Griechenland-Imaginationen: Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen 9783110282979, 9783110282849

This study examines German-language travelogues about Greece written between 1908 and 1962. This is the first time that

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German Pages 473 [476] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Aufriss des Themas
2. Zu Methode und Gang der Untersuchung
3. Zur Forschungslage
I. Subjektivitätsentwürfe um 1900
1. Kontexte
1.1. Neue Reisemöglichkeiten
1.2. Der Wandel des Antikebildes
2. Auf der Suche nach einer neuen Antike
2.1. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908) als Gründungsdokument
2.1.1. Schreibweisen I: Auf der Suche »nach andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne«. Die Pilgerfahrt als voyage intérieur
2.1.2. Schreibweisen II: Intertertextuelles Reisen. Gerhart Hauptmann in den Spuren von Homer und Goethe
2.1.3. Beschriebenes I: Griechenland als nordische Hirtenwelt
2.1.4. Beschriebenes II: Blutopfer und Tragödie
2.1.4.1. Hauptmanns archaisierendes Griechenbild
2.1.4.2. Dramentheorie als visionäre Schau
2.1.4.3. Blutopfer oder Versöhnung? Hauptmanns Interpretation der Tragödie im Spiegel der Reiseliteratur
2.1.5. Autoritätsgewinn durch Reisen?
2.2. Programmatische Zurücknahme: Hugo von Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland. (1908-1917)
2.2.1. Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland als Erwiderung auf Hauptmanns Griechischen Frühling
2.2.2. Mystischer Dreischritt. Zur bedeutungsstiftenden Struktur von Hofmannsthals Text
2.2.3. Transzendentale Geborgenheit. Das Kloster des heiligen Lukas
2.2.4. Einsamkeit und Empathie. Der Wanderer
2.2.5. Tradition und Konstruktion. Die Statuen
2.2.5.1. »Unmögliche Antike«
2.2.5.2. Archaische Plastik und erhöhter Augenblick
2.2.6. Fazit
3. Zwischen Tradition und Innovation
3.1. »Landschaft ist Leidenschaft.« Josef Ponten: Griechische Landschaften (1914)
3.1.1. »Mit den Augen der Wissenschaft künstlerisch sehen«
3.1.2. Die Natur als Künstler. Anthropomorphisierung als Erzählprinzip
3.1.3. Landschaft und Geschichte
3.2. Klassizistische Zurücknahme. Isolde Kurz: Wandertage in Hellas (1913)
3.2.1. Weibliche Identitätskonstruktion
3.2.2. Bildungsbürgerliche Antike und klassizistischer Humanismus
3.2.3. »Glanz einer überirdischen Schönheitswelt«. Das sanfte Griechenland
II. »Aus dem zertrümmerten Europa nach Hellas kommend«. Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre
1. Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren
1.1. Reisen aus einem traumatisierten Land in ein traumatisiertes Land
1.2. Die Antike als Orientierung
1.3. Tendenzen der Texte
2. Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung
2.1. Skepsis und Utopie. Alfons Paquet: Delphische Wanderung (1922)
2.1.1. Deutsche Gegenwartsdiagnose
2.1.2. Verbrüderung im Leid. Deutschland und Griechenland
2.1.3. Ein neues Delphi. Die Funktion der Antike
2.2. Satirische Distanzierung. Victor Auburtin: Nach Delphi (1924) (mit einem Seitenblick auf Wilhelm II.)
2.3. Nüchterne Analyse. Bernhard Guttmann: Tage in Hellas (1924)
2.4. Protofaschistische Mythisierung. Josef Magnus Wehner: Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise (1930)
2.5. Tendenzen: Rationalisierung, Ironisierung und Ideologisierung
3. Mythische Gegenwelten
3.1. Theodor Däublers kosmischer Weltentwurf
3.1.1. Der Autor als Projektionsfläche
3.1.2. Zwischen Nordlicht und Delos. Däublers Weltsicht
3.1.3. Däublers Reiseessays zwischen Mythisierung und Selbstironie
3.2. Klosterwelten. Neumystische Konstrukte bei Theodor Däubler und Franz Spunda
3.2.1. »Der Athos ragt in die Welt«. Theodor Däubler: Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III (1923)
3.2.2. Voyeurismus und Allerheiligstes. Franz Spunda: Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende (1928)
3.3. »Die Geister der Tantaliden umstreichen ihre alte Burg.« Der Reisebericht zwischen esoterischem Traktat und Schauerroman
3.3.1. Okkultismus und Antike
3.3.2. Franz Carl Endres: Griechenland als Erlebnis (1929) und Franz Spunda: Griechische Reise (1926)
4. Auf der »kapitalistischen Lustbarke« oder zu Fuß. Spielarten des Reisens
4.1. Beschleunigung und Antike. Orrie Müller: Wege nach Hellas (1928) und Thomas Mann: Unterwegs (1925)
4.2. Programmatische Verlangsamung: Jugendgruppen in Griechenland. ›Die Fischer‹: Hellas. Tagebuch einer Reise (1929)
III. Griechenland-Reiseberichte 1933-1945
1. Voraussetzungen
1.1. Kontinuitäten und Umbrüche nach 1933
1.2. »Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen hinweisen.« Griechenland-Bilder im Dritten Reich
1.3. »... das Volk der Hellenen ist für alle Zeiten gestorben.« Die Sicht auf die modernen Griechen
1.4. Diktatur und Reiseliteratur
2. Reiseberichte über Griechenland vor Kriegsausbruch
2.1. Nachfolgerschaft. Die Olympischen Spiele 1936 im Spiegel der Reiseliteratur (Carl Diem)
2.1.1. Staatstotalität, Sport und Wehrertüchtigung. Carl Diems Olympische Reise (1937) im Kontext des zeitgenössischen Sparta-Diskurses
2.1.2. »Wir werden ihrem Vermächtnis gerecht, wenn wir so deutsch sind, wie wir nur können.« Archäologie und Führungsanspruch
2.2. Technikkult und Antike. Im Auto nach Griechenland
2.2.1. Abenteuerliche Propagandafahrt. Carl T. Wiskott: Griechenland im Auto erlebt (1936)
2.2.2. Technikrausch. Heinrich Hauser: Süd-Ost-Europa ist erwacht (1938)
2.3. Konservative Kultur- und Zivilisationskritik: Stefan Andres, Ernst Wilhelm Eschmann, Friedrich Georg Jünger
2.3.1. Konservative Zivilisationskritik. Ernst Wilhelm Eschmann: Griechisches Tagebuch (1936)
2.3.2. ». im Unglück eine Zufluchtsstätte«. Kulturkritik mit regimekritischen Untertönen. Stefan Andres: Sprache des Temenos (1935)
2.3.3. Flucht in die Idylle? Friedrich Georg Jünger: Wanderungen auf Rhodos (1943)
2.3.4. Fazit
2.4. Der Reisebericht als Medium rassistischer Agitation. Franz Spunda
3. »Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg
3.1. Griechenland im Zweiten Weltkrieg
3.2. Krieg als Tourismus. Reiseberichte von Soldaten (G. J. Graf: Wir marschieren gegen Griechenland [1942])
3.3. Propaganda und Flucht in die Idylle. Erhart Kästner: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942)
3.3.1. »Es wehte homerische Luft«. Die Stilisierung der Besatzer
3.3.2. »Natürlich ist blutmäßig von den alten Griechen verdammt wenig oder nichts übrig geblieben«. Kästners Sicht auf die modernen Griechen
3.3.3. »... eine kleine verspätete Nachwehe zum Griechischen Frühling«. Erhart Kästner und Gerhart Hauptmann
3.3.4. »Welt über der Welt«. Kästners literarische Kalligraphie
4. Die Selbstüberwindung des Philhellenismus
IV. Kontinuitäten, Brüche, Versuche des Neubeginns. Reiseberichte über Griechenland nach 1945
1. Kontexte
1.1. Rückkehr nach Hellas
1.2. Antike und Nachkriegszeit
2. Philosophische und religiöse Meditationen
2.1. Mythisierung der Geschichte. Erhart Kästners Griechenland-Buch Ölberge, Weinberge (1953)
2.1.1. »Ausstieg aus der Zeit«. Kontemplative Hinwendung zu den Dingen
2.1.2. Christentum und Antike. Kästners theologische Überlegungen
2.1.3. Mythos und Geschichte. Kästners harmonisierende Vergangenheitsbewältigung
2.2. »Zwar lebe ich in den denkend-dichtenden Zwiesprachen immer dort ...«. Martin Heideggers Aufenthalte (1962)
2.2.1. Modernekritik auf den Spuren Hölderlins
2.2.2. Aufenthalt und Tourismus
3. Rationalisierung und Skepsis
3.1. Forcierte Traditionsstiftung. Walter Jens’ Reisebericht. Die Götter sind sterblich (1959)
3.1.1. »Fahrt in die Tiefe der Zeit«. Walter Jens’ Griechenland-Wahrnehmung zwischen Mythisierung und Zeitgeschichte
3.1.2. Walter Jens’ didaktische Mythenvariation
3.1.3. ». die einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können«. Die Bedeutung des Mythos für die Moderne
3.2. Skeptischer Abgesang. Wolfgang Koeppen: Die Erben von Salamis (1962)
3.2.1. »Der Augenblick ist seltsam glanzlos.« Griechenland als Ort der Abwesenheit
3.2.2. »Venus könnte aus dem Meer steigen.« Der Mythos als Möglichkeit in der Großstadt
3.2.3. »... allenfalls hundert Jahre Gnade und Glück und Genie«. Die Bedeutung des antiken Athen
3.2.4. »Es war aber kein Mond zu sehen.« Tourismus und Entzauberung
3.2.5. Auf der Suche nach Dionysos. Versöhnliche Zurücknahme im zweiten Teil des Radioessays
V. Epilog: Idealisierung und Ideologisierung
VI. Literaturverzeichnis
1. Quellen
1.1. Reiseberichte über Griechenland
1.2. Sonstige Quellen
2. Forschungsliteratur
VII. Personenregister
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Griechenland-Imaginationen: Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen
 9783110282979, 9783110282849

