa Langue, ne seroit pas suportable en la nostre. (Perrot d’Ablancourt 1972, 184f.)
Es ist sicherlich kein Zufall, dass das Zeitalter des Absolutismus und die sprachlichen und literarischen Normierungsbestrebungen im 17. Jh. mit der Dominanz einer einbürgernden, an den Normen der Zielkultur und den Geschmack der Leserschaft orientierten Übersetzungsmethode zusammenfielen: C’est le nombrilisme de la société de Louis XIV et sa volonté d’être le phare de l’Europe qui ont donné la priorité au lecteur français du XVIIe siècle, et non plus à l’auteur classique. Mais c’était aussi rendre service à cet auteur que de créer les conditions les plus favorables à son intégration dans le Grand Siècle. (Balliu 2002, 36)
Im Übrigen waren die belles infidèles nicht nur für die Rezeption der entsprechenden Autoren in Frankreich ausschlaggebend, sondern auch für Rezeptionsvorgänge in anderen europäischen Ländern, da sie oft als Vorlage für „Übersetzungen aus zweiter Hand“ dienten (vgl. Kap. 1.4). Trotz des ausgeprägten Normbewusstseins wurden die belles infidèles im eigenen Land keineswegs kritiklos hingenommen. Zwiespältig ist die Haltung von Antoine Lemaistre – neben dem Bibelübersetzer Lemaistre de Sacy einer der wichtigsten Übersetzer der Jansenisten-Hochburg Port-Royal –, der 1656 zehn Règles de la Traduction françoise formulierte. Die erste Regel beginnt mit einem geradezu paradoxen Bekenntnis zu Wörtlichkeit und sprachlicher Einbürgerung: La première chose à quoi il faut prendre garde dans la traduction françoise, c’est d’être extrêmement fidèle et littéral, c’est-à-dire, d’exprimer en notre langue, tout ce qui est dans le latin & et de le rendre si bien, que si, par exemple, Cicéron avoit parlé en notre langue, il eût parlé de même que nous le faisons parler dans notre traduction. (zit. nach Balliu 2002, 139)
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Auch Gaspard de Tende formuliert in seiner Abhandlung De la traduction (1660) Übersetzungsregeln, die einander z.T. widersprechen: So fordert er sowohl die Anpassung der Syntax des Zieltextes an die klassische Norm als auch die Bewahrung der stilistischen Eigenart des Originals (vgl. Schneiders 1995, 40). Eindeutiger ist Pierre Daniel Huets lateinisch geschriebene zweibändige Abhandlung De interpretatione (1661; 31683), die neben einer Darstellung berühmter Übersetzer (in Bd. 2: De claris interpretibus) eine eigene Theorie über die beste Art des Übersetzens (in Bd. 1: De optimo genere interpretandi) mit einer in ungewöhnlich scharfer Form vorgetragenen Kritik an der damaligen Übersetzungspraxis enthält:3 „[...] aliud est enim [...] ornate scribere; aliud accurate interpretari“ [...], „schön und gefällig schreiben ist nicht dasselbe wie genau übersetzen“, schrieb Pierre Daniel Huet den Übersetzern seiner Zeit ins Stammbuch [...]. (Albrecht 1998, 69)
Huet plädierte für eine „höhere Wörtlichkeit“, die Abweichungen von der Wort-fürWort-Übersetzung nur dann zulässt, wenn aufgrund der Strukturen von Ausgangsund Zielsprache keine wörtlichere Wiedergabe möglich ist. Wenn auch dieser Aspekt von Huets Theorie konservativ erscheinen mag, so ist eine andere Aussage aus heutiger Sicht geradezu modern zu nennen: Huet wollte nämlich die Kunst des Übersetzens (ars interpretandi) als eigenständige, „freie Kunst“ etablieren (vgl. DeLater 2002, 20f.). Er kann damit gewissermaßen als Vorläufer von Theoretikern des 20. Jh. angesehen werden, die sich für eine eigenständige Disziplin „Übersetzungswissenschaft“ eingesetzt haben (vgl. Kap. 2.1). In der Übersetzungspraxis wurde relative Originaltreue vor allem bei Übersetzungen erreicht, die im Kloster Port-Royal entstanden. Berühmtheit erlangte die Bible de Port-Royal von Lemaître de Sacy. Gedruckt wurde zunächst im belgischen Mons das Neue Testament (1667), das nicht nur auf der Vulgata, sondern auch auf den griechischen Originaltexten beruhte, was zu Konflikten mit der katholischen Kirche führte. Für die Übersetzung des Alten Testaments wurde daher ausschließlich die Vulgata herangezogen (vgl. Bogaert 1991, 147). Die Bible de Port-Royal blieb bis ins 18. Jh. die maßgebliche französische Bibelübersetzung. In Port-Royal entstand im Übrigen auch die erste französische Koranübersetzung von André Du Ryer (1647) (vgl. Placial et al. 2014, 480ff.). Wie facettenreich das Zeitalter der belles infidèles war, zeigt sich auch in der Tatsache, dass es nun auch erste Schritte zu einer geregelten Dolmetscherausbildung gab, und zwar zunächst für den Kontakt mit dem Orient:
�� 3 Bd. 1 liegt inzwischen in einer reichhaltig kommentierten englischen Übersetzung vor (DeLater 2002); diese Monographie enthält auch einen Abdruck des lateinischen Originaltextes.
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C’est Colbert qui, en 1669 et à la requête du roi, fonde l’institution des Jeunes de Langue(s) ou Enfants de Langue(s), dont le but est de former des interprètes français pour traiter avec les Turcs sans avoir à craindre la trahison d’intermédiaires indigènes: toujours le mythe du traduttore traditore. (Balliu 2002, 172)
Im Zuge der Beziehungen zu orientalischen Ländern entstanden zwei Schulen für den Beruf des Dolmetschers (drogman): eine in Konstantinopel und eine in Paris. Die Schüler wurden oft bereits schon im Kindesalter rekrutiert, um in einer langjährigen Ausbildung nicht nur bis zu fünf Fremdsprachen zu erlernen, sondern auch Kenntnisse in verschiedenen „Sachfächern“ (Geschichte, Geographie, Recht usw.) zu erwerben. Kommen wir zurück zur literarischen Übersetzung: Auch hier wurde nun der Orient entdeckt. Wegweisend waren die Mille et une Nuits (1704–13) von Antoine Galland, die mehr als hundert Jahre vor der Druckfassung des arabischen Originals erschienen und zur Vorlage vieler „Übersetzungen aus zweiter Hand“ (d.h. Weiterübersetzungen in andere europäische Sprachen) wurden (vgl. Cointre et al. 2014, 1154ff.). Während Galland zahlreiche Anpassungen an die Moralvorstellungen des französischen Zielpublikums vornahm, fand etwa zur gleichen Zeit eine Debatte statt, die Vorbotin einer Wende in der französischen Übersetzungspraxis war: die letzte Phase der Querelle des Anciens et des Modernes. Hauptgegenstand des Streits war zu diesem Zeitpunkt die Übersetzung von Homers Ilias. Der Standpunkt der „Anciens“ wurde dabei von Madame Dacier vertreten, die 1711 eine – gemessen an den Maßstäben ihrer Zeit – bemerkenswert textnahe Prosa-Übersetzung der Ilias vorlegte. In zahlreichen Anmerkungen versuchte die Übersetzerin, Homer dem zeitgenössischen Publikum nahe zu bringen; z.B. verteidigte sie ausführlich die von ihr z.T. euphemistisch übersetzten Grobheiten der Homerschen Helden wie Achilles: „car il n’est nullement necessaire que le héros d’un poëme soit un honeste-homme“ (zit. nach Cary 1963, 51). Madame Daciers Widersacher war Antoine Houdar de la Motte, der 1714 als Vertreter der „Modernes“ eine nach den Regeln der französischen Klassik erstellte, von 24 auf 12 Gesänge gekürzte Versbearbeitung der Ilias folgen ließ. Dabei benutzte der des Griechischen unkundige Übersetzer eine lateinische Ausgabe sowie die von ihm kritisierte Prosaversion Madame Daciers als Vorlage. Madame Dacier konterte mit der Abhandlung Des causes de la corruption du goût (1714), in der sie sich über De la Mottes mangelnde Sprachkenntnis mokierte (vgl. Tran-Gervat/Weinmann 2014, 287). Bis in die zweite Hälfte des 18. Jh. finden sich noch zahlreiche weitere Übersetzungen des einbürgernden Typs. Ein Wandel zeigt sich bei den Ausgangssprachen: Die Bedeutung der Volkssprachen nahm ständig zu, wobei nun aufgrund des wachsenden Prestiges der englischen Sprache und Literatur die Übersetzungen aus dem Englischen im Mittelpunkt stehen. Nachdem die Zahl von Übersetzungen aus dem Englischen im 17. Jh. noch bei ca. 60 lag, nahm die Zahl im 18. Jh. sprunghaft zu:
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„Ein gutes Tausend von Titeln gab sich als Übersetzung aus dem Englischen zu erkennen“ (Nies 2009, 61). Eine wichtige Rolle spielten die ShakespeareÜbersetzungen. Dabei standen die 1745–48 erschienenen Übersetzungen von PierreAntoine de la Place noch ganz in der Tradition der belles infidèles: Hamlets Vater stirbt bei ihm [De La Place] nicht in einem „Obstgarten“, sondern in einer „Grotte“. Der neue König redet seine Frau nicht – wie bei Shapespeare [sic] – mit „Gertrude“, sondern mit „Madame“ an. Stein wird zu Marmor, „sweet Hamlet“ zu einem „noble Prince“. (Stackelberg 1971, 589)
Auch Voltaires frühe Shakespeare-Übersetzungen enthalten noch einbürgernde Züge. Interessant ist die Begründung hierfür, die Voltaire im Vorwort von La Mort de César gibt: „Shakespeare était un grand génie, mais il vivait dans un siècle grossier; et l’on retrouve dans ses pièces la grossièreté de ce temps, beaucoup plus que le génie de l’auteur“ (zit. nach Münzberg 2003, 265). Voltaire wollte also das Genie des Autors quasi von den Grobheiten seiner Zeit abtrennen. Ästhetisch und moralisch bedingte Einbürgerungen finden sich weiterhin auch bei der Übersetzung klassischer Autoren. 1771 erschien z.B. eine Übersetzung der Gedichte Catulls, in der der Übersetzer, Alexandre Masson de Pezay, ein Kussgedicht an den Jüngling Juventius („Ad Juventium“) im Rahmen einer sittlich begründeten „Geschlechtsumwandlung“ einfach in „A Juventia“ umbenannte (vgl. Wetzel 2002, 188). Ferner sei auf die wachsende Bedeutung des Fachübersetzens im 18. Jh. hingewiesen. Es gab u.a. zahlreiche Übersetzungen philosophischer und wissenschaftlicher Abhandlungen aus dem Englischen. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) nach England geflohene Hugenotte Pierre Coste, der u.a. Werke des Philosophen Locke und des Physikers Newton übersetzte (vgl. Rumbold 1991). Auch die berühmte Encyclopédie von Diderot und d’Alembert kann – in einem weiteren Sinn – als Übersetzung4 aus dem Englischen betrachtet werden, da sie konzeptionell auf der Cyclopaedia von Chambers (1728) aufbaut (vgl. Dotoli 2010, 180f.). Aber auch einzelne Artikel enthalten Übersetzungen. So basieren mehrere philosophische Beiträge auf der fünfbändigen Philosophiegeschichte von Johann Jakob Brucker, die 1742 bis 1744 in lateinischer Sprache in Leipzig erschienen war (vgl. Thomas 2014, 570). Während der Französischen Revolution entstand eine regelrechte Übersetzungspolitik für juristische und administrative Fachübersetzungen: Ab 1790 gab es mehrere Dekrete, die vorsahen, dass nationale Gesetze und Dekrete in die Regionalsprachen Frankreichs sowie weitere europäische Sprachen übersetzt werden sollten, um die Botschaften der Revolution zu verbreiten. Diese Übersetzungspolitik galt lange als ephemere Erscheinung. Neuere Untersuchungen kommen zu einem
�� 4 Man könnte heute von einer „kulturellen Übersetzung“ sprechen.
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anderen Ergebnis: Eine staatliche Übersetzungspolitik existierte nämlich bis zum Ende der Napoleonischen Epoche. Dabei änderte sich der Fokus bei den Zielsprachen von den Regionalsprachen Frankreichs auf weitere europäische Sprachen (vgl. Schreiber 2016b). Ein Übersetzungspolitik im juristisch-administrativen Bereich entstand auch in Kanada: Nach der Übernahme der französischen Gebiete durch Großbritannien (1763) mussten zahlreiche Verordnungen der neuen Kolonialmacht vom Englischen ins Französische (die Sprache der Mehrheit der Siedler) übersetzt werden (vgl. Delisle 1998, 357f.). Etwa zur gleichen Zeit beginnt in Frankreich eine neue Etappe der Dolmetschgeschichte: Im Jahr 1760 eröffnet Abbé Charles-Michel de l’Épée in Paris die erste Schule für Taubstumme in Frankreich, aus der auch die ersten ausgebildeten Gebärdensprachdolmetscher hervorgingen (vgl. Bernard et al. 2007, 24f.). Auch im Hinblick auf die Entwicklung der Übersetzungstheorie war das 18. Jh. eine Zeit des Umbruchs. In den Vorworten von Übersetzern überwiegen zunächst noch die Begründungen für die Anpassung des Originals an den bon goût, während sich im letzten Jahrhundertdrittel die Verfechter einer sprachlich und kulturell „verfremdenden“ Übersetzungsmethode mehren (vgl. Konopik 1997). Schneiders weist darauf hin, dass auch in der Diskussion um das génie de la langue übersetzungstheoretische Gedanken formuliert wurden, so z.B. von Condillac, der sich in seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) skeptisch zur Übersetzbarkeit von Gedichten äußerte: „De tous les écrivains, c’est chez les poëtes que le génie des langues s’exprime le plus vivement. De-là la difficulté de les traduire“ (zit. nach Schneiders 1995, 75). Und in Bezug auf das individuelle Genie eines Schriftstellers empfiehlt der Enzyklopädist d’Alembert die „kongeniale“ Nachdichtung durch einen ebenbürtigen Autor: „Les hommes de génie ne devroient donc être traduits que par ceux qui leur ressemblent & qui se rendent leurs imitateurs, pouvant être leurs rivaux“ (zit. nach Schneiders 1995, 141). Während sich die gerade zitierten Autoren, wie so viele vor ihnen, auf die Theorie der literarischen Übersetzung beschränkten, finden sich bei Ch. Batteux in seinem Cours de belles-lettres (1750) auch Gedanken zur Übersetzung anderer Texttypen. Nachdem er einige allgemeine Regeln zur Übersetzung aufgestellt hat, kommt er zu folgenden textsortenspezifischen Prinzipien: A ces principes, communs à tous les genres d’ouvrages qu’on traduit, on peut en ajouter d’autres qui ne conviennent qu’aux espèces particulières; ces espèces peuvent se réduire à trois: à l’histoire, au discours, à la poésie. […] Dans l’historique, il faut présenter les faits avec le ton convenable; dans le discours, il faut présenter l’âme, la verve, la marche plus ou moins hardie de quelqu’un qui va à la persuasion; dans la poésie, il faut joindre à ce feu les traits et les images. (Batteux, zit. nach Horguelin 1981, 113f.)
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Diese Dreiteilung in Fachtexte (hier: Geschichtsschreibung), persuasive Texte (Reden) und literarische Texte (Poesie) weist bemerkenswerte Parallelen zu der übersetzungsrelevanten Texttypologie auf, wie wir sie im 20. Jh. bei Reiß (1971) finden. Im Umfeld der Aufklärung finden sich nun auch Überlegungen zu sprachenpaarspezifischen Übersetzungsproblemen. P.J. Bitaubé vertritt z.B. in einer Abhandlung für die Preußische Akademie der Wissenschaften die Ansicht, dass sich verschiedene Sprachen unterschiedlich gut zu Übersetzungen eignen. Die französische Sprache eigne sich aufgrund ihrer reichen eigenen Literatur nicht gut als Übersetzungssprache: S’il y a une langue rebelle à la traduction, c’est la Françoise: [...] si on considère combien, dans tous les genres, il y a de grands écrivains dans cette langue, ne pourroit-on pas dire qu’elle se prête difficilement à traduire, parce qu’elle a des beautés qui sont à elle? (Bitaubé 1777, 478f.)
Im frühen 19. Jh. findet unter dem Einfluss der deutschen Romantik – u.a. von Schleiermacher, der gefordert hatte, der Übersetzer solle den Leser dem Autor annähern und nicht umgekehrt – eine Abkehr von der einbürgernden Übersetzungsmethode statt: „Das Ende der ‚belles infidèles‘ [...] kündigt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an und ist in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts besiegelt“ schreibt Stackelberg (1971, 585). Als Paradebeispiel zitiert er Chateaubriands sprachlich „verfremdende“ Prosa-Übersetzung (1836) von John Miltons Versepos Paradise Lost (1667), die sich in Wortwahl und Syntax eng an die englische Vorlage anlehnt, wie bereits aus einem kurzen Ausschnitt deutlich wird: Two of far nobler shape, erect and tall, Godlike erect, with native honour clad, In naked majesty, seem’d lords of all; And worthy seem’d [...] Deux d’entre elles, d’une forme bien plus noble, d’une stature droite et élevée, droite comme celle des dieux, vêtues de leur dignité native dans une majesté nue, paroissent les seigneurs de tout, et sembloient de l’être. (zit. nach Stackelberg 1971, 595f.)
Chateaubriand selbst beschrieb seine Übersetzung als eine Lesehilfe, der die Leser Wort für Wort folgen könnten, „comme un dictionnaire ouvert sous leurs yeux“ (zit. nach Delisle 2007, 143). Im Bereich der Übersetzungstheorie steht Ferri de Saint-Constant in seinen Rudiments de la traduction (1808) am Scheitelpunkt zwischen klassischen und neueren übersetzungstheoretischen Ansätzen (vgl. D’hulst 2014, 155ff.). Dagegen betont Madame de Staël in ihrer Abhandlung „De l’esprit des traductions“ (1816) klar die Funktion von Übersetzungen für die Bereicherung und Erneuerung der zielsprachlichen Literatur. Für sie ist es klar, dass diese Funktion nur dann erfüllt werden kann, wenn relativ verfremdend übersetzt wird. Streng einbürgernde Übersetzungen nach
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Art der belles infidèles können nicht wirklich bereichernd wirken, da sie nichts Fremdes und damit auch nichts Neues enthalten: Il n’y a pas de plus éminent service à rendre à la littérature, que de transporter d’une langue à l’autre les chefs-d’œuvre de l’esprit humain. […] Mais, pour tirer de ce travail un véritable avantage, il ne faut pas, comme les français, donner sa propre couleur à tout ce qu’on traduit; […] on n’y trouverait pas des aliments nouveaux pour sa pensée, et l’on reverrait toujours le même visage avec des parures à peine différentes. (zit. nach Wilhelm 2004, 696f.)
Ein Sonderfall sprachlicher Verfremdung, die auf den in der zweiten Hälfte des 19. Jh. herrschenden Historismus zurückgeht, zeigt sich in Emile Littrés historisierender Übersetzung (1875) der Divina Commedia (1321), die den Eindruck erwecken soll, von einem französischen Zeitgenossen Dantes verfasst worden zu sein. Problematisch ist bei dieser Übersetzung die Tatsache, dass – aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung des Italienischen und des Französischen – der Zieltext sprachlich vom modernen Französisch weiter entfernt ist als Dantes Original vom modernen Italienisch. Hier zur Illustration ein kurzes Textbeispiel (Inferno, V), Noi leggevamo un giorno per diletto di Lancialotto come amor lo strinse: soli eravamo e senza alcun sospetto. Un jor avint que lisions par plaisance de Lancelot, com amors l’etreigni; seul nous estions et sans nule doutance. (zit. nach Zimmer 1981, 135f.)
Fortschritte gab es im 19. Jh. im Bereich der Bibelübersetzung. So entstand mit Louis Segonds Übersetzung (1880) eine der wichtigsten protestantischen Bibeln in französischer Sprache (vgl. Matschke 2006, 58). Doch auch im 19. Jh. finden sich immer noch Beispiele für sehr freie Übersetzungen, insbesondere im Bereich der populärer werdenden Literatur für Kinder und Jugendliche. Im Jahr 1843 erschien z.B. eine Übersetzung von Jonathan Swifts Roman Gulliver’s Travels, die für Kinder bearbeitet wurde und daher zahlreiche Kürzungen und Umänderungen enthält (vgl. Léger 2004). Was die Ausgangssprachen angeht, so zeigt sich im 19. Jh. zunächst wieder ein verstärktes Interesse an lateinischen und griechischen Autoren. Ein besonders komplexes Beispiel der Neuübersetzung eines antiken Autors ist Paul-Louis Couriers 1810 erschienene Version des Schäferromans Daphnis und Chloe von Longos. Hierbei handelt es sich um eine korrigierende Neubearbeitung der erfolgreichen Übersetzung Amyots aus dem 16. Jh., die um Passagen ergänzt wurde, die Courier aus einem von ihm entdeckten, vollständigen Manuskript des griechischen Textes übersetzte (vgl. Ballard 1999, 178ff.). Bei den modernen Sprachen spielt das Deutsche als Ausgangssprache eine immer größere Rolle: 1835 löste Deutsch das Engli-
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sche vorübergehend als wichtigste moderne Ausgangssprache ab (vgl. D’hulst 1998, 144). Ferner kommt es in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zu einer Wiederbelebung des Okzitanischen als Literatursprache, die auch mit einer gesteigerten Übersetzungsproduktion einherging. Die zentrale Rolle spielten dabei die Dichter der Gruppe Félibrige, die u.a. klassische Texte ins Okzitanische und viele ihrer eigenen Texte ins Französische übersetzten (vgl. Albrecht 2008, 19f.). Im Laufe des 19. Jh. veränderte sich ferner das Berufsbild des Übersetzers, insbesondere das des literarischen Übersetzers. Um den Output an Übersetzungen populärer Literatur (insbesondere historischer Romane aus dem Englischen) zu erhöhen, wurden nun häufig Romane im Team übersetzt (vgl. Wilfert-Portal 2007, 236). Eine besondere Funktion erlangte das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht. Im Lateinunterricht (und nach dessen Vorbild auch in der Unterrichtung der modernen Sprachen) wurden die version (Übersetzung aus der Fremdsprache) und das thème (Übersetzung in die Fremdsprache) gepflegt, wobei das thème als besonders schwierig galt (und noch heute gilt): „Le bon élève en latin n’est pas celui qui peut réciter par cœur sa grammaire latine, c‘est le ‚fort en thème‘“ (Chervel 2008, 307). Nun noch kurz zur Frankophonie außerhalb Frankreichs, welche deutlich weniger gut untersucht ist. In Afrika führten die französischen Kolonisierungsbestrebungen zu einem erhöhten Bedarf an Dolmetschern und Übersetzern. Bei der Eroberung Algiers 1830 waren nach Darstellung von Mopoho (2001, 616) fast 100 Militärdolmetscher im Einsatz, die später im Bereich der Kolonialverwaltung tätig wurden. In offiziell mehrsprachigen Staaten wurde die Übersetzung juristischer und administrativer Fachtexte institutionalisiert bzw. weiter entwickelt (vgl. Dullion et al. 2012, 1085ff.): In Belgien erschien das Bulletin officiel des lois et actes du gouvernement nach der Staatsgründung (1830) zunächst allein auf Französisch. Erst 1898 wurde das Niederländische dem Französischen gleichgestellt. In der Regel wurden die Gesetze zunächst auf Französisch verfasst und dann ins Niederländische übersetzt. In der Schweiz wurde mit der Verfassung von 1848 die offizielle Dreisprachigkeit eingeführt (noch ohne das Rätoromanische). Die dominierende Übersetzungsrichtung war aus dem Deutschen ins Französische und Italienische. Einen Rückschlag für die französische Sprache gab es in Kanada, wo der Union Act (1840) das Englische zunächst (bis 1849) als einzige Amtssprache benannte. Übersetzungen von Gesetzen und Verordnungen gab es weiter, jedoch ohne offiziellen Status. Abschließend komme ich zum 20. und beginnenden 21. Jh. Zur Übersetzungspraxis im 20. Jh. sei zunächst darauf hingewiesen, dass sich vor allem in der ersten Jahrhunderthälfte zahlreiche Schriftsteller finden, die als Übersetzer tätig sind. Stellvertretend sei André Gide genannt, der u.a. Werke von Shakespeare übersetzte. Allerdings hat man inzwischen aufgrund von Gides Korrespondenz herausgefunden, dass er kaum Englisch verstand und bei seiner Übersetzung tatkräftig von einer Muttersprachlerin unterstützt wurde (vgl. Wilfert-Portal 2007, 244f.). Zur Übersetzungsmethodik kann – grob vereinfachend – gesagt werden, dass nun wieder stär-
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ker einbürgernd übersetzt wird. Nach dem 19. Jh. schlägt das Pendel also wieder zurück, allerdings nicht so weit wie im 17. und 18. Jh.: Kulturelle Einbürgerungen nach Art der belles infidèles sind die Ausnahme; die Anpassung bezieht sich meist nur auf sprachlich-stilistische Normen. Wie Grünbeck in seiner deutschfranzösischen Stilistik (1976/1983) gezeigt hat, neigen viele auf clarté bedachte französische Übersetzer zu einer stilistisch nivellierenden Übersetzung. Dabei hat Grünbeck vier Stilzüge der deutsch-französischen Übersetzung herausgearbeitet, die er an zahlreichen Beispielen illustriert: a) Ordnungsliebe und Genauigkeitsstreben b) Ökonomie der Sprachmittel = Konzision c) Harmonie der Sprachgestaltung d) Objektiv-distanzierte Darstellung (Grünbeck 1976, 3)
Hierzu ein Beispiel: Die meisten französischen Erstübersetzungen Kafkas stammen aus der Feder von Alexandre Vialatte und zeichnen sich durch eine Anpassung an den französischen Epochenstil der 1920er und 1930er Jahre aus. Der trockene Kanzleistil Kafkas wird verändert, da der Text insgesamt viel persönlicher und subjektiver formuliert wird.5 Zur Bibelübersetzung kann festgehalten werden, dass die französischen Protestanten meist weiterhin die Übersetzung von Segond aus dem 19. Jh. verwenden (in aktualisierten Versionen). Für die Katholiken existiert seit 1953 eine ganz neue Übersetzung, die Bible de Jérusalem (ein Gemeinschaftswerk von mehr als 30 Theologen, das in Jerusalem entstanden ist). Außerdem erschien 1982 eine überkonfessionelle Bibelübersetzung in modernem Französisch, die Bible en français courant. Drei Jahre später erschien eine Übersetzung des jüdischen Schriftstellers und Theologen André Chouraqui, die stark verfremdend formuliert ist und entgegen der jüdischen Tradition auch das Neue Testament enthält („Le Pacte Neuf“).6 Nun zu einigen didaktischen und berufspraktischen Aspekten: Der steigende Bedarf an Übersetzern und Dolmetschern nach dem Zweiten Weltkrieg führte zur Einrichtung von universitären Instituten für die Übersetzer- und Dolmetscherausbildung. Die beiden renommiertesten Institute in Frankreich, die École Supérieure d’Interprètes et de Traducteurs (ESIT, angesiedelt an der Pariser Sorbonne) und das Institut Supérieur d’Interprétation et de Traduction (ISIT, Teil des Institut Catholique de Paris) wurden im Jahr 1957 gegründet. Bereits 1941 war an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf eine Dolmetscherschule gegründet worden, die inzwischen als Faculté de Traduction et d’Interprétation (FTI) Fakultätssta-
�� 5 Neuere Kafka-Übersetzungen sind allerdings deutlich textnäher gestaltet (vgl. Roux-Faucard 2008). 6 Zu einem Vergleich verschiedener neuerer Übersetzungen vgl. Matschke (2006).
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tus genießt. In Belgien beschloss die Regierung 1958, im Jahr der Römischen Verträge, die Gründung des Brüsseler Institut Supérieur de Traducteurs et Interprètes (ISTI). Weitere Institutsgründungen folgten. Zu weiteren frankophonen Ländern vgl. die Informationen bei Caminade/Pym (1995). Exemplarisch erwähnt seien zwei Länder mit Englisch und Französisch als Amtssprachen und einem entsprechenden Bedarf an Übersetzern und Dolmetschern: Kanada, wo 1951 ein Übersetzerstudiengang an der Universität Montréal eingerichtet wurde (vgl. Caminade 2011, 2631), und Kamerun, wo es seit 1985 ein eigenes Hochschulinstitut gibt, die Advanced School of Translators and Interpreters (vgl. Tene 2009, 60). Zurück zu Frankreich: Zum Umfang der Übersetzungsproduktion kann angemerkt werden, dass der Anteil der Übersetzungen an der gesamten Buchproduktion in den 1970er Jahren mit 45% seinen Höchststand erreichte, als u.a. durch die Gründung des Verlags Actes Sud die literarische Übersetzung einen Aufschwung erfuhr (vgl. Sapiro 2012, 208). In den Folgejahren ging der Anteil auf 35% zurück, nach anderen Quellen sogar auf 18% (Barret-Ducrocq 1992, 64). Als Ausgangssprache dominiert heute Englisch (mit etwa zwei Drittel aller in Frankreich publizierten Übersetzungen), gefolgt vom Deutschen, dessen Anteil bei ca. 10% liegt. Es folgen Italienisch, Spanisch und Russisch (vgl. Sapiro 2008, 81). Die Bedeutung von Fachübersetzungen nimmt im Zuge der Globalisierung immer mehr zu (vgl. Oustinoff 2003, 111f.). Neue Berufsbilder entstehen vor allem im technischen Bereich, z.B. Softwarelokalisierung oder technische Redaktion. Ferner sei darauf hingewiesen, dass in Ländern, die über mehrere Amts- oder Nationalsprachen verfügen (wie Belgien, die Schweiz oder Kanada), die „innerstaatliche“ Übersetzung juristischer und administrativer Texte eine weitaus größere Rolle spielt als in Ländern, die zwar mehrsprachig sind (wie Frankreich), deren „Regionalsprachen“ jedoch nicht (oder nur lokal) in öffentlichen Situationen verwendet werden. Offizielle Mehrsprachigkeit garantiert allerdings noch keine Symmetrie zwischen den verschiedenen Sprachen. So ist in Kanada das Englische gegenüber dem Französischen dominant, was im Gegenzug zu einer puristischen Haltung bei Übersetzungen ins Französische führen kann (vgl. Simon 1992, 161). Die Furcht vor Interferenzen führte auch dazu, dass seit 1978 für Gesetzestexte die so genannte KoRedaktion (parallele Textproduktion) eingeführt wurde: „deux rédacteurs, un juriste anglophone et un juriste francophone, rédigent le texte de loi séparément et une équipe de jurilinguistes les conseille pour assurer une concordance entre les versions“ (Lavoie 2003, 129). Nach Darstellung von Šarčević (1997, 272) hat dieses Verfahren die Rechtsübersetzung in Kanada revolutioniert. Eine weitere Besonderheit Kanadas zeigt sich im Berufsbild. Im Unterschied zu Frankreich und den meisten anderen frankophonen Ländern existiert in einigen Provinzen Kanadas, darunter in Québec, ein gesetzlicher Schutz des Übersetzerberufs (vgl. Gouadec 2002, 283). Soweit zur Übersetzungspraxis. Auf die moderne Übersetzungswissenschaft werde ich in Kap. 2 eingehen. An dieser Stelle noch ein kurzer Nachtrag zur Ge-
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schichte des Dolmetschens, speziell zur Geschichte des Konferenzdolmetschens. Diese beginnt erst richtig nach dem Ersten Weltkrieg. Dies hat zu tun mit der Stellung der französischen Sprache als Sprache der Diplomatie. In internationalen Konferenzen wurden Dolmetscher aber eingesetzt, als Französisch seine Rolle als internationale Sprache nach und nach eingebüßt hatte (vgl. Baigorri Jalón 2000, 1). Zunächst wurde fast ausschließlich konsekutiv gedolmetscht, in bestimmten Situationen wurde auch das Flüsterdolmetschen praktiziert (vgl. Keiser 2004, 548). Das Simultandolmetschen, wie wir es heute kennen, hat sich – abgesehen von ersten Versuchen in den zwanziger Jahren – erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Wegweisend waren hierzu die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (vgl. Behr/Corpataux 2006). Heute zählt das Französische trotz der zunehmenden internationalen Dominanz des Englischen zu den Arbeitssprachen der großen internationalen Organisationen wie der UNO, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, der Nato, der OECD, dem Europarat und der Europäischen Union (vgl. Cronin 2003, 111), die über Sprachendienste mit fest angestellten und freiberuflichen Übersetzern und Dolmetschern verfügen. In den ehemaligen Kolonialgebieten führte die Gründung internationaler Organisationen zu einer verstärkten Übersetzungs- und Dolmetschtätigkeit innerhalb der ehemaligen Kolonialsprachen: Als 1962 die Organisation für Afrikanische Einheit gegründet wurde, wurden zunächst nur Englisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch und (mit Einschränkungen) Arabisch als Arbeitssprachen festgelegt (vgl. Bandia 1998, 301).
