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German Pages XI, 166 [169] Year 2020
RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft
Daniel Peranic
Grundeinkommen und Freiheit Eine Verhältnisbestimmung
RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft Reihe herausgegeben von Olaf Kühne, Forschungsbereich Geographie, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland Sebastian Kinder, Forschungsbereich Geographie, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland Olaf Schnur, Stadt- und Quartiersforschung, Berlin, Deutschland
RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft | SpaceAffairs: City – Region – Landscape Im Zuge des „spatial turns“ der Sozial- und Geisteswissenschaften hat sich die Zahl der wissenschaftlichen Forschungen in diesem Bereich deutlich erhöht. Mit der Reihe „RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft“ wird Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Forum angeboten, innovative Ansätze der Anthropogeographie und sozialwissenschaftlichen Raumforschung zu präsentieren. Die Reihe orientiert sich an grundsätzlichen Fragen des gesellschaftlichen Raumverständnisses. Dabei ist es das Ziel, unterschiedliche Theorieansätze der anthropogeographischen und sozialwissenschaftlichen Stadt- und Regionalforschung zu integrieren. Räumliche Bezüge sollen dabei insbesondere auf mikro- und mesoskaliger Ebene liegen. Die Reihe umfasst theoretische sowie theoriegeleitete empirische Arbeiten. Dazu gehören Monographien und Sammelbände, aber auch Einführungen in Teilaspekte der stadt- und regionalbezogenen geographischen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Ergänzend werden auch Tagungsbände und Qualifikationsarbeiten (Dissertationen, Habilitationsschriften) publiziert. Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne, Universität Tübingen Prof. Dr. Sebastian Kinder, Universität Tübingen PD Dr. Olaf Schnur, Berlin In the course of the “spatial turn” of the social sciences and humanities, the number of scientific researches in this field has increased significantly. With the series “RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft” scientists are offered a forum to present innovative approaches in anthropogeography and social space research. The series focuses on fundamental questions of the social understanding of space. The aim is to integrate different theoretical approaches of anthropogeographical and social-scientific urban and regional research. Spatial references should be on a micro- and mesoscale level in particular. The series comprises theoretical and theory-based empirical work. These include monographs and anthologies, but also introductions to some aspects of urban and regional geographical and social science research. In addition, conference proceedings and qualification papers (dissertations, postdoctoral theses) are also published. Edited by Prof. Dr. Dr. Olaf Kühne, Universität Tübingen Prof. Dr. Sebastian Kinder, Universität Tübingen PD Dr. Olaf Schnur, Berlin
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/10584
Daniel Peranic
Grundeinkommen und Freiheit Eine Verhältnisbestimmung
Daniel Peranic Corporate Branding and Communications Carl Zeiss AG Oberkochen, Deutschland Zugl.: Dissertation Uni Tübingen, 2019. Gefördert durch ein Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg.
ISSN 2625-6991 ISSN 2625-7009 (electronic) RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft ISBN 978-3-658-32293-9 ISBN 978-3-658-32294-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Meltem, Mira und Noa
Zusammenfassung
Ein Grundeinkommen ist ein regelmäßiges Geldeinkommen, das eine politische Gemeinschaft all ihren Mitgliedern zahlt. Diese Arbeit fragt, ob eine solche Idee im Urteil der liberalen Politischen Philosophie geboten ist oder nicht. Geboten wäre sie dann, wenn sie eine notwendige Bedingung von liberaler Freiheit wäre. Es werden dazu die fünf wichtigsten Konzepte von liberaler Freiheit in die Betrachtung einbezogen: negative, positive, libertäre, reale und republikanische Freiheit. Die Arbeit weist argumentativ nach, dass ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung republikanischer Freiheit ist, aber nicht der anderen vier Konzepte. Die Arbeit entkräftet darüber hinaus drei prominente Einwände gegen ein Grundeinkommen: dass es Steuerzahler ausbeutet, dass es die Fleißigen diskriminiert und dass es Chancen unfair verteilt. A basic income is a regular cash income paid by a political community to all its members. This study asks whether such an idea is required by liberal political philosophy or not. It would be required if it were a necessary condition of liberal freedom. The five most important concepts of liberal freedom are considered: negative, positive, libertarian, real, and republican freedom. It is argued that a basic income is a necessary condition of republican freedom, but not of the other four concepts. In addition, the thesis debunks three prominent objections against basic income: that it exploits taxpayers, that it discriminates against hard-workers and that it distributes opportunities unfairly.
VII
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2
Das Grundeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Sozialstaat und Grundeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 9 13 15 16 24
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Herleitung der Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4
Was ist Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vier Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Sechs Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 41 42 44
5
Was ist Liberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Für Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Für Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Implikationen von Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Gegen Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Gegen das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 53 54 56 58 60
6
Negative und positive Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Dichotomie der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Freiheit von . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Freiheit zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Argument über positive Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 67 68 69 72
IX
X
Inhaltsverzeichnis
6.5
Argument über negative Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
7
Libertäre Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Internes Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Externes Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Libertarismus: rechts und links . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Rechtslibertäre Kritik der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Argument über libertäre Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 81 82 84 84 86
8
Reale Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Freiheitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Argument über reale Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91 91 93
9
Republikanische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Nicht-Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Was ist Herrschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Argument über republikanische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Feministische Statusfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 97 99 101 110
10 Verteidigung des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Exploitation Objection . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Crazy-Lazy-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 117 122 130
11 Liberalismus und Grundeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
12 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
Tabellenverzeichnis
Tabelle Tabelle Tabelle Tabelle
2.1 2.2 2.3 12.1
Belastungsverlauf eines Grundeinkommens . . . . . . . . . . . . . Versicherung, Versorgung und Fürsorge im Sozialstaat . . . Vier Wohlfahrtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liberale Freiheit und Grundeinkommen . . . . . . . . . . . . . . .
14 25 31 152
XI
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Einleitung
Fragestellung. Die Forschungsfrage wird in Kapitel 3 hergeleitet, weswegen hier ein kurzer Verweis genügt. Das globale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit betrifft die Frage, ob ein Grundeinkommen gerecht ist. Es wird viel darüber gestritten, welche Folgen ein Grundeinkommen hat oder haben kann, und meist fließen die entsprechenden Annahmen implizit oder explizit in das Gerechtigkeitsurteil ein. Das Problem daran ist, wie ich zeigen werde, dass Aussagen über die Folgen des Streitgegenstandes vorwissenschaftlich sind. Deshalb müssen wir die erkenntnisleitende Frage deontologisch formulieren: Gibt es prinzipielle, von den mutmaßlichen Folgen unabhängige Argumente für die Gerechtigkeit des Grundeinkommens? Wir können nun den Geltungsbereich der Frage festlegen. (1) Wir nennen das Grundeinkommen genau dann gerecht, wenn es eine notwendige oder hinreichende Bedingung von Gerechtigkeit ist. (2) Wir identifizieren den maximalen Kontrast zwischen Grundeinkommen und Status quo, die Leistungsfreiheit, und begrenzen die Analyse auf diesen Aspekt, weil alle anderen Kontraste dazu instrumentell sind. (3) Wir beschränken die Analyse auf die Sphäre der Existenzsicherung, treffen also keine Aussagen, die darüber hinaus Geltung beanspruchen. (4) Wir argumentieren innerhalb der theoretischen Grenzen des philosophischen Liberalismus, nicht jenseits davon. (5) Wir binnendifferenzieren diese Denkströmung entlang verschiedener Freiheitsbegriffe, um ein möglichst differenziertes Urteil fällen zu können. Legen wir nun die Bedingungen (1) bis (5) übereinander, ergibt sich daraus die folgende Frage: Ist die Leistungsfreiheit im Rahmen der Existenzsicherung eine notwendige Bedingung liberaler Freiheit? Aus Gründen der Lesbarkeit wird durchgehend das maskuline Genus verwendet, womit ausdrücklich alle Menschen gemeint sind.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_1
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1
Einleitung
Zielsetzung: Versuch einer analytischen Wende. Die Idee des Grundeinkommens gewinnt sowohl in einem multidisziplinären Forschungsdiskurs in Ökonomik, Politischer Philosophie und den Sozialwissenschaften als auch im Rahmen einer international wirksamen Reformbewegung zunehmend an Relevanz. Der Korpus akademischer Literatur hat ein in seiner Gänze intellektuell undurchdringbares Ausmaß und eine nur schwer aufzubereitende Komplexität angenommen. Neben nennenswerten Monographien (Atkinson 1997; Birnbaum 2012; Fitzpatrick 1999; Sheahen 1983; Standing 1999; 2002; 2009; 2011b; Steensland 2008; Theobald 1965; Van Parijs 1995; Van Parijs & Vanderborght 2017; Van Trier 1995; Walter 1988; White 2003) und Sammelbänden (Caputo 2012; Cohen & Rogers 2001; Cunliffe & Erreygers 2004; Dowding, De Wispelaere & White 2003; Pateman & Murray 2012; Reeve & Williams 2003; Samson & Standing 2003; Standing 2005; Van der Veen & Groot 2000; Van Parijs 1992; Widerquist, Lewis & Pressman 2005; Widerquist & Howard 2012a; 2012b; Widerquist et al. 2013; Wright 2006) sowie Sonder- und Themenbänden referierter Journale (Analyse & Kritik 2000; Policy & Politics 2011; Rutgers Journal of Law & Public Policy 2005; The Journal of Socio-Economics 2005; The Political Quarterly 1996; The Review of Social Economy 2005; Theory & Society 1986; 2004) ist es vor allem das seit 2006 erscheinende Peer-Review-Journal „Basic Income Studies“, das die Debatte in der Fachöffentlichkeit vorantreibt. Neben dem akademischen Interesse ist die Idee auch in der journalistischen Bearbeitung nicht mehr wegzudenken, wenngleich sie im Verhältnis zu sinnverwandten oder konkurrierenden Vorschlägen (zum Beispiel Mindestlohn) unterrepräsentiert ist (Kharboutli 2015: 110). In der Wissenschaft wird das Grundeinkommen vor allem in vier Begründungszusammenhängen vertreten (De Wispelaere 2015: 28–29 für die ersten drei): Erstens sozialpolitisch als Aus-, Rück- oder Umbau des heutigen Sozialstaats (Goodin 1992; Standing 1999); zweitens entwicklungspolitisch als Armutsbekämpfung in sich entwickelnden und Schwellenländern (Casassas, Raventós & Wark 2010; LoVuolo 2012; Osterkamp 2013; Tabatabai 2011; Tercelli 2013); drittens geldpolitisch als Helikoptergeld zur Kaufkraftfestigung (Mencinger 2017; Standing 2011a); viertens philosophisch als Gebot von Gerechtigkeit oder Demokatie (Birnbaum 2012; Dowding, De Wispelaere & White 2003; Van Parijs 1992; White 2003). Der letzte Punkt ist naturgemäß der kontroverseste. Nichts überrascht weniger als ein Dissens in Wertefragen. Was hingegen durchaus überrascht, ist die Beschaffenheit dieses Dissenses: Es gibt keinen analytischen Common Ground, keinen systematischen Bezugspunkt, der die vielen Standpunkte vergleichbar und damit überhaupt in mindestens einer Hinsicht beurteilbar macht. Ich unternehme hiermit den Versuch, daran etwas zu ändern. Es wird ein theoretisches Evaluationsmodell erarbeitet, anhand dessen
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Einleitung
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die Idee des Grundeinkommens und ihre Negation (Workfare) bewertet werden. Dieses Modell ist die Politische Philosophie des Liberalismus, die sich durch die Präsumtion der Freiheit auszeichnet, also die Annahme, dass Freiheit zwar nicht immer, aber grundsätzlich geboten ist und deshalb ihre Einschränkung unter dem Vorbehalt einer rationalen Begründung über einen allseitigen Vorteil steht. Die Arbeit fußt dabei im Gegensatz zu allen (mir bekannten) Publikationen zum Grundeinkommen auf einer radikal analytischen Epistemologie, das heißt, sie verzichtet vollständig auf Aussagen synthetischer Natur. Eine analytische Aussage lautet zum Beispiel: „Das Grundeinkommen ist eine Transferleistung“. Das Charakteristikum analytischer Sätze ist, dass sich ihre logische Wahrheit aus den sie konstituierenden Begriffen ergibt. Ganz anders funktioniert der folgende synthetische Satz: „Das Grundeinkommen verringert den Anreiz, erwerbstätig zu sein“. Die Wahrheit dieses Satzes ergibt sich nicht aus den Begriffen alleine, sondern ist auf empirische Tatsachen angewiesen. Das Problem ist: Es existiert kein Wissen über die Wahrheitsvoraussetzungen dieser Synthese. Wir wissen nicht, wie sich ein Grundeinkommen auf Anreize auswirkt; es gibt widersprüchliche Evidenzen diesbezüglich. Diese Arbeit trägt der (aktuellen) Unmöglichkeit, synthetische Sätze über das Grundeinkommen zu formulieren, Rechnung, indem sie sie als vorwissenschaftlich betrachtet und aus der Argumentation voll und ganz ausschließt. Wir befassen uns hier also nur mit apriorischem Wissen, jedoch nicht aus dogmatischen Gründen, sondern schlicht, weil der Gegenstand der Betrachtung diese Vorfestlegung so lange gebietet, bis es ein Grundeinkommen gibt und damit aposteriorisches Erfahrungswissen erst möglich wird. Damit sind zwei Ambitionen verbunden: erstens einen genuinen Erkenntnisfortschritt in einem seit Jahrzehnten inhaltlich gesättigten Diskurs zu erzielen, zweitens innerhalb der akademischen Debatte eine „analytische Wende“ anzuregen, sodass ein rationaler Diskurs zwischen Freunden und Feinden der Idee sowie je innerhalb dieser Lager möglich wird. Ausblick auf das Argument. Nachdem Frage und Ziel besprochen worden sind, soll hier noch kurz ein Ausblick auf den inhaltlichen Verlauf der Arbeit gegeben werden. Das Grundeinkommen. Kapitel 2 behandelt die Idee des Grundeinkommens. Es wird definiert, was ein Grundeinkommen ist und was aus dieser Definition logisch folgt (2.1). An einem Beispiel werde ich veranschaulichen, wie ein Grundeinkommen steuer- und transfertechnisch ausgestaltet werden kann (2.2). In gebotener Kürze wird die Ideengeschichte nachgezeichnet (2.3), um dann mögliche Argumente von Befürwortern und Gegnern anzureißen. Darauf aufbauend
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1
Einleitung
wird die Frage beantwortet, ob ein Grundeinkommen notwendig und/oder geboten ist (2.4). Im letzten Teil des Kapitels setze ich das Grundeinkommen und den heutigen Sozialstaat zueinander in Bezug (2.5). Herleitung der Forschungsfrage. Kapitel 3, 4 und 5 dienen als Propädeutik zum eigentlichen Argument, das in den Kapiteln 6 bis 11 entwickelt und verteidigt wird. Kapitel 3 stellt methodische Vorüberlegungen an, wie die Forschungsfrage beantwortet werden kann. Ich überlege, wie man zwei Ideen, die nur als theoretische Konstrukte existieren, zueinander in Beziehung setzen kann, lege die aussagenlogischen Bedingungen fest, unter denen ein Grundeinkommen als gerecht bezeichnet werden kann, erläutere, dass ich mich in der Analyse nur auf den Aspekt der Leistungsfreiheit beschränke, erläutere, warum alle anderen Aspekte nachrangig sind, setze, dass der inhaltliche Geltungsbereich des Arguments die soziale Existenzsicherung ist und der theoretische Geltungsbereich die Politische Philosophie des Liberalismus, zeige, welche Konzepte von Freiheit ich untersuche und wie die Forschungsfrage für jedes dieser Konzepte auszubuchstabieren ist. Was ist Gerechtigkeit? Kapitel 4 dient als zweiter propädeutischer Teil und behandelt die Idee der Gerechtigkeit aus metatheoretischer Perspektive, und zwar mit dem Ziel, sowohl das Grundeinkommen als auch die liberale Theorie damit ins Passungsverhältnis zu setzen. Ich zeichne kurz die Ideengeschichte von Gerechtigkeit nach (4.1), zeige, welche Adäquatheitsbedingungen eine Definition von Gerechtigkeit aufweisen muss, damit sie tatsächlich Gerechtigkeit denotiert und nicht etwas anderes (4.2), erläutere anhand von sechs idealtypischen Gegenüberstellungen, wie sich verschiedene Verständnisse von Gerechtigkeit systematisch voneinander unterscheiden, ohne jemals ihre gemeinsamen Bezugspunkte zu verlieren (4.3). Was ist Liberalismus? Kapitel 5 markiert den dritten und letzten Teil der Propädeutik und erläutert, was Liberalismus ist. In einem ersten Schritt (5.1) wird Liberalismus über die Präsumtion der Freiheit definiert, ein Fundamentalprinzip von Freiheit formuliert und festgelegt, wann eine liberale Position gebieten darf, Freiheit einzuschränken und wann nicht. Im zweiten Schritt (5.2) stelle ich die Zentralität von Autonomie als liberalen Subjektentwurf heraus, indem ich definiere, was Autonomie ist und prüfe, was ihre notwendigen Bedingungen sind. Im dritten Schritt (5.3) gehe ich auf die theoretischen Implikationen von Autonomie ein und argumentiere, dass eine liberale Theorie zwingend für Pluralismus, gegen Paternalismus und für moralischen Minimalismus ist. Im vierten Schritt (5.4) erörtere ich die Gretchenfrage, wie es ein Liberaler mit der Gleichheit hat. Dabei schlussfolgere ich, dass Freiheit und Gleichheit unauflösbare Widersprüche sind, sofern Gerechtigkeit über eine Präsumtion bestimmt werden soll, und führe
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Einleitung
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drei fundamentale Kritikpunkte an einer Präsumtion der Gleichheit an, die hinreichen, um sich für Freiheit und gegen Gleichheit als theoretischen Angelpunkt zu entscheiden. Im letzten Schritt (5.5) begründe ich, dass ein Liberaler nicht nur gegen Gleichheit, sondern auch gegen das objektiv Gute sein muss. Dabei führe ich sechs Gründe gegen eine Politik des Guten und für eine Politik des Neutralen an, zeige, dass die Argumente gegen liberale Staatsneutralität Fehlschlüsse sind, und verpflichte mich nach dem begründeten Ausschluss von Alternativen auf genau eine Formulierung des liberalen Neutralitätsgebots. Negative und positive Freiheit. Kapitel 6 stellt die Frage, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung von positiver oder negativer Freiheit ist. Zunächst führe ich in die Debatte über Isaiah Berlins mittlerweile paradigmatische Dichotomie von negativer und positiver Freiheit ein und stelle zwei metatheoretische Unterschiede der beiden Ideen heraus (6.1). In Abschnitt 6.2 definiere ich negative Freiheit und in Abschnitt 6.3 positive Freiheit und gehe auf die mit Berlins Unterscheidung verbundenen konzeptuellen Probleme ein. Es wird gezeigt, dass etwas zeitgleich positiv frei, aber negativ unfrei sein kann oder umgekehrt, woraus sich die Notwendigkeit einer Entscheidung für genau eines der beiden Konzepte ergibt. Ich biete zwei Begründungen an, warum negative Freiheit im Rahmen einer liberalen Theorie vorzuziehen ist. Abschnitt 6.4 liefert die erste Antwort auf die Forschungsfrage. Darin zeige ich, dass es unmöglich ist, von positiver Freiheit auf ein Grundeinkommen zu schließen. Im Anschluss prüfe ich, ob eine alternative Formulierung derselben Idee eine plausible Begründung liefern kann, um auch diese Vermutung zu enttäuschen. Schließlich übe ich eine Fundamentalkritik an positiver Freiheit und schlage vor, die Idee ganz aufzugeben. Abschnitt 6.5 liefert die zweite Antwort auf die Forschungsfrage. Ich zeige, dass die negative Freiheit makroskopisch und langfristig durch eine bestimmte Form sozialer Sicherung im Rahmen des positiven Rechts nicht beeinflussbar ist, sondern einer Nullsummenlogik folgt. Libertäre Freiheit. Kapitel 7 stellt die Frage, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung von libertärer Freiheit ist. Dazu muss erst geklärt sein, was die libertäre Theorie überhaupt ausmacht. Abschnitt 7.1 befasst sich zu diesem Zweck mit der ersten zentralen libertären Idee, nämlich dem Selbsteigentum. Dort definiere ich Selbsteigentum und dadurch auch indirekt den Libertarismus, liste auf, was jemand können oder dürfen muss, um der volle Eigentümer seiner eigenen Person zu sein, und führe aus, welche Rolle der Staat aus Sicht eines Libertären spielt. Abschnitt 7.2 befasst sich mit einer zweiten zentralen Idee, nämlich externem Eigentum und damit, wie es sich zum internen Eigentum verhält. Insbesondere kläre ich dort anhand von Locke und Nozick, wann es legitim
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Einleitung
ist, sich etwas anzueignen, das ehedem keinen Besitzer hatte, um davon abstrahierend zu veranschaulichen, was ein Libertärer als gerecht beurteilt und was nicht. Hiernach wird die für die nachfolgenden Überlegungen kritische Unterscheidung zwischen „linkem“ und „rechtem“ Libertarismus besprochen (7.3). Im Anschluss zeichne ich Hayeks berühmte Kritik an sozialer Gerechtigkeit nach, die als beispielgebend für die rechtslibertäre Kritik am Sozialstaat zu lesen ist (7.4). Abschnitt 7.5 liefert schließlich die dritte Antwort auf die Forschungsfrage. Ich rekapituliere zunächst die wichtigsten bis dahin erarbeiteten Kennzeichen libertärer Theorie der Gerechtigkeit, verdichte sie auf ihre relevanten Kern- und mögliche Hilfsannahmen, schlussfolgere, dass es kein überzeugendes libertäres Plädoyer für überhaupt irgendeine Art der Grundsicherung gibt, und kritisiere abschließend die Idee des Selbsteigentums, auf der die hier behandelte Position fußt. Reale Freiheit. Kapitel 8 stellt die Frage, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung von realer Freiheit ist. Im ersten Teil (8.1) führe ich in die Idee realer Freiheit ein, um im zweiten Teil (8.2), darauf aufbauend, die vierte Antwort auf die Forschungsfrage zu formulieren. Ich zeige zunächst, dass ein Grundeinkommen nur scheinbar eine notwendige Bedingung realer Freiheit ist. Ich bespreche zwei wesentliche Probleme der Begründung, von der eines schwer lösbar (nämlich die These, dass alle denkbaren Freiheiten gleichwertig sind), das andere hingegen unlösbar ist (nämlich die Unmöglichkeit, reale Freiheit zu messen). Republikanische Freiheit. Kapitel 9 stellt die Frage, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung von republikanischer Freiheit ist. In Abschnitt 9.1 führe ich in die Idee republikanischer Freiheit ein, indem ich zeige, warum man Freiheit als unteilbaren Status begreifen sollte, und warum andere Ideen von Freiheit, insbesondere negative Freiheit, genau daran scheitern, definiere, dass republikanische Freiheit heißt, von nichts und niemandem in unbegründeter Weise beherrscht zu werden, anführe, welche Schwachstellen die republikanische Theorie besitzt, und schließlich ausweise, dass und warum der Bürgerbegriff im Republikanismus so zentral ist. Abschnitt 9.2 muss der Definition republikanischer Freiheit als Nicht-Herrschaft wegen fragen: Was ist überhaupt Herrschaft? Ich schließe mich dort einer Definition an, gehe ihre relevanten Komponenten und Implikationen durch, und diskutiere die beiden entscheidenden Frage, wer Herrschaft ausüben kann und ob Herrschaft auf tatsächlich ausgeübter oder nur potenziell ausübbarer Macht beruht. Abschnitt 9.3 gibt die fünfte Antwort auf die Forschungsfrage. Ich rekapituliere die republikanische Politische Philosophie, finde, dass Workfare aus republikanischer Sicht eine unzulässige Form von Machtmissbrauch darstellt, frage, wie ein Existenzminimum aus republikanischer
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Einleitung
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Sicht ganz grundsätzlich ausgestaltet sein muss, argumentiere, dass das Grundeinkommen mit diesem Grundsatz kohärent ist, stütze dieses Argument durch den Verweis auf herrschaftsförmige Elemente in Märkten sowie die Bedeutung, Nein zu etwas sagen zu können. Abschließend stelle ich die Argumentation unter zwei Vorbehalte. Abschnitt 9.4 vervollständigt das republikanische Argument für ein Grundeinkommen in Gestalt eines Exkurses. Ich versuche darin zu plausibilisieren, dass sich qua republikanischer Freiheit auch ein feministisches Argument für ein Grundeinkommen plausibel konstruieren lässt, weil dadurch die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre sowie ihre Korrespondenz mit den Attributen „männlich“ und „weiblich“ von ihrem Problemcharakter befreit würde. Verteidigung des Arguments. Kapitel 10 verfolgt das Ziel, das in den vorangehenden Kapiteln erarbeitete Argument gegen Kritik zu verteidigen. Die erste Kritik lautet, dass ein Grundeinkommen die Fleißigen ausbeutet und wird in Abschnitt 10.1 besprochen. Ich formuliere zunächst das Problem so, dass es in den Geltungsbereich dieser Arbeit fällt, rekonstruiere die Rawlssche Theorie der Fairness und zeige, warum sie zum Schluss kommen muss, dass ein Grundeinkommen exploitativ ist, liefere Gründe, Rawls in dieser Hinsicht klar abzulehnen, und kritisiere den Einwand über Ausbeutung immanent, indem ich herausstelle, dass er falsche Wahrheitsbedingungen beinhaltet und sich selbst ad absurdum führt. Die zweite Kritik lautet, dass ein Grundeinkommen die Fleißigen diskriminiert und wird in Abschnitt 10.2 besprochen. Nach der Problemformulierung zeige ich erstens, dass der Einwand gegen sich selbst gerichtet und insofern beliebig ist, und zweitens, dass das Konzept der Diskriminierung im Rahmen der Problemstellung gegenstandslos ist. Die dritte Kritik lautet, dass ein Grundeinkommen das Postulat der Chancengleichheit verletzt, weil es alle streng gleichbehandelt, und wird in Abschnitt 10.3 besprochen. Am Beispiel des Luck Egalitarianism veranschauliche ich die unlösbaren philosophischen Probleme, die mit einer Theorie der Chancengleichheit verbunden sind, und gelange zu dem Schluss, dass sie keine ernste Alternative zu einer liberalen Theorie ist. Liberalismus und Grundeinkommen. Kapitel 11 schließt den Zirkel der Argumentation, in dem die Idee des Grundeinkommens auf die liberalen Kernannahmen rückbezogen wird. Während die vorangehenden Kapitel fragen, wie sich ein Grundeinkommen zu dieser oder jener Fassung liberaler Freiheit verhält, fragt dieses Kapitel, wie sich ein Grundeinkommen zum Liberalismus im Ganzen verhält. Zusammenfassung. Kapitel 12 fasst die Arbeit zusammen. Aus Kapitel 2 übernehme ich lediglich die Definition des Grundeinkommens, sodass ich den weiteren Verlauf der Zusammenfassung auf die eigenständige wissenschaftliche
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Einleitung
Leistung der Arbeit, das liberale Argument und seine Verteidigung, beschränken kann. Die Kurzfassung der Arbeit ist umfangreich genug, um die gesamte Arbeit inhaltlich nachzuvollziehen. Ich empfehle dem Leser daher, nach diesem einführenden Kapitel zunächst die Zusammenfassung zu lesen und danach erst das vollständige Argument.
2
Das Grundeinkommen
2.1
Definition
Arbeitsdefinition. Der Arbeit liegt folgende Definition zugrunde, die auch im internationalen Forschungsdiskurs als konsensuell gilt: Ein Grundeinkommen ist ein regelmäßiges Einkommen, das eine politische Gemeinschaft all ihren Mitgliedern auf individueller Basis zahlt, ohne die Prüfung des Bedarfs und ohne die Pflicht zu einer Arbeit (Van Parijs 2004: 1; 2; Vanderborght & Van Parijs 2005: 37). Diese Idee wurde durch viele Ausdrücke umschrieben. Im Deutschen hat sich der Ausdruck (bedingungsloses) Grundeinkommen durchgesetzt, im Englischen „basic income“. Das Attribut „bedingungslos“ bezeichnet dabei ex negativo, worum es sich nicht handelt, nämlich eine Grundsicherungsleistung, die an Bedarf oder Gegenleistung gekoppelt ist. Ein Grundeinkommen ist natürlich nicht tatsächlich bedingungslos. Es muss Anspruchskriterien und weitere Modalitäten zur Ausgestaltung formulieren. Aus didaktischen Gründen wird in dieser Arbeit das Adjektiv konsequent ausgelassen und lediglich von Grundeinkommen gesprochen. In der Diskussion werden immer wieder ähnliche, sinnverwandte Vorschläge ins Spiel gebracht, die vermeintlich den Geist des Grundeinkommens atmen, aber weniger radikal vom Status quo abweichen als die Arbeitsdefinition (das ideale Grundeinkommen). Diese ähnlichen Reformalternativen werden häufig als Kompromiss formuliert, die das Grundeinkommen als Fluchtpunkt, als utopischen Horizont haben, teils um sich von einem oder mehreren Aspekten der als zu radikal empfundenen Kernidee zu lösen, teils aus Erwägungen der praktischen politischen Realisierbarkeit heraus (Noguera 2013: 370). Streitbar ist, ob diese Diversität von sympathisierenden Ideen der Kernidee nützt oder schadet, da sie sie einerseits ergebnisoffen hält, vorbehaltlich formuliert und damit einer
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_2
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Das Grundeinkommen
dogmatisch geführten Debatte entgegenwirkt. Andererseits lässt sie sie beliebig und substanzlos erscheinen. Im Rahmen dieser Arbeit werde ich auf keine dieser mehr oder weniger ähnlichen Vorschläge (Negative Einkommenssteuer, Alaska Permanent Fund, Partizipationseinkommen etc.) eingehen, weil nur das Grundeinkommen den maximalen Kontrast zum Status quo bildet (siehe Kapitel 3). Erst durch die Gegenüberstellung der beiden Pole Grundeinkommen und Workfare werden alle die Graustufen dazwischen erst in ein rationales und normatives Bezugssystem mit klar fixierten Endpunkten überführt und überhaupt vernünftig bewertbar. Eine Idee, die auch nur ein einziges der Attribute, die im Folgenden aufgelistet und erläutert werden, nicht teilt, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Ein derart definiertes ideales Grundeinkommen ist ohne Präzedenzfall. Es wurde niemals irgendwo eingeführt. Liest man von einem „Grundeinkommen“ in Namibia, Finnland, Alaska oder sonstwo, dann handelt es sich, gemessen an der hier verwendeten Definition, um eine Falschaussage. Ein tatsächliches Grundeinkommen existiert nur als Idee, als Diskursphänomen, und nicht als Ort in der realen Welt. Im Folgenden soll diese Idee in ihre sinntragenden Bestandteile zerlegt werden, um diese gesondert zu erläutern. Dadurch kann eingehend illustriert werden, was ein Grundeinkommen ist, was es nicht ist, und was es von den gegenwärtigen Systemen von Einkommens-, Lebensstandard- oder Existenzsicherung unterscheidet. Geldförmigkeit. Ein Grundeinkommen wird „in cash“ auf das Konto des Empfängers überwiesen und nicht als Steuergutschrift, Gutschein, Freibetrag, Sach- oder Dienstleistung bereitgestellt. Es kommt also zu einem kassenmäßigen Vorgang. Als Geldtransfer substituiert das Grundeinkommen mindestens die bestehenden Geldtransfers in der Grundsicherung, konsequenterweise jedoch alle Transferleistungen, die faktisch eine Mindestsicherungsfunktion darstellen, und äußerstenfalls jede Leistung des Sozialstaats. Die Frage, was genau ein Grundeinkommen in welchem Umfang ersetzt, ist nach Gesichtspunkten der politischen und gesellschaftlichen Erwünschtheit und der ökonomisch-fiskalischen Machbarkeit zu beantworten, darüber hinaus in Anbetracht möglicher Residualbedarfe, die ein Grundeinkommen nicht decken kann, vor allem im Gesundheitsbereich, und mit Blick auf nicht substitutionsfähige Leistungen wie die gegenwärtigen Anwartschaften auf Renten, die eigentumsähnlichen Status haben. Der Nachteil von Geldleistungen ist, dass sie nicht hinreichen, um gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten oder alle Dimensionen von Armut adäquat zu adressieren (Weeber 1990: 12). Allerdings ist Einkommensarmut sowohl die sichtbarste als auch die am besten bekämpfbare Ausprägung von Armut. Der Nachteil von Sach- oder Dienstleistungen andererseits ist, dass sie präskriptiv wirken: Sie schränken die Freiheitsgrade des Leistungsnehmers ein, um Missbrauch auszuschließen.
2.1 Definition
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Regelmäßigkeit. Ein Grundeinkommen wird zu mehreren abstandsgleichen Zeitpunkten bereitgestellt. Damit ist es vom Konzept des Grundkapitals („basic capital“, „basic capital endowment“, „capital grant“), das eine einmalige Bügerdividende ist, abzugrenzen (Ackerman & Alstott 1999; 2004; Paine 1797). Das Grundeinkommen zielt auf dauerhafte soziale Sicherheit, das Grundkapital auf die Maximierung von Startchancengleichheit (Cunliffe & Erreygers 2004: xi). Bedarfsunabhängigkeit. Das Grundeinkommen wird ohne Prüfung des Bedarfs gezahlt. Im Gegensatz zu heutigen Transfers ist es also keine Lohnersatzleistung, sondern ein Primäreinkommen. Daher ist es kein Sozialtransfer im heute gebräuchlichen Wortsinn. Treffender ist der Ausdruck der Bügerdividende. Individualität. Das Veranlagungs- und Bemessungssubjekt ist die einzelne Person und keine Gemeinschaft von Personen. Das heißt, dass Haushalte keine Auswirkung auf die Tatsache oder die Höhe des Grundeinkommens haben. Der Vorteil einer Individualisierung von Transfers ist die Effizienz des Verfahrens und die Gleichstellung aller Haushaltsmitglieder, sodass der ökonomisch Schwächere nicht von einem Versorger oder Haushaltsvorstand abhängig ist (Opielka & Stalb 1986: 82). Der Nachteil einer Individualisierung ist, dass tatsächlich existierende Haushaltseinsparungen transfertechnisch nicht berücksichtigt werden können. Rechtsanspruch. Das Grundeinkommen ist ein Bürgereinkommen. Jeder erhält es, sofern er Mitglied der politischen Gemeinschaft ist. Es gibt keine einheitliche Auffassung darüber, wie weit oder eng die Anspruchskriterien dieser zunächst abstrakt formulierten politischen Gemeinschaft gefasst werden sollen. Mögliche Zugangskriterien lauten Staatsbürgerschaft oder legaler Aufenthaltsstatus, beides in potenzieller Knüpfung an eine Mindestaufenthaltsdauer. Wenn ein Grundeinkommen ein Bürgerrecht ist, idealiter ein Grundrecht mit Verfassungsrang, stellt sich die Frage, wie sich der Bürgerstatus begründet, der seinerseits die Kausalität dieses Rechts darstellt. Die beiden geläufigen Antworten darauf lauten jus sanguinis (qua Abstammung) und jus soli (qua Geburtsort). Jus sanguinis ist in idealtypischer Variante exklusiv gegenüber Migranten und ihren Kindern, auch wenn diese im Inland geboren werden, und inklusiv gegenüber der Diaspora, die zum Land ihrer Bürgerschaft keinen weiteren politischen Bezug haben muss. Jus soli ist in idealtypischer Variante ebenfalls exklusiv gegenüber Migranten und inklusiv gegenüber denen, die im Inland geboren sind, aber keinen weiteren politischen Bezug dazu haben. Beide Inklusionskriterien, jus sanguinis und jus soli, sind also für sich genommen ambivalent. Als Alternative wurde jüngst das Stakeholder-Prinzip als jus nexi ins Spiel gebracht (Leydet 2017: Abschn. 3.2). Nach jus nexi ist ein Bürgerstatus dann zu vergeben, wenn der betreffende Staat für die betreffende Person einen relevanten Bezug hat und umgekehrt (Shachar
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Das Grundeinkommen
2009: 165), oder wenn ein dauerhaftes und begründetes Interesse an der Bürgerschaft besteht (Bauböck 2008: 35). Ulrich (2007: 1) schlägt mit Blick auf ein Grundeinkommen vor, es als Wirtschaftsbürgerrecht zu konzipieren: „Berechtigt sein sollen alle Personen, die in einem Land arbeits- und aufenthaltsberechtigt sind und in ihm tatsächlich wohnhaft sowie steuerpflichtig sind“. Universalität. Universalität bezeichnet den Grad der Offenheit der Anspruchsberechtigung. Der Begriff hat in der Debatte um ein Grundeinkommen drei Denotationen, die meist analytisch nicht sauber voneinander getrennt werden. Die erste und im vorausgehenden Absatz bereits implizierte Denotation: Je mehr Bevölkerungsgruppen innerhalb eines politischen Referenzraums Anspruch auf die Leistung haben, desto universeller ist sie. Eine idealtypische universelle Leistung kennt nur eine einzige Gruppe, nämlich die Empfänger. Dies gilt jedoch nur inwendig, denn nach außen muss eine Selektion stattfinden zwischen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft und Nicht-Mitgliedern, denen der Zugang verwehrt bleibt. Universalität und Selektivität schließen einander hiernach aus (De Wispelaere 2015: 50). Die zweite Denotation lautet, dass alle, die die Leistung erhalten, sie auch im selben Umfang erhalten. Insofern könnte eine Leistung universell sein, indem sie allen zusteht, und zeitgleich selektiv, indem sie nicht allen gleichwertig zusteht. Seinem idealen Charakter nach ist das Grundeinkommen im doppelten Sinn universell. Das heißt, nicht nur jeder hat darauf ein Anrecht, sondern jeder in gleicher Höhe, unabhängig von Alter, Vermögen, Erwerbsstatus usw. Die dritte Denotation bezieht sich auf die Invarianz der Höhe im Zeitverlauf. Im Mindesten müsste ein Grundeinkommen dynamisiert werden, um inflationsbereinigt nicht an Wert zu verlieren. Gegenleistungsfreiheit. Das Grundeinkommen beinhaltet keine Pflicht zur Arbeit oder sonstigen Gegenleistung. Damit ist es abzugrenzen von Vorschlägen, die sich nicht selten ebenfalls als „Grundeinkommen“ bezeichnen, aber dieses Einkommen an irgendeine als gesellschaftspolitisch nützlich erachtete Vor-, Gegen- oder Nachleistung koppeln (zum Beispiel ein „participation income“ (Atkinson 1996)). Das Konzept des Partizipationseinkommens, das von der deutschen SPD jüngst unter dem Begriff „Solidarisches Grundeinkommen“ beworben wurde, ist weitgehend deutungsoffen und meiner Quellenkenntnis zufolge von Atkinson nicht weiter spezifiziert worden. Die Schwäche dieses Ansatzes besteht vor allem in der unklaren Grenzziehung: Wann ist der Tatbestand der gesellschaftlichen Nützlichkeit erfüllt? Wer bestimmt hierüber? Wie sieht die Administration eines solchen Konzepts aus (De Wispelaere & Stirton 2007)? Steuerfreiheit. Das Grundeinkommen wird nicht mit anderen Einkünften steuerlich verrechnet. Dieser Punkt wurde bereits in der zweiten Denotation von Universalität weiter oben impliziert, verdient aber eine gesonderte Erwähnung.
2.2 Ein Beispiel
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Werden „Grundeinkommen“ und Markteinkommen verrechnet, sodass der Einkommensmix mindestens dem Absolutbetrag eines Grundeinkommens entspricht, kann von einer Einkommensgarantie oder Grundeinkommensgarantie gesprochen werden („basic income guarantee“). Der bekannteste und meistdiskutierte Fall einer solchen Garantie ist eine Negative Einkommenssteuer (wenngleich umgekehrt nicht jedes Modell einer Negativen Einkommenssteuer eine Grundeinkommensgarantie darstellt). Dabei wird Einkommen unter einem bestimmten Schwellenwert „negativ“ besteuert, das heißt, nicht abgebucht, sondern gutgeschrieben, sodass ein bestimmtes Mindesteinkommen (unabhängig von seiner Zusammensetzung) nicht unterschritten wird. Auf Einkommen, die über der Sprungstelle liegen, werden reguläre, positive Steuern entrichtet. Die Unterscheidung zwischen Grundeinkommen und Grundeinkommensgarantie (bzw. „basic income“ und „basic income guarantee“) ist in der internationalen Debatte Konsens. Im deutschen deskriptiven Sprachgebrauch allerdings werden davon abweichend „universelle Grundeinkommen“ (Sozialdividenden) und „nicht-universelle Grundeinkommen“ (Negativsteuern, Kombilöhne) in irreführender Weise als zwei Ausprägungen derselben Idee gesehen (Seifarth 2015: 10).
2.2
Ein Beispiel
Exemplifizierung. An einem vereinfachten Beispiel soll hier kurz umrissen werden, wie ein Grundeinkommen steuer- und transfertechnisch funktioniert. Nehmen wir einen in jedem Fall bereits heute in Deutschland kostenneutral finanzierbaren Betrag von 6.000 e Grundeinkommen pro Person und Jahr. Darüber hinaus nehmen wir an, dass dieses Grundeinkommen durch eine einheitliche Steuer auf Einkommen in Höhe von genau einem Drittel erhoben wird. Beide Parameter, Höhe und Flat-Tax, sind völlig willkürlich und dienen nur der Illustration. Das Grundeinkommen kann jede beliebige Höhe haben, der Steuersatz ebenfalls, genauso kann es im Prinzip durch jede endogene oder exogene Quelle finanziert werden. Die Tabelle unten zeigt, wie sich unter den angenommenen Bedingungen verschiedene Arten von Einkommen im Belastungsverlauf entwickeln. Das Markteinkommen in der ersten Spalte ist das Einkommen, das jenseits des Grundeinkommens erzielt wird. Es umfasst also alle Einkünfte aus allen Einkunftsarten exklusive Grundeinkommen. Wir gehen im Folgenden davon aus, dass alle Einkunftsarten steuerlich gleichbehandelt werden und alle diese Einkünfte steuerlich auch erfasst werden. Die zweite und dritte Spalte zeigen Grundeinkommen und Steuersatz, die beide für alle Steuersubjekte gleich hoch sind. Die vierte Spalte zeigt die absolute Steuerlast in einem Steuerjahr, die schlicht einem
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2
Das Grundeinkommen
Drittel des Jahresmarkteinkommens entspricht. Die fünfte Spalte zeigt schließlich das Einkommen nach Steuern und Transfers, das dem Markteinkommen mal Steuersatz plus 6.000 e Grundeinkommen entspricht. Dieser Betrag ist das disponible bzw. verfügbare Einkommen einer Person, das sie tatsächlich sparen, investieren oder konsumieren kann. Die beiden wesentlichen Unterschiede zum heutigen System sind, dass jeder ein Einkommen erhält, egal ob er arbeitet oder nicht, und dass jeder, der ein Markteinkommen bezieht, immer mehr verfügbares Einkommen hat, als wenn er nicht arbeitete (Lohnabstandsgebot). Personen, die in der Tabelle oben weniger als 18.000 e Jahresmarkteinkommen verdienen, sind Nettotransferempfänger, weil das Grundeinkommen, das sie erhalten, höher ist, als die absolute Steuerlast, die sie tragen, um ein Grundeinkommen für alle zu finanzieren. Jedes Gehalt darüber bezahlt das Grundeinkommen. Die 18.000 e können deshalb als Nettotransfergrenze bezeichnet werden. Von einer Nettotransfergrenze kann hier aber nur sinnvoll gesprochen werden, wenn die Flat-Tax ausschließlich das Grundeinkommen finanziert und nichts anderes. Die Banalität des Beispiels dient nicht nur der Erklärung. Sie spiegelt auch das Grundverständnis der meisten Befürworter wider, dass Transparenz und Simplizität wichtige Kriterien politischer Legitimität sind, und dass ein Grundeinkommen per se mit einer generellen Vereinfachung und Vereinheitlichung des Steuersystems einhergehen sollte, zumindest in allen Steuerarten, die die Maßnahme finanzieren (Tabelle 2.1). Tabelle 2.1 Belastungsverlauf eines Grundeinkommens Markteinkommen
Grundeinkommen
Steuersatz
Steuerlast
Verfügbares Einkommen
0e
6.000 e
33,33 %
0e
3.000 e
6.000 e
33,33 %
1.000 e
8.000 e
6.000 e
6.000 e
33,33 %
2.000 e
10.000 e
18.000 e
6.000 e
33,33 %
6.000 e
18.000 e
30.000 e
6.000 e
33,33 %
10.000 e
26.000 e
60.000 e
6.000 e
33,33 %
20.000 e
46.000 e
180.000 e
6.000 e
33,33 %
60.000 e
126.000 e
300.000 e
6.000 e
33,33 %
100.000 e
206.000 e
600.000 e
6.000 e
33,33 %
200.000 e
406.000 e
1.800.000 e
6.000 e
33,33 %
600.000 e
1.206.000 e
Quelle: Widerquist, Vanderborght & Noguera (2013: xiii; verändert)
6.000 e
2.3 Geschichte
2.3
15
Geschichte
Agrarian Justice. Thomas Paine schlägt in seinem Pamphlet „Agrarian Justice“ (1797) vor, allen Menschen eine Grundrente zu zahlen: eine einmalige Dotierung zum 21. Geburtstag und eine regelmäßige Rente ab dem 50. Lebensjahr. Diese Zahlungen sollen an keine weiteren Voraussetzungen als die genannten geknüpft werden. Paines Argument fußt auf der Metapher des Naturrechts: Die Institution des Grundbesitzes hat einige Menschen von der Nutzung ihres natürlichen Erbes (der Natur und allen Werten, die daraus abgeleitet werden) ausgeschlossen, wofür sie entschädigt werden müssen. Was Paine hier beschreibt, ist die historisch erste Nennung einer Idee, die nach heutigen Kriterien mit Vorbehalt als Grundeinkommen bezeichnet werden kann. Akademische Phase. Im 20. Jh. taucht der Gedanke, jeden Menschen mit einem Recht auf Einkommen auszustatten, in den industrialisierten Ländern immer wieder auf, ohne dabei jemals im politischen oder akademischen Mainstream anzugelangen. Der Mathematiker, Philosoph und Nobelpreisträger Bertrand Russell (1918: 80) vertritt sie als Versöhnung von Anarchismus (Freiheit) und Sozialismus (Arbeitspflicht): „that a certain small income, sufficient for necessaries, should be secured to all, whether they work or not“. Im selben Jahr publiziert das britische Ehepaar Milner ein „scheme for a state bonus“ (Milner & Milner 1918); eine kurzlebige Idee, die wenig später von Clifford Douglas (Van Trier 1995) als „social credit“ mit großem Erfolg popularisiert wird. Die Forderung der Sozialkredit-Bewegung wird schließlich auch an Universitäten studiert. George D.H. Cole, Inhaber des Chichele-Lehrstuhls in Oxford, schreibt über das Grundeinkommen, das er zunächst als „social dividend“ (Cole 1936: 234–235), später erstmalig als „basic income“ bezeichnet: Der Reichtum der gegenwärtigen Gesellschaft fuße auf einem kulturellen Erbe, das jedem im Allgemeinen gehöre und niemandem im Speziellen als Verdienst zugesprochen werden könne. Daher sei es lediglich eine logische Folge, jeden ohne Bedingungen daran teilhaben zu lassen. Ein anderer Oxford-Ökonom, James Meade, der als Nobelpreisträger weltweiten Einfluss genießt, vertritt die Sozialdividende zeitlebens als zentralen Bestandteil seines wirtschaftspolitischen Forderungskatalogs „Agathotopia“ (Meade 1989; 1995). In den USA erlangt die Idee erst in den 1960er Jahren intellektuelle Aufmerksamkeit und realpolitische Relevanz. 1964 erreicht den damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson das Memorandum „Triple Revolution“ (Ad Hoc Committee on the Triple Revolution 1964), das unter anderem von renommierten Wissenschaftlern wie Robert Theobald, Frances W. Herring, H. Stuart Hughes, Linus Pauling und Gunnar Myrdal signiert wird. Ein
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2
Das Grundeinkommen
Lösungsangebot für eine der drei prognostizierten Revolutionen (die kybernetische Revolution durch Automatisierung) ist dabei ein Grundeinkommen. Bereits zuvor schlägt Milton Friedman (1962) vor, Steuer- und Transfersystem durch eine Negative Einkommenssteuer zu integrieren, ohne die Anspruchsberechtigung von weiteren Kriterien abhängig zu machen, und dadurch das Sammelsurium unterschiedlichster Wohlfahrtsleistungen in einer einzigen zu bündeln. Eine Weiterentwicklung von Friedmans Vorschlag liefern Tobin, Pechman & Mieszkowski (1967) unter dem Titel „demogrant“. 1968 unterzeichnen über eintausend Ökonomen eine Petition, darunter James Tobin, Paul Samuelson und John Kenneth Galbraith, die stark in Richtung Universalisierung von Sozialleistungen zielt. Daraus wird auf Betreiben Präsident Nixons ein „family assistance plan“ entwickelt, der das Repräsentantenhaus passiert, jedoch am Senat scheitert. 1972 nimmt Präsidentschaftskandidat George McGovern Tobins Version einer Negativen Einkommenssteuer („demogrant“) in sein Wahlprogramm auf, scheitert aber gegen Nixon. Danach wird es ein Jahrzehnt lang still um die Idee. Politische Phase. Erst in den 1980er Jahren erhält die Idee durch die wieder aufgegriffene Hypothese einer kybernetischen Revolution einerseits und dem Aufkeimen der grünen Bewegung andererseits neue Geltung. Der deskriptive Sprachgebrauch wird zunehmend auf die heute gültige Definition hin zugeschnitten, vor allem durch das Mainstreaming des Weltverbandes BIEN, der 1984 als „Collectif Charles Fourier“ gegründet wird. Das Grundeinkommen wird nun vor allem als Alternative zu Vollbeschäftigung und lohnzentrierten Sozialsystemen interpretiert, ohne auf diese Deutung beschränkt zu bleiben. Auf dem Bamberger Soziologenkongress wird eine „Krise der Arbeitsgesellschaft“ als Gegenwartsdiagnose hypostatiert (Deutsche Gesellschaft für Soziologie & Matthes 1983): Das Arbeitsvolumen sinkt, Arbeit verliert daher ihre normative Wertbindung, soziale Sicherung muss folglich zunehmend vom Einkommen entkoppelt werden.
2.4
Argumente
Für ein Grundeinkommen. (1) Ein Grundeinkommen macht Sozialpolitik transparenter (De Wispelaere 2015: 70; Wehner 2018: 13–15). Ein Grundeinkommen ist denkbar simpel, indem es aus einer einzigen Zahlung besteht und im Prinzip jede weitere staatliche Transferleistung überflüssig machen kann. Neben dieser Transparenz der Ausgabenseite gibt es auch noch eine Transparenz der Einnahmenseite, die im Kern in der Finanzierung der Maßnahme besteht. Dazu gehört in erster Linie eine transparente Ausweisung von Leistungserbringung und Inanspruchnahme: Wer zahlt wie viel in den Topf und ein und wieviel nimmt er
2.4 Argumente
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wieder heraus? Transparenz dient nicht nur der politischen Legitimität qua Nachvollziehbarkeit und Simplizität, die rein technokratisch begründet ist, sondern darüber hinaus und weit grundlegender der republikanischen Selbstdefinition: Man ist Bürger unter anderem deshalb, weil man ein Bürgergeld erhält. (2) Ein Grundeinkommen bedarf keiner Politik der Vollbeschäftigung, weil es, ausreichend Arbeitsnachfrage vorausgesetzt, unfreiwillige Arbeitslosigkeit eliminiert, also ohnehin beschäftigungsfreundlich ist. Ein Grundeinkommen realisiert das Lohnabstandsgebot, sodass sich auch Niedrig- und Niedrigstlöhne lohnen können. Abgesehen von der Regelung begründeter Sonderbedarfe macht ein Grundeinkommen alle politischen Eingriffe in den Arbeitsmarkt überflüssig. Heute werden Arbeitsplätze politisch geschützt, als seien sie ein Zweck an sich. Dadurch wird Rationalisierung künstlich verlangsamt und gesellschaftlicher Wohlstand geopfert. Das eigentliche Problem, die Geldlosigkeit, wird dabei mit einem scheinbaren, rein symptomatischen Problem, der Arbeitslosigkeit, verwechselt. (3) Durch die zunehmende Rationalisierung der Wirtschaft, insbesondere durch technologischen Fortschritt, wird menschliche Arbeit erstens immer weniger notwendig, und zweitens im Verhältnis zum Produktionsfaktor Kapital immer teurer. (4) Das Grundeinkommen befreit Sozialpolitik von ihrer stigmatisierenden Wirkung auf den Empfänger, da es an keine Voraussetzungen geknüpft ist. Gegenwärtig sind Transferbezüge defizitorientiert und deshalb ausgesprochen schambehaftet. Denn Sozialtransfers setzen dem Kausalitätsprinzip gemäß erst dann ein, wenn ein (schambehafteter) Grund vorliegt, der eine Bedürftigkeit anzeigt. Gegen ein Grundeinkommen. (1) Ein Grundeinkommen erfordert keine Gegenleistung. Wer glaubt, dass die makroskopische Wirkung vollkommen freiwilliger Arbeitsmarktentscheidungen die ökonomische Basis des Grundeinkommens schmälert, muss gegen ein Grundeinkommen sein. (2) Ein Grundeinkommen setzt keine Bedürftigkeit voraus. Wer glaubt, Grundsicherung verfolgt primär das Ziel der Armutsvermeidung, muss gegen ein Grundeinkommen sein, weil zielgruppenspezifische Lösungen hier effektiver und effizienter sind. (3) Wenn das Markteinkommen nicht mehr die soziale Funktion der Existenzsicherung hat, sondern das Grundeinkommen diese übernimmt, werden Arbeitgeber die Löhne voraussichtlich um den Betrag des Grundeinkommens kürzen. Dadurch vergrößert sich vor allem der Niedriglohnsektor, jedenfalls gemessen am Markteinkommen, aber nicht notwendigerweise gemessen am disponiblen Einkommen. (4) Wenn der Sozialstaat auf ein Grundeinkommen reduziert wird, gibt es nichts mehr, das den bisher erreichten Status sichert. Wer seine Arbeit verliert, ist auf eine geringe Summe verwiesen, ohne weitere Ansprüche geltend machen zu können.