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Christopher Meid Griechenland-Imaginationen linguae & litterae

15

linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies

Edited by

Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Aniela Knoblich

15

De Gruyter

Christopher Meid

Griechenland-Imaginationen Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen

De Gruyter

Die vorliegende Untersuchung wurde 2011 mit dem Forschungspreis der FRIAS School of Language & Literature ausgezeichnet.

ISBN 978-3-11-028284-9 e-ISBN 978-3-11-028297-9 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

V

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufriss des Themas . . . . . . . . . . . 2. Zu Methode und Gang der Untersuchung 3. Zur Forschungslage . . . . . . . . . . .

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Neue Reisemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Der Wandel des Antikebildes . . . . . . . . . . . . 2. Auf der Suche nach einer neuen Antike . . . . . . . . . . . 2.1. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908) als Gründungsdokument . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Schreibweisen I: Auf der Suche »nach andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne«. Die Pilgerfahrt als voyage intérieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Schreibweisen II: Intertertextuelles Reisen. Gerhart Hauptmann in den Spuren von Homer und Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Beschriebenes I: Griechenland als nordische Hirtenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Beschriebenes II: Blutopfer und Tragödie . . . . . 2.1.4.1. Hauptmanns archaisierendes Griechenbild . . . . . 2.1.4.2. Dramentheorie als visionäre Schau . . . . . . . . . 2.1.4.3. Blutopfer oder Versöhnung? Hauptmanns Interpretation der Tragödie im Spiegel der Reiseliteratur . . . . . . . . . . . . . 2.1.5. Autoritätsgewinn durch Reisen? . . . . . . . . . . . 2.2. Programmatische Zurücknahme: Hugo von Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland (1908–1917) . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland als Erwiderung auf Hauptmanns Griechischen Frühling . . 2.2.2. Mystischer Dreischritt. Zur bedeutungsstiftenden Struktur von Hofmannsthals Text . . . . . . . . .

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VI

Inhaltsverzeichnis

2.2.3.

Transzendentale Geborgenheit. Das Kloster des heiligen Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Einsamkeit und Empathie. Der Wanderer . . . . . . . 2.2.5. Tradition und Konstruktion. Die Statuen . . . . . . . 2.2.5.1. »Unmögliche Antike« . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5.2. Archaische Plastik und erhöhter Augenblick . . . . . 2.2.6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischen Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . . 3.1. »Landschaft ist Leidenschaft.« Josef Ponten: Griechische Landschaften (1914) 120 . . . . . . . . . . . 3.1.1. »Mit den Augen der Wissenschaft künstlerisch sehen« 3.1.2. Die Natur als Künstler. Anthropomorphisierung als Erzählprinzip 124 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Landschaft und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Klassizistische Zurücknahme. Isolde Kurz: Wandertage in Hellas (1913) 129 . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Weibliche Identitätskonstruktion . . . . . . . . . . . 3.2.2. Bildungsbürgerliche Antike und klassizistischer Humanismus . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. »Glanz einer überirdischen Schönheitswelt«. Das sanfte Griechenland . . . . . . . . . . . . . . .