�.� Spanischer Sprachraum Auch die überlieferte spanische Sprachgeschichte beginnt mit mehrsprachigen Texten, sofern man die Wortgleichungen der Glosas Emilianenses und Glosas Silenses als „Texte“ bezeichnen möchte. Vor den ersten komplexeren volkssprachlichen Übersetzungen spielten jedoch zwei andere Zielsprachen die dominierende Rolle. Zunächst kann man die Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische erwähnen, die im islamischen Süden Spaniens im 9. Jh. entstanden. Danach sind die im 12. Jh. vorwiegend in Toledo erstellten Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische zu nennen. Als Gründer der „Übersetzerschule von Toledo“ (die keine Ausbildungsstätte, sondern eher ein Zentrum von Gelehrten war) gilt traditionell Erzbischof Raimund von Toledo, belegt ist dies jedoch nicht. Die Übersetzungen dieser Periode waren meist sehr wörtlich und dienten vornehmlich dem Austausch von Wissen zwischen Gelehrten (und zwar von Spanien ausgehend auch in anderen europäischen Ländern). Übersetzt wurden Fachtexte aus unterschiedlichen Disziplinen (z.B. Astronomie, Medizin, Mathematik). Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung dieser Übersetzungen ist nicht zu unterschätzen. Ferner wurden griechische Autoren, insbesondere Aristoteles, über den Umweg arabischer Kommentare
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„wieder entdeckt“, was erheblich zur Entwicklung der Scholastik beitrug (vgl. Foz 1998, 169). In der Regel wurden die lateinischen Übersetzungen über den Weg einer mündlichen kastilischen Rohübersetzung erstellt. García Yebra vertritt die These, dass diese Rohübersetzungen für das Kastilische eine wichtige Quelle der sprachlichen Bereicherung waren: „[...] las traducciones latinas de Toledo influyeron también grandemente, gracias al método de la versión oral intermedia, en la maduración y capacidad expresiva del castellano“ (García Yebra 1983, 321). Ab Mitte des 13. Jh. wurde im Auftrag Alfons’ des Weisen zum ersten Mal im großen Umfang schriftlich in die kastilische Volkssprache übersetzt. Da auch diese Übersetzungen hauptsächlich in Toledo entstanden, werden sie z.T. ebenfalls unter dem etwas irreführenden Schlagwort „Übersetzerschule von Toledo“ behandelt. Von den Übersetzungen des 12. Jh. unterscheiden sie sich jedoch in den folgenden Punkten: Übersetzt wurde aus dem Arabischen ins Kastilische; Auftraggeber war der Hof; die Ausgangstexte wurden in der Regel „popularisierend“ übersetzt, da die Übersetzungen nach Alfons’ Anweisung leicht verständlich sein sollten; thematisch beschränkten sich die Ausgangstexte vor allem auf das Gebiet der Astronomie (vgl. Pym 1998b, 553). Daneben gab es aber auch einzelne Übersetzungen zu anderen Themen, z.B. zum Schachspiel und anderen klassischen Brettspielen (vgl. Ineichen 1997, 64f.). Auch verschiedene Bibelübersetzungen kursierten bereits im Mittelalter (trotz eines entsprechenden Verbotes aus dem 13. Jh.). Traditionell unterscheidet man zwischen christlichen Übersetzungen (auf der Basis der Vulgata), wie die so genannte Biblia Alfonsina, und jüdischen Übersetzungen (aus dem Hebräischen), wie die Biblia de Alba aus dem frühen 15. Jh. Nach Darstellung von Avenoza (2008, 19) waren jedoch alle kastilischen Bibeltexte durch hebräische Vorlagen beeinflusst: „En el fondo todas las biblias medievales romanceadas tienen más o menos cercano un antecedente hebreo“. Auch wenn der Ausdruck „Schule von Toledo“ kein Ausbildungsinstitut bezeichnet, gab es andernorts bereits Ansätze zu einer Ausbildung von Übersetzern. Vermeer erwähnt in diesem Kontext eine 1276 in Miramar (Mallorca) durch den katalanischen Philosophen und Theologen Ramón Llull gegründete Sprachenschule. Dort sollten Dolmetscher und Sprachberater für die Missionierung des arabischen Sprachraumes ausgebildet werden. Arabische Sprachkenntnisse standen daher im Mittelpunkt der Ausbildung. Neben Sprachkenntnissen wurden aber auch Fachkenntnisse in Geographie, Philosophie und Theologie vermittelt (vgl. Vermeer 1996, Bd. 1, 247f.). Im 14. Jh. und 15. Jh. finden sich vermehrt Übersetzungen aus dem Lateinischen – nicht zuletzt, weil „die Kenntnis des Lateinischen selbst unter den führenden Intellektuellen der Zeit weniger verbreitet ist als in anderen europäischen Ländern“ (Pöckl 2006b, 1406f.), sowie aus dem Italienischen, Französischen und vereinzelt auch aus dem Englischen. Das Prestige der Übersetzungen war deutlich größer als
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in späteren Epochen: „la mayoría de los escritores de la primera mitad del siglo XV fueron también traductores. Y no estimaban menos sus obras traducidas que las que hoy llamamos originales” (García Yebra 1994, 133). Des Weiteren wurde nun nicht nur ins Kastilische, sondern verstärkt auch in die anderen Sprachen Spaniens übersetzt. An erster Stelle ist hier das Katalanische zu nennen. Oft handelte es sich dabei um „Übersetzungen aus zweiter Hand“, die auf dem Umweg über das Französische ins Katalanische gelangten. Ferner finden sich im 14. Jh. eine Reihe von Übersetzungen ins Aragonesische sowie vereinzelte Übersetzungen ins Galicische. Diese frühen galicischen Übersetzungen sind wichtige Zeugnisse für die beginnende Abspaltung des Galicischen vom Portugiesischen. Die übersetzerische Methodenreflexion kreiste immer noch, wie seit der Antike üblich, um die Dichotomie wörtlich vs. frei. Einerseits finden sich Forderungen nach einer konsequent wörtlichen Übersetzungsmethode. So verfocht Alonso de Cartagena (1384–1456) „den radikalen Standpunkt, dass nur eine wissenschaftlich exakte Ausdrucksweise der Wahrheit gerecht werden könne, rednerische Eleganz hingegen sie zu verfälschen drohe“ (Stackelberg 1972, 10). Andererseits forderte Alfonso de Madrigal (1400–55) im Anschluss an Hieronymus für als kanonisch geltende Texte eine Wort-für-Wort-Übersetzung, während er für andere Textsorten auch „freiere“ Übersetzungsmethoden zuließ. Dabei vertrat er die universalistische These, dass im Prinzip alles in jeder Sprache ausdrückbar sei: „no hay cosa que sea significada por vocablos de un lenguaje que no pueda ser significada por vocablos de otra lenga“ (zit. nach Santoyo 2004, 130). In Spanien (wie auch in Frankreich, s.o.) wirkte sich die italienische Renaissance tiefgreifend auf die Übersetzungspraxis aus. Juan Boscáns CastiglioneÜbersetzung El Cortesano (1534) kann nach Ansicht von Fernández-Rodríguez als „la traduction la plus importante de l’histoire de la Renaissance espagnole“ (1997, 150) angesehen werden. Dem Übersetzer ging es dabei erklärtermaßen um eine Gleichstellung des Kastilischen mit dem Italienischen. Und Fray Luis de Léon beschwor im Vorwort zu seiner Übersetzung des Hohen Liedes (Cantar de los Cantares, 1561) sogar vermeintliche Parallelen zum Hebräischen: [...] y pretendí que respondiese esta interpretación con el original, no sólo en las sentencias y palabras, sino aun en el corriente y en el aire de ellas, imitando sus figuras y sus modas de hablar y manera cuanto es posible á nuestra lengua, que á la verdad responde á la hebrea en muchas cosas [...]. (zit. nach Vega 1994, 134)
Wie viele seiner übersetzenden Zeitgenossen bekam Fray Luis de León Probleme mit der Inquisition: Der Vorwurf einer Erotisierung des Ausgangstextes brachte ihm mehrere Jahre Kerker ein (vgl. Pöckl 2006b, 1408). Viele Übersetzer gingen ins Exil bzw. veröffentlichten ihre Übersetzungen außerhalb Spaniens. So erschien die erste
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protestantische Bibelübersetzung, die so genannte Biblia del Oso, 1569 in Basel (vgl. Carrasquero Martínez 1991, 50). Im 16. Jh. entstand ferner mit der Secretaría de Interpretación de Lenguas der erste spanische „Sprachendienst“ für Übersetzen und Dolmetschen im Dienste von Diplomatie und Verwaltung (vgl. Cáceres Würsig 2003, 19). Übersetzungen in andere Sprachen Spaniens, insbesondere Katalanisch, gingen ab dem 16. Jh. aufgrund der politischen und kulturellen Vormachtstellung Kastiliens stark zurück (vgl. Lieber 1992, 42f.). Bei der Eroberung und der Kolonisierung des mittleren und südlichen Amerika spielten Dolmetscher eine nicht unwesentliche Rolle. Bereits Kolumbus nahm Ureinwohner mit nach Europa, um sie dort zu Dolmetschern „ausbilden“ zu lassen. Am 12.10.1492 findet sich der folgende Tagebucheintrag Kolumbus’, der von dessen Vorhaben, sechs Bewohner der Bahama-Insel Guanahani („San Salvador“) mitzunehmen, Zeugnis ablegt: „Yo, placiendo a Nuestro Señor, llevaré de aquí al tiempo de mi partida seis a Vuestra Alteza para que aprendan a hablar“ (zit. nach Collados Aís/Fernández Sánchez 2001, 18). Die Entführung indigener Sprecher war während der Zeit der Eroberung ein üblicher Weg zur Rekrutierung von Dolmetschern, so genannter lenguas (vgl. Valdéon 2014, 38). Berühmtheit erlangte die Aztekin Marina (genannt Malinche), die für Hernán Cortés zunächst als Dolmetscherin arbeitete und später seine Vertraute und Geliebte wurde: Sie wurde so sehr zu einer umstrittenen Gestalt – Verräterin ihres Volkes, Retterin der Spanier – daß in den unzähligen Werken über sie ihre eigentliche Rolle vernachlässigt wird. Sie kannte die Sprache der Maya, konnte also im Relais mit dem Spanier Jeronimo de Aguilar, der diese als Schiffbrüchiger kennengelernt hatte, für Cortés dolmetschen. (Bowen 1998, 44f.)
Bei der Eroberung des Festlandes wurden aufgrund der großen Sprachenvielfalt zunächst einige Verkehrssprachen zur überregionalen Kommunikation ausgewählt, z.B. Nahuatl im Aztekenreich oder Quechua im Inkareich (vgl. Noll 2001, 58). Langfristiges Ziel war es jedoch, durch Verbreitung des Kastilischen Übersetzungen überflüssig zu machen (vgl. Pym 2000, 156ff.). Die ersten schriftlichen Übersetzungen dienten der Missionierung und betrafen zunächst kürzere religiöse Texte und Lieder. Buchimporte aus Spanien unterstanden einer strengen Zensur (vgl. RomanoSued 2011, 2244). Einige Übersetzungen dienten jedoch auch der Überlieferung amerikanischen Kulturguts. So entstanden im 16. Jh. mehrere Bücher in amerikanischen Sprachen über Religion, Geschichte und medizinisches Wissen verschiedener Völker, die anschließend ins Spanische oder ins Lateinische übersetzt wurden. Als originellster Übersetzungstheoretiker des 16. Jh. im spanischen Sprachraum ist der Humanist Juan Luis Vives hervorgetreten, dessen übersetzungstheoretische Ideen sich hauptsächlich in der Schrift De ratione dicendi (1533) finden. Vives unterscheidet hier drei Arten des Übersetzens: sinngetreues Übersetzen, formgetreues
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Übersetzen und – dies ist neu in der Geschichte der Übersetzungstheorie – Übersetzungen, in denen sowohl der Sinn als auch die Ausdrucksweise zu beachten seien. Ähnlich wie bereits Hieronymus verknüpft Vives seine Methodologie des Übersetzens mit einer „Texttypologie“ ante litteram und unterscheidet zwischen – anachronistisch in Termini von K. Reiß ausgedrückt – „inhaltsbetonten“ und „formbetonten“ Texten sowie solchen Texten, in denen „gerade auch das Wie zum Was des Gesagten gehört und deshalb in der Übersetzung erhalten bleiben muß, wenn der ‚Sinn des Textes‘ beibehalten werden soll“ (Coseriu 1971, 573). Juan de Valdés’ Diálogo de la lengua (1535) enthält einige übersetzungstheoretische Gedanken, die sich wenige Jahre später in ähnlicher Form bei E. Dolet (vgl. Kap. 1.2) finden. Hierzu gehört u.a. die Forderung, dass der Übersetzer Ausgangsund Zielsprache adäquat beherrschen müsse: „Por esto es grande la temeridad de los que se ponen a traduzir de una lengua en otra sin ser muy diestros en la una y en la otra“ (zit. nach Fernández Rodríguez 1997, 155). Im 17. Jh. finden sich vorwiegend Übersetzungen aus dem Lateinischen, Italienischen und Französischen. Pym weist ferner darauf hin, dass Cervantes’ Don Quijote als „the world’s most famous PSEUDOTRANSLATION“ (Pym 1998b, 556) gelten kann, da es sich teilweise um eine fiktive Übersetzung aus dem Arabischen handelt. Don Quijote ist jedoch noch in einer weiteren Hinsicht übersetzungsgeschichtlich relevant: Im zweiten Teil finden sich der oft zitierte Vergleich von Übersetzungen mit der Rückseite flämischer Teppiche sowie einige weitere ironisch-abschätzige Bemerkungen zum Übersetzen, insbesondere zum Übersetzen aus „einfachen“ Sprachen (wie dem Italienischen). Ähnlich abschätzig äußerte sich im gleichen Zusammenhang Lope de Vega: [...] y si no es violencia en mí, plegue a Dios que yo llegue a tanta desdicha por necesidad, que traduzca libros de italiano en castellano; que para mi consideración es más delito que pasar caballos a Francia. (zit. nach García Yebra 1994, 151)
Zum 18. Jh.: Während dieser Zeit wirkte sich der dominierende Einfluss der französischen Sprache und Kultur auch auf die Praxis und Theorie des Übersetzens aus. Mehr als die Hälfte aller Übersetzungen betraf französische Ausgangstexte (vgl. Lafarga 2004, 212), wobei religiöse Texte anfangs vor wissenschaftlichen und literarischen dominierten. Literaturen anderer Länder wurden oft über französische Zwischenübersetzungen rezipiert: „Deutsche Literatur, die nach 1700 nach Spanien drang, passierte in der Regel den Filter der französischen Übersetzung“ (Müller 1967, 260). Da viele französische Übersetzungen des 18. Jh. noch nach den Regeln der belles infidèles erstellt wurden (vgl. Kap. 1.2), konnte dieser „Filter“ erhebliche Auswirkungen auf das Endergebnis haben. Auch im Bereich der Fachübersetzung und des Fachwortschatzes war der Einfluss der französischen Sprache sehr groß.
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Zahlreiche gelehrte Fachwörter gelangten über Übersetzungen aus dem Französischen ins Spanische, z.B. im Bereich der Chemie (vgl. Lépinette 1998). Im Bereich der Bibelübersetzung entstand Ende des 18. Jh. mit der Übersetzung von Felipe Scío de San Miguel eine Bibel auf der Basis der Vulgata, die zahlreiche Auflagen erlebte und lange Zeit die maßgebliche katholische Bibelübersetzung blieb (vgl. Carrasquero Martínez 1991, 53ff.). Auf dem Gebiet der Übersetzungstheorie ist wiederum der Einfluss Frankreichs wirksam, wenn auch z.T. verdeckt: Im Vorwort der 1797 publizierten Übersetzung von Fénelons Télémaque durch Joseph de Covarrubias finden sich elf Regeln, die der Übersetzer als Maximen seiner eigenen Übersetzung angibt, bei denen es sich jedoch um ein fast wörtlich übersetztes Plagiat aus dem Cours des Belles-Lettres (1747) von Charles Batteux handelt: „Covarrubias copia y traduce ‚las reglas del arte de traducir‘, que son los once principios que Batteux había presentado como ‚communs à tous les genres d’ouvrages qu’on traduit‘“ (García 1997, 265). Zwischen 1790 und 1834 wurden aufgrund der in Spanien herrschenden Zensur viele Übersetzungen im Ausland publiziert, insbesondere in Frankreich, aber auch in England (vgl. Perojo Arronte 2010, 205). In der Folgezeit kam es zu einer starken Zunahme der Übersetzungstätigkeit. Mesonero Romanos sprach 1840 sogar von einer „manía de la traducción“ (zit. nach Pegenaute 2004, 322). Zunächst dominierte noch der französische Einfluss, und zwar in zweierlei Hinsicht: Französisch als Ausgangs- und Vermittlersprache und französische Übersetzungen als übersetzungsmethodisches Modell, d.h. es gab viele einbürgernde Übersetzungen nach französischer Art. Als Beispiel hierfür sei die Übersetzung der Satiren Juvenals durch Luis Folgueras Sión im Jahre 1817 genannt, welche einige „sittlich“ bedingte Streichungen enthält: „He suprimido la Sátira IX, y he depurado y expurgado de quanto pudiese ser ofensivo a la decencia y delicadeza de las costumbres cristianas“ (zit. nach Ruiz Casanova 2000, 33). In den Jahren 1823-1824 erschien in Madrid mit der Bibelübersetzung von Félix Torres Amat, welche wiederum auf einer Übersetzung des Jesuitenpaters José Miguel Petisco aus dem 18. Jh. beruhte, eine neue spanische Bibel, die bald zur meist verbreiteten katholischen Übersetzung avancierte (vgl. Carrasquero Martinez 1991, 56ff.). In der 2. Hälfte des 19. Jh. wurde trotz des anhaltenden französischen Einflusses verstärkt direkt aus dem Deutschen und dem Englischen übersetzt. Shakespeare hatten großen Einfluss auf die spanischen Romantiker, auch wenn zunächst nur einzelne Dramen übersetzt wurden (vgl. Pegenaute 2004, 371) und die erste spanische Gesamtübersetzung erst 1930 erschien. Russische Autoren wurden noch Anfang des 20. Jh. indirekt aus dem Französischen übersetzt. Dazu ein Zitat aus dem Jahre 1906: „las traducciones son pésimas, hechas del francés; y no se gana mucho leyéndolas en francés porque los franceses no traducen, adaptan“ (Corpus Barga, zit. nach Martín-Gaitero 1998, 81).
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Von großem Einfluss auf die spanische Übersetzungspraxis Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. war Marcelino Menéndez y Pelayo (1856–1912). Menéndez y Pelayos Einfluss äußerte sich auf unterschiedliche Weise: Ab 1880 arbeitete er an einer umfangreichen Biblioteca de traductores españoles, ferner war er selbst als Übersetzer tätig, schließlich äußerte er sich auch als Übersetzungstheoretiker. In einem Vorwort aus dem Jahre 1891 vertrat er die Ansicht, dass die Übersetzungsmethode nicht zuletzt vom Verwandtschaftsgrad der beiden beteiligten Sprachen abhänge. Aus verwandten Sprachen, z.B. anderen romanischen Sprachen, solle man möglichst wörtlich übersetzen. Bei Übersetzungen aus einer typologisch verschiedenen Sprache müsse der Übersetzer dagegen kreativ werden: Quien traduce de lengua totalmente extraña al genio y construcción de la lengua propia, puede y debe inventar nuevo molde para el pensamiento ajeno, haciendo obra de creador más que de intérprete. (zit. nach Vega 1994, 271)
In Hispanoamerika brachte die Unabhängigkeit der ehemaligen spanischen Kolonien im 19. Jh. auch einen Wandel in der Übersetzungspraxis mit sich. Übersetzt wurden zunächst vorwiegend politisch relevante Texte, zunächst vor allem aus dem Französischen, insbesondere Texte der französischen Aufklärer (vgl. Romano-Sued 2011, 2246). Manche Autoren vertreten in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass man „ohne die Übersetzungen europäischer Literatur kaum von einer Literatur Lateinamerikas sprechen könne“ (Scharlau 2002a, 10). Der französische Einfluss zeigt sich im Übrigen auch darin, dass die erste vollständige kastilische Bibelübersetzung in Lateinamerika, welche 1831-1833 in Mexiko erschien, auf einer französischen Version beruhte (vgl. Carresquero Martínez 1991, 58). Als Theoretiker und Förderer des Übersetzens ist Andrés Bello hervorgetreten, der selbst Gedichte von Victor Hugo und Lord Byron übersetzte. In seiner Eigenschaft als Gründungsrektor der chilenischen Universität setzte er sich für die Beschäftigung mit der Antike und modernen Fremdsprachen ein: „[...] el estudio de otros idiomas vivos y muertos, nos pone en comunicación con la antigüedad y con las naciones más civilizadas“ (zit. nach Carillo Zeiter 2002, 75). Wegen der großen Bedeutung des Übersetzens für die lateinamerikanischen Kulturen wurden früh entsprechende Studiengänge eingerichtet. Bereits 1885 gab es an der juristischen Fakultät der Universität Uruguay eine Ausbildung für Gerichtsübersetzer (vgl. Pym 1998a, 34). Der erste eigenständige Studiengang für Übersetzer wurde 1945 in Argentinien eingerichtet, es folgten Mexiko, Kuba, Puerto Rico, Brasilien, Chile, Peru, Venezuela und Ecuador (vgl. Cabrera et al. 1990, 139). Bereits Ende des 19. Jh. gibt es auch die ersten Zeugnisse für die Tätigkeit professioneller Konferenzdolmetscher, und zwar im Sprachenpaar Spanisch-Englisch: Die Pariser Friedensverhandlungen zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten im Jahr 1898 [...] wurden [...] mit einem Berufsdolmetscher (Arthur Ferguson) auf spanisch und eng-
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lisch geführt, der schon bei der 1. interamerikanischen Konferenz (1889) gearbeitet hatte und dann Dolmetsch-Sekretär für die Philippinen wurde. (Bowen 1998, 43)
Im Spanien des 20. Jh. wirkten sich Bürgerkrieg und Franco-Diktatur erheblich auf die Übersetzungspraxis aus. Zum einen befanden sich unter den Republikanern, die 1939 Spanien verließen, zahlreiche Autoren, die im lateinamerikanischen Exil als Übersetzer tätig wurden. Zum anderen war die Übersetzungstätigkeit während der Franco-Diktatur aufgrund von entsprechenden Pressegesetzen verschiedenen Restriktionen unterworfen. Das Übersetzen in andere Sprachen als Kastilisch war zeitweilig gesetzlich verboten, und Übersetzungen ins Kastilische unterlagen der Zensur. Die Kriterien für die Zensur waren sprachlicher, moralischer und politischer Natur. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind die Eingriffe der spanischen Filmzensur während der Franco-Zeit. So verlangten die Zensoren für die spanische Synchronfassung von François Truffauts Spielfilm Baisers volés (Besos robados, 1968) die Streichung anzüglicher oder politisch nicht korrekter Formulierungen sowie von Nacktszenen: Rollo 1°.– Suprimir la frase „meter mano“ [...] Rollo 2°.– Suprimir la frase „Maravilloso anacronismo“, referido al ejército. En la escena del hotel, realizar un nuevo montaje [...] suprimiendo todos los planos de desnudo del pecho de la mujer. [...] (zit. nach Ávila 1997, 146.)
Ähnliche Eingriffe finden sich im Bereich der Literatur (vgl. Meseguer Cutillas 2015). Um die spanische Zensur zu umgehen, ließen zahlreiche Schriftsteller die spanischen Übersetzungen ihrer Werke in Lateinamerika publizieren (vgl. Gutiérrez Lanza 2000, 283f.). In den letzten Jahren der Franco-Herrschaft kam es zu einem Umschwung: „Seit den 70er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt des Übersetzens von Lateinamerika (Argentinien, Mexiko) in die spanischen Verlagshäuser“ (Scharlau 2002a, 10). Ungeachtet der Einschränkungen im Bereich der literarischen Übersetzung erschien ab dem 2. Weltkrieg eine große Anzahl von kastilischen Bibelübersetzungen. Zunächst dominierten Neubearbeitungen älterer Übersetzungen, aber auch an Neuübersetzungen herrscht kein Mangel. Aus romanistischer Sicht von besonderem Interesse ist die 1976 erschienene Biblia de Jerusalén. Bei diesem Projekt wurden die biblischen Texte durch ein Team von zehn Übersetzern direkt aus den Originalsprachen übersetzt, während die reichhaltigen Kommentare auf die französischen Bible de Jérusalem (vgl. Kap. 1.2) zurückgehen (vgl. Carrasquero Martínez 1991, 72). Gegenwärtig gehört Spanien zu den Ländern mit einem hohen Anteil an übersetzter Literatur: 1991 waren 26% der veröffentlichten Bücher Übersetzungen (vgl. Barret-Ducrocq 1992, 64). Als Ausgangssprachen dominieren Englisch und Französisch. Bei der katalanischen Literatur erreichen die Übersetzungen einen ähnlich
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hohen Anteil. Sie spielen damit beim „Ausbau“ der modernen katalanischen Schriftsprache eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Lieber 1992, 52f.). In der Übersetzerausbildung, kam es, nach den ersten Institutsgründungen um 1960, in den 1990er Jahren im Rahmen der Eingliederung berufsbezogener Ausbildungsgänge an spanischen Hochschulen zu einem wahren Boom an Institutsgründungen: Allein zwischen 1992 und 1997 stieg die Zahl der Institute von vier auf 23 (vgl. Pym 1998a, 35).
�.� Italien Auch einige der ersten volkssprachlichen Schriften in Italien sind mehrsprachig. Die altkampanischen Schwurformeln placiti campani (960) stellen zwar keine Übersetzung im engeren Sinne dar, nehmen jedoch Informationen des lateinischen Haupttextes verkürzt wieder auf (vgl. Michel 1996). Was die Übersetzungen im engeren Sinne angeht, die ab dem 13. Jh. in relativ großer Zahl vorliegen, so kann man, wie in anderen romanischen Volkssprachen auch, einen Unterschied machen zwischen „vertikalem“ Übersetzen (aus einer „höherstehenden“ Sprache, i.d.R. dem Lateinischen, in die Volkssprache) und „horizontalem“ Übersetzen (zwischen zwei „gleichrangigen“ Sprachen, z.B. Französisch und Italienisch, bzw., zur Zeit des Humanismus, Griechisch und Latein): [...] nella visione sincronica che il Medioevo ha dei rapporti fra latino e volgare [...], si deve distinguere un tradurre „verticale“, dove la lingua di partenza, di massima il latino, ha un prestigio e un valore trascendente rispetto a quella d’arrivo [...] e un tradurre „orizzontale“ [...] (Folena 1991, 13)
Für das Übersetzen in die Volkssprache (meist aus dem Lateinischen) verwendet man im Italienischen ein eigenes Verb: volgarizzare. Es drückt aus, dass diese Übersetzungen und Bearbeitungen gleichzeitig auch für ein breiteres Publikum gedacht waren, denn Gebildete sprachen ja Latein und waren nicht auf Übersetzungen angewiesen. Viele volgarizzatori wiesen in Vorworten auf ihre popularisierenden Absichten hin. Brunetto Latini stellt sich in seiner Rettorica (1261) als Ko-Autor Ciceros dar, dessen Absicht es sei, Ciceros Gedanken zu verdeutlichen: L’autore di questa opera è doppio: uno che di tutti i detti de’ filosofi che fuoro davanti lui e dalla viva fonte del suo ingegno fece suo libro di rettorica, ciò fue Marco Tulio Cicero, il più sapientissimo de’ Romani. Il secondo è Brunetto Latino cittadino di Firenze, il quale mise tutto suo studio e suo intendimento ad isponere e chiarire ciò che Tulio avea detto. (zit. nach Guthmüller 1989, 220)
Der popularisierende Charakter mancher volgarizzamenti zeigt sich u.a. bei der Übersetzung von „Realienbezeichnungen“. So hat der Ovid-Übersetzer Simintendi versucht, den „mythologischen Apparat“ des Ausgangstextes beträchtlich zu redu-
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zieren: „wenn man nympha mit fanciulla, Amphitrite mit lo grande mare, Titan mit sole übersetzt, hat man in der Tat eine Menge Verständnishürden aus dem Weg geräumt“ (Pöckl/Pögl 2006, 1377). Andere volgarizzatori waren, ähnlich wie ihre französischen Zeitgenossen, bemüht, lateinische Wörter durch Synonymendopplung zu erklären: „fortuna: condizione e ventura; parietes: le mura et le pareti; [...] ferocitas: l’asprezza e la crudeltà“ (zit. nach Albrecht 1995a, 26). Die volgarizzamenti des 13. und frühen 14. Jh. trugen in erheblichem Maß zur Herausbildung der toskanischen Literaturprosa bei: Diese sprachliche Bereicherung durch die Übersetzer erfolgte vor allem in zwei Sektoren, in der Syntax und im Lexikon. In der Syntax handelt es sich vorwiegend um die Erweiterung des parataktischen Satzbaus mittels Partizipien, Gerundium, Accusativ mit Infinitiv und Variationen der Wortstellung (z.B. Prolepse). (Buck/Pfister 1978, 85)
Im Wortschatz machen Buck und Pfister (1978) zwei gegenläufige Tendenzen aus: zunächst Anpassungen an die Zielsprache bzw. Zielkultur, später die Verwendung von nur leicht adaptierten Latinismen: So wurde res publica bei Brunetto Latini zu comune, bei Bono Giamboni und Boccaccio dagegen zu repubblica. Zur gleichen Zeit wie die ersten volgarizzamenti aus dem Lateinischen (Mitte des 13. Jh.) entstanden auch schon „horizontale“ Übersetzungen aus anderen Volkssprachen. So wurden auf Sizilien provenzalische Liebesgedichte übersetzt und in Norditalien Bearbeitungen von Versepen und höfischen Romane aus dem Französischen angefertigt. Als Zielsprache fungierte dabei eine französisch-italienische Mischsprache, das sog. Franko-Italienische, die in Norditalien als Literatursprache verwendet wurde (vgl. Tavani 2009, 8ff.). Im 14. Jh. entstanden die ersten volkssprachlichen Übersetzungen von Bibeltexten. Meist handelte es sich um anonyme Teilübersetzungen. Die bekannteste trug den Titel Epistole e Vangeli. Von diesem Text sind nicht nur verschiedene Manuskripte überliefert, sondern im 15. und 16. Jh. auch zahlreiche Auflagen im Druck erschienen (vgl. Barbieri 1998, 28). Man nimmt allerdings an, dass ein Großteil der frühen Übersetzungen biblischer Texte nicht auf der Vulgata beruht, sondern auf französischen oder okzitanischen Vorlagen (vgl. Pöckl/Pögl 2006, 1376). Eine differenzierte Übersetzungstheorie gab es im Mittelalter noch nicht. Zitiert wird oft Dante, der selbst Texte lateinischer und provenzalischer Dichter ins Florentinische übersetzte und die These vertrat, dass Übersetzungen von Versdichtung immer mit einem Verlust der „Süße“ und „Harmonie“ verbunden seien: „E però sappia ciascuno che nulla cosa per legame musaico armonizzata si può de la sua loquela in altra trasmutare senza rompere tutta sua dolcezza e armonia“ (zit. nach Folena 1991, 30). Die Renaissance führte in Italien, wie später in Frankreich, zu einer verstärkten Übersetzung aus dem Griechischen. Dies geschah zunächst noch ins Lateinische,
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später auch in die Volkssprache. Nun entsteht auch eine wirkliche Übersetzungstheorie. Als erster wichtiger Übersetzungstheoretiker Italiens kann Leonardo Bruni gelten. Bruni, der selbst zahlreiche griechisch-lateinische Übersetzungen anfertigte, formulierte in der kurzen Abhandlung De interpretatione recta (ca. 1420) mehrere Regeln des Übersetzens. So fordert er vom Übersetzer eine möglichst perfekte Beherrschung von Ausgangs- und Zielsprache (wie ein Jahrhundert nach ihm Etienne Dolet, vgl. Kap. 1.2). Besonders interessant ist aber eine andere Forderung: „Leonardo Bruni fordert als erster ausdrücklich die stilistische Anpassung der Übersetzung an das Original“ (Kloepfer 1967, 40). Um dies zu erreichen, müsse der Übersetzer nicht nur die Ausgangssprache gut verstehen, sondern vor allem auch die Zielsprache ausgezeichnet beherrschen, wie Bruni betont (vgl. Bruni 2004, 77). Etwa 35 Jahre nach Bruni legt ein weiterer italienischer Humanist, Giannozzo Manetti, ebenfalls eine lateinisch geschriebene Abhandlung zum Übersetzen vor: Sie trägt den gleichen Titel wie Brunis Abhandlung, De interpretatione recta, und ist in Teilen ein Plagiat von Brunis Schrift. Es finden sich aber auch eigene Gedanken. Zum Beispiel versucht Manetti einen Mittelweg (via media) zwischen wörtlicher und sinngemäßer Übersetzung zu finden (vgl. Norton 2007, 1378). Die erste übersetzungstheoretische Abhandlung in italienischer Sprache entstand ziemlich genau 100 Jahre später und stammt von dem Rhetoriker Fausto da Longiano: Dialogo del modo di tradurre d’una in altra lingua secondo le regole mostrate da Cicerone (1556). Besonders interessant an Longianos Text ist die Tatsache, dass hier das Übersetzen gegen benachbarte Tätigkeiten abgegrenzt wird (vgl. Kapp 2008, 23): Unter einer metafrasi verstand er eine freie Bearbeitung, unter eine parafrasi eine längere Umschreibung, unter compendio eine Zusammenfassung und unter ispianatione einen Kommentar. Alle diese Tätigkeiten waren – neben dem Übersetzen – geläufige Übungen im Rhetorikunterricht. Nun zur Übersetzungspraxis. Im 16. Jh. finden sich die ersten literarischen Übersetzungen von Rang, vor allem aus dem Lateinischen. Besonders wichtig ist die Übersetzung von Vergils Äneis durch Annibale Caro: Between 1563 and 1566, Virgil’s Aeneid was translated by the famous man of letters Annibal Caro (1507–66), becoming what may be considered the first great work of translation produced in Italy. It is still studied at school today and is in many ways an unrivalled classic. Caro’s Eneide, while excellent from a poetic standpoint, is, like all the works of its time, far removed from the original. (Duranti 1998, 478)
Bemerkenswert ist auch die Übersetzung von Tacitus’ Annalen durch den Florentiner Bernardo Davanzati (1529–1606). Auffällig ist zunächst vor allem die Konzision von Davanzatis Text. Vergleicht man die bei Lapucci (1983, 45ff.) in Paralleldruck wiedergegebenen Auszüge von Ausgangs- und Zieltext, so ist die Übersetzung selten länger als das Original, an einigen Stellen sogar kürzer, was bei Übersetzungen aus dem Lateinischen selten vorkommt. Die Übersetzung zeichnet sich ferner durch
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ihre „geradezu derb und drastisch wirkende Anschaulichkeit aus“ (Stackelberg 1972, 30). So wird u.a. im Rahmen der Beschreibung eines Kampfes lat. caedere zu it. tagliare a pezzi. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass in Frankreich zur gleichen Zeit schon die ersten Vorläufer der belles infidèles entstehen, in denen Grobheiten konsequent geglättet oder ganz gestrichen werden (vgl. Kap. 1.2), und auch in Italien vergleichbare Übersetzungen erscheinen. Die italienische Übersetzung von Apuleius’ Roman Metamorphoses („Der goldene Esel“) durch Agnolo Firenzuola zeichnet sich vor allem durch eine konsequente Einbürgerung und Modernisierung aus. Die Handlung wird vom antiken Griechenland in das zeitgenössische Italien transferiert: Der Italianisierung der Topographie entspricht die Modifikation von Gegenständen des täglichen Lebens. Die Menschen bezahlen mit carlini, giuli, ducati d’oro, danari, quattrini und lire und geben damit einen Eindruck von der Währungsvielfalt zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien. [...] Wer schreibt, gebraucht Papier und Feder und nicht Wachstafeln und Griffel. [...] Zur öffentlichen Belustigung richtet einer eine Jagd aus, nicht aber Gladiatorenspiele. (Küenzlen 2005, 350f.)