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2
Das Grundeinkommen
Ist ein Grundeinkommen notwendig? Die Debatte um die Zukunft der Arbeit sowie die wieder aufgegriffene These von technologischer Arbeitslosigkeit (Keynes 1930: 321–322) haben die Idee des Grundeinkommens in ein neues Licht gerückt. Sowohl Befürworter als auch Gegner der Idee messen der These eine besondere Bedeutung in der Argumentation bei. So behaupten einige, ein Grundeinkommen sei ohne Alternative, weil in Zukunft nicht mehr ausreichend Arbeit existieren würde, um die soziale Existenz flächendeckend über den individuellen Arbeitsvertrag zu regeln. Umgekehrt erwidern Skeptiker, gebe es nicht die geringste Notwendigkeit überhaupt über ein Grundeinkommen nachzudenken, weil das vermeintliche Ende der Arbeit ein Trugschluss sei. Was beide Standpunkte gemeinsam haben, ist, die Sachangemessenheit der Idee argumentativ an die Entwicklung des Arbeitsmarkts zu koppeln. Ich werde im Folgenden auf beide Standpunkte eingehen. Starke Notwendigkeit. Beginnen wir mit dem ersten Standpunkt. (1) Soziale Sicherheit ist heute wie früher unmittelbar an die Teilnahme am Erwerbsmarkt gebunden. Viele Beobachter sehen aber die steuerrechtlich üblichen und ökonomisch existenzsichernden Formen von Erwerbsarbeit („Normalarbeit“) durch technologischen Fortschritt gefährdet (Brynjolfsson & McAfee 2014; Frey & Osborne 2014). Wenn ökonomische Sicherheit qua Arbeit nicht mehr wie bisher möglich sein wird, so argumentieren einige Befürworter, muss die politische Antwort darauf die partielle Entkopplung von Einkommen und Arbeit sein (Bregman 2016: Kap. 4; Mason 2015: 284–286; Reed & Lansley 2016; Reich 2015: 22–23; Srnicek & Williams 2015; Stern 2016: Kap. 3; Walker 2016: Kap. 5). Dieser Schluss, falls er denn richtig ist, gebietet aber nur die Entkopplung von Einkommenssockel und Erwerbsarbeit. Das Grundeinkommen ist aber radikaler als dies, insofern es die Entkopplung von jedweder Leistungspflicht beinhaltet. Wer die These einer technologischen Arbeitslosigkeit vertritt, hat damit also, falls überhaupt eines, dann jedenfalls kein starkes Argument für ein Grundeinkommen, sondern lediglich für eine Klasse von Ideen sozialer Sicherung, deren gemeinsamer Nenner die Lösung von Erwerbsarbeit als einzigem oder vorrangigem Grund für soziale Sicherheit ist. Ein Entwurf unter mehreren, der unter diese Klasse fällt, ist ein Grundeinkommen. Denkbar ist aber auch, die sozialrechtliche Kausalität auf andere Formen der Arbeit zu generalisieren, staatliche Arbeitsbeschaffung, die Abschaffung von Sanktionen oder schlicht die Auflösung des Sozialstaats. All diese ansonsten widersprüchlichen Gedanken fallen unter dem hier genannten Aspekt unter denselben Terminus. (2) Von einer empirischen Tatsache (technologische Arbeitslosigkeit), falls sie denn eine ist, auf eine normative Idee zu schließen, verletzt ohnehin die Regeln der Logik, weil hierdurch ein naturalistischer Fehlschluss begangen wird („no ough from an is“). Wer auf ein
2.4 Argumente
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notwendiges Grundeinkommen schließt, hat entweder mindestens eine normative Prämisse gebraucht oder gar nicht geschlussfolgert, sondern lediglich deklariert. Eine solche normative Prämisse könnte zum Beispiel lauten: Der Staat soll die Autonomie der Bürger respektieren und keine bestimmten Lebensentwürfe, auch nicht Erwerbsarbeit, vorschreiben. Betrachtet man die Prämisse, erkennt man, dass es der eingangs erwähnten empirischen Annahme (technologische Arbeitslosigkeit) zum Zweck des Schlusses überhaupt nicht bedarf. Die Frage nach dem Grundeinkommen stellt sich idealtheoretisch und losgelöst von empirischen Tatsachen. Eine Verringerung der Arbeitsnachfrage könnte allenfalls als Argument dafür dienen, dass man ein Grundeinkommen einführen sollte, keineswegs dafür, dass man dies müsste. Die Produktivität der heutigen Wirtschaft erklärt allenfalls, dass man ein Grundeinkommen einführen könnte, nicht dass man dies müsste. Es gibt also nicht die geringste Notwendigkeit, ein Grundeinkommen einzuführen, genauso wenig besteht die Notwendigkeit, eine beliebige andere Form von sozialer Sicherheit ein- oder weiterzuführen. Schwache Notwendigkeit. Die These von technologischer Arbeitslosigkeit lautet auch unter Befürwortern des Grundeinkommens allenfalls in überspitzter, nirgendwo ernsthaft vertretener Fassung, dass menschliche Arbeit durch technologischen Fortschritt überflüssig und vollständig ersetzt würde. Die Konsensmeinung ist indes, dass menschliche Arbeit in immer geringerem Umfang imstande sein wird, individuelle Existenzen unmittelbar abzusichern, weil zum historisch ersten Mal in der Bilanz mehr Jobs vernichtet als neue erschaffen würden (Brynjolfsson & McAfee 2014). Die Unmittelbarkeit im letzten Satz ist hervorzuheben: Auch ein Grundeinkommen kann und will am mittelbaren und makroskopischen Zusammenhang von Arbeit und Einkommen nichts ändern. Einkommen beruht immer auf Arbeit. Was ein Grundeinkommen entkoppelt, ist nicht Arbeit und Einkommen, sondern partiell Arbeit und Anspruch auf Einkommen. Die Frage, auf die die These hinausläuft, ist: Wenn in Zukunft die Roboter die Arbeit erledigen, was sollen dann die Menschen noch essen? Worum es also geht, ist die Frage, ob menschliche Arbeit nicht von ihrem Pflichtcharakter befreit werden müsse, damit alle Bürger ein auskömmliches Leben führen können. Die Finalität im vorangegangenen Satz („auskömmliches Leben“) macht klar, dass es an dieser Stelle nicht um eine Notwendigkeit geht, die sich alleine aus der etwaigen technologischen Arbeitslosigkeit ergäbe, sondern an eine normative Prämisse gebunden ist: die Erhaltung der gleichen Lebensbedingungen wie heute oder sogar ihre Verbesserung. Ist hier von Notwendigkeit die Rede, dann allenfalls im schwachen Sinn einer normativen Notwendigkeit. Einen Sachzwang zum Grundeinkommen kann es selbstverständlich niemals geben. Die relevante Frage,
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Das Grundeinkommen
auf die die These verweist, lautet demnach angepasst: Wenn in Zukunft die Roboter die Arbeit erledigen, wie können dann Menschen immer noch genauso gut leben wie heute, wo sie doch morgen keine Arbeit mehr haben, aber heute ihr Geld nur über Arbeit beziehen können? Plausibilitätsargumente. Eine Reihe von intuitiv einleuchtenden, aber nichtkonklusiven Argumenten sprechen für eine „schwache“ Notwendigkeit eines Grundeinkommens (in Anlehnung an Straubhaar 2017: 35–83). (1) Das erste solche Argument lautet, dass ein Grundeinkommen adäquater auf die demographische Struktur aktueller Gesellschaften reagiert als der erwerbszentrierte Status quo. Alterung im gesellschaftlichen Maßstab bedeutet, dass immer mehr Menschen sozialpolitische Ansprüche stellen, was die Sozialsysteme zunehmend unter Druck geraten lässt. Als Bismarck 1889 die Invaliditäts- und Altersversicherung verabschiedete, erlebte nur jeder fünfte den eigenen Renteneintritt, heute fast jeder. Was einst die statistische Ausnahme war und als soziales Risiko galt, ist heute die erwartbare soziale Normalität. Durch die Versicherung von Normalitäten anstatt von Ausnahmen erhöht sich die Finanzierungslast der Sozialsysteme. Besonders evident wird dies bei Distributionen, die direkt an die Erwerbspersonenquote gekoppelt sind. Die Umlagefinanzierung der Rente zum Beispiel belastet eine sinkende Zahl von Erwerbspersonen, um eine monoton steigende Zahl von Rentnern zu versorgen. Diesem ohnehin asymmetrischen Verhältnis steht keine Kompensationserwartung gegenüber, da die künftige Erwerbskohorte noch kleiner sein wird, also die jetzige Kohorte eine geringere Umlage erwartet, als sie sie selbst zurzeit erbringen muss. Ein so gestalteter Generationenvertrag steht und fällt mit der demographischen Struktur einer Gesellschaft, sodass Alterung als gesellschaftspolitisches Dilemma erscheint. Bewältigen könnte man dieses Dilemma durch die Verringerung des Rentenniveaus, eine Erhöhung des Beitrags, eine verlängerte Lebensarbeitszeit oder mehr Arbeitsimmigration (ebd.: 42–50). Tatsächlich auflösen könnte man es nur durch die Entkopplung des individuellen Leistungsanspruchs vom individuellen Beitrag. (2) Das zweite Argument lautet, dass ein Grundeinkommen adäquater auf Arbeitsmarkttrends reagiert als der erwerbszentrierte Status quo. Durch die Digitalisierung verringert sich die Nachfrage nach standardisierbarer, arbeitsintensiver, repetitiver Tätigkeit, mitunter auch nach zunehmend komplexen Arbeitsschritten, die bislang menschlicher Intelligenz und Kreativität bedurften. Auch wenn es kein Ende der Erwerbsarbeit geben wird, ist ein plausibles Szenario eine strukturelle Verschiebung: Menschliche Arbeit wird sich zunehmend auf Tätigkeiten mit hoher Qualifikation beschränken, stärker auf innovativen, kreativen und empathischen Skills beruhen, und zumindest in den heutigen Berufen insgesamt weniger nachgefragt werden.
2.4 Argumente
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Die Nachfrage nach menschlicher Arbeit wird deswegen sinken, weil die Arbeitsproduktivität monoton steigt. Je effizienter ein Job oder eine bestimmte Tätigkeit darin rationalisiert werden kann, desto teurer wird, certeris paribus, der Produktionsfaktor Arbeit relativ zu Kapital. Ein Grundeinkommen interveniert hier zwar nicht ursächlich, stellt aber einen Gesellschaftsvertrag dar, dessen Inklusionsmedium (Bürgerstatus) im Gegensatz zum gegenwärtigen (Erwerbsarbeit) nicht gefährdet ist. Dies ermöglicht eine Flexibilisierung von Arbeit. Alle Tätigkeiten erschienen dann prinzipiell anerkennenswert, neben Erwerbsarbeit wären Phasen der Qualifizierung, Umschulung oder Auszeit legitime Optionen. Ein Grundeinkommen abstrahiert nicht von einem Normalarbeitsverhältnis, das keines mehr ist, sondern von gebrochenen, flexiblen, diskontinuierlichen Erwerbsbiografien, die immer mehr zur statistischen Regel werden. (3) Das dritte Argument lautet, dass ein Grundeinkommen adäquater auf die Pluralität von Lebensstilen antwortet als der erwerbszentrierte Status quo. Lebensformen, -phasen und -partnerschaften werden stetig diverser, die Gesellschaft insgesamt immer individueller. Dazu passt ein Sozialstaat, der Individualität, Diversität und Differenz Rechnung trägt und keine Mehrheitsgesellschaft postuliert. Ein Grundeinkommen wird deshalb nicht an Familien, Haushalte oder Bedarfsgemeinschaften gezahlt, sondern an die einzelne Person. Auch Geschlecht, Alter, Familienstand und Arbeitsmarktverhalten werden davon als moralisch irrelevant behandelt, weil eine Wertbindung an bestimmte dieser Attribute oder bestimmte Ausprägungen davon, falls überhaupt, dann nur aufgrund ihrer sozialen Normalität zu rechtfertigen wäre. Aber was, wenn der Einzelfall normal wird? „Luddite Fallacy“. Nun zur zweiten These, dem Einwand, dass Produktivitätswachstum niemals zu Arbeitslosigkeit führt und daher ein Grundeinkommen obsolet ist („luddite fallacy“). Wie bereits herausgestellt, geht es hier nur um eine schwache, rein normative Form der Notwendigkeit. Das impliziert, dass selbst, wenn die „luddite fallacy“ korrekt ist und es niemals ein Ende der Arbeit geben wird, damit noch kein Argument gegen ein Grundeinkommen vorliegt. Wer sagt, dass ein Grundeinkommen obsolet sei, weil es kein Ende der Arbeit geben werde, konstruiert einen argumentativen Strohmann; ein Argument, das sich gegen einen Standpunkt richtet, der überhaupt nicht existiert, der jedenfalls nicht universell geteilt, sondern der widerstreitenden Partei einfach zugeschoben wird. Tatsache ist, dass historisch immer wieder die These von technologischer Arbeitslosigkeit als Evidenz bemüht wurde, um in irgendeiner Weise die Entkopplung von Einkommen und Arbeit zu begründen (Douglas 1924; Theobald 1963), in der Regel jedoch nicht in der Form, die der hier gebrauchten Arbeitsdefinition von Grundeinkommen entspricht. Tatsache ist auch, dass die These sich nie bewahrheitet hat, jedenfalls nicht makroskopisch und langfristig. Die
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Das Grundeinkommen
neuere und neuste Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass steigende Arbeitsproduktivität (Wert der volkswirtschaftlichen Güter und Dienste im Verhältnis zu den dafür investierten Arbeitsstunden) zwar kurzfristig Arbeitslosigkeit induziert, aber langfristig mindestens kompensiert. Alter, zerstörter Arbeit stand stets neue, durch die Zerstörung erst ermöglichte Arbeit gegenüber. Ökonomen stellen aber nicht nur wirtschaftshistorisch fest, dass ein Ende der Arbeit bislang nie eingetreten ist, sondern liefern auch kausale Argumente dafür, warum das so gewesen ist, warum also innovationsgetriebene Arbeitslosigkeit durch neue Arbeitsplätze kompensiert wird. Die Gesamtheit der Argumente, die zum Schluss führen, dass technologischer Fortschritt nicht zu technologischer Arbeitslosigkeit führt, sondern durch positive Beschäftigungseffekte aufgefangen wird, kann als Kompensationsthese bezeichnet werden. Konsens unter Ökonomen ist diesbezüglich, dass die unmittelbare Wirkung von technologischem Fortschritt definitionsgemäß immer Arbeitslosigkeit ist (Vivarelli 2012: 3). Denn es bedeutet, dass eine selbe Menge Output mit einer geringeren Einheit Input hergestellt werden kann. Es ist also entweder Kapital oder Arbeit oder beides gespart worden. Die mittelbare Wirkung ist aber viel komplexer, weil es mehrere Faktoren gibt, die die kurzfristig induzierte Arbeitslosigkeit langfristig aufheben können (ebd.: 5–7): 1. Kompensation über zusätzliche Beschäftigung auf dem Investitionsgütersektor: Dieselben Prozessinnovationen, die Arbeitskräfte in der arbeitsintensiven Produktion überflüssig gemacht haben, schaffen neue Jobs in der Produktion neuer Maschinen für die kapitalintensive Produktion. 2. Kompensation über sinkende Preise: Da Prozessinnovationen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität führen, können Güter zu geringeren Stück- oder Grenzkosten hergestellt werden, wodurch diese Güter kostengünstiger auf dem Verbrauchermarkt angeboten werden können. Das regt die Nachfrage an, weil nun auch Individuen mit geringerer Kaufkraft das Gut erwerben können oder Verbraucher mit gleicher Kaufkraft das Gut häufiger oder zahlreicher erwerben können. Das erhöht komplementär das Angebot, das notwendig ist, um die so neu entstandene Nachfrage zu befriedigen. Das bedeutet übersetzt: Neue Arbeitsplätze sind entstanden. 3. Kompensation über neue Investments: Die Investierung von Produktivitätsgewinnen infolge von technologischem Fortschritt führt zu neuen Jobs. 4. Kompensation über sinkende Löhne: Wenn Löhne gedrückt werden, erhöht sich dadurch die Arbeitsnachfrage, gesetzt, Arbeit und Kapital sind, wie es die neoklassische Theorie vorsieht, gegenseitig austauschbar.
2.4 Argumente
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5. Kompensation über steigende Löhne: Wenn die Produktivitätsgewinne dafür genutzt werden, die Löhne zu erhöhen, erhöht das die Kaufkraft und den Konsum. Der so erzeugten Nachfrage folgen neue Arbeitsplätze als Angebot. 6. Kompensation über neue Produkte: Nicht jeder technologische Fortschritt beruht auf der Produktivitätssteigerung über die Innovation des Produktionsprozesses. Eine ganz andere Art des Fortschritts ist die Innovation von Produkten, also die Einführung eines Guts oder einer Leistung, das oder die es so noch nicht gegeben hat. So entstehen neue Jobs, Berufe und ganze Branchen. Grundeinkommen als Wertefrage. Ohne an dieser Stelle eine eindeutige oder gar eine endgültige Stellung zu beziehen, muss festgehalten werden, dass die Befürworter des Grundeinkommens sich nicht auf ein Argument über die Notwendigkeit festlegen sollten. Erstens, weil die These vom „Ende der Arbeit“ keine historische Evidenz besitzt („luddite fallacy“). Zweitens, weil die Gegenbehauptung (Kompensationsthese) eine unleugbare historische Evidenz besitzt. Drittens, weil die Primärdaten, die die „luddite fallacy“ angeblich stützen, nicht wissenschaftlich fundiert sind. Nehmen wir als Beispiel die meistzitierte jüngere Publikation zur Schätzung von bedrohten Arbeitsplätzen in den USA (Frey & Osborne 2013). Die Studie wird fast immer als Prognose zitiert, liefert aber überhaupt keinen Zeithorizont für ihre Aussagen. Was sie tut, ist, die Computerisierbarkeit von Jobs auf Grundlage von Jobeigenschaften zu quantifizieren. Je genuin menschlicher eine Tätigkeit, desto schlechter kann sie maschinell ersetzt werden. Es geht also darum, welche Tätigkeiten grundsätzlich mit heute bestehenden Mitteln automatisiert werden könnten. Die so gewonnenen Zahlen geben also einen „Machbarkeitshorizont“ wieder und sind darüber hinaus einseitig formuliert: Auf die kompensatorischen Effekte von Computerisierung wird nicht eingegangen, also neu entstehende Jobs nicht gegengerechnet. Zudem kann die Studie als undifferenziert betrachtet werden. Sie weist der Automatisierbarkeit von Jobs einen Wahrscheinlichkeitswert zu, ohne die interne Heterogenität der darin ausgeübten Tätigkeiten zu berücksichtigen. Arntz, Gregory & Zierahn (2016) zeigen, dass mit differenzierter Datengrundlage die Prognosen von 38 % auf 9 % sinken. Ein Grundeinkommen argumentativ an die Arbeitsmarktentwicklung zu koppeln, ist jedenfalls in mehrfacher Hinsicht inkonsistent. Ich schlage vor, die Debatte grundsätzlicher zu führen. Die Frage nach einem Grundeinkommen stellt sich geeigneter als Wertefrage.
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2.5
2
Das Grundeinkommen
Sozialstaat und Grundeinkommen
Sozialstaatspostulat. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesund Rechtsstaat (GG, 20, 1; GG, 28, 1). Dieses grundgesetzliche Postulat verpflichtet die Staatsgewalten, eine Ordnung zu errichten und zu erhalten, die politisch festzulegenden sozialen Standards genügt. Dazu gehört insbesondere die Sicherung des Lebensstandards der Bevölkerung (Einkommenssicherung). Der in diesem Zusammenhang häufig bemühte Ausdruck des Sozialstaatspostulats ist irreführend, insofern er die Gebotenheit eines Sozialstaats suggeriert, wohingegen expressis verbis lediglich von einem „sozialen Staat“ die Rede ist. Geboten ist demnach nur, dass der Staat die soziale Funktion gewährleistet, ob sie durch ihn selbst oder durch Dritte erbracht wird, spielt keine Rolle. Da er Leistungen gegenwärtig hauptsächlich nach dem Kausalitätsprinzip bereitstellt, ist ebenfalls denkmöglich, dass er überhaupt keine Leistungen vergeben muss, wenn nämlich entweder keine Bedarfe bestehen oder keine bestehenden Bedarfe geltend gemacht werden. Auch in diesen Fällen würde das Sozialstaatspostulat de jure gewahrt. Systemprinzipien. Die Sicherung des sozioökonomischen Lebensstandards des Einzelnen folgt ordnungspolitisch den Leitideen der sozialen Marktwirtschaft, die insbesondere die Nachrangigkeit von Sozialpolitik gegenüber der primären Einkommens- und Vermögensbildung festlegt, sowie im engeren Sinne sozialpolitisch den Systemprinzipien der Fürsorge, der Versorgung und der Versicherung (Boeckh, Huster & Benz 2011: 151–153; Opielka 2007: 3; Weeber 1990: 5; abweichend Dietz, Frevel & Toens 2015: 73–77). (1) Fürsorge ist ein armutspolitisches Instrument und bezieht sich auf die Sozialleistungen im Falle von individuell nachweisbarer Bedürftigkeit. Der Leistungsanspruch ist dabei streng an eine Gegenleistung in Form von Erwerbsarbeit oder von Arbeit auf dem staatlichen, sekundären Arbeitsmarkt bzw. der Bereitschaft dazu gebunden (SGB II; SGB XII). (2) Versorgung bezeichnet eine vorleistungsunabhängige Entschädigung für besondere dem Staat oder der Allgemeinheit gegenüber erbrachte Opfer (Kriegsopfer gem. BVG, 1, 1) oder Leistungen (Beamtentum, Elternschaft). (3) Versicherung umfasst die beitrags- bzw. umlagefinanzierten Systeme zum Schutz vor den klassischen biographischen Risiken (Armut, Arbeitslosigkeit, Alter). Die Leistung soll dabei in einem möglichst äquivalenten Verhältnis zur Beitragssumme stehen, die sich in der Regel aus dem Lohn ableitet (Rente, Krankengeld, Arbeitslosengeld). Bei der Rentenversicherung beispielsweise ergeben sich Umfang und Qualität der Sicherheit (des Anrechts) aus der individuellen und eigenverantwortlichen Vorleistung. Diese Vorleistung steht in einem proportionalen Verhältnis zu Risiko, Dauer und Höhe der Eigenbeiträge (Dietz, Frevel &
2.5 Sozialstaat und Grundeinkommen
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Toens 2015: 73). Vielen staatlichen Versicherungen ist durch sogenannte „funktionale Äquivalenzen“ (Jochem 2009: 21) ein Solidarprinzip eingebaut, das besagt, dass ungeachtet des Proportionalitätsgebots Leistungen auch normiert (Unfallund Arbeitslosenversicherung) oder bedarfsorientiert (Krankenversicherung) vergeben werden dürfen oder beides zugleich (Pflegeversicherung) (Dietz, Frevel & Toens 2015: 73). Viele sozialpolitische Instrumente sind keinem der genannten Prinzipien eindeutig zuordenbar (Butterwegge 2012: 28) oder gleich mehreren, weswegen die Einteilung als idealtypisch gelten muss. Das wird auch mit Blick auf ein Grundeinkommen erkennbar. Eine Fürsorgeleistung wäre es dann, wenn es als armutspolitisches Instrument verstanden und ausgestaltet würde, zum Beispiel indem es lediglich als Substitut für heutige armutspolitische Instrumente eingeführt würde oder sich streng an der Armutsgrenze ausrichtete. Eine Versorgungsleistung wäre es, wenn es als gesellschaftspolitisches Instrument (Bürgereinkommen, Sozialdividende) konzipiert würde, das nicht oder nicht nur Armut verhindern, sondern insbesondere Teilhabe sichern und demokratiebildend wirken sollte. Eine Versicherungsleistung wäre es schließlich, wenn es nicht über allgemeine Mittel aufgebracht würde, sondern über irgendeine Form von Sozialbeiträgen. Mischformen sind ebenfalls denkbar, da sich die Kategorien weder gegenseitig ausschließen noch trennscharf voneinander abgrenzen lassen (Tabelle 2.2). Tabelle 2.2 Versicherung, Versorgung und Fürsorge im Sozialstaat Versicherung
Versorgung
Fürsorge
Erwerb des Rechtsanspruchs
Erwerbsarbeit und daran gekoppelte Beitragsleistung
Dienst für die Gesellschaft
Bedürftigkeit
Leistungsumfang und Ausgestaltung
Lohnersatz- bzw. Sach- und/oder Dienstleistung
Lohnersatz- bzw. Sach- und/oder Dienstleistung
Einzelfallbezogene Hilfen mit Leistungspauschalen
Finanzierung
Beitragsmittel (z. T. ergänzt durch steuerliche Mittel [Bundeszuschuss] bzw. private Zuzahlungen)
Steuermittel
Steuermittel
Quelle: Boeckh, Huster & Benz (2011: 153; verändert)
Solidarität, Individualität, Subsidiarität. Das Fundamentalziel von Einkommenssicherung in der deutschen sozialen Marktwirtschaft ist die Herstellung
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Das Grundeinkommen
sozialer Sicherheit, die idealtypisch über ein ausbalanciertes Verhältnis von Eigenund Kollektivverantwortung erreicht wird. Die Kollektivverantwortung drückt sich dabei in der Solidaritätsnorm aus, die Eigenverantwortung in der Individualitätsnorm. Das Verhältnis beider zueinander wird durch das Subsidiaritätsprinzip bestimmt. Danach gelten alle eigenverantwortlichen (individuellen) Bemühungen als vorrangig und alle staatlichen (solidarischen) Leistungen als nachrangig. Die zweiten greifen kompensatorisch erst dort, wo die ersten nicht hinreichen. Im engeren Sinne bedeutet Eigenverantwortung, dass der Einzelne „seinen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen (…) durch Vermögen oder durch den Einsatz seiner Arbeitskraft decken [muss]“ (Becker 2010: 618). Diese Interpretation von Subsidiarität dominiert den aktuellen Sozialstaatsdiskurs bei Weitem und hat ihren Anfang in der katholischen Soziallehre. In der päpstlichen „Enzyklika Quadragesimo anno“ heißt es, dass dem Einzelmenschen das, was er aus eigener Initiative und Kraft leisten kann, „nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf“ (Pius XI 1931: No. 79). Neben dieser hoheitlichen Deutung kann Subsidiarität ebenfalls als kontinuierliche Befähigung des Einzelnen verstanden werden (Schramm 2007: 212–213). Diesem (und nur diesem) Grundsatz folgend kann auch ein Grundeinkommen als kompatibel mit bzw. anschlussfähig an die soziale Marktwirtschaft gelten: „Die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger, der Sozialstaat, tritt mit dem Bürgergeld in Vorleistung für alle ihre Mitglieder“ (Opielka & Strengmann-Kuhn 2007: 40). Grundsicherung. Ein Grundeinkommen hat den Zweck, mindestens aber die Funktion einer sozialen Grundsicherung. Daraus erwächst die Notwendigkeit, es in einen Sinnzusammenhang mit dem Status quo der Grundsicherung in Deutschland zu stellen. Es besteht keine einheitliche Terminologie für das hier angesprochene Konzept. Häufig anzutreffende, jedoch meist nicht genauer spezifizierte oder gegeneinander abgegrenzte Ausdrücke sind „Grundsicherung“ (SGB II), „Mindestsicherung“ (Klanberg & Prinz 1988; Liebig & Mau 2002; Neumann 2016; Rohwer 1992), „Existenzsicherung“ (Hinrichs 2008), „soziale Sicherheit“ (Segbers 2016) oder „soziale Sicherung“ (Kaiser 2018). Diese Liste ist nicht erschöpfend, aber hinreichend extensiv. Dabei können drei Abstraktionsebenen unterschieden werden, wobei jede die ihr vorausgehende spezifiziert: 1. Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, soziale Existenz oder Einkommenssicherung markieren das höchste Abstraktionsniveau und bezeichnen das theoretische Konzept als Gattungsbegriff. 2. Grundsicherung bzw. Mindestsicherung ist ein mögliches Instrument sozialer Sicherheit, meist im Rahmen des Fürsorgeprinzips.
2.5 Sozialstaat und Grundeinkommen
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3. Ein Grundsicherungs- oder Mindestsicherungsmodell spezifiziert die genauen Parameter, mittels derer das Fürsorgeprinzip zur Anwendung gebracht wird. Es konkretisiert dabei mindestens Geltungsbereich (wer, wann, wie), Kausalität (aus welchem Grund) und/oder Finalität (wozu). Zielsetzung und Rechtsgrundlagen. Mindestsicherung hat zum Ziel, Armut zu vermeiden und die Würde des Menschen zu wahren. Dies geschieht, indem der monetäre Betrag, der dem rechtskräftigen soziokulturellen Existenzminimum entspricht, für jeden Bürger dem Grunde nach bereitgestellt wird. „Dem Grunde nach“ bedeutet gemäß dem juristischen Kausalitätsprinzip, dass ein Grund vorliegt, der die Bedürftigkeit je individualisiert anzeigt. Das soziokulturelle Existenzminimum entspricht prinzipiell der relativen Armutsgrenze bzw. der relativen Armutsgefährdungsgrenze. Diese geht (zum Teil deutlich) über das physische Existenzminimum, also das zum Überleben Notwendige, hinaus, und sichert die Teilhabe des Einzelnen an dem in seiner Gesellschaft üblichen Lebensstil. Trotz der statistischen Ermittlung über eine relative Maßzahl gilt das soziokulturelle Existenzminimum absolut, und zwar in dem Sinne, dass es in keinem Einzelfall unterschritten werden darf, auch wenn dadurch andere rechtliche Gebote wie etwa das Lohnabstandsgebot verletzt werden müssen. Die gegenwärtige einkommens- und vermögensabhängige Mindestsicherung bemisst steuerlich nicht Individuen, sondern Bedarfsgemeinschaften und setzt sich aus mehreren Leistungen aus den Sozialgesetzbüchern I–IX und XII zusammen: Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialgeld für Familienangehörige, Sozialhilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung bei Alter und Erwerbsminderung, Behindertenund Kriegsopferfürsorge, der darlehensfreie Teil der Ausbildungsförderung sowie Asylbewerberleistungen. Außerhalb der explizit ausgewiesenen Sozialgesetzgebung gibt es zahlreiche weitere Mechanismen, die faktisch ebenfalls die Funktion einer Mindestsicherung erfüllen (Freibeträge im Einkommenssteuerrecht, Pfändungsschutz usw.). Abgesehen von der Ausbildungsförderung gelten für die oben genannten Leistungen folgende Kriterien (Hauser 2012: 208): 1. Anspruchsberechtigt sind alle Bürger mit rechtmäßigem Wohnsitz im Inland, deren Einkommen das soziokulturelle Existenzminimum unterschreitet und die kein Vermögen jenseits der gesetzlichen Schongrenze besitzen. 2. Bedarf und (daraus folgend) Bedürftigkeit werden auf Ebene der Bedarfsgemeinschaft ermittelt. 3. Nettoeinkommen und schonfreies Vermögen werden voll angerechnet, wobei es geringe pauschalierte und einkommensabhängige Freibeträge gibt. 4. Alle Leistungen sind nachrangig gegenüber allen anderen Einkunftsarten.
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Das Grundeinkommen
5. Die Mindestsicherung wird steuerfinanziert. Probleme des Sozialstaats. (1) Der demographische Wandel wirkt als Rückkopplung auf die sozialen Systeme. Die Kernmerkmale dieses Wandels sind ein stagnierendes oder rückläufiges natürliches Bevölkerungswachstum und, dadurch bedingt, ein monoton steigendes Durchschnittsalter der Bevölkerung. Arbeitsmarktpolitisch bedeutet dies ein insgesamt älter werdendes und schrumpfendes Potenzial an Erwerbskräften. Im sozialpolitischen Kontext im engeren Sinne bedeutet dies, dass weniger distributionsfähiges Kapital erwirtschaftet wird. Denn wenn die absolute Zahl der Erwerbstätigen sinkt, steigt deren relative Belastung innerhalb der Solidarsysteme, die Gesamtbevölkerung mit Transfereinkommen zu versorgen. Beitrags- oder kapitalgedeckte Verfahren sind am ehesten resilient gegen diesen Trend, wohingegen allgemeine Mittel wie Steuern oder Umlagen knapper werden, sofern sie wie in Deutschland aus dem Erwerbsmarkt direkt abgeschöpft werden. Unter der Bedingung sinkender Erwerbspersonenquoten steigt die Finanzierungslast in einem beitragsfinanzierten Modell relativ stärker als in einem steuerfinanzierten Modell. In einer alternden Gesellschaft ist es ein rein statistischer Effekt, dass sich das Verhältnis von Gesunden zu Kranken, von Erwerbstätigen zu nicht, nicht mehr oder noch nicht Erwerbstätigen und von Beitragszahlern zu Beitragsempfängern zugunsten der je zweitgenannten Gruppe verschiebt. Die dadurch entstehende und sich monoton vergrößernde Asymmetrie dieser Gruppen ist Randbedingung, nicht Ursache für die zunehmende Finanzierungslast der Sozialsysteme. Das moralische Dilemma für die „Zahler“ ist dabei ein doppeltes: Erstens erwirtschaften allein sie das, was allen zustehen soll, und sehen die „Empfänger“ deshalb in der Rechenschaftspflicht, den ihnen möglichen Beitrag zu leisten. Zweitens erbringen sie diesen Dienst, ohne dass ihnen zugleich ein äquivalenter Lastenausgleich in späterer Lebensphase in Aussicht gestellt würde. Denn der demographische Trend ist ja nicht ohne Weiteres umkehrbar, und folglich bleibt das Finanzierungsproblem, ceteris paribus, dasselbe und vergrößert sich im Zeitverlauf. Wenn das so ist, dann ist die Ursache des Finanzierungsproblems nicht die demographische Struktur der Bevölkerung, sondern die institutionelle Struktur des Sozialstaats selbst, die unfähig ist, auf neue Randbedingungen angemessen zu reagieren. Die Lösung müsste entsprechend nicht darin liegen, bevölkerungspolitisch zu intervenieren, sondern darin, neue demographische Strukturen bereits voraussetzend, die operative Logik des Sozialstaats an neue Wirklichkeiten anzugleichen. (2) Was für den demographischen Wandel gilt, gilt analog für die Globalisierung. Sie ist Randbedingung, nicht Ursache der Probleme des Sozialstaats. Auf global vernetzten Märkten entsteht ein Wettbewerbsdruck, der den Sozialstaat zwingt, seine
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Leistungen wie Sicherheit und Gerechtigkeit immer kostengünstiger anzubieten. Durch die Beitragsparität in Deutschland, in der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam getragen werden, wirkt sich jede Erhöhung der Beiträge auf der einen Seite negativ auf die Lohnnebenkosten auf der anderen Seite aus (Pöttering 2011: 9). Der Produktionsfaktor Arbeit wird dadurch systematisch quasi-besteuert. Die Folge ist eine sinkende Arbeitsnachfrage der Unternehmen (Berthold 1997: 32). (3) Ein Sozialstaat, der Sozialpolitik als Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik betreibt, tritt selbst als Produzent von Erwerbslosigkeit in Erscheinung. Durch staatliche Arbeitsbeschaffung, den sekundären Arbeitsmarkt, wird ein Angebotsüberschuss auf dem Primärmarkt erzeugt (ebd.: 30–31). Der Produktionsfaktor Arbeit wird immobilisiert und Lohnstrukturen eingefroren. Die Folgen müssen wiederum externalisiert werden und fallen den Steuerzahlern, Beitragszahlern oder Konsumenten als Kosten an. Dieser Zusammenhang kann als eine unmittelbare Induktion von Erwerbslosigkeit durch den Sozialstaat aufgefasst werden. (4) Nahezu alle arbeitsmarkt- und sozialpolitische Anstrengung hat ausschließlich den Arbeitnehmer zum Gegenstand (Patrick 2014: 63). Diese perspektivische Einengung auf die Angebotsseite führt zur Individualisierung struktureller Problemlagen wie Arbeitslosigkeit (Ferge 1997): Die Verantwortung liegt in der Gesellschaft, jedoch die Schuld beim Einzelnen. Vier Wohlfahrtstypen. Alle konventionellen Wohlfahrtsstaaten sind, so unterschiedlich sie sich zueinander verhalten, in einer Sache gleich: Sie sind erwerbsarbeitszentriert (Goodin 2013). Wohlfahrtsstaaten werden meist nach ihrer Verhältnisbestimmung von Arbeit und Wohlfahrt typisiert (Esping-Andersen 1990; 1994; 1996). Im liberalen Regime (Arbeit anstatt Wohlfahrt) bestreiten die Menschen ihren Lebensunterhalt durch ihre Erwerbsarbeit und erhalten wohlfahrtsstaatliche Leistungen nur residual nach dem Versagen dieses primären Mechanismus der Einkommensbildung. Im korporatistischen Regime (Wohlfahrt durch Arbeit) sichert die bereits erbrachte Arbeitsleistung eines Familien- oder Haushaltsvorstands im Rahmen eines Versicherungssystems seinen ökonomischen Status und den der über ihn Mitversicherten. Im sozialdemokratischen Regime (Wohlfahrt und Arbeit) ist Wohlfahrt ein Bürgerrecht, dem eine Bürgerpflicht gegenübersteht, nach Fähigkeiten und Möglichkeiten einen produktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Wohlfahrt zu leisten, der im Zweifelsfall durch den Staat angeleitet werden muss. So verschieden diese drei Typen untereinander sind, teilen sie doch das normative Primat der Arbeit über die Wohlfahrt mit Nachdruck. Mit einem Grundeinkommen hingegen hat jeder Bürger ein Anrecht auf Wohlfahrt, und zwar völlig unabhängig von seiner Leistung (Wohlfahrt ohne Arbeit). Die ersten drei Typen sind Ausdruck einer „Arbeitsgesellschaft“, die auf der Arbeitsseite auf
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eine Distribution von Arbeitsplätzen zielt, sodass die wirtschaftliche Produktivität nicht durch den Wohlfahrtsstaat gefährdet wird, und auf der Wohlfahrtsseite auf ein Recht auf Arbeit. Der vierte Typ ist hingegen Ausdruck einer „Bürgergesellschaft“, die die Arbeitsseite ganz ausblendet, sofern das Niveau der Produktivität auch ohne Vollbeschäftigung aufrechterhalten werden kann, und deshalb auf der Wohlfahrtsseite auf ein Recht auf Einkommen zielt. Dieser universelle Wohlfahrtsstaat bestimmt seinem idealen Charakter nach die soziale (monetäre) Sicherung primär vom legalen Status der Bürgerschaft oder Residenz her. Normativ zielt er auf die Erfassung aller Bürger bzw. aller rechtmäßig im Inland wohnenden Personen als Empfänger von Leistungen und als Träger von Sozialleistungsrechten. Dieser Typ des Wohlfahrtsstaats kennt keine Trennung in Bedürftige und Nichtbedürftige (Birnbaum 2012: 3). Universelle Transfers sind dabei keine karitative Zuwendung, sondern Folge eines auf Gleichwertigkeit zielenden Rechtsstatus. Neben die im Grundgesetz kodifizierten Grundrechte, die deswegen Grundrechte sind, weil ihnen keine Pflichten gegenüberstehen, tritt ein soziales Grundrecht auf Einkommen. Die radikalste Interpretation dieser Leitidee ist ein Grundeinkommen (Tabelle 2.3).
Rentenversicherung
Effizienz
vorrangig
bedarfsgeprüfte Grundsicherung
Zweck
Status von Arbeit
Beispielleistung
Quelle: Eigene Darstellung nach Goodin (2013)
vorrangig
Armut
Kausalität
Wohlfahrt durch Arbeit
Stabilität
Beitrag
Statuserhalt
Arbeit anstatt Wohlfahrt
Grundsicherung
Geltungsbereich
Korporatismus
Motto
Liberalismus
Regime
Tabelle 2.3 Vier Wohlfahrtsprinzipien
Fördern und Fordern
vorrangig
Gleichheit
Leistung
Reziprozität
Wohlfahrt und Arbeit
Sozialdemokratie
Grundeinkommen
nachrangig
Autonomie
Bürgerschaft
Sozialdividende
Wohlfahrt ohne Arbeit
Universalismus
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Herleitung der Forschungsfrage
Deontologie. Die Frage, der ich in dieser Arbeit nachgehe, lautet: Ist ein Grundeinkommen gerecht? Gerechtigkeit ist eine Idee. Sobald wir wissen, was damit gemeint ist, können wir jede bestehende Institution prinzipiell damit bewerten, also einem Gerechtigkeitsurteil unterziehen. Das Grundeinkommen ist aber gerade keine bestehende Struktur, sondern ebenfalls nur eine Idee. Deshalb hat nicht jede denkbare Formulierung von Gerechtigkeit die Fähigkeit, das Grundeinkommen überhaupt zu bewerten. Jedes Urteil, das eine Institution nach ihren Folgen bemisst, scheidet strikt aus. Denn welche Folgen hat etwas, das es nicht gibt? Allenfalls könnte man fragen, welche Folgen etwas haben könnte, das es nicht gibt. Aber auf eine hypothetische Frage gibt es keine faktische Antwort. Verbleibt nur die Alternative, die Frage so zu stellen, dass sie einen Grundsatz betrifft und ungeachtet möglicher empirischer Folgen ihres Gegenstandes gültig sein kann: Ist ein Grundeinkommen grundsätzlich gerecht? Derart formuliert muss es sich um einen deontologischen Begriff von Gerechtigkeit handeln. Was Deontologie genau ist und warum sie alternativen Varianten vorzuziehen ist, wird aus didaktischen Gründen in Abschnitt 4.3 behandelt. Ist die Forschungsfrage erst auf den Geltungsbereich der Deontologie festgelegt, können zwei Begriffe (Grundeinkommen und Gerechtigkeit) in ihrer ausschließlichen Eigenschaft als Begriffe analytisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ziel einer solchen Analyse muss sein, denkmögliche Antworten auf die Forschungsfrage zu rationalisieren. Die These, dass ein Grundeinkommen gerecht ist oder nicht, ist zunächst eine Intuition ohne jede wissenschaftliche Geltung. Zweck dieser Arbeit ist dementsprechend, diese Intuition sprachlich, logisch und begrifflich widerspruchsfrei zu rationalisieren, sie somit zu einer fundierten, akademisch anerkennenswerten These zu erheben und schließlich die argumentative Beweislast auf die Negation der These umzukehren.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_3
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Herleitung der Forschungsfrage
Aussagenlogische Bedingungen. Wie könnte eine solche begriffsanalytische Rationalisierung aussehen? Wenn die Frage lautet, ob ein Grundeinkommen deontologisch gerecht ist, stellt sich unter argumentationstheoretischen Aspekten gleichsam die Frage, wann ihre möglichen Antworten plausibel sind und wann nicht. Eine plausible Antwort könnte alleine die Form annehmen: Ein Grundeinkommen ist eine (keine) Bedingung von Gerechtigkeit. Wann liegt also aussagenlogische Bedingtheit vor? (1) Eine notwendige Bedingung liegt vor, wenn die Bedingung A erfüllt sein muss, sodass das Bedingte B ebenfalls erfüllt sein kann. A muss also wahr sein, damit B auch wahr sein kann. Ist A nicht wahr, ist es B auch nicht. Es gibt also keinen Fall, in dem B wahr ist, aber A falsch. Man könnte sagen: Wenn B, dann A bzw. B impliziert A. (2) Eine hinreichende Bedingung liegt vor, wenn die Wahrheit von A in jedem denkmöglichen Fall zur Wahrheit von B führt. Es gibt also keinen Fall, in dem A wahr ist, aber B falsch. Man könnte sagen: Wenn A, dann B bzw. A impliziert B. Ein Beispiel zur Unterscheidung von notwendiger und hinreichender Bedingung: Wasser ist eine notwendige Zutat von Bier, denn ohne Wasser kann man kein Bier brauen. Aber Wasser ist nicht hinreichend, weil Bier aus mehr als Wasser bestehen muss, um tatsächlich Bier zu sein, zum Beispiel aus Hopfen, Malz und Hefe. Eine Bedingung kann also notwendig, aber zugleich nicht hinreichend sein. Das ist genau dann der Fall, wenn es neben der notwendigen Bedingung A1 mindestens noch eine weitere notwendige Bedingung A2 gibt, die ebenfalls erfüllt sein muss (und von A1 logisch unabhängig ist), sodass B wahr sein kann. Da Bier mindestens aus zwei Zutaten bestehen muss (Wasser und X), hat Bier keine einzige hinreichende Zutat, weil weder Hopfen, Malz, Hefe oder Wasser für sich genommen Bier implizieren. Ein umgekehrtes Beispiel: Die Information „Elisabeth II. ist das Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs“ reicht hin, um zu wissen, dass es sich um eine Königin und nicht einen König handelt. Denn „Königreich“ setzt voraus, dass das Staatsoberhaupt entweder ein König oder eine Königin ist, und „Elisabeth“ setzt voraus, dass es sich um eine Frau handelt. Und das weibliche Oberhaupt eines Königreichs ist eine Königin. Eine Bedingung kann also, genau umgekehrt wie im Beispiel davor, hinreichend, aber zugleich nicht notwendig sein. Denn unendlich viele andere Sätze könnten die hier relevante Information ebenfalls semantisch beinhalten, so zum Beispiel: „Das Vereinigte Königreich hat ein Staatsoberhaupt, das kein König ist“. Es gibt also eine multiple Erfüllbarkeit, wenn eine Bedingung hinreichend, aber nicht notwendig ist, wobei unmöglich ist, von dem Bedingten B auf den Inhalt der Bedingung A zu schließen. Notwendige Bedingungen sind hingegen aus dem Bedingten rekonstruierbar. Die meisten aussagenlogischen Bedingungen (egal welche) gelten nur ceteris paribus.
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Herleitung der Forschungsfrage
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Das heißt, sie implizieren oder präsupponieren ihrerseits nicht-triviale Informationen. Die Aussage „wenn es regnet, wird die Straße nass“ beinhaltet „regnet“ als hinreichende Bedingung A und „Straße nass“ als Bedingtes B. Das gilt aber nur unter sonst gleichen bzw. keinen weiteren Bedingungen (also ceteris paribus). Zum Beispiel ist ausgeschlossen, dass die Straße überdacht ist und deshalb trocken bleibt. Übertragen wir dieses gedankliche Gerüst nun auf die erkenntnisleitende Frage, können wir sie in zwei Paraphrasen zerlegen: (1‘) Impliziert Gerechtigkeit ein Grundeinkommen (notwendige Bedingung)? (2‘) Impliziert ein Grundeinkommen Gerechtigkeit (hinreichende Bedingung)? Als Forschungsfrage ist Ausprägung (2‘) allerdings nicht zielführend: Beliebig viele Politikalternativen könnten Gerechtigkeit implizieren; es bliebe also selbst nach einer eindeutigen Beantwortung der Forschungsfrage unklar, ob ein Grundeinkommen seinen Reformalternativen vorzuziehen wäre oder nicht. Wir beschränken uns deshalb hier nur auf den Fall der notwendigen Bedingung – in anderen Worten: Ist Gerechtigkeit ohne Grundeinkommen überhaupt möglich? Eine Verneinung dieser Frage würde das stärkste nur denkbare Argument für ein Grundeinkommen darstellen, ihre Bejahung allerdings ließe wiederum keinen Schluss darauf zu, ob ein Grundeinkommen seinen Reformalternativen (oder dem Status quo) vorzuziehen ist oder nicht. Abschließend stellt sich die Frage, woher ich im Einzelfall weiß, ob eine notwendige Bedingung vorliegt? Die Antwort: Es gilt ein Falsifikationsprinzip. Ich müsste nur einen einzigen Fall identifizieren, in dem Gerechtigkeit ohne Grundeinkommen der Fall ist, um zu schlussfolgern, dass ein Grundeinkommen keine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit ist (bzw. Gerechtigkeit ein Grundeinkommen nicht impliziert). Prinzip des maximalen Kontrasts. Das Grundeinkommen unterscheidet sich dadurch konstitutiv vom Status quo, dass es keine Leistungsauflagen für die Sicherung der sozialen Existenz formuliert. Der hier angesprochene Status quo kann als Workfare bezeichnet werden und konnotiert alle Formen von sozialer Sicherung, die unmittelbar an Erwerbsarbeit geknüpft sind. Das bedeutet, dass die soziale Sicherung der Person vorrangig über den Erwerbsmarkt geregelt werden soll, und erst dann, wenn ihr das tatsächlich nicht möglich ist, über allgemeine Mittel. In diesem Punkt (der Kopplung resp. Entkopplung von Arbeit und Einkommen) kulminiert die gesamte paradigmatische Interpretation von sozialer Sicherheit des Grundeinkommens einerseits und von Workfare andererseits. Daher markiert die Freiheit von Leistung den maximalen Kontrast des Grundeinkommens gegenüber dem Status quo. Es ist zu betonen, dass dieser Aspekt nur den unmittelbaren und individuellen Zusammenhang von Arbeit und Einkommen betrifft, also individuelle Arbeitsleistung einerseits und individuellen Anspruch auf Einkommen in
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Herleitung der Forschungsfrage
existenzsichernder Höhe andererseits. Der mittelbare Zusammenhang, dass volkswirtschaftliches Einkommen immer nur auf volkswirtschaftlicher Arbeit beruhen kann, wird dadurch weder übersehen noch normativ abgewertet. Prinzip der minimalen Redundanz. Im Absatz oben habe ich argumentiert, dass die Freiheit von einer Leistungspflicht das wichtigste definitorische Kriterium des Grundeinkommens zum Ausdruck bringt. In diesem Absatz argumentiere ich, dass diese Freiheit die einzig notwendige Grundlage der Analyse ist, wir also keine weiteren Kriterien in die Betrachtung einbeziehen müssen. Der Grund dafür ist einfach: Alle Definitionskriterien eines Grundeinkommens verhalten sich zur Leistungsfreiheit instrumentell. Es wurden zahlreiche definitorische Anforderungen an ein Grundeinkommen herausgearbeitet (geldförmig, regelmäßig, bedarfsunabhängig, individuell, grundrechtlich verbrieft, universell, gegenleistungsfrei und steuerfrei). Viele Autoren fordern darüber hinaus, dass ein Grundeinkommen mindestens so hoch sein muss, dass es die Existenz sichert, vor Armut schützt, die Teilhabe an der eigenen Gesellschaft ermöglicht und dergleichen mehr. Wir können dieses letzte Kriterium, unabhängig von seiner exakten Bestimmung, als „untere Grenze“ bezeichnen. Die These, die ich im Folgenden begründen werde, lautet nun: Die Freiheit von einer Leistungspflicht impliziert alle weiteren Kriterien, die für ein Grundeinkommen konstitutiv sind, sofern diese Freiheit substanziell begriffen wird. (1) Die Freiheit von Leistung bedingt die Freiheit von Bedarf. Bedarf (oder Bedürftigkeit) hat zwei Bedeutungen. Erstens bezeichnet er die Tatsache, dass jemandes Subsistenzmittel unter dem in seiner Gesellschaft gültigen Subsistenzniveau liegen. Zweitens bezeichnet er das Ausmaß, in dem diese Subsistenzmittel unter dem Subsistenzniveau liegen. Gehen wir aus Gründen der Konvention davon aus, dass das relevante Subsistenzmittel das Markteinkommen ist und das relevante Subsistenzniveau die relative Armutsgrenze, dann folgt daraus: Armutsgrenze minus Markteinkommen gleich Bedürftigkeit. Ist die Differenz entweder null oder negativ, liegt keine Bedürftigkeit vor. Ich habe die beiden Bedeutungen von Bedarf deshalb voneinander unterschieden, weil sie unterschiedliche sozialpolitische Interventionen gebieten können. Der erste, weite Begriff korrespondiert mit der Idee der sozialrechtlichen Kausalität: Der Staat greift nur dann ein, wenn jemand zu wenig hat. Der zweite, enge Begriff korrespondiert mit der Idee der Priorität: Der Staat greift nur in dem Maße ein, wie jemand zu wenig hat, zum Beispiel durch Transferentzug, Kombilohn oder Aufstockung. Ganz gleich, auf welche der beiden Bedeutungsebenen wir uns festlegen, sie werden redundant, sobald der individuelle Einkommensanspruch von der Leistung entkoppelt wird. Denn wenn jeder ein Grundeinkommen bekommt, der arbeitet, und jeder, der nicht arbeitet, bekommt
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Herleitung der Forschungsfrage
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es ergo jeder ohne auch nur eine einzige Ausnahme. Also auch jene, die der heutigen operativen Logik des Sozialstaats zufolge einen Bedarf haben, und jene, die keinen haben. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Denn es beweist, dass die Debatte über Bedarfsgerechtigkeit im Zusammenhang mit einem Grundeinkommen nicht nur nachrangig, sondern irrelevant ist, sobald der Blick erst auf die Entkopplung von Arbeit und Einkommen gerichtet wird. (2) Die Freiheit von Leistung bedingt auch die Individualität des Grundeinkommens. „Individuell“ heißt dabei entweder, dass das Individuum der Adressat der Leistung ist (keine Haushalte, Familien oder andere theoretischen Veranlagungsgemeinschaften) oder, dass das Individuum die Kausalität der Tatsache und der Höhe der Leistung ist, und niemand sonst. Auch hier spielt keine Rolle, welcher Interpretation wir folgen (sie schließen sich nicht aus), denn es gilt ausnahmslos, dass eine Verletzung der Individualitätsnorm des Grundeinkommens einen mindestens faktischen Arbeitszwang bedeuten kann. In Bezug auf die erste Denotation gilt: Wenn mein Grundeinkommen nicht an mich, sondern einen wie auch immer zu ermittelnden Vorstand einer steuerlichen Veranlagungsgemeinschaft gezahlt wird, mag der Gesetzgeber formell unterstellen, dass unsere Gemeinschaft einem einheitlichen Zweck dient und derjenige, der das Geld erhält, mir meinen Teil zur Verfügung stellt. Das Problem ist aber genau dieser Formalismus. Der Gesetzgeber hat keine Möglichkeit sicherzustellen, dass das auch passiert. Und passiert es nicht, habe ich de facto kein Grundeinkommen und muss meine Arbeitskraft auf dem Erwerbsmarkt anbieten, um meine Subsistenz zu bestreiten. In Bezug auf die zweite Denotation gilt: Wenn Umstände außerhalb meiner Person bestimmen, ob ich ein Grundeinkommen erhalte, oder wie hoch mein Grundeinkommen ausfällt, dann kann, analog zum ersten Fall, niemals substantiell sichergestellt werden, dass ich frei bin, nicht zu arbeiten. (3) Dieselbe Art des Zusammenhangs gilt für alle weiteren Kriterien, die als Adäquatheitsbedingungen eines Grundeinkommens herausgearbeitet wurden, in gleicher Weise: Ist es nicht mein Grundrecht, kann es einer Pflicht gegenübergestellt werden (zum Beispiel zu arbeiten) oder gilt nur freiwillig oder unter Vorbehalt; ist es nicht universell, müssen manche arbeiten, andere nicht; ist es nicht steuerfrei, wird sowohl das Grundeinkommen als auch der Anreiz zu einem Markteinkommen belastet, da das Gebot des Lohnabstands verletzt wird; ist es nicht hoch genug, um meine Existenz zu sichern, muss ich abermals meine Arbeitskraft auf dem Erwerbsmarkt anbieten. Für jeden einzelnen Punkt gilt also: Wenn die Freiheit von Leistung tatsächlich substantiell gewährt werden soll, also für jeden in jedem denkmöglichen empirischen Fall, dann darf ein Grundeinkommen nicht bedarfsgeprüft, haushaltsbezogen, in seiner Höhe gestaffelt sein, mit dem Erwerbseinkommen aufgerechnet werden oder
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Herleitung der Forschungsfrage
unter dem Existenzminimum liegen. Daher: Die Freiheit von Leistung ist das einzig entscheidende Kriterium des Grundeinkommens, das es tatsächlich vom Status quo abgrenzt, und aus dem sich alle anderen Kriterien ergeben. Die Arbeitsdefinition behält also auch verkürzt ihre volle Bedeutung: Ein Grundeinkommen ist ein regelmäßiges Einkommen, das eine politische Gemeinschaft all ihren Mitgliedern zahlt. Punktum. Es geht also nicht nur um die Freiheit, nicht erwerbstätig zu sein, sondern die grundsätzliche Freiheit, überhaupt nichts tun zu müssen. Deshalb beschränke ich die Analyse auf dieses einzige Kriterium und folge somit einem Prinzip der minimalen Redundanz. Damit ist eine entscheidende theoretische Weiche für die folgenden Kapitel gestellt. Wenn die Forschungsfrage nämlich lautet, ob ein Grundeinkommen eine Bedingung von Gerechtigkeit ist oder nicht, dann muss sie vor dem Hintergrund folgender Alternativstellung beantwortet werden: Die soziale Existenz eines Menschen darf von seiner Leistung abhängig gemacht werden (Workfare) versus die soziale Existenz eines Menschen darf nicht von seiner Leistung abhängig gemacht werden (Grundeinkommen). Die Forschungsfrage lautet nun vorläufig: Ist die Entkopplung von Einkommenssicherung und Leistungspflicht eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit? Geltungsbereich. Es ist entscheidend zu betonen, dass sich diese Fragestellung ausschließlich auf die Sphäre der sozialen Sicherung bezieht. Damit ist ein Prinzip der oberen Grenze eingeführt, das sich zum Beispiel an der Armutsgrenze orientieren kann. Schließlich geht es nicht darum, ob die Entkopplung von Einkommen und Leistung im Grundsatz zu bejahen oder zu verneinen ist, sondern darum, ob sie im Rahmen der sozialen Sicherung zu bejahen oder zu verneinen ist. Der Geltungsbereich ist also nur die Existenzsicherung. Diese Festlegung hat zwei Aspekte. (1) Ein Grundeinkommen ist nicht per se gegen Leistungsoder Bedarfsgerechtigkeit gerichtet, wie vielfach unterstellt. Es ist nur dagegen gerichtet, diese Normen in die soziale Existenzsicherung eines Menschen eindringen zu lassen. Welche Regeln jenseits dieser Grenze gelten sollen, darüber schweigt ein Grundeinkommen. (2) Was spricht dafür, dass das so sein soll? Die einleuchtende Antwort ist, dass Verdienstkriterien wie Leistung oder Bedarf nicht unfehlbar sind. Das sollten sie aber sein, wenn es um die Existenzgrundlagen eines Menschen geht. Nehmen wir als Beispiel das Leistungsprinzip, wonach jeder das erhalten soll, was seiner Leistung entspricht. Bestünde Gerechtigkeit einzig und allein aus den Komponenten Leistung und Gegenleistung, dann würden Menschen nicht als autonome und freie Individuen respektiert, weil alle ihre Handlungen nach dem Aspekt ihrer Zweckdienlichkeit bewertet würden. Außerdem unterstellt die Idee der Leistungsgerechtigkeit, dass prinzipiell jede Leistung nachgefragt ist. Das ist aber falsch. Nicht jede Leistung ist auf einem Markt sichtbar oder hat eine marktförmige Nachfrage. Und ist sie doch nachgefragt,
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Herleitung der Forschungsfrage
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dann belohnen Märkte Leistungen nicht tatsächlich proportional, wie es die Norm eigentlich gebietet, sondern verzerrt durch Monopole, Oligopole, Subventionen, Tarifautonomien, externe Kosten, Sozial-, Arbeitsmarkt- oder Beschäftigungspolitik. Ideale Märkte existieren nicht empirisch. Und selbst dann, wenn es doch einen idealen Markt gäbe, dann fänden die Transaktionen darin ja nicht auf einer Tabula rasa statt, sondern ausgehend von bestimmten bereits bestehenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Die Nachfrage der Armen bliebe auch dann weitgehend unsichtbar. Analog ließe sich für jede andere beliebige Verteilungsnorm ein Katalog mit Schwachstellen, Lücken, Unzulänglichkeiten, Paradoxien und Doppeldeutigkeiten aufstellen. Aber wenn es keine perfekte, allen pluralen Gerechtigkeitserfordernissen genügende Norm distributiver Gerechtigkeit gibt, ist dann nicht die einzige residuale Lösung, einen Ort zu schaffen, an dem überhaupt kein bestimmtes oder ein so minimalistisch wie möglich formuliertes Kriterium festlegt, was ich „verdiene“? Liberale Freiheiten. Nach der inhaltlichen Bestimmung des Geltungsbereichs muss auch eine theoretische Vorfestlegung getroffen werden, da sich prinzipiell unendlich viele Evidenzen für und gegen ein Grundeinkommen konstruieren lassen. Diese Vorfestlegung gebietet, eine bestimmte Antwortstrategie zu wählen. An dieser Stelle wird eine liberale Perspektive eingenommen. „Liberal“ heißt dabei: aus der inneren Logik des politisch-philosophischen Liberalismus heraus Stellung beziehend. Der Liberalismus dreht sich um die Idee der Freiheit. Was genau Freiheit ist oder sein soll, darüber streiten Liberale. Ich habe die aus meiner Sicht wichtigsten Konzepte liberaler Freiheit herausgegriffen, um sie nach ihrem Passungsverhältnis zur Idee des Grundeinkommens zu befragen: (1) Negative Freiheit als Abwesenheit von Zwang, (2) positive Freiheit als Möglichkeit, die eigenen Absichten zu verwirklichen, (3) libertäre Freiheit als Eigentum an sich selbst, (4) reale Freiheit als maximaler Möglichkeitsraum und (5) republikanische Freiheit als Abwesenheit von unbegründeter Herrschaft. Finale Forschungsfrage: Legen wir nun alle in den vorausgehenden Absätzen herausgearbeiteten Eingrenzungen übereinander und wenden sie auf die originäre Fragestellung, ob ein Grundeinkommen gerecht ist, an, erhalten wir die finale Forschungsfrage: Ist die Leistungsfreiheit im Rahmen der Existenzsicherung eine notwendige Bedingung liberaler Freiheit?