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II. »Aus dem zertrümmerten Europa nach Hellas kommend«. Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre . . . . . . . . 139 1. Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Reisen aus einem traumatisierten Land in ein traumatisiertes Land . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Antike als Orientierung . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Tendenzen der Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung . . . . . . 2.1. Skepsis und Utopie. Alfons Paquet: Delphische Wanderung (1922) . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Deutsche Gegenwartsdiagnose . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Verbrüderung im Leid. Deutschland und Griechenland 2.1.3. Ein neues Delphi. Die Funktion der Antike . . . . . 2.2. Satirische Distanzierung. Victor Auburtin: Nach Delphi (1924) (mit einem Seitenblick auf Wilhelm II.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139 140 142 145 147 148 149 152 155

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Inhaltsverzeichnis

Nüchterne Analyse. Bernhard Guttmann: Tage in Hellas (1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Protofaschistische Mythisierung. Josef Magnus Wehner: Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise (1930) . . . . . . . . . 2.5. Tendenzen: Rationalisierung, Ironisierung und Ideologisierung 188 . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mythische Gegenwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Theodor Däublers kosmischer Weltentwurf . . . . 3.1.1. Der Autor als Projektionsfläche . . . . . . . . . . . 3.1.2. Zwischen Nordlicht und Delos. Däublers Weltsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Däublers Reiseessays zwischen Mythisierung und Selbstironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Klosterwelten. Neumystische Konstrukte bei Theodor Däubler und Franz Spunda . . . . . . . . 3.2.1. »Der Athos ragt in die Welt«. Theodor Däubler: Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III (1923) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Voyeurismus und Allerheiligstes. Franz Spunda: Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende (1928) . 3.3. »Die Geister der Tantaliden umstreichen ihre alte Burg.« Der Reisebericht zwischen esoterischem Traktat und Schauerroman . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Okkultismus und Antike . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Franz Carl Endres: Griechenland als Erlebnis (1929) und Franz Spunda: Griechische Reise (1926) . . . . . . 4. Auf der »kapitalistischen Lustbarke« oder zu Fuß. Spielarten des Reisens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Beschleunigung und Antike. Orrie Müller: Wege nach Hellas (1928) und Thomas Mann: Unterwegs (1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Programmatische Verlangsamung: Jugendgruppen in Griechenland. ›Die Fischer‹: Hellas. Tagebuch einer Reise (1929) . . . . . . . . . . . . . .

VII

2.3.

. 169

. 177 . . 189 . 190 . 190 . 194 . 197 . 201

. 203 . 207

. 213 . 213 . 216 . 231

. 231

. 241

III. Griechenland-Reiseberichte 1933–1945 . . . . . . . . . . . 255 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1.1. Kontinuitäten und Umbrüche nach 1933 . . . . . . . 255

VIII

Inhaltsverzeichnis

1.2.

»Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen hinweisen.« Griechenland-Bilder im Dritten Reich . . . . . . . . 1.3. »… das Volk der Hellenen ist für alle Zeiten gestorben.« Die Sicht auf die modernen Griechen . . 1.4. Diktatur und Reiseliteratur . . . . . . . . . . . . . . 2. Reiseberichte über Griechenland vor Kriegsausbruch . . . . . 2.1. Nachfolgerschaft. Die Olympischen Spiele 1936 im Spiegel der Reiseliteratur (Carl Diem) . . . . . . . 2.1.1. Staatstotalität, Sport und Wehrertüchtigung. Carl Diems Olympische Reise (1937) im Kontext des zeitgenössischen Sparta-Diskurses . . . . . . . . 2.1.2. »Wir werden ihrem Vermächtnis gerecht, wenn wir so deutsch sind, wie wir nur können.« Archäologie und Führungsanspruch . . . . . . . . . 2.2. Technikkult und Antike. Im Auto nach Griechenland 2.2.1. Abenteuerliche Propagandafahrt. Carl T. Wiskott: Griechenland im Auto erlebt (1936) . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Technikrausch. Heinrich Hauser: Süd-Ost-Europa ist erwacht (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Konservative Kultur- und Zivilisationskritik: Stefan Andres, Ernst Wilhelm Eschmann, Friedrich Georg Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Konservative Zivilisationskritik. Ernst Wilhelm Eschmann: Griechisches Tagebuch (1936) . . . . . . . . 2.3.2. »… im Unglück eine Zufluchtsstätte«. Kulturkritik mit regimekritischen Untertönen. Stefan Andres: Sprache des Temenos (1935) . . . . . . . 2.3.3. Flucht in die Idylle? Friedrich Georg Jünger: Wanderungen auf Rhodos (1943) . . . . . . . . . . . . . 2.3.4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Der Reisebericht als Medium rassistischer Agitation. Franz Spunda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Griechenland im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . 3.2. Krieg als Tourismus. Reiseberichte von Soldaten (G. J. Graf: Wir marschieren gegen Griechenland [1942]) . 3.3. Propaganda und Flucht in die Idylle. Erhart Kästner: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942) . . . . . .

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299 304 310 310 319 320 324 326

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Inhaltsverzeichnis

3.3.1.

»Es wehte homerische Luft«. Die Stilisierung der Besatzer . . . . . . . . . . 3.3.2. »Natürlich ist blutmäßig von den alten Griechen verdammt wenig oder nichts übrig geblieben«. Kästners Sicht auf die modernen Griechen . . . 3.3.3. »… eine kleine verspätete Nachwehe zum Griechischen Frühling«. Erhart Kästner und Gerhart Hauptmann . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. »Welt über der Welt«. Kästners literarische Kalligraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Selbstüberwindung des Philhellenismus . . . . . . .

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. . . 334

. . . 338 . . . 341 . . . 345

IV. Kontinuitäten, Brüche, Versuche des Neubeginns. Reiseberichte über Griechenland nach 1945 . . . . . . . . 347 1. Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Rückkehr nach Hellas . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Antike und Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . 2. Philosophische und religiöse Meditationen . . . . . . . . . . 2.1. Mythisierung der Geschichte. Erhart Kästners Griechenland-Buch Ölberge, Weinberge (1953) . . . . . 2.1.1. »Ausstieg aus der Zeit«. Kontemplative Hinwendung zu den Dingen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Christentum und Antike. Kästners theologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Mythos und Geschichte. Kästners harmonisierende Vergangenheitsbewältigung . . . . . . . . . . . . . . 2.2. »Zwar lebe ich in den denkend-dichtenden Zwiesprachen immer dort …«. Martin Heideggers Aufenthalte (1962) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Modernekritik auf den Spuren Hölderlins . . . . . . 2.2.2. Aufenthalt und Tourismus . . . . . . . . . . . . . . 3. Rationalisierung und Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Forcierte Traditionsstiftung. Walter Jens’ Reisebericht Die Götter sind sterblich (1959) . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. »Fahrt in die Tiefe der Zeit«. Walter Jens’ Griechenland-Wahrnehmung zwischen Mythisierung und Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Walter Jens’ didaktische Mythenvariation . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

3.1.3.

3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.5.

V.

»… die einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können«. Die Bedeutung des Mythos für die Moderne . . . . Skeptischer Abgesang. Wolfgang Koeppen: Die Erben von Salamis (1962) . . . . . . . . . . . . . »Der Augenblick ist seltsam glanzlos.« Griechenland als Ort der Abwesenheit . . . . . . . . . . . . . . . »Venus könnte aus dem Meer steigen.« Der Mythos als Möglichkeit in der Großstadt . . . »… allenfalls hundert Jahre Gnade und Glück und Genie«. Die Bedeutung des antiken Athen . . . . . »Es war aber kein Mond zu sehen.« Tourismus und Entzauberung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Suche nach Dionysos. Versöhnliche Zurücknahme im zweiten Teil des Radioessays . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 401 . 405 . 407 . 410 . 415 . 418

. 420

Epilog: Idealisierung und Ideologisierung . . . . . . . . . . 427

VI. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Reiseberichte über Griechenland 1.2. Sonstige Quellen . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . .