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind des Weiteren die zahlreichen Übersetzungen von meist antiken Fach- und Sachtexten aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Mathematik, Botanik und Architektur, die für die Entwicklung des Italienischen als Fachsprache von Bedeutung waren (vgl. Pöckl/Pögl 2006, 1379). Eine wichtige Textsorte für die „horizontale“ Übersetzung waren Reiseberichte: „Früher als in anderen literarischen Bereichen öffnet man sich hier konsequent den Volkssprachen, auch dem Übersetzen aus und in Volkssprachen“ (Henschel 2005, 74). In übersetzungsmethodischer Hinsicht fällt bei den Reiseberichten auf, dass sie im Hinblick auf den Inhalt relativ texttreu übersetzt sind. Sie wurden also offenkundig vor allem als informative Texte rezipiert. Kommen wir abschließend zur Bibelübersetzung: Für die italienischen Bibelübersetzer vor der Reformation war es selbstverständlich, dass volkssprachliche Bibelübersetzungen auf der lateinischen Vulgata beruhen. Dies gilt auch noch für die erste gedruckte italienische Bibel (1471) von Nicolò Malerbi (vgl. Barbieri 1992, 37). Die ersten italienische Bibelübersetzung unter Berücksichtigung der hebräischen und griechischen Urtexte (allerdings unter Zuhilfenahme lateinischer Übersetzungen) erschien in den 30er Jahren des 16. Jh. und stammte von Antonio Brucioli (vgl. Barbieri 1998, 31). Obwohl diese Übersetzung fast zeitgleich mit der deutschen Luther-Bibel erschien, hatte sie einen wesentlich geringeren Bekanntheitsgrad in Italien als die Luther-Bibel in Deutschland und einen geringeren sprachgeschichtliche Bedeutung. In den Jahren 1546 bis 1563 fand das Konzil von Trient statt, wo man innerhalb der katholischen Kirche kontrovers über die Rolle volkssprachlicher Bibelübersetzungen debattierte. Das Konzil von Trient war von entscheidender Bedeutung für die katholischen Bibelübersetzungen in der Folgezeit, denn diese waren nur auf der
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Basis der Vulgata erlaubt (und zwar in der von der Kirche gebilligten Textfassung). Obwohl also Bibelübersetzungen nicht per se verboten waren, hatten es protestantische Bibelübersetzungen in Italien verständlicherweise schwer, weswegen die erste protestantische Übersetzung des Neuen Testamentes auf Italienisch 1555 in Genf und ohne Nennung des Übersetzers erschien (vgl. Barbieri 1998, 33). Anfang des 17. Jh. entstand in Genf eine weitere protestantische Bibelübersetzung. Übersetzer war Giovanni Diodati. Die erste Auflage seiner Übersetzung erschien 1607, eine überarbeitete Version mit zahlreichen Anmerkungen folgte 1641. Bis heute gilt diese Übersetzung als die wichtigste protestantische Bibelübersetzung in italienischer Sprache (vgl. Platone 2004, 41). Ab Mitte des 17. Jh. und vor allem im 18. Jh. übte in Italien Frankreichs Sprache und Literatur einen großen Einfluss auf die Kultur- und Übersetzungsgeschichte aus. Nicht alle französischen Werke waren jedoch in Italien willkommen. Montaignes Essais erschienen z.B. 1633 in einer gekürzten Ausgabe. Es fehlten mit dem „Avis au lecteur“ und der „Apologie de Raymond de Sebond“ zwei wichtige Texte. Ein Jahr später erschien in Venedig die Apologia di Raimondo di Sebonda in einer separaten Ausgabe. Als Übersetzer gab sich der Verleger Marco Ginammi aus, der Name des Übersetzers, Girolamo Canini, wurde nicht genannt. Über 30 Jahre später erkannte die Kirche die theologische Brisanz des Textes und ließ ihn beschlagnahmen: „L’Apologia costituava un grande pericolo per la Chiesa e quando l’Inquisizione, nel 1669, se ne rese conto, lo zelo fu tanto che tutte le copie de la traduzione vennero scrupolosamente confiscate“ (Wojciechowska 2009, 105). Im 18. Jh. erwachte das Interesse an der englischen Literatur. Diese wurde meist über französische Vermittlung rezipiert. Wenn ein italienischer Übersetzer nicht genügend Englisch verstand, fertigte er seinen Text auf der Basis einer französischen Übersetzung an. Der Abstand vom Ausgangstext konnte dabei erhebliche Ausmaße annehmen, da bereits die französischen Übersetzungen meist sehr frei waren und oft auch die Weiterübersetzungen nach dem Vorbild der belles infidèles verfasst wurden, so dass wir eine Art „Stille-Post“-Spiel beobachten können, wenn wir die entsprechenden Texte vergleichen. Als Fallbeispiel für die Sprachenfolge Englisch – Französisch – Italienisch zitiert Stackelberg Edward Youngs Night Thoughts (1747), die von Le Tourneur (1769) ins Französische und von Antonio Loschi (1800) weiter ins Italienische übersetzt wurden. Hierzu ein kurzes Beispiel aus dem englischen Ausgangstext, der französischen Übersetzung und der italienischen Weiterübersetzung (Kontext: der Dichter erinnert sich an seine verstorbene Tochter Narcissa): Like Birds quite exquisite of Note and Plume, Transfixt by Fate (who loves a lofty Mark) How from the Summit of the Grove she fell, And left it unharmonious! All its Charm Extinguisht in the wonders of her Song!
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Comme elle a été tout à coup précipitée du faîte du bonheur! ainsi tombe, atteint d’un plomb meutrier, le chantre mélodieux des forêts, au moment même où il charmoit les airs par son brillant ramage. Il expire au milieu de sa douce chanson interrompue [...] Come repentinamente ella è stata balzata dell’apice della contentezza! Non altrimenti il musico volator della foresta tocco dal piombo micidiale, cade in quel momento istesso, in cui la sua gola animosa empia l’aere sospeso ad udirlo, d’una tremola e dilicata armonia, e spira a mezzo della sua dolcissima canzonetta [...] (zit. nach Stackelberg 1984, 186ff.)
Man erkennt sehr schnell, dass die italienische Version nicht aus dem englischen Original übersetzt ist, sondern aus dem Französischen. So enthält Le Torneurs Prosaversion etliche erklärende und poetisierende Ausschmückungen, die sich bei Loschi wiederfinden. Im Original wird Narcissa mit einem Vogel verglichen, der vom Himmel gefallen ist. Im Französischen und entsprechend im Italienischen wird aus bird eine poetisierende, preziöse Umschreibung: le chantre mélodieux des forêts bzw. il musico volator della foresta; erklärend hinzugefügt wird ferner, dass der Vogel abgeschossen wurde: atteint d’un plomb meurtrier bzw. tocco dal piombo micidiale. An einigen Stellen finden sich in der italienischen Version sogar noch weitere Ausschmückungen. So wird sa douce chanson zu la sua dolcissima canzonetta. Auch Shakespeare wurde im 18. Jh. noch überwiegend durch den Filter französischer Übersetzungen rezipiert (vgl. Ballard 2013, 124f.). Es gab zur gleichen Zeit aber auch andere Übersetzungen in Italien. So wurden die antiken Klassiker wieder verstärkt übersetzt. Im Unterschied zu den Übersetzungen bzw. Weiterübersetzungen aus dem Französischen waren hier meist philologisch geschulte Übersetzer am Werk. Als einer der wichtigsten Übersetzer der Zeit gilt Melchiorre Cesarotti (1730– 1808). Er verfasste u.a. zwei Versionen der Ilias: eine freie Nachdichtung in Versen und eine relativ wörtliche, mit ausführlichen Kommentaren versehene Prosaübersetzung. Zur Begründung dieser zweifachen Übersetzung führte Cesarotti aus: „Due sono gli oggetti ch’io mi sono proposto con essa: l’uno di far gustare Omero, l’altro di farlo conoscere“ (zit. nach Mattioli 1983, 34). Cesarotti erweist sich also als früher „Funktionalist“, da bei ihm die Übersetzungsmethode vom Übersetzungsweck (poetische Erbauung vs. Hinführung zum Original) abhängt. Im 18. Jh. entstand ferner eine bedeutende katholische Übersetzung der Bibel: die Übersetzung von Antonio Martini. Trotz kritischer Stimmen innerhalb des Klerus wurde diese Übersetzung vom Papst für gut geheißen. Die Martini-Bibel erlangte große Verbreitung, bis ins 20. Jh. hinein: „divenne la Bibbia italiana cattolica per almeno 150 anni“ (Buzzetti 1984, 80). Die italienische Übersetzungstheorie war im 18. Jh. stark von der französischen Aufklärung beeinflusst. Von dort wurde der Schlüsselbegriff des génie übernommen. Dieser wurde sowohl auf Sprachen angewandt als auch auf Autoren. In Bezug auf sprachliche Strukturen wirke sich eine lexikalische und syntaktische Flexibilität positiv auf die Übersetzbarkeit aus (vgl. Schwarze 2006, 181f.) Nach Ansicht von
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Anton Maria Salvini, der zahlreiche Übersetzungen aus dem Griechischen vorgelegt hat, eigne sich das Italienische besonders zur Wiedergabe des Griechischen: „E la nostra lingua trall’altre, a tradurre particolarmente dal greco è acconcissima“ (zit. nach Brettoni 2004, 24). In Bezug auf das schriftstellerische Genie schrieb Paolo Gagliardi 1757 in seinem Discorso delle traduzioni: „E non solo le lingue hanno esse le sue proprietà, ma anco gli scrittori stessi. […] chi volesse spogliare ciascuno di quello stile, che è proprio di lui, sarebbe ciò non un interpretare gli Autori, ma contraffarli” (zit. nach Bertazzoli 2006, 58). Eine Verfälschung des Individualstils würde also aus der gesamten Übersetzung eine Fälschung machen. Nicht als Übersetzungstheoretiker im engeren Sinn, sondern eher als Übersetzungskritiker ist im 18. Jh. Francesco Algarotti hervorgetreten: In seinen fiktiven Lettere di Polianzio ad Ermogene intorno alla traduzione dell’Eneide del Caro (1744) kritisiert er Caros berühmte Äneis-Übersetzung. Er beschränkt sich dabei jedoch nicht auf eine Auflistung von Fehlern, sondern macht Verbesserungsvorschläge: What Algarotti finally wanted was not another translation of the Aeneis. Translating Virgil, in his opinion, was an almost impossible task for one individual to perform. What he advocates in his fourth letter, therefore, is a thorough revision of Caro’s celebrated version. (Van den Broeck 1997, 283)
Anfang des 19. Jh. steht die literarische Übersetzung in Italien unter dem Zeichen des Klassizismus. Bei den Übersetzungen der antiken Literatur spielen HomerÜbersetzungen die zentrale Rolle. Berühmtheit erlangte insbesondere Vincenzo Montis Version der Ilias (1811). Homers Stil wurde von Monti „rhetorisiert“: Nel campo della retorica sintattica le figure più frequenti sono quelle di ripetizione, che moltiplicando e rifrangendo la semplicità della parola omerica in un gioco insistito di echi [...] consentono al traduttore sicuri effetti di sonorità e di evidenza verbale. (Mari 1994, 352)
Als Beispiel zitiert Mari u.a. die folgende Wiederholungsfigur, ein Polyptoton (Wiederholung des gleichen Wortes in verschiedenen Formen innerhalb eines Satzes): oh t’avessi tu salde le ginocchia e saldi i polsi come hai saldo il cuore (IV, 385–86, zit. nach Mari 1994, 352)
Rhetorisierende, an literarischen Normen der Zielsprache orientierte Übersetzungsverfahren finden sich im Übrigen sogar in Fachübersetzungen der Zeit. Pöckl nennt in diesem Zusammenhang folgende Beispiele aus einer frühen Darwin-Übersetzung: [...] lexikalische variatio statt eindeutiger Entsprechungen (skin vs. derma / tegumento / pelle), starke Neigung zur „aulischen“ Variante (atoms – minuzzoli, danger – periglio) und zu archaisierendem Einschlag (escape – isfuggire). (Pöckl/Pögl 2006, 1380)
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In der Übersetzungstheorie fällt auf, dass wir in Italien nun ähnliche Positionen finden wie im Frankreich des 17. Jh. Einige Autoren halten die italienische Sprache inzwischen für so reif, dass man ausschließt, sie könne durch Übersetzungen aus anderen modernen Sprachen bereichert werden. Ganz deutlich wird dies in der Dissertazione critica sulle traduzioni (1808) von Giovanni Carmignani: Or domando io come potrebbe l’armonioso e gentil nostro idioma, che dopo la greca e la latina favella ha per unanime consentimento dei più sensati critici delle moderne nazioni, il posto primiero, e incomparabilmente il più distinto tra i viventi idiomi, come potrebbe attinger nuovi colori, nuove bellezze e forme novelle dello stil delle lingue, che a lui si confessano inferiori cotanto? (zit. nach Schwarze 2004, 254)
Ähnliche Bemerkungen finden sich in Leopardis Zibaldone (1817–32). Leopardi wendet sich darin explizit gegen die von der deutschen Romantik vertretene, sprachlich verfremdende Übersetzungsmethode, die man nicht auf das Italienische übertragen dürfe. Mattioli fasst Leopardis zentrale Aussage folgendermaßen zusammen: „Una lingua perfetta può imitare il genio e lo spirito di qualsiasi altra lingua, ma non recalcarne i costrutti“ (Mattioli 1983, 41). Leopardi befindet sich mit dieser Haltung im Widerspruch zu Autoren wie Ugo Foscolo und Giovanni Pascoli, die eine stärker verfremdende Übersetzung befürworteten (vgl. Filippi 1987). Kritische Bemerkungen zu der klassizistischen Haltung der italienischen Übersetzungskultur enthält der 1816 publizierte Artikel „Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni“ von Madame de Staël. Diese lobt zwar Montis Ilias-Übersetzung, ruft aber gleichzeitig die Italiener zu mehr Übersetzungen aus den modernen europäischen Literaturen auf: Ihre [Madame de Staëls] Kritik an der italienischen Übersetzungskultur setzt bei der Rezeption zeitgenössischer Literatur an. Die klassische Antike sei für das zeitgenössische Europa nicht als Kanon, sondern als Tradition zu rezipieren. Die Quelle für die Weiterentwicklung der Literatur könne nur in der Rezeption von innovativen Elementen der zeitgenössischen Literatur liegen, die insbesondere aus England und Deutschland kämen. (Schwarze 2004, 278)
Geradezu entrüstet zeigt sich Madame de Staël über die Vernachlässigung Shakespeares: „Un letterato [Michele Leoni] a Firenze ha fatto studi profondi sulla letteratura inglese, ed ha intrapresa una traduzione di tutto Shakespeare, poiché, cosa da non credere! non esiste ancora una traduzione italiana di questo grand’uomo” (zit. nach Goldin Folena 1999, 201). Ein weiterer Autor, der sich für Übersetzungen aus europäischen Sprachen stark gemacht hat, war der Politiker und Literat Giuseppe Mazzini: In politisch-literarischen Schriften wie D’una letteratura Europea (1829) erhebt Mazzini die nachdrückliche Forderung nach Erneuerung der europäischen Kultur und Literatur über das
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Studium der fremden Sprachen und Literaturen, Reisen und übersetzerische Rezeption der für die europäische Kulturszene maßgeblichen Autoren. (Bschleipfer/Schwarze 2011, 1955)
Mazzini gab u.a. italienische Übersetzungen Schillers heraus und plante den Aufbau einer Biblioteca drammatica mit Übersetzungen europäischer Dramen im Dienste der italienischen Nationsbildung. Tatsächlich finden sich im weiteren Verlauf des 19. Jh. zunehmend Übersetzungen aus anderen modernen Sprachen als dem Französischen, insbesondere aus dem Englischen und dem Deutschen. Deutsche Werke werden jedoch oft noch über den Weg französischer Zwischenübersetzungen rezipiert, z.T. noch bis zum Beginn des 20. Jh., wie Plack (2015) am Beispiel der Übersetzungen von Texten Schillers, E.T.A. Hoffmanns, Kants und Nietzsches gezeigt hat. Abschließend noch ein kurzer Blick auf die Bibelübersetzung. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern führt in Italien die Gründung von Bibelgesellschaften zu einer weiteren Verbreitung von Bibelübersetzungen. Allerdings kam es in Italien nicht zu wegweisenden Neuübersetzungen, sondern lediglich zu Neuauflagen älterer Versionen wie der protestantischen Diodati-Bibel (vgl. Platone 2004, 49). Im 20. Jh. entsteht das moderne Berufsbild des Übersetzers (zunächst des Literatur-, dann des Fachübersetzers). Dennoch sind im Bereich der literarischen Übersetzung weiterhin einige wichtige Schriftsteller mit Übersetzungen befasst. Eine besondere Bedeutung erlangen Übersetzungen amerikanischer Autoren durch italienische Literaten während des Faschismus: [...] from the isolated intellectual who proposed a translation project out of a deep personal interest in the foreign text, we gradually see the emergence of a professional figure of a translator commissioned by a publishing house and often performing his/her task under very unfavourable conditions. One remarkable exception is the role played by writers like Cesare Pavese, Elio Vittorini, and Eugenio Montale in the late 1930s and early 1940s; such writers actively rekindled interest in English, especially American, literature through an intense activity of translation. Especially in the case of Pavese and Vittorini, translating was a way of proposing a cultural and political alternative to the stifling and autarchic cultural policies of the Fascist regime. (Duranti 1998, 481)
V. Ferme beschreibt in seinem Buch Tradurre è tradire die vielfältigen Gründe für die erstaunliche Blüte der amerikanisch-italienischen Übersetzungen, die bereits in den frühen zwanziger Jahren einsetzt (vgl. Ferme 2002, 44): wachsendes Interesse an der US-amerikanischen Kultur (Musik, Film usw.), wirtschaftlicher und politischer Einfluss der USA in Europa, Krise der italienischen Literatur, zögernde Haltung der Verlage gegenüber jüngeren einheimischen Autoren und schließlich die im Untertitel des Buches genannte, „subversive“ Funktion der Übersetzung: La traduzione come sovversione culturale sotto il Fascismo. Das Resultat ist eine radikale Modernisierung der Literatursprache: „Der pathetischen Rhetorik des Faschismus
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wird der schnoddrig-unterkühlte Ton nordamerikanischer Romanciers entgegengehalten“ (Pöckl/Pögl 2006, 1381). Die Zensur war in den ersten Jahren des Faschismus im Bereich der Literatur noch relativ moderat: „Until 1934, there was no preventive censorship, although books were liable to sequestration after publication“ (Dunnett 2002, 101). Übersetzungsanalysen zeigen jedoch, dass es bei den Übersetzern bereits eine ausgeprägte Selbstzensur gab (vgl. Barrale 2011). In den folgenden Jahren wurde die staatliche Zensur immer strenger. Ein bekanntes Beispiel ist die von dem Schriftsteller Elio Vittorini herausgegebene Anthologie Americana mit Texten amerikanischer Autoren, die zunächst unzensiert erschien, dann ein neues Vorwort erhielt und wenige Monate nach dem Erscheinen (1942) beschlagnahmt wurde (vgl. Dunnett 2002, 118). Die immer restriktivere Haltung gegenüber Übersetzungen führte 1942 zu einem deutlichen Rückgang der Übersetzungsproduktion (vgl. Rundle 2014, 38). Eine Zensur gab es auch im Bereich des Films. Auch die Entscheidung für die Synchronisation und gegen die Untertitelung fällt in die Zeit des Faschismus, denn Synchronfassungen kann man leichter manipulieren (vgl. Perego 2005, 21). Ab 1933 mussten daher alle nach Italien importierten Filme in Italien synchronisiert werden (vgl. Ricci 2008, 157). Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs auch in Italien der Bedarf an Fachübersetzern und Dolmetschern. Allerdings weist E. Borello (1999, 301f.) auf einen besonderen Nachholbedarf in Bezug auf die Voraussetzungen für das Übersetzerstudium hin, da Fremdsprachen während der Zeit des Faschismus nur eine untergeordnete Rolle spielten und auch danach im italienischen Schulwesen noch oft als Nebenfach galten. Dieser Nachholbedarf hat auch dazu beigetragen, dass man sich bei der Gründung von Instituten zur Übersetzer- und Dolmetscherausbildung z.T. nach dem Vorbild bereits bestehender Einrichtungen in anderen Ländern orientierte. So wurde an der Universität Triest ein Studiengang für Übersetzer und Dolmetscher nach dem Vorbild des Instituts in Genf eingerichtet. Seit 1978 genießt die Scuola Superiore di Lingue Moderne per Interpreti e Traduttori (SSLMIT) Fakultätsstatus. 1989 erfolgte die Gründung eines gleichnamigen Instituts an der Universität Bologna (mit Sitz in Forlì). Seit einer Hochschulreform im Jahr 2000 ist die Sprach- und Kulturmittlung („Mediazione linguistica e culturale“) auch im italienischen Germanistikstudium verankert, welches zuvor stark literarisch geprägt war (vgl. Katelhön/Nied Curcio 2012, 25f.). Abschließend noch zur Bibelübersetzung: Hier ist aufgrund einer geänderten Haltung der katholischen Kirche ein regelrechter Boom zu verzeichnen. Im Laufe des 20. Jh. erschienen ca. 25 Neuübersetzungen und Neubearbeitungen. Die wichtigste und am weitesten verbreitete katholische Bibelübersetzung des 20. Jh. ist die Bibel der italienischen Bischofskonferenz (CEI), die 1971 in erster Auflage erschien. Im Unterschied zu früheren katholischen Bibelübersetzungen basiert sie nicht auf der lateinischen Vulgata, sondern auf den Bibeltexten in den Originalsprachen (vgl.
�� � Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis
Platone 2004, 26). Im Bereich der protestantischen Übersetzungen blieb die DiodatiBibel, die 1924 und 1994 überarbeitet wurde, maßgebend (vgl. Buzzetti 1998, 109). Gegenwärtig zählt Italien zu den Ländern mit einem besonders hohen Anteil an Übersetzungen: Ca. 25% der veröffentlichten Bücher sind Übersetzungen. Als Ausgangssprache steht Englisch ganz klar an der Spitze, gefolgt von Französisch und Deutsch. Quantitativ von geringer Bedeutung, aber sprachpolitisch relevant sind die Übersetzungen in die Regionalsprachen Italiens. So propagierte Pasolini Übersetzungen ins Friaulische, um dessen Status als Literatursprache zu festigen (vgl. Lukenda 2014, 51).
�.� Bibliographische Hinweise Zur Geschichte des Übersetzens gibt es eine Reihe von Monographien, die länderund epochenübergreifend ausgerichtet sind. Aus romanistischer Sicht von besonderem Interesse ist das Buch von Albrecht (1998), in dem der Schwerpunkt auf der Geschichte der literarischen Übersetzung im westlichen Europa liegt. Als Ergänzung empfiehlt sich der in Sammelband von Delisle und Woodsworth (1995/2012), der auch Aspekte einbezieht, die in anderen Werken oft vernachlässigt werden, wie z.B. die Geschichte des Dolmetschens. Sich ergänzende Übersichtsdarstellungen in französischer Sprache sind Ballard 1992 (zur Übersetzungstheorie) und Ballard 2013 (zur Übersetzungspraxis). Übersichtsartikel zu verschiedenen Ländern und Sprachen bieten die Beiträge in Baker (1998) und in den Bänden 2 und 3 des Handbuchs von Kittel et al. (2007, 2011).7 Wer sich besonders ausführlich zu einzelnen Epochen der Übersetzungsgeschichte von der Antike bis in die Renaissance informieren möchte, kann dies bei Vermeer tun (1992, 1996, 2000). Darstellungen zur römischen Antike bieten Seele (1995), McElduff (2013) und – in knapper Form – Kelly (1998). Von den im vorliegenden Kapitel behandelten Ländern ist Frankreich in übersetzungsgeschichtlicher Hinsicht am besten untersucht. In vier umfangreichen Bänden behandelt die Histoire des traductions en langue française die französische Übersetzungsgeschichte von der Renaissance bis ins 20. Jh. (Duché 2015; Chevrel et al. 2014; Chevrel et al. 2012; Banoun/Masson 2016), wobei neben Frankreich auch andere frankophone Länder berücksichtigt werden und neben literarischen auch außerliterarische Textsorten. Aber auch an weniger umfangreichen Darstellungen herrscht kein Mangel. Ein Klassiker ist Carys Band zu berühmten französischen Übersetzern (1963). Komplementär dazu kann Nies (2009) herangezogen werden, der auch weniger berühmte Übersetzer in den Blick nimmt, sowie Dotoli (2010), der auch die Übersetzungstheorie einbezieht. Zur Bibelübersetzung vgl. den illustrierten
�� 7 Im Unterschied zu Spanien und Italien wird Frankreich bei Kittel et al. (2011) allerdings nur sehr lückenhaft behandelt.
Bibliographische Hinweise � 37
Sammelband von Bogaert (1991). Handbuchartikel zur französischen Übersetzungsgeschichte sind Salama-Carr (1998) und Albrecht (2006). Zum Mittelalter vgl. einführend Buridant (1983) und Bérier (1988), den Bogen zur Renaissance schlägt Norton (1984). Die Zeit der Klassik wird ausführlich behandelt in den Monographien von Zuber (1968) und Balliu (2002) sowie in dem Sammelband von Ballard und D’hulst (1996). Zur Übersetzungstheorie im 18. Jh. vgl. die Monographien von Schneiders (1995), Konopik (1997) und Münzberg (2003). Der Reader von D’hulst (1990) deckt die Zeit von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jh. ab. Zum 19. Jh. vgl. auch den Artikel von Benelli (1997). Weniger gut untersucht ist die Übersetzungstätigkeit in anderen (ganz oder teilweise) frankophonen Ländern bzw. Regionen. Übersichtsartikel gibt es u.a. zu Kanada (Delisle 1998) und Afrika (Bandia 1998). Eine Fülle von Dokumenten zur Geschichte des Übersetzens und Dolmetschens in Frankreich, Kanada und der Schweiz bietet die CD-ROM von Delisle und Lafond (2001). Zur Übersetzungsgeschichte Spaniens gibt es inzwischen nicht nur einführende Handbuchartikel (Pym 1998b, Pöckl 2006b), sondern auch eine einschlägige Monographie (Ruiz Casanova 2000) sowie einen umfangreichen Sammelband (Lafarga/Pegenaute 2004), der neben dem Kastilischen auch das Katalanische, das Galicische und das Baskische berücksichtigt. Eine Einführung in die Geschichte der Bibelübersetzung bietet der Artikel von Carrasquero Martínez (1991). Artikel zu einzelnen Epochen der Übersetzungsgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jh. finden sich in zwei Aufsatzsammlungen von García Yebra (1983, 1994). Die so genannte „Schule von Toledo“ wird ausführlich von in der französischen Monographie von Foz (1998) behandelt, die auch in spanischer Übersetzung vorliegt. Über das 15. und frühe 16. Jh. informiert das Buch von Russell (1985). Zur Übersetzungstheorie im Siglo de Oro vgl. Santoyo (1989). Zum Einfluss Frankreichs im 18. Jh. vgl. die Beiträge in Donaire/Lafarga (1991), zur Fachübersetzung siehe Lépinette (1998). Das späte 19. und frühe 20. Jh. wird behandelt in dem Sammelband von Vega (1998). Zur Übersetzung während der Franco-Herrschaft vgl. Gutiérrez Lanza (2000) und Meseguer Cutillas (2015), zum 20. Jh. insgesamt vgl. Rabadán et al. (2011). Das Übersetzen in Lateinamerika ist erst in jüngerer Zeit stärker in den Blick genommen worden. Einen Überblick vermitteln die Artikel von Bastin (1998) und Romano-Sued (2011). Der Sammelband von Scharlau (2002) enthält Beiträge zu Einzelaspekten sowie einen Forschungsbericht der Herausgeberin (2002a). Zur Kolonialgeschichte vgl. die Monographie von Valdéon (2014). Handbuchartikel zur Übersetzungsgeschichte in Italien sind Duranti (1998) und Pöckl/Pögl (2006). Einige bedeutende Übersetzer werden behandelt bei Lapucci (1983, mit Textbeispielen). Zur Bibelübersetzung vgl. die Sammelbände von Buzzetti/Ghidelli (1998) und Platone (2004). Eine knappe Übersicht zur Theorie der literarischen Übersetzung vermittelt Mattioli (1983). Zu den mittelalterlichen volgarizzamenti vgl. Buck/Pfister (1978) und Guthmüller (1989). Ausführliche Informationen zur Fachübersetzung in Mittelalter, Renaissance und früher Neuzeit finden sich bei
�� � Geschichte der Übersetzungstheorie und -praxis
Olschki (1919–27). Die Übersetzungstheorie im 18. und 19. Jh. behandelt Schwarze (2004); zum 18. Jh. vgl. auch Fanti (1980) und Schneiders (1995), zum 19. Jh. Filippi (1987). Über die Übersetzungspraxis im 18. und 19. Jh. informiert die Monographie von Mari (1994). Der Sammelband von Gipper (2014) bietet Einblicke in die neuere Übersetzungsgeschichte. Die Zeit des Faschismus wird bei Ferme (2002) aufgearbeitet. Einblicke in die Übersetzungstheorien einzelner Autoren vermitteln Anthologien, die inzwischen in verschiedenen Sprachen vorliegen: Ein Klassiker ist Störig (1973), mit besonderer Berücksichtigung deutschsprachiger Autoren. Das Bändchen von Nergaard (1993) liest sich streckenweise wie eine italienische Kurzfassung von Störig. Breiter angelegt ist die überregional konzipierte Sammlung in spanischer Sprache von Vega (1994), während sich Horguelin (1981) ganz auf den französischen Sprachraum konzentriert. Ein ausführlicher Reader in englischer Sprache, mit biographischen Informationen zu den behandelten Autoren, ist Robinson (1997). Unentbehrliche Hilfsmittel zu historischen Untersuchungen der Übersetzungspraxis sind Übersetzungsbibliographien, auch wenn keine von ihnen Lückenlosigkeit für sich beanspruchen kann. Einschlägige Bibliographien liegen u.a. zu folgenden Ländern bzw. Sprachenpaaren vor: Frankreich (Chavy 1988; Van Bragt et al. 1995/96), Spanien (Santoyo 1996), Kanada (Delisle 1987), Deutschland (Rössig 1997); Französisch-Deutsch (Fromm 1950–53), Deutsch-Französisch (Bihl/Epting 1987), Italienisch-Deutsch (Hausmann 1992; Kapp et al. 2004), ItalienischFranzösisch (Dotoli et al. 2001; Valin 2001). Zur Übersetzungstätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. den Index translationum (1948ff.).8 Eine Zusammenstellung statistischer Daten zur Übersetzungsproduktion in Europa findet sich bei BarretDucrocq (1992), speziell zu Frankreich vgl. Sapiro (2008 und 2012).
Aufgaben 1. Der auf Horaz zurückgehende Ausdruck fidus interpres wird bis heute immer wieder zitiert (vgl. z.B. den Titel des Sammelbandes Santoyo et al. 1989). Das Zitat, aus dem er stammt, ist in der Geschichte sehr unterschiedlich gedeutet worden. Lesen Sie dazu Albrecht (1998, 56ff.). 2. Vergleichen Sie Etienne Dolets Abhandlung La manière de bien traduire d’une langue en aultre (1540, abgedruckt und kommentiert in Cary 1963) und Martin Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530, abgedruckt in Störig 1973). 3. Wie werden die belles infidèles bei Stackelberg (1971) und Balliu (2002, 81ff.) bewertet? Wann endet nach Ansicht der beiden Autoren die Ära der belles infidèles? Lesen Sie weitere Literatur zu dieser Epoche (z.B. Zuber 1968 oder die �� 8 Inzwischen online konsultierbar unter: http://www.unesco.org/culture/xtrans.
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Beiträge in Ballard/D’hulst 1996) sowie zu modernen Übersetzungen nach Art der belles infidèles (vgl. Robyns 1990). 4. Welches sind die übersetzungstheoretischen Grundideen der deutschen Romantik? Welche Relevanz haben diese heute noch? Lesen Sie zunächst die entsprechenden Primärtexte (besonders wichtig: Schleiermacher) bei Störig (1973) und anschließend die Darstellung von Berman (1984). Zur Rezeption Schleiermachers kann vertiefend der Band von Cercel und Şerban (2015) herangezogen werden (der trotz des englischen Titels auch Beitrage in deutscher und französischer Sprache enthält). 5. Lesen Sie den Aufsatz von Santoyo (1989) zur Übersetzungstheorie im spanischen Siglo de Oro und beantworten Sie folgende Fragen: Mit welchem Werk beginnt nach Ansicht des Verfassers das Siglo de Oro der spanischen Literatur? Welche übersetzungstheoretischen Äußerungen finden sich in dem besagten Werk? 6. Informieren Sie sich anhand der Beiträge in Donaire/Lafarga (1991) über den Einfluss Frankreichs auf die spanische Sprache und Kultur im 18. Jh. Stellen Sie Vergleiche zu anderen Ländern an, insbesondere im Hinblick auf das Phänomen der „Übersetzungen aus zweiter Hand“. Lesen Sie hierzu Stackelberg (1984). 7. Folena bezeichnet Leonardi Brunis Verwendung von lat. traducere im Sinne von „übersetzen“ als neologismo semantico europeo. Was ist damit gemeint? Lesen Sie hierzu Folena (1991, 69ff.) und Pöckl (2016). 8. Lesen Sie Ferme (2002, 19ff.) und beantworten Sie folgende Fragen: Wie bewertet der Autor den Einfluss der Übersetzungen Paveses und Vittorinis auf die italienische Literatur? Wie haben sich Pavese und Vittorini selbst zu ihren Übersetzungen amerikanischer Autoren geäußert? 9. Besorgen Sie sich zwei der unter 1.5 angegebenen Anthologien zur Übersetzungstheorie und vergleichen Sie diese unter folgenden Gesichtspunkten: Welche Autoren sind in beiden Anthologien vertreten, welche nur in einer? Welche Länder sind besonders gut vertreten, welche weniger gut? Wie erklären Sie sich die Unterschiede? 10. Nehmen Sie Einsicht in eine der unter 1.5 angegebenen Übersetzungsbibliographien. Verschaffen Sie sich einen Überblick über einen bestimmten Zeitraum, z.B. ein Jahrhundert, und beantworten Sie folgende Fragen: Welche Textsorten und welche Autoren wurden besonders häufig übersetzt? Lassen die Titel der Übersetzungen auf die Übersetzungsmethode schließen?
� Grundfragen der Translationswissenschaft In diesem Kapitel sollen einige wichtige Themen der Translationswissenschaft (Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft) diskutiert werden, wobei Ansätze aus dem französischen, italienischen und spanischen Sprachraum im Mittelpunkt stehen (mit Vergleichen zur deutschsprachigen und englischsprachigen Translationswissenschaft). Berücksichtigt werden dabei, im Anschluss an Kap. 1, Autoren des 20. und beginnenden 21. Jh. Der thematische Schwerpunkt liegt auf sprachenpaarunabhängigen Fragestellungen. Sprachenpaarbezogene Probleme des Übersetzens und Dolmetschens werden in Kap. 3 behandelt.