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Was ist Gerechtigkeit?
4.1
Zum Begriff
Gerechtigkeitspluralismus. Die Bedeutung von Gerechtigkeit kann nicht unterschätzt werden. Sie wird als notwendige Bedingung politischer Legitimität betrachtet, gilt gemeinhin als erste Tugend sozialer Institutionen (Rawls 1971: 3; 1999b: 3) und wurde als personale Gerechtigkeit in der Antike zu den Kardinaltugenden des Menschen gezählt, also zu den genuin guten menschlichen Eigenschaften. Es ist kaum möglich, von einer einzigen Auffassung von Gerechtigkeit zu sprechen, vielmehr gibt es einen Pluralismus von Intuitionen, Definitionen, Normen, Regeln und Theorien, die für sich in Anspruch nehmen, das Gerechte zu konnotieren. In dieser Arbeit behandle ich ausschließlich zeitgenössische Formulierungen institutioneller distributiver Gerechtigkeit. Daher ist es angezeigt, aktuelle Ideen von Gerechtigkeit von antiquierten oder hier nicht behandelten Sprachgebräuchen in gebotener Kürze abzugrenzen. In den beiden darauffolgenden Kapiteln, in denen herausgearbeitet wird, was verschiedene Konzepte von Gerechtigkeit vereint und unterscheidet, geht es indes nur noch um zeitgenössische Positionen. Antike und Mittelalter. In der antiken und mittelalterlichen Philosophie wird Gerechtigkeit grundlegend anders verstanden als in neuzeitlichen und zeitgenössischen Theorien (Horn 2016: 6): Es gibt erstens noch keinen etablierten Bedeutungsunterschied zwischen dem Guten und dem Gerechten. Im heutigen deskriptiven Sprachgebrauch erscheint das Gerechte als Spezialfall entweder des (konsequentialistisch) Guten oder des (deontologisch) Richtigen. Es existiert zweitens eine heute unübliche Denkfigur, die Gerechtigkeit als eine ontologische Kategorie behandelt, indem sie danach fragt, ob die Welt naturgesetzlich
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_4
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4 Was ist Gerechtigkeit?
gerecht ist, und falls nicht, wie damit umzugehen ist. Es ist im vormodernen Gerechtigkeitsdiskurs drittens der einzelne Mensch, auf den sich die meisten Präskriptionen beziehen, nicht wie heute die ihn umgebenden Institutionen. Diese personale Gerechtigkeit spielt heute vorrangig in Alltagsdiskussionen eine Rolle, in denen Gerechtigkeit ein Charakteristikum tugendhafter Personen beschreibt. Neuzeit. In der neuzeitlichen Philosophie wird ein moderner Gerechtigkeitsbegriff geprägt, der das nach wie vor gültige Feld von Begriffsverständnissen bahnt (Koller 2016: 14). Gerechtigkeit ist erstens nicht länger das Primat personaler Eigenschaften, sondern wird auf den Bereich der Institutionen verallgemeinert. Institutionelle Gerechtigkeit legt theoriegeschichtlich erstmals die Emphase auf Fragen der politischen Legitimität, etwa von Herrschaft, Eigentum und Verfassung. Gerechtigkeit erscheint zweitens nicht nur wünschenswert, sondern geboten. Dies geht aus der genuin neuzeitlichen Idee der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen hervor, die in Bezug auf das Konzept der Gerechtigkeit in der Formulierung des Prinzips suum cuique eine Entsprechung findet. Aus der Erkenntnis der moralischen Gleichwertigkeit folgte drittens die Präsumtion der Gleichheit, wonach die argumentative Beweislast immer bei der Instanz liegt, die Gleiches ungleich oder Ungleiches gleichbehandelt. Dieser letzte Punkt ist ausgesprochen voraussetzungsvoll: Nicht alles, das ungleich ist, muss ungleich behandelt werden; nicht alles, das gleich ist, muss gleichbehandelt werden. Die theoretische Voraussetzung ist die rationale Begründung, dass dieses oder jenes Gleiche bzw. Ungleiche normativ relevant ist. Was diesen Punkt anbelangt, vertreten verschiedene Denkströmungen ganz unterschiedliche Standpunkte. So glauben Egalitaristen, dass Gleichheit einen Eigenwert besitzt, wohingegen Liberale gemäß der in dieser Arbeit gebrauchten Definition dies grundsätzlich nicht tun.
4.2
Vier Gemeinsamkeiten
Komponenten von Gerechtigkeit. Unter Gerechtigkeit wurde und wird Unterschiedliches verstanden. Sie spielt in verschiedenen akademischen Disziplinen eine Rolle (Politische Theorie, Politische Soziologie, Philosophie, darin insbesondere Ethik, Rechtsphilosophie und Politische Philosophie) und wird auf ganz unterschiedliche Phänomene angewendet (Handlungen, Charakter, Gesetze, Politik, Institutionen). Oft wird Ungerechtigkeit als Grund angeführt, um etwas zu delegitimieren. Bevor die Komplexität von Gerechtigkeit geordnet werden kann, müssen wir zunächst Minimalkriterien identifizieren, die positiv bestimmen, was ein Konzept von Gerechtigkeit in jedem Fall kennzeichnet. Dazu können vier
4.2 Vier Gemeinsamkeiten
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Komponenten erwähnt werden (Miller 2017: Kap. 1): Ansprüche, Pflichten, der Gleichbehandlungsgrundsatz suum cuique und soziale Verursachung bzw. Kontingenz. Davon ausgehend kann danach gefragt werden, welche Implikationen sich aus diesen Punkten für ein Grundeinkommen ergeben. Ansprüche. Gerechtigkeit hängt mit individuellen Ansprüchen zusammen. Personen können Ansprüche formulieren (auf Freiheit, Ressourcen, Chancen usw.), die mit den Ansprüchen, die andere Personen formulieren, im Konflikt stehen können. Ziel der Gerechtigkeit ist es, unter der Bedingung des tatsächlichen oder potenziellen Konflikts von Interessen, Ansprüche zu definieren, die berechtigt sind, und nicht lediglich dem Egoismus eines oder jedes Einzelnen entspringen. Das heißt, Gerechtigkeit ergibt überhaupt nur dort Sinn, wo Interessen miteinander im Konflikt stehen oder stehen können. Sind alle Interessen harmonisch, ist die Frage nach Ansprüchen redundant. Damit zusammen hängt eine weitere Bedingung: Gerechtigkeit ergibt nur dort Sinn, wo diejenigen Güter, auf die Ansprüche geltend gemacht werden können, knapp sind. Sind alle Güter ubiquitär, ist die Frage nach Ansprüchen darauf ebenfalls redundant. In beiden Fällen, Konvergenz von Interessen und Überfluss von Gütern, müssen Entscheidungen nach einem anderen Prinzip als dem der Gerechtigkeit getroffen werden. Die meisten Theoretiker gehen davon aus, dass Konflikt und Knappheit Merkmale des öffentlichen Raums sind und Gerechtigkeit sich deshalb auf diesen beschränken sollte (Sandel 1982). Andere wiederum, vor allem feministische Theoretiker, sehen darin eine Diskriminierung und wollen die Regeln der Gerechtigkeit auf alle Bereiche des Zusammenlebens verallgemeinern, also auch auf das Private (Okin 1989). Pflichten. Gerechtigkeit hängt mit individuellen Pflichten zusammen. Das ergibt sich bereits aus dem ersten Punkt. Niemand kann einen Anspruch haben, zumindest keinen substanziellen, wenn keiner die Pflicht hat, diesem nachzukommen. Diese Pflichten können einklagbar sein, dies ist aber keine definitorische Bedingung von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit stellt also die Frage, was Menschen einander schulden (Scanlon 1998). Suum cuique. Gerechtigkeit hängt mit Unparteilichkeit zusammen. Wenn ein Urteil moralisch willkürlich ist, kann es jedenfalls kein Gerechtigkeitsurteil sein. Daher ist jede Person gleich zu behandeln. Der Grundsatz der Gleichbehandlung wird auch als suum cuique bezeichnet. Danach soll Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden. Das heißt nicht, jedenfalls nicht zwingend, dass jedem die gleiche Handlung widerfahren muss, sondern, dass wenn zwei Personen die gleiche Handlung widerfährt, auch der gleiche Grund dazu geführt haben muss, sofern dieser moralisch relevant ist.
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4 Was ist Gerechtigkeit?
Kontingenz. Gerechtigkeit hängt mit Handlungen, Strukturen, Institutionen zusammen, die individuell oder kollektiv erzeugt sind, also unmittelbar oder mittelbar auf eine soziale Wirklichkeit zurückzuführen sind und nicht auf eine naturgesetzliche oder deterministische. Das setzt beidseitig (Träger des Anspruchs, Träger der Pflicht) einen Akteur voraus, verstanden als eine Entität, die Träger von Handlungen sein kann (Mensch, Gruppe von Menschen, Staat usw.). Das Schuldverhältnis, das sich im Anspruch und der reziproken Pflicht ausdrückt und in den ersten beiden Punkten beschrieben wurde, gilt nur zwischen zwei Akteuren (zum Beispiel Bürger contra Staat), aber nicht zwischen einem Akteur und einer Entität ohne Akteursmacht (zum Beispiel Mensch contra Natur). Etwas kann nur dann gerecht oder ungerecht sein, wenn es durch einen Akteur verursacht wurde. Die vierte Bedingung ist demnach Kontingenz: Wenn ein Mensch an einer durch niemanden verschuldeten Krankheit stirbt, dann ist das bedauerlich, aber im hiesigen Sprachgebrauch nicht ungerecht. Implikationen. Wenn die vier Punkte oben die minimalen definitorischen Adäquatheitsbedingungen von Gerechtigkeit festlegen, dann kann ein Grundeinkommen vermittels Gerechtigkeit plausibel bewertet werden. Die beiden Ideen sind also grundsätzlich kommensurabel. Erstens: Das Grundeinkommen ist ein Anspruch jedes Bürgers – auf ein Gut, das knapp ist (Geld) und über dessen Distribution es keinen Konsens gibt. Zweitens: Der Staat als Treuhand des Grundeinkommens hat einen dem Anspruch seiner Bürger reziproke Pflicht, es an alle in gleicher Höhe auszuzahlen. Drittens: Ein Grundeinkommen folgt dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Zwar wird häufig behauptet, das Grundeinkommen verletze suum cuique, weil jeder dadurch dasselbe erhält, egal ob er arm oder reich, alt oder jung ist. Das ist aber ein Strohmannargument, denn es unterstellt, dass genau diese Kriterien und keine anderen die Grundlage für die Gleichbehandlung sein müssen. Das Grundeinkommen fußt lediglich auf einer anderen Grundlage, nämlich Bürgerstatus. In Bezug darauf behandelt es alle de facto und de jure gleich. Viertens: Das Grundeinkommen beinhaltet ein Schuldverhältnis zweier Akteure (Bürger und Staat). Aus allen vier Punkten folgt: Ein Grundeinkommen ist legitimer Gegenstand eines Gerechtigkeitsurteils.
4.3
Sechs Unterschiede
Landkarte der Gerechtigkeitsphilosophie. Im vorausgehenden Kapitel wurden Merkmale vorgestellt, die allen Auffassungen von Gerechtigkeit gemeinsam sind. Davon ausgehend soll hier danach gefragt werden, wie sich unterschiedliche Ansätze auf einer Metaebene systematisch voneinander unterscheiden (Miller 2017 für die
4.3 Sechs Unterschiede
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ersten vier Punkte) und wie die Idee des Grundeinkommens in diese Differenzierung einzuordnen ist. Dabei werden die Dimensionen konservativ vs. ideal, korrektiv vs. distributiv, prozedural vs. substanziell, komparativ vs. non-komparativ, kognitivistisch vs. non-kognitivistisch und konsequentialistisch vs. deontologisch unterschieden. Diese Gegenüberstellungen liefern keine erschöpfende, aber eine für die vorliegende Arbeit hinreichend detaillierte Terminologie, um mögliche Standorte des Grundeinkommens auf der Landkarte der Gerechtigkeitsphilosophie zu bestimmen. Konservativ und ideal. Ist es legitim, illegitimes Recht zu brechen? An dieser Frage können zwei ganz unterschiedliche Facetten von Gerechtigkeit verdeutlicht werden („Recht“ meint hier gleichermaßen juristisches Recht wie Gesetz, Verordnung, Richtlinie usw. und juridisches Recht wie rechtmäßige Erwartungen, Konventionen, soziale Normen usw.) Unter Aussparung weiterer Annahmen lautet die Antwort im Konservatismus: Die oben konstruierte Frage beinhaltet ein Scheinproblem, weil es nicht möglich ist, dass geltendes Recht illegitim ist, denn es ist qua Status als Recht legitimiert. Die Antwort lautet nach Bereinigung der Frage also: Nein, es ist niemals legitim, Recht zu brechen. Eine ganz andere Antwort liefert der idealtheoretische Standpunkt: Ob ich Erwartung erfüllen, sozialen Normen genügen oder Rechte einhalten sollte, ergibt sich nicht aus der Tatsache der Existenz dieser Sachverhalte, sondern ihrer Legitimität a se. Wenn das, was kodifiziert, kanonisiert, normalisiert, verrechtlicht ist, seinerseits ungerecht ist, ist und bleibt es trotz dieser vermeintlichen Legitimierung qua Verrechtlichung ungerecht. Konservative Gerechtigkeit ist also deskriptiv, insofern sie ausschließlich die Einhaltung bereits existenter Normen gebietet (Hayek und Hume sind dafür Beispiele), ideale Gerechtigkeit hingegen kann als präskriptiv bezeichnet werden, insofern sie völlig unabhängig von der sozialen Wirklichkeit Normen begründet (Rawls ist hierfür das bekannteste Beispiel). Suum cuique kann also ganz unterschiedlich interpretiert werden: Wem was zusteht, kann aus zwei völlig unterschiedlichen Gerechtigkeitsregimen abgeleitet werden; einem realen Regime (was ist) und einem idealen Regime (was sein soll). Erste Implikation. Da es keinen juristischen und in der Mehrheitsmeinung auch keinen juridischen Anspruch auf ein Grundeinkommen gibt, ist es aus konservativer Sicht nicht geboten. Das gilt solange, bis es eingeführt würde oder eine Forderung des allgemeinen politischen Konsenses wäre. Die Politische Philosophie des Grundeinkommens ist deshalb notwendig eine ideale Theorie. In diesem Licht erscheint der Einwand, ein Grundeinkommen verletze Bedarf oder Leistung, nur dann plausibel, wenn Leistung oder Bedarf das ideale Regime von Gerechtigkeit wäre. Genau das bestreiten die Befürworter. Daher ist die Kritik auch kategorisch falsch angelegt, weil sie eine Idealtheorie nach konservativen
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4 Was ist Gerechtigkeit?
Maßstäben evaluiert. Das wäre dann (und nur dann) plausibel, wenn und soweit ein Grundeinkommen sich seinerseits von diesen Normen her genuin bestimmt. Korrektiv und distributiv. Gerechtigkeit könnte bedeuten, dass jeder den Schaden, den er anrichtet, wiedergutmachen muss (korrektive Gerechtigkeit). Gerechtigkeit könnte aber auch bedeuten, dass bestimmte Güter auf bestimmte Personen verteilt werden, die darauf ein Anrecht haben (distributive Gerechtigkeit). Auch zwischen diesen beiden Normen besteht ein Spannungsverhältnis, wenngleich weniger offensichtlich als im Beispiel oben. Was aber, wenn ein Staat durch Distribution die Ansprüche der einen erfüllt, indem er die rechtmäßig erworbenen Güter oder Ansprüche der anderen nimmt? Und was, wenn umgekehrt der Staat jemanden für sein Unrecht bestraft, aber durch diese Bestrafung der Allgemeinheit ihre Ansprüche vorenthält, zum Beispiel auf ihre Steuermittel? Hier werden zwei Gerechtigkeiten nach ihrem Grund unterschieden. Die Kausalität von Distribution ist ein gesellschaftsvertragliches Anrecht auf bestimmte Güter, diejenige von Korrektur (auch Retribution) ein bereits begangenes Unrecht oder ein unrechtmäßig erlittener Schaden. Damit ist korrektive Gerechtigkeit trilateral: Ein Dritter stellt sicher, dass Person A den Schaden wiedergutmachen muss, die sie Person B zugefügt hat. Distributive Gerechtigkeit ist hingegen multilateral: Personengruppe A, die durch das Merkmal A’ konstitutiv ist, hat aufgrund dieses Merkmals ein Anrecht auf ein bestimmtes Gut. Die Perspektiven sind aufeinander irreduzibel. Retributive Gerechtigkeit ist keine Teilmenge der distributiven. Das Strafrecht vergilt beispielsweise ein begangenes Unrecht auch dann, wenn das Ergebnis der Retribution eine Verteilung von Gütern und Lasten ist, die unter distributiven Gesichtspunkten weniger gerecht ist als ex ante. Die Korrektur, die im Rahmen retributiver Gerechtigkeit stattfindet, ist ein Eigenwert und stellt sicher, dass Person A nicht durch ihr begangenes Unrecht gegenüber Person B oder der Allgemeinheit profitieren soll. Genau darum ist es auch sie selbst, die den Schaden wiedergutmachen muss. Umgekehrt kann distributive Gerechtigkeit nicht als Teilmenge der korrektiven betrachtet werden, es sei denn, es wird ein radikaler Rechtspositivismus vertreten. Aber auch dann wäre nicht auszuschließen, dass das positive Recht seinerseits durch distributive Normen fundiert sein könnte. Betrachten wir die Unterscheidung in korrektive und distributive Gerechtigkeit aus Sicht des Anspruchsträgers, denotiert einerseits Retribution einen negativen Anspruch darauf, dass etwas nicht passiert, Distribution andererseits einen positiven Anspruch darauf, dass etwas passiert. Zweite Implikation. Das Grundeinkommen ist ausschließlich Gegenstand distributiver Gerechtigkeit und nicht retributiver, da es sich dabei um ein gesellschaftsvertragliches Anrecht auf ein bestimmtes Gut (Geld, Existenz, Teilhabe
4.3 Sechs Unterschiede
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usw.) handelt und nicht um die Korrektur eines begangenen Unrechts. „Retribution“ kann allerdings den Status einer Metapher in der Begründung eines Grundeinkommens innehaben, zum Beispiel im libertären Argument über das verletzte Naturrecht und seine Korrektur durch das Grundeinkommen (siehe Abschnitt 7.5). Prozedural und substanziell. Gerechtigkeit unterscheidet sich danach, ob der zu evaluierende Sachverhalt nach seinen Eigenschaften oder nach seinem Zustandekommen bewertet wird, in eine prozedurale und eine substanzielle Dimension. Prozedurale Gerechtigkeit liegt vor, wenn der Prozess gerecht ist, der einer Verteilung zugrunde liegt, und zwar unabhängig vom Verteilungsergebnis. Substanzielle Gerechtigkeit liegt vor, wenn die Verteilung selbst gerecht ist, und zwar ungeachtet ihrer Entstehung. Der libertäre Theoretiker Nozick (1974) räumt prozeduralen Regeln den Vorrang vor allen anderen Gerechtigkeitskalkülen ein. In seiner Terminologie werden Theorien nach ihrem Modus unterschieden: „end-state theories“ zielen dabei auf ein aggregiertes Ergebnis wie Wohlfahrtsmaximierung, „patterned theories“ orientieren sich an individuellen Kriterien wie Verdienst oder Bedürftigkeit, „historical theories“ fragen nach dem Zustandekommen eines Ergebnisses, wie zum Beispiel der Rechtmäßigkeit der Aneignung ehedem herrenloser Güter. Im Gegensatz zu Nozick wird der prozeduralen Gerechtigkeit durch die meisten Politischen Philosophen lediglich ein instrumenteller Wert beigemessen. Instrumentell heißt in diesem Zusammenhang, dass ein Prozess so auszugestalten ist, dass er seinerseits auf die Herstellung eines a priori als wünschenswert festgelegten Ergebnisses zielt. Dritte Implikation. Ein Grundeinkommen kann sowohl prozedural als auch substanziell begründet oder abgelehnt werden. Prozedural gerecht wäre es, wenn es gerecht zustande kommt, wobei diese Regeln ihrerseits expliziert werden müssten wie etwa in der Aneignungstheorie von Nozick. Substanziell gerecht wäre es, wenn das Grundeinkommen als Verteilungsergebnis gerecht ist. Komparativ und non-komparativ. Gerechtigkeit unterscheidet sich nach ihrer Relationalität in eine komparative und eine non-komparative Dimension (Feinberg 1974). Komparative Gerechtigkeit bewertet ein individuelles Ergebnis vor dem Hintergrund des Gesamtergebnisses. Ein Beispiel dafür ist der Egalitarismus, der immer für irgendeine Art der Gleichheit wirbt. Diese wird in aller Regel als gleicher, rechtmäßig zustehender Anteil konzipiert, weswegen sich die Art und der Umfang des Anspruchs immer erst a posteriori aus der Relation von Individuum und dem Kontext ergeben, in den es eingebettet ist. Non-komparative Gerechtigkeit gilt hingegen absolut: Wem was rechtmäßig zusteht, ergibt sich dabei allein aus den je individuellen Eigenschaften. Ein Beispiel dafür ist das Suffizienzprinzip. Dieses besagt, dass niemand mehr aus allgemeinen Mitteln erhalten
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4 Was ist Gerechtigkeit?
soll, als er benötigt. Für sich genommen ist dieses Prinzip jedoch unvollständig, da es nichts darüber sagt, was mit dem distributiven Surplus in einer reichen Gesellschaft geschieht, noch wie mit einem Mangel an distributiven Gütern in einer armen Gesellschaft umzugehen ist. Eine dritte Klasse von Theorien, die Gerechtigkeit weder eindeutig relational noch absolut bestimmt, kann als holistisch bezeichnet werden. Das Differenzprinzip von Rawls steht hierfür paradigmatisch. Danach ist diejenige Option die gerechteste, die die am schlechtesten Gestellten am besten stellt. Das geschieht weder non-komparativ durch die Erfüllung ausschließlich individueller Kriterien noch komparativ durch das Inbezugsetzen zu einer Vergleichsgruppe, sondern durch eine hypothetische Abwägung: Gegenstand des Vergleichs sind hier nicht etwa Personengruppen A und B, sondern diejenige Gruppe an Personen, die gesellschaftlich am schlechtesten gestellt ist, zu sich selbst in allen denkmöglichen Alternativszenarien. Vierte Implikation. Ein Grundeinkommen kann nur non-komparativ sinnvoll begründet oder abgelehnt werden. Denn die Tatsache des Grundeinkommens folgt aus der je individuellen Eigenschaft des Bürgerstatus. Es gibt hier keine Differenzierung entlang des Gesamtergebnisses, zum Beispiel in Relation zu Anzahl, Kaufkraft oder Alter dieser Bürger. Lediglich die Höhe der Leistung kann komparativ bestimmt werden, indem sie an eine Referenzgröße gekoppelt wird (zum Beispiel das Bruttonationaleinkommen). Da aber diese Dynamisierung lediglich zwischen Zeitreihen stattfindet und nicht innerhalb einer Zeitreihe zwischen Personen, ist streitbar, ob selbst in diesem Fall von einem komparativen Ansatz gesprochen werden könnte. Da, um im Beispiel zu bleiben, lediglich die Höhe (oder ein beliebiges anderes Element der Leistung) komparativ bestimmt werden kann, eignet sich Komparatismus nur zur Diskussion der Ausgestaltung eines Grundeinkommens, nicht per se zur Diskussion seiner Gebotenheit. Mit dieser Erkenntnis ist gleichsam eine bedeutende theoretische Standortbestimmung der Idee verbunden: Ein Grundeinkommen ist keine egalitäre Forderung, verstehen wir Egalitarismus als Denkströmung, die Gleichheit einen Eigenwert beimisst, sondern eine im weiteren Sinne liberale, das heißt, eine solche, die zuvorderst individueller Freiheit einen Eigenwert beimisst. Kognitivistisch und non-kognitivistisch. Es gibt zwei erkenntnistheoretische Standpunkte in Bezug auf Gerechtigkeit: einen kognitivistischen und einen nonkognitivistischen (van Roojen 2016). Vertreter des Non-Kognitivismus gehen davon aus, dass es weder genuin moralische Eigenschaften noch genuin moralische Fakten gibt. Das bedeutet genauer, dass moralische Aussagen keinen Wahrheitswert haben. Die Aussage „A ist gerecht, B ist ungerecht“ kann nach non-kognitivistischem Verständnis nicht beurteilt, sondern lediglich der Intuition überlassen werden. Als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung käme
4.3 Sechs Unterschiede
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die These jedoch nicht infrage. Die Person, die die Aussage „A ist gerecht, B ist ungerecht“ tätigt, so die Argumentation, transportiert damit keinen rationalisierbaren Inhalt, sondern eine Neigung, eine Zustimmung oder Ablehnung, also einen non-kognitiven Bewusstseinsinhalt. Ein solches Pseudo-Urteil kann mehrere non-kognitive Funktionen erfüllen: Es kann dazu dienen, eine Emotion zu transportieren oder eine solche in anderen zu erzeugen, wobei semantische Markierungen wie „gerecht“ oder „ungerecht“, „gut“ oder „schlecht“ eine rein instrumentelle Funktion im Sprechakt haben (Emotivismus); es kann ein vorschreibendes Urteil, einen Imperativ verkleiden (Präskriptivismus); oder es kann persönlichen Einstellungen, Präferenzen oder Bewusstseinszuständen Ausdruck verleihen (Expressivismus) (zu den Bezeichnungen ebd.: Kap. 2). Der Kognitivismus (als Negation des Non-Kognitivismus) betrachtet die bisherigen Gedanken als irrig. Nach kognitivistischem Verständnis kann die Aussage „A ist gerecht, B ist ungerecht“ prinzipiell wissenschaftlich geprüft werden, solange die Kriterien dabei expliziert sind. Moralische Aussagen und damit Gerechtigkeitsurteile können demnach einen Wahrheitswert haben und als entweder wahr oder falsch eingestuft werden. Es geht bei dieser Unterscheidung lediglich um den epistemologischen Status von ethischen Kategorien, keineswegs um ein Werturteil für oder gegen ethische Argumente. Diese könnten auch dann praktisch sein, wenn sie nicht wahrheitsfähig sind. Fünfte Implikation. Die vorliegende Arbeit ist indifferent gegenüber den beiden oben besprochenen Standpunkten. Es wird ausschließlich begriffsanalytisch geprüft, wie verschiedene Gerechtigkeitsurteile über ein Grundeinkommen ausfallen. Ob diese Urteile selbst wahrheitsfähig sind (Kognitivismus) oder nicht (Non-Kognitivismus), überlasse ich dem Leser. Konsequentialistisch und deontologisch. Es gibt keinen Konsens darüber, ob Gerechtigkeit sich auf das beziehen sollte, was grundsätzlich richtig ist, oder auf das, was tatsächlich gut ist. Der erste Standpunkt ist deontologisch formuliert und inputorientiert; der zweite Standpunkt ist konsequentialistisch formuliert und outputorientiert. Deontologische Ansätze betrachten manche Handlungen oder Institutionen unabhängig von ihrem Ergebnis als wünschenswert, konsequentialistische Ansätze bemessen alles nach der Konsequenz (Sinnott-Armstrong 2015). Konsequentialismus präskribiert das Gute, Deontologie das Richtige. Seit Rawls’ (1971) Utilitarismuskritik haben sich deontologische Konzepte weitgehend durchgesetzt. Deontologie ist nur vor dem Hintergrund dieser KonsequentialismusKritik zu verstehen, auf die hier in gebotener Kürze eingegangen werden soll. Welche Gründe sprechen also für den Vorrang deontologischer Konzepte? Erstens kennt der Konsequentialismus keine moralische Indifferenz. Jede Handlung hat eine Folge, jede Folge muss also ethisch bewertet werden. Es gibt daher keine
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4 Was ist Gerechtigkeit?
nicht-moralische Handlung. Somit übergeneralisiert der Konsequentialismus die Sphäre des ethisch zu Beurteilenden. Ein Akteur in der Konsequentialismus-Welt ist vollkommen überfordert: Jede seiner Handlung hat eine moralische Implikation, ständig muss er abwägen, alles ist entweder verboten oder geboten. Zweitens duldet der Konsequentialismus im Einzelfall Ungerechtigkeiten, um die Gesamtgerechtigkeit zu maximieren. Er kann sogar gezielt Bauernopfer einfordern. Wenn die Konsequenz einer Handlung deren alleinige Urteilsgrundlage ist, kann im Prinzip jede Handlung als gerechtfertigt erscheinen. Eine moralische Schranke gibt es nicht. Die Deontologie erscheint hier als die attraktivere Alternative, da sie das Individuum vor der konsequentialistischen Willkür und Entfremdung schützt und ihm ausdrücklich negative Freiheiten einräumt, die seine Privatsphäre schützen, in der es das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten kann. Das ethische Kalkül der Deontologie lässt Raum für das Freiwillige: Jemand kann Gutes tun, auch ohne dazu verpflichtet zu sein. Drittens hat der Konsequentialismus das methodische Problem, dass er individuelle Handlungen isoliert betrachtet, ganz als hätten diese keine gegenseitigen Effekte. Wie aber umgehen mit einem Fall, bei dem die Wohlfahrt des einen die des anderen behindert? Viertens ist jede konsequentialistische Theorie paternalistisch: Sie setzt einen Hegemon voraus, der die Deutungshoheit über Kosten und Nutzen, Glück und Unglück und damit auch Lebensentwürfe innehält. Da in dieser Arbeit ein liberaler Standpunkt eingenommen wird und dieser wiederum notwendig skeptisch gegenüber Paternalismus sein muss, wie noch zu zeigen sein wird, haben wir ein starkes Argument gegen Konsequentialismus und ein starkes komplementäres Argument für eine deontologische Evaluation. Sechste Implikation. Die Arbeit befasst sich daher ausschließlich mit der deontologischen Perspektive auf Verteilungsgerechtigkeit und eliminiert jeden Konsequentialismus aus der Argumentation. Zum einen wegen den immanenten Problemen konsequentialistischer Theorie, die oben angesprochen wurden. Zum anderen, weil die Konsequenzen eines Grundeinkommens nicht letztbegründbar abschätzbar sind. Eine Spekulation über die Folgen des Grundeinkommens mündet immer in ein argumentum ad infinitum. Ein Beispiel: Jedem Bürger 1.000 e zu überweisen hat bestimmte Verteilungswirkungen (Erstrundeneffekt); auf dieser Grundlage trifft dieser dann bestimmte arbeitsmarktrelevante Entscheidungen, die wiederum Verteilungswirkungen haben (Zweitrundeneffekt); auf Grundlage des veränderten Arbeitsmarkts schließlich verändert sich der volkswirtschaftliche Output auf bestimmte Weise und erzeugt dadurch wiederum neue Verteilungsergebnisse (Drittrundeneffekt), die den Status einer erneuten „ersten“ Runde einnehmen usw. Die Identität von Ursache und Wirkung setzt sich hier im Prinzip unendlich fort und mit jeder „Runde“ steigt die Irrtumswahrscheinlichkeit in
4.3 Sechs Unterschiede
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nicht näher bestimmbarem Maße. Die Deontologie vermeidet diesen Regress. Die meisten Argumente für oder gegen ein Grundeinkommen sind allerdings an die je erwarteten Folgen davon gekoppelt. Beiden Standpunkten, dem für und dem gegen ein Grundeinkommen, muss dabei mit der gleichen Skepsis begegnet werden. Was die konsequentialistischen Argumente insbesondere der Gegner der Idee stark abschwächt, ist jedoch die Tatsache, dass ein Grundeinkommen inkrementell eingeführt werden kann, sodass auf mögliche negative Folgen reagiert oder sogar der Status quo ante ohne hohe Transformationskosten wiederhergestellt werden könnte.
5
Was ist Liberalismus?
5.1
Für Freiheit
Präsumtion der Freiheit. Der Liberalismus ist diejenige Politische Philosophie, die sich durch die Präsumtion der Freiheit auszeichnet. Das heißt, individuelle Freiheit ist der normative Standard, der axiomatisch gesetzt ist und keiner Begründung bedarf. Jede politische Institution, die Freiheit einschränkt, muss rational begründen, warum sie das tut. Die argumentative Beweislast liegt also bei den Gegnern der Freiheit (Feinberg 1984: 9). Ein Liberaler ist daher jemand, so kann weiter spezifiziert werden, der an den fundamentalen, nicht-instrumentellen Eigenwert von Freiheit glaubt (Cranston 1967: 459), und zwar selbst dann, wenn er für notwendig befindet, Freiheit einzuschränken (Hobbes 1651; Rousseau 1762). Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass der Liberalismus (1) Freiheit als Wert präsumiert und (2) Abweichungen von Freiheit duldet, wenn sie rational begründet sind. Das liberale Kalkül ist demnach keines, das notwendigerweise auf Freiheit zielt, aber immer eines, das von Freiheit her denkt. (1) und (2) zusammengenommen können als das Fundamentalprinzip der Freiheit (Gaus, Courtland & Schmidtz 2018: Abschn. 1.1) bezeichnet werden. Dieses wird insbesondere in den zeitgenössischen Vertragstheorien evident. Darin begegnen sich die den Vertrag aushandelnden Repräsentanten als freie und gleiche Personen, um dann einen Vertrag zu formulieren, der die zulässige Art und das zulässige Maß der Unfreiheit der Gesellschaftsmitglieder vernunftgeleitet fixiert. Das bisher Gesagte hat auch Implikationen für das liberale Verständnis von Staatlichkeit. Der liberale Staat hat analog zu (1) und (2) die Aufgabe, individuelle Freiheit zu sichern oder zu maximieren, und für Abweichungen davon Rechenschaft abzulegen. Nur wenn die Beschränkung der Freiheit zum Nutzen aller gereicht, ist sie politisch legitim.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_5
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5 Was ist Liberalismus?
Das einzige legitime Kriterium, wonach ein Liberaler Freiheit einschränken darf, ist also das Argument über den allseitigen Vorteil.
5.2
Für Autonomie
Was ist Autonomie? Die Idee der Freiheit konnotiert die politische Ebene der liberalen Theorie, deren Komplement auf individueller, psychologischer Ebene das autonome Subjekt ist. Autonom hieß im antiken Griechenland eine Polis, die sich selbst regierte. Heute wird der Begriff vordergründig als Eigenschaft von Personen gebraucht. Personale oder individuelle Autonomie im Besonderen ist eine psychologische Eigenschaft einer Person, die sie befähigt, kritisch die eigene Existenz, die eigenen Präferenzen und Ziele zu reflektieren, ihr authentisches Selbst zu kennen und im Angesicht externer Hindernisse in Resonanz damit zu leben. Ein autonomer Akteur besitzt danach die folgenden Eigenschaften in besonderem Maße: Selbstbeherrschung, Introspektion, unabhängige Urteilsfähigkeit, kritisches Denken und Reflektieren. Das Gegenteil von Autonomie ist Fremdbestimmung oder Konformismus. Einen konkreten Definitionsvorschlag liefert Christman (2018: Kap. 1)1 : to be one’s own person, to be directed by considerations, desires, conditions, and characteristics that are not simply imposed externally upon one, but are part of what can somehow be considered one’s authentic self.
Autonomie als Kontinuum. Aus der Definition folgt kein Kriterium, das angibt, wann genau ich als autonom zu bezeichnen bin und wann nicht. Es sind zahlreiche Abstufungen denkbar. Eine basale Formulierung könnte angeben, was Autonomie mindestens bezeichnen müsste, zum Beispiel juristische Verantwortbarkeit (Strafmündigkeit). Diesen Status erfüllt jede geistig gesunde erwachsene Person. Eine ideale Formulierung könnte hingegen angeben, was Autonomie im besten Fall bezeichnen könnte, zum Beispiel die vollständige Authentizität der eigenen Person, die vollständige Freiheit von externen Motivationen usf.
1 Beim
direkten Zitat einer durch nummerierte Elemente (zum Beispiel durch Überschriften) strukturierten Onlinepublikation wird auf die Angabe „ohne Seite“ oder „o.S.“ verzichtet, und an ihrer statt das nummerierte Element (zum Beispiel die Kapitelnummer) angegeben, dem das wörtliche Zitat zuordenbar ist, weil sich dadurch die Nachvollziehbarkeit im Verhältnis zur üblichen Schreibweise erhöht.
5.2 Für Autonomie
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Fünf Perspektiven. Forst (2005) zeigt, wie facettenreich letztlich der Begriff der Autonomie ist. Er nennt fünf verschiedene Perspektiven, die zusammengenommen als vollständiges Konzept von Autonomie verstanden werden können: 1. Moralische Autonomie betrifft meine Fähigkeit, eigene Entscheidungen und Handlungen vor anderen rechtfertigen zu können. Ich bin dann moralisch autonom, wenn meine Entscheidungen und Handlungen alle Personen, die sie betreffen, gleichermaßen und gleichgewichtet berücksichtigen (suum cuique), ich also keinen moralisch willkürlichen Unterschied in der Behandlung von Personen mache. 2. Ethische Autonomie betrifft meine Fähigkeit, meine eigene Vorstellung des Guten zu konzipieren und nach ihr zu streben. Ich bin dann ethisch autonom, wenn mein Entwurf des Guten authentisch ist und ich diesen Lebensentwurf prinzipiell umsetzen kann. 3. Rechtliche Autonomie betrifft meinen Abstand vor willkürlicher Kriminalisierung, Stigmatisierung, Moralisierung usw. Ich bin dann rechtlich autonom, wenn mich niemand in ein bestimmtes Werte-, Normen- oder Pflichtensystem direkt oder indirekt zwingen kann, das seinerseits unbegründet ist. 4. Politische Autonomie betrifft die Mitgestaltung öffentlicher Angelegenheiten. Ich bin dann politisch autonom, wenn ich die politischen Umstände, die mich umgeben, gemeinsam mit allen anderen betroffenen Akteuren mitgestalten darf oder kann. 5. Soziale Autonomie betrifft die reale Möglichkeit eines Akteurs, ein vollwertiges Mitglied seiner Gemeinschaft zu sein. Ich bin dann sozial autonom, wenn ich den anderen substanziell gleichgestellt bin, das heißt, die gleiche Möglichkeit habe, meine zunächst formell geltenden Rechte empirisch in Anspruch zu nehmen. Notwendige Bedingungen. Autonomie (egal welche) kann wahlweise als zweioder dreiwertiges Konzept begriffen werden (Piper o. J.: Abschn. 2c). Die zweiwertige Basisformulierung von Autonomie beinhaltet die beiden Bestandteile Authentizität (sich zu kennen) und Kompetenz (man selbst sein zu können), wobei die zweite die erste voraussetzt. Diese beiden Bedingungen gelten als definitorischer Konsens. Ein dreiwertiges Konzept ist Autonomie, sobald die ersten beiden Elemente um ein drittes erweitert werden, nämlich die externen Grundlagen ihrer Ermöglichung: Soziale, rechtliche, familiale, ökonomische Randbedingungen sind dem Erkennen der eigenen Authentizität oder ihrem Vollzug mehr oder weniger zuträglich. Sie entziehen sich zwar der unmittelbaren Kontrolle des Akteurs, müssen aber intakt sein, damit eine Person den Status der Autonomie erfüllen
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5 Was ist Liberalismus?
kann. Solche Ermöglichungsgrundlagen könnten sein: ein Mindestmaß an sozialer Freiheit, institutionelle Wahlmöglichkeiten und authentische soziale Beziehungen. Wenn eine solche externe Grundlage als notwendige Bedingung von Autonomie gesehen wird, dann liegt Autonomie nicht vor, wenn diese externe Bedingung auch nicht vorliegt, selbst dann nicht, wenn eine Person die Authentizitäts- und Kompetenzbedingung erfüllt (Oshana 1998). Zu einem ganz anderen Bild gelangt man, wenn nur Authentizität und Kompetenz die definitorischen Bedingungen von Autonomie sind und die externe Bedingung ausgespart wird. Hiernach könnte ich auch dann autonom sein, wenn ich meine Autonomie niemals verwirklichen kann. Die Intuition hinter der ersten Variante lautet, dass man nur sinnvoll von einem autonomen Akteur sprechen kann, wenn er auch tatsächlich autonom lebt, alles andere wäre spekulativ. Die Intuition der zweiten Variante ist, dass es nicht plausibel ist zu sagen, dass ich in Deutschland eine autonome Person bin, aber sobald ich in Nordkorea lande und aus dem Flugzeug aussteige, nicht mehr. Schließlich ist Autonomie ja ein individuelles Attribut und als solches müsste es ausschließlich die Eigenschaft einer Person beschreiben, um das Korea-Deutschland-Problem zu vermeiden. Bereits das reicht als Grund hin, um die externen Elemente aus der Definition auszusparen. Wichtiger noch ist aber eine zweite Erkenntnis: Sobald Umstände außerhalb der Person bestimmen, ob sie autonom ist oder nicht, unterliegt Autonomie einer Paradoxie: Jemand könnte meine Autonomie erhöhen, indem er mich in „authentische“ soziale Beziehungen zwingt, „vernünftige“ öffentliche oder private Entscheidungen mit positiven Anreizen belegt oder „unvernünftige“ Entscheidungen mit Sanktionen versieht. Das aber hieße, dass ich die ersten beiden Bedingungen nicht oder nicht in hinreichendem Maße erfüllen würde, jedenfalls nicht aus Sicht des Hegemonen, der hierüber bestimmt. Es ist also ausgesprochen ambivalent und theoretisch inkonsistent, Autonomie an externe Bedingungen zu koppeln, weswegen ich mich hier auf die reduzierte Variante beschränke: Autonom ist eine Person, die weiß, wer sie ist, und prinzipiell sie selbst sein kann; in keiner der beiden Hinsichten (Authentizität, Kompetenz) also verbindlicher Verhaltensvorgaben bedarf.
5.3
Implikationen von Autonomie
Prinzip des Pluralismus. In der Definition von Liberalismus weiter oben wurde ein Fundamentalprinzip von Freiheit formuliert, das besagt, (1) dass Freiheit die theoretische Präsumtion ist und (2) Abweichungen von Freiheit daher begründet werden müssen. Wenn ein Liberaler nun die Idee der Autonomie akzeptiert, könnten daraus zwei weitere Adäquatheitsbedingungen an eine liberale Theorie
5.3 Implikationen von Autonomie
57
abgeleitet werden, die zusammengenommen ein dem Freiheitsprinzip komplementäres Prinzip des Pluralismus bilden: (3) Der Liberalismus sagt etwas darüber aus, was institutionell richtig ist, (4) darf dabei aber nicht vorfestlegen, was individuell gut ist. Einer autonomen Person muss niemand sagen, was für sie gut ist. Das weiß sie selbst, sonst wäre sie nicht autonom. Anti-Paternalismus. Aus dem Prinzip des Pluralismus folgt, dass ein Liberaler gegenüber staatlichem (oder sonstigem) Paternalismus eine skeptische Position einnimmt, zumindest soweit er an ideale Autonomie glaubt. Er kann einem paternalistischen Standpunkt niemals grundsätzlich zustimmen, sondern immer nur unter der Voraussetzung einer Begründung über den allseitigen Vorteil. Paternalismus ist eine politische Strategie, deren Begründung vorgibt, dem Adressaten zu helfen, ohne dass dieser diese Hilfe eingefordert hat oder sogar damit explizit nicht einverstanden ist. Paternalismus heißt also: A handelt im Sinne von B, womit B nicht explizit einverstanden ist. A ist also der Meinung, dass er etwas (aus Sicht von B) Falsches tun muss, um Gutes zu bewirken (Christman 2018: Abschn. 2.2). Die Motivation dieser Bevormundung ist die Vorannahme, dass B außerstande ist, in dieser Hinsicht für sich oder die Allgemeinheit gute oder richtige Entscheidungen zu treffen. Ein Liberaler muss diese Sichtweise grundsätzlich ablehnen, weil sie die Präsumtion verletzt, auf die er sich theoretisch verpflichtet (Autonomie), oder seinerseits begründen, warum Paternalismus im Einzelfall doch zulässig ist (qua allseitigen Vorteil). Diese Sichtweise gilt mindestens seit Kant. Bei Kant war Autonomie an die Idee des juridischen Rechts gebunden: Jede Person hat das Recht auf die maximale gleiche Freiheit, die mit der Freiheit aller vereinbar ist. Wenn meine Handlung mit der aller anderen koexistieren kann, dann ist sie legitim und ich bin zu ihrem Vollzug frei. Autonomie spielt dabei insofern eine Rolle, als sie etwas grundsätzlich zu Respektierendes ist, das vor der öffentlichen Autorität immun ist, solange sie mit der gleichen Freiheit aller anderen konsistent ist. Jeder darf in der Kantischen Freiheit unter dem oben genannten Vorbehalt seine eigenen authentischen Ziele, Wünsche und Absichten verfolgen. Moralischer Minimalismus. Autonomie hat keine einzige moralische Implikation, wenn sie deskriptiv formuliert wird. Wird sie präskriptiv formuliert, besteht die einzige moralische Implikation darin, dass Autonomie selbst gut ist. Ein stärkerer Zusammenhang liegt nicht vor. Ich könnte also autonom sein und Schlechtes tun, jedenfalls hätte die schlechte Handlung keine Auswirkung auf meinen Status der Autonomie, sofern diese Handlung die meine ist. Konkret bedeutet der moralische Minimalismus der liberalen Theorie zweierlei. (1) Es gibt nichts objektiv Gutes, weil zwei autonome Personen immer unterschiedlicher Auffassung darüber sein können, was für sie oder die Allgemeinheit gut ist. In Anbetracht dieses Konflikts muss mindestens eines der beiden Axiome
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5 Was ist Liberalismus?
(Autonomie oder das Gute) fallengelassen werden. Der Liberale entscheidet sich dafür, das Gute fallenzulassen. Entweder weil er die deskriptive Auffassung vertritt, dass Menschen tatsächlich autonom sind, oder weil er der Meinung ist, dass Autonomie das einzige moralische Gut ist, auf das die Mitglieder einer Gesellschaft sich vernünftigerweise einigen können. (2) Die einzige Art und Weise, wie ein politisches System der (deskriptiven oder präskriptiven) Autonomie Rechnung tragen kann, ist, sie grundsätzlich zu respektieren. Das geschieht über Freiheit, verstanden als der Ort, an dem der individuellen Autonomie keine Grenzen und Auflagen gesetzt sind, außer diesen Status bei allen anderen autonomen Personen auch anzuerkennen.