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VII. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

Vorwort

Diese Studie wurde im Herbst 2010 von der Philologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Werner Frick, der die Arbeit wesentlich angeregt und ihre Entstehung mit großer Teilnahme begleitet hat. Wichtige Anregungen verdanke ich Prof. Dr. Bernhard Zimmermann und Prof. Dr. Dieter Martin, die Zweit- und Drittgutachten übernommen haben. Die fruchtbaren Diskussionen im Doktorandenkolloquium von Prof. Frick und in den Veranstaltungen des Promotionskollegs »Geschichte und Erzählen« haben mir die Arbeit wesentlich erleichtert – wie auch das mit der Aufnahme in das Promotionskolleg verbundene Stipendium. Für Unterstützung bei der Korrektur des Manuskripts danke ich Letizia Malottke und Aniela Knoblich. Meine Eltern Marianne und Volker Meid haben mich immer unterstützt und ermutigt. Danke dafür und für vieles mehr! Simone Renner hat meine Ausflüge in ein geistiges Griechenland ertragen und zugleich meine Rückkehr in konkretere Gebiete wünschenswert gemacht. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Freiburg, im Februar 2012

Christopher Meid

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Inhaltsverzeichnis

Aufriss des Themas

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Einleitung

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Aufriss des Themas

Sehnsuchtsland, Land der Antike, Ursprung der westlichen Kultur – Griechenland dient von jeher als kultureller Projektionsraum. Künstlerische und literarische Annäherungen an das antike und das moderne Hellas nehmen einen wesentlichen Raum in der westlichen Kulturgeschichte ein. Diese Arbeit untersucht deutschsprachige Reiseberichte über Griechenland aus dem Zeitraum von 1908 bis 1962 und nimmt damit einen von der Forschung bislang vernachlässigten zentralen Aspekt des Griechenland-Diskurses in den Blick. Zwei Gesichtspunkte sind für die Untersuchung von besonderer Bedeutung: Zunächst geht es darum, erstmals einen wesentlichen Bestandteil des deutschen Schreibens über Griechenland zugänglich zu machen und diesen in übergreifenden Strömungen zu verorten. Darüber hinaus wird in textnahen Analysen zu zeigen sein, wie die Autoren das Verhältnis von Antike und Gegenwart gestalten und wie Verfahren der Projektion dazu genutzt werden, unterschiedliche subjektive Griechenland-Bilder zu konstruieren. Diesen Analysen liegt die These zugrunde, dass Griechenland bis weit ins 20. Jahrhundert als ein zentraler, teilweise hoch ideologisierter Projektionsraum für die deutsche Identitätsfindung und -konstruktion dient. Dabei kommt gerade der Reiseliteratur eine besondere Bedeutung zu, ermöglicht sie doch Strategien der Authentisierung und Beglaubigung, die anderen Zeugnissen des philhellenischen Schreibens in dieser Form nicht möglich sind. Die Reise nach Griechenland ist von allen Reisen, die wir unternehmen, die geistigste. […] Es ist eine geistige Pilgerschaft, die wir unternommen hatten, und wir hatten vergessen, daß diese Landschaft einen anderen Duft aushauchen könnte, als den der Erinnerungen.1

Für Hugo von Hofmannsthal unterscheidet sich die Reise nach Griechenland von anderen Reisen durch ihre dezidiert geistige Ausrichtung. Sie gewinnt in seiner Sicht geradezu religiöse Bedeutung. Zur Pilgerfahrt kann diese Reise deshalb werden, weil sie nicht der griechischen Gegenwart, sondern einer Vergangenheit gilt, die mit »Erinnerungen« verbunden ist. Hof1

Hugo von Hofmannsthal, »Griechenland«, in: Ders., Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt am Main 1979, S. 629–640, hier S. 629.

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Einleitung

mannsthal entwickelt also ein Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit des bereisten Landes und seiner sinnlich erfahrbaren Gegenwart. Die Begegnung mit einem »anderen Duft« kann auch verstörend wirken.2 Diese Antike – besser gesagt: die Vielzahl konkurrierender Antikebilder – ist für deutsche Reisende von großer Bedeutung. Bekanntlich kommt in der deutschen Kulturgeschichte dem Bezug auf Griechenland besonderes Gewicht zu.3 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weist dieses Verhältnis Züge einer Ersatzreligion auf. So formuliert etwa Wilhelm von Humboldt, gerade die Deutschen seien in der Lage, den Geist der griechischen Kultur zu verstehen.4 Das antike Griechenland ist also einer der wichtigen deutschen Erinnerungsorte, ein Bezugsraum, der sowohl für politische als auch für ästhetische Fragestellungen von großer Bedeutsamkeit ist.5 Der Kontext der Befreiungskriege und des europäischen Philhellenismus verstärkt dieses Ge-

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Vgl. Sigmund Freud, »Brief an Romain Rolland (Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis)«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt am Main 1950, S. 250–257. Freud schildert in dem 1936 entstandenen Text ein Reiseerlebnis aus dem Jahr 1904. Auf der Akropolis verhindert eine Entfremdungserfahrung den Genuss der klassischen Stätte. Vgl. Manfred Fuhrmann, »Die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Nationalismus und die Deutsche Klassik«, in: Bernhard Fabian u. a. (Hrsg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert; 2/3), S. 49–67; Manfred Landfester, »Griechen und Deutsche: Der Mythos einer ›Wahlverwandtschaft‹«, in: Helmut Berding (Hrsg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3, Frankfurt am Main 1996, S. 198–219. Vgl. Wilhelm von Humboldt, »Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten [1807]«, in: Ders., Werke, hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. II, S. 73–124, bes. S. 87: »Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die Griechische Bildung zuerst treu aufgefasst, und tief gefühlt zu haben; zugleich aber lag in ihrer Sprache schon vorgebildet das geheimnisvolle Mittel da ihren wohltätigen Einfluss weit über den Kreis der Gelehrten hinaus auf einen beträchtlichen Theil der Nation verbreiten zu können. Andre Nationen sind hierin nie gleich glücklich gewesen, oder wenigstens haben ihre Vertraulichkeit mit den Griechen weder in Commentaren, noch Uebersetzungen, noch Nachahmungen, noch endlich (worauf es am meisten ankommt) in dem übergegangenen Geiste des Alterthums auf ähnliche Art bewiesen. Deutsche knüpft daher seitdem ein ungleich festeres und engeres Band an die Griechen, als an irgend eine andere, auch bei weitem näher liegende Zeit oder Nation.« Vgl. zu der Terminologie Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Auflage, München 2007. – Vgl. Manfred Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988.