�.� Etablierung des Faches Die Übersetzungswissenschaft als eigenständige Disziplin, d.h. nicht als Teilgebiet einer anderen Wissenschaft (speziell der Linguistik) etablierte sich in den sechziger bis achtziger Jahren des 20. Jh.; die Dolmetschwissenschaft folgte in den neunziger Jahren. Die Argumente dafür, dass eine Konzeption der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft als angewandte Sprachwissenschaft zu eng ist, liegen vor allem im kulturellen Bereich: Zwar machen sprachliche Probleme einen Großteil der tatsächlich vorkommenden Übersetzungsprobleme aus, aber die – je nach Textsorte – unterschiedlichen kulturellen (z.B. literarischen, landeskundlichen oder juristischen) Aspekte des Übersetzens und Dolmetschens können von einer rein sprachwissenschaftlich ausgerichteten Disziplin nicht erfasst werden. Dennoch sind die Grenzen zu benachbarten Disziplinen fließend, so dass z.B. Mary Snell-Hornby (1996, 61) die Translationswissenschaft als Interdisziplin bezeichnet.1 Praktische Argumente für eine (relative) Eigenständigkeit der Translationswissenschaft liegen m.E. in der Notwendigkeit einer eigenen, wissenschaftlich begründeten Methodik für die Übersetzer- und Dolmetscherstudiengänge und in der Ausbildung eines eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses (vgl. Schreiber 2003, 195). Als „Geburtsurkunde“ der Übersetzungswissenschaft kann im internationalen Kontext das Buch Toward a Science of Translating von Eugene A. Nida (1964) betrachtet werden, das zwar primär der Bibelübersetzung gewidmet ist, aber darüber hinaus (nicht zuletzt auch durch seinen programmatischen Titel) zur Etablierung der gesamten Disziplin entscheidend beigetragen hat. Zur Benennung der Disziplin �� 1 Zu verschiedenen Ausprägungen dieser Interdisziplinarität vgl. Kaindl (2004: 60ff.) und Thome (2012: 29ff.). Kritisch zum „Integrationsversprechen“ der Interdisziplinarität in der Translationswissenschaft vgl. Heller (2014).
42 � Grundfragen der Translationswissenschaft
hat sich im Englischen inzwischen der Terminus translation studies eingebürgert, der zuweilen auch die Dolmetschwissenschaft (interpreting studies) mit einschließt. Im deutschen Sprachraum erschienen die ersten Einführungen in die Übersetzungswissenschaft, die sich als solche deklarierten (aber noch stark linguistisch geprägt waren), Ende der siebziger Jahre (Wilss 1977; Koller 1979). Noch wenige Jahre zuvor hatte Gert Jäger (1975), ein Vertreter der „Leipziger Schule“, explizit von Translationslinguistik gesprochen. Die „Abnabelung“ von der Linguistik fand dann in den achtziger Jahren statt, besonders dezidiert im Rahmen der Skopostheorie, die nicht nur den Übersetzungszweck (Skopos) in das Zentrum des Interesses rückte, sondern auch betonte, dass Übersetzen und Dolmetschen nicht nur ein sprachlicher, sondern immer auch ein kultureller Transfer sei (vgl. Reiß/Vermeer 1984, 4). Die erste Einführung in die Disziplin, die sich auch terminologisch zu einer umfassenden Translationswissenschaft bekannte, erschien jedoch erst über 15 Jahre später an der Universität Graz (Prunč 2001). Ein gegenläufiger Trend zu den genannten Emanzipierungsbestrebungen zeigt sich in jüngster Zeit: Befürworter einer Wiederannäherung an die Sprach- und Literaturwissenschaft bevorzugen den Terminus Übersetzungsforschung (Greiner 2004; Albrecht 2005). In der Romania ging man bei der Etablierung der Disziplin terminologisch und inhaltlich z.T. eigene Wege. Analog zur Situation in Deutschland betrachtete der Linguist Georges Mounin, einer der Pioniere der Übersetzungswissenschaft im französischen Sprachraum, die wissenschaftliche Erforschung des Übersetzens noch Mitte der siebziger Jahre als „branche de la linguistique“ (Mounin 1976, 198). Auf die Einführung eines eigenen Terminus zur Bezeichnung dieses Forschungsgebietes verzichtete Mounin. An der Pariser ESIT verwendete man dagegen bereits seit 1974, als unter der Federführung von Danica Seleskovitch ein Promotionsstudiengang für die Erforschung des Dolmetschens und Übersetzens eingeführt wurde, den Terminus traductologie als Oberbegriff für Dolmetsch- und Übersetzungswissenschaft. Eine der ersten Absolventinnen dieses Promotionsstudiengangs war Marianne Lederer, die neben Seleskovitch zur bekanntesten Vertreterin der théorie du sens wurde. Diese im Grunde relativ simple Theorie, bei der der Schwerpunkt auf der freien Neuformulierung des von den ausgangssprachlichen Strukturen losgelösten Sinns in der Zielsprache liegt, wurde zunächst anhand des Dolmetschens entwickelt (vgl. Kap. 2.10) und erst später auf das Übersetzen angewandt. Durch eine ausgeprägte „Abstinenz von der Linguistik“ (Pöchhacker 2000, 70) wurde die traductologie an der ESIT von Anfang an als eigenständige Disziplin konzipiert. Unterschiedliche Positionen zum Status der traductologie – von affirmativ bis kritisch – bietet der Sammelband von Ballard (2006). Einen neuen terminologischen Vorschlag macht D’hulst (2014, 7), der als Oberbegriff für verschiedene Ansätze der Übersetzungsforschung die Bezeichnung études de la traduction vorschlägt. Im Spanischen gebraucht man häufig, nach Vorbild von frz. traductologie, den Terminus traductología zur Bezeichnung der Übersetzungswissenschaft (heute auch
Etablierung des Faches � 43
unter Einbeziehung des Dolmetschens). Eine erste Introducción a la traductología erschien bereits 1977 in den USA (Vázquez-Ayora 1977). Die Autorin der derzeit umfassendsten spanischen Einführung in die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft, Amparo Hurtado Albir, verwendet ebenfalls den Terminus traductología im Titel ihrer Monographie, weist jedoch auf konkurrierende Termini wie etwa estudios sobre la traducción – nach dem Vorbild von engl. translation studies – hin (vgl. Hurtado Albir 2001, 133ff.). In Italien gehörte Rosanna Masiola Rosini von der Universität Triest zu den ersten, die den Terminus scienza della traduzione in Abgrenzung zur vorwissenschaftlichen teoria della traduzione verwendete (vgl. Masiola Rosini 1988, 101). Nur ein Jahr später schlug Antonio Bonino im zweiten Band seines Handbuches Il traduttore den Terminus translatica als Kurzbezeichnung der scienza della traduzione vor (vgl. Bonino 1989, 409). Dieser Neologismus konnte sich aber nicht durchsetzen. Heute findet man häufig, analog zum Französischen und Spanischen, den Ausdruck traduttologia, daneben aber auch andere Termini, darunter den Anglizismus translation studies (vgl. Fusco 2006, 18f). Um das Dolmetschen explizit einzubeziehen, spricht sich Lorenza Rega für einen weiter gefassten Terminus aus und schlägt die Pluralform scienze della traduzione e dell’interpretazione vor (vgl. Rega 2001, 11f.). Man könnte den hier referierten terminologischen Zwist mit einem Lächeln quittieren, wenn er nicht auch mit weitreichenden inhaltlichen Unterschieden verbunden wäre. Uneinigkeit besteht z.B. über die Aufgaben der wie auch immer bezeichneten Disziplin. Jean-René Ladmiral vom Pariser ISIT sieht z.B. die Hauptaufgabe der traductologie in der Bereitstellung von Lösungsvorschlägen für die Übersetzungsdidaktik bzw. die Übersetzungspraxis (vgl. Ladmiral 1999, 38). Diese von ihm selbst bevorzugte Variante der Übersetzungswissenschaft, die er auch als traductologie productive bezeichnet, grenzt Ladmiral von der essayistischen traductologie prescriptive und der linguistischen traductologie descriptive ab (letzterer Terminus ist etwas irreführend), die er beide für überholt ansieht, sowie von einer kognitionspsychologisch orientierten traductologie inductive, deren Zeit noch nicht gekommen sei (vgl. Ladmiral 1997). Der Belgier José Lambert zieht dagegen eine Trennungslinie zwischen einem theoretisch-normativen Ansatz und einem historisch-deskriptiven Ansatz, wie er ihn selbst vertritt und mit ihm weitere Übersetzungswissenschaftler, die im Rahmen der descriptive translation studies Untersuchungen zur Geschichte der literarischen Übersetzung anstellen. Dem theoretisch-normativen Ansatz wirft er eine zu starke Einengung des Übersetzungsbegriffs vor (vgl. Lambert 1978, 238). Für historische Untersuchungen ist ein normativer, an heutigen Qualitätsvorstellungen ausgerichteter Übersetzungsbegriff tatsächlich zu starr, da man zu unterschiedlichen Epochen sehr unterschiedlich übersetzt hat, wie wir in Kap. 1 gesehen haben. In der Übersetzungsdidaktik (vgl. Kap. 2.11) wird man dagegen ohne normative Qualitätsanforderungen nicht auskommen.
44 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Divergierende Ansichten gab und gibt es auch zu der Frage, inwieweit die Linguistik für das Problem der Übersetzung zuständig sei. Gegen einen linguistischen Zugang haben sich vor allem Theoretiker der literarischen Übersetzung ausgesprochen (hierzu vgl. Kap. 2.6). Auch ehemalige Vertreter eines linguistischen Zugangs äußern sich heute skeptisch. Louis Truffaut, der noch Anfang der 1980er Jahre eine Monographie mit dem Titel Problèmes linguistiques de traduction publizierte (Truffaut 1983), führt in seinem 1997 erschienenen Buch Traducteur tu seras, das zehn „Gebote“ für den angehenden Übersetzer enthält, gleich als erstes Gebot auf: „Linguistique et traduction tu distingueras“ (Truffaut 1997, 13ff.). Ähnlich skeptisch, wenn auch nicht ganz so radikal, äußert sich der italienische Übersetzungswissenschaftler Antonio Bonino, der der Linguistik nur den Status einer Hilfswissenschaft zuweist: „La translatica è scienza linguistica solo in quanto la conoscenza linguistica è premessa necessaria per l’eruizione totale del senso dell’originale“ (Bonino 1989, 410). Unbestreitbar dürfte sein, dass sich Sprach- und Übersetzungswissenschaft in ihrer Zielsetzung unterscheiden, wie Truffaut (1997, 15) beton. Die Linguistik bezieht sich primär auf die Ebene des Sprachsystems, die langue, während das konkrete Übersetzen in der parole abläuft. Dennoch kann sicherlich gerade die kontrastive Linguistik (d.h. der Sprachvergleich) hilfreich für das Übersetzen und Dolmetschen sein, vor allem wenn sie zu einer lösungsorientierten, sprachenpaarbezogenen Translationswissenschaft (Schreiber 2004a) ausgebaut wird (hierzu vgl. Kap. 3). Für eine stärkere „Relinguistisierung“ der Übersetzungswissenschaft plädieren in jüngster Zeit vor allem Jörn Albrecht (2004) und Lew Zybatow (2004), während Morini (2007, 21) kritisch anmerkt, dass sich sprachwissenschaftliche Ansätze meist auf Fachübersetzungen beschränken. Als Beispiele für linguistisch orientierte Arbeiten romanischer Übersetzungswissenschaftler seien exemplarisch folgende Monographien genannt: Ein relativ isolierter Ansatz einer linguistisch fundierten Übersetzungstheorie ist Georges Garniers Buch Linguistique et traduction (1985), das auf der in Frankreich immer noch recht populären, psychologistischen Sprachwissenschaft Gustave Guillaumes basiert. Im Spanien sind vor allem die Arbeiten Valentín García Yebras zu nennen, insbesondere die Monographie Teoría y práctica de la traducción (1982), in der neben theoretischen Aspekten zahlreiche sprachenpaargebundene Übersetzungsprobleme diskutiert werden. In Italien vertritt vor allem Enrico Arcaini einen linguistisch orientierten Ansatz, z.B. in dem Band Analisi linguistica e traduzione (1986). Seit den 1990er Jahren, die von dem so genannten cultural turn geprägt waren, haben zunächst kulturwissenschaftlich und später soziologisch geprägte Ansätze die Linguistik stark zurückgedrängt. Da sich diese überwiegend mit literarischen Übersetzungen befassen, werde ich in Kap. 2.6 darauf eingehen. Abschließend sei betont, dass die verschiedenen Ausrichtungen der Übersetzungswissenschaft einander nicht ausschließen, wie das bei einigen Autoren scheint, sondern sich m.E. gegenseitig ergänzen. Sie können verschiedenen Teilbe-
Das Problem der Übersetzbarkeit � ��
reichen der Gesamtdisziplin zugeordnet werden, die wiederum unterschiedliche Ziele verfolgen, wie Daniel Gile zu Recht betont: La traductologie est très hétérogène, en raison non seulement de son caractère interdisciplinaire, mais aussi de la variété des domaines et des phénomènes de traduction qu’elle étudie (traduction littéraire, traduction scientifique et technique, traduction pour les médias, interprétation de conférence, interprétation auprès des tribunaux, etc.), et des angles sous lesquels elle les étudie (le produit, le processus, l’apprentissage, les difficultés, la réception par les destinataires, l’organisation professionnelle, etc.). (Gile 2005, 243)
Amparo Hurtado Albir (2001, 146) unterscheidet, im Anschluss an einen Vorschlag von James S. Holmes (1988, 67ff.), drei Teildisziplinen der traductología: estudios teóricos, estudios descriptivos und estudios aplicados. Bei einer solchen Konzeption der Übersetzungswissenschaft werden die verschiedenen Ansätze zwar nicht völlig eingeebnet (das wäre auch nicht sinnvoll), aber sie erscheinen als unterschiedliche, gleichermaßen legitime Schwerpunktsetzungen innerhalb eines gemeinsamen Rahmens (vgl. auch Boase-Beier 2011, 161).
�.� Das Problem der Übersetzbarkeit Eine philosophisch wie übersetzungswissenschaftlich gleichermaßen relevante Grundfrage der allgemeinen Übersetzungstheorie, die bereits vor der Etablierung der Übersetzungswissenschaft intensiv diskutiert wurde, ist das Problem der Übersetzbarkeit, d.h. die Frage: Ist Übersetzen überhaupt möglich? Der Philosoph Jacques Derrida hielt diese Frage für falsch gestellt: „Or je ne crois pas que rien soit jamais intraduisible – ni d’ailleurs traduisible“ (Derrida 2004, 563). Die DerridaSchülerin Dilek Dizdar erläutert dieses Paradoxon folgendermaßen: Um von einer Unübersetzbarkeit zu sprechen, muss man von der Annahme ausgehen, dass es auch das Übersetzbare gibt. […] Diese Gegenüberstellung von „übersetzbar“ / „unübersetzbar“ ist mir korrespondenztheoretischen (in der Translationswissenschaft im Gedanken der ‚Äquivalenz’ gebündelten) Anforderungen verbunden, die sich in der Forderung niederschlagen, der Translator solle das übersetzen, was da (im Ausgangstext) steht […]. Was außerhalb des Bereichs einer solchen Korrespondenz liegt, bleibt demnach „unübersetzbar“. Wenn aber ein Begriff von Translation angesetzt wird, in dem die komplexen Beziehungen zwischen Sprache, Denken, Geist, Körper, Welt, etc. miteinbezogen werden, ist unter deren Berücksichtigung alles übersetzbar. (Dizdar 2006, 141)
Andere Autoren hatten zuvor eindeutig für eine der beiden Optionen Stellung bezogen. Im Italien des frühen 20. Jh. vertrat der seinerzeit sehr einflussreiche Philosoph und Sprachwissenschaftler Benedetto Croce die These von der theoretischen Unmöglichkeit des Übersetzens. Diese These ergibt sich geradezu zwingend aus Croces
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Sprachtheorie. Wie Croce in seinem Hauptwerk mit dem programmatischen Titel Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale (Croce 1902) ausführt, ist das Wichtigste an einem Text (wobei er sich hauptsächlich auf literarische Texte bezieht) die individuelle, unverwechselbare Ausdrucksabsicht des Autors (l’espressione). Da diese Individualität beim Übersetzen nicht erhalten werden könne, sei Übersetzen nicht möglich (vgl. Filippi 1993, 33). Ähnlich hat sich in der Nachfolge Croces Giovanni Gentile geäußert (vgl. Bertazzoli 2006, 81). Auch wenn diese These heute wohl von niemandem mehr in dieser Radikalität vertreten wird, macht sie doch eines deutlich: Übersetzbarkeit ist abhängig von den Invarianten des Übersetzens, d.h. von denjenigen Merkmalen, die beim Übersetzen erhalten bleiben sollen. Und wenn man, wie Croce, vom Übersetzer verlangt, ein Merkmal zu erhalten, das untrennbar mit dem Ausgangstext verknüpft ist, dann ist Übersetzen tatsächlich nicht möglich. Aus dem folgenden Zitat Croces aus einem seiner späteren Werke, La poesia (1936), geht besonders deutlich die Abhängigkeit der Übersetzbarkeit von den betreffenden Invarianten hervor (hier nennt Croce formgebundene Invarianten wie Klang und Rhythmus). Ferner präzisiert Croce, auf welche Gattungen sich seine Theorie der Unübersetzbarkeit bezieht, nämlich auf Poesie und literarische Prosa: La prosa letteraria, come ogni altra forma di letteratura, ha di più un’elaborazione di carattere estetico, che pone al tradurre lo stesso non superabile ostacolo che gli pone la poesia. Platone e Agostino, Erodoto e Tacito, Giordano Bruno e Montaigne non sono a rigore traducibili, perché nessun altro linguaggio può rendere il colorito e l’armonia, il suono e il ritmo dei linguaggi loro propri. Anch’essi, in quanto scrittori, richiedono, come i poeti, una ri-creazione, che li faccia rivivere nell’intraducibile loro tono personale. (Croce 1993 [1936], 217)
Auch andere Autoren halten literarische Texte, insbesondere Gedichte, für im engeren Sinne unübersetzbar, z.B. der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz: „El poema es una totalidad viviente, hecha de elementos irremplazables. La verdadera traducción no puede ser así sino re-creación“ (zit. nach Ruiz Casanova 2000, 521). Wenn Croce und Paz postulieren, bei literarischen Werken, speziell bei Gedichten, sei wegen deren individuellen Charakters keine Übersetzung im engeren Sinne möglich, sondern nur eine Nachbildung (ri-creazione, re-creación), so machen sie ihre Theorien quasi immun gegenüber dem naheliegendem Einwand, dass es zahlreiche „real existierende“ Übersetzungen literarischer Texte gibt (vgl. z.B. Schneiders 2007, 72): Dabei kann es sich eben nur um Nachbildungen handeln. Ein weiteres, noch tiefergreifendes Argument gegen die Möglichkeit des Übersetzens liefert die Sapir-Whorf-Hypothese. Diese auch als sprachliches Relativitätsprinzip bezeichnete Hypothese besagt in ihrer strengen Form, dass das Denken von der eigenen Muttersprache determiniert werde und Übersetzen dementsprechend unmöglich sei (zum aktuellen Forschungsstand vgl. Deutscher 2010). Ein romanischer Autor, bei dem sich vergleichbare Äußerungen finden, ist der spanische
Das Problem der Übersetzbarkeit � 47
Schriftsteller Miguel de Unamuno, für den sein eigenes Denken untrennbar mit seiner Muttersprache verbunden ist: [...] empecé diciendo que en otras lenguas podré, aunque sea mal, vestir mi pensamiento; pero que sólo en la mía, en la lengua española, puedo desnudarlo – como que mi pensamiento es lengua española que en mí piensa. (zit. nach López Folgado 1998, 71)
Ausführlicher und differenzierter als die bisher zitierten Autoren hat sich der Linguist und Übersetzungswissenschaftler Georges Mounin mit dem Problem der Übersetzbarkeit auseinandergesetzt. In seiner Studie Les problèmes théoriques de la traduction gelangt Mounin nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen linguistisch orientierten Ansätzen zu einem Begriff der relativen Übersetzbarkeit: Au lieu de dire, comme les anciens praticiens de la traduction, que la traduction est toujours possible ou toujours impossible, toujours totale ou toujours incomplète, la linguistique contemporaine aboutit à définir la traduction comme une opération, relative dans son succès, variable dans les niveaux de la communication qu’elle atteint. (Mounin 1963, 278)
Andere Autoren haben spezifiziert, in Bezug auf welche Invarianten Übersetzbarkeit gegeben sei. Der italienische Übersetzungswissenschaftler Antonio Bonino gehört z.B. den Vertretern des Axioms der Ausdrückbarkeit (hierzu vgl. Koller 2011, 184ff.), d.h. er geht davon aus, dass sich der Inhalt einer Aussage grundsätzlich in jeder Sprache ausdrücken und damit auch übersetzen lässt: „La translatica si fonda sul presupposto che è sempre possibile trasferire da una lingua all’altra il contenuto di qualsiasi messaggio, qualunque ne sia la forma linguistica“ (Bonino 1989, 410f.). Susan Petrilli begründet die Möglichkeit des Übersetzens auf der Inhaltsebene damit, dass man schon innerhalb ein- und derselben Sprache mehrere Möglichkeiten habe, den gleichen Inhalt auszudrücken (vgl. Petrilli 1999/2000, 18). Ob auch Elemente der Form übersetzbar sind (z.B. Lautkorrespondenzen in Gedichtübersetzungen), hängt von verschiedenen Faktoren ab. Celestina Milani weist darauf hin, dass der Grad der Übersetzbarkeit abnimmt, je zentraler die Rolle ist, die phonetisch-phonologische Faktoren im Ausgangstext spielen: Concludendo, è più facile che un testo poetico, non legato unicamente alla dimensione fonetico-fonologica, mantenga la vis poetica nella traduzione che un testo poetico legato al momento fonetico-fonologico. (Milani 1989, 112)
Wie wir in Kap. 3.1 sehen werden, spielt hierbei auch das Sprachenpaar, insbesondere die strukturelle Ähnlichkeit von Ausgangs- und Zielsprache, eine wichtige Rolle. Unabhängig vom Sprachenpaar gilt selbstverständlich, dass eine vollständige Reproduktion der formalen Struktur des Ausgangstextes unmöglich ist und daher
�� � Grundfragen der Translationswissenschaft
auch von einer Übersetzung nicht verlangt werden kann, wie der spanische Übersetzungswissenschaftler Valentín García Yebra zu Recht betont: „Si la traducción tuviera que reproducir todos los detalles de la estructura formal léxica, morfológica y sintáctica del texto, sería, en efecto, imposible“ (García Yebra 1982, 34).2 Aus dieser Einsicht hat bereits in den fünfziger Jahren der Exil-Russe Edmond Cary den Schluss gezogen, dass jeder Übersetzer eine Auswahl aus den zu erhaltenden Elementen des Ausgangstextes treffen müsse: „La nécessité d’une traduction implique la nécessité d’un choix“ (Cary 1956, 180). In Termini der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft spricht Jörn Albrecht von einer Hierarchie der Invarianzforderungen, die jeder Übersetzer in Abhängigkeit von der Wichtigkeit der einzelnen Invarianten aufstelle, „wohl wissend, daß nicht alles zugleich bewahrt werden kann“ (1998, 266).
�.� Übersetzungsmethoden – Übersetzungsverfahren – Übersetzungsprozess Die oben referierte Einsicht, dass der Übersetzer immer eine Auswahl aus den potenziellen Invarianten treffen muss, ist allerdings noch nicht ausreichend für die Entscheidung, welche Auswahl er im Einzelfall trifft, d.h. welche Übersetzungsmethode er anwendet. Nachdem im 17. und 18. Jh. die Vertreter des einbürgernden, an den Normen von Zielsprache und Zielkultur orientierten Übersetzens die Oberhand hatten und im 19. Jh. Forderungen nach einer verfremdenden Übersetzung (mit Orientierung an den ausgangssprachlichen Strukturen) laut wurden, ging die Diskussion um Einbürgerung und Verfremdung im 20. Jh. weiter. Zwar überwog in der Praxis nun wieder das einbürgernde Übersetzen, wenn auch meist nur auf sprachlicher, nicht auf kultureller Ebene (d.h. mit Anpassung an zielsprachliche Normen, aber ohne Verpflanzung des gesamten Textes in die Zielkultur), aber einzelne Autoren setzten sich nach wie vor für eine sprachlich verfremdende Übersetzungsmethode ein. Der prominenteste Vertreter dieser Übersetzungsmethode im romanischen Raum war der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, der in seinem (zuerst 1937 in Brasilien erschienenen) Essay Miseria y esplendor de la traducción forderte, der Übersetzer müsse die Strukturen des Ausgangstextes in der Zielsprache nachbilden, und zwar „al extremo de lo inteligible“ (Ortega y Gasset 1957, 88). Dabei ist zu bedenken, dass Ortega sich auf philosophische und literarische Texte bezieht, d.h. auf Texte, bei denen eine verfremdende Übersetzung bereichernd für die Ziel-
�� 2 Folgt man Jorge Luis Borges, so ist eine sinnerhaltende, identische Wiederholung eines Textes nicht einmal innerhalb einer Sprache ohne Weiteres möglich, da der gleiche Wortlaut in einem neuen Kontext völlig anders interpretiert werden kann. Borges exemplifiziert dieses am Beispiel einer fiktiven Neuschreibung von Cervantes’ Don Quijote (vgl. Gil 2007).
Übersetzungsmethoden – Übersetzungsverfahren – Übersetzungsprozess � 49
sprache wirken kann.3 Die gleiche Beschränkung gilt im Übrigen für andere Verfechter der verfremdenden Übersetzungsmethode, wie z.B. den Amerikaner Lawrence Venuti (1995). Bei anderen Textsorten wäre eine verfremdende Übersetzung kaum sinnvoll (vgl. Ortega Arjonilla 1998, 115). Einen wichtigen Beitrag zur Präzisierung und Versachlichung der Diskussion hat Georges Mounin in seiner frühen, immer noch lesenswerten Monographie Les belles infidèles geleistet: Im Hinblick auf die historisch-deskriptive Analyse bestehender Übersetzungen unterscheidet er mehrere Teilklassen der einbürgernden und verfremdenden Übersetzungsmethode, je nachdem, ob die Einbürgerung (bei ihm metaphorisch les verres transparents genannt) bzw. die Verfremdung (les verres colorés) auf sprachlicher, kultureller oder chronologischer Ebene stattfindet (vgl. Mounin 1955, 109ff.). Die Wahl der jeweiligen Übersetzungsmethode ist für Mounin also primär historisch bedingt. Er vermeidet es daher, sich zugunsten einer einzigen Methode auszusprechen. Dies tut auch über 40 Jahre später der französische Linguist Jean Peeters, der zudem darauf hinweist, dass sich jede Übersetzung zwischen den beiden Polen der Einbürgerung (bei ihm ethnocentrisme genannt) und der Verfremdung (bei ihm als interférence bezeichnet) bewegen müsse, da ansonsten gar keine Übersetzung möglich sei: „L’ethnocentrisme absolu reviendrait à une absence de traduction et l’interférence totale à une disparition de l’identité sociale, source de traduction“ (Peeters 1999, 325). Eindeutig für eine sprachlich einbürgernde Übersetzung spricht sich dagegen Jean-René Ladmiral in seinem Aufsatz „Sourciers et ciblistes“ aus,4 in dem er den Übersetzer explizit als réécrivain bezeichnet (Ladmiral 1993, 297). Das erinnert an den funktionalistischen Translationswissenschaftler Hans J. Vermeer, der den Übersetzer ebenfalls als „Ko-Autor“ (1987, 543) betrachtet. Allerdings findet sich bei Ladmiral kein Bekenntnis zur zentralen Rolle der Übersetzungsfunktion, wie in der Skopostheorie (vgl. Reiß/Vermeer 1984), obwohl bereits Edmond Cary in seinem Buch La traduction dans le monde moderne auf die Zweckgebundenheit des Übersetzens hingewiesen hatte: „Le traducteur travaille sur un texte donné, à une certaine époque, dans un certain pays, pour un certain public, en vue d’une utilisation déterminée du texte“ (Cary 1956, 25). Origineller ist der Vorwurf, den Ladmiral den Befürwortern des verfremdenden Übersetzens in einem späteren Aufsatz macht: „[...] le littéralisme, que prônent lesdits ‚sourciers‘, n’est en réalité très souvent chez le traducteur qu’une forme de
�� 3 Zur Rolle des Übersetzens für die Bereicherung der Zielsprache vgl. García Yebra 2004. 4 Zur Terminologie: die sourciers orientieren sich an den Strukturen der Ausgangssprache (langue source), die ciblistes an den Normen der Zielsprache (langue cible). Ladmiral ist der bekannteste cibliste im französischen Sprachraum. Zu den bekanntesten sourciers zählen Antoine Berman, auf den wir im Kapitel zur Translationsethik zu sprechen kommen werden (vgl. Kap. 2.5), und Henri Meschonnic, der sich vor allem mit der Bibelübersetzung befasst hat (vgl. Kap. 2.6).
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régression face à une difficulté insurmontée“ (Ladmiral 1999, 45).5 Tatsächlich ist schwer zu entscheiden, ob ein Übersetzer, der die Strukturen des Ausgangstextes im Zieltext relativ wörtlich nachgebildet hat, bewusst einen Verfremdungeffekt erzielen wollte oder ob er lediglich einem Übersetzungsproblem ausgewichen ist. Ein radikaler cibliste und – im Unterschied zu Ladmiral, der sich inzwischen von den so genannten ultra-ciblistes distanziert (vgl. Ladmiral 2014, XV) – auch ein radikaler Funktionalist ist Daniel Gouadec. In dem berufspraktisch ausgerichteten Handbuch Profession: traducteur beschreibt er die Anforderungen an eine Übersetzung folgendermaßen: [...] le produit résultant de l’activité du traducteur – la traduction – doit répondre, dans son contenu et dans sa forme: • aux besoins de l’utilisateur et aux contraintes de ses utilisations [...] • aux objectifs de celui qui fait traduire (vendre, convaincre, amuser, mettre en garde, gagner de l’argent, permettre d’utiliser, etc.) • mais aussi aux usages, normes et conventions applicables [...] (Gouadec 2002, 9f.)
Ein Autor, der einen Kompromiss zwischen einbürgerndem und verfremdendem Übersetzen (genauer gesagt: eine Wahl der Vorgehensweise je nach Übersetzungsproblem) anstrebte, war der italienische Semiotiker und Schriftsteller Umberto Eco, der sich wiederum primär auf literarische Übersetzungen bezog: Di fronte alla domanda se una traduzione debba essere source o target oriented, ritengo che non si possa elaborare una regola, ma usare i due criteri alternativamente, in modo molto flessibile, a seconda dei problemi posti al testo a cui ci si trova di fronte. (Eco 1995, 125)
Mit dem Verweis auf einzelne Übersetzungsprobleme schlägt Eco einen Bogen von der Übersetzungsmethode, die im Prinzip auf den gesamten Text angewandt werden kann (z.B. kann man einen Zieltext konsequent an zielsprachliche Normen anpassen) und den einzelnen Übersetzungsverfahren, bei denen es sich um Lösungsmöglichkeiten für konkrete Übersetzungsprobleme handelt und die nur auf einzelne Übersetzungseinheiten anwendbar sind (z.B. kann man zwar einzelne Wörter entlehnen, d.h. im Zieltext beibehalten, aber nicht den gesamten Text).6 Nun zu den Übersetzungsverfahren im Einzelnen: Bekanntheit erlangt hat vor allem die von Vinay und Darbelnet am Beispiel des Sprachenpaars EnglischFranzösisch entwickelte Klassifikation der procédés techniques de la traduction in-
�� 5 Ähnlich äußert sich die italienische Übersetzungstheoretikerin Laura Salmon (2003, 203). 6 Zur Unterscheidung zwischen Übersetzungsmethode und Übersetzungsverfahren vgl. Schreiber (1993, 54f.) sowie Diadori (2012, 50), die der Unterscheidung zwischen metodo und tecniche noch die Kategorie approccio voranstellt, welche den theoretischen Rahmen bezeichnet.
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nerhalb der stylistique comparée (einer frühen Form der kontrastiven Linguistik mit Übersetzungsbezug).7 Alfred Malblanc hat das Analyseschema auf das Sprachenpaar Deutsch-Französisch übertragen. Ich gebe im Folgenden eine Übersicht der Übersetzungsverfahren der stylistique comparée, auf der Basis von Vinay und Darbelnet (1958, 46ff.) und Malblanc (1968, 25ff.), ergänzt durch deutsche Termini und Definitionen und z.T. durch eigene Beispiele: Procédés techniques de la traduction (Übersetzungsverfahren): A. Traduction directe (wörtliche Übersetzungsverfahren): 1. emprunt (Entlehnung): weitgehend unveränderte Übernahme eines Ausdrucks, ggf. graphisch angepasst, z.B. engl. weekend > frz. week-end 2. calque (Lehnübersetzung): Glied-für-Glied-Übersetzung eines komplexen Ausdrucks, z.B. frz. assemblée nationale > dt. Nationalversammlung 3. traduction littérale (wörtliche Übersetzung): Beibehaltung der Wortarten und, wenn möglich, auch der Wortstellung innerhalb des Satzes, z.B. frz. Noblesse oblige > dt. Adel verpflichtet B. Traduction oblique (nichtwörtliche Übersetzungsverfahren): 4. transposition (Transposition): Änderung der Wortart(en), z.B. frz. dès son lever > engl. as soon as he gets up 5. modulation (Modulation): Änderung der Perspektive, z.B. frz. danger de mort > dt. Lebensgefahr 6. équivalence (Äquivalenz): völliger Strukturwechsel, z.B. engl. Once bitten, twice shy. > frz. Chat échaudé craint l’eau froide 7. adaptation (Adaptation): Anpassung an eine analoge Situation in der Zielkultur, z.B. engl. he kissed his daughter on the mouth > frz. il serra tendrement sa fille dans ses bras
An dieser Klassifikation der Übersetzungsverfahren ist viel kritisiert worden. Umstritten ist z.B. die Frage, ob die adaptation überhaupt noch zur Übersetzung im engeren Sinne gerechnet werden kann (vgl. bereits Vázquez-Ayora 1977, 323ff.). Dagegen ist die Entlehnung nach Meinung mancher Autoren noch gar kein wirkliches Übersetzungsverfahren, sondern vielmehr eine „Nicht-Übersetzung“ (Torre 1994, 93). Aus terminologischer Sicht ist ferner der Ausdruck équivalence bemängelt worden, da der Terminus Äquivalenz in der Übersetzungswissenschaft auch in einem weiteren Sinne verwendet wird, nämlich für das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext (vgl. Kap. 2.4). Auch sei die Abgrenzung einzelner Verfahren untereinander, z.B. modulation und équivalence, aufgrund sich überschneidender Kriterien nicht möglich (Henschelmann 2004, 396). Nichtsdestoweniger beruhen auch neuere Klassifikationen von Übersetzungsverfahren (z.B. Kengne Fokoua 2009) trotz diverser Modifikationen und Erweiterungen letztlich auf dem Grundmodell von Vinay/Darbelnet.