5.4
Gegen Gleichheit
Zielkonflikt von Freiheit und Gleichheit. Bisher wurde positiv bestimmt, warum eine liberale Perspektive der Sache angemessen ist. Genauso gut kann auch negativ bestimmt werden, warum die übrigen metatheoretischen Positionen auf Gerechtigkeit der Sache unangemessen sind. Neben Freiheit (Liberalismus) gibt es noch zwei weitere Metatheorien, in denen Gerechtigkeit eine Rolle spielt: der Utilitarismus (Nutzen) und der Egalitarismus (Gleichheit). Der Utilitarismus wurde bereits indirekt verworfen, weil er unter den Terminus des Konsequentialismus fällt und der Gegenstandsbereich dieser Arbeit deontologisch ist. Verbleibt also nur die egalitäre Theorie als Alternative zum Liberalismus. Zwar gibt es hier und dort die theoretische Anstrengung, Freiheit und Gleichheit miteinander zu versöhnen, wodurch prima facie der Eindruck entstehen kann, es gäbe keinen genuinen Widerspruch zwischen den beiden Positionen. Das ist aber grundfalsch. Der Eigenwert muss immer entweder Freiheit oder Gleichheit lauten, weil es sonst keine Entscheidungsgrundlage gibt, wie im Falle eines Zielkonflikts zu verfahren ist. Eine Präsumtion kann sich immer nur auf eine einzige Norm beziehen oder ein Bündel an vollständig kommensurablen Normen. Freiheit und Gleichheit sind aber nicht kommensurabel, da eine Egalisierung hier einen Eingriff in eine individuelle Freiheit dort bedeuten kann, oder umgekehrt der Schutz einer individuellen Freiheit hier Ungleichheit dort bewirken kann. Deshalb muss sich eine Theorie der Gerechtigkeit auf genau eine normative Weichenstellung festlegen. Ich führe im Folgenden drei Gründe an, warum der Egalitarismus keine valide theoretische Alternative ist, was wiederum als indirektes Argument für eine liberale Grundsatzposition interpretiert werden kann. Egalitarismus muss dabei verstanden werden als Theorie, die Gleichheit präsumiert, ihr also einen Eigenwert beimisst, der aus
5.4 Gegen Gleichheit
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sich heraus moralisch geboten ist und sich nicht lediglich instrumentell zu etwas anderem verhält. „Leveling-Down Objection“. Egalitäre haben bislang nicht überzeugend darauf antworten können, dass, liegt der Eigenwert auf Gleichheit, im Zweifelsfall eine Gesellschaft zu bevorzugen sein müsste, in der es allen gleich schlecht geht, gegenüber einer, die ungleich ist, aber in der jede einzelne Position absolut bessergestellt ist als in der egalisierten Alternative (Nozick 1974: 229; Temkin 1993: 247–248). Diese Implikation verletzt Common Sense. Die einzige überhaupt denkbare Strategie der Verteidigung müsste ein partieller Rückzug von der Präsumtion sein, etwa derart: Egalisierung muss mindestens eine Person absolut besserstellen als ex ante (Gosepath 2011: Abschn. 5.1). Diese „weiche“ egalitäre Position verwässert aber die Präsumtion. Wenn Gleichheit ihren Wert nur unter einer bestimmten Voraussetzung trägt, dann hat sie jedenfalls keinen Eigenwert (Parfit 1997; Temkin 1993). Egalisierung als Selbstzweck? Ein weiterer Einwand gegen den Egalitarismus richtet sich gegen die Idee, dass Gleichheit darin besteht (oder bestehen sollte), eine bestimmte „Währung“ gleichmäßig auf Menschen zu verteilen. Warum sollte Gleichheit per se ein Egalisandum – etwas Gleichzumachendes – überhaupt brauchen? Ist nicht viel entscheidender, dass sich Menschen aufeinander als Gleiche beziehen – selbst, wenn sie ungleich mit „Währungen“ ausgestattet sind? Güter und Lasten auf Personen zu verteilen hätte demnach eher instrumentellen statt intrinsischen Wert. Wo mich zum Beispiel ein Mangel an einer „Währung“ daran hindert, ein vollwertiges Mitglied meiner politischen Gemeinschaft zu sein, dort hat Egalisierung einen plausiblen Grund. Keine Notwendigkeit sozialer Vergleiche. Warum sollte für mich eine moralisch relevante Rolle spielen, was andere haben, solange ich genug habe (Frankfurt 1987: 34)? Ist es nicht eine Übergeneralisierung, die Gerechtigkeit des einen davon abhängig zu machen, wie sich sein Leben, seine Umstände und seine Fähigkeiten zu denen eines anderen verhalten? Das hieße, dass alle Gleichheiten gleich wären: Der ökonomische Abstand zwischen einem Reichen und einem Superreichen wäre ebenso problematisch wie der Abstand zwischen einem Armen und einem Durchschnittsverdiener. Aber auch das verstößt gegen Common Sense. Aus der bloß formellen Äquidistanz des ökonomischen Status zweier Personen kann noch keine Gleichbehandlung zwischen ihnen folgen. Das Problem der Armut beispielsweise besteht nicht darin, dass die Armen weniger haben, sondern darin, dass sie objektiv nicht genug haben (Arneson 2013: Abschn. 6.1). Wenn jeder genug hat, hat Ungleichheit keine moralischen Implikationen mehr (Frankfurt 1987: 21), zumindest keine vorrangigen.
60
5.5
5 Was ist Liberalismus?
Gegen das Gute
Perfektionismus und Pluralismus. Dass eine liberale Theorie ein politisches System gebietet, das sich nicht in die Lebensentwürfe der Bürger einmischt, wurde als Implikation von Autonomie bereits herausgearbeitet. Dieser Punkt verdient aber gesonderte Beachtung, weil er das Wertegerüst des Liberalismus betrifft. Würden wir nämlich zu dem Schluss gelangen, dass ein Staat grundsätzlich legitim handelt, wenn er das Gute kollektiv oder im Einzelfall verbindlich ausspricht, müssten wir den Liberalismus in Gänze ablehnen. Im Folgenden gehe ich auf die wichtigsten Argumente für liberale Staatsneutralität ein und begegne klassischen Einwänden darauf. Dabei werde ich mich immer wieder auf die beiden Begriffe Perfektionismus und Pluralismus beziehen. Perfektionismus kann grundsätzlich zwei Dinge beschreiben: entweder die ontologische Position, dass ein objektiv bestimmbares gutes Leben existiert, oder die normative Position, dass ein Staat die Aufgabe hat, eine bestimmte Form des guten Lebens zu befördern. Im Gegensatz dazu hat Pluralismus auch zwei mögliche Bedeutungsebenen: ontologisch verneint er die Existenz eines für alle gültigen Entwurfs des Guten, normativ verbietet er dem Staat qua Präsumtion, sich in das individuell Gute einzumischen. Im Folgenden geht es allein um die je normativen Positionen, wenn von einem perfektionistischen oder pluralistischen Standpunkt die Rede ist. Die These, die im Folgenden begründet und verteidigt werden soll, lautet: Der liberale Staat muss dem Prinzip des Pluralismus folgen und sich einem etwaigen guten Leben gegenüber neutral verhalten. Argumente für Neutralität. (1) Das erste Argument ist deskriptiv und geht von der Beobachtung aus, dass zeitgenössische demokratische Gesellschaften defacto-pluralistisch sind. Die Bürger sind weit davon entfernt, in grundlegenden Wertefragen miteinander konform zu gehen. Was ein gutes Leben sein soll, ist grundsätzlich kontrovers, ganz unabhängig davon, ob es überhaupt existiert. Und wenn es kontrovers ist, dann sollte der Staat sich so weit wie irgend möglich aus perfektionistischer Politik zurückziehen, weil ein Staat allseitig repräsentativ legitimiert ist und nicht einseitig oder partikular repräsentativ. Würde der Staat den Lebensentwurf der einen über den der anderen stellen, stufte er ja den Wert der demokratischen Bürgerschaft dieser anderen herab, vielleicht sogar ihr Leben selbst. Liberale Gesellschaften sind aber ein kooperatives Projekt aller Bürger, in dem jeder Standpunkt gleich viel wert ist. Wenn zeitgenössische Gesellschaften nun deskriptiv als pluralistisch zu bezeichnen sind, wäre dann nicht ein Staat, der perfektionistisch agiert, ein Anachronismus? (2) Das zweite Argument betrifft die Funktion von Politik. Eine politische Entscheidung ist dann zustimmungsfähig, wenn sie durch rationale Übereinkunft zustande kommt. Und das ist nur
5.5 Gegen das Gute
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durch ein Pluralismus-Prinzip gewährleistet: Bürger und Berufspolitiker können das öffentliche Leben nur sinnvoll gestalten, wenn sie sich je gegenseitig und untereinander als rationale und autonome Akteure voraussetzen, die ihre weltanschaulichen Differenzen beiseitelegen. Was gut ist, ist eine vorwissenschaftliche Frage. Darum ist perfektionistische Politik nicht evidenz-, sondern affektbasiert. (3) Das dritte Argument bezieht sich auf Rawls‘ Idee der Grundgüter. Der Index dieser Güter umfasst auch die sozialen Grundlagen der Selbstachtung: „[a] secure conviction that [one’s] conception of [one’s] good, [one’s] plan of life, is worth carrying out” (Rawls 1971: 440). Folgen wir Rawls, müssen wir einen perfektionistischen Standpunkt streng ablehnen, weil die Hoheit und Freiheit meines Lebensentwurfs Teil meiner Selbstachtung sind, welche zu schützen wiederum als erste Tugend sozialer Institutionen gilt. (4) Abgesehen von schwachen Plädoyers für das Gute wie durch die Grundgüter bei Rawls, orientiert sich der Liberalismus am Schlechten, vor dem man zu schützen ist. Darum existiert notwendig so etwas wie ein liberales Prinzip der Nicht-Schädigung, das über die Lebensvorstellungen jedes Einzelnen erhaben ist. Im Perfektionismus gibt es ein solches Prinzip nicht, weswegen dieser die Missachtung der moralischen Gleichwertigkeit von Menschen und Bauernopfer im Namen des Guten zumindest nicht a se ausschließt. Wenn das Gute der einen mehr wert ist als das der anderen, könnte der Staat Gutes bewirken, indem er den zweiten den Lebensentwurf der ersten oktroyiert. Es gibt offensichtlich kein perfektionistisches Prinzip der Nicht-Schädigung, wonach der Staat nur dann jemandem einen Schaden zufügen darf, um den Schaden eines Dritten zu verhindern oder wiedergutzumachen. (5) Je mehr ein Staat dieses subventioniert und jenes sanktioniert, desto stärker tritt er als Manipulator auf, wenn auch latent oder gewaltfrei: „Messing with the options that one faces, changing one’s payoffs can be seen as manipulation (…) for it treats the agent as someone incapable of making independent moral decisions on the merits of the case“ (Waldron 1989: 1145–1146). Waldron zufolge ist Perfektionismus manipulativ, auch wenn er sich keines Zwangs bedient. Er verzerrt das rationale Kalkül des Entscheiders, indem die Werte der Alternativen, die für ihn zur Wahl stehen, manipuliert werden. (6) An dieser Stelle möchte ich ein pragmatisches Argument geltend machen, also ein Argument, das sich nicht gegen den moralischen Wert von Perfektionismus richtet, sondern ihn seiner praktischen Unmöglichkeit wegen ablehnt: Damit perfektionistische Politik das Leben eines Individuums überhaupt verbessern kann, muss dieses Individuum die zugrundeliegende Vorstellung des Entscheiders über das Gute teilen. Nun gibt es zwei denkbare Fälle. Der erste ist, dass (konfirmatorische) Politik auf das ausgerichtet ist, was der Einzelne ab initio gut findet. Der zweite ist, dass (persuasive) Politik auf das ausgerichtet ist, was
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5 Was ist Liberalismus?
die politische Führung selbst gut findet, und im Falle eines Dissenses den Einzelnen mit der abweichenden Vorstellung zu überzeugen versucht, zum Beispiel durch Information, Anreiz, Verbot, Subvention und dergleichen mehr. Das Problem ist die grundsätzliche Möglichkeit der zweiten Variante (Paternalismus). Inwiefern könnte man hier vom Guten sprechen? Hier ist nichts wirklich besser geworden. Die Menge des Guten bleibt, wenn der Staat eine Person überzeugt, sich für A und nicht für B zu entscheiden, exakt gleich hoch. Das Gute hat sich lediglich von B nach A verschoben. Aber selbst wenn das nicht stimmte, B also tatsächlich schlecht war und die Person zurecht von A, das tatsächlich gut ist, überzeugt wurde, dann wäre der Wechsel von B nach A nichts intrinsisch Gutes, denn er war nicht authentisch, sondern das Ergebnis einer würdelosen (den Einzelnen rein als Mittel zum Zweck betrachtenden) Persuasion: „No life goes better by being led from the outside according to values the person does not endorse” (Kymlicka 1990: 203). Vom paternalistischen Charakter persuasiver Politik abgesehen, wirft das Beispiel die Frage auf, was den Glauben des politischen Entscheiders rechtfertigt, das Gute zu kennen oder sogar besser zu kennen als das Subjekt der Entscheidung selbst. Die Antwort ist: grundsätzlich gar nichts. Er mag heute richtig liegen, sich aber schon morgen irren. Und hier liegt das Problem: Die prinzipielle Möglichkeit, dass derjenige, der mir das Gute präskribiert, sich in seinem Entwurf des Guten irren könnte, ist Grund genug, das Gute vollständig aus jeder rationalen politischen Begründung zu eliminieren. Der liberale Staat muss alle individuellen Konzeptionen des Guten, die sich im Rahmen der negativen Freiheiten bewegen, gleichartig und gleichwertig respektieren, ob sie ihm gefallen oder nicht. Ist liberale Neutralität möglich? Ist die liberale Forderung nach Staatsneutralität eine Übergeneralisierung? Sobald eine Regierung handelt, strukturiert sie schließlich den Handlungsrahmen aller Betroffenen neu: „[No government] can avoid either nonrationally shaping its citizen’s preferences or providing them with incentives (Sher 1997: 66)“. Mit Sher könnte man zu folgendem Argument gelangen: • • • • • • •
P1: Jede politische Handlung hat eine Konsequenz für jeden P2: Diese Konsequenz befördert das individuell Gute für jeden andersartig K1: Jede politische Handlung ist perfektionistisch P3: Perfektionismus präkludiert Pluralismus K2: Pluralismus ist nicht möglich P4: Liberale Neutralität fußt auf der Idee von Pluralismus K3: Liberale Neutralität ist unmöglich
5.5 Gegen das Gute
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Kategorienfehler. Das Argument ist zwar plausibel. Es besagt aber nur, dass ideale Neutralität nicht möglich ist. Dies als Argument gegen liberale Neutralität allgemein auszulegen, wäre ganz so, als argumentierte ich gegen den Perfektionismus, dass das ideal Gute unmöglich sei. Es handelt sich hier um einen Kategorienfehler, weil zwei Begriffe verglichen werden, die naturgemäß nicht vergleichbar sind. Davon abgesehen ist die Perspektive verkürzt. Bezöge man den Vorwurf auf die ihn erhebende Instanz, erschiene er rasch absurd: • P5: Pluralismus ist unmöglich • P6: Pluralismus präkludiert Perfektionismus • K4: Nicht-Perfektionismus ist unmöglich Reductio ad absurdum. Wenn es in der Welt kein Phänomen gibt, dass nicht unter den Terminus des Perfektionismus fällt, dann sagt dieser Terminus nichts im Besonderen aus. Die politische Implikation davon wäre zynisch: Wenn der Staat ja ohnehin, egal was er im Einzelfall tut, mindestens en passant etwas Gutes präskribiert, dann könnte er damit jeden beliebigen Eingriff in die Privatheit seiner Bürger begründen, weil ein solcher Eingriff ja unumgänglich sei und sich letztlich nur die Geschmacksfrage stelle, welche Art präskriptiver Politik gerade geboten ist. Formulierungen des Neutralitätsgebots. Bisher wurde gezeigt, dass und warum bei Staatshandlungen die moralische Präsumtion auf weltanschaulicher Neutralität und nicht auf weltanschaulicher Parteilichkeit liegen sollte. Da hier entlang einer Präsumtion unterschieden wird, ist denkbar, dass ein Pluralist und ein Perfektionist zum selben Schluss oder zum selben moralischen Urteil gelangen. Aber sie müssten es per definitionem unterschiedlich begründet haben. Ein perfektionistisches Gebot nähme folgende Form an: Auch wenn Menschen ganz unterschiedliche Auffassungen vom Guten haben, darf der Staat grundsätzlich eine bestimmte Version des Guten befördern, es sei denn X. Das pluralistische Gebot hingegen nimmt folgende Form an: Weil Menschen unterschiedliche Auffassungen darüber haben, was gut ist, muss der Staat gegenüber diesen Sichtweisen neutral sein, es sei denn X. Was beide Standpunkte unterscheidet, ist die Beweislast, was sie verbindet, ist X, wobei man X als „Argument über den allseitigen Vorteil“ bezeichnen könnte. Das heißt, die Abweichung von einer pluralistischen oder perfektionistischen Präsumtion ist dann und nur dann zulässig, wenn X plausibilisiert, dass nicht nur der Staat oder der unmittelbare Adressat seiner Handlung im Einzelfall profitiert, sondern die Gesamtheit aller Dritten
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5 Was ist Liberalismus?
im selben politischen Geltungsbereich, die man als „Allgemeinheit“ bezeichnen könnte. Wie könnte nun die oben dargestellte Form eines Neutralitätsgebots konkretisiert werden? 1) The state should not promote the good (…) unless those who are subject to the state’s authority consent to its doing so. 2) The state should not aim to promote the good unless there is a societal consensus in support of its doing so. 3) The state should not justify what it does by appealing to conceptions of the good that are subject to reasonable disagreement. (Wall 2019: Abschn. 3.1) 4) If two or more ideals of the good are eligible for those who live in a particular political society, and if these ideals have adherents in that political society, and if these ideals cannot be ranked by reason as better or worse than one another, then the state, to the extent that it aims to promote the good in this political society, should be neutral between these ideals in its support of them. (Wall 2010; zitiert nach Wall 2019: Abschn. 3.1) Diskussion. In der ersten Fassung ist der allseitige Vorteil in der expliziten Zustimmung durch die Beteiligten begründet, in der zweiten im gesellschaftlichen Konsens. Gehen wir davon aus, dass das Gute grundsätzlich kontrovers ist, lässt die erste Interpretation keine an die Allgemeinheit gerichtete Politik zu. Das Gute zu befördern hätte nur dort Geltung, wo die Betroffenen ab initio ihr explizites Ja dazu gegeben haben. Das ist jedoch nicht praktikabel, weil Gesellschaftspolitik immer die Allgemeinheit adressieren muss und das Gute grundsätzlich kontrovers ist. Es wäre beispielsweise absurd, für Raucher eine Raucherkampagne und für Nichtraucher eine Nichtraucherkampagne aus staatlichen Mitteln zu finanzieren. Der Common Sense gebietet, hier entweder genau eine oder überhaupt keine Kampagne zu unterstützen. Explizite Zustimmung („consent“) als Kriterium des allseitigen Vorteils würde deshalb schlicht die bestehenden weltanschaulichen Proportionen in der Gesellschaft widerspiegeln. Auch die zweite Interpretation umgeht dieses Problem nicht. Ist das Kriterium ein Konsens, könnte man es zwar als direktdemokratisch legitimiert betrachten, aber auch hier wird lediglich ein bestehendes Mehrheitsverhältnis abgebildet, das Minderheitenperspektiven marginalisieren oder sogar kriminalisieren kann. Aber was wäre hier das Quorum, was die Mehrheitsgrenze? Und ist eine Meinung, die 60 % der Menschen vertreten, mehr wert als eine, die nur 40 % vertreten, schlicht deshalb, weil sie durch mehr Menschen vertreten wird? Ist das Kriterium für Güte zwingend Normalität? Wäre ein Staat, der einer Volksabstimmung zufolge das Christentum als Staatsreligion einführt, weil dies 67 % der Bevölkerung so wünschen, noch ein
5.5 Gegen das Gute
65
weltanschaulich neutraler Staat? Ein weiteres Problem der Formulierung ist ihr expliziter Bezug auf die Absichten politischer Akteure („aims“). Aber woher soll die Allgemeinheit wissen, was Politiker beabsichtigen, wo doch alles, was sie bewerten kann, allenfalls ihre Begründungen oder ihre Handlungen sind? Hier kommt die dritte Interpretation ins Spiel. Wenn man schon nicht in die Köpfe von Entscheidern blicken kann, muss man eben beurteilen, wodurch sie ihre Entscheidungen im öffentlichen Raum begründen. Aber auch hier liegt das Problem auf der Hand: Jede Absicht oder Handlung kann beliebig etikettiert werden. Eine faktisch perfektionistische Handlung könnte im öffentlichen Diskurs beliebig „neutralisiert“ werden. Bleiben wir im Beispiel der Religion: Ein Staat könnte behaupten, er rufe das Christentum zur Staatsreligion aus, weil es die Religion der Toleranz sei, und Toleranz etwas intrinsisch Gutes sei, über das es keine geteilte Meinung geben könne. Alle drei Versionen sind also unzureichend und ein Perfektionist könnte sie mit Recht ablehnen. Darum muss Neutralität über eine vierte Interpretation beschrieben werden, die die bisher auftretenden Unzulänglichkeiten umgeht. Auch wenn die Versionen 1), 2) und 3) unterschiedliche Probleme haben, sind diese ihrerseits auf denselben Grund zurückzuführen: Der allseitige Vorteil wird über eine Art der Übereinkunft bestimmt. Prinzip 4) löst die damit verbundenen Dilemmata auf, indem das Kriterium hier nicht die Tatsache der Übereinkunft ist, sondern ihr Status als vernunftgemäß. Ich führe nun ein letztes Beispiel über Religion an, das das hier vertretene Neutralitätsgebot (Version 4 weiter oben) exemplifiziert: Das Christentum als Staatsreligion einzuführen wäre in erster Annäherung dann legitim (mit der liberalen Neutralität konsistent), wenn es keine Meinung gäbe, die dem widerspricht, also keine Stimme für eine andere Religion. Gehen wir davon aus, dass heutige Gesellschaften de-facto-pluralistisch sind und das Gute daher grundsätzlich kontrovers ist: Das Christentum als Staatsreligion einzuführen wäre in zweiter Annäherung dann legitim, wenn dieses rational als besser betrachtet werden kann als die zur Auswahl stehenden Entscheidungsalternativen. Natürlich drängen sich auch hier Einwände auf, insbesondere die Möglichkeit betreffend, das Gute überhaupt rational begründen zu können. Ob das geht (Kognitivismus) oder nicht (Non-Kognitivismus), spielt hier aber keine Rolle. Denn kann es rational begründet werden, sollte es rational begründet werden. Kann es hingegen nicht rational begründet werden, sollte es überhaupt nicht begründet werden. Prinzip 4) stellt demnach sicher, dass ein Staat erstens die Beweislast trägt, wenn er Lebensstile diktiert, bevorzugt, übervorteilt usw., und zweitens, dass dieser Beweis nicht irgendwie erbracht werden kann, sondern so, dass ihn jede autonome Person verstandesgemäß auf Wahrheit prüfen kann.
6
Negative und positive Freiheit
6.1
Dichotomie der Freiheit
Zwei Perspektiven auf Freiheit. Es gibt keinen einheitlichen Begriff von Freiheit im Liberalismus. In der Forschungsdebatte ist der Fokus meist auf die Unterscheidung zwischen negativer Freiheit (Hayek 1960; Oppenheim 1961; Steiner 1994) und positiver Freiheit (Christman 1991; Taylor 1979) gerichtet. Negative Freiheit ist in erster Annäherung als die Abwesenheit von Hindernissen, Barrieren und Zwängen zu bezeichnen. Positive Freiheit ist hingegen die tatsächliche Möglichkeit zu handeln bzw. etwas zu realisieren (Carter 2016). Wenn positive Freiheit enger gefasst und als Möglichkeit zum selbstbestimmten Leben aufgefasst wird, ist sie im Wesentlichen gleichbedeutend mit der Idee der Autonomie (Benn 1988; Dworkin 1988). Der geistige Vater des Begriffspaars ist Berlin (1969), aber bereits Fromm (1941) unterscheidet in ähnlicher, aber nicht identischer Weise eine negative „Freiheit von“ etwas und eine positive „Freiheit zu“ etwas. Unterschiede. Die beiden Freiheiten zeichnen sich vor allem durch zwei Unterschiede aus. Der evidenteste Unterschied der beiden Freiheiten ist ihr „Ort“. Negative Freiheit ist dem Individuum äußerlich. Seine Autonomie oder andere seiner Eigenschaften haben keine Auswirkung auf das Vorhandensein oder das Ausmaß seiner negativen Freiheit. Negative Freiheit gilt darüber hinaus nur formell (Steiner 1983; Morriss 2012): Wenn zwei Personen ein gleiches Recht auf Meinungsfreiheit haben, folgt daraus nicht, dass beide dieses formelle Recht in eine substanzielle, empirische Freiheit übersetzen können, oder dass beide dies in gleichem Maße tun können. Der „Ort“ positiver Freiheit ist hingegen zumindest
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_6
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Negative und positive Freiheit
teilweise das Individuum selbst, wobei die negativen Freiheiten lediglich den Status einer Randbedingung haben. Positive Freiheit gilt auch immer substanziell: Es geht um das, wozu jemand tatsächlich frei ist. Auch wenn das Begriffspaar problematisch ist, dominiert es doch den zeitgenössischen liberalen Diskurs. Um die methodischen Probleme der Gegenüberstellung zu umgehen, sind mehrere Alternativen vorgeschlagen worden. Eine davon ist die Formulierung eines generischen Freiheitsbegriffs (MacCallum 1967), der zeigt, dass die scheinbare Komplexität des Verhältnisses von positiver zu negativer Freiheit daher rührt, dass beide Begriffe „unvollständig“ sind. „Vollständig“ könnte man Freiheit über eine Triade bestimmen: (1) Wer ist frei? (2) Wovon ist er frei? (3) Wozu ist er frei?
6.2
Freiheit von
Freiheit und Fähigkeit. Negative Freiheit gilt ausschließlich dort, wo die Freiheit von Personen durch Personen betroffen ist. Wer zu etwas unfähig ist, ist deshalb nicht unfrei. Nicht Gegenstand von negativer Freiheit sind also alle Sachverhalte, die nicht unmittelbar durch andere beeinflusst werden, zum Beispiel individuelles Talent. Berlin (1969: 122) schreibt dazu: If I say that I am unable to jump more than ten feet in the air, or cannot read because I am blind…it would be eccentric to say that I am to that degree enslaved or coerced. Coercion implies the deliberate interference of other human beings within the area in which I could otherwise act. You lack political liberty or freedom only if you are prevented from attaining a goal by other human beings.
Freiheit von Zwang. Aus dem Zitat kann eine erste, unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit zu stellende Definition formuliert werden: Eine Person ist negativ frei, wenn sich niemand in ihre Angelegenheiten einmischt („non-interference“). Der Satz kann auch graduell interpretiert werden: Eine Person ist in dem Maße frei, wie niemand mit ihren Angelegenheiten interferiert. Aber nicht jedes Eindringen in eine Angelegenheit reduziert die Freiheit im hier relevanten Sinne auf ein Maß, das im liberalen Urteil als politisch illegitim gelten muss. Einmischung („interference“) ist nur dann ein Problem, wenn sie gewaltsam ist („coercion“). Akzeptieren wir neben der Verursachung durch Personen auch Zwang als zweite notwendige Bedingung von negativer Freiheit, dann können wir daraus eine endgültige Definition ableiten: Negative Freiheit bedeutet die Abwesenheit des
6.3 Freiheit zu
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gewaltsamen Eindringens eines Dritten in meine Angelegenheiten; oder kurz: die Freiheit von Zwang.
6.3
Freiheit zu
Positive Freiheit. Positive Freiheit ist nicht das Gegenteil von negativer, sondern lediglich eine andere Definition derselben Idee. Positiv unfrei ist eine Person, die nicht frei nach ihren eigenen Absichten handeln kann. Genauso wie ein Sklave nicht tun kann, was er will, kann auch ein Alkoholiker nicht tun, was er will (Gaus, Courtland & Schmidtz 2018: Abschn. 1.3). Positive Freiheit ist also die Möglichkeit zu tun, was ich will. Da positive Freiheit nicht lediglich das Gegenteil der negativen ist, müssen beide Ideen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, um ihre jeweiligen Geltungsbereiche klar zu bestimmen. Ich werde an zwei vereinfachten Beispielen zeigen, dass es Situationen geben kann, in denen negative und positive Freiheit zeitgleich erfüllt sind, aber auch Situationen, in denen nur eine von beiden Freiheiten erfüllt ist und die andere nicht. Die wichtigste Implikation dieser Erkenntnis lautet, dass ein Liberaler sich entweder auf genau eine der beiden Ideen festlegen oder klar angeben sollte, wo er welche Idee anwendet und warum. Fall 1: Schluss auf Gleiches. Betrachten wir zunächst einen Fall, in dem beide Freiheiten miteinander harmonieren: die liberale Demokratie. Der liberale Staat hat seine Kernaufgabe darin, jedem Individuum negative Freiheiten einzuräumen. Diese Jedermann-Rechte haben aber zur Voraussetzung, dass „jedermann“ positiv frei ist. Denn erstens muss dem Bürger die Fähigkeit unterstellt werden, das Gesetz zum eigenen Nutzen zu gebrauchen, sonst hätte das Gesetz keine Substanz. Zweitens muss ein Bürger dafür haftbar gemacht werden können, wenn er sich gewaltsam in die Grundfreiheiten eines Mitbürgers einmischt, womit die Akzeptanz mindestens einer basalen Formulierung von positiver Freiheit verbunden ist. Und drittens ist der Staat gleich seine Bürger qua politische Repräsentation. Wenn die Bürger nicht positiv frei sind, dann ist es auch nicht der Staat. Fall 2: Schluss auf Verschiedenes. Zu einem ganz anderen Ergebnis führt der folgende Gedankengang (Carter 2016: Kap. 1; Christman 1991; 2005): Ich fahre mit dem Auto durch die Stadt, um am Bahnhof meinen Zug zu erreichen. Ich gelange an eine Abzweigung. Ich biege links ab, obwohl der Bahnhof rechts liegt. Niemand hat mich gezwungen, dies zu tun. Ich bin also negativ frei. Legen wir
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Negative und positive Freiheit
aber positive Freiheit zugrunde, spielt plötzlich die Tatsache eine Rolle, dass ich Raucher bin. Ich bin nur links abgebogen, um zum Tabakladen zu gelangen und meine Zigaretten zu kaufen. Man könnte behaupten, es sei keine freie Entscheidung gewesen, diesen Weg zu nehmen, da ich lediglich einem inneren Zwang folgte. Ursprünglich wollte ich zum Bahnhof, aber meine Sucht hat mich von meiner eigentlichen Absicht abgebracht. Womöglich verpasse ich sogar meinen Zug wegen des Umwegs. Ganz offensichtlich bin ich in diesem Beispiel nicht Herr meiner Absichten, also bin ich positiv unfrei. Die beiden Konzepte führen in dieser Situation zu einem unterschiedlichen Schluss. Positive Freiheit und Autonomie. Die Frage und das Beispiel leiten direkt über zum Grund, warum wenige Liberale positive Freiheit vertreten und die meisten Liberalen sich auf die Idee negativer Freiheit beschränken. Der erste Grund ist, dass das Beispiel laut der liberalen Wissenschaftstheorie gar nicht auftauchen „darf“, weil die bereits besprochene Präsumtion der negativen Freiheit notwendig mit einer Präsumtion der Autonomie korrespondiert, ein Liberaler also annehmen muss, dass Menschen tatsächlich autonom sind. Da aber der beschriebene Raucher offensichtlich nicht (ideal) autonom ist, ist er in der liberalen Theorie daher gegenstandslos. Positive Freiheit und Bevormundung. Der zweite Grund ist, dass negative Freiheit staatliche Gewalt dem Einzelnen gegenüber a se ausschließt, positive Freiheit aber nicht (Berlin 1969: 132–133). Positive Freiheit ist paradox: Ein Diktator kann sein Volk „befreien“, indem er dessen Willen zerstört. Im Beispiel oben, das mich als Suchtraucher zeigt, müsste der Diktator nichts weiter tun, als den süchtigen Anteil meiner Selbst zu vernichten. Das Paradox der positiven Freiheit bezieht sich indes nicht nur auf staatliche Gewalt, die autoritär oder terrorförmig ist, wie das Beispiel suggeriert, sondern gilt grundsätzlich, und kann auch die Form paternalistischer Bevormundung annehmen: some individuals are more rational than others, and can therefore know best what is in their and others’ rational interests. This allows them to say that by forcing people less rational than themselves to do the rational thing and thus to realize their true selves, they are in fact liberating them from their merely empirical desires. (…) The true interests of the individual are to be identified with the interests of (…) [the] whole, and individuals can and should be coerced into fulfilling these interests, for they would not resist coercion if they were as rational and wise as their coercers. (Carter 2016: Kap. 2)
6.3 Freiheit zu
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Freiheit und staatliche Neutralität. Ob durch „harten“ Terror oder „weichen“ Paternalismus, der Staat, der seine Handlungen durch positive Freiheit begründet, hat ein legitimatorisches Problem: Der Wert der Freiheit wird zur Funktion der Absichten von Akteuren (hier: sowohl des „rationalen“ Staats als auch der „irrationalen“ Bürger); das Richtige wird an das Gute gekoppelt. Durch diese konzeptuelle Absurdität (Freiheit durch Unfreiheit) hat ein Liberaler ein starkes logisches Argument gegen die Idee positiver Freiheit und für die Idee negativer Freiheit. Es wurde bereits das Pluralismusprinzip besprochen: Eine liberale Theorie muss gegenüber dem individuell Guten eine neutrale Position einnehmen. Das heißt, sie darf nicht den einen Lebensentwurf gegenüber einem anderen diskriminieren, weil das moralisch willkürlich ist (demnach suum cuique verletzt und ungerecht ist). Da dies vermittels negativer Freiheit möglich ist, aber vermittels positiver Freiheit nicht, ist die erste Definition gegenüber der zweiten zu bevorzugen. Drei Klarstellungen. Abschließend möchte ich drei Missverständnissen vorbeugen. (1) Es geht im dargestellten Streit nicht um eine Entscheidung zwischen den beiden Freiheitskonzepten, sondern darum, ob zusätzlich zur negativen auch eine positive Freiheit notwendig ist oder nicht. Negative Freiheit hat also im Liberalismus eine zentrale und unantastbare Bedeutung: Ohne negative Rechte, die mich schützen, gibt es weder Demokratie noch Rechtsstaat. Das gilt nicht für positive Rechte bzw. Anspruchsrechte. (2) Falsch ist auch, dass ein Vertreter des negativen Begriffs die Bedeutung von positiver Freiheit ablehnt. Auch er kann der Auffassung sein, dass ein wesentliches Element von Freiheit nicht nur darin besteht, dass mir etwas nicht widerfährt, sondern Freiheit vielmehr erst dadurch zur Relevanz kommt, dass ich etwas tatsächlich tun kann. Aber es geht hier nicht um die Ontologie von Freiheit, sondern darum, mit welchem Konzept staatliches Handeln begründet werden sollte. (3) Wer die Notwendigkeit eines staatlichen Programms zur Maximierung von positiven Freiheiten abstreitet, fordert dadurch nicht, dass alle Handlungen erlaubt sein sollten, sondern nur, dass alle Handlungen erlaubt sein sollten, die nicht in die negativen Freiheiten eines Dritten eindringen. Dieses regelminimalistische Gebot impliziert eine klare Trennung des Privaten und Öffentlichen: Was nur mich betrifft, geht auch nur mich etwas an. Positive Freiheit hingegen vermischt diese Sphären.
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6.4
6
Negative und positive Freiheit
Argument über positive Freiheit
Paradox der positiven Freiheit. Es wurde weiter oben gezeigt, dass positive Freiheit ein innerhalb des Liberalismus umstrittenes und weitgehend abgelehntes Konzept ist. Der Grund dafür ist, dass es das Gebot der Staatsneutralität verletzen kann: Sobald ein Staat mich nicht nur vor Zwang durch andere schützt, sondern auch substantiell sicherstellen will, dass ich mich „wehren“ kann, „richtig“ handle, „vernünftig“ lebe usw., dann hat dieser Staat einen obskuren Vorwand, mich durch alle möglichen paternalistischen Maßnahmen zur Vernunft zu bringen, ob ich das will oder nicht, ob es einen Dritten betrifft oder nicht, ob der Staat selbst vernünftig ist oder nicht. Und genau das ist ja ein Eingriff in meine Freiheit, zu der mich der bevormundende Staat erst befähigen will. Dies ist das Paradox der positiven Freiheit: Freiheit durch Zwang. Bereits hier drängt sich auf, das Konzept fallenzulassen, und zwar unabhängig davon, ob es unter spezifischen Bedingungen als mögliche Rechtfertigung für ein Grundeinkommen dienen könnte. Ex falso quodlibet. Wir nehmen in diesem Absatz um des Arguments willen an, dass das oben genannte Problem lösbar oder nachrangig sei. Ist ein Grundeinkommen dann eine notwendige Bedingung von positiver Freiheit? Die Antwort, die ich hier vorwegnehmen und im weiteren Verlauf erläutern werde, lautet: Das Grundeinkommen ist keine Bedingung positiver Freiheit, weil unklar ist, wie sich die Entkopplung von Leistungspflicht und Existenzsicherung auf die positive Freiheit einer Person auswirkt. Es ist also nicht bestimmbar, ob ein Grundeinkommen die positive Freiheit eines Individuums gegenüber dem Status quo erhöht oder senkt. Um dies bestimmen zu können, bedürfte es einer externen Norm, die als Hilfsgröße hinzuzuziehen wäre. Das folgt aus einer Wahrheitsvoraussetzung von positiver Freiheit: Da sie die Absichten einer Person betrifft, stellt sich im Einzelfall die Frage, ob die vermeintliche Absicht tatsächlich eine solche ist oder nur eine trügerische, rein empirische Präferenz. Es gibt also „wahre“ Freiheiten, die politisch zu tolerieren oder sogar zu befördern sind, und es gibt „falsche“ Freiheiten, die politisch nicht tolerierbar, einzuschränken oder sogar zu verhindern sind. Je nachdem, wie positive Freiheit genau ausbuchstabiert wird, ist eine weitere mögliche, aber nicht zwingende Festlegung, dass es „gute“ und „schlechte“ Freiheiten gibt, wobei die ersten durch den Staat befördert werden sollen, die zweiten nicht. Im Zusammenhang mit einem Grundeinkommen geht es konkret um die Freiheit, nichts tun zu müssen, und seine Existenz dennoch in jedem Fall bestreiten zu können. Ist diese Freiheit eine „wahre“ Freiheit; ist sie eine „gute“ Freiheit? Die Semantik ist paradox: Freiheit beinhaltet sowohl (eigentliche)
6.4 Argument über positive Freiheit
73
Freiheit als auch (eigentliche) Unfreiheit. Das aber bedeutet, dass ich zeitgleich frei und unfrei sein kann. Und das ist logisch unmöglich, also falsch. Und aus Falschem folgt Beliebiges („ex falso quodlibet“). In anderen Worten: Wenn es „wahre“ und „falsche“ Freiheiten gibt, dann folgt die Legitimität einer Institution nicht aus der Idee der (positiven) Freiheit selbst, sondern einem äußeren Prinzip, das ad-hoc hinzugezogen werden muss, um festzustellen, welche Freiheit wann legitim ist. Das heißt, positive Freiheit verschiebt nur die Frage, ob bedingungslose Existenzsicherung die Freiheit, eigene Absichten zu verwirklichen, erhöht oder verringert, liefert aber selbst keine hinreichende Urteilsgrundlage zu ihrer Beantwortung. Man könnte pro Grundeinkommen argumentieren, wenn eine Person in jedem Fall eintausend Euro in der Tasche hat, ohne etwas dafür tun zu müssen, dann kann sie eher ihre Ziele verfolgen als unter der Voraussetzung eines „Rechts auf Arbeit“. Man könnte aber genauso gut pro Workfare argumentieren, dass das mit einem Grundeinkommen verbundene „Recht auf Faulheit“ gesellschaftsschädlich oder Erwerbsarbeit ein schützenswerter Eigenwert sei. Das Problem, das in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck kommt, ist evident: Es ist unklar, welche Normen und Evidenzen den beiden gegenläufigen Standpunkten zugrunde liegen, sie gehen jedenfalls nicht aus der Idee der positiven Freiheit selbst hervor. Positive Freiheit läuft deshalb argumentativ auf einen verlorenen Gegensatz hinaus: Mit ihr kann man alles begründen, damit nichts im Besonderen. Die Forschungsfrage ist durch sie jedenfalls nicht beantwortbar. Denn ein Argument über positive Freiheit verweist notwendig auf metaphysische Fragen; Fragen also, die außerhalb der Geltung liberaler Politischer Philosophie liegen. Erstens: Ist die Absicht, die ich habe, tatsächlich meine Absicht? Wenn nicht, könnte der Staat besser wissen, was ich will als ich selbst. Zweitens: Ist meine Absicht gut oder schlecht? Ist sie schlecht, könnte der Staat mich rechtmäßig nötigen, mich zu bessern. Verletzung der Präsumtion. Darüber hinaus kann ganz grundsätzlich angemerkt werden, dass eine Idee, die scheinbar richtige und falsche oder gute und schlechte Freiheiten voneinander unterscheidet, ganz offensichtlich mit der Definition von Liberalismus kollidiert, die Freiheit per se als Eigenwert impliziert. Im Liberalismus gibt es nur eine Freiheit, nicht tausende. Und diese eine Freiheit wird als etwas grundsätzlich Gutes betrachtet. Die Schlussfolgerung lautet, dass positive Freiheit mit Liberalismus bei genauerer Betrachtung überhaupt nichts zu tun hat, auch wenn sie in dessen Rahmen immer wieder diskutiert und verteidigt wird. Eine mögliche Rehabilitierung? Die ersten drei Absätze kommen zum Schluss, positive Freiheit als Konzept einer liberalen Politischen Philosophie gänzlich
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6
Negative und positive Freiheit
abzulehnen. Christman (1991) unternimmt dagegen den Versuch, positive Freiheit zu rehabilitieren und die oben besprochenen Dilemmata aufzulösen, indem er den Begriff an die Bedingung der Autonomie koppelt. Positive Freiheit ist danach nicht einfach die oder Fähigkeit, eigene Absichten zu verwirklichen, sondern diese Möglichkeit ist an eine strenge Bedingung gebunden: Sie muss ihrerseits frei zustande gekommen sein (ebd.: 346): whatever forces or factors explain the generation of changes in a person’s preferance set, these factors must be ones that the agent was in a position to reflect upon and resist for the changes to have manifested the agent’s autonomy. In addition, this reflection of other factors which – as a matter of psychological fact – constrain self-reflection.
Neuformulierung positiver Freiheit. Autonom ist eine Präferenz dann zustande gekommen, wenn folgende vier Bedingungen für die betreffende Person P bezüglich ihrer Absicht A erfüllt sind (ebd.: 347): (1) P befand sich in einer Position, in der sie die Prozesse reflektieren konnte, die zu A geführt haben. (2) P hat sich nicht gegen die Entstehung von A gewehrt oder hätte sich nicht gewehrt, hätte sie dazu die Möglichkeit gehabt. (3) Die Zustimmung fand nicht unter dem Einfluss von Faktoren statt oder hätte nicht unter dem Einfluss von Faktoren stattgefunden, die eine autonome Entstehung von A verhindern oder verhindert hätten, es sei denn P hat sich ihnen aus freien Stücken ausgesetzt. (4) Das Urteil, das zu A geführt hat, sowie A selbst sind in einem Mindestmaß rational gewesen. Hiernach müssen wir die Definition positiver Freiheit anpassen: Positive Freiheit ist die Möglichkeit, authentische Absichten zu verwirklichen. Also Absichten, die frei von Manipulation entstanden sind. Inwiefern könnte diese konzeptuelle Fassung positiver Freiheit immun gegen die bislang vorgetragenen immanenten Kritikpunkte sein? Bündeln wir dazu die bereits besprochene Kritik an der Basisformulierung von positiver Freiheit in zwei Punkten etwas ausführlicher als bislang geschehen und prüfen, ob Christmans Neuformulierung dagegen immun ist (ebd.: 352–359). „Inner Citadel Argument“. Ein erster klassischer Kritikpunkt („inner citadel argument“) lautet: Wenn positive Freiheit heißt, dass ich Herr und Meister meiner Absichten bin, dann kann jemand meine Freiheit erhöhen, indem er mich dahingehend manipuliert, meine Absicht aufzugeben. Die höchste Freiheit wäre dann die Wunschlosigkeit. Scheinbar greift dieser Einwand nicht gegen Christmans Definitionsvorschlag. Denn die Manipulation, die hier stattfindet, präkludiert ja
6.4 Argument über positive Freiheit
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per definitionem die Authentizität der Entscheidung, ist also mit dem im Absatz oben neuformulierten Begriff von positiver Freiheit inkonsistent. Arneson (1985: 433) bemerkt aber richtig, dass ein solcher Begriff teuer erkauft wird, läuft er doch darauf hinaus, dass Epiktet, der Sklave und Stoiker, frei ist, weil er sich mit seinem Sklavendasein aus tiefgründigen philosophischen Erwägungen heraus zufriedengab. Doch Christman (1991: 354) kontert, dass der epiktetische Sklave ein weltfremdes Beispiel ist, das keine praktische Relevanz hat; und habe es sie doch, dann sei auf die dritte oben formulierte Bedingung von Freiheit verwiesen: Epiktet hat sich das Sklavenleben eben nicht aus freien Stücken ausgesucht, sondern sich nach seiner Versklavung erst zur Zufriedenheit entschlossen. Aber Arneson hat im Grundsatz dennoch Recht damit, dass die Idee einen Preis hat: Hätte sich Epiktet im Vorhinein entschieden, Sklave zu werden, dann wäre Sklaverei (für ihn) keine Restriktion von Freiheit. Seine authentischen Absichten wären davon unberührt, ob er freiläuft oder in Ketten liegt. Und ein freier Sklave ist eine kontraintuitive Idee. Ein Konzept sollte nichts beinhalten, das gegen Common Sense verstößt. Darum gelingt Christman die Verteidigung gegen die erste althergebrachte Kritik durch seine Neudefinition nicht. „Tyranny Argument“. Ein weiterer klassischer Einwand („tyranny argument“) wurde weiter oben unter der Marginalie „Positive Freiheit und Bevormundung“ abgehandelt: Wenn positive Freiheit heißt, dass ich Herr und Meister meiner Absichten bin, dann können Personen prinzipiell falsche Absichten haben, sonst wären sie ja immer Herren ihrer Absichten und die Definition wäre eine Tautologie. Es wäre dann, um sie zu befreien, alles legitim, was ihren rationalen, als eigentlich verstandenen Absichten entspricht, also auch Zwang als Mittel zum Zweck. Christmans Antwort auf die Kritik kann wie folgt paraphrasiert werden: Bei positiver Freiheit geht es, wie oben gezeigt, um die Art und Weise, wie eine Absicht (Wunsch, Verlangen, Ziel) entsteht, aber nicht darum, was ihr Inhalt ist. Da Christmans Begriff inhaltlich leer ist, ist er kompatibel mit dem liberalen Pluralismus-Prinzip: Es bleibt für jeden Raum, seine eigenen Vorstellungen und Ziele zu etablieren, ohne dass ein Staat oder eine andere Instanz darauf gewaltsam oder nötigend hinwirkt. Das ist aber aus meiner Sicht ein genauso verkürztes wie impraktikables Argument. (1) Verkürzt ist es, weil es nur die offensichtlichsten Formen von „Tyrannei“ präkludiert: Ich darf zwar grundsätzlich denken und tun, was ich will, aber der Staat kann auf das Zustandekommen meiner Absichten hinwirken und damit meine postulierte Freiheit wiederum aufheben. Aber ist die Art und Weise, wie ich mich zur Authentizität und Kompetenz (zusammengenommen: Autonomie) entwickle, nicht auch Gegenstand einer negativen Freiheit? Habe ich nicht auch die Freiheit, falsch zu liegen, mich zu irren, nicht autonom
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Negative und positive Freiheit
zu sein? Christmans These beinhaltet jedenfalls die Möglichkeit, mich zur Autonomie zu drängen, indem die Optionen manipuliert werden, zwischen denen ich „frei“ wählen kann. Aber bereits das verletzt die Heterogenität und Heteronomie postmoderner, pluraler Gesellschaften. (2) Impraktikabel ist das Argument, weil es voraussetzt, dass man die basale oder ideale Autonomie einer Person nicht einfach postuliert, sondern im Einzelfall erst empirisch feststellen muss. Ein Beispiel: Eine Frau aus einer machistischen Gesellschaft behauptet, dass sie ihre eigene, aus liberaler Sicht als Unterdrückung wahrzunehmende Unterordnung unter ihren Mann als Teil ihrer kulturellen Identität achtet. Folgen wir Christman, dann ist diese Frau genau dann positiv frei, wenn ihre Meinung frei entstanden ist, sie mögliche alternative Lebensentwürfe kannte und sich bewusst, abwägend und rational für ihre eigene Subordination entschieden hat. Sie ist hingegen positiv unfrei, wenn diese Entscheidung unter Druck, Zwang, Manipulation, Indoktrinierung stattfand, also nicht authentisch die ihre ist. Aber wer soll nach welchen Standards über eine solche Frage erster Ordnung entscheiden? Keine heutige Wissenschaft könnte mit letzter Sicherheit feststellen, ob diese Frau sich irrt oder nicht, niemand könnte die dafür notwendigen Informationen heranziehen, nicht einmal über die Explizierung der Parameter von Authentizität könnte ein rationaler Konsens bestehen. Aber viel wichtiger noch ist: Ob die Frau im Beispiel positiv frei ist, kann bereits deshalb nicht entschieden werden, weil sie ihre vermeintlich rationale Entscheidung immer nur im Rahmen ihrer kulturellen Bias treffen kann. Wie frei bin ich tatsächlich, mich nicht unterzuordnen, wenn ich mich nicht von einen dritten, neutralen Ort aus dafür oder dagegen entscheiden kann, sondern in diese Form der sozialen Normalität bereits hineingeboren werde, die mein Denken, Handeln und Entscheiden in einer fundamentalen Weise durchdringt? Aus meiner Sicht scheitert Christman auch im zweiten Anlauf gegen den liberalen Mainstream, wenngleich er mit Blick auf das „tyranny argument“ einen robusteren Begriff positiver Freiheit entworfen hat als Berlin vor ihm (siehe Abschnitt 6.2). Fundamentalkritik positiver Freiheit. Letztlich ist jeder Begriff positiver Freiheit, ob er nun über den Inhalt oder die Genese einer Absicht konstitutiv ist, insofern beliebig, als dass Freiheit eine Funktion von Subjektivität ist. Es gibt hiernach keine freie Gesellschaft, sondern nur freie oder unfreie Individuen in Gesellschaften; hier der „freie Sklave“, dort der „unfreie Herrscher“ als Extrempunkte. Würden wir alle angesprochenen methodischen Probleme von Christmans Rehabilitationsversuch beiseitelegen, um schließlich die rein hypothetische Frage zu stellen, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung der Freiheit ist, die eigenen authentischen Absichten zu verwirklichen, stoßen wir auf dasselbe
6.5 Argument über negative Freiheit
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Problem wie bereits weiter oben, als wir die analoge Frage für die Basisformulierung positiver Freiheit gestellt haben: Eine Antwort ist nicht möglich, weil sich durch ein Grundeinkommen ein Bündel an empirischen Optionen ergibt, das jede Person anders bewertet, weil jede Person andere authentische Absichten hat und aus der Relation von Absicht und Grundeinkommen sich ganz unterschiedliche Freiheiten ergeben. Wer in Erwerbsarbeit oder Leistungsgerechtigkeit einen Eigenwert sieht, könnte ein Grundeinkommen ablehnen, wer nicht, nicht unbedingt. Das Fazit lautet hier, die Idee positiver Freiheit aus der politischen Diskussion insgesamt zu streichen, nicht nur aus der über das Grundeinkommen. Autonomie ist kein Distribuendum, das beliebig zwischen Personen verteilt werden kann. Sie ist nicht etwas, das der liberale Staat erst herstellen muss, um sich zu legitimieren, sondern das, was er voraussetzen muss, um überhaupt existenzfähig zu sein. Darum kann es nicht die Aufgabe des liberalen Staats sein, Bürger vor sich selbst zu schützen, sondern nur von Dritten.