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fühl,6 führt aber letztlich dazu, dass der emphatische Bezug auf Griechenland abnimmt: Die Enttäuschungserfahrungen angesichts der Realität eines orientalischen Landes, das kaum den klassizistischen Idealvorstellungen entspricht, trägt dazu bei, den Griechenkult zu schwächen. Auch das Erziehungssystem ist an dieser Entwicklung beteiligt, musealisiert es doch die Bestände der griechischen Kultur und rückt diese so in die Ferne.7 Umso mehr gewinnt die Reise an Bedeutung, da sie einen neuen lebendigen Zugang zu der Tradition herstellen soll. Wenn Hugo von Hofmannsthal die Charakteristika der »geistige[n] Pilgerschaft« herausstellt, dann geschieht dies zu einem Zeitpunkt, als Reisen nach Griechenland trotz aller Unannehmlichkeiten nicht mehr den Nimbus des Außergewöhnlichen besitzen: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herrscht unter Künstlern und Intellektuellen ein verstärktes Interesse an Reisen nach Griechenland. Innerhalb eines Jahrzehnts reisen Richard Strauss, Sigmund Freud, Hermann Bahr, Henry van de Velde, Gerhart Hauptmann, Ludwig von Hofmann, Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal nach Griechenland.8 Auch in den folgenden Jahrzehnten bleibt Griechenland ein beliebtes Reiseziel; Die Reiseberichte, die in Zeitungen und in Buchform erscheinen, erreichen ein großes Publikum. Wiederum ist es Hugo von Hofmannsthal, der prägnant den besonderen Status erläutert, den die Antike insbesondere für Reisende aus dem deutschsprachigen Kulturkreis besitze:

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Vgl. zum Philhellenismus Robert F. Arnold, »Der deutsche Philhellenismus. Kultur- und literarhistorische Untersuchungen«, in: Euphorion. Ergänzungsheft 2 (1896), S. 71–181; Michel Espagne (Hrsg.), Revue Germanistique Internationale 1–2 (2005): Philhellénismes et transferts culturels dans l’Europe du XIX siècle, Paris 2005; Alfred Noe (Hrsg.), Der Philhellenismus in der westeuropäischen Literatur 1780–1830, Amsterdam/Atlanta 1994; Evangelos Konstantinou (Hrsg.), Das Bild Griechenlands im Spiegel der Völker (17. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main u. a. 2008; Ders. (Hrsg.), Ausdrucksformen des europäischen und internationalen Philhellenismus vom 17.–19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 2007. – Äußerst wichtig ist die Studie von Suzanne L. Marchand, Down from Olympus. Archaeology and Philhellenism in Germany, 1750–1970, Princeton 1996. Vgl. Landfester, »Griechen und Deutsche«, S. 214: Der »Griechenmythos [wurde] durch die Quasiinstitutionalisierung schnell in einer beinahe geschäftsmäßigen Weise abgehandelt«. Dass die kultisch verehrte Kaiserin Elisabeth von Österreich auf Korfu die Sommermonate verbringt, mag die Anziehungskraft steigern; ob dies auch für Wilhelm II. gilt, der nach ›Sissis‹ Tod das Achilleion übernahm (und die Heine-Statue entfernen ließ), scheint zweifelhaft.

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Einleitung Betrachtet man die Wielandsche Auffassung der Antike und die Nietzschesche nebeneinander, ebenso die von Winckelmann und von Jacob Burckhardt, so erkennt man, daß wir etwa noch mehr als die andern Nationen die Antike als einen magischen Spiegel behandeln, aus dem wir unsere eigene Gestalt in fremder, gereinigter Erscheinung zu empfangen hoffen.9

Das Zitat enthält Gedanken, die hilfreich sind, um die Mechanismen des Schreibens über Griechenland zu verstehen. Zunächst deutet die Metapher des Spiegels an, dass in der Moderne die Erkundung des Reiselandes zumeist mit der Erfahrung der Subjektivität des Reisenden einhergeht.10 Darüber hinaus zeigt sie, wie die Wahrnehmung der griechischen Antike auf die Selbstwahrnehmung des Rezipienten rückwirkt. Das Verhältnis zwischen Antike und modernem Reisenden erschöpft sich also nicht in der Projektion seines Vorwissens oder seiner Wunschvorstellungen, sondern zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es infolge dieser Spiegelung zu einer Veränderung des Selbstbilds kommt: Schließlich bedeutet der Blick in den Spiegel immer auch, dass sich der Betrachter zugleich sowohl als Subjekt als auch als Objekt erfährt.11 Hofmannsthal schreibt der Antike emphatisch eine kathartische Wirkung zu, wenn er ihre reinigende Funktion hervorhebt. Zugleich betont er die Fremdheit des Spiegelbilds und thematisiert so implizit das nicht eben geringe Irritationspotential des Spiegels.12 Hofmannsthal deutet zumindest an, daß der Spiegel nicht nur integrative Modelle stiftet. Er birgt auch, gegenwärtig gehalten durch die ständige Gefahr der Trübung, gar des Zerbrechens, die Möglichkeit der bis zur Dysfunktionalität steigerbaren Komplexitätszunahme des einfachen Spiegelarrangements.13

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Hugo von Hofmannsthal, »Buch der Freunde«, in: Ders., Reden und Aufsätze III. 1925–1929, Frankfurt am Main 1979, S. 233–299, hier S. 265. Vgl. Ralf Konersmann, Lebendiger Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt am Main 1991, S. 10: »Das späte Aufkommen des Begriffs [Subjektivität] wurde auf literarischer Seite durch eine auffällige Häufung von Spiegelszenarien begleitet.« Ebd., S. 33: »Der Spiegel stellt vielmehr das Modell bereit, in dem Subjektivität vorzüglich in Worte gefaßt wird, und in dieser privilegierten Position steht der Spiegel ersatzlos da.« Vgl. Paul Michel/Cornelia Rizek-Pfister, »Physik, Trug, Zauber und Symbolik des Spiegels«, in: Paul Michel (Hrsg.), Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels, Zürich 2003 (Beiträge zur Symbolforschung; 14), S. 1–57, hier S. 11. Vgl. Konersmann, Lebendiger Spiegel, S. 25: »Das Subjekt begegnet sich im Modus der Differenz, und nun stellt sich die Frage nach der Verbindung, die die geforderte Einheit des Subjekts mit dieser Differenz von Subjekt und Objekt versöhnt, die es doch zugleich auch übergreift.« Ebd., S. 37.