�� 7 Der missverständliche Ausdruck stylistique comparée erklärt sich aus der Auffassung, dass es so etwas wie kollektive „Sprachstile“ gebe („den“ Stil des Französischen, des Deutschen usw.), die man vergleichen könne (vgl. Albrecht 1973: 73f.).
52 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Mindestens so wichtig wie die Klassifikation ist auch die Frage nach der Anwendung der einzelnen Verfahren: Eine Liste von Übersetzungsverfahren kann zwar als Analysemodell verwendet werden, über die praktische Anwendung der einzelnen Verfahren beim Übersetzen kann jedoch nur in Abhängigkeit des jeweiligen Übersetzungsproblems und der konkreten Übersetzungssituation entschieden werden (vgl. Elena García 1990, 60f.). Umstritten ist z.B. die Zulässigkeit von Hilfsverfahren (z.B. Anmerkungen) in literarischen Übersetzungen: Ein französischer Verfechter einer einbürgenden Übersetzungsmethode weist z.B. darauf hin, dass Anmerkungen des Übersetzers „décidément inélégants“ (Hersant 2000, 251) seien und die Illusion zerstören, der Leser habe ein äquivalentes Abbild des Ausgangstextes vor sich. Wenn der Ausgangstext aus einer fernen Kultur stammt, sind Hilfsverfahren häufig jedoch gar nicht zu vermeiden. Ein weniger störendes Verfahren als Fußnoten im Text selbst ist z.B. ein Glossar im Anhang (vgl. Cachin 2007, 123). Eine umfassende Übersicht über die verschiedenen übersetzerischen Hilfsverfahren bietet jetzt Elefante (2012). Da bei der Anwendung einzelner Übersetzungsverfahren das Sprachenpaar eine zentrale Rolle spielt, werden wir auf diese Problematik ausführlicher in Kap. 3 zurückkommen. Eine weitere grundlegende Frage, die im Zusammenhang mit der Diskussion der Übersetzungsverfahren (insbesondere mit dem Verfahren der Adaptation) aufscheint, ist die Frage nach der Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs. Ich selbst habe in Übersetzung und Bearbeitung (Schreiber 1993) versucht, diese Frage folgendermaßen zu beantworten: Übersetzungen beruhen primär auf Invarianzforderungen, d.h. auf der Forderung nach Erhaltung bestimmter Merkmale des Ausgangstextes; Bearbeitungen beruhen dagegen primär auf Varianzforderungen, z.B. der Forderung nach Zusammenfassung oder Vereinfachung des Ausgangstextes.8 Innerhalb der Übersetzung unterscheide ich zwischen Textübersetzungen, bei denen textinterne (z.B. inhaltliche oder formale) Invarianten im Vordergrund stehen, und Umfeldübersetzungen, bei denen es primär um textexterne Invarianten (z.B. Wirkung) geht. Die Adaptation im Sinne von Vinay und Darbelnet würde zur Umfeldübersetzung gehören, da das Kriterium „Situationsanalogie“ textexterner Natur ist. Ein modernes Beispiel für eine Umfeldübersetzung ist die Softwarelokalisierung (vgl. Kap. 2.6). Auch einige französischsprachige Autoren haben sich mit der Abgrenzung des Übersetzungsbegriffs bzw. mit der Einordnung der Übersetzung in größere Zusammenhänge befasst. Wegweisend aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist Gérard Genettes Buch Palimpsestes (1982), das eine differenzierte Klassifikation von Text-
�� 8 Inzwischen plädiere ich für einen flexibleren, prototypischen Übersetzungsbegriff, da „Bearbeitungen“ eine immer wichtigere Rolle in der Übersetzungspraxis spielen: Eine zielsprachliche Zusammenfassung wäre demnach zwar kein typisches Beispiel für eine Übersetzung, aber sie würde zum Randbereich der Übersetzungskategorie zählen (vgl. Schreiber 2006b).
Übersetzungsmethoden – Übersetzungsverfahren – Übersetzungsprozess � 53
beziehungen enthält, wobei die Übersetzung zu den transpositions formelles gerechnet wird, zu denen Genette (1982, 341) z.B. auch Versbearbeitungen von Prosatexten zählt. Im Hinblick auf den Begriff der adaptation kann man mit Georges Bastin (1993, 476ff.) differenzieren, ob die Anpassung an die Zielkultur lediglich einzelne Textstellen betrifft (adaptation ponctuelle, d.h. Adaptation als Übersetzungsverfahren) oder ob der gesamte Textinhalt an die Verhältnisse der Zielkultur angepasst wird (adaptation globale, d.h. Adaptation als Übersetzungsmethode). Kritisch gegenüber jeglicher Form der Adaptation äußert sich Meschonnic (1990). Yves Gambier hingegen kritisiert die Unterscheidung traduction / adaptation als „une taxinomie binaire qui présuppose une certaine fétichisation du TD [texte de départ]“ (Gambier 1992, 424). Eine gemäßigte Position nimmt Jean-Louis Cordonnier ein: Er kritisiert zwar Adaptationen, will diese aber nicht „verbieten“, sondern plädiert für eine entsprechende „Kennzeichnungspflicht“, damit der Leser wisse, womit er es zu tun habe (vgl. Cordonnier 1995, 208). Auf italienischer Seite hat sich u.a. Umberto Eco mit der Typologie von Übersetzungen und Bearbeitungen auseinandergesetzt. Dabei hat er die bekannte Dreiteilung von Roman Jakobson (1959) – intralinguale Übersetzung (z.B. Dialekt > Standardsprache), interlinguale Übersetzung (z.B. Italienisch > Deutsch) und intersemiotische Übersetzung (z.B. Sprache > Bild) – um weitere Typen der sprachlichen und semiotischen Transformation ergänzt. Als Oberbegriff dient bei Eco der Ausdruck interpretazione. Eine interpretazione intrasemiotica wäre z.B. eine Transformation innerhalb eines nonverbalen Zeichensystems (Eco 2003, 236ff.). Als Beispiel für eine solche „Übersetzung“ in einem weiten, metaphorischen Sinn nennt der Semiotiker Eco die verkleinerte, aber ansonsten „getreue“ Kopie einer Skulptur in einem anderen Material (vgl. Eco 2003, 239). Parallelen zur interlingualen Übersetzung sieht Eco in diesem Fall in der Wiedergabe des „Inhalts“ bei gleichzeitiger Varianz der Form bzw. Substanz.9 Seit den 1990er Jahren hat sich ausgehend von kulturwissenschaftlichen Ansätzen eine andere Erweiterung des Übersetzungsbegriffs breit gemacht, die so genannte kulturelle Übersetzung (vgl. Sturge 2009, Wolf 2010). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein klar definiertes Verfahren, sondern eher um einen Oberbegriff für verschiedene Spielarten des Kulturkontaktes und der Hybridität von kulturellen Phänomenen, bis hin zur Gleichsetzung von Kultur und Übersetzung. Im Unterschied zu den Tendenzen der Erweiterung des Übersetzungsbegriff im wissenschaftlichen Kontext stehen Tendenzen in der Berufspraxis, die dahin gehen, den Übersetzungsbegriff auf einen rein sprachlichen Transfer zu reduzieren und für alle darüber hinausgehenden Verfahren eigene Termini zu verwenden (vgl. Schreiber 2016a). Der neueste Trend in dieser Hinsicht ist die Verwendung des Ausdrucks �� 9 Zu verschiedenen Facetten der intersemiotischen Übersetzung vgl. auch die Beiträge in Dusi/Nergaard 2000.
54 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Transkreation zur Bezeichnung von „kreativen“ Übersetzungen, z.B. bei Werbetexten (vgl. Sattler-Hovdar 2016). Die oben beschriebenen Methoden und Verfahren des Übersetzens und Bearbeitens decken im Grunde nur einen Teil des gesamten Übersetzungsprozesses ab: Sie gehören zur produktiven Phase des Übersetzens (vgl. Kautz 2000, 107ff.). Über die davor liegende rezeptive Phase sagen sie nichts aus. Einige grundlegende Aussagen zum Ablauf des gesamten Übersetzungsprozesses findet man bei Danica Seleskovitch und Marianne Lederer, die vor allem als Dolmetschwissenschaftlerinnen bekannt geworden sind und daher in Kap. 2.10 eingehender behandelt werden. An dieser Stelle nur so viel: Beide Autorinnen weisen immer wieder darauf hin, dass das Dolmetschen, aber auch das Übersetzen keine auf Eins-zu-eins-Entsprechungen zwischen einzelnen sprachlichen Zeichen beruhende Umkodierung (transcodage) sei, sondern dass jeder Translationsprozess über eine vermittelnde Instanz verlaufe, die sie sens nennen (vgl. etwa Seleskovitch/Lederer 1984, 185). Da der Sinn nicht an eine bestimmte sprachliche Form gebunden sei, bezeichnen sie die Interpretation des Sinns als déverbalisation. Auf der Basis dieser théorie du sens kann man ein dreiphasiges Modell des Übersetzungsprozesses postulieren, wie dies die Spanierin Amparo Hurtado Albir (eine Schülerin von Seleskovitch und Lederer) tut: 1. comprensión, 2. desverbalización, 3. reexpresión (Hurtado Albir 2001, 362ff.). Jean Delisle, der bekannteste kanadische Vertreter der théorie du sens, geht ebenfalls von einem dreiphasigen Modell aus, allerdings mit einer anderen Abgrenzung der einzelnen Phasen: 1. compréhension, 2. reformulation, 3. vérification (Delisle 1980, 84f.). Die „Deverbalisierung“ ist bei ihm Teil der ersten Phase, da sie nicht vom Verstehensprozess getrennt werden könne. Alle Modelle des Übersetzungsprozesses, die mit nur zwei oder drei Hauptphasen des Übersetzens arbeiten, können allerdings durch die Unterscheidung einzelner Teilphasen differenziert oder durch die Ergänzung weiterer Phasen ergänzt werden. Manche Übersetzungswissenschaftler arbeiten daher mit einem feingliedrigeren Modell. Freddie Plassard unterscheidet in ihrem Buch Lire pour traduire z.B. 16 Teilphasen des Übersetzungsprozesses, davon allein acht verschiedene Lesephasen, von der ersten Lektüre des Ausgangstextes über die Lektüre zusätzlicher Dokumentation bis zum mehrmaligen Korrekturlesen des Zieltextes. Sie weist aber auch darauf hin, dass die Anzahl der Teilphasen nicht immer gleich ist und von verschiedenen Faktoren (Vorwissen, Schwierigkeit des Ausgangstextes usw.) abhängt (vgl. Plassard 2007, 274). Daniel Gouadec unterteilt den processus d’exécution des traductions aus Sicht der Tätigkeit eines professionellen, freiberuflichen Übersetzers und weiterer beteiligter Personen, insbesondere des Auftraggebers, sogar in nicht weniger als 155 (!) Arbeitsschritte (vgl. Gouadec 2002, 149ff.). Hierzu rechnet er auch zahlreiche Tätigkeiten, die über den eigentlichen Übersetzungsprozess hinausgehen, wie z.B. die Aushandlung des Preises zwischen Übersetzer und Auftrag-
Äquivalenz � ��
geber. Aus der Perspekive der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft könnte man Gouadecs Beschreibung als eine berufspraktische Version des von Justa HolzMänttäri (1984) entwickelten Modells des translatorischen Handelns sehen, in dem ebenfalls die Kooperation zwischen den beteiligten Handlungspartnern eine zentrale Rolle spielt. Die eigentliche Schwierigkeit bei der Untersuchung des Übersetzungsprozesses liegt allerdings weniger in der theoretischen Modellierung als in der empirischen Untersuchung der einzelnen Vorgänge, die sich ja zu einem Großteil „in den Köpfen der Übersetzer“ abspielen und daher nicht direkt beobachtet werden können. In der deutsch- und englischsprachigen Übersetzungswissenschaft versucht man, im Anschluss an die Pionierarbeit von Krings (1986) mit der Methode des Lauten Denkens Testpersonen (einzeln oder im Dialog) dazu zu bringen, während des Übersetzens ihre Überlegungen zu verbalisieren, die dann protokolliert werden. Im Rahmen der französischen Übersetzungswissenschaft hat Jeanne Dancette (1995) den Versuch unternommen, die Verstehensphase des Übersetzungsprozesses mit Protokollen des Lauten Denkens experimentell zu untersuchen. Neben dem nicht unumstrittenen „Lauten Denken“ gibt es inzwischen noch eine Reihe weiterer Verfahren der empirischen Translationsprozessforschung (vgl. Göpferich 2008), von keyloggingProgrammen, mit dem die Betätigungen einer Computertastatur aufgezeichnet werden, über Eye Tracker, die Blickbewegungen aufzeichnen, bis hin zu EEG-Geräten, die zeigen, welche Hirnareale bei bestimmten Translationsprozessen aktiviert werden. Alle genannten Methoden haben Vor- und Nachteile, manche sind z.B. nur unter Laborbedingungen durchführbar. Um die Nachteile einzelner Methoden auszugleichen, werden zuweilen auch verschiedene Untersuchungsmethoden miteinander „trianguliert“, d.h. verknüpft (vgl. Alves 2003).
�.� Äquivalenz Nachdem es im letzten Kapitel um den Übersetzungsprozess ging, soll es in diesem Kapitel um das Übersetzungsprodukt eingehen, genauer gesagt auf das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zieltext. Hierbei geht es vor allem um den Begriff der Äquivalenz – einen Schlüsselbegriff vor allem der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft. Kein anderer Begriff ist wohl so umstritten wie der Äquivalenzbegriff. Bei linguistisch orientierten Autoren spielt er eine zentrale Rolle. In der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft hat sich der Schweizer Werner Koller besonders intensiv mit dem Begriff der Äquivalenz befasst. Koller unterscheidet fünf Äquivalenztypen: denotative, konnotative, textnormative, pragmatische und formalästhetische Äquivalenz (vgl. Koller 2011, 219). Jörn Albrecht kritisiert, dass Koller und andere Autoren nicht deutlich zwischen Äquivalenz und Invarianz differenzieren. Er schlägt folgende Unterscheidung vor: „Invarianzforderungen werden erhoben, Äquivalenz liegt vor, wenn diese Forderungen erfüllt werden“ (Albrecht 1990, 75).
56 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Damit ist gemeint, dass der Begriff der Invarianz prozessorientiert zu verstehen ist und sich auf das Gleichbleiben einzelne Merkmale (Invarianten) bezieht (z.B. Denotation oder Konnotation) und Äquivalenz („Gleichwertigkeit“) produktorientiert zu verstehen ist und sich auf das Verhältnis von Ausgangs- und Zieltext bezieht. In der funktionalistischen Translationstheorie spielt der Äquivalenzbegriff nur noch eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist der Begriff der Adäquatheit, d.h. der funktionsgerechten Übersetzungsmethode (vgl. Reiß/Vermeer 1984, 139f.). Erich Prunč, der sich sehr kritisch mit dem Äquivalenzbegriff auseinandersetzt, kritisiert den Übersetzungsbegriff der äquivalenzorientierten Übersetzungswissenschaft als zu eng (vgl. Prunč 2007, 88). In der französischsprachigen Übersetzungswissenschaft hat der Äquivalenzbegriff nie eine so zentrale Rolle gespielt wie in der deutschen. Ein Autor, der sich kritisch mit dem Äquivalenzbegriff auseinandergesetzt hat, ist Jean-René Ladmiral. Da eine absolute Äquivalenz unmöglich sei, schlägt Ladmiral vor, den Begriff der Äquivalenz durch den der approximation (Annäherung) zu ersetzen: [...] on a vu apparaître des modèles traductologiques procédant par ‘idéalisation’ et mettant en avant une idée paradoxalement prescriptive d’équivalence […] entre le texte-source et le textecible. Un tel concept d’équivalence apparaît bien problématique: il désigne la difficulté beaucoup plus qu’il ne contribue à la résoudre. Dans la pratique, on pourra lui substituer l’idée d’a p p r o x i m a t i o n , plus explicitement investie par la subjectivité du traducteur [...]. (Ladmiral 1981b, 393)
Dieses Zitat ist in Deutschland aufgrund der Umstrittenheit des Äquivalenzbegriffs das mit Abstand am häufigsten zitierte Zitat von Ladmiral (vgl. Schreiber 2004b). In Frankreich hat Ladmirals Vorschlag viel weniger für Furore gesorgt. Auch in der italienischsprachigen Übersetzungswissenschaft spielte der Äquivalenzbegriff bist in die 1990er Jahre eine weniger zentrale Rolle. Federica Scarpa plädiert 1997 für einen flexiblen Äquivalenzbegriff. Ihr zufolge hängt die Äquivalenzrelation nicht nur von verschiedenen Ebenen der Sprache ab (Semantik, Syntax usw.), sondern sie kann sich auch innerhalb eines Textes ändern: Il concetto di equivalenza, infatti, è risultato essere non un concetto assoluto e statico bensì relativo e dinamico, in quanto testi in lingue diverse possono essere resi più o meno equivalenti dal traduttore ai diversi gradi (semantico, sintattico, stilistico, pragmatico), a seconda del segmento testuale che il traduttore sceglie di considerare (parola, sintagma, frase, paragrafo, testo) e del tipo di testo che sta traducendo […]. (Scarpa 1997, 3)
Auch Roberto Bertozzi kommt nach einem ausführlichen Forschungsbericht zu dem Schluss, dass der Äquivalenzbegriff auf jeden Fall so flexibel sein muss, dass er mehrere Lösungen eines Übersetzungsproblems zulasse, denn eine einzige, objektiv richtige Lösung werde es nie geben:
Translationsethik � ��
Ogni traduttore propone una soluzione sempre diversa di uno stesso problema traduttivo. […] Ogni traduttore sceglie differentemente tra le varie opzioni stilistiche che, in concorrenza tra loro, ogni volta si propongono come potenziali soluzioni di un determinato problema posto dal testo […]. (Bertozzi 1999, 103)
In jüngster Zeit hat es verschiedene Vorschläge gegeben, den Äquivalenzbegriff neu zu definieren oder zu ersetzen. Theo Hermans hat vorgeschlagen, den Begriff der Äquivalenz für Texte zu reservieren, die aufgrund einer juristischen Festlegung als gleichwertige Sprachfassungen, d.h. nicht als Übersetzungen, gelten, z.B. die Rechtstexte der Europäischen Union (vgl. Hermans 2007, 24). Und Holger Siever schlägt vor, den bidirektionalen Begriff der Äquivalenz durch den unidirektionalen Begriff der Implikation zu ersetzen, um zu betonen, dass die Übersetzungsrelation nicht umkehrbar ist, was sich darin zeige, dass Rückübersetzungen nicht notwendigerweise zum Wortlaut des Ausgangstextes zurückführen (vgl. Siever 2015, 125f.). Ein Beispiel für eine Verteidigung des Äquivalenzbegriffs ist das Modell von Prencipe, das von einer linguistisch basierten Identifizierung und Rekonstruktion des Textsinns ausgeht (vgl. Prencipe 2006, 170). Troque hält dagegen dieses Postulat für illusorisch, da es keinen eindeutigen Textsinn gebe: „[...] il concetto di traduzione come equivalenza all’originale è fondamentalmente paradossale perché presuppone che il senso del testo originale sia immobile, impassibile e immutabile” (Troque 2014, 113). Ein Ende der Äquivalenzdiskussion ist also nicht in Sicht.
�.� Translationsethik In der neueren Translationswissenschaft spielen Fragen der Translationsethik eine immer größere Rolle. Einige Autoren sprechen inzwischen sogar von einer „ethischen Wende“. Eine zentrale Rolle spielt dabei der französische Übersetzungstheoretiker Antoine Berman: On aurait pu inscrire la transformation des théories de la traduction sous le signe d’un „virage éthique“ qui aurait été inauguré en 1984 avec la publication de L’Épreuve de l’étranger, car Antoine Berman a privilégié lui aussi les rapports interculturels avec l’autre. […] Il articule „la visée éthique du traduire“ en termes de reconnaissance „de l’Autre“. (Godard 2001, 55)
Berman beschäftigt sich in seinem Buch von 1984 mit der Übersetzungstheorie der deutschen Romantik und setzt sich, wie damals Schleiermacher, für eine verfremdende Übersetzung ein. Bermans Begründung ist ethischer Natur: Nur eine verfremdende Übersetzung könne dem fremden Kunstwerk, dem fremden Autor gerecht werden. In der Translationsethik kommen neben dem zu übersetzenden Text auch die am Übersetzungsprozess beteiligten Personen stärker in den Blick. Federica Scarpa
58 � Grundfragen der Translationswissenschaft
spricht z.B. von „la responsabilità del traduttore al livello del suo rapporto con il testo e con le altre persone coinvolte nel processo traduttivo“ (Scarpa 2007, 13). In der deutschsprachigen Übersetzungwissenschaft wird häufig der von Christiane Nord (1989) eingeführte Begriff der Loyalität als Maßstab der Translationsethik herangezogen. Im Unterschied zum Begriff der Treue geht es beim Begriff der Loyalität nicht um Beziehungen zwischen Texten, sondern um Beziehungen zwischen Personen. Nach Nords Ansicht ist der Übersetzer dem Autor des Ausgangstextes, dem Auftraggeber und dem Rezipienten des Zieltextes zur Loyalität verpflichtet.10 Andere Autoren haben dagegen die Loyalität des Übersetzers gegenüber sich selbst ins Spiel gebracht (vgl. Prunč 1997, 113; Pym 1997, 91; Kautz 2000, 56f.). Konkret könnte sich diese Art der Loyalität z.B. darin äußern, dass ein Übersetzer einen Übersetzungsauftrag aus ethischen Gründen ablehnt (vgl. Prunč 2007, 334). Wenn sich die verschiedenen Loyalitätsrelationen widersprechen, kann es zu Loyalitätskonflikten kommen (vgl. Schreiber 2006, 86). Ein Beispiel: Ein Verlag verlangt vom Übersetzer eines Romans, diesen stark zu kürzen.11 Der Übersetzer weiß, dass er dadurch die Intention des Verfassers verfälschen würde und muss sich entscheiden, wem er den Vorzug gibt. In den letzten Jahren haben sich neue berufsethische Herausforderungen durch technologische Neuerungen (vgl. Kap. 2.8) ergeben, „wo einer wachsenden Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten ein Mangel an handlungsleitenden Prinzipien gegenübersteht (Technikethik, Computerethik, Cyberethik etc.)“ (Reinke 2012, 126), da z.B. entsprechende Normen zu Dienstleistungen im Bereich des Übersetzens und Dolmetschens diese Fragen bisher nur ansatzweise berücksichtigen. Ausführlicher wird die Problematik der Berufsethik in den so genannten Berufs- und Ehrenordnungen verschiedener Berufsverbände behandelt. Die Associazione Italiana Traduttori e Interpreti (AITI) hat z.B. einen 28 Artikel umfassenden „Codice deontologico“ herausgegeben, dessen Einhaltung für Mitglieder des Verbandes obligatorisch ist (vgl. Diadori 2012, 76ff.). Auf wissenschaftlicher Ebene stellt sich die Frage, wie präskriptiv die Translationswissenschaft selbst in ethischen Fragen Stellung nehmen soll (vgl. Boase-Beier 2011, 79). Manche Ansätze, z.B. die feministische oder die postkolonialistische Translationswissenschaft (vgl. Kap. 2.6), sind ausgesprochen „interventionistisch“ ausgerichtet, indem sie den Einsatz von Translation und Translationswissenschaft zur Stärkung benachteiligter Gruppen fordern (vgl. Hermans 2009, 100).
�� 10 Einen ähnlichen Vorschlag macht Buffoni (1989a, 111). 11 Als Beispiel könnte man die von Robyns (1990) beschriebenen französischen Übersetzungen amerikanischer Kriminalromane nennen, die zahlreiche Kürzungen (u.a. erotischer Passagen) enthalten, um die Zieltexte an die Konventionen der Série noire anzupassen.
Literarische Übersetzung und Fachübersetzung � ��
�.� Literarische Übersetzung und Fachübersetzung Zahlreiche übersetzungstheoretische Arbeiten befassen sich mit einzelnen Typen der Übersetzung. Dabei war Edmond Cary einer der wenigen Autoren, der sich in seinem immer noch lesenswerten Buch La traduction dans le monde moderne (1956) ebenso kompetent zu verschiedenen Typen der literarischen Übersetzung wie zur technischen Fachübersetzung geäußert hat. Hinsichtlich der literarischen Übersetzung, insbesondere der Gedichtübersetzung, hat sich Cary gegen einen rein linguistischen Zugang gewandt. Das ist sicherlich insofern berechtigt, als bei literarischen Übersetzungen Aspekte eine Rolle spielen, die man mit linguistischen Mitteln allein nicht analysieren kann. Wenn man genuin übersetzungswissenschaftliche Ansätze einmal ausblendet und davon ausginge, dass für die literarische Übersetzung nicht die Linguistik, sondern die Literaturwissenschaft als „Leitwissenschaft“ zuständig sei, so ist damit allerdings noch lange nicht gesagt, welche Teildisziplinen der Literaturwissenschaft in Frage kommen, denn die Literaturwissenschaft gibt es ebenso wenig wie die Linguistik. Naheliegend wäre insbesondere die vergleichende Literaturwissenschaft (Komparatistik), die sich mit dem Vergleich der Literaturen verschiedener Länder befasst und die inzwischen die literarische Übersetzung zu ihrem Untersuchungsgebiet zählt, da Übersetzungen als Bestandteil der zielsprachlichen Literatur betrachtet werden können. In einer französischen Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft heißt es: „Naïves ou savantes, laides ou belles, bonnes ou mauvaises, les traductions appartiennent à la littérature qui les accueille et s’intègrent à son patrimoine“ (Brunel et al. 1983, 144). Daher enthält z.B. auch eine italienische Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft (Guglielmi 1999) ein eigenes Kapitel zur literarischen Übersetzung. Im spanischen Sprachraum hat sich besonders Claudio Guillén für die Einbeziehung der Übersetzungen in die Geschichte der (zielsprachlichen) Literatur eingesetzt: „Pero no sólo hay que aprender las traducciones históricamente. Es aun más importante, mutatis mutandis, integrarlas en la historia de la literatura [...]“ (zit. nach Ruiz Casanova 2000, 524). Innerhalb der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung hat sich u.a. Itamar Even-Zohar (1978) in seiner polysystem theory für die Analyse literarischer Übersetzungen im Hinblick auf deren Stellung innerhalb des literarischen „Polysystems“ (d.h. des Systems von Gattungen, Normen usw.) ausgesprochen. Für die Anwendung der polysystem theory auf die Untersuchung der Übersetzungsgeschichte in Spanien setzt sich Miguel Gallego Roca in seinem Buch Traducción y literatura ein. Allerdings schränkt Gallego Roca (1994, 168f.) ein, dass nicht alle Übersetzungen für Untersuchungen dieses Typs geeignet seien, sondern nur solche, die in der Zielkultur als literarisches Werk gelten können. Ein weiterer Aspekt, der nach Ansicht einiger Autoren von einem linguistischen Ansatz nicht angemessen erfasst werden kann, ist die formal-ästhetische Seite der Literaturübersetzung. z.B. die Wiedergabe von Merkmalen wie Rhythmus und ggf.
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Reim und Versmaß. Hier komme als Leitdisziplin nur die Poetik in Frage, wie Henri Meschonnic in seinem programmatischen Werk Pour la poétique betont: „Une poétique de la traduction ne peut que dépendre de la poétique“ (Meschonnic 1973, 327). Eine Poetik der Übersetzung könnte z.B. Auskunft darüber geben, welches Versmaß bei der Übersetzung von Versdichtung adäquat wäre. Gerade diese „formalen“ Aspekte der Literaturübersetzung, speziell der Lyrikübersetzung, sind jedoch außerordentlich umstritten. Hierzu seien exemplarisch fünf unterschiedliche Positionen referiert: 1. Der Russe Efim Etkind (1982), der sich vor allem mit Übersetzungen im Sprachenpaar Russisch-Französisch beschäftigt hat, spricht sich dafür aus, dass man Lyrik grundsätzlich in Versen übersetzt und dabei ein möglichst ähnliches Versmaß benutzt (vgl. Etkind 1982, 22). 2. Giovanni Sansone plädiert dagegen für den Verzicht auf die Wiedergabe des Metrums zugunsten einer formal weniger strengen, rhythmischen Übersetzung, die dem Übersetzer mehr Gestaltungsmöglichkeiten lasse (vgl. Sansone 1989, 17f.). 3. Noch einen Schritt weiter geht Teodoro Sáez Hermosilla bei seinem Versuch, die théorie du sens auf die literarische Übersetzung anzuwenden. Als primäre Invariante der Übersetzung betrachtet er den Sinn (el sentido), den er als psychische Wahrnehmung des Lesers beim Vorgang des Interpretierens definiert (vgl. Sáez Hermosilla 1987, 125). Das Poetische eines Gedichtes sei nicht an bestimmte Formen gebunden. 4. Gegen eine Verabsolutierung des Sinns argumentiert der französische Philosoph Paul Ricœur, der sich aufgrund der Untrennbarkeit von Inhalt und Form für eine poetische Nachdichtung einsetzt: [...] traduire le sens seul, c’est renier une acquisition de la sémiotique contemporaine, l’unité du sens et du son, du signifié et du signifiant [...] La conséquence est que seul un poète peut traduire un poète. (Ricœur 2004, 68)
5.
Demgegenüber spricht sich die deutsche Autorin Alice Vollenweider explizit für eine Prosaversion von Poesie aus, welche sie folgendermaßen erläutert: Mit Prosaversion meine ich keine Interlinearversion, die Wort für Wort übersetzt und dadurch oft unverständlich wird, sondern eine Übertragung, die Vorstellungen und Metaphern möglichst genau wiedergibt und zugunsten dieser Genauigkeit auf Metrum, Reim, Rhythmus und Klangwirkung verzichtet. Eine Übersetzung also, die vor der eigentlichen Sprache des Gedichts kapituliert. (Vollenweider 1967, 376)
Ein weiterer Typ der literarischen Übersetzung, bei dem sehr spezifische Anforderungen und Probleme auftreten, ist die Dramenübersetzung, zumindest dann, wenn
Literarische Übersetzung und Fachübersetzung � 61
es sich nicht um reine „Leseübersetzungen“ handelt. Edmond Cary hat ein Hauptproblem der Übersetzung fürs Theater folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Au théâtre, il n’existe pas de bas de page“ (Cary 1956, 100). Im Theater gibt es also nicht die Möglichkeit, in Fußnoten ein „unübersetzbares“ Wortspiel zu erklären oder in einem Vor- oder Nachwort kulturelle Hintergründe zu beleuchten. Daher ist die Übersetzung für das Theater fast immer einbürgernd: „La traduction théâtrale constitue toujours peu ou prou une adaptation“ (Cary 1956, 99). Auch in sprachlicher Hinsicht sind bestimmte Kriterien zu beachten. Erwähnt sei hier lediglich die Forderung nach „Sprechbarkeit“ (vgl. Vreck 1990). Einen breiten Einblick in die Theorie und Praxis der Dramenübersetzung bietet der Sammelband von Dodds und Avirović (1995), in dem dem französischen, deutschen, spanischen, englischen, russischen, afrikanischen und italienischen Theater jeweils eigene Kapitel gewidmet sind. Im Vergleich zur Übersetzung von Gedichten oder Theaterstücken wurden die spezifischen Probleme der Übersetzung von Prosatexten, z.B. Romanen, lange unterschätzt und daher in der Übersetzungswissenschaft bis vor kurzem weniger ausführlich behandelt. Die Monographie La traduzione letteraria von Lorenza Rega (2001) ist eine der wenigen Arbeiten zur literarischen Übersetzung, in der Probleme der Versübersetzung (z.B. Versmaß) und Aspekte der Übersetzung literarischer Prosa (z.B. Syntax) gleichberechtigt behandelt werden, vor allem in Bezug auf die deutsch-italienische Übersetzung. Zu einem weiteren zentralen Aspekt der Übersetzung von Erzählliteratur hat Katrin Zuschlag in ihrem Werk Narrativik und literarisches Übersetzen (2002) aus Sicht der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft Stellung genommen. Hier geht es vor allem darum, ob erzähltechnische Elemente (wie z.B. die Erzählperspektive) beim Übersetzen erhalten bleiben oder ob sie sich aus sprachenpaarspezifischen oder subjektiven Gründen ändern. Erläutert wird dies anhand von französisch-deutschen Beispielen. Meine Ausführungen zur literarischen Übersetzung möchte ich beschließen mit knappen Bemerkungen zu drei kultur- bzw. sozialwissenschaftlich geprägten Ansätzen, von denen die beiden erstgenannten bisher vor allem in der englischsprachigen Übersetzungswissenschaft hervorgetreten sind: 1. Zunächst sei die postkolonialistische Übersetzungstheorie genannt, die sich mit Übersetzen im Kontext ehemaliger Kolonien befasst. Nach Ansicht der Kanadierin Sherry Simon bedeutetet Postkolonialismus aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht zweierlei: erstens die geographische Ausweitung des Gegenstandes der Übersetzungswissenschaft auf die Gebiete der ehemaligen Kolonien und zweitens die Analyse der Übersetzung unter dem Gesichtspunkt asymmetrischer Machtverhältnisse (Simon 2000, 13). Ein Problem bei der Übersetzung postkolonialer Literatur ist die „Hybridität“ dieser Texte, welche aus zwei unterschiedlichen Kulturen schöpfen, wie Samiah Mehrez in einem Artikel über die Übersetzung frankophoner Literatur Nordafrikas betont:
62 � Grundfragen der Translationswissenschaft
By drawing on more than one culture, more than one language, more than one world experience, within the confines of the same text, postcolonial anglophone and francophone literature very often defies our notion of an ‚original‘ work and its translation. (Mehrez 1992, 122)
2.
Für die Übersetzungspraxis wird u.a. gefordert, die kulturelle Heterogenität der Texte beim Übersetzen durch metatextuelle Verfahren deutlich zu machen, z.B. durch Fußnoten, Vor- und Nachworte sowie erklärende Einschübe nach Ausdrücken in einer autochthonen Sprache (vgl. Wolf 1998, 103; Bandia 2008, 165). Verwandt mit der postkolonialistischen ist die feministische Übersetzungstheorie, bei der es ebenfalls um asymmetrische Machtverhältnisse geht – dieses Mal nicht zwischen verschiedenen Kulturen, sondern zwischen den Geschlechtern. Die ersten Ansätze finden sich in den 1980er Jahren in Kanada, wo eine Gruppe feministischer Übersetzerinnen begann, das Übersetzen als eine politische Handlung zu begreifen und Frauen beim Übersetzen durch bestimmte Strategien gezielt „sichtbar“ zu machen. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang das folgende Bekenntnis von Susanne de Lotbinière-Harwood: My translation practice is a political activity aimed at making language speak for women. So my signature on a translation means: this translation has used every translation strategy to make the feminine visible in language. [...] (zit. nach Flotow 1998, 131)
3.