6.5
Argument über negative Freiheit
Eigenwert negativer Freiheit. Im vorigen Unterkapitel habe ich dargelegt, warum positive Freiheit im Liberalismus kein geeignetes begriffliches Instrument zur politischen oder gesellschaftlichen Analyse ist. Ich habe geschlussfolgert, die Idee voll und ganz zu verwerfen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Freiheit negativ zu bestimmen, sofern beide Begriffe als zueinander komplementär verstanden werden und sich zu einem „vollständigen“ Begriff fügen. Negative Freiheit, so möchte ich in diesem Absatz argumentieren, ist aber nicht nur als Residualkategorie zu bevorzugen („weil es nichts Besseres gibt“), sondern hat auch intrinsischen Wert. Diese These möchte ich in gebotener Kürze erläutern, bevor ich zum eigentlichen Argument übergehe. Eine freie Handlung ist deswegen wertvoll, weil sie mir gehört (Kukathas 1994: 25). Werde ich zu etwas gezwungen, handelt es sich um seine, ihre oder deren Handlung, aber nicht mehr um meine eigene. Warum ist das wichtig? Weil einige Dinge ihren Wert ganz oder teilweise daraus beziehen, dass sie aus freien Stücken getan worden sind. Freiheit verhält sich also nicht instrumentell zum Gegenstand, auf den ihr Gebrauch gerichtet ist. Läge der Eigenwert in Arbeit, gäbe es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen einem Erwerbstätigen und einem Sklaven, sofern sie das Gleiche tun. Aber ganz offensichtlich hat der Sklave auch dann ein Problem, wenn er wertvolle Arbeit verrichtet, denn die Tatsache, dass ihm die Entscheidung abgenommen wurde, hat den Wert der Arbeit zerstört. Sie ist jetzt nicht mehr die
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Negative und positive Freiheit
seine. Wenn wir diese These akzeptieren, stuft das den Status von Autonomie in einer liberalen Theorie herab. Negative Freiheit wird nicht selten damit begründet, dass Menschen autonome Wesen sind, die auch dann richtig entscheiden, wenn sie nicht zu ihrem Wohlergehen gezwungen werden. Aber braucht es wirklich diesen Subjektentwurf im Liberalismus? Wenn negative Freiheit einen Eigenwert hat, bedarf sie keiner derartigen Rechtfertigung. Eine freie Handlung ist gut, weil sie mir gehört, nicht weil ich mit Vorzügen wie Rationalität, Authentizität und dergleichen mehr ausgestattet bin. Das hieße ja, die Freiheit eines autonomeren Menschen wäre höher zu bewerten als die eines weniger autonomen. Autonomie ist in diesem Zusammenhang auch nur dann ein plausibles Konzept, wenn Menschen tatsächlich autonom sind. Aber wie viele unserer täglichen Entscheidungen könnte man als autonom bezeichnen: „Many of our own activities (…) do not reflect any degree of autonomy. They are the product of whimsy rather than reflection; caprice rather than deliberation; random selection rather than choice. Yet they are still free and have value to us“ (ebd.: 25).
Nullsummenlogik. Negative Freiheit ist der Ort, an dem ich meine Entscheidungen frei von Zwang durch andere treffen kann. Ist ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung dafür? Da es unter Workfare keinen formellen Zwang zur Erwerbsarbeit gibt, vergrößert ein Grundeinkommen faktisch nicht die negative Freiheit. Jeder kann in beiden Regimen (Grundeinkommen und Workfare) formell tun, was er will, erwerbstätig sein oder nicht usw. Dass unter Workfare die Option, nicht erwerbstätig zu sein, mit negativen Konsequenzen verbunden sein kann, spielt im Rahmen der begrifflichen Logik negativer Freiheit keine Rolle. Denn was tatsächlich passiert, muss ein negativ freier Entscheider eigenverantwortlich in seine Entscheidungen einfließen lassen. Aber selbst wenn wir die substantielle Dimension mitberücksichtigen würden (was tatsächlich passiert), erscheint ein Grundeinkommen lediglich als Umverteilung negativer Freiheiten, wobei makroskopisch betrachtet die Summe der negativen Freiheiten exakt gleich hoch ist wie bei Workfare: Wenn ich 1.000 e aus allgemeinen Mittel erhalte (egal durch welches der beiden Modelle), dann fehlt der Allgemeinheit genau dieser Betrag an anderer Stelle. Meine Freiheit von Zwang wurde erhöht, die eines anderen äquivalent eingeschränkt. Negative Freiheit ist ein Nullsummenspiel, weil Umverteilung von Geld ein Nullsummenspiel sein muss, solange seine Produktion auch eines ist (Schöpfung durch Kredit). Die Idee negativer Freiheit betrifft den Aufbau der Grundstruktur der Gesellschaft. Sie ist eine Idee auf höchster Abstraktionsebene,
6.5 Argument über negative Freiheit
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die keinen Schluss auf spezielle Institutionen wie Workfare oder ein Grundeinkommen erlaubt. Ob ein Grundeinkommen tatsächlich die Freiheit von Zwang verringert oder erhöht, ist indes eine rein empirische Frage.
7
Libertäre Freiheit
7.1
Internes Eigentum
Präsumtion des Selbsteigentums. Libertarismus ist im weiteren Sinne eine Politische Philosophie, die individuelle Freiheitsrechte betont, insbesondere Eigentum zu erwerben, zu behalten und zu transferieren. Daraus folgt ein Minimalstaat, dessen Autorität sich darauf beschränkt, diese negativen politischen Freiheiten allgemeinverbindlich durchzusetzen. Im engeren Sinne ist der Libertarismus eine Theorie der Gerechtigkeit, die das sogenannte Selbsteigentum („self-ownership“) jeder Person postuliert und daraus die Rechtmäßigkeit von Eigentum ableitet (Vallentyne & van der Vossen 2014). In anderen Worten: Weil ich mich selbst besitze, darf ich die Welt außerhalb meiner Person auch in Besitz nehmen. Diese Rechtmäßigkeit ist für die meisten Libertären das einzige Kriterium für politische Legitimität und für alle Libertären das vorrangige Kriterium politischer Legitimität. Daher kann Libertarismus definiert werden als die Theorie, die das Eigentum einer Person an sich selbst präsumiert. Komponenten des Selbsteigentums. Da die Präsumtion auf der Idee des Selbsteigentums liegt, ist eine Klärung geboten, was genau damit gemeint ist. Libertäre postulieren, dass jeder Mensch das vollumfängliche und ausschließliche moralische Recht hat, über sich selbst zu verfügen, sowie dazu komplementär die moralische Obligation, diesen Status bei allen anderen Personen auch anzuerkennen. Selbsteigentum bedeutet, dass man sich selbst in analoger Weise besitzen kann wie einen Gegenstand. Eine Person hat an sich selbst dasselbe Bündel an Rechten (internes Eigentum) wie etwa an einem ihr rechtmäßig gehörenden
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_7
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Libertäre Freiheit
Objekt (externes Eigentum). Vollständige Eigentümerschaft an sich selbst kann dabei fünf Aspekte umfassen: Full ownership of an entity consists of a full set of the following ownership rights: (1) control rights over the use of the entity: both a liberty-right to use it and a claimright that others not use it, (2) rights to compensation if someone uses the entity without one’s permission, (3) enforcement rights (e.g., rights of prior restraint if someone is about to violate these rights), (4) rights to transfer these rights to others (by sale, rental, gift, or loan), and (5) immunities to the non-consensual loss of these rights. Full ownership is simply a logically strongest set of ownership rights over a thing. (ebd.: Kap. 1)
Der libertäre Staat. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollzug dieser Abstandsrechte sind die einzigen legitimen Aufgaben des libertären Staates. Im libertären Staat haben die Bürger kein explizites, garantiertes Recht irgendwozu, lediglich auf den Schutz vor dem Eindringen eines Dritten in ihr Selbsteigentum. Kein Staat der heutigen Welt ist als libertär zu bezeichnen. Im Gegenteil sind alle Staaten dieser Welt aus libertärer Sicht illegitim (ebd.: Kap. 4): Sie bestrafen oder drohen Strafe an, wenn jemand beim Motorradfahren keinen Helm trägt, dem Finanzamt Steuern vorenthält, Glücksspiel betreibt oder Drogen dealt. Diese Aspekte sind keineswegs bloß anekdotischer Natur, sondern widerspiegeln die grundsätzliche libertäre Kritik an und Skepsis gegenüber dem Staat als solchem. Der Libertarismus nimmt entweder eine anarchistische oder eine staatsminimalistische Position ein.
7.2
Externes Eigentum
Lockes Proviso. Das unmittelbare interne Eigentum (Selbsteigentum) einer Person ist ihr Naturrecht. Es ist vorpolitisch gegeben und geht aus der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen hervor. Die relevante Frage ist aber, wann externes Eigentum rechtmäßig angeeignet worden ist. Wann ist also Eigentum im üblichen Sprachgebrauch gerechtfertigt? Der bekannteste zeitgenössische Libertäre Nozick nimmt dazu Rekurs auf eine Formulierung von John Locke. Die meisten übrigen zeitgenössischen Libertären nehmen wiederum Rekurs auf Nozick, weswegen Lockes Proviso eine mittelbar oder unmittelbar zentrale Stellung in der libertären Theorie der Gerechtigkeit einnimmt. Die ursprüngliche Passage lautet:
7.2 Externes Eigentum
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Nor was this appropriation of any parcel of land, by improving it, any prejudice to any other man, since there was still enough and as good left, and more than the yet unprovided could use. So that, in effect, there was never the less left for others because of his enclosure for himself. For he that leaves as much as another can make use of, does as good as take nothing at all. Nobody could think himself injured by the drinking of another man, though he took a good draught, who had a whole river of the same water left him to quench his thirst. And the case of land and water, where there is enough of both, is perfectly the same. (Locke 1698, Absatz 33)
Nozicks Interpretation. Nozick (1974: 174–182) adaptiert den Vorbehalt auf heutige Verhältnisse wie folgt: Jede Person ist mit demselben Bündel an negativen Freiheiten ausgestattet, das sie vor Gewalt, Betrug, Nötigung, Diebstahl und Beschädigung ihres Körpers, ihrer Person oder ihres Eigentums schützt. Der Respekt dieser Abstandsrechte bei allen anderen ist zugleich die Begrenzung ihrer Freiheit: Jeder Person ist ausdrücklich alles erlaubt, sofern es nicht die negative Freiheit einer anderen Person verletzt. „Alles erlaubt“ beinhaltet auch, etwas zu besitzen. Die Erde, die niemandem gehört, kann in Besitz genommen werden, nicht etwa, weil externes Eigentum einen Eigenwert hätte, sondern weil es das interne Eigentum (Selbsteigentum) verletzen würde, wenn Aneignung oder Besitz verboten oder eingeschränkt würden. Aneignung ist aus libertärer Sicht zwar nicht geboten, aber ausdrücklich unter Lockes Vorbehalt grenzenlos erlaubt, weil sie Teil des Selbsteigentums ist. Die Proviso schreibt vor, dass jedes Individuum ohne qualitative oder quantitative Beschränkung die noch nicht besitzförmig erschlossenen Teile der Erde aneignen darf, sofern den anderen davon qualitativ und quantitativ ausreichend verbleibt („enough and as good“). Diese ursprüngliche Klausel ist weitgehend deutungsoffen und wird durch Nozick dahingehend spezifiziert, dass Eigentum dann legitim ist, wenn die Nicht-Eigentümer durch die Aneignung nicht schlechter gestellt sind als ex ante. Was ist gerecht? In dieser Fassung libertärer Theorie ist zunächst einmal alles gerecht. Es geht nicht um eine positive, ausdrückliche Formulierung von Gerechtigkeit, sondern diese folgt ex negativo aus der Menge der ungerechten Dinge. Was ist also ungerecht? Moralisch und politisch illegitim ist für Nozick, das Selbsteigentum einer Person zu verletzen. Analog verläuft das Argument für die Aneignung der äußerlichen Welt, die Teil des Rechts an sich selbst ist. Eigentum ist grundsätzlich immer legitim. Illegitim ist eine Aneignung eines Guts nur dann, wenn dadurch die anderen schlechter gestellt werden, als wenn das Gut herrenlos geblieben wäre.
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7.3
7
Libertäre Freiheit
Libertarismus: rechts und links
Rechtslibertarismus. Es wurde gezeigt, dass es zwei Dinge gibt, die man als internes und externes Eigentum bezeichnen kann. Das interne Eigentum ist objektiv und dinglich Gegenstand einer Entität, ein externes Eigentum ist etwas, das sich außerhalb dieser Entität befindet, aber grundsätzlich durch sie angeeignet werden kann. Von diesem Konsensstandpunkt ausgehend zweigen sich zwei Spielarten libertärer Theorie ab. Eine erste Variante sieht das Naturrecht der Person ausschließlich im internen Eigentum begründet, wobei die Aneignung der äußeren Welt kein intrinsisches moralisches Gut ist, sondern schlicht eine logische Implikation des Selbsteigentums. Diese Position heißt rechtslibertär. Ein Rechtslibertärer glaubt, dass die Welt grundsätzlich niemandem gehört, Individuen die Welt im Rahmen von Lockes Proviso nach Belieben aneignen dürfen, wobei gilt, dass wer zuerst kommt, zuerst mahlt (Feser 2005; Rothbard 1978). Linkslibertarismus. Ein Linkslibertärer teilt diese Meinung nicht. Er glaubt, dass Ressourcen, die nicht unmittelbar Gegenstand einer Entität sind, nicht niemandem, sondern allen gehören (Otsuka 2003; Steiner 1994; Van Parijs 1995). Es gibt keinen Konsens darüber, wie hoch dieser naturrechtlich zustehende Anteil jedes Menschen an der Allmende sein soll. Fest steht: Es besteht ein zweifaches Naturrecht; eines auf das interne Eigentum und eines auf das externe. Linkslibertäre betrachten die Theorie „von rechts“ als bedeutungslos, weil ihr Geltungsbereich eine Welt der Ubiquität oder des Überflusses ist, jedenfalls nicht die empirische Realität. Darin ist Lockes Proviso nämlich längst verletzt. Alles hat bereits einen Besitzer. Das politische Desiderat „von links“ besteht nun darin, diese naturrechtlich bereits illegitimen Eigentumsstrukturen zwar anzuerkennen, aber Personen für den Schaden zu kompensieren, der ihnen dadurch entstanden ist. Diese Argumentationsfigur wurde bereits bemüht, als das Grundeinkommen historisch zum ersten Mal gefordert wurde (Paine 1797).
7.4
Rechtslibertäre Kritik der Gerechtigkeit
Faire Spielregeln. Hayek liefert ein paradigmatisches Beispiel für einen modernen rechtslibertären Standpunkt gegen die Idee sozialer Gerechtigkeit und damit scheinbar gegen einen Sozialstaat überhaupt. Für Hayek bedeutet „Gerechtigkeit“ Unparteilichkeit und Politik, freies und unbeschränktes Unternehmertum zu
7.4 Rechtslibertäre Kritik der Gerechtigkeit
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ermöglichen (Schmidtz 2017: Kap. 4). Eine distributive Gerechtigkeit im eigentlichen Sinne gibt es danach ebenso wenig wie bei Locke oder Nozick, lediglich die Sicherstellung fairer Spielregeln (Unparteilichkeit). Das hat folgende Gründe, die in den nächsten drei Absätzen genauer erläutert werden: Gerechtigkeit ist nicht geboten; Gerechtigkeit ist ein Phantombegriff; Gerechtigkeit ist schädlich. Gerechtigkeit ist nicht geboten. Der libertäre Staat hat die Aufgabe, einen Interaktionsrahmen für freien und fairen Tausch zu garantieren, sonst nichts (Hayek 1944: 113). Den größten Wohlfahrtseffekt hat eine minimale Regierung und ein minimales Set an Regeln, die je gewährleisten, dass die Marktordnung durch pareto-optimale Transaktionen zustande kommt, und niemand seinen Reichtum auf Kosten anderer erwirtschaften kann (Hayek 1969: 175). Wenn sichergestellt ist, dass keine Transaktion zu einer absoluten Verschlechterung der Position eines Einzelnen führt, gibt es auch keine genuine, über diese minimale Rahmenordnung hinausgehende Erfordernis sozialer Gerechtigkeit. Der Staat, der darüber hinaus in die Verteilung von Gütern und Lasten eingreift, erscheint planwirtschaftlich und handelt immer parteilich und selbstbezogen. Gerechtigkeit ist ein Phantom. Wichtig ist darum lediglich die Unparteilichkeit der Rahmenordnung, nicht die Regulierung von individuellen Zielen und Handlungen (Hayek 1960: 188). Distributive Gerechtigkeit ist danach nichts weiter als eine Illusion (Hayek 1978: 57). Makroskopisch betrachtet gibt es in einem freien Markt niemanden, der verteilt. Wieso also von distributiver Gerechtigkeit sprechen, wenn es vorab keine Instanz der Allokation gibt? Wieso in einen Prozess der Verteilung eingreifen, wenn dieser niemanden real schlechterstellt und alle freiwillig miteinander kooperieren oder konkurrieren? Diese Fragen implizieren keineswegs, dass der Markt gerecht sei, sondern dass er weder gerecht noch ungerecht überhaupt sein kann. Er schließt jedoch zumindest die prinzipielle Möglichkeit von Tyrannei und staatlichem Oktroi aus. Wenn die Rahmenbedingungen der Politik die Freiheit der individuellen Handlungen gewährleistet, mögen Marktergebnisse im Einzelfall als schlecht, unerwünscht oder bedauerlich wahrgenommen werden, sie sind aber nicht im eigentlichen Sinne gerecht oder ungerecht, weil dieser Zustand nicht durch eine absichtsvolle Handlung herbeigeführt worden ist. Gerechtigkeit ist schädlich. Es kann keine Verdienstlogik geben, die sich am Input einer Person bemisst. Ansprüche auf Gerechtigkeit sind aber immer inputorientiert. Für Hayek (1960: 98) ist Verdienst immer nur nach dem Output zu bemessen, beispielsweise dem Anteil an der Wertschöpfung oder dem Gewinn,
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7
Libertäre Freiheit
der auf eine Person zurückzuführen ist. Da der Markt bereits diejenige Instanz ist, die Güter und Lasten nach einer Output-Logik verteilt, bedarf es keines weiteren Eingriffs in diese rechtmäßigen Verdienste. Input-Logiken hingegen belohnen Anpassung und das Befolgen apriorischer Regeln und generieren aus sich heraus keinen Mehrwert. Was ist gerecht? In Hayeks Fassung libertärer Philosophie ist nichts gerecht. Nicht, weil alles ungerecht wäre, sondern weil die bloße Idee einer sozialen Gerechtigkeit erstens redundant und zweitens absurd ist. Alles das, was Gerechtigkeit bewirken soll, wird entweder durch den Markt ohnehin bereitgestellt, oder bewirkt selbst neue Formen der „Ungerechtigkeit“ wie sozialstaatliche Bevormundung. Staatliches Hinwirken auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen ist jedenfalls weder geboten noch legitim. Irritierend erscheint vor diesem Hintergrund, dass Hayek selbst ein Grundeinkommen befürwortet hat. Nach eigener Aussage sei diese Forderung aber kein Gebot irgendeiner sozialen Gerechtigkeit, sondern ein humanistisches Gebot der Abwendung von menschlichem Leid.
7.5
Argument über libertäre Freiheit
Rekapitulation. Alle Libertären glauben, dass Akteure voll über sich selbst verfügen und keine moralischen Obligationen haben. Alle ihre Handlung sind freiwillig. Sie können zu nichts verpflichtet werden, außer dazu, das Selbsteigentum der anderen zu respektieren. Selbsteigentum besitzt ein Akteur dann, wenn er an sich selbst dasselbe Bündel an Rechten hat wie an einem materiellen Objekt. Das beinhaltet mindestens das Verfügungsrecht über die „Nutzung“ der eigenen Person (was ihr durch andere widerfährt), ein Persönlichkeitsrecht an dieser Verfügungsgewalt, das sicherstellt, dass das Selbsteigentum nicht bloß temporär oder freiwillig ist, sondern ein Statusrecht, für dessen Besitz oder Gebrauch kein Dritter entschädigt werden muss. Optional beinhaltet dieses Bündel auch ein Recht auf Übertragung der beiden erstgenannten Rechte, sodass alles erlaubt ist, dem zwei Personen freiwillig zustimmen und zugleich nur diese zwei Personen betrifft – es gibt also keine Sittenwidrigkeit. Hiervon ausgehend haben sich zwei Spielarten derselben Idee auseinanderentwickelt: Rechts- und Linkslibertarismus. Der „rechte“ Libertarismus geht davon aus, dass die natürlichen Ressourcen ursprünglich niemandem gehören und grundsätzlich durch jeden Akteur angeeignet werden können, ohne die Zustimmung eines anderen einholen oder ihn für die Aneignung entschädigen zu müssen. Der „linke“ Libertarismus geht davon aus, dass
7.5 Argument über libertäre Freiheit
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die natürlichen Ressourcen nicht niemandem, sondern im Gegenteil ursprünglich allen gehören und ein Akteur grundsätzlich entweder die Zustimmung eines anderen Akteurs einholen oder diesen entschädigen muss, wenn er eine natürliche Ressource aneignet. Linkslibertäre Kernannahme. Der „rechte“ Libertarismus lässt keinen Sozialstaat zu, also auch weder ein Grundeinkommen noch Workfare. Sozialstaat bedeutet immer Umverteilung. Umverteilung bedeutet immer, dass um einer Verteilung willen jemandem etwas genommen oder vorenthalten wird, um es einem anderen zu geben. Aus dieser Theorie heraus ist das gleichbedeutend mit Diebstahl. Ein libertäres Argument für ein Grundeinkommen kann deshalb nur „von links“ kommen. Die Kernannahme dieser Theorievariante grenzt sie zugleich von ihrer konkurrierenden theoretischen Spielart ab und lautet: Der Wert einer natürlichen Ressource (nicht die Ressource selbst) ist in näher zu spezifizierender Weise ein Allgemeingut (Tideman & Vallentyne 2013: 43). Wenn Ressourcen Allgemeingüter sind, dann können sie nicht einfach beliebig angeeignet werden, da diese Handlung etwas betrifft, das allen gehört. Also ist auch die Handlung grundsätzlich vor allen rechenschaftspflichtig. Daher muss ein „linker“ Libertärer eine Aneignung von Ressourcen an bestimmte Auflagen knüpfen (ebd.: 45–47), die dann als Gerechtigkeitsprinzip wirksam werden, wenn Selbst- und Kollektiveigentum miteinander in Konflikt geraten bzw. wenn das Selbsteigentum mindestens einer Person eingeschränkt werden muss, um das Selbsteigentum mindestens einer anderen Person zu schützen. Die Nutzung oder Aneignung von Ressourcen wird also erst dort moralisch relevant, wo sie das Selbsteigentum von Personen einschränkt, es sei denn, es ist das des Nutzers bzw. Aneignenden selbst. Diese Regel kann eng oder weit ausgelegt werden. Die enge Auslegung lautet: Jeder Gebrauch der Ressource ist legitim, wenn er niemandes libertäres Recht verletzt. Die weite Auslegung lautet: Jeder Gebrauch der Ressource ist legitim, wenn er entweder niemandes libertäres Recht verletzt oder, tut er dies doch, ihn dafür angemessen entschädigt. Während es im „rechten“ Libertarismus eine solche Entschädigung der weiten Auslegung nicht gibt (Rothbard 1978) oder sich auf Lockes Proviso beschränkt (Nozick 1974), spielt Kompensation im „linken“ Libertarismus eine zentrale Rolle. Die geläufigste Interpretation davon (Steiner 1992; 1994; Tidemann 1998) ist, dass Aneignung und Nutzung dann legitim sind, wenn ein Akteur den Marktpreis zahlt, den die entsprechende Ressource besitzt. Das geschieht in Form einer Rentenzahlung, nicht einer einmaligen Kompensation, da ansonsten zusätzliche Gerechtigkeitsprobleme zwischen Generationen auftreten: Wenn heute ein Unternehmen den Marktpreis für ein von ihr zerstörtes Umweltgut bezahlt,
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7
Libertäre Freiheit
kompensiert dies die Folgen der Umweltzerstörung für die jetzt lebende Bevölkerung, wohingegen die nachgeborenen Generationen diese Ressourcen verlieren, ohne dafür entschädigt worden zu sein. Daher ist die Kompensation fortlaufend zu gestalten. Linkslibertäre Hilfsannahmen. Bis hierhin bestimmt der Linkslibertarismus nur die Bedingungen einer legitimen Verteilung. Er trifft zwar eine Aussage über den Umfang der Entschädigungsleistung, aber keine darüber, wie diese auf die zu Entschädigenden verteilt werden soll, weswegen es sich hier auch nicht um eine vollständige Theorie der distributiven Gerechtigkeit handelt. Das (noch) fehlende Verteilungsprinzip kann prinzipiell jede Form annehmen. Kompatibel mit dem Linkslibertarismus, der sich ja über ein Gleichheitskriterium von seiner klassischen Variante abgrenzt, kann nur ein ebensolches Kriterium der gleichen Verteilung sein. Mögliche Formulierung sind beispielsweise ein streng egalitäres Prinzip der exakt gleichen Verteilung an alle, ein Chancengleichheitsprinzip oder ein Startchancengleichheitsprinzip. In der Regel fußt der linkslibertäre Entwurf des gesellschaftlichen Eigentums auf einem kosmopolitischen Konzept, das alle Personen der Welt in gleicher Weise berücksichtigt. Denn würde es Menschen als Staatsbürger adressieren, hätten diejenigen, die in Ländern, die arm an Ressourcen oder daraus ableitbaren Artefakten sind, ein geringeres Anrecht auf Kompensation als solche in reichen Ländern. Außerdem begründet sich das Selbsteigentum ja als Naturrecht. Ein solches muss sinnvollerweise für alle moralischen Akteure der Welt in gleicher Weise gelten. Die Theorie vermeidet um eines konsistenten Gleichheitskriteriums willen die Idee einer nationalen Gerechtigkeit, weil der Nationalstaat selbst dann, wenn er inwendig egalitär ist, sich nach außen (gegenüber Bürgern anderer Staaten) gleichermaßen anti-egalitär verhalten kann. Kein linkslibertäres Grundeinkommen. Aus den letzten beiden Absätzen geht hervor, dass der linkslibertäre Standpunkt für ein Grundeinkommen allenfalls eine schwache argumentative Stützung hat. Sicher könnte man behaupten, mein durch die Libertären postuliertes Naturrecht an der eigenen Person sei verletzt, wenn ich in eine Welt ohne herrenlose Güter hineingeboren werde, also nichts mehr aneignen kann. Und sicher könnte man weiterführen, ich sei dafür von irgendwem in irgendeiner Weise zu entschädigen. Aber hier endet die Argumentation bereits. Wer entschädigt mich? Womit? Warum gerade regelmäßig, existenzsichernd, bedarfsunabhängig, leistungsunabhängig? Der „linke“ Libertarismus lässt völlig offen, wie genau Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik auszugestalten ist, er legt allenfalls die Höhe des Existenzminimums fest. Deshalb ist unklar, ob man sich als Linkslibertärer für ein Grundeinkommen oder für Workfare entscheiden sollte.
7.5 Argument über libertäre Freiheit
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Schwachstellen der Präsumtion. Die theoretische Präsumtion im Libertarismus liegt auf der Idee des Selbsteigentums. Bis hierhin wurde zum Zweck der Argumentation stillschweigend vorausgesetzt, dass diese Idee plausibel ist. Tatsächlich ist der Entwurf eines vollständigen Eigentums einer Person an sich selbst aber in mehrfacher Hinsicht problematisch. (1) Durch die ausschließlich und orthodox negativ formulierte Freiheit des Selbsteigentums gibt es keine Sittenwidrigkeit. Personen A und B ist untereinander alles erlaubt, worauf sie sich freiwillig einigen. Wenn Eigentumsrechte an der eigenen Person vollumfänglich gelten, schließt dies die Übertragbarkeit des Rechts an sich selbst ein. Damit wäre zum Beispiel freiwillige Sklaverei eindeutig erlaubt. Dieses Szenario mag völlig unplausibel sein (Barnett 1998: 78) oder auch nicht, es verstößt jedenfalls gegen ein konstitutives Element real existierender liberaler Gesellschaften, nämlich die Begrenzung der Freiheit des Vertrags durch die kollektive Freiheit in Form der Sittenwidrigkeit: Wenn ein gesamtgesellschaftliches Interesse daran besteht, dass es keine Sklaverei geben soll, dürfen A und B auch dann nicht dagegen verstoßen, wenn sie es beide wollen und deren Sklavenverhältnis im Prinzip niemand anderen materiell tangiert. Dieser erste Einwand ist zugegebenermaßen nicht stark. Ein Libertärer müsste sich dagegen im Grunde gar nicht verteidigen, sondern schlicht bekräftigen, dass Sittenwidrigkeit eine wenn auch nur latente Form des Paternalismus ist, die gegen die liberale Neutralität verstößt und deshalb abzulehnen ist. (2) Selbsteigentum präsupponiert eine Kohärenz von Handlungen und ihren Auswirkungen, die es de facto nicht gibt. Wenn der minimale libertäre Staat seine Aufgabe darin hat, rein negative Abstandsrechte zu wahren, kann er das nur, wenn er jeden Einzelnen massiv in seiner positiven Freiheit einschränkt. Kein Flugzeug dürfte fliegen, wenn nicht jeder im Vorfeld der resultierenden Luftschadstoffbelastung zustimmte. Und gäbe es kein Recht auf Zustimmung oder Ablehnung, wäre der Schutz meines Eigentums an mir selbst (hier: gesunde Lungen) rein formell und substanzlos. Aber auch diese zweite Intuition greift nicht, sofern sie als immanente Kritik an der libertären Theorie verstanden werden soll: Auch hier könnte ein Libertärer (mit Recht) darauf hinweisen, dass positive Freiheiten nicht die Sache eines freiheitlichen Staates sind, der ja neutral sein muss. (3) Das epistemische Problem einer praktikablen libertären Theorie ist, dass sie als Theorie sowohl prozeduraler als auch retributiver Gerechtigkeit ein vollständiges Tatsachenwissen über die Vergangenheit voraussetzt, wenn gegenwärtige Eigentumsverteilungen bewertet werden sollen. Ein Libertärer jedoch, der das momentan Gegebene nicht vollständig auf alles bereits Geschehene zurückführen kann, weiß de facto nichts über reale Gerechtigkeitserfordernisse zu sagen. (4) Das Konzept des Selbsteigentums ist unbestimmt hinsichtlich seiner retributiven Komponente (Fried 2004; Vallentyne, Steiner & Otsuka 2005). Denn eine
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Libertäre Freiheit
naturrechtliche negative Freiheit ist wertlos, wenn nicht jemand dafür juristisch haftbar gemacht werden kann, wenn er sie verletzt. Das konkrete Problem besteht indes darin, dass Selbsteigentum und Retribution sich gegenseitig ausschließen, da eine korrektive Gerechtigkeit ja ihrerseits einen Eingriff in das Selbsteigentum des Schuldigen fordert. Deshalb ist das postulierte Naturrecht niemals generalisierbar.
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Reale Freiheit
8.1
Freiheitsgrade
Reale Freiheit. Reale Freiheit ist eine Idee, die von Van Parijs vertreten wird und sich fundamental von den bisher diskutierten Ansätzen unterscheidet. Van Parijs (1995: 23) definiert reale Freiheit als „[the freedom] to do what one might want to do“. Was prima facie wie ein marginaler definitorischer Unterschied gegenüber den bereits diskutierten Varianten von Freiheit aussieht, hat weitreichende Implikationen. Wenn reale Freiheit heißt, tun zu können, was immer ich tun wollen könnte, dann ist Freiheit eine Frage der formellen Ausprägung hypothetischer Handlungs- oder Unterlassensalternativen. Es gibt dann auch keine erkennbare Grenze von Freiheit zu Unfreiheit wie in der klassischen Formulierung („freedom from coercion“), sondern immer nur mehr oder weniger Freiheit, keineswegs jedoch Freiheit oder Unfreiheit sui generis. Ideale reale Freiheit. Ideale reale Freiheit liegt vor, wenn ein Individuum maximal frei ist, also unendlich viele Möglichkeiten besitzt. Folgen wir den bisherigen Gedanken, ist der Stoff, aus dem reale Freiheit besteht, ein Freiheitsgrad. Wenn etwas bewirkt, dass ich mehr tun kann als zuvor, hat es mich freier gemacht; wenn etwas bewirkt, dass ich weniger tun kann als zuvor, hat es mich unfreier gemacht: (…) any restriction of the opportunity-set is relevant to the assessment of freedom. For example, I can lack the real freedom to swim across a lake despite my being the full owner of myself, not just because I would not be granted permission by the private owner of the lake, but also because my lungs or my limbs would give in before reaching the other side. And this would be the case whether or not this physical inadequacy resulted from deliberate action by other human beings, whether
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_8
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Reale Freiheit
or not other human beings played any role in bringing it about, and also whether or not they could do anything to remove it now. Thus, the conception of real freedom presented above does not merely refuse to confine freedom-restricting obstacles to coercion – whether defined as self-ownership-violation or as right-violation. It also refuses to confine them to obstacles external to the person concerned, or to obstacles that are produced deliberately, indeed produced at all and/or removable by other human beings. (ebd.: 23)
Grenzenlose Freiheit? Freiheit hat also einen unendlichen Geltungsbereich. Etwas (egal was), das mich an exakt einer Sache hindert (egal woran), macht mich eine Einheit unfreier; etwas (egal was), das mich zu exakt einer Sache befähigt (egal wozu), macht mich eine Einheit freier. Das bedeutet, dass der berühmte und vieldiskutierte Unterschied von positiver und negativer Freiheit, der weiter oben besprochen wurde, hier überflüssig wird. Reale Freiheit konnotiert einen einheitlichen, „vollständigen“ Begriff: Die Menge der Restriktionen von Freiheit wird ins Unendliche extrapoliert. Es macht für Van Parijs keinen moralisch relevanten Unterschied, ob ich mich am Bahnhof verspäte, weil ich Suchtraucher bin und noch schnell Zigaretten kaufen gehen „muss“, oder weil ich durch einen anderen gefangengehalten werde. Barrieren für Freiheit können also innerhalb und außerhalb der Person liegen, wobei die äußeren ihrerseits sowohl durch Personen verursacht sein können als auch durch unpersönliche Faktoren. Im Grunde ist reale Freiheit nichts anderes als „reale Möglichkeit“ und reale Unfreiheit nichts anderes als „reale Unmöglichkeit“. Das Problem ist, dass diese Idee mit einer bereits besprochenen theoretischen Plausibilitätsbedingung von Gerechtigkeit kollidiert, nämlich Kontingenz. Pettit (2013: 27) schreibt in diesem Zusammenhang in Bezug auf Van Parijs’ Idee: If someone stands in my way, that’s a different sort of challenge to my liberty than the challenge provided by the tree that has fallen in my path. If someone threatens me with harm if I take a particular action, that is a different sort of challenge than one which occurs when someone warns me that I will suffer harm, say from natural causes, should I take that action. It is entirely plausible to provide people with rights against intentionally imposed harm from others but not so plausible to provide them with rights against unhappy twists of fate, if the rights are supposed to be freedom-based.
8.2 Argument über reale Freiheit
8.2
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Argument über reale Freiheit
Maximales Grundeinkommen. Van Parijs meint, dass sein Freiheitsbegriff ein maximales Grundeinkommen impliziert. Der Gedankengang, den er dabei bemüht, werde ich im Folgenden nachzeichnen, um ihn dann in den darauffolgenden Absätzen kritisch zu beleuchten. Wenn reale Freiheit die theoretische Präsumtion ist und darüber hinaus das einzige Kriterium für Gerechtigkeit oder politische Legitimität, dann hat die politische Basisstruktur der Gesellschaft die Aufgabe, die reale Freiheit ihrer Bürger zu maximieren (keineswegs nur zu garantieren). Denn wenn erstens Freiheit ausschließlich eine Frage der Ausprägung ist und zweitens die liberale Neutralität orthodox eingehalten werden muss, also kein erlaubter Gebrauch von Freiheit als besser oder schlechter eingestuft werden darf als irgendein beliebiger anderer, damit wiederum jeder erlaubte Gebrauch von Freiheit gleich viel wert ist, dann folgt daraus zwingend, dass eine zusätzliche Einheit Freiheit für ein Individuum sein Leben auch um eine Einheit verbessert. Auch ob das Individuum das selbst so sieht oder nicht, spielt keine Rolle, denn die liberale Neutralität darf, wenn sie das Gute nicht präskribieren darf, natürlich auch nicht das Schlechte präskribieren (sonst präskribierte sie indirekt das Gute). Wenn wir diesem Gedanken zustimmen, dass die öffentliche Aufgabe darin besteht, individuelle Freiheit zu maximieren, dann ist eine bestimmte Form des Grundeinkommens (das höchstmöglich nachhaltig finanzierbare Grundeinkommen) eine notwendige Bedingung der freien (also gerechten) Gesellschaft (Van Parijs 1995: Kap. 2). Da ein Grundeinkommen in Geld gezahlt wird und Geld neutral ist (zugleich kein anderes denkbares Distribuendum neutral ist), kann jeder mit Geld das Leben führen, das er will. Und je mehr Geld er besitzt, desto mehr kann er von dem tun, was er tun wollen könnte. Daher muss das Grundeinkommen so hoch wie irgend möglich sein. Die Geldförmigkeit des Grundeinkommens ist dabei aber lediglich im Rahmen einer Geldwirtschaft geboten und kann unter veränderten Rahmenbedingungen angepasst und beispielsweise durch Sachleistungen ergänzt oder vollständig ersetzt werden. Und es muss deshalb losgelöst von Bedarf oder Arbeit gezahlt werden, weil erstens diese Kriterien die reale Freiheit minimieren und zweitens gegen das Neutralitätsgebot verstoßen, weil sie bevormundend wirken. Wenn das so ist, dann steht Workfare auch gar nicht erst zur Debatte, weil es nach dieser Interpretation eine radikale Verletzung liberaler Neutralität darstellt, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen anzuleiten. Das maximale Grundeinkommen muss indes nicht die Grundbedürfnisse der Empfänger sichern, um politisch legitim zu sein. Wenn das höchstmöglich nachhaltig finanzierbare Grundeinkommen unter dem Subsistenzniveau liegt, dann ist es immer noch die bestmögliche aller Alternativen.
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Reale Freiheit
Sind alle Freiheiten gleich? In diesem wie im nächsten Absatz bespreche ich die beiden aus meiner Sicht wichtigsten Schwachstellen der Idee einer realen Freiheit für alle. Der erste Punkt betrifft die völlige Gleichwertigkeit aller freien Handlungen, der zweite den Schluss von realer Freiheit auf ein Grundeinkommen. Verhalten sich tatsächlich alle Freiheiten zueinander äquidistant (Anderson 2013)? Kann liberale Neutralität tatsächlich auf jede nicht-verbotene Handlung generalisiert werden? Ist jede Handlung im Urteil des Liberalismus tatsächlich gleich viel wert? Eine Gegenintuition: Person A, die gesund ist, kann mit 1.000 e im Monat konsumieren, was sie will, wohingegen Person B, die körperlich beeinträchtigt ist, mit ihrem Grundeinkommen insbesondere therapeutische Kosten decken muss. B ist, in anderen Worten, substanziell weniger positiv frei als A, obwohl beide real gleich frei sind. Van Parijs macht aber zwischen A und B keinen Unterschied. Die Freiheit von einer Krankheit hat dieselbe Priorität wie die Freiheit zur Faulheit als Lebensstil. Wäre es dann nicht klüger, ein Transfermodell nach Bedarf und Bedürftigkeit zu differenzieren? Van Parijs begeht aus meiner Sicht den Fehler, auf diese Intuition zu antworten, indem er ein neues Kriterium ad-hoc einführt (Van Parijs 1995: Kap. 3), das er herrschaftsfreie Diversität nennt („undominated diversity“). Danach ist das Problem der sozialen und natürlichen Lotterie, die ja die Asymmetrie von realer zu substantieller Freiheit im Beispiel oben zur Folge hat, genau dann aufgehoben, wenn gilt: In einer Gesellschaft mit Grundeinkommen gibt es kein denkmögliches Paar von zwei Personen, bei dem alle Mitglieder der Gesellschaft die interne und externe Ausstattung der einen Person mit Geld, Ressourcen, Talent, Gesundheit etc. gegenüber der Ausstattung der je anderen Person bevorzugen. In anderen Worten: Wenn A auf B neidisch ist, ist das nur dann begründet, wenn jeder C ebenfalls immer B wählen würde, müsste er zwischen A und B wählen. Wenn das nicht gilt, ist der Neid rein subjektiv (ebd.: 59; ausführlicher Abschnitt 3.5). Einen Fehler begeht Van Parijs damit deshalb, weil er seine Argumentation unnötig aufbläht, und durch Ad-hoc-Formulierungen die Stringenz seines originären Arguments über reale Freiheit verwässert. Er hätte mehrere Möglichkeiten gehabt. (1) Er hätte sich abermals auf die liberale Neutralität zurückziehen können. (2) Er hätte klar herausstellen können, dass ein Grundeinkommen keine anderen Transfers für Sonderbedarfe präkludiert, sofern Sonderbedarfe bestehen. Tatsächlich setzt die Kritik über das Beispiel mit der gesunden und der kranken Person weiter oben implizit voraus, dass (a) ein Grundeinkommen der einzige Mechanismus sozialer Sicherheit ist, der im Modell von Parijs existiert, was sachlich falsch ist, da Van Parijs andere Institutionalisierungen von sozialer Sicherheit nicht ausschließt, und dass (b) reale Freiheit die einzige hinreichende Bedingung von Gerechtigkeit ist, was ebenfalls sachlich falsch ist, da Van Parijs andere Formulierung von Freiheit in anderen Geltungsbereichen nicht
8.2 Argument über reale Freiheit
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ausschließt. Er sagt zwar, dass eine freie Gesellschaft auf ein Grundeinkommen notwendig angewiesen ist, er sagt aber nirgendwo, dass eine freie Gesellschaft auf nichts anderes als ein Grundeinkommen angewiesen ist. Das Grundeinkommen ist also zwar eine hinreichende Bedingung, aber womöglich nur eine unter vielen. Reale Freiheit bezieht sich, wie nahezu alle theoretischen Positionen zur Gerechtigkeit oder Freiheit auf die ideale Basisstruktur der Gesellschaft. Das bedeutet nicht, dass diese Idealtheorie alle bestehenden Normen negiert, die ihr zuwiderlaufen oder die mit ihr inkommensurabel sind, im Gegenteil sind geltende Normen selbstverständlich einzuhalten (zum Beispiel die Nichtdiskriminierung von Kranken und Behinderten). Bereits Rawls wurde und wird immer wieder mit einer analogen Kritik konfrontiert. (3) Van Parijs hätte daher dasselbe antworten sollen, was Rawls den Kritikern seiner Idealtheorie entgegengehalten hat: It [Justice As Fairness] applies to the announced system of public law and statutes and not to particular transactions or distributions, nor to the decisions of individuals and associations, but rather to the institutional background against which these transactions and decisions take place. There are no unannounced and unpredictable interferences with citizens’ expectations and acquisitions. Entitlements are earned and honored as the public system of rules declares. (Rawls 1993: 283)
Macht ein Grundeinkommen real frei? Folgt aus realer Freiheit wirklich das höchstmögliche Grundeinkommen? Reale Freiheit ist die Freiheit, tun zu können, was immer man tun wollen könnte. Je mehr Ressourcen eine Person zur Verfügung hat, desto mehr reale Freiheit genießt sie, da sie mehr von dem tun kann, was sie tun wollen könnte. Das führt Van Parijs zu einem doppelten Desiderat: erstens, dass ein Grundeinkommen politisch geboten ist, zweitens, dass dieses Einkommen so hoch wie irgend möglich sein muss. Van Parijs’ Schluss auf das Grundeinkommen ist aber problematisch, weil reale Freiheit einen derart generischen Begriff von Freiheit denotiert, dass dieser weder eindeutig quantifizierbar ist noch, damit verbunden, eine bestimmte Art von politischer Intervention überhaupt gebietet (Barry 1996; 1997). Warum sollte sich eine politische Institution gerade universell, bedingungslos und geldförmig sein? Warum könnte nicht eine Alternativreform dasselbe oder ein höheres Maß an realer Freiheit realisieren? Oder ein Bündel an zielgruppenspezifischen Maßnahmen? Ich könnte argumentieren, dass der Bau einer Autobahn meine reale Freiheit in genau dem gleichen Maß erhöht wie ein generöses Grundeinkommen. Ich erhalte durch den Bau schließlich eine prinzipiell unendliche Zahl an neuen Handlungsoptionen: Ich könnte sie befahren (auf tausende von Arten), sie fotografieren, ihr ein Gedicht widmen, sie einfach nur betrachten. Es könnte ja sein, dass meine persönliche Auffassung des
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Reale Freiheit
Guten genau das beinhaltet. Das Problem hierbei ist evident: Wenn diese absurden Alternativen denselben Status haben wie sinnvolle Alternativen, und jeder Qualitätsbegriff von Freiheit als antiliberal interpretiert wird, dann weiß ich nie genau, wie real frei ich gerade bin. Wie sollte ich das auch bewerten? Denn die Ausprägung der realen Freiheit kann niemals empirisch positiv ermittelt werden, sondern nur hypothetisch, kontrafaktisch, gedankenexperimentell. Und jede solche Evaluation wird zwingend zu dem Schluss gelangen, dass alles (egal was) jedermanns Freiheit prinzipiell in unendlichem Maße maximiert. Dann aber läuft die Argumentation über reale Freiheit auf einen verlorenen Gegensatz hinaus: Durch sie kann grundsätzlich jede politische Institution gerechtfertigt werden, damit keine im Besonderen und auch kein Grundeinkommen. Ich weiß deswegen niemals, wie real frei ich wirklich bin, weil die Menge der Unfreiheiten unbekannt ist, wenn Freiheit hypothetisch formuliert ist („what one might want to do“). Diesen Zusammenhang beschreibt Christman sehr gelungen, weswegen seine Worte diesen Abschnitt beschließen sollen: On any account of freedom, the very conception of a restraint will need to make reference to actual or possible desires of an agent. If freedom consists in unrestrained possible desires, then the concept of liberty becomes vacuous due to the impossibility of enumerating restraints. For example, the books on my shelf apparently are not a restraint. However, if I decide to walk in a line that crosses through where they are (say a fire starts and they block what becomes my only escape route), then they are. This shows how the number of restraints I face at any given time is virtually immeasurable and hence is freedom. (Christman 1991: 353)
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Republikanische Freiheit
9.1
Nicht-Herrschaft
Freiheit als Status. Die republikanische Theorie wird gelegentlich als Antagonistin des Liberalismus bezeichnet, was nach der hier eingeführten Definition von Liberalismus falsch ist, da der Republikanismus dem Fundamentalprinzip der Freiheit folgt. Jener ist also einer dessen Spielarten. Republikanische Freiheit (als Begriff Pettit 2001; 2014), auch neorömische Freiheit genannt (Skinner 1998; 2002), ist eine Modifikation von negativer Freiheit. Sie geht über die negative Freiheit dahingehend hinaus, dass sie diese konstitutionalisiert: Negative Freiheit ist die Freiheit von Einmischung, republikanische Freiheit ist darüber hinaus die Garantie dieser Freiheit der Nichteinmischung (Carter 2016: Abschn. 3.2). Aus republikanischer Sicht ist die bloße Möglichkeit, dass ein Dritter Macht ausüben könnte, ein Einschnitt in die persönliche Freiheit (Pettit 1997: 577). Republikanische Freiheit ist somit bürgerliche Statusfreiheit. Evidenz ex negativo. Dadurch muss sich republikanische Freiheit von dem Begriff der negativen Freiheit als Abwesenheit intentionaler Einmischung („freedom from coercion“) lösen, da diese sich auf tatsächliche Handlungen bezieht, nicht auf mögliche Handlungen. Eine Person, die nicht bestohlen wird, ist negativ frei. Diese Freiheit ist dem Republikaner jedoch wertlos, weil sie die Möglichkeit des Diebstahls nicht ausschließt bzw. nicht unter Androhung einer Strafe stellt. Folgt man dem Konzept negativer Freiheit, ist der Sklave frei (oder freier), solange sein Meister gnädig (oder gnädiger) ist: to be a free person is to enjoy the rights and privileges attached to the status of republican citizenship, whereas the paradigm of the unfree person is the slave. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_9
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Republikanische Freiheit
Freedom is not simply a matter of non-interference, for a slave may enjoy a great deal of non-interference at the whim of her master. What makes her unfree is her status, such that she is permanently liable to interference of any kind. Even if the slave enjoys non-interference, she is (…) ‘dominated’, because she is permanently subject to the arbitrary power of her owner. (Carter 2016: Abschn. 3.2)
Freiheit als Abwesenheit von Herrschaft. Die negative Freiheit ist in diesem Sinne willkürlich und situativ. Politische Freiheit beschreibt schließlich ein strukturelles Verhältnis und kein kontingentes Ereignis (Lovett 2017: Abschn. 1.2). Kontingenz bedeutet im obigen Beispiel, dass die Freiheit von der Stimmung des Sklavenhalters, dem Betragen des Sklaven usf. abhängig wäre. Strukturalität verweist im Gegensatz dazu auf die Bedingungen der Möglichkeit von Sklaverei. Bis hierhin kann festgehalten werden, dass eine Person in dem Maße republikanische Freiheit genießt, wie niemand anderes die Möglichkeit hat, sich willkürlich in ihre Angelegenheiten einzumischen (ebd.: Abschn. 1.3; Pettit 1999: 165). Daraus ergibt sich in erster Annäherung der genuin republikanische Freiheitsbegriff als Freiheit von willkürlicher Herrschaft („non-domination“ bzw. „freedom from arbitrary power“) (Lovett 2017; Pettit 1996: 576). Mögliche Kritikpunkte. Gerade aus dem Mainstream-Liberalismus heraus wird diese Definition heftig bekämpft. Ein erster Kritikpunkt lautet, republikanische Freiheit sei kein eigenständiges Konzept, sondern einfach eine Paraphrase der negativen. Der Republikanismus verkaufe alten Wein in neuen Schläuchen. Eine zweite lautet, der Republikanismus ergebe nur dann Sinn, wenn er definieren könne, was Willkür ist. Denn es geht ihm ja nur um willkürliche Herrschaft. Welche Form der Herrschaft ist nun legitim und welche nicht? Ich gehe nun auf beide Punkte in gebotener Kürze ein. (1) Es ist nicht richtig, dass die republikanische Theorie keinen eigenständigen Charakter gegenüber dem klassischen Liberalismus besitzt. Man könnte zwar behaupten, negative Freiheit laufe auf genau das hinaus, was Republikaner fordern: Statusfreiheit. Denn was sind die Grundrechte, auf die sich Liberale zurückziehen, wenn nicht ein justiziabler Status der Freiheit, in den kein Dritter eindringen darf? Dazu ist zweierlei zu sagen. Erstens mag es zwar sein, dass Liberale, die negative Freiheit in ihrer Basisformulierung vertreten, genau wie die Republikaner, die eine oder andere Form von Statusfreiheit fordern, aber das geht aus dem Begriff der negativen Freiheit selbst keineswegs hervor. Daher ist die Forderung nicht durch den Begriff geboten. Zweitens bedeutet republikanische Freiheit eine substanzielle Freiheit. Und genau das ist der große Unterschied zwischen den beiden Ideen, der dem Republikanismus eine
9.2 Was ist Herrschaft?
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eigenständige theoretische Höhe verleiht. Denn die Hauptkritik der republikanischen Theorie lautet, dass mir formale Freiheiten nichts nützen, wenn ich sie nicht verwirklichen kann. (2) Es ist richtig, dass die republikanische Idee unter anderen Dingen damit steht und fällt, angeben zu können, wann Herrschaft legitim ist und wann nicht. Aus didaktischen Gründen wird die Erörterung dieses Problems in Abschnitt 9.3 ausgelagert. Bürgerschaft: liberal und republikanisch. Wenn das Paradigma des unfreien Menschen der Sklave ist und das Paradigma des freien Menschen der Bürger, dann stellt sich die Frage, was genau Bürgerschaft im Republikanismus bedeutet. Wie der Begriff der Freiheit hat auch der des Bürgers eine konventionelle liberale und eine republikanische Spielart (Leydet 2017: Abschn. 1.2). Die republikanische Version des Bürgers entsteht unter Rekurs auf Klassiker der Politischen Philosophie wie Aristoteles, Machiavelli oder Rousseau. Das Kernprinzip ist die Selbstbestimmung bzw. Selbstregierung („self-rule“). Funktional bedeutet dies, der Bürger ist Regierter und Regierender zugleich; er gestaltet die Umstände frei mit, die ihn seinerseits politisch begrenzen. Worin genau die notwendige Bedingung dafür gesehen wird, ist historisch unterschiedlich beantwortet worden; für Aristoteles ist es das Recht, (rotierend) öffentliche Ämter bekleiden zu dürfen, bei Rousseau oder Kant die Mitwirkung an der allgemeinen Gesetzgebung des Willens. Der republikanische Bürger ist also an erster Stelle aktiv mitregierender politischer Akteur. Die konventionelle liberale Version des Bürgers entsteht ideengeschichtlich mit der Expansion des Römischen Reichs (Walzer 1989: 211). Kolonialisierte Völker und Territorien genießen bürgerliche Rechte, verstanden als Abstandsrechte und negative Rechtssicherheiten, ohne an öffentlichen Ämtern oder der Kodifizierung des allgemeinen Willens beteiligt zu werden, wie es Aristoteles und die Vertragstheoretiker jeweils einfordern. Der Fokus liegt damit auf dem rechtlichen Status, der sich aus der Mitgliedschaft zu der politischen Gemeinschaft ergibt, und nicht an der Mitwirkung öffentlicher Angelegenheiten.
9.2
Was ist Herrschaft?