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Wenn Hofmannsthal harmonisierend gerade die therapeutische und verklärende Wirkung der Antike auf das Individuum hervorhebt, so ist dies aus der Wirkung einer spezifisch deutschen Tradition zu verstehen, die der Autor explizit anspricht. Gerade die griechische Antike ist insbesondere für Deutsche immer noch ein bedeutender Projektionsraum, eben weil die Diversifizierung des Antikebilds seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Herangehensweisen mit sich bringt und auf diese Weise der eher statische klassizistische Antikekult dynamisiert wird. Diese Vorstellung einer Sonderbeziehung zwischen griechischem und deutschem Geist gehört, wie bereits erwähnt, spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu den Grundfesten des Selbstverständnisses der gebildeten Schichten.14 Die Germanistin E. M. Butler spricht aus ideologiekritischer Perspektive sogar von einer »Tyranny of Greece over Germany«.15 In aphoristischer Verknappung weist Hofmannsthal auf den Projektionscharakter dieser Bedeutungszuschreibung hin. Zugleich stellt er ihren höchst subjektiven Charakter heraus: Es geht nicht nur um die Antike, sondern mindestens ebenso sehr um die (geradezu kathartische) Erfahrung der eigenen Subjektivität angesichts der Tradition. Die zahlreichen vielgelesenen Reiseberichte über Griechenland bilden einen wesentlichen Teil des zeitgenössischen Griechenland-Diskurses.16 Aber auch über die Teilhabe an diesem Zusammenhang hinaus sind sie als künstlerische Dokumente von Belang, handelt es sich doch um die ersten Versuche, ausgehend von einem dezidiert modernen Standpunkt das Verhältnis zu Griechenland zu bestimmen. Dabei können die Autoren bereits auf eine lange Tradition deutschen Schreibens über Griechenland zurück14

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Auf den religiösen Charakter des Griechenkults hat bereits Walter Rehm hingewiesen: Vgl. Ders., Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, S. 14: »Daß nun überhaupt das Griechentum für den deutschen Menschen eine bemessene Zeit hindurch zur Religion wurde, zumindest zu einer Art von Ersatzreligion, ist durchaus nichts Vereinzeltes: einen geschichtlichen Raum ins Unbedingte zu setzen, darf man vielmehr als bestimmendes Kennzeichen der Neuzeit ansprechen.« Vgl. E. M. Butler, The Tyranny of Greece over Germany, 2. Auflage, Cambridge 1958. Vgl. zu den Reisen des 18. und 19. Jahrhunderts: Hans-Joachim Gehrke, Auf der Suche nach dem Land der Griechen, Heidelberg 2003 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; 29); Ernst Osterkamp, »Auf dem Weg in die Idealität. Altertumskundliche Reisen zur Zeit des Greek Revival«, in: Hermann Bausinger u. a. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 186–193; Editha Wolf-Crome (Hrsg.), Zwischen Olymp und Acheron. Berichte und Dokumente aus der griechischen Welt von deutschen Reisenden des 19. Jahrhunderts, Zürich/Freiburg i. Br. 1971.

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Einleitung

blicken. Ihre Texte sind als Versuche zu lesen, das durch die Institutionalisierung eines sterilen Antikekults eher erschwerte Verhältnis zu dem Ursprungsland der westlichen Kultur durch eigene Anschauung wiederzubeleben und zu verinnerlichen. Zugleich sind eben diese Traditionen dafür verantwortlich, dass Griechenland als Reiseziel ausgewählt wird: Anlass für die Reise nach Griechenland ist zumeist die griechische Antike, die Gegenwart des bereisten Landes ist für die überwiegende Zahl der Autoren von sekundärer Bedeutung. Die Periodisierung und Fokussierung auf Texte aus dem Zeitraum von 1908 bis 1962 – von Gerhart Hauptmanns Reisebericht Griechischer Frühling bis zu Wolfgang Koeppens Essay Die Erben von Salamis – erfolgt aus mehreren Gründen. Nicht nur erlauben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die verbesserten äußeren Reisebedingungen erstmals eine vermehrte Reisetätigkeit in das touristisch vergleichsweise wenig erschlossene Griechenland, auch die Vorstellungen von der griechischen Antike haben sich unter dem Einfluss von Nietzsche grundlegend geändert: Das bis dahin auch in der Reiseliteratur vorherrschende klassizistische Paradigma wird nun zunehmend in Frage gestellt. Vorstellungen einer dionysischen, vitalen Antike dominieren von nun an die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem alten Griechenland, auch wenn klassizistische Strömungen weiterhin ihre Wirkung entfalten. Ohne die Wandlungen des Antikebilds im 19. Jahrhundert wäre die erneute Hinwendung zur griechischen Antike um die Jahrhundertwende nicht zu verstehen. Insbesondere Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie (1872) und der darin entwickelte Entwurf einer dionysischen Antike geben entscheidende Impulse. Die Reisenden der Jahrhundertwende sind also von unterschiedlichen Traditionen geprägt: Einerseits üben die Vorstellungen Winckelmanns, Kennzeichen der griechischen Kunst sei »eine edle Einfalt, und eine stille Größe«,17 nach wie vor ihre Wirkung aus, andererseits geht von Nietzsches Umdeutung der griechischen Antike eine große Faszination aus. Die Reise nach Griechenland wird vor diesem Hintergrund auch zu einer Suche nach einer authentischen Antike-Erfahrung: Viele Reiseberichte erheben den Anspruch, das neue Bild der Antike vor Ort nachzuvollziehen. Doch nicht nur inhaltlich, auch formal und ästhetisch lässt sich innerhalb der Reiseliteratur eine Modernisierung beobachten, an der gerade die Texte

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Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hrsg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 2003, S. 20.

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über Griechenland beteiligt sind.18 Die Abkehr von der reinen Faktenbeschreibung hin zu einer Transzendierung der empirisch erfahrbaren Realität ist symptomatisch für die Reiseliteratur der Moderne. Der Reisebericht wird in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oftmals zum Dokument einer voyage intérieur.19 Neue Schreibweisen zeigen, dass die Gattung des Reiseberichts immer weniger als Medium der Wissensvermittlung verstanden wird. Der Endpunkt dieser Entwicklung liegt nach dem Zweiten Weltkrieg: Der ästhetische Philhellenismus wird nach seiner Instrumentalisierung im Dritten Reich und der erwiesenen Wirkungslosigkeit des humanistischen Gedankenguts fragwürdig. Gerade die Texte über Griechenland-Reisen markieren deutlich, wie in den 1950er Jahren diese Tradition an Bedeutung verliert, ja obsolet wird. Erhart Kästners eskapistisches Festhalten an Hauptmann’schen Paradigmen (und Schreibweisen) zeigt dies ebenso wie Wolfgang Koeppens Dekonstruktion des Griechenland-Ideals. Gleichzeitig verliert Griechenland als Reiseziel zwar nicht an Bedeutung, aber die Motivation der Reisenden ändert sich: Der Kultururlaub wird vielfach durch den Badeurlaub verdrängt, der kaum zu literarischen Verarbeitungen und emphatischen Bedeutungszuschreibungen einlädt. Zugleich trägt der beginnende Massentourismus dazu bei, die Gattung des Reiseberichts (zumindest für einige Jahrzehnte) zu marginalisieren.20 Diese Entwicklung wird hier erstmals aufgearbeitet und in ihren Zusammenhängen verortet. Von ungleich größerer Bedeutung jedoch ist die Diskussion 18