Zu den Themengebieten, die im Rahmen feministischer Ansätze bearbeitet werden, gehören u.a. Frauen in der Geschichte der Übersetzung, feministische Übersetzungskritik, das Übersetzen feministischer Literatur, Strategien feministischer Translation und das Bild von Übersetzerinnen und Übersetzungen (vgl. Grbić/Wolf 1999, 265). Hier lediglich ein Beispiel zu dem letztgenannten Punkt: Die aus dem 17. Jh. stammende Metapher belle infidèle (vgl. Kap. 1.2) ist Feministinnen ein Dorn im Auge, da hier eine freie Übersetzung mit einer schönen, aber untreuen Frau verglichen wird. Die bereits zitierte Kanadierin Susanne de Lotbinière-Harwood funktionierte daher diese Metapher durch ein Wortspiel zur Bezeichnung für eine feministische Übersetzerin um: Re-belle et infidèle (1991). Seit den 1990er Jahren gibt es erste translationssoziologische Ansätze, die im französischen und im deutschen Sprachraum oft auf Kategorien aufbauen, die auf den Soziologen Pierre Bourdieu zurückgehen (welcher sich selbst nur am Rande mit Übersetzungen beschäftigt hat). Im Zuge der Analyse des Entstehungsprozesses literarischer Übersetzungen kommen nun die verschiedenen „Akteure der Translation“ stärker in den Blick, z.B. Verlagsleiter und mitarbeiter, Herausgeber von Reihen, Literaturkritiker (vgl. Wolf 1999, 269; Heilbron/Sapiro 2002, 5). Komplementär zu Bourdieus Ansatz wird zuweilen die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour herangezogen (vgl. Buzelin 2005),
Literarische Übersetzung und Fachübersetzung � 63
in der neben menschlichen Akteuren auch nichtmenschliche „Aktanten“ (z.B. Computer), die mit Menschen interagieren, berücksichtigt werden. In Rahmen der Translationssoziologie sind seit den 1990er Jahren einige monographische Fallstudien entstanden, z.B. zur Übersetzung amerikanischer Science-Fiction im Frankreich der fünfziger Jahre (Gouanvic 1999), zur Rolle österreichischer Verlage bei Übersetzungen ins Französische (Fukari 2005), zur Translation als sozialer und kultureller Praxis in der Habsburgermonarchie unter besonderer Berücksichtigung von Übersetzungen aus dem Italienischen (Wolf 2012) oder zu spanischen Übersetzungen von hispanoamerikanischer Literatur im europäischen und nordamerikanischen Kontext (López Ponz 2014). Nun aber zur Fachübersetzung: Eine der ersten umfassenden Einführungen in Theorie und Didaktik des Fachübersetzens ist das Buch Fondement didactique de la traduction technique von Christine Durieux (1988), wobei der Ausdruck traduction technique (wie oft im Französischen) für „Fachübersetzen“ schlechthin steht, d.h. nicht auf das Übersetzen technischer Fachtexte beschränkt ist. Durieux wendet sich vor allem gegen das weit verbreitete Vorurteil, beim Fachübersetzen könne man die Termini eins zu eins austauschen, da fachsprachliche Terminologien auf der Inhaltsseite deckungsgleich seien. Anhand von Beispielen aus dem Sprachenpaar Englisch-Französisch versucht sie, das Gegenteil zu beweisen. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt die Arbeit Terminologie und Einzelsprache von Sylvia Reinart (1993) anhand des Sprachenpaars Französisch-Deutsch (vgl. Kap. 3.5). Federica Scarpa wertet in ihrer Monographie La traduzione specializzata (2001) die Ergebnisse von Fachsprachenforschung und Übersetzungswissenschaft aus und erläutert sie anhand von englisch-italienischen Beispielen. Um die Fachübersetzung von der literarischen Übersetzung zu unterscheiden, charakterisiert sie – im Anschluss an die von Christiane Nord (1989) entwickelte Übersetzungstypologie – das Fachübersetzen als instrumentell, d.h. funktionsorientiert, und nicht als dokumentarisch, d.h. am Ausgangstext orientiert: [...] la traduzione specializzata prototipica è di tipo „strumentale“ e non „documentale“ [...] perché tende a produrre un testo di arrivo orientato a „funzionare“ nella nuova situazione comunicativa in cui è calato come se fosse un testo originale [...] (Scarpa 2001, 112)12
Es ist nun aber nicht so, dass es keine dokumentarischen, verfremdenden Fachübersetzungen gebe. Juristische Übersetzungen sind z.B. häufig verfremdend, insbesondere wenn sie eine informative Funktion erfüllen, d.h. wenn die Übersetzung
�� 12 Ähnlich hatte sich bereits Antoine Berman (1991) geäußert.
64 � Grundfragen der Translationswissenschaft
über den Ausgangstext informiert, nicht aber selbst rechtsgültig ist (vgl. Wiesmann 2009, 280). Scarpa beschreibt in ihrem oben zitierten Buch auch die neuen Berufsbilder, die sich in den letzten Jahren im Bereich von Fachtextproduktion und Fachübersetzung entwickelt haben. In diesem Zusammenhang nennt sie zunächst die redazione tecnica (technische Redaktion; Lehnübersetzung von engl. technical writing), d.h. das adressatengerechte Verfassen technischer Fachtextsorten (z.B. Anleitungen). Diese sei inzwischen aufgrund der wachsenden Bedeutung multimedialer Texte zu einer umfassenderen comunicazione tecnica (technical communication) unter Einbeziehung nonverbaler Elemente ausgeweitet worden (vgl. Scarpa 2001, 212). Anschließend nennt sie die Lokalisierung, d.h. die Anpassung eines Produktes (speziell einer Software) an den Markt der Zielkultur. Dabei geht es nicht nur um die Übersetzung der gedruckten Dokumentation, sondern auch um eine Anpassung von Elementen, die nur in elektronischer Form vorliegen (z.B. Menübefehle, Online-Hilfe): Il processo di localizzazione comprende la traduzione e l’adattamento dei contenuti sia della documentazione su supporto cartaceo sia dei segmenti testuali e dei documenti multimediali che appaiono sullo schermo. (Scarpa 2001, 214)
Als deutschsprachige Einführungen in technical writing bzw. Softwarelokalisierung seien Göpferich (1998) und Reineke/Schmitz (2005) erwähnt. Beide Bücher beziehen sich, wie auch Scarpa (2001), primär auf das Englische als Ausgangssprache. Dies geht auf die dominierende Rolle der englischen Sprache im Arbeitsmarkt für Fachübersetzer zurück. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass nach den Angaben zum „Translationsbedarf nach Sprachen“ in Deutschland bei Schmitt (1998, 7) das Englische von den drei „großen“ romanischen Sprachen Französisch, Spanisch und Italienisch auf den Plätzen 2 bis 4 gefolgt wird. Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch kurz zwei Übersetzungstypen erwähnen, deren Problematik sich u.a. daraus ergibt, dass sie im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Fachübersetzung angesiedelt sind: die Bibelübersetzung und die Übersetzung philosophischer Texte. Die neueren Veröffentlichungen zur Theorie der Bibelübersetzung sind oft Reaktionen auf die grundlegenden Arbeiten von Eugene A. Nida (insbesondere Nida 1964). Äußerst kritisch zu Nidas Forderung nach einer einbürgernden, auf Wirkungsgleichheit ausgerichteten Bibelübersetzung im Dienste der Missionierung (dynamic-equivalence translation) äußert sich Henri Meschonnic, der Nida des Kulturimperialismus bezichtigt: Le pasteur Nida dérive sa pragmatique de Dieu et de sa vérité dans l’impérialisme culturel qui identifie à soi les universaux: la traduction comme fonction performative est le masque idéologique de la colonisation. (Meschonnic 1973, 327)
Literarische Übersetzung und Fachübersetzung � 65
Meschonnic interpretiert die Bibel dagegen nicht als Anleitung zur Missionierung, sondern als literarischen Text, was zu einer völlig anderen Hierarchie der Invarianzforderungen führt: Statt Wirkungsgleichheit wird nun vor allem die Erhaltung des Rhythmus gefordert, da Meschonnic die Oralität für ein zentrales Merkmal biblischer Texte hält (vgl. Meschonnic 1999, 460).13 Zu Nidas „Verteidigung“ sei angeführt, dass er keineswegs für eine radikale Anpassung an die Zielkultur eintritt, sondern bei zentralen biblischen Symbolen, wie etwa dem Lamm Gottes, eine kommentierende Übersetzung einer Adaptation vom Typ „Seehund Gottes“ (als Anpassung an die Zielkultur bei einer Übersetzung für Eskimos) vorzieht (vgl. Prunč 2001, 118f.). Als gemäßigter Anhänger von Nidas Theorien zeigt sich hingegen Jean-Claude Margot; allerdings warnt Margot – wie schon der Titel seiner Abhandlung Traduire sans trahir andeutet – vor einer zu „freien“ Übersetzung, d.h. er möchte z.B. erklärende Umschreibungen („Paraphrasen“) auf das unvermeidliche Maß beschränkt wissen (Margot 1979, 159ff.). Mit den spezifischen Problemen der Übersetzung philosophischer Texte hat sich die Übersetzungswissenschaft bisher nur selten befasst (vgl. Aschenberg/Aschenberg 1998, 77f.). Aus Sicht der französischen Übersetzungswissenschaft kann immerhin Jean-René Ladmiral genannt werden, der selbst u.a. als Übersetzer von Kant, Nietzsche und Habermas hervorgetreten ist und sich auch theoretisch eingehend mit der Übersetzung philosophischer Texte auseinandergesetzt hat. In seinem Artikel „Éléments de traduction philosophique“ wendet sich Ladmiral gegen eine starre Dichotomie Fachübersetzung vs. literarische Übersetzung und betrachtet die philosophische Übersetzung als „un troisième mode de traduire“ (Ladmiral 1981a, 23). Während bei der Fachübersetzung die Denotation und bei der literarischen Übersetzung die Konnotation im Vordergrund stehe, spiele bei der philosophischen Übersetzung darüber hinaus die metasprachliche Funktion eine wichtige Rolle. Mit einem Autor, bei dem dies besonders deutlich wird, hat sich Andreas Michel beschäftigt: Martin Heidegger. Auf Heideggers „sprachliche Anomalie“ haben romanische Übersetzer ganz unterschiedlich reagiert: Im Frz. hat man sich auf eine starke Entfernung sowohl von der Gemeinsprache als auch von der traditionellen Fachsprache eingelassen. Das Gegenbeispiel bildet die it. Übersetzungstradition, die dafür sorgt, dass sich die Texte Heideggers lesen lassen wie die übersetzten Texte der mittelalterlichen Scholastiker. (Michel 1999, 364)14
�� 13 Im spanischen Sprachraum hat Luis Alonso Schökel eine ähnliche Ansicht vertreten (vgl. Ortega Arjonilla 2008). 14 Zur übersetzerischen Rezeption Heideggers in Italien vgl. jetzt Heller 2013, 251ff.
�� � Grundfragen der Translationswissenschaft
�.� Audiovisuelle Übersetzung Der Terminus audiovisuelle Übersetzung hat sich in den letzten Jahren als Oberbegriff für „das Übersetzen von Medienformaten, die einen sichtbaren und einen hörbaren Teil haben“ (Jüngst 2010, 1) weitgehend eingebürgert.15 Synchronisation und Untertitelung von Filmen und Fernsehserien sind die beiden wichtigsten Verfahren der audiovisuellen Übersetzung in der Romania und sollen daher im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf berufspraktische Fragen oder technische Details eingehen, sondern kurz einige Vor- und Nachteile beider Verfahren diskutieren sowie einen Aspekt ansprechen, der aus Sicht der romanischen Übersetzungswissenschaft besonders interessant ist: die Unterscheidung zwischen Synchronisations- und Untertitelungsländern (vgl. Reinart 2004, 75). Innerhalb der Romania zählt man Frankreich, Italien und Spanien sowie die spanischsprachigen Länder Lateinamerikas zu den Synchronisationsländern (d.h. den Ländern, in den fremdsprachige Filme und Fernsehserien vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich synchronisiert werden), während etwa Portugal und Rumänien zu den Untertitelungsländern gerechnet werden. Generell findet man die Untertitelung häufiger in kleineren Ländern bzw. Sprachgemeinschaften. In Belgien ist die Situation besonders komplex: Während in Flandern, wie in den Niederlanden, durchweg Untertitel verwendet werden, greift man in Wallonien, vor allem seit Einführung des Privatfernsehens, zunehmend auf französische Synchronisationen zurück: La Belgique francophone se trouve ainsi coincée entre un bloc néerlandophone relativement puissant, qui recourt au sous-titrage, et un monde francophone qui l’ignore à peu près. Dès lors, le sous-titrage bilingue d’antan, lié à un politique belge des médias, tend à disparaître au profit du doublage de plus en plus systématique, réalisé par des firmes spécialisées situées hors de la Belgique. (Lambert/Delabastita 1996, 52)
Als Nachteile der Untertitelung nennen Befürworter der Synchronisation vor allem die Ablenkung von den visuellen Informationen sowie die unvermeidliche Verkürzung des Textes bei der Umsetzung der gesprochenen in die geschriebene Sprache. Kritik an der Untertitelung kommt vor allem aus Synchronisationsländern wie Italien, wo untertitelte Filme nur von einem besonders interessierten Publikum goutiert werden: „Di apparenza purista e rispettosa – in realtà riduttiva dei valori fondamentali dell’opera – la procedura dei sottotitoli imprigiona il film in una gabbia per pubblico elitario” (De Agostini 2000, 125). Die Gegenposition wird u.a. vertreten von Margaret Hart, die die Untertitelung für „el medio más adecuado de comunicar el sentido original dentro de su contexto original“ (Hart 1994, 267) hält. Und Sylvia Reinart gibt zu bedenken, dass auch die Synchronisation keineswegs verlustfrei sei:
�� 15 Konkurrierende Termini wie multimediale Übersetzung werden nur noch selten verwendet.
Audiovisuelle Übersetzung � 67
Wer bereits einmal einen Film im Zweikanalton aufgenommen und Original und Synchronisation miteinander verglichen hat, wird ohnehin so leicht den Verdacht nicht los, daß die Synchronisation bei uns nur deshalb als das „überlegene“ Verfahren gilt, weil sie Verluste schwerer erkennbar macht. (Reinart 2004, 89)
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass Synchronisationen „anfälliger“ für Zensuren und ideologisch bedingte Einflüsse sind, da im Unterschied zur Untertitelung kein direkter Vergleich mit dem Originaltext möglich ist, was dazu führte, dass faschistische Regimes sich in der Regel zugunsten der Synchronisation entschieden (vgl. Goris 1993, 171). Ein wichtiger und vor allem für kleinere Produktionsgesellschaften entscheidender Vorteil der Untertitelung sind die wesentlich geringeren Kosten (vgl. Perego 2005, 18). Als positiver Nebeneffekt wird zudem oft die Steigerung der fremdsprachlichen Kompetenz der Zuschauer genannt. Dieser intuitiv einleuchtende Nutzen konnte durch empirische Untersuchungen bestätigt werden (vgl. D’Ydewalle/Pavakanun 1996). Es gibt jedoch auch „objektive“ Vorteile der Synchronisation. Empirische Untersuchungen haben nämlich ergeben, dass bei der Synchronisation weniger Verständnisprobleme auftreten und mehr visuelle Informationen vom Zuschauer gespeichert werden (vgl. Lavaur 2008, 123). Man erklärt sich dieses Ergebnis durch die höhere kognitive Belastung bei der Rezeption eines untertitelten Films. Für die Akzeptanz der beiden Verfahren scheinen aber weniger die „objektiven“ Vor- und Nachteile als der Faktor Gewohnheit von Bedeutung zu sein: Wenn sich das Publikum eines Landes oder einer Sprachgemeinschaft an ein bestimmtes Verfahren gewöhnt hat, lehnt die Mehrheit des Publikums das jeweils andere Verfahren meist ab (vgl. Reinart 2004, 76f.). So werden im spanischen Regionalfernsehen eigene Synchronisationen für Baskisch, Katalanisch und Galicisch hergestellt, weil die Zuschauer synchronisierte Filme von den nationalen Fernsehprogrammen gewöhnt sind (vgl. Zabalbeascoa et al. 2001, 105); die hohen Kosten werden z.T. durch staatliche Subventionen getragen (vgl. Agost 1999, 53f.). Der Belgier José Lambert bringt darüber hinaus soziolinguistische Überlegungen in die Diskussion ein: Si les Pays-Bas et la Belgique – néerlandophone comme francophone – préfèrent le sous-titrage au doublage, il en va de même des Allemands et des Français établis tout près de la frontière belge, et cette attitude évolue à mesure qu’on s’éloigne de la frontière en question. L’exemple du Canada et d’autres pays „périphériques“ fait supposer que s’est bien la tolérance devant le multilinguisme (ou le bilinguisme?) qui est en cause. (Lambert 1990, 230)
Die tägliche Erfahrung mit mehrsprachigen Kommunikationssituationen scheint also die Akzeptanz des Verfahrens Untertitelung zu erhöhen. Daneben spielen auch technische Voraussetzungen eine Rolle, z.B. der Empfang von Fernsehprogrammen des Nachbarlandes. Eine weitere technische Entwicklung, die inzwischen auch in
�� � Grundfragen der Translationswissenschaft
klassischen Synchronisationsländern zu einer Erhöhung des Anteils untertitelter Filme führt (zumindest für den „Hausgebrauch“), ist die Einführung des neuen Mediums DVD (vgl. Gouadec 2002, 53). In diesem Kontext möchte ich auch hinweisen, dass es in jüngster Zeit neue Formen der Untertitelung gibt, z.B. die intralinguale Untertitelung für Gehörlose oder Hörgeschädigte. Ein weiterer Spezialfall ist die Live-Untertitelung im Fernsehen, z.B. in Nachrichtensendungen (vgl. Díaz Cintas 2008, 34f.). Bei diesem Typ der Untertitelung, die intra- oder interlingual durchgeführt werden kann, erfolgt die Erfassung des Zieltextes daher entweder in Stenographie (mit einer speziellen Tastatur) oder über das so genannte respeaking, d.h. Einsprechen des Textes in ein Spracherkennungsprogramm (vgl. Eugeni 2006). Insgesamt tendieren die jüngsten technischen Entwicklungen dahin, dass die Trennung in Synchronisations- und Untertitelungsländer immer unschärfer wird, da bestimmte Formen der Untertitelung auch in traditionellen Synchronisationsländern zunehmend Anwendung finden (vgl. Chaume 2012, 6f.). Lediglich kurz erwähnen möchte ich das Voice-over-Verfahren, bei dem die eingesprochene Übersetzung den Originalton überdeckt. In Westeuropa, Nord- und Südamerika wird dieses Verfahren für nicht-fiktionale Sendungen eingesetzt (z.B. Dokumentarfilme oder fremdsprachige „O-Töne“ in Nachrichtensendungen), während es in Osteuropa auch für Spielfilme Verwendung findet (vgl. Franco et al. 2013, 24f.). Bei diesem Verfahren wird zwar keine Lippensynchronität verlangt, wie in der Synchronisation, „wohl aber eine Abstimmung der zielsprachlichen Fassung auf die Beitragslänge im Original“ (Reinart 2014, 310), was zu Komprimierungen führt, ähnlich wie in Untertitelungen. Zu einer Fallstudie im Sprachenpaar SpanischDeutsch vgl. Schröpf 2011. Ein weiterer Spezialfall der audiovisuellen Übersetzung ist die Audiodeskription, d.h. die Erstellung von Hörfilmen für Blinde oder Sehgeschädigte. Hierbei „beschreibt ein Kommentator zusätzlich zum Filmtext, was man im Bild sieht“ (Jüngst 2010, 3), d.h. die handelnden Personen, den Schauplatz und andere für das Verständnis wichtige Informationen (vgl. Perego/Taylor 2012, 231ff.).
�.� Maschinelle und computergestützte Translation Wie andere Berufsbilder hat sich auch das Berufsbild des Übersetzers durch die Entwicklung der EDV erheblich verändert. Computer kommen heute in verschiedenen Phasen des Übersetzungsprozesses zum Einsatz. Meist unterscheidet man im Bereich zwischen maschineller und manueller Übersetzung („Humanübersetzung“) vier Stufen (vgl. Schäfer 2002, 31): 1. vollautomatische maschinelle Übersetzung (fully automatic machine translation, FAMT) 2. benutzerunterstützte maschinelle Übersetzung (humain-aided machine translation, HAMT)
Maschinelle und computergestützte Translation � 69
3. maschinelle Übersetzungshilfen (machine-aided human translation, MAHT) 4. Humanübersetzung (human translation, HT)
Bei der vollautomatischen maschinellen Übersetzung wird der ganze Übersetzungsprozess vom Computer erledigt und der so entstandene Zieltext ohne Änderungen verwendet. Bei der benutzerunterstützten maschinellen Übersetzung wird der Ausgangstext speziell vorbereitet und der Zieltext vom Menschen korrigiert. Beim Einsatz maschineller Übersetzungshilfen erfolgt der eigentliche Transfer durch den Übersetzer, der Computer liefert nur Hilfestellung, z.B. in Form einer Terminologiedatenbank. Bei der Humanübersetzung werden keine speziellen elektronischen Hilfsmittel verwendet, abgesehen von herkömmlichen Textverarbeitungsprogrammen, die man nicht zu den maschinellen Übersetzungshilfen rechnet. Die Stufen 2 und 3 werden zuweilen zur computergestützten Übersetzung zusammengefasst (vgl. Austermühl 2001, 11). Beginnen wir bei Stufe 1: Die vollautomatische maschinelle Übersetzung wird heutzutage hauptsächlich eingesetzt, wenn keine druckreife Übersetzung benötigt wird, sondern nur eine Informativübersetzung, d.h. eine unkorrigierte Rohübersetzung. Diese kann z.B. dazu dienen, dass sich der Auftraggeber einen groben Überblick über den Inhalt des Textes verschafft. Auf dieser Basis kann er dann entscheiden, ob er für den Text eine vollständige, druckreife Übersetzung benötigt oder z.B. nur Auszüge. In den fünfziger Jahren, als man sich in den USA mit Forschungen zum Sprachenpaar Russisch-Englisch befasste, hatte man gehofft, die vollautomatische maschinelle Übersetzung könne tatsächlich hochqualitative Ergebnisse liefern. Man hatte dabei die rein sprachlichen Probleme des Übersetzens unterschätzt, was u.a. daran lag, dass zunächst fast ausschließlich Informatiker an der Forschung beteiligt waren. Doch die Hoffnungen der amerikanischen Forscher auf eine fully automatic high quality translation wurden durch den vernichtenden ALPAC-Report von 1966 zerstört. Danach kam es zum Einfrieren aller US-Projekte. Ab Mitte der siebziger Jahre wurden in verschiedenen Ländern neue Projekte ins Leben gerufen, nun auch unter Beteiligung von Linguisten und z.T. mit bescheideneren Zielsetzungen. Man ist sich heute im Klaren darüber, dass es bestimmte Übersetzungsprobleme gibt (z.B. neue Wörter und Bedeutungen sowie jede Art von Mehrdeutigkeit), die von Maschinen wahrscheinlich nie befriedigend gelöst werden können, wie Bonino zu Recht betont: [...] rimarrà sempre impossibile o difficoltoso (e quindi insicuro) per ogni macchina del genere a) tradurre neologismi o parole che non vi sono state immesse, b) tradurre accezioni nuove di parole già esistenti, c) riconoscere con sicurezza quale delle varie accezioni di una parola è quella esatta, [...] (Bonino 1989, 456)
70 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Die besten Ergebnisse erzielen maschinelle Übersetzungen daher bei einfachen, hochgradig standardisierten Textsorten, in denen normalerweise keine Neologismen oder polysemen Wörter vorkommen. Als Paradebeispiel werden meist die kanadischen Wetterberichte genannt, die seit 1977 durch das Programm Taum Météo übersetzt werden. Die Übersetzung funktioniert relativ gut, da es sich um eine standardisierte Textsorte handelt und bei Problemen ein Humanübersetzer eingeschaltet wird: Ce système [Taum Météo] a deux caractéristiques qui en font un système en utilisation réelle: il est fondé sur un sous-langage correspondant au style télégraphique utilisé par les rédacteurs des bulletins (ne comportant par exemple ni articles ni verbes tensés) ce qui simplifie la traduction. Deuxièmement, c’est le système lui-même qui détermine s’il est capable ou non de traduire une phrase. Sinon il fait appel à un traducteur humain. (Léon 2006, 281)
Bei schwierigeren Textsorten sind dagegen selbst aufwändige Übersetzungsprogramme ohne kontinuierliche menschliche Unterstützung überfordert. Bessere Ergebnisse versprechen sich Fachleute langfristig von statistischen Programmen, die korpusbasiert arbeiten, d.h. im Unterschied zu den älteren, regelbasierten Programmen auf eine komplexe linguistische Analyse verzichten und statt dessen für eine bestimmte Übersetzungseinheit die statistisch wahrscheinlichste Entsprechung heranziehen (vgl. Quah 2006, 77). In einer vergleichenden Untersuchung von Depraetere (2011) schnitt allerdings das evaluierte statistische System (Language Weaver) nicht besser ab als das evaluierte regelbasierte System (Systran 6.0), sondern in einigen Bereich sogar deutlich schlechter. Damit kommen wir zur Stufe 2, der benutzerunterstützten maschinellen Übersetzung. Um bessere Ergebnisse zu erzielen, wird hier der Ausgangstext zunächst speziell vorbereitet (pre-editing). Dazu gehört z.B. die Blockierung der Übersetzung bei Eigennamen, damit nicht Fehler wie der folgende passieren: Zum Beispiel wurde in einem probeweise mit SYSTRAN übersetzten deutschen Pressetext der Name des Journalisten, Malte Fischer, fälschlicherweise als Satz interpretiert und entsprechend mit le pêcheur a peint übersetzt. (Schäfer 2002, 168)
Zum pre-editing im weiteren Sinne gehört auch der Bereich der kontrollierten Sprachen (vgl. Göpferich 2002, 366ff.). Hier geht es darum, dass Texte, die maschinell übersetzt werden sollen, schon darauf hin formuliert werden, und zwar nach genau festgelegten grammatischen und lexikalischen Regeln (z.B. Verwendung einfacher, aber syntaktisch vollständiger Sätze, Vermeidung von Synonymen oder Redewendungen). Solche kontrollierten Sprachen werden bisher vor allem in bestimmten Branchen eingesetzt, z.B. in der Luft- und Raumfahrtindustrie.
Maschinelle und computergestützte Translation � 71
Trotz pre-editing muss das Ergebnis einer maschinellen Übersetzung in der Regel überarbeitet werden. Bei diesem post-editing, das im Berufsbild des Fachübersetzens heute eine immer wichtigere Rolle einnimmt (vgl. Grass 2016, 757f.), geht es vor allem um die Korrektur von Übersetzungsfehlern und Verstößen gegen zielsprachliche Normen. Loffler-Laurian (1996, 86ff.) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer post-édition rapide, bei der es hauptsächlich um semantische und grammatikalische Korrektheit geht (insbesondere bei Übersetzungen für den internen Gebrauch) und einer post-édition conventionnelle, die auch eine stilistische Überarbeitung einschließt (für druckreife Übersetzungen). Manchmal sind maschinelle Übersetzungen allerdings so schlecht, dass sich ein Post-Editing gar nicht lohnt und man den Text komplett neu übersetzen muss (vgl. Arduini/Stecconi 2007, 173). Es besteht daher momentan kein Grund zur Befürchtung, dass Übersetzer komplett von Maschinen ersetzt werden (vgl. Forcada 2010, 222). Es ist eher damit zu rechnen, dass sich das Berufsbild des Fachübersetzers aufgrund der zunehmenden Technisierung ständig weiterentwickelt. Bei der computergestützten Übersetzung der Stufe 3 (mit maschinellen Übersetzungshilfen) liefert der Computer lediglich Informationen für die Übersetzung; die eigentliche Übersetzungsarbeit wird vom Menschen gemacht. Zu den heute häufig verwendeten maschinellen Übersetzungshilfen gehören u.a. Terminologiedatenbanken und Translation-Memory-Programme. Zu diesen und weiteren Übersetzungshilfen vgl. z.B. Quah 2006 und L’homme 2008. Viele elektronische Hilfsmittel für Übersetzer sind über Internet zugänglich, z.B. IATE, die mehrsprachige Terminologie-Datenbank der Europäischen Union, die Fachtermini und Abkürzungen in den Amtssprachen der EU enthält (http://iate.europa.eu). Die Einträge sind allerdings von sehr unterschiedlicher Qualität. Ein wichtiges Hilfsmittel für Fachübersetzer sind Translation-MemoryProgramme, d.h. Übersetzungsspeicher-Programme, die bereits durchgeführte Übersetzungen satzweise speichern und die gespeicherten Übersetzungen als Lösungen anbieten, wenn gleiche oder ähnliche Passagen in dem zu übersetzenden Text wieder auftauchen. Nützlich sind solche Programme vor allem für Texte, die viele Wiederholungen enthalten, und zwar Wiederholungen innerhalb des Textes (interne Rekurrenz), wie sie häufig in technischen Anleitungen vorkommen, oder Wiederholungen in Bezug auf bereits übersetzte Texte (externe Rekurrenz), wie im Fall von Softwarehandbüchern, die bei jeder neuen Version der entsprechenden Software aktualisiert werden müssen. In solchen Fällen kann der Einsatz von Translation-Memory-Programmen nach Angaben von Anwendern aus der Industrie einen Zeitgewinn von nahezu 40% bringen (vgl. Reinke 2004, 113). Richtig angewandt haben Translation-Memory-Programme zudem den Vorteil der terminologischen und stilistischen Konsistenz, d.h. dass gleiches immer gleich übersetzt wird, was vor allem dann von Vorteil ist, „wenn umfangreiche Texte parallel im Team erstellt
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werden“ (Reinke 2004, 128). Dies birgt jedoch auch die Gefahr der Reproduktion fehlerhafter Übersetzungen. Auf der Seite der ausgangssprachlichen Textproduktion erfüllen heute ContentManagement-Systeme eine ähnliche Funktion wie Translation Memory-Systeme auf der Übersetzerseite (vgl. Freisler 2007). Mit einem Content Management System kann ein Ausgangstext, meist ein technischer Fachtext, in einzelne Bestandteile (so genannte Module) zerlegt werden. Bei einer Aktualisierung des Textes, z.B. der neuen Version eines Softwarehandbuches, werden nur die Module ersetzt, die Änderungen erhalten. Im ungünstigsten Fall erhält der Übersetzer nur isolierte Sätze ohne Kontext. Man spricht dann auch von einer „Schnipsel-Übersetzung“. Eine weitere neue Entwicklung ist die computergestützte Qualitätssicherung. Die hierfür entwickelten Programme eignen sich bisher jedoch hauptsächlich für eine formale Überprüfung (z.B. hinsichtlich Orthographie oder Formatierungsfehler), eine inhaltliche Qualitätskontrolle und damit eine Ersetzung einer menschlichen Qualitätskontrolle ist nach Darstellung von Reinke (2013, 46) derzeit noch nicht möglich. Welche Art der Computerunterstützung in der Übersetzung sinnvoll ist, hängt vor allem vom Ausgangstext ab. Je stärker normiert der Ausgangstext ist, umso mehr können maschinelle Werkzeuge helfen. Bei kreativeren Texten, z.B. literarischen Texten oder Werbetexten, sind solche Tools nur eingeschränkt verwendbar (vgl. L’Homme 2008, 279; Sattler-Hovdar 2016, 108f.). Abschließend komme ich noch zum Dolmetschen. Hier spielt zwar der Einsatz von elektronischen Hilfsmitteln eine weniger dominante Rolle als beim Übersetzen, die Bedeutung nimmt jedoch zu. Analog zum Übersetzen kann man zwischen maschinellen (automatischen) Dolmetschen und computergestütztem Dolmetschen unterscheiden. Zum automatischen Dolmetschen gab es eine Reihe von Forschungsprojekten, z.B. das Projekt Verbmobil, in dem es um die Verdolmetschung von einfachen Dialogen ging (vgl. Huber 1998). Sehr erfolgreich waren die Resultate bisher nicht, denn beim maschinellen Dolmetschen kommen im Vergleich zur maschinellen Übersetzung neue Probleme hinzu, einerseits die Spracherkennung, andererseits das Problem der linguistischen Analyse spontaner Sprechsprache (vgl. Hauenschild 2004, 760). Auch neueste Entwicklungen, z.B. Smartphone-Apps, funktionieren am besten mit Einzelwörtern oder einfachen Sätzen. Eine bessere Qualität als das vollautomatische Dolmetschen liefert das computergestützte Dolmetschen. Ein Laptop in der Dolmetschkabine (mit Internetzugang) kann Zugang zu verschiedenen Hilfsmitteln bieten (vgl. Kalina 2010). Ein konkretes Beispiel ist das von Claudio Fantinuoli konzipierte Tool InterpretBank, das Simultandolmetschern verschiedene Hilfen bietet, z.B. einen schnellen Zugang zu Glossaren und Korpora sowie einen auf die Bedürfnisse von Konferenzdolmetschern zugeschnittenes Terminologiemanagement (vgl. Fantinuoli 2009). Für Dolmetscher, die häufig weniger technikaffin sind als Dolmetscher, klingt das möglicherweise etwas
Korpusbasierte Translationswissenschaft � ��
bedrohlich, dennoch ist es gut möglich, dass solche Tools in wenigen Jahren zum Standard gehören.