Definition und Merkmale von Herrschaft. Wenn die Idee der Freiheit in der republikanischen Politischen Philosophie durch den Ausdruck „non-domination“ paraphrasiert werden kann, stellt sich zwingend die Frage, was damit gemeint ist. Was ist also Herrschaft? Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei der folgende:
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Republikanische Freiheit
„domination is a kind of unconstrained, unjust imbalance of power that enables agents or systems to control other agents or the conditions of their actions“ (McCammon 2018: Kap. 1). Diese Kernidee, egal wie einzelne Komponenten davon variiert werden, hat folgende charakteristische Eigenschaften: 1. Herrschaft ist eine Art von Macht, in der Regel eine soziale Macht von Personen oder Strukturen über andere Personen. 2. Herrschaft beinhaltet eine asymmetrische Macht. Namensgebend für „domination“ ist „dominus“, der Herr oder Meister. Das Komplement wäre der Untergebene, Diener, Sklave. Charakteristisch für die Beziehung von Herrscher zu Beherrschtem ist, dass die Macht einseitig von der ersten auf die zweite Partei gerichtet ist. Dabei kontrolliert der Herrscher entweder direkt die Handlungen der Beherrschten oder indirekt die Rahmenbedingungen ihrer Handlungen. Sklaverei ist das antike Paradigma von Herrschaft. Zeitgenössische Gesellschaftsdiagnosen rücken den Blick eher auf das Verhältnis von Diktator zu Bürger in der Diktatur, Mann zu Frau im Patriarchat, Arbeitgeber zu Arbeitnehmer im Kapitalismus, Sozialstaat zu Hilfeempfänger im Paternalismus. 3. Die beherrschende Macht gilt insofern uneingeschränkt, als dass der Herrscher völlig über ihre Anwendung verfügt. Die Macht liegt also im Ermessen des Herrschers und ist somit willkürlich. 4. Herrschaft in diesem moralisierten Sinn ist politisch illegitim. Herrschaft und Handlung. Nach Pettit (1997: 52) ist Herrschaft ein Verhältnis ausschließlich zweier Akteure. Ist mindestens eine Partei kein Akteur, handelt es sich nicht um Herrschaft. Dieser Akteur kann ein einzelner oder ein kollektiver Akteur sein, wobei nicht zwingend ist, dass Herrschaft über eine tatsächliche Handlung ausgeübt wird, sondern die bloße Zugehörigkeit zu einer herrschenden Gruppe genügt (List & Pettit 2011: 19–41). Die Aussage „im Patriarchat herrschen Männer über Frauen“ ist auch dann wahrheitsfähig, wenn Männer nicht qua Gruppe kollektiv über Frauen herrschen. Männer müssen also nicht als kollektiver Akteur verstanden werden, sodass die Aussage wahrheitsfähig ist. Es ist Konsens, dass nur ein Akteur beherrscht werden kann. Was den Ursprung der Herrschaft anbelangt, ist keine derart eindeutige Aussage zu treffen. Man könnte schließlich Pettits These infrage stellen und behaupten, auch Strukturen, Institutionen oder Ideologien könnten herrschen. Zunächst wäre hier zu klären, ob Struktur, Institution oder Ideologie nicht schlicht eine unpräzise Art ist, etwas ganz anderes auszudrücken, nämlich dass Herrschaft über, durch oder vermittels etwas stattfindet. Eine dritte Alternative bestünde darin, eine Struktur, Institution
9.3 Argument über republikanische Freiheit
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oder Ideologie als Randbedingung zu betrachten, die Herrschaft entweder ermöglicht oder ausschließt (Lovett 2001: 49). Im Republikanismus ist diese letzte Sichtweise akzeptiert, weswegen ich ihr hier folge. Ich folge also Pettits Sicht, dass sowohl Herrscher als auch Beherrschter ein Akteur sein müssen. Tatsächliche und mögliche Handlungen. Ein ganz entscheidender Streitpunkt betrifft die Frage, ob die notwendige Bedingung von Herrschaft die bloße Machtstruktur ist (eine Struktur, die den tatsächlichen Gebrauch von Macht ermöglicht) oder, viel enger gefasst, der tatsächliche Gebrauch von Macht. Wenn man sich auf die erste, weite Alternative festlegt, liegt Herrschaft von A über B dann vor, wenn A in einer Position ist, die es ihm ermöglicht, nach eigenem Ermessen Gewalt über B auszuüben. Verpflichtet man sich auf die zweite, enge Variante, dann kann A B nur dann beherrschen, wenn er, die Position aus der ersten Formulierung vorausgesetzt, seine Macht tatsächlich ausübt. Bereits aus dem republikanischen Freiheitsbegriff als Statusfreiheit folgt, dass ein Republikaner sich zwingend auf die erste Variante festlegen muss. Da hier der Begriff der Macht nicht an ein bestimmtes Ergebnis gebunden ist, muss sie als Struktur verstanden werden. Daraus folgt ein eigenständiges Verständnis von politischer Legitimität: Laissez-faire ist politisch nicht legitim, weil es auf Commitments, Versprechungen und Selbstregulierung der Mächtigen beruht. Politisch legitim ist hingegen, Macht dort abzuschalten oder moralisch zu neutralisieren, wo sie Herrschaft bedeutet. Um das Herrschaftsverhältnis zwischen A und B aufzulösen, bedarf es also zwingend eines externen C (Pettit 2012: 63), der die bloße Option der Gewalt von A über B beseitigt oder unter Androhung der Strafe stellt oder im Mindesten B für die Unmöglichkeit dieser Beseitigung oder Strafandrohung positiv diskriminiert.
9.3
Argument über republikanische Freiheit
Rekapitulation. Bisher wurde gezeigt, dass republikanische Freiheit sich aus einer doppelten Kritik am klassischen Liberalismus über negative Freiheit speist. Gegenstände dieser Kritik sind erstens der Formalismus negativer Freiheit (sie gilt nur de jure) und zweitens ihre Situativität (sie gilt in Abhängigkeit tatsächlicher, empirischer Handlungen). Auf dieses Defizit antwortet der Republikanismus mit einem doppelten theoretischen Desiderat. Erstens: Freiheit muss ein substanzieller Begriff sein. Ob ich frei bin oder nicht, entscheidet sich in der sozialen, politischen und ökonomischen Wirklichkeit, nicht auf einem Blatt Papier. Zweitens: Freiheit muss ein Statusbegriff sein. Ob ich frei bin oder nicht, entscheidet
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Republikanische Freiheit
sich daran, ob mir Zwang grundsätzlich widerfahren kann, nicht daran, ob mir Zwang hier und jetzt widerfährt. Republikanische Freiheit ist deshalb die Abwesenheit von Herrschaft. Das Paradigma des Freien ist dabei der Bürger. Dieser ist nicht einfach jemand, der negative Schutzrechte genießt, sondern jemand, der die positive Macht besitzt, seine eigene Gesellschaft mitzugestalten. Nur wenn er das kann, nur wenn er durch nichts und niemanden beherrscht wird, dann ist er frei und Bürger dem eigentlichen, republikanischen Ideal nach. Die politische Kernimplikation ist aufgrund des bisher Gesagten, dass die Republik die Aufgabe hat, dass jeder vollwertiger (freier und gleicher) Bürger ist. Ob er diesen Status vernunftgemäß gebraucht, ist nicht ihre Sache, denn sie muss gegenüber dem individuell Guten neutral sein. Da Freiheit und Gleichheit in der republikanischen Theorie nicht gleichrangig sind, sondern Freiheit der Eigenwert ist, der durch ein gleiches minimales Set an Rechten sicherzustellen ist, handelt es sich um eine liberale und keine egalitäre Grundsatzposition. Genau diese Auffassung vertritt auch Dahrendorf (1965), wenn er eine staatsbürgerliche und eine Statusgleichheit unterscheidet, die sich gegenseitig voraussetzen: Ohne Staatsbürgerrechte kann ich keine eigenen Ziele verfolgen, weil ich keine Rechte gegenüber Dritten habe; ohne ein Mindestmaß an sozialem Status haben meine Staatsbürgerrechte keinen Effekt, weil sie mir alleine nicht genügen, um ein gutes Leben zu führen. Workfare als Gewalt? Wenn Existenzsicherung von Verhaltensauflagen befreit wird, ist dann ein Bürger nach republikanischen Gesichtspunkten frei? Ist ein Grundeinkommen also eine notwendige Bedingung von republikanischer Freiheit? Wenn nicht, gibt es keinen Grund, Workfare aufzugeben. Der freie Bürger wäre ein solcher, der nicht beherrscht wird. Beherrscht wird er dann, wenn er sich, um seine Existenz zu bestreiten, in soziale Beziehungen begeben muss oder bereits bestehende soziale Beziehungen nicht verlassen kann, die derart machtasymmetrisch sind, dass die ihm gegenüberstehende Partei („Herrscher“), ihn (Bürger) dazu veranlassen kann, nach ihren eigenen Regeln zu spielen und nicht nach seinen. Das schließt alle Instrumente der Persuasion (Werbung, Überzeugung, Aufklärung) aus, denn sie sind nicht gewaltförmig, ihnen kann sich eine autonome Person entziehen oder widersetzen. Der Geltungsbereich sind also nur unbegründete, also potenziell gewalt- bzw. zwangsförmige Beziehungen, denen sich ein Bürger nicht entziehen kann, will er die gleiche Freiheit wie die Opportunisten genießen, die sich in asymmetrische Beziehungen freiwillig begeben. Die Kriterien für Zwang, Gewalt oder Kontrolle können folgendermaßen expliziert werden (die Begriffe sind hier wie im Folgenden synonym):
9.3 Argument über republikanische Freiheit
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Unreasoned control – henceforth, called “control” – may be exercised through interference, such as when others remove an option, replace it with a penalized alternative, or reduce my capacity to choose rationally, whether by exploiting a weakness or inducing false beliefs. But control may also manifest without such active interference. Suppose that others are in a position of being able to interfere in any of those ways that gets me to behave according to their tastes. And imagine that they decide to interfere only on a need-for-action basis. They leave me alone so long as I behave according to their taste, but they are ready to interfere if I begin to deviate from that pattern – or if their taste changes. Such agents control what I do, whether or not I realize it, even when they find no reason to interfere actively. They exercise control by invigilating my behavior, monitoring it with a view to interfering when necessary – and only when necessary. If I manage to act as I choose, I am lucky; I happen to choose as they want me to choose. Whatever I do, then, I do by their implicit leave. In the words of the old republican complaint, I act only cum permissu: only with permission. (Pettit 2013: 28)
Workfare als Gewalt! Prüfen wir nun, ob Workfare Gegenstand der im Zitat oben formulierten Intension ist, ob es also die Kriterien für Kontrolle erfüllt. (1) Workfare ist, folgen wir dem Zitat, faktisch eine direkte Form der Kontrolle („direct interference“): Die Möglichkeit, seine eigene Existenz zu bestreiten, wird an Vermögen, informelle Unterstützung oder Partizipation am Arbeitsmarkt gekoppelt, weswegen eine Erwerbsperson sich nicht entscheiden kann, nicht zu arbeiten, will sie den gleichen minimalen sozialen Schutz wie die opportun handelnden Erwerbspersonen genießen („remove an option“). Die Entscheidung, nicht am Erwerbsmarkt zu partizipieren, wird nicht nur weniger belohnt, sondern explizit bestraft, indem das nur dem Grunde nach geltende Recht auf Existenz durch allgemeine Mittel entzogen wird („replace it with a penalized alternative“). Bereits die soziale Normalitätserwartung an eine erwerbsfähige Person, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu müssen, kann als eine unpersönliche Form von Herrschaft begriffen werden, die als kulturelle Bias wirkt („reduce my capacity to choose rationally“): Bestimmte Formen von Arbeit sind normal (Erwerbsarbeit), andere nicht (reproduktive Arbeit); bestimmte Formen der Unterstützung sind mit hohem Status verbunden (Markteinkommen), andere mit niedrigem Status oder Statusabwertung und Stigma (Transfereinkommen). Meine Fähigkeit, rational zu entscheiden, wird hier deshalb manipuliert, weil die Attribuierung von bestimmten materiellen und normativen Anreizen, positiv oder negativ, mindestens meine extrinsische Motivation verändert. Wenn der Exit aus einer Form der sozialen Normalität einen bestimmten Schwellenwert an Opportunitätskosten überschreitet, dann steht diese Alternative rational nicht zur Disposition, auch dann nicht, wenn ich intrinsisch motiviert bin, sie also zweckrational erscheint. (2) Workfare kann aber ebenso
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Republikanische Freiheit
als implizite Kontrolle beschrieben werden, die der aktiven Einmischung nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen bedarf („need-for-action basis“): Ich erfahre keine spürbaren Nachteile, solange ich mich an bestimmte Kodizes halte („behave according to their taste“). Weiche ich aber ab, werden mir Rechte, Möglichkeiten, Optionen de facto oder de jure entzogen. Die Kontrolle greift hier nicht wegen einer aktiven Einmischung in meine Angelegenheiten, sondern manifestiert sich vielmehr in der Androhung ihrer wenn auch nur hypothetischen Möglichkeit einerseits sowie des Generalverdachts meiner Handlungen andererseits („inviligating my behavior“). Ich werde in dieser Form der Herrschaft immer nur „cum permissu“ handeln können. Das republikanische Existenzminimum. Ist ein Grundeinkommen nun ein möglicher Statusschutz vor dieser direkten oder indirekten Machtausübung durch konditionalisierte Existenzsicherung? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Exkurs ex ante hilfreich, der zeigt, wie im Republikanismus ein Existenzminimum an und für sich begründet wird, also unabhängig von seiner Ausgestaltung entweder als Grundeinkommen, Workfare oder eine beliebige dritte Alternative. Die Idee eines republikanischen Existenzminimums kann sich nicht aus dem Eigenwert eines solchen Minimums ergeben, sondern nur aus seinem Verhältnis zur republikanischen Freiheit. Nur wenn ein Existenzminimum eine notwendige Bedingung von republikanischer Freiheit ist, ist es im Rahmen der Theorie geboten. Kann es also Freiheit ohne ein soziales Minimum geben? Die republikanische Antwort hierauf ist recht eindeutig (White 2015): Das öffentliche wie private Leben zerfällt in zahlreiche Sphären der sozialen Interdependenz (Arbeit, Familie, Ehe usw.). Sobald einer dieser Bereiche auch nur prinzipiell herrschaftsförmig strukturiert sein kann, sodass beispielsweise Arbeitgeber Arbeitnehmer dazu bewegen können zu arbeiten oder nicht zu kündigen, Männer Frauen dazu, eine Beziehung einzugehen oder eine bestehende Beziehung nicht zu verlassen usw., bedarf die schlechter gestellte Partei (hier: Arbeitnehmer, Frauen) einer substantiellen Möglichkeit, die machtasymmetrische Beziehung entweder nicht erst einzugehen (Vetorecht) oder zu verlassen (Ausstiegsrecht). Arbeitnehmer und Frauen, um im Beispiel zu bleiben, müssen sowohl „Nein“ als auch „Nicht mehr“ sagen können. Und das setzt den Besitz von oder das Zugangsrecht zu Ressourcen voraus, die die soziale Existenz sichern. Ein Existenzminimum löst die machtasymmetrischen Strukturen also keineswegs auf, aber ermöglicht ein Abstandsrecht, indem es die Folgen für die Schwächeren mildert, autonom zu handeln. Ein Beispiel: Ein Arbeitgeber hat die Macht, auf einen seiner Arbeitnehmer zu verzichten, ohne dadurch substantiellen Schaden zu erleiden, wohingegen dieser einen verhältnismäßig deutlich größeren Schaden durch den Verlust seines
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Arbeitsplatzes erleidet oder im Fall einer Kündigung prinzipiell erleiden könnte. Zwischen den beiden Parteien herrscht also eine Machtasymmetrie zugunsten der ersten und zulasten der zweiten Partei, sodass die zweite systematisch bedroht und strukturell ausbeutbar ist. Es geht also um die Opportunitätskosten von Handlungen, die ungleich zwischen Parteien verteilt sind, woraus eine proportional ungleiche Verhandlungsmacht folgt. Das republikanische Argument für ein Existenzminimum lässt sich derart konstruieren, dass dieses die Opportunitätskosten der je benachteiligten Partei sozialisiert. In diesem Licht ist ein garantiertes Existenzminimum die notwendige Bedingung für die Teilhabe am Bürgerleben und den Vollzug des Bürgerstatus selbst, sofern diese durch die machtasymmetrische Beziehung bedroht sind. Die empirische Plausibilitätsbedingung des Arguments ist also, dass die sozialen Beziehungen in den oben genannten Sphären des öffentlichen und privaten Lebens tatsächlich Machtmissbrauch ermöglichen. Das republikanische Grundeinkommen. In diesem Licht wird deutlich, warum ein Grundeinkommen durch den Republikanismus geboten ist. Das ergibt sich zum einen negativ aus dem Versagen von Workfare, die Funktion eines republikanischen Existenzminimums zu erfüllen. Sicher, Workfare ist eine Form von Existenzsicherung, aber, wie im letzten Absatz gezeigt wurde, hat Existenzsicherung die Aufgabe, Herrschaft moralisch zu neutralisieren, wohingegen Workfare, wie im vorletzten Absatz gezeigt, seinerseits eine neue Kategorie von Herrschaft selbst darstellt. Zum anderen ergibt sich das positiv aus der Konsistenz der Idee eines Grundeinkommens mit den Ideen republikanischer Freiheit, republikanischen Existenzminimums und republikanischer Bürgerschaft: Wenn ein Grundeinkommen eingeführt wird, ist die Sphäre des Statusschutzes deutlich ausgedehnter. Ein Grundeinkommen erhöht die Kosten und Barrieren für einen Akteur, sich in jemandes Angelegenheiten einzumischen. Das ist zum Beispiel der Fall auf einem Arbeitsmarkt mit Angebotsüberhang. Viele Arbeitnehmer konkurrieren um vergleichsweise wenige Jobs. Dadurch, dass Existenzsicherung über das Einkommen gesellschaftsvertraglich festgeschrieben ist, haben die Bewerber keine Möglichkeit, sich der „Herrschaft“ der Arbeitgeber zu entziehen, die im Lohndumping oder anderen Mechanismen bestehen kann. Das Grundeinkommen als Recht löst dieses Abhängigkeitsverhältnis auf, indem es Nichtarbeit, Teilzeitarbeit oder unentgeltliche Arbeit ermöglicht, ohne denselben Nachteil dadurch zu erleiden wie unter Bedingung einer Bedarfs- oder Leistungsorientierung. Es lassen sich weitere analoge Fälle konstruieren, in denen ein Grundeinkommen zur Erhöhung der Statusfreiheit beiträgt, zum Beispiel im Verhältnis von Frau und Mann in der Beziehung, insbesondere in der Ehe. Hier wird evident, warum republikanische und negative Freiheit zu unterschiedlichen Urteilen über ein
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Republikanische Freiheit
Grundeinkommen kommen: Negative Freiheit ist eine kontinuierliche Variable, die eine beliebige Ausprägung im Polaritätsprofil zwischen „frei“ und „unfrei“ einnehmen kann. Deswegen ist im klassischen Liberalismus (qua negative Freiheit) staatliche Verteilung von Geld immer ein Paradox: Wenn der Staat ein steuerfinanziertes Grundeinkommen an die einen zahlt, muss er diese Steuern den anderen wegnehmen. Liberale Freiheit als empirische Nicht-Einmischung ist ein Nullsummenspiel. Nicht so im Republikanismus. Hier besteht kein Trade-off zwischen den republikanischen Freiheiten verschiedener Personen. Der Staat, der den einen durch ein Grundeinkommen ihre republikanische Freiheit gewährt, tut dies nicht auf Kosten der republikanischen Freiheit der anderen, zum Beispiel der Steuerzahler. Denn qua Grundeinkommen erhalten ja alle denselben Status. Ob eine Person im Einzelfall gerade auf diese Unterstützung angewiesen ist oder nicht, ist nachrangig, denn sie kann sich qua konstitutionellen Anrechts darauf verlassen, dass die Leistung ihr im Fall der Bedürftigkeit garantiert, nicht der Willkür eines Dritten anheimzufallen. Vielmehr ist sogar die bloße Möglichkeit der Bedürftigkeit ausgeschlossen. Dieser Status, die Unmöglichkeit, in eine Position der Bedürftigkeit zu fallen, folgt keiner Nullsummenlogik. Statusfreiheit ist nicht teilbar, sondern nominal: Sie liegt vor oder nicht. Wenn meine Existenzsicherung aber an Leistung oder anderes Verhalten geknüpft ist, muss ich diese auf eine bestimmte Art eigenverantwortlich bestreiten. Das Problem liegt indes nicht in der Eigenverantwortlichkeit, sondern in der Art und Weise: Wenn ich meine Arbeitskraft auf dem Erwerbsmarkt verkaufen muss, bin ich gezwungen, ein Spiel zu spielen, in dem die Karten der verschiedenen Spieler zu meinen Lasten verteilt sein können. Die republikanische Freiheit ändert daran nichts, zumindest nicht unmittelbar, aber sie gibt mir die freie Option, ob ich dieses Spiel überhaupt spielen will oder nicht. Märkte als Herrschaft. Aus republikanischer Sicht können Märkte per se, nicht nur der Arbeitsmarkt, als Form von Herrschaft betrachtet werden. In einer Welt, in der Ressourcen nicht frei zugänglich sind oder sich vollständig in fremdem Besitz befinden, müssen die „Besitzlosen“ sich den Anforderungen, Kriterien und Spielregeln derer fügen, die diese Ressourcen oder den Zugang dazu kontrollieren (Widerquist 2013a: 11). In anderen Worten: Sie werden beherrscht und handeln „cum permissu“. Das betrifft auch die Sphäre der Existenzsicherung. Wer nicht nach den von anderen definierten Regeln spielt, kann seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen. Vor diesem Hintergrund kann als „besitzlos“ bezeichnet werden, wer keinen unabhängigen Zugang zu einer ausreichenden, die Grundbedürfnisse deckenden Menge an Ressourcen hat. Frei sind auf einem Markt indes immer nur die Transaktionen der Ressourcenbesitzer untereinander. Es geht also
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allenfalls um die Freiheit eines Tauschs, der ja einen Eigentumstitel auf beiden Seiten bereits voraussetzt, aber es geht nicht um die Freiheit der Definition, des Erwerbs und der Durchsetzung des Eigentumstitels selbst. Sobald ein Eigentumstitel auf eine endliche Ressource erworben worden ist, hat niemand mehr die gleiche Chance darauf. Vor diesen Hintergrund könnte nicht plausibel behauptet werden, dass der „Besitzlose“ seinen Status selbst verantwortet hat: A property right in an external asset is the legal right to interfere with other people who might want to use that external asset. Had the propertyless chosen to grant control of the earth’s natural resources to the propertied in exchange for some benefit, one could fairly say that propertylessness followed from their exercise of the freedom to make that choice. But the decision to enforce property rights in external assets is imposed on the propertyless without their agreement, and therefore cannot follow from their freedom. (ebd.: 12)
Nein sagen können. Lebenspraktisch bedeutet Herrschaftsfreiheit, Nein sagen zu können, oder genauer: „the effective power to accept or refuse active cooperation with other willing people“ (Widerquist 2013c: 34). Diese Definition von herrschaftsfreier Selbstbestimmung ist aus meiner Sicht die prägnanteste Definition von Nicht-Herrschaft, weswegen ich sie hier etwas genauer betrachten möchte. Wenn republikanische Freiheit heißt, dass ich zu einer aktiven Kooperation mit einem anderen Menschen Nein sagen kann, hat das je zwei theoretische und politische Implikationen. (1) Theoretisch: Eine freie Person A kann mit einer anderen freien Person B kooperieren, sofern dies dem Willen von B entspricht. Würde es um den Willen von A gehen, könnte A B beherrschen. Es gibt also kein Recht, eine aktive Kooperation einzugehen oder zu erzwingen, wohl aber eines darauf, eine solche zu verweigern oder zu verlassen. Politisch: Jede Person muss mit Grundfreiheiten ausgestattet sein. Wenn B keine Grundfreiheiten hat, gibt es nichts, das ihrem Willen justiziablen Charakter verleiht. (2) Theoretisch: B darf nicht durch C gezwungen sein, mit A aktiv zu kooperieren, wobei C den Status einer beliebigen externen Freiheitsrestriktion hat (persönlich oder natürlich, aber nicht intern). Der erste Punkt hat nur festgelegt, dass A mit B nur aktiv kooperieren kann, wenn B das will. Das lässt die Option zu, dass B mit A aktiv kooperiert, ohne es zu wollen und ohne dem Willen von A unmittelbar entsprochen zu haben, aber durch einen Umstand außerhalb von A und B (also C) gezwungen worden ist, die aktive Kooperation dennoch einzugehen. Politisch: Jede Person muss bedingungslos mit einem Mindestmaß an Ressourcen ausgestattet sein, sodass A nicht durch B erpressbar ist und die formellen Grundfreiheiten aus (1) auch substanziell
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Republikanische Freiheit
gelten können. Eine Person ohne dieses bedingungslose Recht muss im Zweifelsfall ihren eigenen Willen kompromittieren, um das soziale Minimum zu erreichen, wodurch sie beherrschbar und nach republikanischem Verständnis unfrei wäre. Zwei Vorbehalte. Auch wenn das republikanische Argument für ein Grundeinkommen (und gegen Workfare) ein starkes ist, steht es aus meiner Sicht unter zwei Vorbehalten. Erstens geht es um die Klärung der Frage, wann genau Macht als Herrschaft zu interpretieren ist, schließlich wäre die Theorie tautologisch, wenn jede Macht als herrschaftsförmig einzustufen wäre. Es bedarf also einer Unterscheidung entlang eines bestimmten Kriteriums. Zweitens geht es um die Frage, welche Herrschaft legitim ist und welche nicht. Auch hier muss eine Unterscheidung getroffen werden, sonst greift die Republik überall ein und schränkt dadurch diejenigen Freiheiten ein, die sie selbst gewährleisten will. Erster Vorbehalt: Status von Macht. Der erste Vorbehalt betrifft die Frage: Wann ist Macht Herrschaft? Mögliche Antworten diskutiert Lovett (2017: Abschn. 2.2) in einem Unterkapitel „What Counts as ‚Arbitrary‘ Power“. Wie der Titel andeutet, muss es Macht geben, die rechtmäßig ist, und Macht, die willkürlich ist. Pettit fasst die Positionen in der Forschungsliteratur in zwei Klassen von Antworten zusammen. Erstens: Legitim („non-arbitrary“) ist Macht dann, wenn oder soweit sie geregelt ist durch Gesetze, Vorschriften, Normen, geteilte Ziele usw., über die alle Betroffenen vollständiges Wissen verfügen. Zweitens: Legitim ist Macht, wenn oder soweit sie direkt oder indirekt durch die Beteiligten kontrolliert wird. Die erste Variante ist eine Begründung von Rechtsstaat im Speziellen, die zweite eine Begründung von Demokratie im Allgemeinen. Hier gibt es zwei ganz entscheidende Probleme, die die Validität des oben konstruierten Arguments bedrohen. Erstens: Hier werden externe Kriterien ad hoc eingeführt, um den Begriff von Freiheit zu verteidigen. Der Status einer Handlung, Institution oder Struktur als entweder Herrschaft oder Nicht-Herrschaft folgt hier nicht aus der Idee der republikanischen Freiheit selbst. Daher ist das Argument voraussetzungsvoll: Es gilt nur unter dem Vorbehalt, dass diese Frage beantwortet wird, und dass diese Antwort ihrerseits nicht mit dem Argument kollidiert. Zweitens: Ein noch größeres Problem besteht darin, dass die theoretischen und politischen Implikationen durch die beiden von Lovett aufgestellten Regeln als nachrangig erklärt werden, womit republikanische Freiheit als solche ebenfalls als nachrangig erklärt werden müsste, aus der nichts im Besonderen folgt. Denn auch Workfare könnte durch Gesetze, Vorschriften, Normen, geteilte Ziele geregelt sein, über die alle Betroffenen vollständiges Wissen verfügen; auch Workfare (oder jedes beliebige andere Instrument) könnte direkt oder indirekt durch die Beteiligten kontrolliert
9.3 Argument über republikanische Freiheit
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werden. Wird in einer repräsentativen Demokratie aber nicht alles indirekt durch die Betroffenen (Bürger) entschieden? Durch seine Ad-hoc-Formulierung verwässert Lovett nicht nur mögliche republikanische Argumente, sondern er droht sie auch ad absurdum zu führen. Zweiter Vorbehalt: Legitimität von Herrschaft. Gehen wir davon aus, dass das oben beschriebene Problem gelöst sei, wir also wüssten, wann Macht Herrschaft bedeutet und wann nicht. Welche Form der Herrschaft ist dann legitim und welche nicht? Es drängt sich jedenfalls der Einwand auf, dass die republikanische Theorie Herrschaft übergeneralisiert. Wenden wir die Definition von Herrschaft auf die reale Welt an („a kind of unconstrained, unjust imbalance of power that enables agents or systems to control other agents or the conditions of their actions“), dann können wir jedes beliebige paarweise Verhältnis von zwei Gruppen A und B als herrschaftsförmig bezeichnen. Jeder Messerbesitzer ist mit der potenziellen Macht ausgerüstet, einen anderen Menschen zu erstechen. Sollen deswegen Messer verboten werden? Oder alle gleichmäßig mit Messern „ausgerüstet“ werden? Die Gefahr ist jedenfalls, dass sich der Republikanismus selbst ad absurdum führt, indem er unter veränderten Vorzeichen genau den Paternalismus selbst erzeugt, den er durch sein Projekt der Statusfreiheit seinerseits zu bekämpfen versucht. Wo genau verläuft aber der Mittelweg, der nicht in die politische Absurdität führt? Vertreter der negativen Freiheit würden behaupten, das Problem liege in der Eigenschaft republikanischer Freiheit, einen Status zu konnotieren. Würde Freiheit sich nur auf das beziehen, was tatsächlich passiert, wie negative Freiheit, verflüchtigte sich die Frage nach der Legitimität. Denn jeder Zwang, der faktisch ausgeübt wird, ist illegitim. Aber im Republikanismus geht es ja um potenziell ausgeübten Zwang. Bislang gibt es keine theoretische Lösung für das Problem der Übergeneralisierung, die mir bekannt wäre. Sicherlich könnte sich ein Republikaner damit behelfen, seinen Begriff auf die enge Formulierung zu beschränken, also als notwendige Bedingung des Herrschaftsbegriffs nur ausgeübte Macht oder, etwas weiter, beabsichtigte Ausübung gelten lassen. Aber dann korrespondiert dieser Begriff von Herrschaft nicht mehr mit republikanischer Statusfreiheit, sondern mit dem klassischen Begriff der negativen Freiheit im Mainstream des Liberalismus. In anderen Worten: Das ganze republikanische Kartenhaus fällt in sich zusammen. Die republikanische Theorie würde in genau derjenigen Theorie kollabieren, von der sie sich abzugrenzen versucht.
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9.4
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Republikanische Freiheit
Feministische Statusfreiheit
Drei Feministische Positionen. Die folgenden Absätze schließen das republikanische Argument mit dem Ziel zu zeigen, dass ein republikanisch begründetes Grundeinkommen insbesondere an feministische Positionen anschlussfähig ist. Im zeitgenössischen Feminismus sind Frau und Weiblichkeit keine eindeutig festgelegten Begriffe (Moraga & Anzaldúa 1983). Als Konsens gilt, dass eine negative Definition von Weiblichkeit als Abwesenheit von Männlichkeit zu kurz greift (Irigaray 1985a; 1985b) und die innere Komplexität vielfältiger, diverser und intersektionaler Weichblichkeiten nicht erschöpfend charakterisiert (Spivak 1988; Jaggar 1983; 2005). Aus dem Spektrum feministischer Schulen interessiert hier nur der Bereich der Politischen Philosophie, der in mehrere Binnenpositionen zerfällt (McAfee 2016: Abschn. 2.1–2.5; gekürzt). (1) Ein liberaler Feminismus (Kittay 1999; Okin 1989) kritisiert die Politische Philosophie als männlich verzerrte Perspektive, die nur das öffentliche Leben betrifft, aber das Private außen vor lässt. Das Problem hierbei ist, dass die weibliche Bevölkerung empirisch viel stärker an das Private gebunden ist. Deshalb sei die Politische Philosophie „männlich“. Das Kerndesiderat dieser Position ist entsprechend, den Geltungsbereich liberaler Theorie auf das private Leben zu generalisieren. (2) Ein Feminismus der Differenz versucht eine eigens für die weibliche Bevölkerung gültige moralische, politische oder ökonomische Theorie zu entwerfen. Held (1995) unternimmt zum Beispiel den Versuch, eine „Ethik der Fürsorge“ zu begründen. Die Chance dieser Perspektive ist, dass „weiblichen“ Tugenden, Attributen und Domänen ein Eigenwert zugeschrieben wird, der sie von ihrem theoretischen Stigma befreien kann. Die Herausforderung davon ist, kein starres, naturalistisches Geschlechterbild zu entwerfen. (3) Ein Feminismus der Diversität lehnt diese differenztheoretische Sichtweise ab, indem er die Vielschichtigkeit und Komplexität menschlicher Identität betont, die nicht sinnvoll auf eine banale Ausprägung wie Geschlecht oder Gender reduziert werden kann. Die Chance dieser Perspektive liegt in der Überwindung der Binarität von Mann und Frau oder männlich und weiblich, wird aber um das Risiko von theoretischer Beliebigkeit erkauft. Feminismus und Grundeinkommen. Der Feminismus kennt kein einheitliches Urteil zum Grundeinkommen (Fitzpatrick 2013: 167), teils weil Feminismus nichts Einheitliches umschreibt, teils weil die Folgen eines Grundeinkommens auf klassisch feministische Inhaltsbereiche wie Privatheit, Haushalt, Partnerschaft, Ehe oder geschlechtliche Arbeitsteilung kaum abschätzbar sind (Vanderborght & Widerquist 2013: 142). Einige Theoretiker befürworten ein Grundeinkommen
9.4 Feministische Statusfreiheit
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insbesondere, weil es individuell ausbezahlt wird. Dadurch erhöhe sich die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen, die an häusliche Arbeit gebunden sind, ob freiwillig oder unfreiwillig. Aber auch innerhalb des Haushalts und der Partnerschaft könnte mit der hinzugewonnenen finanziellen Freiheit eine verbesserte Machtposition einhergehen (Purdy 1988): Es gäbe in einer Beziehung dann keinen klassischen Versorger mehr, von dem ein schwächeres Haushaltsmitglied indirekt abhängig ist. Überhaupt würde das Private dekommodifiziert, das heißt, das Privatleben betreffende Entscheidungen wären von der Notwendigkeit befreit, unter ökonomischen Gesichtspunkten getroffen zu werden. Ein anderes Argument bezieht sich auf die voraussichtliche Statusaufwertung der „weiblichen“ Arbeit, die heute nicht oder schlecht bezahlt wird, und durch ein Grundeinkommen zur gleichwertigen Alternative werden könnte. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung in „weibliche“ Teilzeitbeschäftigung und reproduktive Arbeit einerseits und „männliche“ Vollzeitbeschäftigung andererseits aufgebrochen oder ganz überwunden würde (Standing 1992: 59). Andere Theoretiker teilen diese positiven Erwartungen nicht und kommentieren den Vorschlag reserviert, skeptisch oder polemisch. Das gängige Argumentationsmuster ist dabei, dass ein Grundeinkommen eine ganz und gar „männliche“ Idee sei. Es gehe nicht auf die besonderen Umstände und Bedarfe von Frauen ein. Es führe ein Recht auf Nicht-Arbeit ein, wo doch gerade Arbeitsmarktintegration das beste emanzipatorische Medium sei. Und es sei ignorant gegenüber der Tatsache, dass Frauen im Gegensatz zu Männern oftmals nicht in erster Linie von einer Erwerbsarbeit abhängig sind, sondern innerhalb von Haushalt und Familie. Demnach müsste „weibliche“ Sozialpolitik nicht auf eine Dekommodifizierung, sondern auf Defamiliarisierung zielen (Cass 1991). Das Grundeinkommen aber abstrahiere nur von einer „männlichen“ Normalität: Freiheit vom Markt. Genau deswegen verfestige oder verschärfe es die bereits bestehenden Gender-Asymmetrien. Pateman (2013: 173) bringt diese Sicht auf den Punkt: The debates about Basic Income center on the figure of a man in – or avoiding – paid employment. This is very clear in one of the major criticisms of, and apprehensions about, the idea of a Basic Income; that is, that it would encourage free-riding and idleness. Freeriders breach the principle of reciprocity by obtaining the fruits of the efforts of others and contributing nothing themselves in return; a Basic Income, it is charged, would “inspire a segment of the able population (…) to abjure work for a life of idle fun” (...). But who is being seen as so prone to idleness and fun? The assumption guiding the discussion of Basic Income is that the problem is about men and employment. A much greater problem about male free-riding to which a Basic Income is directly relevant (…) is therefore ignored.
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Republikanische Freiheit
Feministische Wohlfahrtsmodelle. Wie im Absatz oben gezeigt, gibt es keinen feministischen Konsens zur Bewertung des Grundeinkommens. Das liegt auch daran, dass der Feminismus bislang arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformvorschläge ins Spiel gebracht hat, in die die Idee, nicht arbeiten zu müssen, schwer einordenbar ist. Die entsprechenden Desiderate des Feminismus kreisen insbesondere um die gleiche Möglichkeit zur Arbeit von Frauen und Männern und um die gerechte Verteilung von Arbeit zwischen Frauen und Männern. In beiden Fällen steht im Zentrum Arbeit als Kausalität für Gerechtigkeit. Folgen wir einem Gliederungsvorschlag von Fraser (1997), gibt es drei mögliche Lösungsangebote für einen gendergerechten Wohlfahrtsstaat. (1) Das Modell „Universal Breadwinner“ zielt auf die Integration von Frauen in den Erwerbsmarkt. (2) Das Modell „Care-Giver Parity“ zielt auf die Subventionierung von informeller Care-Arbeit. (3) Das Modell „Universal Care-Giver“ zielt auf eine gleichmäßigere Verteilung von reproduktiven Aufgaben auf Männer und Frauen. Ganz offensichtlich ist der Bezugspunkt bei allen drei Ideen immer Arbeit. Im ersten Modell ist diese auf Erwerbsarbeit im engeren Sinn beschränkt, im zweiten liegt der Fokus auf „weiblicher“ Arbeit, im dritten sind „weibliche“ und „männliche“ Arbeit gleichgestellt. Das Grundeinkommen aber erhält jeder. Bereits die Tatsache, dass allerorten explizit erwähnt wird, dass „jeder“ auch diejenigen einschließt, die „nichts“ tun, ist Evidenz für die moralische Aufladung des Arbeitsbegriffs. Auch wenn das Grundeinkommen fast immer im Zusammenhang mit Arbeit erwähnt und diskutiert wird, hat es unmittelbar überhaupt nichts mit Arbeit zu tun. Ein Grundeinkommen erhält man, weil man Bürger ist. Man erhält es nicht wegen, aufgrund oder trotz Arbeit, sondern ihrer völlig ungeachtet. Feministische Sozialpolitik existiert aber üblicherweise nur mittelbar über Arbeitsmarktpolitik. Deswegen ist unklar, wie ein Grundeinkommen von dieser Warte aus bewertet werden soll. Es könnte jedes der Desiderate der drei Modelle erfüllen oder auf das genaue Gegenteil hinauslaufen. Letztlich bleibt jede Aussage darüber spekulativ und kann bestenfalls den Status eines Plausibilitätsarguments innehalten. Ein deontologisches Argument. Es gibt allerdings die Möglichkeit, die oben angesprochenen, empirisch voraussetzungsvollen und letztlich spekulativen Argumentationsfiguren durch ein Prinzipienargument zu ersetzen. Eines der fundamentalen Projekte der feministischen Politischen Philosophie der letzten Jahrzehnte war die Kritik der „männlichen“ liberalen Theorie, die nur für das Öffentliche gilt, das Private aus ihrem Gegenstand ausschließt und somit indirekt Frauen diskriminiert, weil diese de facto stärker an das Private gebunden sind als Männer. Ein Grundeinkommen, so das Prinzipienargument, löst zwar nicht die Trennung in „öffentlich“ und „privat“ auf, aber befreit sie von ihrer Problemqualität. Ziel
9.4 Feministische Statusfreiheit
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der folgenden Absätze ist, diesem Argument Geltung zu verleihen. Um die Plausibilität dieses Arguments nachzuvollziehen und es in einem weiteren Schritt ausbuchstabieren zu können, muss zunächst die gegen den liberalen Mainstream gerichtete feministische Argumentation skizziert werden. In den liberalen Theorien der Gerechtigkeit streiten wenige bis kaum Theoretiker für eine gerechte Familie oder einen gerechten Haushalt (Satz 2017). Die Gründe dafür liegen auf der Hand und wurden in Abschnitt 3.3 erarbeitet: Normen in der Privatsphäre zu präskribieren schränkt negative Freiheit ein, ist inkonsistent mit der Präsupposition der Autonomie, und kann als Paternalismus interpretiert werden, weil es das individuell Gute vorschreibt, was eine liberale Theorie nach der hier gebrauchten Definition nicht darf. Das sind ausgesprochen starke Argumente gegen die feministische Forderung einer theoretischen Integration des Privaten und Öffentlichen und für die Aufrechterhaltung ihrer Trennung. Worin genau besteht nun der feministische Einwand hiergegen und wie konsistent ist er? Das Private und das Öffentliche I: Das Private ist politisch. Der erste feministische Einwand lautet: Das Private (im Folgenden spreche ich aus illustrativen Gründen von Familie) muss deshalb Teil der liberalen Theorie sein, weil Familien ohnehin politische Konstrukte sind, also Gegenstand von Rechten und Normen. Die politische Natur von Familien abzustreiten müsste auf einer von zwei Thesen basieren: Entweder man müsste behaupten, die Familie sei vorpolitisch oder man müsste behaupten, die Familie sei unpolitisch. Beides ist aber nicht ernsthaft zu vertreten (1) Vorpolitisch wäre Familie dann, wenn sie etwas natürlich Gegebenes wäre. Damit wären auch die Rollen von Mann und Frau unhinterfragbar und unbeeinflussbar festgeschrieben. Feministen können dem entgegenhalten, dass es keine essenziellen biologischen Unterschiede gibt, die die Rolle und den Status der Frau in der „Normalfamilie“ erklären könnten (Haslanger 2000). Sie könnten aber auch entgegenhalten, es möge vielleicht essenzielle, biologisch oder psychologisch bedingte Unterschiede zwischen Mann und Frau geben, die zumindest zum Teil Rollen- und Statusverteilungen innerhalb von Haushalt und Familie sowie zwischen Privatem (Hausarbeit) und Öffentlichem (Erwerbsarbeit) bedingen, aber letzten Endes geht es nur um die Normativität von Rolle und Status. Und dass „weibliche“ Arbeit faktisch geringer geschätzt wird als „männliche“, ist ein rein soziokulturelles Konstrukt, das seinerseits auf nichts Essentielles reduzibel ist. Die geschlechtliche Arbeitsteilung ist also mindestens ihrer Normativität nach eine institutionalisierte Geringschätzung „weiblicher“ Arbeit (Noddings 1986). Eine dritte, eher pragmatische Entgegnung lautet, ob es nun essenzielle Unterschiede zwischen Geschlechtern gibt oder es sich dabei um kulturelle Phantasien handelt, ist moralisch irrelevant. Relevant ist nur die Tatsache, dass man von
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Republikanische Freiheit
einer Ungleichheit von Mann und Frau, sei sie Fakt oder Fiktion, nicht auf eine Subordination der Frau schließen kann. Die These, dass die Familie präpolitisch sei, ist absurd, weswegen Feministen hier eindeutig Recht haben. (2) Unpolitisch wäre Familie dann, wenn darin Regeln gelten, die sich ganz und gar von denen unterscheiden, die im politischen, öffentlichen Raum gelten. Sandel (1982) argumentiert wie folgt: In Familien gelten andere Normen (Liebe, Zuneigung, Fürsorge) als im öffentlichen Raum (Konflikt, Knappheit). Theoretisch relevant ist deswegen nur die Familie als Entität, als unitarischer Akteur, als „Familie contra Staat“. Was aber innerhalb der Familie passiert, ist theoretisch irrelevant. Feministen halten entgegen, dieses Bild verkläre, verharmlose und romantisiere soziale Tatsachen. Was Sandel sagt, treffe manchmal zu, aber manchmal auch nicht. Und das sei das Problem. Manche Familienstrukturen basieren de facto auf Zwang und Bevormundung. Und auch in intakten Familien sind Frauen in der Regel vulnerabler durch die geschlechtliche Arbeitsteilung als Männer. Jedes Familienmitglied ist außerdem Familienmitglied und Bürger zugleich. Bereits in einer Person vermischt sich also die private mit der politischen Sphäre. Das feministische Argument kann verdichtet werden: Die ideale Familie, die die Politische Philosophie präsupponiert, existiert entweder nicht, nicht vollständig, nicht immer oder nicht überall. Darum ist die Familie Gegenstand von Gerechtigkeit. Das Private und das Öffentliche II: Das Private als distributiver Nachteil. Der zweite feministische Einwand lautet: Das Private muss deshalb Teil der liberalen Theorie sein, weil „Normalfamilien“ in mehrfacher Hinsicht die Chancen und Freiheiten von Frauen beschränken, am öffentlichen Leben gleichwertig oder überhaupt teilzuhaben. Die geschlechtliche Arbeitsteilung je innerhalb und zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, das für Frauen einen „Kreislauf der Vulnerabilität“ (Okin 1989, übers. DP) bedeuten kann. Reproduktive Tätigkeiten gelten nicht nur als „weiblich“, sondern sind es statistisch auch. Durch deren unentgeltlichen Charakter sind Frauen in fundamentalen biografischen Entscheidungen restringiert: Entscheiden sie sich für reproduktive Tätigkeiten, sind sie von einem Ehepartner oder Versorger abhängig. In der Folge sinken ihre Chancen auf eine qualifizierte Tätigkeit auf dem Erwerbsmarkt zu einem späteren Zeitpunkt. Das erhöht die Kosten einer Scheidung drastisch (Weitzman 1985). Dieses Bündel an Faktoren verlagert den substantiellen Schwerpunkt der Macht hin zum Ehemann, Haushaltsvorstand oder männlichen Bewerber und weg von der Ehefrau, Lebenspartnerin oder Bewerberin, auch wenn beide Parteien formell mit denselben Rechten, Pflichten und Möglichkeiten ausgestattet sind. Die systematische Übervorteilung „weiblicher“ Arbeit verläuft nicht nur einseitig vom Haushalt auf den Erwerbsmarkt, sondern
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auch umgekehrt: Der Pay-Gap für Jobs bzw. Berufe mit demselben Anforderungsund Qualifikationsprofil zwischen den Geschlechtern zerstört Arbeitsanreize für Frauen und beinhaltet ein Bias zugunsten der Entscheidung für reproduktive Tätigkeiten. Als Haushaltsentscheidung auf ökonomischer Grundlage erscheint diese Handlung rational. Die Gender-Pay-Gap ist eine positive Kennzahl, deren Kehrseite vermutlich weitaus gewichtiger, aber statistisch unsichtbar ist, nämlich die strukturelle Exklusion von Frauen von der Erwerbsarbeit bzw. deren Lock-in in der reproduktiven Arbeit. Alle diese Faktoren greifen ineinander, ohne aufeinander reduzibel zu sein. Das Argument hier lautet verdichtet: Der ideale Markt, den die Politische Philosophie stillschweigend voraussetzt, existiert nicht, nicht vollständig, nicht immer oder nicht überall. Darum muss die Familie Subjekt des Gerechtigkeitsurteils sein können. Das feministische Argument für ein Grundeinkommen. Die Feministen haben mit beiden Beobachtungen Recht: Ja, Familien sind faktisch politisch; und ja, Familien können ein distributiver Nachteil sein. Aber ergibt sich aus diesen beiden Beobachtungen tatsächlich die Notwendigkeit, dass eine liberale Theorie auf das Private generalisiert werden muss? Würde die liberale Theorie auf das Private erweitert, zahlte sie dafür den höchstmöglichen Preis: Sie wäre keine liberale Theorie mehr. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein Scheinproblem: Der Grund, dass Familien für Frauen ein distributiver Nachteil sein können, liegt nicht in der Trennung „öffentlich-privat“ begründet, sondern in dem institutionellen Kontext, in dem diese Trennung erst als Problem erscheinen muss. Vereinfacht lautet mein Argument: In das Private einzugreifen ist eine Symptombewältigung; eine Ursachenstrategie muss darauf zielen, dass alles das, was wir privat oder öffentlich nennen, freiwillig zustande gekommen ist. Ist das Private oder Öffentliche freiwillig, also frei von Zwang und Herrschaft, ist ein politischer Eingriff darein nicht geboten. Welche Rolle spielt hier ein republikanisches Recht auf Grundeinkommen? Wenn soziale Sicherung zwischen Männern und Frauen weder direkt noch indirekt einen Unterschied macht, gibt es keine Herrschaft mehr eines „männlichen“ Sozial- und Arbeitssystems über Frauen. Tatsächlich sind Frauen ja heute indirekt diskriminiert, weil Tätigkeiten, an die sie empirisch stärker gebunden sind als Männer, keinen oder geringeren Ausgleich erfahren als „männliche“ Erwerbsarbeit. Nun könnte man einwerfen, die Lösung liege darin, dass Frauen über den Erwerbsmarkt zu integrieren seien. Aber das ist, wie oben gezeigt, eine Form von Gewalt. Bleibt nur übrig, jede Tätigkeit prospektiv zu belohnen und damit auch erst zu ermöglichen. Darin versagt Workfare, aber nicht ein Grundeinkommen. Gerade weil vor dem Grundeinkommen Männer
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Republikanische Freiheit
und Frauen gleichgestellt sind, löst sich die Problemqualität der Trennung öffentlicher und privater Arbeit auf, jedenfalls in der Sphäre der Existenzsicherung. Keine Beziehung, keine Ehe und keine Erwerbsarbeit wären die Ausfallbürgen des umfassenden politischen Versagens, keine gleichwertigen Lebensverhältnisse zu ermöglichen.
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Verteidigung des Arguments
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Exploitation Objection
Where others bear some cost in order to contribute to a scheme of cooperation, then it is unfair for one to willingly enjoy the intended benefits of their cooperative efforts unless one is willing to bear the cost of making a relevantly proportionate contribution to this scheme of cooperation in return. (White 1997: 317–318)
Problemformulierung. Die Exploitation Objection (Einwand über Ausbeutung) lässt sich auf folgende Aussage reduzieren: Ein Grundeinkommen belohnt alle, aber nicht alle bezahlen es. Da es keine Reziprozität von Leistung und Gegenleistung gibt, finanzieren die Fleißigen das Leben der Faulen, ohne dass sie selbst eine Gegenleistung erhielten. In anderen Worten: Die Faulen beuten die Fleißigen aus. Dieser noch sehr global formulierte Einwand muss eingegrenzt werden, um in den Gegenstand der vorliegenden Arbeit fallen zu können. Es kann hier nicht um die empirische Frage gehen, wie viele Menschen sich mit ihrem Grundeinkommen begnügen würden. Vielmehr muss die Frage lauten, ob die grundsätzliche Möglichkeit moralisch verwerflich ist, dass man faul sein kann, und zwar ungeachtet dessen, ob man es ist oder nicht. Diese Frage ist deontologisch und daher in den Grenzen dieser Arbeit prinzipiell bewertbar. Rawls: Fairness. Darf also ein freiwillig Arbeitsloser auf Kosten eines freiwillig Arbeitenden leben? Die dominante Antwortstrategie folgt einem einflussreichen Theorem von Rawls (1988), das eines Exkurses in seine Theorie der Fairness bedarf, weil es nur in diesem Kontext nachvollziehbar ist. In diesem und im
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_10
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Verteidigung des Arguments
nächsten Absatz zeichne ich die Theorie der Fairness in ihren für die hier aufgeworfene Frage relevanten Zügen nach, um sie dann im übernächsten Absatz auf die skeptische Position (dass ein Grundeinkommen die Fleißigen ausbeutet) rückzubeziehen. Rawls (1971; 1993; 2001) abstrahiert seine berühmten Prinzipien der Gerechtigkeit (siehe Absatzende) von einer hypothetischen Vertragssituation ausgehend. In einem Urzustand („original position“) begegnen sich fiktive Entscheider, um sich auf die basalen Spielregeln der Gesellschaft zu einigen. Jeder Entscheider in dieser virtuellen Realität repräsentiert genau eine empirische Person, die dann in der realen Realität unter den ausgehandelten gesellschaftlichen Spielregeln leben muss. Würden die Entscheider ihre empirischen Äquivalente kennen, also über ihre Talente, Fähigkeiten, sozialen Beziehungen, Geburtsorte usw. Bescheid wissen, dann könnte unmöglich ein gerechter Gesellschaftsvertrag entstehen. Es würde einfach jeder virtuelle Entscheider im Sinne seines realen Mandanten entscheiden, woraus ein diskriminierender Gesellschaftsentwurf hervorginge, der schlicht eine Mehrheitskultur abbildete. Deshalb beschränkt Rawls das Wissen der Entscheider erheblich und umhüllt sie in einem Schleier des Nichtwissens („veil of ignorance“). Die Intuition dahinter ist, dass eine Gesellschaft genau dann fair ist, wenn die grundlegenden Spielregeln des Zusammenlebens so formuliert sind, als wären sie für jeden im Allgemeinen und für niemanden im Besonderen erdacht. Aber welche Art des Vertrags sollte ein Repräsentant befürworten, wenn er nicht einmal weiß, wen er vertritt? Rawls schlägt folgenden Kunstgriff vor: Jedes Individuum hat zwar eine ganz eigene Vorstellung von einem guten Leben, aber es gibt instrumentelle Dinge, die jedes Individuum erst in die Lage versetzen, seine Version des guten Lebens anzugehen. Diese Dinge, die jede Person vernünftigerweise für sich eher mehren als mindern will, heißen Grundgüter. Sie umfassen Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Dieser Gedanke fundiert das erste Prinzip der Fairness bei Rawls, das die Bedingungen und die „Währungen“ von Gerechtigkeit angibt (was zur Distribution steht). Das lässt aber noch unbestimmt, wie diese Güter auf Personen verteilt werden sollen. Deshalb bedarf es eines zweiten Prinzips der Gerechtigkeit:: Wenn ein Repräsentant den Vertrag für sein Alter Ego aushandelt, müsste er entweder dessen spezifische empirische Merkmale (natürliche und soziale Lotterie) erraten, was unsicher ist, oder den Vertrag so gestalten, dass er ungeachtet der sozialen und natürlichen Lotterie eines jeden Gesellschaftsmitglieds konsensfähig ist, was durchaus möglich ist. Die einzig rationale Möglichkeit, diese zweite Variante in Form zu gießen, besteht in einer Maximin-Regel: Alle denkmöglichen Alternativen seien nach der Position ihres schwächsten Glieds zu bewerten, wobei diejenige Option zu bevorzugen ist, die das relativ schwächste Glied absolut am besten stellt. Die Grundstruktur der
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Gesellschaft muss deshalb so institutionalisiert sein, dass sie die am schlechtesten Gestellten am besten stellt. Die bisherigen Gedanken verdichten sich schließlich zu den beiden Prinzipien der Gerechtigkeit (Rawls 1971: 42–43), wobei die lexikalische Hierarchie der Prinzipien von (1) über (2a) nach (2b) verläuft: • Das erste Prinzip (Freiheitsprinzip) besagt: Jeder hat das gleiche Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten, das sich mit denen der anderen verträgt, das heißt, die Grundfreiheiten der anderen nicht einschränken darf. • Das zweite Prinzip: Ökonomische und soziale Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen. (a) Erster Teil (Chancengleichheitsprinzip): Ungleichheiten müssen auf Ämter und Positionen zurückgeführt werden können, zu denen alle den gleichen Zugang haben („fair equality of opportunity“). (b) Zweiter Teil (Differenzprinzip): Ungleichheiten müssen den am schlechtesten Gestellten den höchstmöglichen Vorteil bringen. Rawls: Freizeit als Grundgut. Das Differenzprinzip gebietet zwar kein Grundeinkommen, lässt es aber unter spezifischen Bedingungen zu. Es ist in der Regel nicht geboten, weil passgenaue soziale Grundsicherung in fast jedem denkbaren Fall die am schlechtesten Gestellten besserstellt als ein Grundeinkommen. Denn dieses wird ja auch an jene gezahlt, die nicht zum untersten Quantil in einer Gesellschaft gehören. Dieses „unnötig“ umverteilte Geld hätte aber nach Priorität vergeben werden können, sodass das je unterste Quantil bessergestellt wäre als unter der Bedingung eines Grundeinkommens. Dennoch lässt das Differenzprinzip Folgendes zu: Ich könnte zu den am schlechtesten Gestellten gehören, weil ich keine Lust habe zu arbeiten. Der Rawlssche Staat müsste mich aufgrund meiner Armut versorgen, und zwar ungeachtet des Grundes der Armut ihrerseits. Rawls (1988) hat diese Kritik akzeptiert und seinen „Kunstfehler“ daraufhin behoben. In der Neufassung der Theorie wird Freizeit dem Index der Grundgüter gleichgestellt. Rawls möchte vorausgesetzt wissen, dass alle Bürger einen Beitrag zum Wohlstand aller anderen Bürger leisten. In der ursprünglichen Formulierung des Differenzprinzips gibt es keinen Mechanismus, der vor der systematischen Ausbeutung der gesellschaftlichen Grundstruktur schützt. Die Lösung kann, so Rawls, nur darin bestehen, ein Normalmaß an Freizeit (verstanden als Zeit, die frei von Arbeit oder mit Arbeit verbundener Obligation ist), zum Beispiel 16 Stunden an einem Arbeitstag, in die Liste der Grundgüter aufzunehmen bzw. dieser Liste gleichzustellen. Eine Person, die mehr als diese 16 Stunden für sich in Anspruch nehmen will, muss in wertäquivalentem Maß ihren Anspruch
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auf Grundgüter abtreten. Es gibt also keine staatliche Unterstützung für die in der Debatte sinnbildlich gewordenen Surfer von Malibu. Gegen Rawls. Wenn wir den bisher nachgezeichneten Argumentationsweg von Rawls akzeptieren, müssen wir die Exploitation Objection wie folgt bewerten: Es gibt kein Recht auf Grundeinkommen im Fall freiwilliger Arbeitslosigkeit, weil der Faule dadurch die Existenzgrundlagen der eigenen Gesellschaft eher zerstört als befördert. Jeder ist zwar frei, nicht zu arbeiten (es gibt also keinen formellen Arbeitszwang), aber niemand kann, wenn er nicht arbeiten will, einen Anspruch auf Unterstützung geltend machen, weil diese Unterstützung ja durch die Fleißigen finanziert werden müsste, die wiederum die Existenzgrundlagen der eigenen Gesellschaft eher befördern als zerstören. Würde nun ein Grundeinkommen eingeführt, wären die Erwerbstätigen ausgebeutet. Deren Tätigkeit wäre doppelt belastet: Sie müssten das Grundeinkommen für die freiwillig Erwerbslosen finanzieren, aber erhielten keine reziproke Gegenleistung von diesen zurück. Dieses Argument über Ausbeutung hat aber eine ganz entscheidende Schwachstelle: Es verletzt die liberale Neutralität. Schließlich besitzt in der liberalen Theorie nur Freiheit einen Eigenwert, daher weder Erwerbsarbeit noch Arbeit allgemein. Während die erste Fassung von Gerechtigkeit als Fairness noch als schwache Theorie des Guten bezeichnet werden könnte, da sie nur die Grundgüter präskribiert, ist die Neuformulierung deutlich paternalistischer angelegt: Wenn Freizeit mit den Grundgütern aufgerechnet wird, dann erlangt Erwerbsarbeit als gesellschaftlicher Normalitätsentwurf eine ideologisch derart exponierte Stellung, dass sie mit Rechten, Freiheiten, Einkommen, Vermögen und sogar den sozialen Grundlagen der Selbstachtung aufrechenbar ist. Das schließt, auch wenn Rawls das nie beabsichtigt haben mag, prinzipiell den substanziellen Entzug der Existenzgrundlagen und Eingriffe in die Würde des Menschen ein. Rawls würde mir entgegenhalten, dass Arbeit de facto keinen bestimmten Lebensentwurf bevorzugt oder übervorteilt und deshalb sehr wohl mit der liberalen Neutralität vereinbar ist (Rawls 2013: 86). Das ist aber ein denkbar schwaches Argument, weil es zwar innerhalb des Arbeitsmarkts gelten könnte, aber voraussetzt, dass die Tatsache der Erwerbsarbeit nicht relevant für Lebensstilentscheidungen ist. Was aber, wenn ein Lebensstil gerade mit einer Arbeit abseits der sichtbaren Produktivität eher vereinbar ist als mit Erwerbsarbeit? Rawls präsupponiert einen latent positiven Begriff von Freiheit, der angibt, welche Freiheiten gut sind und welche nicht. Daraus ergeben sich die gewichtigen Probleme positiver Freiheit, die bereits angesprochen wurden.