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Vgl. Heinz Piontek, »Thema Reisen. Neue deutsche Reiseprosa. Analysen und Beispiele«, in: Ders., Das Handwerk des Lesens. Erfahrungen mit Büchern und Autoren, München 1979, S. 244–267, bes. S. 247: »Ihn [den Text von Hofmannsthal] könnte man als einen der Ausgangspunkte der neuen Reiseprosa bezeichnen.« Vgl. ebd., S. 246. Vgl. Herbert Jost, »Selbst-Verwirklichungen und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus«, in: Peter J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (suhrkamp taschenbuch materialien), Frankfurt am Main 1989, S. 490–507. In den letzten Jahren lässt sich ein wiederauflebendes Interesse an Reiseberichten beobachten; bezeichnenderweise liegen die beschriebenen Ziele vor allem in der vermeintlich bekannten Heimat. Vgl. Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster; Reihe XII, 2); vgl. auch den Überblick von Gerhard Sauder, »Formen gegenwärtiger Reiseliteratur«, in: Anne Fuchs/ Theo Harden (Hrsg.), Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne, Heidelberg 1995, S. 552–573 (Neue Bremer Beiträge; 8).

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Einleitung

der Frage, wie sich in den eingehend behandelten Texten Ideal und Wirklichkeit, Vorprägung und literarische Verarbeitung des Reiseerlebnisses zueinander verhalten. Die Texte gestalten oftmals die Konfrontation von idealisierten Vorurteilen mit der Realität: »Enttäuschung, Ablehnung, ja Zorn drohen, wenn das Ideal der Realität nicht standhält, wenn es zerbricht.«21 Gerade die teilweise enttäuschende Erfahrung der griechischen Gegenwart steht einer schwärmerischen Aneignung der Antike entgegen. Im Fall einer Reise nach Griechenland spielen kulturelle Vorprägungen eine wesentliche Rolle. Zu diesen zumeist auf ein Antike-Ideal zugespitzten Projektionen treten stereotype, oftmals äußerst negative Wertungen der modernen Griechen. Vollständig erschließt sich der Status dieser hybriden und damit spezifisch modernen Texte erst in der Interpretation ihres Doppelbezugs. Deshalb erscheint es wenig erfolgversprechend, sie ausschließlich nach dem Bild der Antike oder der Darstellung des modernen Griechenlands zu befragen. Fruchtbarer ist es, wenn man sie als Dokumente der Identitätskonstruktion auffasst: Die Texte versuchen, Sinn zu konstruieren, sind Dokumente einer Identitätsfindung in Auseinandersetzung mit der Antike, mit der Fremdheit des bereisten Landes und mit der eigenen Vorprägung. All diese Aspekte gilt es zu berücksichtigen, um sowohl der kulturhistorischen als auch der literarischen Bedeutung der Reiseberichte gerecht zu werden. Griechenland dient in den Reiseberichten als Projektionsraum für unterschiedlichste Bedeutungszuschreibungen, die zumeist der Identitätskonstruktion dienen. Dies ist nur vor dem Hintergrund und innerhalb einer Tradition möglich, die Griechenland als zentrale Bezugsgröße, als Orientierung gerade für Deutsche begreift.

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Zu Methode und Gang der Untersuchung

Ziel dieser Arbeit ist es, die deutschsprachigen Reiseberichte über Griechenland sowohl innerhalb des deutschen Griechenland-Diskurses zu verorten, als auch in textnahen Interpretationen dem projektiven Gestus dieser Texte nahezukommen: Es ist herauszuarbeiten, wie die Reiseberichte die Präsentation von Vorwissen als spontane Erfahrung inszenieren und Griechenland auf diese Weise zu einem hochaufgeladenen Raum stilisieren. 21

Bernhard Zimmermann, »Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Zu Erhart Kästners Ölberge, Weinberge«, in: Günter Figal (Hrsg.), Erhart Kästner zum 100. Geburtstag. Die Wahrheit von Orten und Dingen, Freiburg i. Br. 2004, S. 7–21, hier S. 8.

Zu Methode und Gang der Untersuchung

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Die Gattung Reisebericht ist nur annäherungsweise zu bestimmen. Eine Arbeitsdefinition bietet Barbara Korte: »Sie [die Reiseberichte] schildern eine Reise in ihrem Verlauf und stellen somit Erzähltexte dar.«22 Dabei ist nicht allein das Thema der Reise von Bedeutung,23 sondern ebenso, dass der Rezipient diese geschilderte Reise als faktual versteht: Beim Reisebericht wird (anders als beim Reiseroman) angenommen, der Erzähler habe tatsächlich die Reise unternommen. Die Trennlinie zu Textsorten wie Reiseerzählung oder Abenteuerroman lässt sich oftmals allein mithilfe von extratextuellen Faktoren ziehen. Der Reisebericht verwendet als narrativer Text die gleichen Strategien wie fiktionale Literatur, ja grundlegendes Kennzeichen der Texte ist die Fiktionalisierung des Reiseerlebnisses auch in scheinbar anspruchslosen Texten.24 Diese literarische Dimension wurde in der Forschung lange vernachlässigt.25 So fruchtbar kultursemiotische oder imagologische Herangehensweisen auch sein mögen, so bleiben diese Ansätze doch notwendigerweise defizitär, wenn sie poetologische Aspekte nur wenig berücksichtigen.26 Bei Reiseberichten (auch bei den scheinbar minderwertigen) handelt es sich »nicht nur [um] kulturgeschichtliche Zeugnisse, sondern [um] Texte, die mit bestimmten, nicht zuletzt künstlerischen, Strategien verfaßt werden«.27 22

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Barbara Korte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt 1996, S. 1. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 16: »Eine authentische Reiseerfahrung wird beim Reise-Schreiben also rekonstruiert und dadurch fiktionalisiert, auch dort, wo Reiseberichte in Form von Tagebüchern oder Briefen verfaßt sind, die eine geringere Distanz zwischen Erleben und Erzählen suggerieren als der rückschauende Bericht, der eine Reise nicht in ›Tagesetappen‹ sondern als Ganzes verarbeitet.« Vgl. Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, Diss. Köln 1963, S. 11: Der Autor versteht »unter Reisebericht eine Darbietungsform, die in objektiv-nüchterner Redeweise den Reiseverlauf weitgehend unreflektiert und unredigiert wiedergibt und auf Fiktionalisierung und epische Integration weitgehend verzichtet«. Vgl. Korte, Der englische Reisebericht, S. 3. Ebd. – Vgl. Joseph Strelka, »Der literarische Reisebericht«, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 169–184. Strelka wendet sich entschieden dagegen, nichtliterarische Reiseberichte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu behandeln (vgl. ebd., S. 176). Er hält die Abgrenzungskriterien für offensichtlich, ohne sie allerdings befriedigend darlegen zu können. Vgl. ebd., S. 170: »Umgekehrt wird auch der vom rein Stofflichen her interessanteste nichtfiktionale Reisebericht trotz wissenschaftlichen Interesses oder trotz höchster Ansprüche im Hinblick auf Information nicht einer Gattung des literarischen Reiseberichts zuzuzählen sein, wenn ihm die verschiedenen Elemente sprachkünstlerischer Durchformung von den