�.� Korpusbasierte Translationswissenschaft Eng verwandt mit der computergestützten Übersetzung ist die korpusbasierte Translationswissenschaft (engl. corpus based translation studies). Im Unterschied zur computergestützten Übersetzung geht es allerdings hierbei nicht um die Produktion von Übersetzungen, sondern primär um deren Analyse zu wissenschaftlichen oder didaktischen Zwecken. Ganz allgemein kann man ein Korpus aus Sicht der Translationswissenschaft wie folgt definieren: „L’échantillonnage de traductions ou de textes en rapport avec la traduction permettant une analyse, en particulier quantitative“ (Bocquet 2007, 166). Dass man in der Übersetzungswissenschaft mit Texten arbeitet, ist natürlich keineswegs neu, neu sind vielmehr die Beschaffenheit und der Umfang der Korpora. In der korpusbasierten Translationswissenschaft werden nämlich umfangreiche elektronisch lesbare Textkorpora erstellt und quantitativ analysiert. Dabei kann man unterschiedliche Typen von Korpora unterscheiden (vgl. Laviosa 2002, 36): einsprachige vs. zweisprachige (bzw. mehrsprachige) Korpora, Vergleichskorpora (Texte der gleichen Textsorte, die keine Übersetzungen voneinander sind) vs. Parallelkorpora (Ausgangstexte mit deren Übersetzungen).16 Bemerkenswerterweise hat sich die korpusbasierte Translationswissenschaft unter dem Einfluss der Publikationen von Mona Baker (z.B. Baker 1993) zunächst vor allem mit einsprachigen Vergleichskorpora beschäftigt. Dabei wurden Originaltexte in einer Sprache (meist Englisch) mit übersetzen Texten in der gleichen Sprache verglichen, mit dem Ziel, allgemeine Merkmale („Universalien“) übersetzter Texte zu beschreiben (vgl. Laviosa 2009). Eine bekannte Hypothese für ein solches Merkmal ist die explicitation hypothesis: Nach dieser Hypothese sind Übersetzungen generell expliziter also Originaltexte, d.h. sie enthalten präzisere Informationen, da beim Übersetzen eher Informationen hinzugefügt als Informationen reduziert würden. In neueren Untersuchungen wird die Universalität dieser Hypothese jedoch in Frage gestellt und der Einfluss von Sprachenpaar und Übersetzungsrichtung betont (vgl. Krein-Kühle 2009). Aufgrund der langjährigen Dominanz einsprachiger Vergleichskorpora in der Forschung sowie verschiedener praktischer Probleme gibt es bisher noch relativ wenige Parallelkorpora. Zweisprachige Korpora beschränken sich häufig auf Sprachenpaare mit Englisch, bei mehrsprachigen Korpora dominieren EU-Texte, z.B. das
�� 16 Achtung: In der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft bezeichnet man ein Vergleichskorpus häufig als Paralleltexte (vgl. Albrecht 1999).
74 � Grundfragen der Translationswissenschaft
Europarl-Korpus mit Reden aus dem europäischen Parlament und deren Übersetzungen in andere Amtssprachen der EU (vgl. Hansen-Schirra/Teich 2009, 1163).17 Das Korpus Europarl ist allein schon aufgrund der Anzahl der Sprachen eine wertvolle Datenquelle für übersetzungswissenschaftliche Analysen. Allerdings können die Ergebnisse solcher Analysen nicht ohne Weiteres auf die Ebene einzelner Sprachenpaare projiziert werden, denn bei den Übersetzungen kann es sich um so genannte Relais-Übersetzungen (indirekte Übersetzungen über eine dritte Sprache, häufig Englisch) handeln (vgl. Cosmai 2007, 190ff.). Bei dem folgenden Beispiel aus einer Untersuchung zu Entsprechungen deutscher Pronominaladverbien im Europarl-Korpus liegt z.B. die Vermutung nahe, dass die spanische Fassung nicht auf dem deutschen Originaltext, sondern auf der englischen Übersetzung beruht: Bei aller Notwendigkeit, Demokratisierung zu verstärken und möglichst viele Akteure zu beteiligen, darf es nicht zu einer beliebigen Ausweitung auf jede Menge von Akteuren der Zivilgesellschaft kommen, wenn die Gefahr besteht, Frau Kommissarin, dass die nationalen und europäischen Parlamentarier sowie die Sozialpartner dabei übergangen werden. Although it is necessary to strengthen democracy and involve as many stakeholders as possible, we must not have it extended haphazardly to any number of players in civil society, because there is a risk, Commissioner, that Members of Parliament, at both national and European level, and the social partners will be sidelined in the process. Aunque es necesario reforzar la democracia e implicar al mayor número de grupos de interés posible, no debemos extenderla al azar a cualquier número de actores de la sociedad civil, porque existe el riesgo, señora Comisaria, de que los Miembros del Parlamento, tanto a escala nacional como a escala europea, y los interlocutores sociales se queden al margen en el proceso. (Schreiber 2013, 189)
Das Korpus Europarl besteht aus schriftlichen Übersetzungen. Material des Europäischen Parlaments kann jedoch auch als Dolmetschkorpus genutzt werden, denn die Tonaufnahmen der Simultanverdolmetschungen sind über EuroparlTV öffentlich zugänglich.18 Ein umfangreiches, annotiertes Korpus auf der Basis von Reden und Verdolmetschungen des Europäischen Parlaments wurde an der Universität Bologna in Forlì erstellt, das EPIC-Korpus (European Parliament Interpreting Corpus). Es handelt sich um Material aus drei Sprachen (Englisch, Italienisch, Spanisch) in verschiedenen Sprachrichtungen. Die Reden und Verdolmetschungen wurden transkribiert und nach korpuslinguistischen Methoden annotiert. Im Unterschied zu einem schriftlichen Übersetzungskorpus treten bei der korpuslinguistischen Aufbereitung von Dolmetschtexten zusätzliche Probleme auf, z.B. durch Merkmale gesprochener Sprache wie etwa Versprecher (vgl. Monti et al. 2005). Da es daher be�� 17 Als Zugang zum Korpus Europarl sowie zu weiteren öffentlich zugänglichen Parallelkorpora kann das Portal OPUS (http://opus.lingfil.uu.se) genutzt werden. 18 Zu empfangen unter http://europarltv.europa.eu.
Dolmetschwissenschaft � ��
sonders aufwändig ist, ein maschinenlesbares Dolmetschkorpus zu erstellen, gibt es bisher nur wenige solcher Korpora.
�.�� Dolmetschwissenschaft Im Vergleich zur „Publikationsflut“ in der Übersetzungswissenschaft war die Anzahl dolmetschwissenschaftlicher Veröffentlichungen bis in die 1970er Jahre vergleichsweise gering. In den 1950er Jahren gab es die ersten Publikationen zum Dolmetschen, die zumeist eher praktisch als wissenschaftlich ausgerichtet waren (z.B. Herbert 1952). Die wissenschaftliche begründete Dolmetschforschung etablierte sich in den 1960er und 1970er Jahren. Wichtige Forschungszentren waren in dieser Zeit Leipzig, Moskau und Paris (vgl. Pöchhacker 2000, 69ff.). In Leipzig dominierte allerdings die linguistisch ausgerichtete Übersetzungswissenschaft über das Dolmetschen. Die Dolmetschforschung in Moskau war psycholinguistisch ausgerichtet (läge also heute im Zeitalter der „kognitiven Wende“ im Trend), hatte aber damals außerhalb Osteuropas keinen großen Einfluss. In Westeuropa wurde die Dolmetschwissenschaft in den 1970er und frühen 1980er Jahren von der Pariser Schule dominiert. Der Name Pariser Schule rührt daher, dass die beiden führenden Gestalten dieser „Schule“ an der ESIT in Paris tätig waren (vgl. Kap. 2.1): Danica Seleskovitch (1921–2001) und Marianne Lederer, die Seleskovitch als Direktorin der ESIT folgte (inzwischen ist sie im Ruhestand). Der Schwerpunkt der traductologie an der ESIT lag von Anfang an auf dem Dolmetschen. Auch die theoretische Basis dieser Richtung, die théorie du sens wurde von Seleskovitch (1968) auf der Basis des Dolmetschens entwickelt und erst später auf das Übersetzen angewandt. Seleskovitch unterscheidet grundsätzlich zwischen interprétation (womit im engeren Sinne das Dolmetschen und im weiteren Sinne jede Art von Interpretation gemeint ist, also auch das Übersetzen) und transcodage (Umkodierung): J’ai postulé un modèle triangulaire de l’interprétation. Par la pointe du triangle passe le sens qui s’exprime spontanément car les formes originales devenues idées n’exercent plus leur contrainte. Par la base, passe la traduction directe de langue à langue des concepts que ne modifie ni le contexte ni la situation et qui sont objets de savoir et non de compréhension.
sens
prétation Transcodage Langue 1 Langue 2 Inter-
(Seleskovitch, in: Seleskovitch/Lederer 1984, 185)
Der Dolmetschprozess läuft also nach Ansicht von Seleskovitch im Idealfall so ab, dass der Dolmetscher sich vollständig von den ausgangssprachlichen Strukturen
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löst, den Sinn des Ausgangstextes global erfasst und diesen dann in der Zielsprache neu formuliert. Die Umkodierung, d.h. der direkte Übergang von Ausgangs- zu Zielsprache, sei nur bei bestimmten Ausdrücken möglich, für die situationsunabhängige Eins-zu-eins-Entsprechungen bestehen, z.B. Zahlen oder Eigennamen. Das klingt im Prinzip durchaus einleuchtend. Das Problem des ganzen Modells liegt jedoch in der zentralen Komponente „Sinn“ selbst. Dieser wird nämlich von Seleskovitch und Lederer als völlig sprachfrei angesehen: „Le sens est non verbal“ (Seleskovitch/Lederer 2002, 258). Diese Tatsache ermögliche die Loslösung von den ausgangssprachlichen Bedeutungen: Le caractère non verbal des états de conscience est l’étape fondamentale de toute traduction réussie car lui seul permet une expression en langue d’arrivée non affectée par le sémantisme de la langue de départ. (Seleskovitch/Lederer 2002, 259)
Diese These wirft jedoch grundsätzliche Fragen auf, wie etwa die folgenden: Kann man den Sinn eines komplexen Textes, z.B. einer Rede, völlig sprachfrei erfassen? Wo sind die Grenzen des sprachfreien Denkens? Spielt das Sprachenpaar überhaupt keine Rolle? Nach Ansicht von Seleskovitch und Lederer tut es dies nicht: En effet, que la langue à interpréter soit proche de la langue d’expression ou que sa structure en soit au contraire très différente, la méthode interprétative sera toujours la même: dégager le sens et le réexprimer selon les habitudes propres à la langue dans laquelle on s’exprime. (Seleskovitch/Lederer 2002, 145)
Die théorie du sens ist von einigen Autoren als unwissenschaftlich kritisiert worden, besonders von Daniel Gile (1995, 186).19 Sie hatte wohl auch deshalb so großen Einfluss, weil es in den 1970er Jahren kaum konkurrierende Dolmetschtheorien gab. In empirischer Hinsicht hat die Pariser Schule weniger bedeutende Forschungen hervorgebracht. Das führte dazu, dass ab Mitte der 1980er Jahre ein anderes Institut stärker ins Rampenlicht rückte (vgl. Pöchhacker 2000, 74f.): die Scuola Superiore di Lingue Moderne per Interpreti e Traduttori (SSLMIT) an der Universität Triest, wo ab 1986 mehrere internationale Kongresse zur Dolmetschforschung und Dolmetschdidaktik stattfanden (vgl. z.B. Gran/Dodds 1989; Gran/Taylor 1990) und seit Ende der 1980er Jahre die Fachzeitschrift The Interpreters’ Newsletter erscheint. Einige Beispiele sollen dazu dienen, die nun stärker empirische Ausrichtung der Dolmetschforschung zu illustrieren. Durch empirische Untersuchungen konnte z.B. die These der Pariser Schule widerlegt werden, der zufolge sich das Sprachenpaar nicht wesentlich auf den Dolmetschprozess auswirke. So zeigt Maria Antonetta Fusco (1990) am Beispiel des Sprachenpaars Spanisch-Italienisch, dass eine relativ
�� 19 Vgl. jetzt auch Zybatow (2012).
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enge Verwandtschaft zwischen Ausgangs- und Zielsprache einerseits Erleichterungen für den Dolmetscher mit sich bringt, andererseits aber auch das Risiko von Interferenzen erhöht.20 Auch Alessandra Riccardi (1996) weist am Beispiel der Sprachenpaare Englisch-Italienisch und Deutsch-Italienisch auf sprachenpaarbedingte Dolmetschprobleme hin, speziell beim Simultandolmetschen. Ein wichtiger Schwerpunkt der empirischen Dolmetschforschung ist die Dolmetschqualität. So führte Maurizio Balzani an der SSLMIT ein Experiment durch, mit dem untersucht werden sollte, wie sich die folgenden Faktoren auf die Qualität des Simultandolmetschens (hier im Sprachenpaar Französisch-Italienisch) auswirken: der Texttyp (gemeinsprachlich vs. fachsprachlich, hier: politische Rede vs. medizinischer Fachvortrag), die Vortragsart (frei vorgetragen oder abgelesen) und der Sichtkontakt (man benutzte Videobänder und Tonbandaufzeichnungen im Vergleich). Probanden waren Studierende im letzten Studienjahr mit Muttersprache Italienisch. Es gab u.a. folgende Ergebnisse: L’interprète fait significativement plus d’erreurs à partir de D.L. [discours lus] qu’à partir de D.I. [discours improvisés]. [...] Au cours de l’I.S. [interprétation simultanée], l’interprète fait un nombre significativement plus grand d’erreurs si le discours est spécialisé que s’il est de caractère général. [...] Enfin, nous avons reperé un nombre significativement inférieur d’erreurs dans l’I.S. [interprétation simultanée] de D.I.V. [discours improvisés sur vidéo] par rapport à celle des D.I.B. [discours improvisés sur bande]; en ce qui concerne les D.L.B. [discours lus sur bande] et les D.L.V. [discours lus sur vidéo], cette condition particulière ne s’est pas présentée. (Balzani 1990, 99)
Diese Aussagen werden noch durch statistische Angaben belegt, auf deren Wiedergabe ich hier verzichte. Die Ergebnisse sind nicht überraschend, sie bestätigen im wesentlichen praktische Erfahrungen von Konferenzdolmetschern, wie die folgenden: Das Dolmetschen abgelesener Reden ist wesentlich schwieriger als das Dolmetschen frei gesprochener Reden; das Dolmetschen einer fachsprachlichen Rede ist nur mit einer entsprechenden Vorbereitung auf das Thema möglich; fehlender Sichtkontakt kann die Dolmetschqualität erheblich beeinträchtigen. Aus dem gleichen Jahr wie Balzanis Studie stammt eine Untersuchung von Daniel Gile (1990), die auf der Befragung von englisch- und französischsprachigen Teilnehmern an einer medizinischen Fachtagung beruht. Beurteilt wurden u.a. Kriterien wie sprachliche, terminologische und inhaltliche Qualität der Verdolmetschung. Ein interessantes kulturspezifisches Ergebnis, das ebenfalls von Praktikern immer wieder bestätigt wird, ist die Tatsache, dass französischsprachige Tagungsteilnehmer die Dolmetschleistungen kritischer beurteilten als englischsprachige.
�� 20 Zum gleichen Sprachenpaar vgl. jetzt auch Russo (2012).
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Empirische Forschungen zum Dolmetschen wurden auch in Spanien betrieben. Erwähnt seien hier die Untersuchungen von Ángela Collados Aís (1998) zur Auswirkung der nonverbalen Kommunikation und der Intonation auf die Qualität des Dolmetschens. Ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie besteht darin, dass eine monotone Intonation bei Kunden und auch bei Dolmetschern selbst, die die Qualität einer Dolmetschung beurteilen, zur Abwertung führt. Andere Qualitätskriterien wie akzentfreie Aussprache, angenehme Stimme oder Flüssigkeit der Dolmetschung werden offenkundig mit beeinträchtigt, wenn der Dolmetscher auffallend eintönig spricht: „Los resultados indican claramente que la entonación monótona ha incidido negativamente sobre la valoración global que han realizado los usuarios y los intérpretes“ (Collados Aís 1998, 241). Mit Collados Aís’ Studie, die auf einer Dissertation an der Universität Granada aus dem Jahre 1997 beruht, sind wir in den 1990er Jahren angekommen. Eine umfassende Übersicht über die Geschichte und den Stand der Dolmetschforschung bis Mitte der 1990er Jahre bietet Daniel Gile in seinen Regards sur la recherche en interprétation de conférence (1995). Abschließend gibt der Verfasser, einer der schärfsten Kritiker seiner Zunft, eine recht negative Einschätzung des damaligen Forschungsstandes ab: „[...] il apparaît qu’après une quarantaine d’années de progression, la recherche en interprétation en est encore à ses ‚premiers pas‘“ (Gile 1995, 235). Seitdem ist allerdings die Anzahl der dolmetschwissenschaftlichen Publikationen nochmals deutlich gestiegen. Auffallend ist die zunehmende Internationalisierung, die nach Ansicht von Pöchhacker (2004, 44) durch die Verwendung des Englischen als lingua franca der Dolmetschwissenschaft begünstigt wird. So erscheint seit 1996 mit Interpreting eine weitere wichtige Fachzeitschrift in englischer Sprache, die zudem „peer-reviewed“ ist (vgl. Pöchhacker/Shlesinger 2002, 9). Keine Fachzeitschrift im traditionellen Sinn, sondern ein zweimal jährlich erscheinendes Bulletin zum Stand der Forschung im Konferenzdolmetschen ist das von Daniel Gile herausgegebene CIRIN Bulletin.21 Daniel Giles wichtigster konzeptioneller Beitrag zur Dolmetschwissenschaft sind seine modèles d’efforts (engl. effort models). Gile betrachtet das Dolmetschen aus kognitiver Sicht und hat für verschiedene Typen des Dolmetschens und Übersetzens (Simultan- und Konsekutivdolmetschen, Stegreifübersetzen) spezifische Modelle entwickelt, die die kognitive Belastung für den Dolmetscher aufzeigen und Kapazitätsprobleme erklären sollen. Ich möchte hier exemplarisch das Konsekutivdolmetschen herausgreifen und zitiere aus einem Artikel von Gile, in dem die aktuelle Version seiner Modelle auf Englisch zusammengefasst ist. Gile unterscheidet grundsätzlich zwei Phasen des Konsekutivdolmetschens: eine Zuhörphase (listening phase) und eine Reformulierungsphase (reformulation phase). In beiden Phasen
�� 21 Frei zugänglich unter www.cirinandgile.com.
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muss der Dolmetscher mehrere Aufgaben gleichzeitig erfüllen. Die Zuhörphase modelliert Gile (der als gelernter Mathematiker gern mit Formeln argumentiert) wie folgt: CI (listening)= L + M + N + C [CI= consecutive interpreting; L= listening; M= memory; N= note-taking; C= coordination] (Gile 2002, 167)
In dieser Phase muss der Konsekutivdolmetscher also gleichzeitig zuhören, sich einen Teil der Rede merken, andere Elemente notieren und diese drei Aufgaben koordinieren. Die Reformulierungsphase sieht bei Gile so aus: CI (reformulation)= Rem + Read + P [Rem= remembering; Read= reading of the notes; P= production] (Gile 2002, 168)
In dieser Phase muss sich der Dolmetscher an das erinnern, was er sich gemerkt hat, er muss seine Notizen entziffern und seinen Zieltext produzieren (also sprechen). Das Problem der Koordination stellt sich in dieser Phase nach Giles Ansicht nicht in so hohem Maße wie in der Zuhörphase. Daher sei es z.B. beim Konsekutivdolmetschen eher möglich, in eine Fremdsprache zu dolmetschen, als beim Simultandolmetschen, wo die Koordinationsprobleme größer seien: Whereas in the listening phase, the three efforts may be viewed as highly competitive, in the reformulation phase, there seems to be much more potential for cooperation, in particular between note-reading and remembering. Incidentally, this could explain why many interpreters accept work into a B language (active, but nonnative) in consecutive, but not in simultaneous, interpreting. The presumably higher cost of speech production in the B language could be accomodated in the reformulation stage of consecutive, but not under the heavier pressure of simultaneous interpreting. (Gile 2002, 168)
Gegenüber der théorie du sens, die für alle Dolmetschtypen sowie für das Übersetzen gleichermaßen Gültigkeit besitzen soll, sind Daniel Giles Modelle also eher dafür geeignet, die Spezifika der einzelnen Translationstypen zu erfassen. Eine weiterführende Anwendung von Giles Modell des Konsekutivdolmetschens auf das bilaterale Dolmetschen (abwechselndes Dolmetschen in beide Sprachrichtungen im direkten Kontakt mit den Gesprächspartnern) findet sich in dem Manual de interpretación bilateral von Collados Aís und Fernández Sánchez (2001, 95ff.). Im gleichen Lehrbuch findet sich eine terminologische Unterscheidung im Hinblick auf die Klassifizierung verschiedener Dolmetschtypen: Distinguimos entre técnicas y modalidades de interpretación. Las técnicas se caracterizan por una determinada manera de llevar a cabo la actividad interpretativa (básicamente se diferencian en el funcionamiento de las operaciones mentales implicadas). Las modalidades se
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relacionan con los eventos comunicativos y situaciones sociales en las que tiene lugar el trabajo del intérprete. (Collados Aís/Fernández Sánchez 2001, 47)
Zu den „Dolmetschtechniken“ (técnicas de interpretación), welche nach den angewandten sprachlichen bzw. kognitiven Verfahren definiert werden, gehören die drei Grundtypen bilaterales Dolmetschen, Konsekutivdolmetschen und Simultandolmetschen. Die „Dolmetschmodalitäten“ (modalidades de interpretación) werden nach der Kommunikationssituation („Setting“) definiert und umfassen u.a. das Konferenzdolmetschen, das Gerichtsdolmetschen, das liaison interpreting (interpretación de enlace) – ein Oberbegriff für Dolmetscheinsätze in der Wirtschaft (Verhandlungsdolmetschen), im kulturellen Bereich und im Tourismus – sowie das community interpreting (interpretación social), d.h. das Dolmetschen in Behörden, sozialen und medizinischen Einrichtungen.22 In der Forschung hat lange Zeit das Konferenzdolmetschen (in der Form des Simultandolmetschens) im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Inzwischen gibt es jedoch auch zu anderen Dolmetschtypen empirische Untersuchungen. Exemplarisch erwähnt sei hier eine italienische Studie zum Gerichtsdolmetschen. Annalisa Sandrelli hat Gerichtsdolmetscher in Rom zu verschiedenen Aspekten ihrer Tätigkeit befragt. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Ich greife dazu das Problem der Personenreferenz heraus: Nur 22% der befragten Gerichtsdolmetscher benutzen beim Dolmetschen konsequent die erste Person Singular, wie man es von einem professionellen Dolmetscher erwarten würde (vgl. Sandrelli 2011). Sandrelli liefert auch eine Erklärung dafür: Ein großer Teil der aktiven Gerichtsdolmetscher hat keine entsprechende Hochschulausbildung. Das liegt z.T. sich auch daran, dass im Gericht häufig Sprachen nachgefragt werden, für die es keine universitäre Dolmetscherausbildung gibt. Ein weiteres, bisher weniger untersuchtes Gebiet ist das Mediendolmetschen im Fernsehen. Während Gerichtsdolmetscher und Community Interpreters ein geringeres Prestige als Konferenzdolmetscher genießen, stehen Mediendolmetscher im Rampenlicht, wenn auch nicht unbedingt im Zentrum der Forschung. Eine der wenigen Monographien zum Thema Mediendolmetschen hat Francesco Straniero Sergio (2007) aus Triest am Beispiel des Dolmetschens in TV-Talkshows vorgelegt. Einführende monographische Darstellungen liegen inzwischen auch zum Gebärdensprachdolmetschen vor, das in der Romania ebenfalls erst spät in den Fokus der dolmetschwissenschaftlichen Forschung kam: Bernard et al. 2007 (französische Gebärdensprache), Franchi/Maragna 2013 (italienische Gebärdensprache).
�� 22 Zu den zahlreichen konkurrierenden Benennungen und Definitionen für diesen Dolmetschtyp vgl. Hale 2007, 27ff.
Didaktik � ��
Nach diesen Einblicken in einige Ansätze aus dem romanischen Sprachraum möchte ich abschließend noch in knapper Form auf die deutschsprachige Dolmetschwissenschaft eingehen. Auffällig ist hier, dass es vor allem in Österreich regelrechte Forschungszentren zum Dolmetschen gibt. An der Universität Wien wird seit einigen Jahren nicht nur zum Konferenzdolmetschen geforscht, sondern auch zum „Kommunaldolmetschen“, d.h. Community Interpreting (vgl. Pöchhacker 2000), zum Gerichtsdolmetschen (vgl. Kadrić 2001) und zum Mediendolmetschen (vgl. Kurz 1997). Auch bei der empirischen Studie zur Notizentechnik beim Konsekutivdolmetschen von Andres (2002) handelt es sich um eine Wiener Dissertation; die Autorin lehrt allerdings Dolmetschwissenschaft in Germersheim und hat sich dort auch mit einer Arbeit zum Thema Dolmetscher als literarische Figuren habilitiert (Andres 2008). An der Universität Graz gibt es seit einigen Jahren einen Schwerpunkt im Gebärdensprachdolmetschen (vgl. Grbić et al. 2004); in den letzten Jahren ist das Community Interpreting als weiterer Schwerpunkt hinzugekommen (vgl. Pöllabauer/Prunč 2003). In Deutschland sind bisher eher Einzelpersonen in der Forschung hervorgetreten, z.B. Sylvia Kalina, die an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über Dolmetschstrategien promovierte (Kalina 1998) und später an der Technischen Hochschule Köln lehrte.
�.�� Didaktik Der Ausdruck Didaktik kann sich im Zusammenhang mit Übersetzen und Dolmetschen auf zwei unterschiedliche Teilgebiete beziehen, die nicht immer streng getrennt werden: einerseits die Rolle der Übersetzung im Fremdsprachenunterricht und andererseits die Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern. Einige Aspekte der beiden Teilgebiete möchte ich im Folgenden exemplarisch ansprechen. Im Hinblick auf das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht, aber z.T. auch im Hinblick auf das Übersetzen in der Übersetzerausbildung wird zuweilen ein Mangel an einer systematischen Methodik konstatiert. Dies ist m.E. ein Grundproblem des „kasuistischen“, oft nur auf Einzelaspekte bezogenen Lehrveranstaltungstyps Übersetzungsübung. Ein düsteres Bild von den Übersetzungsübungen an französischen Schulen und Universitäten entwirft der französische Übersetzungswissenschaftler Maurice Pergnier, und zwar insbesondere im Hinblick auf die version, d.h. die Übersetzung aus der Fremdsprache (Herübersetzung). Nach Pergniers Erfahrung laufen Übersetzungsübungen meist nach dem Prinzip learning by doing ab: Mon expérience m’a enseigné que le professeur de version procède souvent comme un maître nageur qui se mettrait à l’eau et traverserait la piscine à larges brasses en disant à ses élèves: „Faites comme moi.“
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(Pergnier 1998, XIII)23
Mit den Unterschieden zwischen der version und dem thème, d.h. dem Übersetzen in die Fremdsprache (Hinübersetzung) hat sich Jean-René Ladmiral befasst. Beim thème gehe es in der Tradition des französischen Schulsystems vor allem um grammatische Korrektheit, bei der version auch um stilistische Eleganz: La version garde son aspect littéraire: il faut produire une paraphrase française d’un texte littéraire étranger. En thème, le plus important est la vérification et l’application de règles grammaticales [...] (Ladmiral 1979, 44)
Beiden Übungen ist gemeinsam, dass der Fokus auf der Zielsprache liegt, d.h. bei der Hinübersetzung geht es vor allem um eine Überprüfung der fremdsprachlichen Kompetenz, bei der Herübersetzung geht es um die muttersprachliche Kompetenz. Übersetzungsprobleme im engeren Sinne spielen nur eine untergeordnete Rolle. Das wird auch deutlich aus dem folgenden Zitat von Carmela Nocera Avila, die die Rolle der Übersetzung in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik (glottodidattica) untersucht hat. Zwar gab es eine Zeitlang die Tendenz, die Muttersprache und damit auch die Übersetzung ganz aus dem Übersetzungsunterricht zu verbannen, in jüngerer Zeit sehe man das jedoch differenzierter: [...] per quanto riguarda la traduzione [...] si è venuti alla conclusione che non solo è impossibile rimuovere la lingua materna dal processo di apprendimento ma che addirittura è dannoso. Di conseguenza la traduzione comincia ad essere rivalutata in quanto [...] è da intendere come un’attività di rilevante valore euristico, che aiuti a capire le convergenze e le divergenze strutturali, discorsivi e testuali tra L1 e L2, rilevabili negli usi linguistici reali. (Nocera Avila 1984, 113)
Im Fremdsprachenunterricht hat das Übersetzen also vor allem den Zweck, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Muttersprache und Fremdsprache zu verdeutlichen, d.h. Übersetzen ist ein Hilfsmittel des Sprachvergleichs im Dienste der Vermittlung fremdsprachlicher Kompetenz. In der Übersetzerausbildung steht dagegen ein anderer Zweck im Vordergrund: die Vermittlung professioneller Übersetzungskompetenz. Dies kann nach Ansicht von Klaus Kaindl (1997, 101) kein realistisches Ziel des Fremdsprachenunterrichts sein, denn hierzu gehöre weit mehr als sprachliche Kompetenz. Einige Autoren, z.B. Borello (1999, 62) und Kautz (2000, 440), sprechen sich dagegen ausdrücklich zugunsten der Vermittlung übersetzerischer Kompetenz im Fremdsprachenunterricht aus. In jüngster Zeit wird in Deutschland sogar gefordert, die „Sprachmittlung“ als „fünfte Fertigkeit“ in den Fremd-
�� 23 Ähnlich äußert sich Enrico Borello zum italienischen Fremdsprachenunterricht, der im gleichen Zusammenhang vom Prinzip „imparare a tradurre traducendo“ (1999, 319) spricht.
Didaktik � 83
sprachenunterricht aufzunehmen (vgl. Sinner/Wieland 2013, 93), wobei unter Sprachmittlung in diesem Kontext nicht nur Übersetzen und Dolmetschen verstanden wird, sondern auch das Zusammenfassen oder Paraphrasieren eines Textes in derselben Sprache (vgl. Katelhön/Nied Curcio 2012, 9f.). Mit der Modellierung der übersetzerischen Kompetenz im engeren Sinn hat sich im romanischen Sprachraum besonders intensiv die Arbeitsgruppe PACTE der Universitat Autònoma de Barcelona (unter der Leitung von Amparo Hurtado Albir) beschäftigt. Hurtado Albir und ihre Mitarbeiter unterscheiden innerhalb der übersetzerischen Kompetenz sechs Teilkompetenzen, die sich gegenseitig überlappen: En cuanto a los componentes de la competencia traductora se distinguen las siguientes subcompentencias, que actúan de manera imbricada: 1) competencia lingüística en las dos lenguas (competencia „bilingüística“ o „bilingüe“); 2) competencia extralingüística; 3) competencia de transferencia; 4) competencia instrumental y profesional; 5) competencia psicofisiológica; 6) competencia estratégica. (Hurtado Albir 2001, 395)
Hinsichtlich der Komponenten, die außer der Kompetenz in Ausgangs- und Zielsprache (1), noch eine Rolle spielen, erläutert Hurtado Albir (2001, 395ff.): Zur „außersprachlichen Kompetenz“ (2) gehöre sowohl Allgemeinwissen als auch Fachwissen bestimmter Gebiete. Bei der „Transferkompetenz“ (3), der zentralen Teilkompetenz, handele es sich um die Fähigkeit, den Ausgangstext zu verstehen und ihn in der Zielsprache unter Berücksichtigung von Übersetzungszweck und Zielgruppe zu reformulieren. Zur „instrumentellen und professionellen Kompetenz“ (4) gehöre u.a. der Umgang mit Recherchemitteln jeglicher Art und Wissen über den Arbeitsmarkt. Bei der „psychophysiologischen“ Kompetenz gehe es um Faktoren wie Gedächtnisleistung und Kreativität. Die „strategische Kompetenz“ schließlich umfasse sowohl Verstehensstrategien (wie die übersetzungsrelevante Textanalyse) als auch Reformulierungsstrategien (wie die Anwendung von Übersetzungsverfahren). Diese Auflistung entspricht im Wesentlichen den Komponenten, die auch von Vertretern der deutschsprachigen Übersetzungswissenschaft genannt werden (z.B. Kautz 2000, 19ff.). Ich greife im Folgenden aus den genannten Aspekten lediglich zwei heraus, jeweils eine aus Komponente (1) und eine aus Komponente (6) des Modells von Hurtado Albir. Was die erste Komponente, die sprachliche Kompetenz, betrifft, sei auf eine Frage hingewiesen, die in der neueren Übersetzungsdidaktik besonders kontrovers diskutiert wird: Welcher Grad an fremdsprachlicher Kompetenz kann und soll bereits zu Studienbeginn vorausgesetzt werden? Hierzu gibt es zwei sehr unterschiedliche Positionen: Christiane Nord (1990, 11f.) hat vorgeschlagen, die Ausbildung der fremdsprachlichen Kompetenz vollständig aus dem eigentlichen Übersetzer- und Dolmetscherstudium auszugliedern und bei Bedarf (d.h. insbesondere bei Nichtschulsprachen) in ein Propädeutikum auszulagern. Ulrich Kautz geht dagegen – m.E. realistischerweise – davon aus, „dass der Aufbau von translatorischer Kom-
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petenz mindestens im Anfangsstadium der Ausbildung von Translatoren mit dem Aufbau von Sprachkompetenz einhergeht (einhergehen muss!)“ (2000, 46). Die von Kautz vertretene Position wird durch eine empirische Untersuchung von Julia Möller Runge zum Fach Deutsch als C-Sprache (zweite Fremdsprache) an spanischen Übersetzerinstituten gestützt, in der sich erhebliche Schwächen im Bereich der fremdsprachlichen Kompetenz zeigten, die nach Ansicht der Autorin vor allem auf strukturelle Defizite der Studienpläne zurückgehen (vgl. Möller Runge 2001, 275). Zweitens möchte ich auf eine Übungsform aus dem Bereich der strategischen Kompetenz (6) hinweisen, die sowohl in der Übersetzerausbildung als auch bereits im Fremdsprachenunterricht mit Gewinn angewandt werden kann: die übersetzungsrelevante Textanalyse. Und auch hier möchte ich zur Illustration nur auf einen Teilaspekt eingehen und nicht das gesamte Analyseverfahren beschreiben (hierzu vgl. im Detail Nord 1995). Ein wichtiger didaktischer Nutzen der Textanalyse liegt in der Vermeidung von Interferenzen. Dazu ist es nicht unbedingt notwendig, bei jedem Text eine ausführliche Analyse nach einem bestimmten Schema durchzuführen. Auf jeden Fall sollte jedoch über das Thema des Textes diskutiert werden, und zwar in der Zielsprache der Übersetzung. Dies wird zwar bei der Herübersetzung leichter fallen als bei der Hinübersetzung, ist aber in beiden Fällen von Nutzen. Ein Schlüsselerlebnis war für mich in meinem eigenen Studium ein Experiment, das ein Germersheimer Dozent (Günter Weis), durchgeführt hat: Er ließ denselben Text von zwei Gruppen übersetzen, einmal mit und einmal ohne vorbereitende Textanalyse. Hier einige Ausschnitte aus dem betreffenden Text (notorische Übersetzungsprobleme sind unterstrichen): Le tabac [...] L’organisation mondiale de la santé prêche la guerre sainte contre le tabac. Car maintenant il n’y a plus aucun doute: la cigarette tue. [...] Pour réussir à convaincre, les médecins français ont un lourd handicap: 80% d’entre eux fument. [...] „Le praticien qui m’a interdit le tabac, confia M. X. [...] à L’Express, entamait son second paquet de cigarettes de la journée. Alors moi, je continue.“ [...] (zit. nach Schreiber 2002b, 412)
In den ohne Textanalyse durchgeführten Übersetzungen wurde der Titel mehrheitlich mit Der Tabak wiedergegeben, und auch im Text wurde le tabac meist wörtlich mit der Tabak und la cigarette mit die Zigarette übersetzt. In der anderen Gruppe hatte man im Rahmen der Textanalyse festgestellt, dass sich der Text weniger mit dem Produkt Tabak als mit den Gefahren des Rauchens befasst und dementsprechend in der Überschrift und im Text le tabac und la cigarette in mehreren Fällen durch (das) Rauchen ersetzt, wie dies im Deutschen üblicher ist. Auch wenn im Berufsalltag meist wenig Zeit für eine ausführliche Textanalyse bleibt, so gilt auch dort nach Ansicht von Daniel Gouadec, dass sich eine fehlende Analyse negativ auf die Qualität des Endprodukts auswirkt: „Il ne peut y avoir bonne traduction sans une analyse sérieuse du matériau à traduire“ (Gouadec 2002, 20).