10.1 Exploitation Objection
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Falsche Prämissen. Nachdem wir Rawls’ Standpunkt abgelehnt haben, können wir zu Whites eingangs zitierter Version der Exploitation Objection zurückkehren. Whites Einwand ist an einige streitbare Prämissen gebunden, selbst dann, wenn wir ihn deontologisch interpretieren. Erstens stellt sich die Frage nach der Ausbeutung nur dann, wenn man voraussetzt, dass ein Grundeinkommen unmittelbar über Erwerbsarbeit finanziert wird. Würde es beispielsweise über Verbrauch finanziert, wäre diese Trennung weniger evident, weil es keine Nicht-Verbraucher gibt, zumal ein Grundeinkommen jeden mit einem soliden Fundament an Kaufkraft ausrüstet. Zweitens wird hier implizit eine falsche Baseline für den Vergleich gebraucht: White unterstellt, dass die relevante Urteilsgrundlage zur Bewertung des Grundeinkommens das Verhältnis von Faulen zu Fleißigen ist. Ist ein sozialer Vergleich aber plausibel oder nicht doch ein implizites Neidargument? Plausibel wäre aus meiner Sicht lediglich zu vergleichen, ob der Erwerbstätige mit einem Grundeinkommen bessergestellt ist als ohne, ungeachtet eines Dritten, der erwerbslos ist. Ist er absolut bessergestellt, hat er keinen Grund, seine relative Position zu bedauern. Im Liberalismus haben, wie bereits gezeigt, soziale Vergleiche keine moralischen Implikationen. Foley (1967) schlägt in diesem Sinn „envy-freeness“ als Kriterium vor, um die Fairness einer Verteilung zu bewerten: Jeder Akteur ist rechtmäßig der Auffassung, dass sein Anteil am Gesamtvolumen mindestens so gut ist wie von einem beliebigen anderen Akteur. Ein Grundeinkommen gibt jedem zwei Möglichkeiten: Arbeit oder Nicht-Arbeit. Egal wie die Entscheidung ausfällt, sie muss, eine existenzsichernde Höhe des Grundeinkommens und eine ausreichende Arbeitsnachfrage vorausgesetzt, freiwillig getroffen worden sein. Daher kann es auch keinen denkmöglichen Grund für einen Arbeitenden geben, auf einen Nicht-Arbeitenden neidisch zu sein. Dieses gilt jedoch nicht umgekehrt (Widerquist 2013b: 129): Wer keine Arbeit hat und auf sein Grundeinkommen verwiesen ist, könnte dennoch mit einem Arbeitnehmer tauschen wollen, zum Beispiel weil er keine oder keine angemessen bezahlte Arbeit findet, nicht qualifiziert ist oder unfreiwillig anderweitige Verpflichtungen hat, zum Beispiel in der Familie. „Envy-freeness“ gilt also nur einseitig, was aber ausreicht, um White zu verwerfen, da dessen Einwand ja auch nur aus Sicht des Erwerbstätigen gilt. Leistung und Gegenleistung sind allerdings auch heute praktisch nirgendwo streng reziprok (Van Parijs 1995: Abschn. 5.6). Hierum kann es also nicht gehen, sondern vielmehr um ein Lohnabstandsgebot, das besagt, dass Einkommen durch Arbeit positiv beeinflusst werden muss. Wer mehr arbeitet, muss mehr verdienen. Nicht als ein anderer, sondern als unter der Bedingung der Weniger-Arbeit. Das ist durch ein Grundeinkommen im Gegensatz zu Workfare, das Transfers mit Markteinkommen aufrechnet, gewährleistet.
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Verteidigung des Arguments
Falscher Geltungsbereich. Whites unausgesprochene Plausibilitätsbedingung ist, dass Erwerbsarbeit der einzige Ort ist, den eine Theorie der Gerechtigkeit betrifft. Erweitern wir aber den Fokus der Theorie und den seines eigenen Arguments, erkennen wir, dass die These gegen sich selbst gerichtet werden kann: Unabhängig davon, ob ein Grundeinkommen ein Prinzip der Ausbeutung einführt oder nicht, ist die Frage zu stellen, ob ein Grundeinkommen umgekehrt nicht gerade heute bestehende Formen von Ausbeutung verhindert (Widerquist 2013b: 125–128). Die mehrheitliche Auslegung von Reziprozität („wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“) kann nur dann als gerechtigkeitstheoretische Norm überhaupt gelten, wenn sie auf jeden in gleicher Weise angewandt würde (suum cuique). Wenn also jeder, der nicht arbeitet, auch infolge dieser Nichtarbeit seinen Lebensunterhalt nicht oder nur eingeschränkt bestreiten könnte, dann wäre Reziprozität an das Prinzip der Gleichbehandlung gebunden und gerechtigkeitstheoretisch erst anwendbar. Es gibt in praxi aber genug Ausnahmen hierzu, in denen die Präsupposition gegenstandslos ist, und nicht jeder, der nicht arbeitet, auch nicht „essen“ kann: Kapital, Erbschaft und Bedürftigkeit sind Gründe für ein Einkommen, dem keine Leistung gegenüberstehen muss. Umgekehrt sind Reproduktionsarbeit und Ehrenamt keine Gründe für Einkommen, obwohl sie eine Form der Leistung darstellen. Suum cuique müsste also auf jedes Individuum und jede Form der Arbeit generalisiert werden. Dann erst könnte überhaupt beurteilt werden, ob ein Grundeinkommen in der Bilanz gesellschaftliche Ausbeutungsstrukturen erhöht oder reduziert. Bis auf Weiteres gilt, dass Reziprozität als Norm für Gerechtigkeit ungültig ist: Wenn einige arbeiten müssen und andere nicht, ist es nicht schlüssig zu fordern, dass, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll. Auch in dieser Arbeit kann die Frage nach der Bilanz nicht beantwortet werden, weil sie eine empirische ist. Aber es konnte gezeigt werden, dass die Beweislast bei White liegt, seiner These Evidenz zu verleihen, und nicht bei den Befürwortern des Grundeinkommens, die Exploitation Objection zu widerlegen.
10.2
Crazy-Lazy-Problem
Problemformulierung. Das Crazy-Lazy-Problem ist neben der Exploitation Objection der wichtigste Einwand gegen ein Grundeinkommen. Das Argument lässt sich auf den folgenden Gedankengang reduzieren: In einer Gesellschaft mit Grundeinkommen gibt es die Faulen (Lazy), die sich auf dem Grundeinkommen ausruhen, weil es ihrem Lebensstil entspricht. Und es gibt die Fleißigen (Crazy),
10.2 Crazy-Lazy-Problem
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die dennoch arbeiten gehen, und zwar auch deshalb, weil es ihrem Lebensstil entspricht. Das Problem des Grundeinkommens besteht nun darin, dass es das gute Leben der einen (Crazy) viel schwerer macht als das der anderen (Lazy). Das Grundeinkommen wirkt deshalb diskriminierend. Zwei Gruppen von Menschen haben dasselbe Maß an Wohlergehen, müssen dafür aber einen ungleichen Input investieren. Dieses Gedankenexperiment ist an mehrere Plausibilitätsbedingungen gebunden. (1) Es gibt Personen, die grundsätzlich genügsam sind (Lazy) und Personen, die grundsätzlich ambitioniert sind (Crazy). (2) Ein Grundeinkommen ist in jedem Fall so hoch, dass es eine Gruppe Lazy gibt, die ihren Lebensstil dadurch verwirklichen kann. (3) Ein Grundeinkommen ist in jedem Fall so niedrig, dass es eine Gruppe Crazy gibt, die ihren Lebensstil dadurch nicht verwirklichen kann. (4) Lazy handelt schädlich, Crazy nützlich. Politische Institutionen müssen deshalb so gestaltet sein, dass Lazy bestraft oder mindestens nicht belohnt wird, und Crazy belohnt oder mindestens nicht bestraft wird. Gehen wir davon aus, dass alle Bedingungen der Plausibilität erfüllt sind, beinhaltet das Szenario eine problematische logische Folge: Lazy kann sich mit einem Grundeinkommen selbst verwirklichen, Crazy aber nicht, bzw. Lazy kann sich mit einem Grundeinkommen leichter selbst verwirklichen als Crazy. Ist ein Grundeinkommen also eine Diskriminierung von Crazy zugunsten von Lazy? Sollte Existenzsicherung nicht doch so niedrig oder konditionalisiert angesetzt werden, dass Lazy allmählich unzufrieden wird und sich an der gesellschaftlichen Wertschöpfung beteiligt, sodass diese beiden Gruppen nicht erst entstehen bzw. in derjenigen der Crazy aufgehen? Beidseitige Diskriminierung. Die Frage ist zu verneinen. Denn in der Problemformulierung ist das Wohlergehen von Crazy und Lazy das ausschlaggebende Kriterium für begründete Ansprüche. Das ist in einer liberalen Theorie unzulässig. Denn ob und in welchem Maß ein Lazy daran gehindert werden soll oder darf, faul zu sein, hängt von den Absichten eines Crazy ab. Je höher, ambitionierter, luxuriöser und extravaganter die Ansprüche von Crazy sind, desto höher die Last für Lazy, an der dafür notwendigen Produktivität mitzuwirken. In diesem Licht gibt es eine strukturelle Umkehrung der Diskriminierung, indem Crazy moralisch willkürlich die Bringschuld von Lazy manipulieren kann. Aber der Liberalismus muss voraussetzen, dass Personen für ihren „Geschmack“ selbst verantwortlich sind. Das Argument über Diskriminierung ist nicht konsistent, weil es sich selbst ad absurdum führt. Es benachteiligt das individuell Gute der einen zugunsten der anderen, erklärt Crazys Weltsicht zur Normalität und erschwert damit Lazys Lebensstil:
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Verteidigung des Arguments
Consider individuals who, in accord with their conceptions of the good, would be idle were they not also needy. Do they have alternatives to paid employment? Without public or private provision, they can either work for a living, live on less than the minimal means of subsistence or support themselves illegally. The last possibility is a non-starter insofar as we are concerned with justice, and living on less than subsistence is, needless to say, not a viable alternative. Thus paid employment is the would-be idler’s only genuine option. In this instance, entering the labor market is overwhelmingly determined by circumstances. The choice is, of course, voluntary but only in the formal sense that liberal egalitarians eschew. It is therefore fair to say that would-be idlers without independent means are involuntarily employed; that they are economically coerced into entering the labor market. To the degree that they are, withholding benefits from them would be objectionable in the way, though perhaps not to the degree, that conscripting them directly into the work force would be. (Levine 2013: 105–106)
Was bedeutet Diskriminierung? An dieser Stelle möchte ich das Argument von der oben formulierten Problemstellung abstrahieren. Bislang wurde als wahr vorausgesetzt, dass die Idee der Diskriminierung eine angemessene Beschreibung des Verhältnisses von Crazy und Lazy sein kann. Aber ist das wirklich so? Ist die Idee der Diskriminierung, auf der ja der ganze Einwand gegen ein Grundeinkommen beruht, überhaupt auf die hier diskutierte Alternativstellung (bedingungslose versus konditionalisierte soziale Existenzsicherung) anwendbar? Es gibt keinen einheitlichen Begriff von Diskriminierung (Vandenhole 2005: 33). Nicht einmal dort, wo man es eigentlich vermuten würde, nämlich in den Kodifizierungen der Menschenrechte oder in den Verfassungen von Staaten. Dort existiert lediglich eine Liste von Gründen, die anzeigen, dass es sich bei einer Unterscheidung aufgrund dieses oder jenes Merkmals um eine Diskriminierung gehandelt haben muss (zum Beispiel Geschlecht, Religion, Ethnie). Fest steht demnach auch ohne exakte Definition: Wenn ich jemanden diskriminiere, dann behandle ich ihn auf eine bestimmte Art und Weise aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Diese noch sehr global formulierte Definition hat einige bedeutende logische Folgen. 1. Wenn wir von Diskriminierung sprechen, müssen wir davon ausgehen, dass es mindestens eine Gruppe und eine Vergleichsgruppe gibt, die zur selben Gesellschaft gehören und von denen die eine willkürlich schlechter behandelt wird als die andere. 2. Wir müssen davon ausgehen, dass das Merkmal, auf dessen Grundlage wir die beiden voneinander unterscheiden (diskriminieren), etwas im sozialen Raum
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Relevantes bezeichnet, jedenfalls aus Sicht des Diskriminierenden oder desjenigen, der den Vorwurf der Diskriminierung erhebt (Lippert-Rasmussen 2006: 169). Darum qualifizieren sich Religion und Geschlecht als Gründe, aber Geschmacksfragen nicht. 3. Wir können hingegen nicht plausibel davon ausgehen, dass Diskriminierung in der Andersbehandlung aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit besteht, sondern müssen uns auf den Spezialfall der Schlechterbehandlung festlegen (Altman 2016: Abschn. 1.1). Der Grund dafür ist methodischer Natur: Wenn Diskriminierung lediglich hieße, dass ich jemanden aufgrund eines Gruppenmerkmals anders behandle als eine Person mit anderer Gruppenzugehörigkeit, dann diskriminiere ich zwangsläufig beide Parteien und nicht nur eine. Der besser bezahlte Mann wäre dann genauso Opfer von Diskriminierung wie die schlechter bezahlte Frau. Dann wäre aber das Konzept redundant, weil es auf einen verlorenen Gegensatz hinausliefe. Daher geht es nur um Schlechterbehandlung und nicht um andere Formen von Andersbehandlung. 4. Schlechterbehandlung kann direkt vorliegen oder indirekt, indem die andere Gruppe oder ein Element daraus relativ besser behandelt wird. Der Tatbestand der Diskriminierung setzt deshalb keine bestimmte Summenlogik voraus. Ich kann jemanden auch dann diskriminieren, wenn ich ihm etwas gebe und zugleich nichts wegnehme (Crazy bekommt ein Grundeinkommen), und zwar dann, wenn ich die relevante Vergleichsgruppe noch besser behandle (Lazy bekommt sein Traumleben gratis obendrauf). Direkte und indirekte Diskriminierung. Bis hierhin wurde eine globale Formulierung als Näherungsdefinition vorgestellt und unter vier Aspekten näher beleuchtet. Nun sollen zwei verschiedene Spielarten desselben Konzepts kurz erörtert werden: direkte und indirekte Diskriminierung. (1) Ich diskriminiere direkt, wenn ich jemanden aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit eindeutig schlechter behandle und eindeutig ihn schlechter behandle (Altman 2016: Abschn. 2.1) („Wir bedienen hier keine Ausländer“). Konstitutiv ist also der Grund, nicht die Begründung. Schließlich könnte ich meine diskriminierende Absicht einfach verschleiern („Wir können Sie nicht bedienen, weil wir bereits ausgelastet sind“). Aber auch dann habe ich jemanden diskriminiert. (2) Ich diskriminiere indirekt, wenn ich kein Gruppenmitglied als Gruppenmitglied diskriminiere, aber meine neutrale Handlung in ihrer Konsequenz diskriminierend wirkt. Als Arbeitgeber könnte mir egal sein, ob ich einen Mann oder eine Frau einstelle. Aber die Kosten, die mir durch die hypothetische Schwangerschaft einer Mitarbeiterin entstehen, könnten mir nicht egal sein, weswegen ich bevorzugt Männer einstelle. Hier liegt der Grund meiner Diskriminierung nicht in der
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Verteidigung des Arguments
Zugehörigkeit der Frau zu einer Gruppe qua Gruppe, sondern in einer bestimmten Eigenschaft (Gebärfähigkeit), die ihrerseits nur für Frauen gilt. Auch hier habe ich diskriminiert, weswegen die Intention einer Handlung keine Auswirkung auf den Tatbestand der indirekten Diskriminierung hat. Ich kann indirekt diskriminieren, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen. Im Fall direkter Diskriminierung (Restaurant) habe ich absichtlich einen Ausländer schlechter behandelt, indem ich ihn aufgrund eines moralisch willkürlichen Attributs benachteilige. Im Fall indirekter Diskriminierung (Arbeitsplatz) habe ich unabsichtlich eine Frau schlechter gestellt, indem ich eine Entscheidungsgrundlage gebraucht habe, die ihrerseits eine moralisch willkürliche Gruppe benachteiligt. Das Element, das beide Fälle verbindet, ist die mittelbare oder unmittelbare moralische Willkür der Entscheidung. Der normative Status von direkter Diskriminierung ist dabei eindeutig: Es ist in keinem Fall legitim, jemanden absichtlich aufgrund einer Eigenschaft zu benachteiligen, die er nicht verantwortet. Was indirekte Diskriminierung anbelangt, kann keine derart allgemeine Aussage getroffen werden. Nicht jedes Beispiel ist so evident wie das obige, in dem die Frau wegen einer möglichen Schwangerschaft nicht eingestellt wird. Ist ein Numerus clausus indirekt diskriminierend, weil er die Schlauen bevorzugt? Wie geht man mit der Idee der Positivdiskriminierung um (Frauenquote, Behindertenquote), die ebenfalls auf einem moralisch willkürlichen Grund beruht, aber eine Negativdiskriminierung moralisch neutralisieren soll, also eine rein positive Absicht verfolgt? Die Frage, ob indirekte Schlechterbehandlung im Einzelfall eine indirekte Diskriminierung bedeutet, kann prinzipiell nur über eine Mittel-Zweck-Abwägung beantwortet werden: Ist die Schlechterbehandlung von Crazy, sofern diese tatsächlich vorliegt, durch den Zweck des Grundeinkommens zu rechtfertigen oder nicht? Warum ist Diskriminierung schlecht? Es gibt mehrere Begründungen, warum direkte oder indirekte Diskriminierung ein moralisches Problem sind (ebd.: Kap. 4), von denen hier die beiden aus meiner Sicht wichtigsten angerissen werden sollen. (1) Diskriminierung ist ein Problem, weil Menschen aufgrund eines Attributs beurteilt werden, für das sie nichts können (Kahlenberg 1996: 54–55). Daher hat die Person, die diskriminiert wird, auch den Grund, weswegen sie diskriminiert wird, nicht zu verantworten. Aber diese Begründung hat einige Probleme. (a) Sie gilt nicht universell. Es gibt Dinge, die ich nicht verantworte und aufgrund derer ich schlechter behandelt werde als andere, die dennoch nicht unter den Terminus der Diskriminierung fallen. Dass ich als Fünfjähriger nicht wählen darf, ist keine Diskriminierung. Dass ich als Blinder nicht Auto fahren darf, auch nicht. (b) Diskriminierung hat ihren Anwendungsbereich auch in Gründen, die sehr wohl verantwortet sind, zumindest ab einem bestimmten Alter oder ab
10.2 Crazy-Lazy-Problem
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einem bestimmten Status der personalen Autonomie. Es wäre absurd zu behaupten, ich könne meine Konfession oder Weltanschauung nicht verantworten. (c) Diskriminierung von Nicht-Diskriminierung entlang der Verantwortbarkeit eines Grundes zu unterscheiden, stellt seinerseits ein eigenständiges Problem dar. Dass ich als Mann geboren werde, ist im 21. Jahrhundert nichts, das ich nicht prinzipiell ändern könnte. Verschiebt das Vorhandensein dieser medizinischen Option den Status des Geschlechts von unverantwortet hin zu verantwortet? (2) Diskriminierung ist ein Problem, weil sie auf Stereotypen beruht. Geschlecht beispielsweise ist eine derart generische Kategorie, dass daraus keine nicht-triviale Schlussfolgerung gezogen werden könnte, also auch keine Anders- oder Schlechterbehandlung rational abgeleitet werden könnte (ökologischer Fehlschluss). Hat ein Grundeinkommen die Fähigkeit zu diskriminieren? (1) Aus dem Konzept der Diskriminierung selbst folgt kein relevanter Grund oder relevantes Bündel an Gründen. Welche Gründe ich aber gelten lasse, hat eine große Auswirkung auf das normative Urteil, das ich daran anknüpfend fälle. Dass es auf diese Frage bestimmte Antwortkonventionen gibt (Religion, Weltanschauung, Ethnie usw.), ergibt sich aus einer rein historischen und kulturellen Evidenz (Menschenrechte, Bürgerrechte), keineswegs aus der Idee der Diskriminierung selbst. Da die Frage bislang nirgendwo hinreichend beantwortet wurde und hier auch nicht Gegenstand des Diskurses ist, sondern lediglich als analytisches Gerüst dient, leiste ich zu ihrer Beantwortung keinen Beitrag, sondern berufe mich auf die Konventionen im deutschen Grundgesetz (Geschlecht, Abstammung, „Rasse“, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöse Anschauung, politische Anschauung). Schauen wir uns diese Gründe an, bemerken wir schnell, dass der Vorwurf gegenstandslos ist. Die Entscheidung, erwerbstätig zu sein, ist nicht Teil des Indexes. Zwar könnte ein Glauben, eine religiöse Anschauung oder eine politische Anschauung gebieten, erwerbstätig zu sein, aber auch das reicht nicht hin. Denn die vermeintliche Schlechterstellung von Crazy zielt nicht auf dessen Glauben oder religiöse oder politische Anschauung per se, sondern auf etwas, das er daraus ableiten könnte. Und das ist beliebig, denn genauso gut könnte Lazy für sich geltend machen, sein genügsamer Lebensstil folge religiösen oder politischen Geboten. Fest steht, das Crazy-Lazy-Problem verfehlt sein eigenes Thema. Die weiteren Argumente, die ich anführe, sind aufgrund dieser Gegenstandslosigkeit nicht notwendig, dienen aber dazu, die Inkonsistenz des Vorwurfs entlang mehrerer Dimensionen zu erörtern und somit der hier vertretenen These zusätzliche Geltung zu verleihen. (2) Weiter oben wurden aus der Basisdefinition von Diskriminierung (die willkürliche Schlechterbehandlung aufgrund einer sozial relevanten Gruppenzugehörigkeit) mehrere logische Folgen abgeleitet. Schauen
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wir uns diese Implikationen genauer an, sind wir auch hier mit mehreren Problemen konfrontiert. (a) Dass Crazy und Lazy zur selben Gesellschaft gehören, steht außer Frage, dass es sich aber tatsächlich um zwei verschiedene Gruppen handelt, ist weniger einleuchtend. Warum sollte der, der erwerbstätig ist, verrückt (fleißig) sein? Warum sollte der, der nicht erwerbstätig ist, faul sein? Es gibt viele denkbare Formen der Tätigkeit, die Fleiß indizieren, aber nicht bezahlt werden. Was tatsächlich gemeint ist, wenn von Faul und Fleißig die Rede ist, ist, dass eine Gruppe produktiv ist und eine andere Gruppe parasitär. Aber auch das ist eine unzulässige Vereinfachung sozialer Tatsachen: Erstens fließen hier fragwürdige oder voraussetzungsvolle Prämissen in das Urteil ein, etwa dass ein Grundeinkommen notwendig unmittelbar über Steuern und Abgaben aus dem Erwerbsmarkt finanziert werden müsste, oder dass zwei soziale Gruppen (Crazy und Lazy) miteinander zu vergleichen sind anstatt jeweils mit sich selbst in einer Welt mit Workfare und einer alternativen Welt mit Grundeinkommen. Zweitens fußt die Trennung und der soziale Vergleich von Crazy und Lazy auf einem falsch festgelegten Geltungsbereich, der übersieht, dass das Argument über Ausbeutung umkehrbar ist, sobald alle Personen und alle Arbeiten in die Betrachtung integriert werden. (b) Nun stellt sich die Frage, ob die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form von Arbeit etwas gesellschaftlich Relevantes ist oder nicht. Dafür spricht, dass Erwerbsarbeit der Ort ist, an dem die messbare Wertschöpfung einer Volkswirtschaft erbracht wird. Aber die Wertschöpfung hat auch statistisch nicht erfassbare Bestandteile wie unbezahlte Arbeit. Daher steht fest, dass Erwerbsarbeit, egal welcher intrinsische Status ihr beigemessen wird, unmöglich diesen Status exklusiv besitzen kann, sondern jede erdenkliche Form der Tätigkeit prinzipiell denselben Nutzen für eine Person oder für eine Gesellschaft stiften kann wie bezahlte Arbeit. Aber wie unter Punkt (1) gezeigt, ist Erwerbsarbeit insofern vor dem Urteil der Diskriminierung irrelevant, als dass sie keinen willkürlichen Grund für eine Schlechterbehandlung darstellt. (c) Es wurde gezeigt, dass Schlechterbehandlung ein Spezialfall von Andersbehandlung ist, und dass die Idee der Diskriminierung sich nur auf diesen enger formulierten Spezialfall beziehen kann. Aber wird Crazy wirklich schlechter behandelt als Lazy? Nein, denn beide erhalten denselben Betrag aus öffentlichen Mitteln. Dass Crazy schlechter dasteht als Lazy, falls das überhaupt stimmt, liegt jedenfalls nicht an der Behandlung, die ihm widerfährt, sondern seiner Interpretation der Behandlung. (d) Deshalb werden beide Gruppen absolut gleichbehandelt. Bleibt nur die Frage übrig, ob Crazy relativ schlechter behandelt wird als Lazy. Auch hier ist aus meiner Sicht zu verneinen. Das Unglück von Crazy liegt in seiner extravaganten Vorstellung von Wohlergehen oder seinem Neid auf Lazy begründet, das Glück von Lazy hingegen ist seiner Genügsamkeit. Wohlergehen ist aber nicht
10.2 Crazy-Lazy-Problem
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Gegenstand einer liberalen, sondern einer utilitaristischen Theorie. Ich habe gute Gründe angeführt, Wohlergehen und jede andere Form von Nutzen theoretisch zu vermeiden. (3) Es wurde zwischen einer direkten und einer indirekten Form von Diskriminierung unterschieden. In keinem Fall könnte bei einem Grundeinkommen von einer unmittelbaren Form gesprochen werden, schließlich verteilt der Staat kein Grundrecht auf Einkommen, um die Erwerbstätigen zu schikanieren. Allenfalls könnte es sich um eine indirekte Form handeln, indem der Staat etwas Neutrales tut (ein Grundeinkommen zahlen) und damit einigen nützt und anderen schadet. Hier stellten sich zwei Fragen. Erstens: Ist indirekte Diskriminierung überhaupt noch als Diskriminierung zu bezeichnen? Man könnte zu dem Schluss gelangen, die bloße These einer indirekten Diskriminierung sei ein Phantom. Die ungleichen Effekte auf Bevölkerungsgruppen, die die indirekte Diskriminierung zum Gegenstand hat, sind allenfalls die Auswirkungen einer Diskriminierung, nicht die Diskriminierung selbst. Wenn Diskriminierung aber eine Ursache ist, die wir aufgrund einer vermeintlichen Wirkung hypostatieren, stellt sich die Frage, ob Diskriminierung wirklich die Ursache der je beobachteten Ungleichheit gewesen ist (Cavanagh 2002: 199), also ob sie überhaupt existiert, und falls ja, ob sie nur eine unter mehreren Ursachen gewesen ist, und falls ja, welcher Teil der Wirkung ursächlich auf die Diskriminierung zurückzuführen ist und welcher auf andere Ursachen. Zweitens: Ist der Zweck (hier: Freiheit durch Grundeinkommen) dem Mittel (vermeintliche Schlechterstellung) angemessen? Das kann grundsätzlich nur eine Güterabwägung entscheiden. Ziehen wir zur Bewertung dieses Grenzfalls richterliche Urteile als Quervergleich zu Rate, die angeben, wann eine etwaige indirekte Schlechterbehandlung („disparate impact“) unter den Tatbestand der Diskriminierung fällt, erhalten wir ein recht eindeutiges Bild (Altman 2016: Abschn. 2.2). Ein ungleicher Effekt einer neutralen Staatshandlung ist dann Diskriminierung, 1. if it does not pursue a legitimate aim or if there is not a reasonable relation of proportionality between means and aim. (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte vom 28. Mai. 1985) 2. [if it] can be motivated by a legitimate aim and the means are appropriate and necessary to achieve the aim (Osin & Porat 2005: 864). 3. if it is not based on objective and reasonable criteria (Moucheboeuf 2006: 100) Diskussion. Egal welche der drei Deutungen wir zugrunde legen, ein Grundeinkommen erscheint in allen rechtmäßig. Ein Grundeinkommen wäre gemäß der ersten Interpretation genau dann diskriminierend, wenn es kein legitimes Ziel verfolgte oder keine Proportionalität zwischen Mittel und Zweck beinhaltete. Das
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Verteidigung des Arguments
Ziel eines Grundeinkommens ist in jedem Fall legitim, auch wenn es keinen Konsens darüber gibt, was genau ein solches Einkommen bewirken soll. Im Rahmen dieser Arbeit kann es nur als freiheitliches Grundrecht verstanden werden. Die Mittel-Zweck-Proportionalität wäre frühestens dann verletzt, wenn der zu garantierende Betrag so hoch angesetzt wäre, dass er im Verhältnis zum Status quo nicht kostenneutral finanzierbar wäre. Aber die Höhe habe ich bewusst offengelassen, erstens weil sie eine unnötige, sogar störende Engführung des Begriffs darstellt, zweitens weil sie eine politisch zu entscheidende Frage ist und keine wissenschaftliche. Die zweite Interpretation, die dem schwedischen Recht entspricht, ist im Wesentlichen bedeutungsgleich mit der ersten. Gemäß der dritten Interpretation wäre ein Grundeinkommen genau dann diskriminierend, wenn der Bürgerstatus keine objektive und vernünftige Kausalität für ein Grundrecht wäre, was ganz offensichtlich falsch ist, denn was man Grundrechte nennt, sind nichts anderes als Freiheiten, die so fundamental sind, dass sie jeder Bürger innehaben muss, um ein würdevolles Leben führen zu können. Alles das bedeutet nicht, dass ein Grundeinkommen geboten ist, aber es bedeutet, dass ein Grundeinkommen nicht unter den Tatbestand der Diskriminierung fällt.
10.3
Chancengleichheit
Zielkonflikt zwischen Universalität und Chancengleichheit. Ein Grundeinkommen stellt keine Chancengleichheit her. Eine universelle, für alle gleich hohe Leistung könnte das niemals tun, denn eine Egalisierung von Chancen müsste ziel- und passgenau dort und in dem Maße ansetzen, wo ein Defizit an solchen Chancen besteht oder wo Chancen einen gesellschaftlichen Mittelwert unterschreiten. Sobald zwei Personen unterschiedlich stark ausgeprägte Talente haben, muss die talentiertere Person A viel weniger leisten, um denselben Output zu erzeugen wie die weniger talentierte Person B. Ein Grundeinkommen ist sowohl gegenüber den Talenten als auch den Anstrengungen von A und B völlig indifferent, indem es beide genau gleichbehandelt. Es wäre also unklug, ein Grundeinkommen über Chancengleichheit begründen zu wollen. Aber ist es umgekehrt vernünftig, ein Grundeinkommen wegen seiner Missachtung von Chancengleichheit abzulehnen? Aus liberaler Sicht gibt es darauf zwei Antworten. (1) Chancengleichheit ist eine egalitäre Theorie und als solche aus den bereits genannten Gründen abzulehnen. Erstens: Gleichheit hat keinen Eigenwert, also auch dann nicht, wenn das Egalisandum Chancen sind. Denn besäße Chancengleichheit einen nicht-instrumentellen Wert, dann wäre im Zweifelsfall eine
10.3 Chancengleichheit
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Gesellschaft, in der niemand eine Chance irgend worauf besitzt, gegenüber einer Gesellschaft zu bevorzugen, in der die Chancen relativ ungleich verteilt sind, aber jeder eine absolut bessere Chance auf seine Version des guten Lebens hat als in der chancenegalisierten Variante. Die „leveling-down objection“ kann also vorbehaltlos auf die Idee der Chancengleichheit übertragen werden. Zweitens: Egalisierung ist kein Selbstzweck. Es müsste ein genuines Ziel geben, das eine Egalisierung von Chancen begründet. Jedenfalls folgt das aus dem ersten Punkt, der festlegt, dass und warum die Herstellung von Gleichheit niemals aus sich heraus begründet sein kann. Drittens: Soziale Vergleiche sind auch mit Blick auf Chancen nicht notwendig. Sobald die beiden Personen A und B genug Chancen haben, spielt es keine Rolle mehr, ob sie unterschiedlich viele Chancen haben. Das Problem liegt niemals in der Chancenungleichheit, sondern vielmehr in der Chancenarmut. Und diese wird ja durch ein Grundeinkommen, jedenfalls mit Blick auf die soziale Grundsicherung, abgeschafft. Sicher gibt es auch Mängel an Chancen, die nicht durch Geld kompensiert werden können. Aber diese Mängel könnten durch keine Form der staatlichen Intervention behoben werden, die Freiheit und Autonomie respektiert. Und sicher wird es auch unter der Bedingung eines Grundeinkommens Sonderbedarfe geben. Aber Sonderbedarfe müssen durch eine Form von Sondereinkommen gedeckt werden, Grundbedürfnisse durch ein Grundeinkommen. Jede Kritik, die gegen den Egalitarismus als Metatheorie formuliert werden kann, gilt also analog für die Idee der Chancengleichheit. Darum ist diese aus liberaler Sicht nicht geboten. Und darum kann es im Rahmen der liberalen Theorie niemals ein gegen ein Grundeinkommen gerichtetes Argument über Chancengleichheit geben. (2) Gleiche Chancen, Startchancen oder ein Mindestmaß davon herzustellen, ist mit unlösbaren philosophischen Problemen verbunden. Das zu zeigen ist Aufgabe der nächsten Absätze. Stellvertretend beziehe ich mich dabei auf den Luck Egalitarianism als prominenteste Theorie der Chancengerechtigkeit. Luck Egalitarianism. Der Luck Egalitarianism (zum Begriff Anderson 1999; Cohen 2004), auch als „level playing field theory“ (Roemer 1998) oder „ressource egalitarianism“ (Dworkin 2000) bezeichnet, geht von folgender Grundüberlegung aus: Gerechtigkeit soll grundsätzlich auf Verdienstkriterien beruhen. Als Verdienstkriterien kommen infrage: geleisteter Beitrag (Miller 1989), investierte Anstrengung (Milne 1986) oder erlittener Schaden (Lamont 1997). Diese Kriterien sind aber für sich genommen unfair, weil unvollständig. Denn wieviel ich beitragen und wie sehr ich mich anstrengen kann, hängt direkt, wieviel Schaden ich erleide indirekt mit Dingen zusammen, die ich nicht verantworte: Talent, Fähigkeit, Genetik, Familie, Netzwerke, Gesundheit. Die soziale und natürliche
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Verteidigung des Arguments
Lotterie meint es mit dem einen besser, mit dem anderen schlechter, wodurch Menschen ganz unterschiedliche Startchancen besitzen, etwas überhaupt verdienen zu können. Sind die Startchancen ungerecht verteilt, dann kann es davon ausgehend auch keine Verdienstgerechtigkeit geben, weil es keine Gerechtigkeit geben kann, die von einer Ungerechtigkeit extrapoliert. In anderen Worten: Meine Startchancen im Leben beruhen auf Glück (Arneson 2001; Fleurbaey 2001; Sher 2010). Leistung, Anstrengung und Kompensation können aber erst dann Gerechtigkeit bewirken, wenn sie von Startbedingungen ausgehen, in denen Glück keine Rolle spielt, oder wenn das in ihnen enthaltene Glück in irgendeiner Weise moralisch neutralisiert wird. Da die erste Alternative unmöglich ist, bleibt nichts anderes übrig, als die moralische Lotterie unwirksam zu machen. Das geschieht nicht über eine Manipulation des Glücks selbst, was auch unmöglich ist, sondern über die Manipulation der darauf beruhenden distributiven Nachteile. Die einzige sinnvolle Konkretisierung dieses noch abstrakten Desiderats ist eine Positivdiskriminierung („affirmative action“): Wer unverantwortet weniger Chancen hat, dem schuldet die Allgemeinheit eine bevorzugte Behandlung, die das Chancendefizit moralisch nullifiziert. Niemand behauptet allen Ernstes, dass jede Ungleichheit, die auf Glück beruht, ungerecht ist. Also fordert auch niemand die Korrektur von Glück per se. Es bedarf vielmehr einer Unterscheidung in moralisch willkürliches und moralisch irrelevantes Glück. Das meistzitierte Lösungsangebot stammt von Dworkin (2000: 73), der zwischen „option luck“ als Ergebnis eines kalkulierbaren Spiels (Risiko) und „brute luck“ als Ergebnis eines unberechenbaren Umstands (Zufall) unterscheidet. Diese Unterscheidung kann wie folgt exemplifiziert werden: Wenn ich aufgrund meines Lebensstils erkranke, liegt „option luck“ vor, wenn ich aufgrund meiner Gendisposition erkranke, handelt es sich um „brute luck“. Im ersten Fall folgt daraus kein Anspruch auf Positivdiskriminierung, da ich es selbst verantworte, im zweiten Fall schon. Unklar ist, wie das Beispiel zu bewerten ist, falls ich mich hätte gegen „brute luck“ versichern können. Die Existenz einer Versicherung ändert zwar nichts an der Eintrittswahrscheinlichkeit von „brute luck“, stellt aber die Frage nach dem Schuldverhältnis neu: Muss die politische Gemeinschaft den hierdurch erlittenen Schaden begleichen oder hat das Vorhandensein der Versicherungsoption den Status des Ereignisses von „brute luck“ hin zu „option luck“ verschoben? Bis hierhin wurde skizziert, was der Luck Egalitarianism ist. Im Folgenden werde ich zeigen, dass diese Theorie keine rationale Alternative zum Liberalismus ist, weil sie unlösbare Probleme erzeugt. Arten von Glück. Es stellt sich die Frage, was überhaupt Glück ist. Oben wurde gezeigt, dass der Luck Egalitarianism fordert, dass jeder distributive Nachteil
10.3 Chancengleichheit
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auf Verdienst beruhen soll. Etwas verdienen (leisten, anstrengen, opfern) kann man nur, wenn man die den Verdienst indizierende Handlung verantwortet hat. Ich kann nichts verdienen, das ein anderer getan hat. Ebenso wenig kann ich etwas verdienen, das nicht in meiner Hand lag. Das entscheidende Kriterium, das Glück von Nicht-Glück trennt, ist also Verantwortung. Das Gegenteil von Glück wird an dieser Stelle deshalb als Nicht-Glück bezeichnet und nicht etwa als Pech oder Unglück, weil es sich bei diesem theoretischen Glückskonzept um einen generischen Begriff handelt, der positives, günstiges Glück (alltagssprachliches „Glück“) und negatives, ungünstiges Glück (alltagssprachliches „Pech“ oder „Unglück“) gleichermaßen umfasst. Glück im Luck Egalitarianism meint also die Sphäre des moralisch Willkürlichen, im Gegensatz zum Nicht-Glück als der Sphäre des moralisch Verantworteten. Glück ist deshalb das, was ich nicht verantworte (umfangreicher Hurley 2003: 107–109). Aber wann genau liegt Glück (als Präklusion von Verantwortung) vor? Drei mögliche Antworten bespricht LippertRasmussen (2018: Kap. 4): Ein Akteur X kann für einen Sachverhalt Y genau dann nicht verantwortlich gemacht werden kann, wenn gilt: 1. X hatte keine Macht über Y 2. Y ist nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung von X 3. Y ist nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung von X und X hätte Y abgelehnt, wenn gekonnt hätte Problem 1: Gegenstandslosigkeit von Glück. Für den Luck Egalitarianism kommt nur die dritte Alternative infrage. Das hat zwei Gründe. Erstens kollidieren die ersten beiden, noch sehr abstrakten Kriterien mit zahlreichen Intuitionen über Verdienst. Niemand könnte rational meinen Lottogewinn delegitimieren, nur weil ich den Ausgang der Ziehung nicht kontrollieren konnte. Und kein Staat der Welt zahlt seinen religiösen Bürgern eine Entschädigung für ihre religiösen Schuldgefühle, gleichgültig ob sie sich ihre Konfession ausgesucht haben oder in sie hineingeboren wurden. Aber genau darauf müssten luck-egalitäre soziale Institutionen ausgerichtet sein, wenn sie Glück über die ersten beiden Kriterien bestimmten: Sie müssten Gewinne aus Glücksspielen zu 100 % besteuern und Menschen für ihre Schuldgefühle entschädigen. Viel praktikabler erscheint in diesem Beispiel die dritte Variante: Der Gläubige will seine Religion ja gar nicht aufgeben, deswegen muss er seine Schuld mit sich selbst ausmachen. Zweitens würde aus den ersten beiden Punkten als politische Implikation nicht nur eine positive Diskriminierung der Benachteiligten folgen, sondern auch eine negative Diskriminierung der „Glücklichen“: Wenn alles Glück ist, was ich nicht kontrolliere oder frei entscheide, dann zum Beispiel auch mein Talent. Wenn
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Verteidigung des Arguments
alles Glück moralisch neutralisiert werden soll, dann also auch mein Talent. Wenn Talent moralisch neutralisiert werden soll, dann müssten die Talentierten ihren unverdienten distributiven Vorteil abtreten, also für ihr Glück bestraft werden („leveling-down“). Das wäre ganz offensichtlich absurd. Um Derartiges zu vermeiden, verbleibt nur Alternative drei. Aber auch diese ist weitaus weniger konsistent als sie prima facie wirkt. Denn dass ich etwas überhaupt frei entscheiden oder kontrollieren kann, ist mindestens indirekt ebenfalls Glück. Man muss die kausale Kette nur lange genug dekonstruieren. Sobald ich die drei oben genannten Glückskonzepte um eine genealogische Perspektive erweitere, erkenne ich, dass Verantwortung immer Glück voraussetzt. Das „historische“ Konzept von Glück ließe sich, analog zu den Notationen oben, ausdrücken als: Ein Akteur X kann für einen Sachverhalt Y genau dann nicht verantwortlich gemacht werden, wenn gilt, dass Y unmittelbar oder mittelbar durch Zufall zustande gekommen ist. Das Problem besteht hierbei darin, dass man diese Adäquatheitsbedingung nicht ernsthaft anzweifeln kann. Alles beruht unmittelbar oder mittelbar auf Glück. Und wenn Glück alles das ist, das ebenfalls indirekt durch Glück bewirkt wird, gibt es kein Nicht-Glück. Und wenn es kein Nicht-Glück gibt, gibt es auch kein Glück, weil beide Begriffe nur in der Abwesenheit des je anderen logisch existenzfähig sind. Und wenn es kein Glück gibt, dann gibt es auch keine willkürlichen distributiven Nachteile, die man durch Positivdiskriminierung ausgleichen müsste. Problem 2: Untrennbarkeit von Anstrengung und Glück. Der Luck Egalitarianism will, dass die moralische Lotterie niemandem zum Nachteil gereicht. Da Talent auf Glück beruht, aber Anstrengung nicht, soll in einer gerechten Welt unterschiedliches Talent bei derselben Anstrengung zum selben Ergebnis führen. Das moralische Postulat, das darin zum Ausdruck kommt, ist, Menschen für das verantwortlich zu machen, was sie tatsächlich zu verantworten haben (Arneson 1989: 88). Das Problem dabei ist, dass Talent und Anstrengung sich nicht auseinanderdividieren lassen. Wie sehr ich mich überhaupt bemühen kann, ist durch mein Talent prädisponiert; umgekehrt vergrößere ich mein Talent (im Rahmen der Prädisposition) durch eigene Anstrengung. Problem 3: „Moralisches Glück“. Der Luck Egalitarianism postuliert, dass etwas entweder auf Glück (moralischer Willkür) oder auf Nicht-Glück (moralischer Ordnung) beruht. Aber auch das kollidiert mit Common Sense. Es gibt eine starke Intuition für einen dritten Fall eines „moralischen Glücks“. Dieses liegt dann vor, wenn ich meine Handlung verantworten muss, auch wenn über jeden Zweifel erhaben feststeht, dass ihre Umstände oder Randbedingungen sich
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teilweise oder vollständig meiner Kontrolle entziehen. Ein Beispiel, über das Konsens bestehen dürfte, ist versuchter Mord. Versuchter Mord ist milder zu bestrafen als „erfolgreicher“ Mord. Das ist angesichts des Prinzips Verantwortung eigentlich absurd, denn der Unterschied ist nichts als Glück. Es gibt also „moralisches Glück“, mindestens als ontologische Festlegung. Schluss. In der Gesamtabwägung liefert der Luck Egalitarianism keine ernsthaften Gegenargumente gegen die liberale Theorie, deshalb auch nicht gegen ein liberales Grundeinkommen. Das Kernproblem ist sein Status als egalitäre Theorie und den damit verbundenen metatheoretischen Inkonsistenzen, gefolgt von drei immanenten Unzulänglichkeiten der Theorie im Besonderen: Der Luck Egalitarianism läuft darauf hinaus, dass Glück alles und nichts ist; präsupponiert, dass man Talente (oder andere unverdiente Attribute) von Leistung, Anstrengung oder erlittenen Kosten trennen kann, was aber unmöglich ist; und trennt die Sachverhalte der Welt in Glück und Nicht-Glück, obwohl es mindestens pragmatische Gründe für die Definition eines dritten Falls, eines „moralischen Glücks“ gibt.
Liberalismus und Grundeinkommen
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Liberalismus, Grundeinkommen und Workfare. An dieser Stelle möchte ich den Zirkel der Argumentation schließen, indem ich das Grundeinkommen und Workfare mit Blick auf ihre Anschlussfähigkeit an eine liberale Politische Philosophie vergleiche. Bislang wurde geprüft, wie sich verschiedene Ideen von liberaler Freiheit zum Grundeinkommen verhalten. Ebenso gut kann geprüft werden, wie sich ein Grundeinkommen zum Liberalismus im Ganzen verhält, also zu der Gesamtheit der Kernannahmen, die ihn auszeichnen. Dazu nehmen wir Rekurs auf Abschnitt 3.3, in dem erarbeitet wurde, was Liberalismus ist. Dort wurden vier solche Kernannahmen herausgestellt, nämlich dass ein Liberaler für Freiheit und Autonomie, aber gegen Gleichheit und das Gute ist. (1) Liberalismus präsumiert Freiheit. Ein Grundeinkommen schränkt (republikanische) Freiheit nicht ein, Workfare schon. Deshalb liegt die Beweislast aus liberaler Sicht bei Workfare. Workfare könnte begründet sein, wenn ein allseitiger Vorteil vorliegt, wenn es eine Pflicht zur bzw. ein „Recht auf Arbeit“ gibt. Das am häufigsten referierte Argument über einen allseitigen Vorteil ist die Exploitation Objection, wonach gesellschaftliche Institutionen so ausgestaltet werden sollen, dass sie nicht legal ausbeutbar sind. Es wurde allerdings gezeigt, dass der Einwand in seiner deontologischen Formulierung nicht plausibel ist. Wie viele Menschen ein Grundeinkommen indes tatsächlich ausbeuten würden (konsequentialistische Formulierung), ist eine rein empirische Frage. Grundrechte wie ein Grundeinkommen sind per definitionem ausbeutbar, weil ihnen keine Pflichten unmittelbar gegenüberstehen. Der normative Eigenwert eines Grundrechts ist aber höher zu bewerten als die Möglichkeit seines Missbrauchs, es sei denn, es liegt eine klare Evidenz vor, dass der Missbrauch die Existenzgrundlagen des Grundrechts tatsächlich bedroht, nicht bloß hypothetisch bedrohen könnte. Wer die Exploitation Objection gegen das Grundeinkommen geltend macht und seinen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_11
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Liberalismus und Grundeinkommen
Gedanken konsequent zu Ende denkt, der sollte auch die Wahlfreiheit ablehnen, weil sie die Möglichkeit der Fehlentscheidung beinhaltet, die Glaubensfreiheit, weil sie Irrglauben ermöglicht, letztlich die Demokratie im Allgemeinen und alle ihre Jedermann-Grundrechte im Besonderen. (2) Liberalismus präsumiert Autonomie. Ein Grundeinkommen muss einen autonomen Entscheider zwar nicht zwingend voraussetzen, um als Idee zustimmungsfähig zu sein, beide Ideen sind aber miteinander kompatibel. Welchen Sinn hat die Forderung, Menschen Geld zu geben, wenn man der Ansicht ist, dass sie damit Absichten verwirklichen, die nicht die ihren sind, oder sie gar nicht die Fähigkeit hätten, ihre Absichten überhaupt zu verwirklichen, seien sie nun die ihren oder nicht? Umgekehrt muss Workfare nicht einen fremdbestimmten Entscheider voraussetzen, aber es wäre inkonsistent, dies nicht in einem Mindestmaß doch zu tun. Warum Menschen zur Arbeit anleiten, wenn sie autonom sind? Andererseits könnte man, je nach zugrundeliegendem Menschenbild, gerade aufgrund der Autonomie von Menschen gegen ein Grundeinkommen sein, und zwar wenn man die authentischen Lebensentwürfe der Bürger als zueinander in Konkurrenz stehend sieht. Die logische Folge von Autonomie wäre dann, bestimmte Freiheiten einzuschränken, weil die Freiheit des einen immer mit der eines anderen kollidieren kann. (3) Liberalismus ist gegen Gleichheit. Das Grundeinkommen erscheint hier auf den ersten Blick paradox. In einer einzigen Hinsicht behandelt es alle streng gleich. Alle anderen Hinsichten befindet es in den Grenzen des eigenen Gegenstandes für normativ irrelevant. Workfare hingegen ist eine egalitäre Idee, die Gleichheit einen Eigenwert beimessen muss: gleiche Leistung, gleiche Bedürftigkeit usw. sollen zum gleichen Anspruch führen. Die scheinbare Paradoxie des Grundeinkommens löst sich aber auf, sobald man Freiheit republikanisch definiert, weil die exakt gleiche Behandlung dann eine notwendige Bedingung eines für alle gleichen Status ist, und umgekehrt eine weitergehende moralische Differenzierung diese Statusfreiheit auflösen würde. (4) Liberalismus ist gegen das objektiv Gute. Das Grundeinkommen ist neutral gegenüber dem individuell Guten, weil kein Verhalten, ob vergangenes, jetziges oder künftiges, das Recht auf die Leistung antastet. Workfare hingegen ist eine Deklaration des objektiv Guten, wodurch alle individuellen Lebensentwürfe, die von dieser Normalitätsdeklaration abweichen, absolut oder relativ schlechter gestellt werden. Workfare ist, falls überhaupt, dann nur über einen allseitigen Vorteil zu rechtfertigen, weil es alle Präsumtionen und Implikationen einer liberalen Theorie verletzt. Die Bringschuld liegt jedenfalls auf Seiten von Workfare, eine konklusive Gegenargumentation zu entwerfen, und ist meines Erachtens noch nicht erbracht worden.