Didaktik � 85
Auch in Bezug auf die Dolmetschdidaktik kann ich hier nur einige ausgewählte Aspekte diskutieren. Ansprechen möchte ich dabei zum einen zwei Übungsformen, die besonders umstritten sind, zum anderen einige neue Erfordernisse an die Didaktik, die sich aus den jüngsten Entwicklungen der Berufspraxis ergeben. Zu den umstrittensten Gebieten der Dolmetschdidaktik gehört die Notizentechnik für das Konsekutivdolmetschen. Hier fällt auf, „dass die Meinungen über den möglichen Inhalt, bzw. die Didaktik einer Notationslehre weit auseinander gehen, ja, dass sogar Uneinigkeit darüber besteht, ob eine Notationslehre überhaupt erforderlich ist“ (Andres 2001, 243). Die erste Einführung in die Notizentechnik stammt bereits aus den 1950er Jahren (Rozan 1956) und gilt noch heute – zumindest bei einem Teil der Lehrenden – als Standardwerk. Zu Rozans Grundprinzipien gehören u.a. die Verwendung von Abkürzungen, die Notation von Verbindungselementen sowie die vertikale Anordnung der Notizen. Der „Gegenentwurf“ zu Rozans System ist das über dreißig Jahre später erschienene umfangreiche Handbuch von Matyssek (1989), das im Unterschied zu Rozan vor allem mit einer Vielzahl an sprachfreien Symbolen arbeitet. Ein Jahr später erschien eine italienische Einführung in die Notizentechnik, die – zumindest was die methodische Basis angeht – primär auf den Prinzipien von Rozan aufbaut (Garzone et al. 1990, 55ff.). Inzwischen ist Dörte Andres in einer empirischen Studie am Beispiel des Sprachenpaars FranzösischDeutsch zu Ergebnissen gekommen, die die Nützlichkeit der Notizenlehre belegen sowie einige von Rozans Prinzipien bestätigen, z.B. im Hinblick auf die Segmentierung und räumliche Anordnung der Notizen sowie auf die Notation von Verknüpfungselementen (vgl. Andres 2001, 260f.). Eine weitere äußerst umstrittene Übungsform ist das shadowing, d.h. das Nachsprechen eines mündlichen Textes in der gleichen Sprache, das vor allem als Vorübung zum Simultandolmetschen zum Einsatz kommt. Diese Übungsform wird vor allem von Vertretern der théorie du sens scharf abgelehnt, da es beim shadowing nicht um das Verstehen und Reformulieren des Sinns gehe, sondern lediglich um papageienhaftes Nachplappern: Aujourd’hui on sait que l’exercice du „shadowing“ est à l’opposé de l’indispensable méthode interprétative et est donc plus nocif qu’autre chose. [...] il concentre l’attention sur la reconnaissance des mots alors qu’il faut apprendre à conceptualiser des unités de sens, [...] il fait faire le perroquet là où il faut apprendre à devenir interprète [...] (Seleskovitch/Lederer 2002, 169)
Ganz im Gegensatz zu Seleskovitch und Lederer plädiert Hönig (1997, 166) dafür, dolmetschtypische Übungsformen wie das shadowing wegen ihrer Nützlichkeit für die „Verstehensoptimierung“ sogar in das Übersetzerstudium aufzunehmen. Nach Ansicht von Kautz, der für den Dolmetschunterricht verschiedene Varianten des shadowing (simultan und verzögert) empfiehlt, liegt deren Nutzen u.a. in der „Schulung des intensiven Hörens“, in der „Segmentierung von Sinneinheiten“ (beim ver-
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zögerten shadowing) sowie in der „Lockerung der Sprechwerkzeuge“ (Kautz 2000, 363, 373, 404). Zudem bestätigen neurolinguistische Untersuchungen, dass das shadowing aus kognitiver Sicht offenkundig wesentlich komplexer ist, als dies Seleskovitch und Lederer annehmen (vgl. Gran 1992, 278f.). Nun möchte ich noch anhand einiger Beispiele illustrieren, wie sich Wandlungen der Berufspraxis auf die Dolmetschdidaktik niederschlagen können: Da der Einsatz des Konsekutivdolmetschens bei internationalen Organisationen stark abgenommen hat und sich die EU-Organe ganz auf das Simultandolmetschen konzentrieren wird zuweilen kritisiert, dass an den Dolmetscherinstituten „eine Überbetonung der Konsekutivausbildung im Vergleich zur Simultanausbildung praktiziert werde“ (Kalina 2000, 172). Dem kann man mit Kalina entgegen halten, dass durch paralleles Üben des Konsekutivdolmetschens auch während der Simultanausbildung „die Erhaltung der Langzeitgedächtnis-Kapazität des Dolmetschers gefördert [wird]“ (2000, 173). Eine Dolmetschtechnik, die beim Simultandolmetschen für EU-Institutionen immer häufiger angewandt wird und im Zuge der EU-Erweiterung noch an Bedeutung gewinnen wird, ist das Relais-Dolmetschen, d.h. der Umweg über eine PivotSprache (z.B. Englisch oder Französisch), wenn für ein bestimmtes Sprachenpaar (beispielsweise Finnisch-Griechisch) keine Dolmetscher zur Verfügung stehen (vgl. Kelletat 2004, 137). Vor diesem Hintergrund fordern Seleskovitch und Lederer (2002, 343), Studierende gezielt auf die Tätigkeit als pivot („Zwischendolmetscher“) bzw. relayeur („Weiterdolmetscher“) vorzubereiten. Für die Tätigkeit als pivot gelten sehr hohe Anforderungen im Hinblick auf Deutlichkeit und Schnelligkeit der Verdolmetschung (vgl. Riccardi 2003, 259ff.). Die neuen Anforderungen im Bereich des Konferenzdolmetschens dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Bereich des Dolmetschens noch andere Berufsbilder gibt, deren Tätigkeit sich wandelt bzw. deren Relevanz zunimmt. Alessandra Riccardi erwähnt in diesem Zusammenhang das Verhandlungsdolmetschen (d.h. das konsekutive Dolmetschen kürzerer Sequenzen ohne Notizentechnik, besonders im geschäftlichen Bereich), das bisher in der Dolmetschdidaktik u.a. als Vorbereitung auf das „richtige“ Konsekutivdolmetschen (mit Notizentechnik) eingesetzt wird. Im Zuge der Globalisierung spiele diese Dolmetschform eine immer größere Rolle und diene zunehmend der interkulturellen Kommunikation, was auch in der Lehre durch verstärkte Einbeziehung kulturspezifischer Dolmetschprobleme berücksichtigt werden müsse (vgl. Riccardi 2000, 83f.). Ein weiteres Berufsbild, dessen Bedeutung zunimmt, ist das Community Interpreting, d.h. das Dolmetschen im sozialen, medizinischen und therapeutischen Bereich. Hier werden in mitteleuropäischen Ländern häufig Laiendolmetscher eingesetzt. Gegenüber Skandinavien, wo die Professionalisierung dieser Tätigkeit weit vorangeschritten ist, besteht ein großer Aufholbedarf. Ein erster Schritt in die Richtung einer beginnenden Professionalisierung im deutschsprachigen Raum wurde an
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der Universität Graz unternommen, wo seit dem Studienjahr 2002/2003 Community Interpreting als optionales Modul angeboten wird (vgl. Pöllabauer/Prunč 2003, 7). Seit dem gleichen Studienjahr wird in Graz das Gebärdensprachdolmetschen, das bereits zuvor als Modul studiert werden konnte, als vollwertiges Studienfach angeboten. Abschließend sei noch auf einen Translationstyp hingewiesen, der sowohl von der Übersetzungswissenschaft als auch von der Dolmetschwissenschaft und zum Teil auch von der Translationsdidaktik lange vernachlässigt wurde, da er sich im Grenzbereich von Übersetzen und Dolmetschen angesiedelt ist: das Stegreifübersetzen, d.h. das mündliche Übersetzen eines kurzen schriftlichen Textes (z.B. Geschäftsbrief, Vertrag, Meldung) ohne längere Vorbereitung und meist auch ohne Hilfsmittel (z.B. Wörterbücher). Diese Form der Translation kann in der Berufspraxis von Übersetzern und Dolmetschern in verschiedenen Situationen vorkommen, z.B. in der Industrie, vor Gericht oder in Presseagenturen (vgl. Kalina 2004, 107f.). Auch das Simultandolmetschen auf der Basis eines vorliegenden Redemanuskripts kann Züge des Stegreifübersetzens tragen. Je nachdem, ob das Manuskript dabei als primärer Ausgangstext dient oder nur als gelegentlich herangezogenes Hilfsmittel (z.B. für Eigennamen, Fachausdrücke oder Zahlen), kann man mit Thiéry (1981) zwischen traduction à vue und interprétation simultanée avec texte unterscheiden, wobei Thiéry dem letzteren Verfahren den klaren Vorzug gibt: „[...] pour l’interprète il faut un effort délibéré et une bonne maîtrise de sa technique pour se jeter à l’eau et ne pas faire une traduction à vue“ (Thiéry 1981, 121). In der Ausbildung von Übersetzern und Dolmetschern wird das Stegreifübersetzen sowohl als eigene Übungsform eingesetzt als auch als Vorübung zum Dolmetschen. Die Nützlichkeit für die Einübung dolmetschspezifischer Prozesse wird allerdings von Viezzi (1989) bestritten, da eine von ihm durchgeführte empirische Untersuchung (im Sprachenpaar Englisch-Italienisch) zu dem Schluss kommt, dass beim Stegreifübersetzen andere Strategien zum Tragen kommen als beim Simultandolmetschen. Christina Parkin ist inzwischen aufgrund einer empirischen Untersuchung im Sprachenpaar Französisch-Deutsch (Parkin 2012) zu dem Schluss gekommen, dass Kompetenzen aus beiden Bereichen benötigt werden. Hinzu kommen aber auch Strategien, die für das Stegreifübersetzen spezifisch sind, da sie mit dem Wechsel von Schriftlichkeit zur Mündlichkeit zusammenhängen. Die besten Ergebnisse im Stegreifübersetzen erzielten übrigens nicht die Dolmetscher, wie man vielleicht meinen könnte, sondern Übersetzer mit Dolmetscherfahrung. Diese Erkenntis führt zu der Empfehlung, Stegreifübersetzen nicht nur im Übersetzerstudium anzubieten, sondern auch im Dolmetschstudium. Eine ähnliche Empfehlung gibt Ballardini (1998) ab. Ganz zum Abschluss möchte ich ein Grundproblem der Translationsdidaktik ansprechen, das für alle Translationstypen gilt: das Verhältnis von Theorie und Praxis. Der französische Übersetzungswissenschaftler Michel Ballard hat festgestellt, dass an französischen Universitäten Übersetzungsunterricht immer noch
�� � Grundfragen der Translationswissenschaft
häufig ohne eine theoretisch-methodische Basis durchgeführt werden. Dies hält er für anachronistisch: „Peut-on connaître l’existence de la traductologie et enseigner la traduction comme au Moyen Âge?“ (Ballard 2008, 92). Theoriekritiker könnten entgegen: Wozu braucht man überhaupt Translationswissenschaft in einem Übersetzerstudium? Der italienische Übersetzungswissenschaftler Roberto Cagliero gibt darauf folgende Antwort: Così come la teoria della letteratura consente di comprendere meglio il testo al quale viene applicata, ma non insegna a scrivere un romanzo, allo stesso modo la teoria della traduzione non serve per tradurlo. Il che non implica che sia inutile: da un discorso teorico si possono trarre indicazioni di carattere generale e astratto che si rivelano poi utili di fronte a certe scelte specifiche di traduzione. (Cagliero 2002, 100)
Über einen theoretischen Zugang könne man also z.B. spezifische Übersetzungsprobleme und -verfahren verallgemeinern. Hierzu braucht man einen gewissen Abstraktionsgrad, da man ansonsten bei Einzelbeispielen stehen bleibt. Eine mögliche Lösung zur Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis liegt wahrscheinlich in einer stärkeren Verschränkung der beiden Aspekte in der Translationsdidaktik. Şebnem Bahadır empfiehlt daher am Beispiel einer Dolmetschübung, die mit wechselnden Rollenspielen („Dolmetschinszenierungen“) arbeitet, „das abstrahierende Reflektieren über die Praxis direkt in die Praxis mit einzubauen“ (Bahadır 2010, 165). Eine Lehrveranstaltungsform, in denen Theorie und Praxis systematisch ineinandergreifen, ist die Projektarbeit. Hierzu vgl. den einschlägigen Sammelband von Hansen-Schirra und Kiraly (2013), in dem Lehrprojekte aus unterschiedlichen Bereichen (z.B. fremdsprachliche Kompetenz, Fachübersetzen, Literaturübersetzen, korpusbasierte Translationswissenschaft) beschrieben werden.24 Hierbei schlüpfen Studierende in verschiedene Rollen und lernen damit unterschiedliche Berufsbilder kennen: „Sie sind Übersetzer, Lektoren, Terminologen, Dolmetscher, Lehrer, Projektmanager und Forscher“ (Rüth 2013, 292).
�.�� Bibliographische Hinweise Da ich in den einzelnen Abschnitten von Kap. 2 bereits auf Spezialliteratur zu den behandelten Themen eingegangen bin, möchte ich mich hier auf einige themenübergreifende Einführungen und Nachschlagewerke zur Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft beschränken. Im deutschsprachigen Raum gibt es inzwischen eine Reihe von Einführungen in die Übersetzungswissenschaft. Da diese jeweils unterschiedliche Schwerpunkte
�� 24 Zu weiteren Fallbeispielen vgl. etwa Lavault 1998 (Fachübersetzen) und Frérot 2010 (Korpora).
Bibliographische Hinweise � 89
setzen, empfiehlt sich eine komplementäre Lektüre mehrerer Einführungen, z.B. Koller (2011), Prunč (2007) und Siever (2015). Literatur- und sprachwissenschaftliche Grundlagen der Übersetzungsforschung werden in der zweibändigen Einführung von Greiner (2004) und Albrecht (2005) behandelt. Eine deutschsprachige Einführung, die speziell der Dolmetschwissenschaft gewidmet ist, gibt es m.W. bisher nicht; zu einem Forschungsbericht vgl. Pöchhacker (2000, 67ff.). Thematisch gegliederte Nachschlagewerke sind Snell-Hornby et al. (1998) und Kittel et al. (2004). Zur translatorischen Methodik vgl. Kadrić et al. (2005), zur Didaktik vgl. das Handbuch von Kautz (2000). Aus der in den letzten Jahren stark angewachsenen englischsprachigen Literatur seien hier nur einige Titel herausgegriffen, die die deutschsprachigen Einführungen und Nachschlagewerke sinnvoll ergänzen: Munday (2001) bietet eine didaktisch aufbereitete Einführung in die verschiedenen Ansätze der Übersetzungswissenschaft, stärker theoretisch orientiert ist Pym (2010). Einen Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Dolmetschwissenschaft liefert – in gedrängter Form – die Monographie von Pöchhacker (2004) sowie – ausführlicher – der von Pöchhacker und Shlesinger (2002) herausgegebene, thematisch gegliederte Reader, der neben grundlegenden Aufsätzen auch zahlreiche weiterführende Informationen enthält.25 Ein aktuelles und umfassendes Nachschlagewerk ist Pöchhacker (2015). Nun zur Romania, zunächst zu Frankreich. Eine knappe Einführung in die Übersetzungswissenschaft aus Sicht der Pariser Schule bietet Lederer (2006). Thematisch breiter angelegt sind der Forschungsbericht von Larose (1992), der Que saisje?-Band von Oustinoff (2003) sowie insbesondere die Einführung von Guidère (2010) und das umfangreiche Handbuch von Albrecht und Métrich (2016). D. Gile hat Einführungen in die Dolmetschwissenschaft (1995) und die Übersetzungsdidaktik (2005) vorgelegt. Erste italienischsprachige Einführungen in die Übersetzungswissenschaft entstanden Ende der 1980er Jahre: die Monographie von Masiola Rosini (1988) und das zweibändige Handbuch von Bonino (1988/89). Es gibt inzwischen auch eine Reihe neuerer Einführungen, z.B. Salmon (2003), Bertazzoli (2006) und Morini (2007). Thematisch eingeschränkter sind das übersetzungsmethodische Lehrbuch von Diadori (2012) und das berufspraktische Handbuch von Osimo (2011). Die italienische Dolmetschwissenschaft zu den beiden wichtigsten Typen des Konferenzdolmetschens einschlägige Einführungen hervorgebracht: zum Konsekutivdolmetschen vgl. Garzone et al. (1990), zum Simultandolmetschen vgl. Riccardi (2003).
�� 25 Damit unterscheidet er sich von dem Reader zur Übersetzungswissenschaft von Venuti (2000), der außer den abgedruckten Aufsätzen nur wenig Zusatzinformationen bietet.
�� � Grundfragen der Translationswissenschaft
Die am breitesten angelegte Einführung in die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft in einer romanischen Sprache wurde auf Spanisch geschrieben (Hurtado Albir 2001). Ältere, linguistisch ausgerichtete Einführungen in die Übersetzungswissenschaft sind Vázquez-Ayora (1977) und García Yebra (1982). Eine umfassende Einführung zur Dolmetschwissenschaft in spanischer Sprache fehlt noch, allerdings enthält das Lehrbuch des „bilateralen Dolmetschens“ von Collados Aís und Fernández Sánchez (2001) auch Informationen zu anderen Dolmetschtechniken. Zu den Strategien des Simultandolmetschens vgl. Bertone (1989). Abschließend sei noch auf ein terminologisches Nachschlagewerk hingewiesen, das übersetzungswissenschaftliche Termini in vier Sprachen (Französisch, Englisch, Spanisch, Deutsch) enthält: Delisle et al. (1999; italienische Übersetzung 2002).
Aufgaben 1. Informieren Sie sich anhand von Siever (2015) zum Begriff des Paradigmas und anhand von Snell-Hornby (2006) und Schreiber (2012b) zum Begriff der Wende (turn) in der Translationswissenschaft. Was wird darunter verstanden? Welche Wenden bzw. Paradigmen werden postuliert? Wie verhalten sich diese zueinander? 2. Lesen Sie die Ausführungen zur Übersetzbarkeit bei Schreiber (1993, 43ff.) und zur Wirkungsäquivalenz bei Pöckl (2011). Inwiefern ist die Invariante „Wirkung“ übersetzbar? 3. Lesen Sie Kußmaul (2000) und Sattler-Hovdar (2016). Was verstehen die Autoren unter kreativem Übersetzen bzw. unter „Transkreation“? 4. Lesen Sie mehrere der in Kap. 2.4 zitieren Publikationen aus der Debatte zum Äquivalenzbegriff und bilden Sie sich eine eigene Meinung. Welche Argumente überzeugen Sie, welche nicht? 5. Informieren Sie sich im Internet, ausgehend von der Homepage des Dachverbandes Fédération Internationale des Traducteurs (www.fit-ift.org), über die „Berufs- und Ehrenordnungen“ von Berufsbänden im Bereich Übersetzen und Dolmetschen. Welche Aspekte der Translationsethik (nach Scarpa 2007 oder Hermans 2009) werden dort behandelt? 6. Informieren Sie sich anhand von Levý (1969, 174ff.) und Rega (2001, 107ff.) über metrisch bedingte Probleme der literarischen Übersetzung. Analysieren Sie, einige Gedichtübersetzungen im Hinblick auf verstechnische Probleme. 7. Sehen Sie sich im französischen, italienischen oder spanischen Fernsehen eine synchronisierte Folge einer Ihnen bekannten deutschen Kriminalserie an. Welches sind Ihre Eindrücke? 8. Führen Sie mit dem Übersetzungsprogramm der Suchmaschine Google die automatische Übersetzung einiger Internetseiten aus einer romanischen Sprache
Aufgaben � 91
ins Deutsche durch. Kategorisieren Sie die Übersetzungsfehler nach möglichen Ursachen. 9. Informieren Sie sich anhand von Corpas Pastor (2008, 52ff.) über die Unterscheidung corpus-based (korpusbasiert) vs. corpus-driven (korpusindiziert). Sehen Sie eines der bei Zanettin (2012) beschriebenen Korpora stichprobenartig ein und versuchen sie, aufgrund der Ihnen auffallenden Merkmale eine korpusindizierte Forschungsfrage zu formulieren. 10. Verschaffen Sie sich anhand der Beiträge in Best/Kalina (2002), Kurz/Moisl (2002) und Kadrić/Kaindl (2016) einen Einblick in die Berufsbilder des Konferenz-, Gerichts- und Gebärdensprachdolmetschens sowie des Community Interpreting. Welches sind die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede? 11. Lesen Sie Kiraly (2000) und machen Sie sich mit den Vorschlägen des Autors für den Übersetzungsunterricht vertraut. Vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Erfahrungen.
� Sprachenpaarbezogene Translationswissenschaft In diesem dritten und letzten Hauptkapitel geht es um sprachenpaarbedingte Probleme des Übersetzens mit gelegentlichen Ausblicken auf entsprechende Probleme des Dolmetschens. Dabei stehen die Sprachenpaare Französisch-Deutsch, Italienisch-Deutsch und Spanisch-Deutsch im Mittelpunkt. Darüber hinaus werden auch Übersetzungen zwischen zwei romanischen Sprachen einbezogen. Gelegentlich werden auch englische Beispiele aus der Sekundärliteratur zitiert. Die Gliederung des Kapitels erfolgt nach den betroffenen sprachwissenschaftlichen Disziplinen in aufsteigender Reihenfolge, d.h. beginnend bei den kleinsten sprachlichen Einheiten, den Lauten. Elementare sprachwissenschaftliche Kenntnisse werden für die Lektüre vorausgesetzt.1 Um zu einer eigenständigen, vertiefenden Beschäftigung mit der Thematik anzuregen, werde ich auf Spezialliteratur zu den betreffenden Phänomenen hinweisen. Ein methodisches Problem vieler sprachenpaarbezogener Untersuchungen liegt allerdings darin, dass nicht immer hinreichend deutlich wird, was eigentlich das Ziel der Untersuchung ist: der Sprachvergleich oder die Übersetzung. Deshalb noch ein paar Vorbemerkungen zur Abgrenzung von kontrastiver Linguistik und sprachenpaarbezogener Übersetzungswissenschaft (vgl. Schreiber 2004a): Die kontrastive Linguistik ist diejenige Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die dem synchronischen Sprachvergleich gewidmet ist. Eine Untersuchung zur kontrastiven Linguistik in einem bestimmten Sprachenpaar könnte sich z.B. mit den unterschiedlichen Tempussystemen befassen und die Verwendungsbedingungen der einzelnen Tempora vergleichend beschreiben. Die sprachenpaarbezogene Translationswissenschaft würde darüber hinaus die Frage stellen, welche Übersetzungsverfahren angewandt werden können, um trotz der Unterschiede im Tempussystem ähnliche Inhalte auf Textebene auszudrücken. Die sprachenpaarbezogene Übersetzungswissenschaft ist also immer „lösungsorientiert“ im Hinblick auf die betreffenden Übersetzungsprobleme. Lösungsorientiert ist jedoch nicht mit präskriptiv gleichzusetzen, denn man kann ebenso deskriptiv vorgehen und beschreiben, wie Übersetzer mit bestimmten Übersetzungsproblemen umgehen. In diesem Sinne sind auch die folgenden Ausführungen zu verstehen: Es werden mögliche Lösungen beschrieben und Übersetzungen dabei gelegentlich auch kritisiert, aber keine starren Regeln angegeben, denn allgemeingültige ‚Patentlösungen‘ verbieten sich schon deshalb, weil jede Übersetzung von Faktoren wie Texttyp, Übersetzungszweck oder Adressatenkreis abhängt.
�� 1 Zum Nachschlagen linguistischer Termini sei Bußmann (2008) empfohlen.
�� � Sprachenpaarbezogene Translationswissenschaft
Im Rahmen des vorliegenden Arbeitsheftes kann natürlich nur eine begrenzte Auswahl an sprachenpaarbedingten Übersetzungsproblemen besprochen werden. Weiterführende Informationen finden sich in den zitierten Arbeiten sowie in den in Kap. 3.13 aufgeführten Lehrbüchern. Auch können nicht alle sprachwissenschaftlichen Disziplinen einzeln besprochen werden. So habe ich auf ein eigenes Teilkapitel zur Fachsprachenforschung verzichtet. Probleme der Fachübersetzung werden im Zusammenhang mit den jeweiligen Teilbereichen des Sprachsystems behandelt.2
�.� Phonetik und Phonologie Zunächst kann man die berechtigte Frage stellen, was die Lautlehre (Phonetik und Phonologie) überhaupt mit Übersetzen zu tun hat, schließlich übersetzen wir ja keine einzelnen Laute, sondern ganze Texte. Das ist richtig, aber Laute erfüllen in Wörtern und ggf. auch in Texten eine bestimmte Funktion. Und diese Funktion kann übersetzungsrelevant sein, wenn sie im Ausgangstext eine Rolle spielt. Eine dieser Funktionen ist die Onomatopöie (Lautmalerei). Hier gibt es sprachliche Unterschiede, die zu Übersetzungsproblemen führen können. So existieren im Deutschen – nach Darstellung von H. Dupuy-Engelhardt – differenziertere Substantive und Verben zur Wiedergabe bestimmter Geräusche als im Französischen. Im Französischen werden deutsche lautmalerische Ausdrücke oft durch relativ abstrakte Ausdrücke wiedergegeben, z.B. durch das Allerweltssubstantiv bruit: das Knallen beim Aufprall ging im Kampfgeschrei unter le bruit de la balle par terre se transforme en cri de guerre (Dupuy-Engelhardt 2001, 609)
Doch nicht nur bei den Substantiven, auch bei den Verben finden sich Übersetzungsbeispiele, in denen der deutsche Text differenzierter ist: Helmut schnalzt mit der Zunge, daß es knallt [...] fait claquer sa langue (Dupuy-Engelhardt 2001, 610)
Wenn das genaue Geräusch im Text keine zentrale Rolle spielt, ist es sicher legitim, sich im Französischen weniger lautmalerisch auszudrücken. Der deutsche Wortschatz scheint hier einfach differenzierter zu sein.
�� 2 Zu den romanischen Fachsprachen vgl. jetzt das Romanistische Arbeitsheft von Reinart und Pöckl (2015), in dem auch übersetzungswissenschaftliche Fragestellungen behandelt werden.
Phonetik und Phonologie � 95
Hinsichtlich des Sprachenpaars Deutsch-Italienisch deutet das folgende Beispiel aus dem Nuovo Dizionario Sansoni darauf hin, dass es dort ähnliche Unterschiede gibt: die Tasse knallt auf den Boden – la tazza cade a terra
Hier drückt das Verb knallen zugleich das Fallen und das beim Aufprall entstehende Geräusch aus. Im italienischen Beispiel geht die lautmalerische Komponente verloren – ein Verlust, der kaum ins Gewicht fällt, sofern es sich nicht um einen literarischen Text handelt, in dem die Lautmalerei eine bestimmte Rolle spielt. Genau um einen solchen Fall geht es im nächsten, spanisch-deutschen Beispiel. Hier werden lautmalerische Bildungen in einem literarischen Text in sinnstiftender Weise eingesetzt: mientras los pordioseros arrebataban del aire la car-car-car-car-cajada, del aire, del aire. (M.A. Asturias) der Spott des Geläch-äch-ächters der Bettler, das die Luft, die Luft erfüllte (Cartagena 1993/94, 52)
Aufgrund der wichtigen Funktion der Onomatopöie im Ausgangstext ist auch der Übersetzer lautmalerisch tätig geworden – allerdings mit deutlichen phonetischen Unterschieden: Während die spanische Form car-car-car-car-cajada nach einem heiseren Lachen klingt, gilt dies für die deutsche Entsprechung Geläch-äch-ächter wohl kaum. Phonetisch näher am Ausgangstext wäre eine Form wie Lach-ach-achachen. Die Übersetzung von Lautmalerei stellt allerdings ein insgesamt eher peripheres Übersetzungsproblem dar, abgesehen von bestimmten Textsorten, in denen solche Bildungen überdurchschnittlich häufig verwendet werden, z.B. Comics (vgl. Kaindl 2004, 249ff.). Ein weiteres, nur in bestimmten Texten relevantes Problem möchte ich kurz erwähnen: Die Übersetzung von Klangsymbolik. H. Scheffel zitiert hierzu ein Beispiel aus seiner eigenen Übersetzung des Romans La Modification von Michel Butor. Eine unheimliche Sagengestalt stellt darin dem Protagonisten quälende Fragen wie „Qui êtes-vous?“ oder „Où allez-vous?“, in denen die Form vous nach Ansicht Scheffels nicht mit der Höflichkeitsform Sie wiedergegeben werden könne, sondern mit du wiedergegeben werden müsse: „Wer bist du?“ bzw. „Wohin gehst du?“, denn: „Nur durch das im vous und auch im du enthaltene dunkle u kann das Bedrängende, Quälende, Unheimliche wiedergeben werden“ (Scheffel 1991, 99). Hier haben wir ein klares Beispiel dafür, dass einmal ein Laut in der Hierarchie der Invarianzforderungen ganz oben steht – allerdings nur, weil er im Text eine Funktion erfüllt, die der Übersetzer als besonders wichtig ansah. Ein häufiger auftretendes Problem der literarischen Übersetzung, speziell der Gedichtübersetzung, ist die Wiedergabe von Lautkorrespondenzen, z.B. Reimen. In
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diesem Bereich hängt die Übersetzbarkeit stark vom Sprachenpaar ab. Der tschechische Übersetzungstheoretiker Jiří Levý hat diese Problematik mit einem Beispiel aus dem Sprachenpaar Italienisch-Englisch auf den Punkt gebracht: „Ein italienischer Dichter hat tausend Reime auf -are (amare) Der englische Dichter kann auf love nicht mehr als drei klanglich einwandfreie Reime ersinnen“ (Levý 1969, 218). In einem ähnlichen Zusammenhang weist Jörn Albrecht darauf hin, dass sich für die Wiedergabe des Reims in innerromanischen Übersetzungen „die Ähnlichkeit der phonischen Struktur der romanischen Sprachen als unschätzbare Übersetzungshilfe [erweist]“ (Albrecht 1995b, 294). Aus einer italienischen Baudelaire-Übersetzung zitiert er u.a. die folgenden Reimentsprechungen: équipage – voyage / equipaggio – viaggio; mers – amers / mari – amari. Wenn man diese Reimwörter wörtlich ins Deutsche überträgt, geht der Reim verloren: Besatzung – Reise / Meere – bittere. Also muss der Übersetzer entweder auf andere Reimwörter ausweichen oder ganz auf die Wiedergabe des Reims verzichten. Kritisch zu reimenden Übersetzungen äußert sich Jürgen von Stackelberg, der im Zusammenhang mit deutschen Übersetzungen von Dantes Divina Commedia die reimlose Übersetzung Vosslers (in Blankversen) und die gereimte Version von Wilhelm G. Hertz miteinander vergleicht und bei letzterer Reime wie Waldeshallen – Todeskrallen – vorgefallen als Beispiele dafür zitiert, wie der Reimzwang zu Lasten der literarischen Qualitäten des Zieltextes gehen kann (vgl. Stackelberg 1997, 76ff.). Bisher ging es um die Funktion von Lauten in Wörtern und Texten. Es gibt aber auch Translationstypen, bei denen einzelne Laute selbst zu Übersetzungsproblemen führen, ohne dass sie eine bestimmte stilistische oder poetische Funktion im Text erfüllen. Dazu gehört insbesondere die Filmsynchronisation. Bei der Filmsynchronisation spielt vor allem die „visuelle Phonetik“ eine Rolle, d.h. es geht nicht um vollständige artikulatorische Äquivalenz (also identische Aussprache), sondern in erster Linie um Lippensynchronität, wobei man mit Herbst (1994) unterscheiden kann zwischen quantitativer Lippensynchronität (gleiche Dauer), und qualitativer Lippensynchronität (ähnliche Lippenbewegungen). Zur qualitativen Lippensynchronität ein simples Beispiel aus einem frühen Aufsatz zum Thema Synchronisation: Nach Darstellung von Rowe (1960, 118) sind die Sätze „tu t’appelles Maria“ und „your name is Maria“ weitgehend lippensynchron und daher brauchbare Entsprechungen. Warum? Die artikulatorischen Unterschiede zwischen tu und your sind praktisch nicht sichtbar: Der Mund ist sowohl bei den Konsonanten [t] und [j] und als auch bei den Vokalen [y] und [u] nur leicht geöffnet und die Lippen sind bei beiden Vokalen gerundet. Die unterschiedliche Stellung der Zunge ist von außen nicht zu erkennen. Fast genau lippensynchron sind auch die Wortfolgen t’appelles und name is. Auffällig ist hier das Schließen des Mundes bei den beiden bilabialen Konsonanten [p] und [m]. Bilabiale Konsonanten gehören zu den problematischsten Lauten in der Synchronisation, weil sie am deutlichsten zu erkennen sind. Der Synchronsprecher muss hier vor allem darauf achten, dass er das [m] von name im gleichen Moment
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ausspricht wie der Schauspieler das [p] von appelles. Im folgenden Beispiel aus der französischen Synchronisation eines amerikanischen Spielfilms wurde ein Adjektiv (petit) eingeführt, um zwei synchrone bilabiale Konsonanten zu erhalten: Daphne, your boyfriend’s waving at you! Daphné, ton petit ami te fait signe! (Le Nouvel 2007, 49)
Neben bilabialen Konsonanten zählen z.B. auch dentale Konsonanten wie das englische