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Was ist ein Grundeinkommen? Ein Grundeinkommen ist ein regelmäßiges Einkommen, das eine politische Gemeinschaft all ihren Mitgliedern auf individueller Basis zahlt, ohne die Prüfung des Bedarfs und ohne die Pflicht zu einer Arbeit. Die englische Bezeichnung lautet „basic income“. Die sinntragenden Teile und logischen Folgen dieser Definition werden im Folgenden genannt. (1) Ein Grundeinkommen ist geldförmig, keine Sach- oder Dienstleistung. (2) Es ist regelmäßig und nicht unregelmäßig oder einmalig. (3) Es setzt keinen Bedarf voraus und ist deswegen ein Primäreinkommen und keine Lohnersatzleistung. (4) Es ist individuell, weil es erstens an Individuen ausgezahlt wird und zweitens keine weitere Person oder Gruppe von Personen eine Auswirkung auf die Tatsache oder die Höhe der Leistung hat. (5) Es ist ein Recht mit potenziellem Verfassungsrang. Es erhalten entweder alle Bürger im Inland, alle Staatsbürger oder alle Staatsbürger im Inland. (6) Es ist universell im dreifachen Sinn. Erstens: Jeder erhält es. Zweitens: Es ist für alle gleich hoch. Drittens: Es ist im Zeitverlauf real gleich hoch. (7) Es verpflichtet zu keiner Gegenleistung. (8) Es wird nicht mit anderen Einkünften verrechnet. Was wird hier analysiert? Die Forschungsfrage lautet: Ist ein Grundeinkommen gerecht? Gerechtigkeit und Grundeinkommen sind beides Ideen, keine empirischen Phänomene. Argumente über mögliche Folgen des Grundeinkommens werden aus der Betrachtung systematisch ausgeschlossen, da diese sich nicht aus der Idee selbst ergeben können und Aussagen darüber immer vorwissenschaftlich sind. Analysiert man Ideen und nicht reale Phänomene, betreibt man Konzeptanalyse, deren Ziel es ist, intuitive Thesen logisch zu rationalisieren. Das Grundeinkommen wird dabei nicht isoliert betrachtet, sondern mit dem Status quo verglichen, der unter dem Gattungsbegriff Workfare zusammengefasst wird. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Peranic, Grundeinkommen und Freiheit, RaumFragen: Stadt – Region – Landschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32294-6_12
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Ein Vergleich ist deswegen geboten, weil die absolut formulierte Frage, ob ein Grundeinkommen gerecht ist, keine Substanz hätte. Unendlich viele politische Optionen könnten gerecht sein. Aber entscheidend ist, welche davon zu bevorzugen ist. Das ist nur in einem Vergleich entscheidbar. Der maximale Kontrast zwischen Grundeinkommen und Workfare liegt im Stellenwert von individueller Leistung. Während ein Grundeinkommen keine Auflagen formuliert, ist Workfare immer an Leistung gebunden. Alle weiteren Kriterien, die ein Grundeinkommen auszeichnen, verhalten sich zur Freiheit von einer Leistungspflicht instrumentell. Deswegen genügt es, die Forschungsfrage nur anhand dieses Aspekts zu erörtern. Sie lautet dann in erster Annäherung: Ist die Entkopplung von Einkommenssicherung und Leistungspflicht eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit? Der inhaltliche Geltungsbereich der Arbeit betrifft nur die soziale Sicherung. Das bedeutet, dass ein Grundeinkommen nicht per se gegen bestimmte Normen der distributiven Gerechtigkeit wie Leistung oder Bedarf gerichtet ist, nur, dass es gegen deren Universalisierung und ihr Eindringen in die existenziellen Angelegenheiten einer Person gerichtet ist. Wer ein Grundeinkommen vertritt, geht davon aus, dass es keine perfekte Verdienstnorm gibt, die de facto alle Existenzen substanziell sichern kann. Deshalb sollten die Grundlagen des Lebens vor solchen Normen immun sein. Der theoretische Geltungsbereich der Arbeit ist die Politische Philosophie des Liberalismus, der sich um die Idee der Freiheit dreht. Es gibt keinen Konsens unter Liberalen, was politische Freiheit bedeutet. Hier werden die aus meiner Sicht wichtigsten Konzepte der zeitgenössischen Debatte herausgegriffen und mit der Idee des Grundeinkommens konfrontiert. Die erste Idee ist negative Freiheit. Sie liegt vor, wenn sich niemand mittels Zwangs in meine Angelegenheiten einmischt. Die zweite Idee ist positive Freiheit. Sie liegt vor, wenn ich tun kann, was ich wirklich will. Die dritte Idee ist libertäre Freiheit. Sie liegt vor, wenn ich der Eigentümer meiner selbst bin. Die vierte Idee ist reale Freiheit. Sie liegt vor, wenn ich tun kann, was immer ich tun wollen könnte. Die fünfte Idee ist republikanische Freiheit. Sie liegt vor, wenn niemand darüber herrscht, was ich tun und lassen kann. Jede dieser fünf Perspektiven liefert eine eigenständige Antwort auf die Frage, ob man Existenzsicherung von Leistungskriterien entkoppeln sollte. Aber alle fünf Positionen bewegen sich innerhalb der liberalen Theorie gemäß der in dieser Arbeit gebrauchten Definition von Liberalismus. Was heißt Gerechtigkeit? Unter Gerechtigkeit wird Unterschiedliches verstanden. Aber jedes Konzept von Gerechtigkeit muss vier Merkmale beinhalten, sonst handelt es sich definitionsgemäß nicht um Gerechtigkeit. (1) Es geht um individuelle Ansprüche. Diese Ansprüche können prinzipiell miteinander im Konflikt
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stehen und gelten für eine „Währung“, die knapp ist. Liegt nicht zugleich Interessenkonflikt und Knappheit vor, hat Gerechtigkeit keinen Grund. Interessenkonflikt und Knappheit sind vorrangig Merkmale des öffentlichen Lebens, weswegen Gerechtigkeit nur dort oder insbesondere dort gilt. (2) Es geht um individuelle Pflichten. Wenn die Ansprüche von A formell gelten sollen, muss ein B die Pflicht haben, diese zu erfüllen. Daher geht es bei Gerechtigkeit um die Frage, was Menschen einander schulden. (3) Es geht um ein Urteil, das unparteilich ist. Jede Person ist vor dem Gerechtigkeitsurteil nach suum cuique so zu behandeln, dass gleiche Gründe zu gleichen Folgen führen. (4) Gerechtigkeit gilt dort, wo sowohl der Träger des Anspruchs als auch der Träger der reziproken Pflicht Akteure sind. Der Anwendungsbereich ist die soziale, kontingente Welt, nicht die deterministische. Es gibt daher keine „natürliche“ oder „kosmische“ Gerechtigkeit. Die Implikation hier lautet, dass ein Grundeinkommen grundsätzlich in den theoretischen Gegenstand von Gerechtigkeit fällt. Ein Grundeinkommen (1’) ist ein individueller Anspruch in einem öffentlichen Raum, in dem Knappheit und Interessenkonflikt gelten; (2’) setzt als solcher einen Akteur voraus, der die Pflicht hat, ihm zu genügen; (3’) folgt dem Grundsatz suum cuique, weil jeder, der Bürger ist, die Leistung erhält; und (4’) beinhaltet ein Schuldverhältnis zweier Entitäten mit Akteursmacht (Bürger und Staat). Also ist die Gerechtigkeit des Grundeinkommens prinzipiell beurteilbar. Welche Positionen gibt es zu Gerechtigkeit? Gerechtigkeit ist eine Idee, die man aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann. (1) Konservativ vs. ideal. Im Konservatismus gilt als gerecht, bestehende Normen einzuhalten. Im Idealismus gilt als gerecht, was sui generis gerecht ist. Sui generis gerecht ist etwas, wenn es einem idealen Regime von Gerechtigkeit folgt. Ein ideales Regime von Gerechtigkeit könnte lauten: liberale Freiheit, libertäres Eigentum, Chancengleichheit usw. (2) Korrektiv vs. distributiv. Korrektive Gerechtigkeit liegt vor, wenn ich einen Schaden wiedergutmache, den ich angerichtet habe, oder für einen Schaden, den ich angerichtet habe, bestraft werde. Distributive Gerechtigkeit liegt vor, wenn Güter und Lasten angemessen auf die Individuen in einer Gesellschaft verteilt sind. Die konventionelle Sichtweise lautet, dass keine der beiden Varianten sich instrumentell zur jeweils anderen verhält. (3) Prozedural vs. substanziell. Etwas ist prozedural gerecht, wenn es gerecht zustande gekommen ist, ungeachtet des Ergebnisses. Etwas ist substanziell gerecht, wenn es seinem Ergebnis nach gerecht ist, ungeachtet des Zustandekommens. (4) Komparativ vs. non-komparativ. Etwas ist komparativ gerecht, wenn das Urteil auf einem Equity-Prinzip beruht. Zum Beispiel: Die Leistung eines Individuums wird vor dem Hintergrund der Leistungen aller anderen Individuen bewertet. Etwas
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ist non-komparativ gerecht, wenn das Urteil für ein Individuum unabhängig von allen anderen Individuen gilt. Zum Beispiel: Nach dem Kriterium der Suffizienz steht mir durch andere dem Grunde nach das zu, was mir genügt (zum Beispiel zum Überleben, zum guten Leben etc.). Ein dritter Fall ist das Differenzprinzip nach Rawls, wonach die Grundlage des Vergleichs dasselbe Individuum (dieselbe Gruppe von Individuen) zu sich selbst in möglichen alternativen Welten ist. (5) Kognitivistisch vs. non-kognitivistisch. Ein Kognitivist geht davon aus, dass etwas gerecht sein kann. Ein Non-Kognitivist vertritt demgegenüber eine skeptische Position. Er behauptet, eine Aussage über Gerechtigkeit sowie jede moralische Aussage sei nicht wahrheitsfähig. Sie könne mehrere Funktionen erfüllen, diese seien aber non-kognitiv. „Gerechtigkeit“ könne zum Beispiel eine Emotion sein oder eine solche verkleiden, aber keine rationale Grundlage für eine Evaluierung gesellschaftlicher Tatsachen. (6) Konsequentialistisch vs. deontologisch. Wenn ein Konsequentialist etwas gerecht findet, dann nur deswegen, weil es Gerechtes bewirkt oder zur Folge hat. Ein Deontologe ist ein Skeptiker von Folgenethiken. Er behauptet, es gebe auch Richtiges, das unabhängig vom Guten sei. Zeitgenössische Theorien von Gerechtigkeit sind weitgehend deontologisch. Das liegt an den immanenten Problemen des Konsequentialismus: Jede Handlung wird evaluiert, es gibt also nichts Freiwilliges; Ungerechtigkeiten im einen Fall sind legitim, sofern die Gesamtgerechtigkeit dadurch maximiert wird; Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, weswegen es für den einen leicht ist, Gutes zu bewirken, für den anderen nahezu unmöglich; es wird ein Hegemon mit der Deutungshoheit über das Gute vorausgesetzt, was als Paternalismus interpretiert werden kann. Es ist angezeigt, den Gerechtigkeitsbegriff entlang der sechs Gegenüberstellungen oben mit Blick auf das vorliegende Erkenntnisinteresse einzugrenzen. (1’) Es gibt keinen juristischen und deskriptivethisch auch keinen juridischen Anspruch auf Grundeinkommen, weswegen es durch eine konservative Theorie so lange nicht geboten, bis es eine Forderung des allgemeinen politischen Konsenses ist. Die Philosophie des Grundeinkommens ist deshalb eine Idealtheorie. Als solche muss sie erst spezifizieren, was ein ideales Regime von Gerechtigkeit ausmacht, und daran anknüpfend, ob ein Grundeinkommen nach diesem Maßstab gerecht ist oder nicht. (2’) Hier geht es nur um distributive Gerechtigkeit, weil das Grundeinkommen ein kollektives Anrecht ist und keine individuelle Retribution, wenngleich es retributiv begründet werden kann. (3’) Prozedurale und substanzielle Begründungen sind beide möglich, ohne sich auszuschließen. (4’) Ein Grundeinkommen kann nur non-komparativ begründet werden, weil seine Kausalität die Bürgerschaft ist, ohne dass diese Kausalität nach weiteren, moralisch relevanten Kriterien zergliedert würde. (5’) Die Arbeit ist indifferent gegenüber
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den beiden oben besprochenen Standpunkten. Es wird ausschließlich begriffsanalytisch geprüft, wie verschiedene Gerechtigkeitsurteile über ein Grundeinkommen ausfallen. Ob diese Urteile wahrheitsfähig sind (Kognitivismus) oder nicht (NonKognitivismus), muss der Leser entscheiden. (6’) Die Arbeit ist rein deontologisch angelegt. Erstens, weil eine konsequentialistische Bewertung empirische Evidenzen voraussetzt, die der Gegenstand der Betrachtung nicht hergibt. Zweitens, weil der Konsequentialismus alles moralisiert und es deshalb nichts Freiwilliges mehr gibt. Was ist Liberalismus? (1) Liberal sein heißt, für Freiheit sein. Liberalismus ist die Politische Philosophie, die Freiheit präsumiert, also sagt, dass Freiheit grundsätzlich gut ist, und immer, wenn sie eingeschränkt wird, der, der sie einschränkt, beweisen muss, dass er richtig handelt. Er handelt dann richtig, wenn er rationale Gründe hat. Ein rationaler Grund kann immer nur ein Argument über den allseitigen Vorteil sein. Ein allseitiger Vorteil liegt vor, wenn die Allgemeinheit ein Interesse an der Handlung hat. (2) Liberal sein heißt, für Autonomie sein. Autonom ist eine Person, wenn sie weiß, wer sie authentisch ist und diesen Selbstentwurf auch praktisch verwirklichen kann. Autonomie hat viele Facetten. Moralisch betrifft sie die Fähigkeit, Entscheidungen und Handlungen vor anderen rechtfertigen zu können; ethisch die Fähigkeit, eine genuine Vorstellung des Guten zu konzipieren und nach ihr zu streben; rechtlich den Abstand vor willkürlicher Schlechterstellung; politisch die Mitgestaltung öffentlicher Angelegenheiten; sozial die reale Möglichkeit, ein vollwertiges Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Autonomie hat in jedem Fall zwei Komponenten, nämlich Authentizität (sich kennen) und Kompetenz (man selbst sein können), wobei die zweite die erste voraussetzt. Eine mögliche dritte Komponente ist die externe Welt. In dieser Arbeit wird diese Bedingung verneint, weil der Standpunkt vertreten wird, dass eine Person auch dann autonom sein kann, wenn sie sich in einer autonomiefeindlichen Umgebung befindet. Wenn ein Liberaler Autonomie als theoretischen Subjektentwurf akzeptiert, ergeben sich daraus drei Implikationen für seine weiteren theoretischen Betrachtungen. Erstens: Er muss einem Pluralismusprinzip beipflichten, das besagt, dass seine Theorie nur sagen darf, was institutionell richtig ist, aber darüber schweigen muss, was individuell gut ist. Einer autonomen Person muss niemand sagen, was gut für sie ist. Zweitens: Wenn ein Staat niemandem das Gute vorschreiben darf, ist Paternalismus illegitim, verstanden als Hilfe, um die der Empfänger nicht explizit gebeten hat. Drittens: Autonomie hat keine moralischen Implikationen, außer oder allenfalls, dass Autonomie selbst gut ist. Wenn ein Liberaler nur an Freiheit auf institutioneller Ebene und an Autonomie auf individueller Ebene glaubt, und sonst an keine weiteren moralischen
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Gebote, jedenfalls keine universellen, dann ist eine liberale Theorie insofern moralisch minimalistisch, als dass sie weniger sagt, was zu tun ist, sondern vielmehr, was zu lassen ist. (3) Liberal sein heißt, gegen Gleichheit sein. Grundsätzlich stehen Gleichheit und Freiheit in einem Zielkonflikt. Es kann Situationen geben, in denen nur einer, aber nicht der je anderen Norm genügt werden kann. Für einen solchen Fall muss klar sein, auf welchem der beiden Werte die Präsumtion liegt, also der Wert, zu dessen Gunsten man sich im Zweifel zu „irren“ entschließt. Gleichheit ist im Angesicht dieser Entscheidung keine rationale Alternative, weil sie insbesondere drei Probleme mit sich bringt. Erstens: Wenn Gleichheit einen Eigenwert hätte, wäre im Zweifel eine Welt zu bevorzugen, in der es allen schlecht geht, aber dafür gleich schlecht („leveling-down objection“). Zweitens: Gerechtigkeit heißt nicht per se, dass Dinge oder Personen die Eigenschaft der Gleichheit besitzen müssen. Wenn Gleichheit das Ziel ist, was ist dann das Ziel hinter dem Ziel? Gibt es ein solches nicht, wird Egalisierung zum Selbstzweck. Drittens: Der Egalitarismus beruht auf sozialem Vergleich. Soziale Vergleiche aber sind gerechtigkeitstheoretisch überflüssig. Armut ist nicht deshalb ein Problem, weil A weniger hat als B, sondern weil A objektiv zu wenig hat. Haben alle genug, hat Ungleichheit keine moralischen Implikationen mehr. (4) Liberal sein heißt, gegen das Gute sein. Wenn der Staat einem Individuum sagt, was gut ist, verletzt er die durch die Liberalen postulierte Pflicht zur Neutralität. Für diese Norm gibt es gute Gründe. Erstens: Heutige demokratische Gemeinschaften sind de-factopluralistisch. In ihnen gibt es unter den Bürgern keine einheitliche Auffassung darüber, was gut ist. Und wenn das Gute grundsätzlich kontrovers ist, sollte der Staat sich dahingehend zurückhalten, weil er ja alle repräsentiert, und nicht nur die, die seiner Auffassung nach das Gute verstanden haben. Zweitens: Bürger und Politiker können das öffentliche Leben nur gestalten, wenn sie sich als autonome Akteure adressieren und ihre weltanschaulichen Streitfragen beiseitelegen. Drittens: Die institutionellen Grundlagen der Selbstachtung sind nach Rawls ein Grundgut, auf das jeder ein gleiches und bedingungsloses Anrecht hat. Und Selbstachtung beinhaltet die Freiheit, den eigenen Lebensplan selbst zu entwerfen und an seiner Ausübung nicht gehindert zu werden. Viertens: Wenn der Staat nicht neutral ist und etwas tut, das „gut“ ist, oder etwas bereits Getanes aufgrund seiner Eigenschaft als „gut“ rechtfertigt, dann spricht er sich von der moralischen Schranke frei, Menschen nicht schädigen oder instrumentalisieren zu dürfen. Im Namen des Guten erscheint schließlich kein Opfer als zu groß. Fünftens: Wenn ein Staat dieses belohnt und jenes bestraft, ob durch Zwang oder nicht, handelt er manipulativ, weil die Folgen einer ehedem freien Handlung für einen Entscheider in ihren Nutzwerten manipuliert werden. Sechstens: Die Politik des Guten macht nichts tatsächlich besser. Denn wenn der Staat eine Person P überzeugt, dass A
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besser ist als B, dann hat sich das Gute für P nicht vermehrt, sondern schlicht von B nach A verschoben. Doch selbst wenn A wirklich besser wäre, wäre es für P nichts intrinsisch Gutes, sondern bloß eine extrinsische Persuasion. Davon abgesehen stellt sich die Frage, warum ein Staat besser wissen sollte, was für P gut ist als P selbst. Das sind sechs gute Gründe gegen eine Politik des Guten (Perfektionismus) und damit indirekt für eine Politik des Neutralen (Pluralismus). Ideale Staatsneutralität ist zwar nicht möglich, weil jede Staatshandlung für jeden Folgen hat und jede solche Folge durch den einen als normativ gut, durch den anderen hingegen als normativ schlecht bewertet werden kann. Das ändert aber nichts am Stellenwert liberaler Staatsneutralität als politischer Maxime, zumal idealer Perfektionismus ebenso wenig möglich ist. Das staatliche Neutralitätsgebot kann abschließend wie folgt konkretisiert werden: Stehen zwei oder mehr Güter zur Auswahl, ohne dass eine gesellschaftliche Übereinkunft besteht, welches Gut Vorrang genießt, und keines der Güter vernunftgemäß als besser oder schlechter als das je andere bezeichnet werden kann, dann hat der Staat die Pflicht, sich zwischen den beiden Gütern neutral zu verhalten, also keines explizit zu bevorzugen oder implizit zu übervorteilen. Was sind positive und negative Freiheit? Im liberalen Mainstream wird meist auf Isaiah Berlins Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit rekurriert. Negative Freiheit bedeutet Freiheit von Zwang durch andere. „Durch andere“ deshalb, weil sonst Freiheit und Fähigkeit gleichgesetzt würden. Und „Zwang“ deshalb, weil sonst bereits eine Information als die Freiheit restringierend eingestuft werden könnte. Positive Freiheit bedeutet indes die Freiheit, die eigenen Absichten zu verwirklichen. Restriktionen von Freiheit liegen beim negativ formulierten Begriff („Freiheit von“) außerhalb des Individuums, beim positiv formulierten Begriff („Freiheit zu“) spielt der Ort der Restriktion keine Rolle, er kann sich jedoch grundsätzlich auch innerhalb der Person befinden. „Freiheit von“ kann immer nur formell gelten. In der amerikanischen Verfassung ist deshalb das Streben nach Glück geschützt, nicht das Glück selbst. „Freiheit zu“ meint hingegen etwas Substantielles. Wozu ich positiv frei bin, ist kein Verfassungspostulat, sondern eine reale Eigenschaft meiner lebenspraktischen Wirklichkeit. Da hier entlang mehrerer Aspekte unterschieden wird, schließen sich die beiden Begriffe nicht aus, und sie sind auch nur unter Vorbehalten miteinander vergleichbar. Es ist nicht möglich, beide Begriffe zeitgleich zu präsumieren, weil eine Analyse mittels negativer Freiheit zu einem ganz anderen Schluss führen kann als eine Analyse mittels positiver Freiheit. Ein Beispiel: Ein Suchtraucher verpasst seinen Zug, weil er auf dem Weg noch Tabak kaufen „muss“. Der Raucher ist negativ frei, weil kein anderer ihn gezwungen hat, dies zu tun. Positiv ist er aber unfrei, weil die Sucht
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ihn beherrscht, auch wenn kein Dritter im Spiel ist. Den Deutungsstreit darüber, welcher Begriff im Rahmen einer liberalen Theorie zu bevorzugen ist, hat die Idee negativer Freiheit klar gewonnen. Das hat folgende Gründe. Erstens: Positive Freiheit legt sich ontologisch auf ein Individuum fest, das nicht autonom ist, was der liberalen Intuition eines authentischen und kompetenten Entscheiders widerspricht. Zweitens: Positive Freiheit ist paradox und erlaubt mindestens indirekt Paternalismus. Man könnte den Suchtraucher „befreien“, indem man Zigaretten verbietet oder irgendwie seine Sucht eliminiert. Negative Freiheit ist deshalb ihrer klassischen Antagonistin, der positiven Freiheit, theoretisch vorzuziehen. Positive Freiheit durch Grundeinkommen? Auch wenn es gute Gründe gibt, positive Freiheit zumindest innerhalb einer liberalen Theorie gänzlich fallenzulassen, kann man dennoch die hypothetische Frage stellen, ob ein Grundeinkommen eine notwendige Bedingung von „Freiheit zu“ ist. (1) Diese Frage ist aber nicht beantwortbar. Jedenfalls wäre eine Antwort darauf auf eine zusätzlich hinzuzuziehende Norm angewiesen und kann sich deshalb nicht aus der Idee positiver Freiheit selbst ergeben. Das folgt aus einer ontologischen Festlegung. Positive Freiheit betrifft die Absichten einer Person. Eine Absicht könnte aber eine Fiktion sein. Es könnte also einerseits wahre, authentische Absichten geben, denen andererseits rein „empirische“ Wünsche gegenüberstehen. Ist die Freiheit, die das Grundeinkommen bewirkt, eine „wahre“ Freiheit oder reine Fiktion? Und wer entscheidet nach welchen Maßstäben hierüber? Wenn ein Suchtraucher positiv unfrei ist, weil die Sucht ihm in irgendeiner Weise wesensfremd ist und ihn beherrscht, dann hat dieser Raucher ein zweigeteiltes Selbst. Er ist zugleich frei und unfrei. Das ist logisch unmöglich; und Unmögliches ist falsch; und aus Falschem folgt Beliebiges („ex falso quodlibet“). Wenn es wahre und falsche Freiheiten gibt, dann kann die Forschungsfrage nur beantwortet werden, wenn wir ein weiteres Prinzip zu Rate ziehen könnten, das über Wahrheit und Irrtum im hier gemeinten Sinn Auskunft erteilt. Da dieses Prinzip keine Eigenschaft positiver Freiheit selbst, sondern dieser rein äußerlich ist, ist unklar, wie sich ein Grundeinkommen oder Workfare dazu verhalten. Wie sehr sich die Möglichkeit, meine Absichten zu verwirklichen, mit einem Recht auf tausend Euro monatlich verändert, ist nur zu beantworten, wenn klar ist, was meine Absichten sind und ob sie überhaupt welche sind. Die Antwort müsste für jede einzelne Person gesondert erarbeitet werden. Positive Freiheit mündet in einen verlorenen Gegensatz, weswegen man mit ihr alles und nichts begründen kann. Da im Liberalismus Freiheit qua Präsumtion ein Eigenwert ist, und positive Freiheit zwischen wahren (oder guten) und falschen (oder schlechten) Varianten unterscheidet, ist positive Freiheit offensichtlich gar keine liberale Idee. Denn dort gibt es nur eine Freiheit, die immer den
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gleichen Wert besitzt. (2) Christman versucht, positive Freiheit zu rehabilitieren, indem er eine neue Definition einführt: Die Freiheit, eigene Absichten zu verwirklichen, gesetzt, die Absicht ist authentisch zustande gekommen. Aber auch diese Version ist nicht überzeugend. Erstens: Ein Sklave könnte so positiv frei sein, sofern er sich dazu authentisch entschlossen hat, Sklave zu werden. Je wunschloser ein Mensch allgemein wäre, desto freier. Zweitens: Der Staat könnte, wenn schon nicht auf den Inhalt, so doch auf das Entstehen des Guten hinwirken. Aber auch das liegt quer zur negativen Freiheit. Es ist mein Recht, eine nicht-autonome Entscheidung zu treffen, mich zu irren usw. Außerdem ist es nicht praktikabel, für jede Person gesondert empirisch feststellen zu müssen, auf welche Art und Weise ihre Absichten entstanden sind, gesetzt, das sei überhaupt möglich. Negative Freiheit durch Grundeinkommen? Grundeinkommen und Workfare haben keinen Einfluss auf die negativen Freiheiten von Personen, jedenfalls nicht gemittelt auf makroskopischer Skala. In beiden Regimen kann formell jeder tun, was er will. Sicher haben einige dieser freien Entscheidungen unterschiedliche Folgen, je nachdem, ob man in einer Welt mit Grundeinkommen oder Workfare lebt. Aber Folgen sind etwas Substantielles und deshalb im Urteil einer formellen Idee wie negativer Freiheit irrelevant. Solange die Produktion von Geld einer Nullsummenlogik folgt (Schöpfung durch Kredit), ist auch seine Umverteilung, ceteris paribus, ein Nullsummenspiel. Erhalte ich 1.000 Euro vom Staat, fehlen sie einem anderen. Die gemittelte gesellschaftliche Freiheit bleibt davon unberührt, ob man sich für das Grundeinkommen oder für Workfare entschließt. Was ist libertäre Freiheit? Libertäre Freiheit bedeutet Selbsteigentum („selfownership“). Selbsteigentum heißt, dass man dasselbe vollumfängliche Recht an seiner eigenen Person besitzt wie an einem äußeren Objekt, dessen Eigentümer man ist. Man darf sich „benutzen“, man darf untersagen, dass man durch einen anderen „benutzt“ wird, man muss entschädigt werden, wenn man doch „benutzt“ wird, man darf sein Selbsteigentum übertragen oder verschenken usw. Die Aufgabe des minimalen libertären Staates ist, diese negativen Rechte zu gewährleisten, sonst nichts. Selbsteigentum bedeutet also, dass jeder alles darf, außer in das Selbsteigentum eines anderen einzudringen. Also ist auch erlaubt, ein Ding, das niemandem gehört, anzueignen und seine Nutzung für sich zu reservieren. Da aber nicht alles allen gehören kann, bedarf es eines schlichtenden Prinzips. Ein solches wurde von John Locke formuliert. Lockes Proviso sagt, dass man ein herrenloses Gut aneignen darf, solange den anderen danach genügend und gleichwertige herrenlose Güter zur Verfügung stehen bleiben. Nozick, der bekannteste zeitgenössische Theoretiker, legt diesen Vorbehalt so aus, dass Aneignung dann
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legitim ist, wenn die Nicht-Eigentümer dadurch nicht schlechter gestellt werden als unter der Bedingung der Allmende. Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass die libertäre Theorie externes Eigentum prozedural begründet. Was gerecht ist, ergibt sich aus dem Zustandekommen von Eigentum, nicht den Eigenschaften des Eigentums oder wie es in einer Gesellschaft verteilt ist. Hayek, ein Marktlibertärer, argumentiert, warum das so sein soll. Erstens: Es gibt so etwas wie Gerechtigkeit, wie es die meisten Denker verstehen, nicht. Es gibt nur Fairness. Fairness heißt, dass alle Teilnehmer eines Spiels den Spielregeln zugestimmt haben. Der Markt ist ein Spiel, in dem die Teilnehmer genau das tun. Sie akzeptieren das Kleingedruckte, sobald sie teilnehmen. Damit ist jedes Marktergebnis gerechtfertigt, egal wie bedauerlich es im Einzelfall erscheinen mag. Zweitens: Der Markt ist keine Person, sondern ein abstraktes Prinzip, das zufällige Ergebnisse produziert. Wenn Marktergebnisse aber keiner Intention folgen, also durch niemanden wirklich absichtsvoll herbeigeführt worden sind, dann hat ein Staat keinen Grund, diese friedlichen Ergebnisse anzutasten. Drittens: Gerechtigkeit beruht auf Input (Beitrag, Leistung, Mühe, Opfer, Leiden). Sinnvoll ist aber nur eine Outputlogik. Diese gilt ohnehin auf einem freien Markt, in dem ich einen bestimmten Proporz dessen erhalte, was ich an Werten geschöpft habe. Inputlogik auf der anderen Seite belohnt Anpassung und Konformität. In Hayeks Welt ist soziale Gerechtigkeit ein Phantombegriff, der keine Existenzgrundlage hat. Libertäre Freiheit durch Grundeinkommen? Im Absatz oben wurde der libertäre Konsensstandpunkt dargelegt. Davon ausgehend zweigen sich zwei Spielarten derselben Idee ab. Der Rechtslibertarismus geht davon aus, dass die externe Welt niemandem gehört, und wer zuerst kommt, zuerst mahlt. Wer in eine Welt geboren wird, in der alles jemandem gehört, kann daraus keinen Anspruch geltend machen. Der Linkslibertarismus geht davon aus, dass die Erde allen gehört. Deshalb hat Aneignung, sobald oder sofern Lockes Proviso verletzt ist, moralische Implikationen. Wer die Welt aneignet und seine Mitmenschen dadurch schlechter stellt als ex ante, schuldet den schlechter Gestellten eine reziproke Wiedergutmachung. Hier wird klar, dass die bloße Idee einer sozialen Sicherheit, ob qua Workfare oder Grundeinkommen, nur linkslibertär begründet werden kann, niemals rechtslibertär. Die meisten Linkslibertären meinen heute, dass die Aneignung einer Ressource mich dazu verpflichtet, ihren Marktpreis an die Geschädigten als Rente zu zahlen. Die Theorie sagt, wann wer wie hoch zu kompensieren ist, aber nicht wodurch und wie. Um Gerechtigkeit herzustellen braucht ein Linkslibertärer eine weitere Hilfsannahme. Deswegen folgt aus dem Gedankengebäude keine bestimmte Form sozialer Sicherung. Von der Unmöglichkeit eines Schlusses auf eine bestimmte Verteilungsregel abgesehen, steht und fällt der Libertarismus,
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egal welcher, mit der Plausibilität der streitbaren Idee eines Selbsteigentums. Erstens gibt es darin keine Sittenwidrigkeit, weswegen zwei Personen A und B alles erlaubt ist, worauf sie sich einigen. Zweitens ist kaum vorstellbar, dass eine Welt, deren einzige Regel der Schutz des Selbsteigentums von Personen ist, nicht unmittelbar kollabieren würde. Sobald ich in ein Flugzeug einsteige, müsste ich allen Menschen, die den durch das Flugzeug ausgestoßenen Schadstoffen exponiert sind, einen Schadensersatz zahlen. Drittens müsste ein Libertärer vollkommenes Tatsachenwissen über die Geschichte eines Eigentumstitels haben, sonst könnte er kein prozedurales Gerechtigkeitsurteil darüber fällen. Viertens schließen sich die Selbsteigentume von Individuen aus. Verletzt jemand meines, muss der Staat seines verletzen. Verletzt er nicht seines, habe ich keines. Was ist reale Freiheit? Reale Freiheit ist die Freiheit zu tun, was immer ich tun wollen könnte. Der Stoff, aus dem reale Freiheit besteht, ist deshalb ein hypothetischer Freiheitsgrad: etwas, das ich prinzipiell tun könnte. Ob ich das wirklich will, spielt keine Rolle. Reale Freiheit hat einen unendlichen Geltungsbereich. Etwas, das mich an einer Sache hindert, macht mich eine Einheit unfreier; etwas, das mich zu einer Sache befähigt, macht mich eine Einheit freier. Demnach ist Fähigkeit ein Teil von Freiheit, weil Unfähigkeit als Restriktion von Freiheit theoretisch zulässig ist. Ob ich das Haus nicht verlassen kann, weil mich jemand einsperrt oder weil ich mich eingeschlossen und den Schlüssel verloren habe, macht hier keinen relevanten Unterschied. Reale Freiheit durch Grundeinkommen? Van Parijs, der einflussreichste Philosoph in der Debatte, stellt die These auf, dass reale Freiheit das höchstmöglich noch nachhaltig finanzierbare Grundeinkommen gebietet. Die Argumentation geht wie folgt: Die Präsumtion liegt auf realer Freiheit, also hat der Staat die Aufgabe, die Freiheit jedes Einzelnen nicht nur irgendwie herzustellen, sondern fortlaufend zu maximieren, ohne dass hierbei je eine obere Grenze erreicht werden könnte. Da jeder Freiheitsvollzug gleich viel wert ist (Neutralitätsgebot), muss jeder dasselbe Paket an Freiheitsgraden bekommen. Hier moralische Unterschiede zu machen, wäre antiliberal. Geld ist das einzige Distribuendum, das neutral ist, weil ich damit machen kann, was ich will. Das politische Gebot lautet also: So viel Geld für alle wie möglich, sodass jeder möglichst viel von dem tun kann, was er tun wollen könnte. Diese Argumentation evoziert insbesondere einen Einwand, den sie a se nicht entkräften kann. Dieser Einwand lautet, dass es methodisch unmöglich ist zu bestimmen, wie real frei jemand gerade ist, daher ist es auch unmöglich zu bestimmen, ob jemand durch ein Grundeinkommen oder durch Workfare real freier ist. Der Grund ist, dass die Summe der Dinge, die ich tun könnte, immer
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unendlich ist. Ob ich unendliche Workfare-Möglichkeiten habe oder unendlich viele Grundeinkommens-Optionen, ist irrelevant, weil die Qualität der hypothetischen Freiheiten radikal unberücksichtigt bleibt bzw. die Existenz von Qualitäten ab initio geleugnet wird. Was ist republikanische Freiheit? Bisher sind alle diskutierten Ideen von Freiheit daran gescheitert, überhaupt eine bestimmte Form von sozialer Sicherung zu gebieten. Republikanische Freiheit bildet hier die Ausnahme. Wenn negative Freiheit heißt, dass sich (hier und jetzt) niemand durch Zwang in meine Dinge einmischt, heißt republikanische Freiheit, dass niemand (irgendwo und irgendwann) die legale Möglichkeit überhaupt haben darf, das zu tun. Denn hätte er sie, wäre meine Freiheit kein politischer Schutz, sondern lediglich die deskriptive Beschreibung meines augenblicklichen Lebens. Frei von Sklaverei ist man nicht, so glaubt ein Republikaner, wenn man kein Sklave ist (negative Freiheit), sondern wenn man nicht versklavt werden kann. Davon abstrahierend kann republikanische Freiheit definiert werden als Freiheit von unbegründeter Herrschaft. Aber was ist Herrschaft? Und wann ist sie doch begründet? Herrschaft ist eine Machtstruktur, die es A ermöglicht, die Handlungen von B direkt oder indirekt zu kontrollieren. Herrschaft konnotiert demnach eine soziale Form von Macht (von A über B), eine asymmetrische Form von Macht (A hat mehr davon als B), eine uneingeschränkte Form von Macht (A entscheidet ungehindert, ob er B kontrolliert oder nicht), eine moralisierte Form von Macht (A sollte B nicht beherrschen) und eine potenzielle Form von Macht (A herrscht nicht, weil er B kontrolliert, sondern weil er B kontrollieren kann). Republikanische Freiheit durch Grundeinkommen? Der Republikanismus gebietet eine Form von sozialer Sicherung, die für jeden Bürger als Statusschutz vor Herrschaft fungiert. Dahrendorf erkannte, dass es zwei bürgerliche Freiheiten gibt, die sich gegenseitig voraussetzen: Ohne minimale formelle Bürgerrechte kann niemand sozialen Status erwerben, aber ohne minimalen sozialen Status sind Bürgerrechte rein formelle Freiheiten ohne Mittel zur Verwirklichung. Republikanische soziale Sicherung (als minimales soziales Statusrecht) muss gewährleisten, dass jedermanns Bürgerrechte hinreichen, um tatsächlich ein nach eigenen Maßstäben gutes Leben zu führen. Das geht nur, wenn niemand willkürliche Macht über die Angelegenheiten ausüben kann, die die Grundlagen der rechtlichen und sozialen Bürgerschaft betreffen (Grundrechte und Existenzminimum). Im Angesicht dieser Anforderung können Grundeinkommen und Workfare verglichen werden. (1) Workfare kann faktisch als Form von unbegründeter Herrschaft beschrieben werden, weswegen es als politisch illegitim gelten muss. Über meine
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Existenzsicherung wird unbegründet geherrscht, wenn ich anderen die Gewalt über mein Überleben überlassen muss oder denen, die bereits Gewalt über mich haben, die Beziehung nicht aufkündigen kann. Bei Workfare ist genau das der Fall. Dort werde ich kontrolliert, indem die freie Option auf Nicht-Erwerbsarbeit nicht nur relativ benachteiligt, sondern absolut bestraft wird. Wenn ich würdevoll leben will, muss ich nach fremden Spielregeln spielen und im Zweifel meinen eigenen Lebensentwurf über Bord werfen. (2) Löst ein Grundeinkommen dieses Problem? Mit Grundeinkommen ist der Statusschutz vor unbegründeter Herrschaft viel ausgedehnter als ohne. Habe ich eine materielle Grundlage, die mir keiner nehmen kann, haben Verträge, die ich unterzeichne, und Beziehungen, die ich eingehe oder verlasse, nicht mehr die Funktion, mich sozial abzusichern. Während in allen bisher besprochenen Ideen Freiheit als kontinuierliche Variable auftrifft, in denen Freiheit unendlich viele Ausprägungen haben kann, ist republikanische Freiheit dichotom. Sie liegt vor oder nicht. Deswegen tauchen die Paradoxien hier nicht auf, die für die anderen Begriffe charakteristisch sind, wobei die Freiheit des einen immer irgendwie mit der eines anderen im Konflikt zu stehen scheint. Solche Trade-offs gibt es in der republikanischen Theorie nicht, weil Freiheit hier nicht teilbar ist. Zahlt ein Staat allen ein Grundeinkommen, nimmt er niemandem seine republikanische Freiheit, weil er alle mit dem gleichen Status ausstattet, ohne diesen jemandem vorzuenthalten. Besitze ich keine republikanische Freiheit, werde ich im Zweifelsfall immer nur „cum permissu“ handeln. Ich werde einer Erwerbsarbeit nachgehen, weil man das „muss“ usw. Ohne republikanische Freiheit ist kein Markt wirklich frei. Frei kann auf einem Markt immer nur ein Tausch sein. Das setzt aber auf beiden Seiten bereits einen Eigentumstitel voraus, der getauscht werden kann. Besitzt man solche Titel nicht ausreichend, hat man keine Macht, „Nein“ zu sagen. (3) Das republikanische Argument für ein Grundeinkommen steht unter zwei Vorbehalten. Erstens ist schwer zu demarkieren, wann Macht zu Herrschaft wird. Man könnte konservativethisch argumentieren, Macht sei legitim, wenn sie durch Gesetze oder Normen geregelt ist. Man könnte demokratie- oder vertragstheoretisch argumentieren, Macht sei legitim, wenn sie durch die Betroffenen in irgendeiner Weise kontrolliert wird. Zweitens ist unklar, wann genau Herrschaft legitim ist und wann unbegründet. Geht es nur um ausgeübte Macht, liegt der Fall klar. Aber die republikanische Theorie muss auch den unausgeübten, rein potenziellen Gebrauch von Macht gelten lassen, sonst würde ihr Begriff von Herrschaft nicht mit ihrer eigenen Idee von Freiheit korrespondieren, sondern mit negativer Freiheit, von der sie sich aber kategorisch abgrenzt. (4) Auch aus feministischer Perspektive erscheint das republikanische Argument für ein Grundeinkommen geboten. Ein Grundeinkommen befreit die Trennung von öffentlicher und privater Arbeit von
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ihrer Problematik. Wenn jede Tätigkeit freiwillig ist, gibt es moralisch keinen relevanten Unterschied mehr zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, zwischen „männlicher“ und „weiblicher“ Arbeit (Tabelle 12.1). Tabelle 12.1 Liberale Freiheit und Grundeinkommen Freiheit
Definition
Grundeinkommen als notwendige Bedingung
Positiv
Jemand kann tun, was er will
nein
Negativ
Jemand ist frei von Zwang durch andere
nein
Libertär
Jemand besitzt alle Rechte an seiner Person
nein
Real
Jemand kann alles tun, was er tun wollen könnte
nein
Republikanisch
Jemand wird nicht durch andere beherrscht
ja
Eigene Darstellung
Beutet ein Grundeinkommen aus? White, ein Kritiker des Grundeinkommens, formuliert einen Einwand, der von seinen Rezipienten häufig als Exploitation Objection bezeichnet wird, und wie folgt geht: Wo andere zu einem kooperativen Projekt beitragen, dort ist es unfair, willentlich die Vorteile dieses Projekts zu nutzen, ohne selbst einen relevanten, proportionalen Beitrag dazu zu leisten. Mit Blick auf ein Grundeinkommen heißt das karikiert ausgedrückt, dass es unfair ist, wenn die einen fleißig sind und die anderen am Strand liegen, aber beide dasselbe bekommen. Hier geht es nicht darum, ob diese These empirisch wahr ist, sondern um das deontologische Argument, dass die Möglichkeit ihrer Wahrheit politisch illegitim ist. Die politische Implikation der Skeptiker lautet: Niemand soll ein kooperatives Projekt legal ausbeuten dürfen. Die entscheidende Frage ist deshalb: Darf ein freiwillig Arbeitsloser auf Kosten eines freiwillig Arbeitenden leben? (1) Rawls hat in seiner reformierten Theorie der Fairness einen Gesellschaftsvertrag entworfen, der diese Möglichkeit ausschließt. Die Rawlssche Maximin-Regel sagt, dass Ungleichheiten dann legitim sind, wenn sie den am schlechtesten Gestellten den höchstmöglichen Vorteil bringen. Das würde aber die Möglichkeit beinhalten, dass die, die nichts tun, alimentiert werden, und zwar weil sie ihres Nichtstuns wegen zu den am schlechtesten Gestellten gehören. Das hat Rawls nicht beabsichtigt und seine Theorie deshalb ergänzt, um genau das
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auszuschließen. In der neu entworfenen Fassung seiner Fairness-Theorie wird Freizeit dem Index der Grundgüter gleichgestellt, wobei Grundgüter unspezifische, neutrale und instrumentelle Dinge sind, die jeder eher mehren als mindern will (Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen usw.). Wer mehr als ein Normalmaß an Freizeit für sich beansprucht, zum Beispiel mehr als 16 Stunden am Tag, der muss in wertäquivalentem Maß seinen Anspruch auf Grundgüter abtreten. Freiwillige Arbeitslosigkeit ist also ein Ausschlusskriterium für staatliche Unterstützung. Rawls selbst meint, dass diese Regel mit der liberalen Neutralitätsnorm konsistent ist, weil Arbeit keinen bestimmten Lebensstil beinhaltet. Das Argument ist aber nur innerhalb des Arbeitsmarkts zwischen alternativen Jobs oder Berufen plausibel, lässt aber die Möglichkeit der Nicht-Arbeit nicht erst zu. Das selbst, die Existenz unbezahlter Arbeit, die die soziale Externalität des Erwerbsmarkts ist, kann aber ebenfalls als Ausbeutung interpretiert werden. (2) Die Exploitation Objection setzt Prämissen als wahr voraus, die entweder falsch sind oder nur unter Vorbehalten als wahr gelten können. Erstens erscheint der Vorwurf der Ausbeutung qua Grundeinkommen nur gerechtfertigt, wenn dieses ausschließlich und unmittelbar aus Abgaben oder Steuern auf Erwerbsarbeit finanziert wird. Wird es durch Konsum finanziert, gibt es keine klar erkennbare Linie zwischen Nettotransferzahlern und -empfängern, da alle konsumieren müssen, um zu leben. Zweitens werden hier unnötig zwei Gruppen miteinander in eine theoretische Konkurrenzbeziehung gesetzt und die eine dabei positiv, die andere negativ stigmatisiert. Nach dem Teilungsprinzip „envy-freeness“ hat ein freiwillig Erwerbstätiger indes keinen rationalen Grund, auf einen freiwillig Arbeitslosen mit Grundeinkommen neidisch zu sein, weil er ja selbst die freie Option hat, genauso zu leben. Bevorzugt er aber die freiwillige Erwerbsarbeit, ist sein Neid ein rein „empirisches“ Empfinden, das rational gegenstandslos ist. Darum ist nur wichtig, dass Erwerbsarbeit das verfügbare Einkommen positiv beeinflusst (Lohnabstandsgebot). (3) Die Exploitation Objection erscheint haltlos, sobald man sie gegen sich selbst richtet. Warum steht ein Erwerbsloser im Verdacht, die Erwerbstätigen auszubeuten? Jeder Erwerbstätige ist heute faktisch ein Trittbrettfahrer all derer, die unentgeltlich arbeiten, Kinder erziehen, ein Ehrenamt bekleiden usw. All die Güter und vor allem Dienste, die nicht statistisch in die Wertschöpfung eingehen, sind hier Grundlage, dort mindestens positive Randbedingung der formellen Volkswirtschaft. Wenn im Status quo einige arbeiten müssen, um leben zu können, aber andere nicht, kann nicht ernsthaft gegen ein Grundeinkommen die Norm geltend gemacht werden, dass wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll.
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Diskriminiert ein Grundeinkommen? Van Parijs definiert folgendes Problem: In einer Welt mit Grundeinkommen gibt es Lazy, der faul ist und mit dem abgesicherten sozialen Minimum sein Leben genießt, während Crazy trotzdem arbeiten geht, weil er nicht wie Lazy ein Nichtstuer sein will. Hier gibt es zwei Lebensentwürfe (Crazys Arbeitsethos und Lazys Genügsamkeit), aber nur dem von Lazy wird politisch entsprochen. Diskriminiert das Grundeinkommen deswegen Crazy? (1) Wenn Crazy strebsam ist, dann ist das sein „Geschmack“. Er hat kein Recht, diesen Lebensentwurf als normal zu erklären und Abweichungen davon zu sanktionieren. Dies beinhaltete das Problem der positiven Freiheit: Je ambitionierter Crazy, desto höher die Last für Lazy, sich anzupassen. Die Abwesenheit des Grundeinkommens könnte also als Diskriminierungsumkehrung betrachtet werden. (2) Grundsätzlich ist das Konzept der Diskriminierung überhaupt nicht auf die geschilderte Problemstellung anwendbar. Diskriminierung liegt vor, wenn jemand aufgrund eines Gruppenmerkmals schlechter behandelt wird, das moralisch willkürlich ist. Diese Merkmale umfassen laut Grundgesetz Geschlecht, Abstammung, „Rasse“, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauung. Aber die Entscheidung, ob ich erwerbstätig bin oder nicht, ist nicht Teil des Indexes. Auch ist völlig unklar, ob Crazy wirklich schlechter behandelt wird. Denn er erhält ja dasselbe wie Lazy, er nimmt es nur subjektiv anders wahr. Selbst wenn ein Grundeinkommen Crazy objektiv schlechter stellen würde als Lazy, könnte man von Diskriminierung nur sprechen, wenn dies nicht durch die Zweckmäßigkeit eines Grundeinkommen aufgewogen würde. Aber alle Bürger mit substanzieller sozialer Sicherheit auszustatten ist ein höheres Gut als Crazys „Geschmack“. Verletzt ein Grundeinkommen Chancengleichheit? Wer für Chancengleichheit ist, ist gegen ein Grundeinkommen. Während das zweite eine pauschalierte, für alle gleich bemessene Leistung darstellt, erfordert die erste weitere moralisch relevante Differenzierungen, weil unterschiedliche Personen aufgrund ihres unterschiedlichen Glücks für ihre Leistungen und Ergebnisse unterschiedlich viel Anstrengung investieren müssen. Ist Chancengleichheit also eine liberale Alternative zum Grundeinkommen? (1) Jede Kritik, die gegen den Egalitarismus als Metatheorie formuliert wurde, kann auch auf Chancengleichheit übertragen werden. Hätte Chancengleichheit einen Eigenwert, wäre es gut, wenn niemand eine Chance zu irgendetwas besäße oder wären die Chancenabstände zwischen einer reichen und sehr reichen Person einerseits und einer armen und reichen Person andererseits gleich problematisch usw. (2) Die Idee von Chancengleichheit ist darüber hinaus mit unlösbaren philosophischen Problemen verbunden, was am
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Beispiel des Luck Egalitarianism gezeigt werden kann. Die Grundüberlegung dieser Position lautet, dass es gerecht zugeht, wenn einerseits jeder bekommt, was er verdient, dies aber andererseits voraussetzt, dass die Startchancen für alle gleich sind, sonst würde ja Glück in verdienstmäßige Ansprüche einfließen. Glück ist aber moralisch willkürlich und muss deshalb neutralisiert werden. Neutralisieren meint hier, die distributiven Nachteile, die auf Glück (der sozialen und natürlichen Lotterie) beruhen, durch eine Positivdiskriminierung aufzuheben. Wer also durch Glück bessergestellt wird, hat „Glück“ gehabt, wer hingegen durch Glück schlechter gestellt wurde, dessen „Pech“ soll ausgeglichen werden. Glück ist in der hier betrachteten Theorie definiert als der Ort, an dem ich für ein Resultat nicht verantwortlich bin. Wenn das so ist, muss Verantwortung selbst definiert werden, wofür insbesondere ein Vorschlag infrage kommt: X war nicht das Ergebnis meiner freien Entscheidung, und ich hätte X abgelehnt, wenn ich gekonnt hätte. Das bisher dargestellte gedankliche Gerüst ist mit drei unlösbaren Problemen verbunden, die es als Alternative zum Liberalismus disqualifizieren. Das erste Problem ist, dass der Luck Egalitarianism auf seiner Suche nach dem Glück niemals fündig wird. Es gibt keinen denkbaren Sachverhalt, der vollkommen frei von Glück ist. Die Tatsache, dass ich etwas überhaupt verantworten kann, ist Glück. Also gibt es kein Nicht-Glück. Die Gerechtigkeitsnorm ist deswegen nicht auf reale Beispiele anwendbar. Das zweite Problem liegt im theoretischen Gebot, dass unterschiedliche Talente bei selber Anstrengung zu denselben Ergebnissen führen sollen. Anstrengung und Glück (hier: Talent) lassen sich aber nicht auseinanderdividieren. Das dritte Problem ist, dass es gute Gründe gibt, Sonderfälle zuzulassen, in denen man trotz Glück zur Verantwortung zu ziehen ist. Ein Beispiel dafür ist, dass Mord härter bestraft wird als versuchter Mord, obwohl der Unterschied zwischen beiden Taten nichts als Glück gewesen sein kann. In Anbetracht der drei unlösbaren Probleme ist der Luck Egalitarianism sowie jede Theorie der Chancengleichheit unfähig, plausible Einwände gegen ein liberales Grundeinkommen zu liefern.
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