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Einleitung

Aufgrund dieser Überlegungen erfolgt hier die Argumentation auf möglichst vollständiger Textbasis. So wurde versucht, sämtliche als Monographie publizierten Texte des Untersuchungszeitraums bibliographisch zu erfassen und für die Arbeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus wurden wichtige, nicht selbständig erschienene Beiträge aufgenommen. Die Bibliographie dokumentiert erstmals die reiche nicht-wissenschaftliche deutschsprachige Reiseliteratur über Griechenland der ersten Jahrhunderthälfte.28 Diese erweiterte Textbasis ermöglicht einerseits einen Überblick über ein faszinierendes kulturelles und literarisches Phänomen; andererseits stellt sie den Interpreten vor das Problem, aus diesem überreichen Korpus Texte auszuwählen, die sowohl repräsentativ als auch für sich von Interesse sind. Da es nicht darum gehen kann, in einer möglichst vollständigen Aneinanderreihung von Einzelinterpretationen die Texte abzuarbeiten, war es notwendig, exemplarische Interpretationen anhand erkenntnisfördernder Leitfragen so anzuordnen, dass zugleich die Kontexte wie auch die gegenseitigen Bespiegelungen deutlich werden. Innerhalb eines historisch akzentuierten Grobrasters werden die Textinterpretationen jeweils problemorientiert gruppiert. Selbstverständlich handelt es sich bei diesen gängigen literarhistorischen Einteilungen um eine heuristische Setzung, die aber für die Beschäftigung mit Reiseliteratur insofern erkenntnisfördernd ist, da gerade diese Gattung in besonderem Maße von außerliterarischen Faktoren abhängt. Um die vorgeprägten Wahrnehmungsmuster, die für die Reiseberichte konstitutiv sind, nachvollziehen zu können, ist es unabdingbar, die Kontexte

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Qualitäten des literarischen Essays bis zur fiktionalen (oder auch nichtfiktionalen) Erzählkunst mangeln.« Vgl. die Kritik von Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 23f.: »Mit solchen Bestimmungen wird theoretisch kaum etwas gewonnen. Es ist unmittelbar einsichtig, daß in der Reiseliteratur – wie in jeder anderen literarischen Gattung – Unterschiede in der ›Sprachkraft‹ und in der literarischen Gestaltungsfähigkeit der Autoren festzustellen sein werden. Sie können aber eher intuitiv konstatiert als wissenschaftlich begründet werden und vermögen allenfalls Qualitäts-, nicht aber Gattungsunterschiede zu fixieren.« Vgl. auch Korte, Der englische Reisebericht, S. 21: »Für Einblicke in die Entwicklung des Genres ist es gerade aufschlußreich, die ästhetisch anspruchsvollen Reiseberichte im Kontext weniger befriedigender Texte zu betrachten, mit denen sie schließlich grundlegende Strukturmerkmale teilen.« Ausgewertet wurden neben dem Deutschen Bücherverzeichnis vor allem Antiquariatskataloge: Das Ergebnis dürfte aufgrund des geringen Ansehens der Gattung nicht vollständig sein, aber auf jeden Fall breit genug, um einen kulturellen Komplex in seinen Filiationen zum größten Teil abzudecken. Vgl. Deutsches Bücherverzeichnis. Eine Zusammenstellung der im deutschen Buchhandel erschienenen Bücher, Zeitschriften und Landkarten. Nebst Stich- und Schlagwortregister, Bd. 1ff., Leipzig 1916ff.

Zu Methode und Gang der Untersuchung

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der jeweiligen Reiseunternehmungen herauszustellen, und zwar sowohl die konkreten Umstände der Reise, soweit diese erschlossen werden können, als auch die kulturgeschichtlichen Strömungen und Diskurse, an denen der Text partizipiert. Zu den Kontexten gehören die zeitgenössischen Reisegewohnheiten und die touristische Infrastruktur ebenso wie die Reiseführer, die eine nicht zu unterschätzende wahrnehmungsleitende Funktion besitzen, und schließlich die Bildungsvoraussetzungen der Reisenden.29 Diese Kontextualisierung geht fehl, wenn sie nicht den innovativen Charakter vieler Texte berücksichtigt, die oft zum Medium einer Auseinandersetzung mit Traditionen werden. Schließlich bedeutet Rezeption immer auch Transformation: Es geht zumeist darum, das kulturelle Erbe aktiv fortzuschreiben und zu variieren. Um dieses Verhältnis der Aneignung und Umwandlung (literarisch) vorgeprägter Muster zu beschreiben, bietet sich die Intertextualitätstheorie an, die in den letzten Jahren mit guten Ergebnissen gerade auf die Reiseliteratur angewandt wurde.30 Auch Reiseberichte, die gemeinhin als authentisch und wirklichkeitsgesättigt gelten, sind zumeist Beispiele einer littérature au second degré,31 die sich in vielfacher Hinsicht auf Prätexte beziehen. Im Kontext dieser Arbeit ist es unerlässlich, die eher strukturalistisch geprägten Ansätze von Manfred Pfister und Gérard Genette um eine historische Perspektive zu erweitern. Eine kontextualisierende Kommentierung ermöglicht, literarische Traditionsbildung als ein Verfahren des Dialogs von Texten zu verstehen. Die Vorprägungen der Autoren sind aber keineswegs nur literarischer Natur. Gerade die Reisetexte transportieren vielfach präformierte Meinungen.32 Um die spezifischen Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster an29

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Hinzu kommen gerade bei den Reisetexten von Archäologen, Altphilologen und Althistorikern institutionelle und wissenschaftshistorische Voraussetzungen. Vgl. Manfred Pfister, »Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext«, in: Herbert Foltinek u. a. (Hrsg.), Tales and »their telling difference«. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993, S. 109–132; Ders., »Autopsie und intertextuelle Spurensuche. Der Reisebericht und seine Vor-Schriften«, in: Gisela Ecker/Susanne Röhl (Hrsg.), In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur (Reiseliteratur und Kulturanthropologie; 6), Berlin 2006, S. 11–30. Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993. Vgl. Manfred Beller, »Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft«, in: Ders., Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, hrsg. v. Elena Agazzi in Zusammenarbeit mit Raul Calzoni, Göttingen 2006, S. 21–46, hier S. 42f.: »Reisebeschreibungen, von den Expeditionen in ferne und unbekannte Gegenden bis zu den autobiographi-

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Einleitung

gemessen zu beschreiben, die gerade in Reiseberichten auftreten, ist insbesondere der Begriff des Stereotyps geeignet,33 der die »konstanten, wahrnehmungsresistenten und polyfunktionalen Muster, mit denen kulturelle Differenzen im nationalen Maßstab erfaßt werden«,34 bezeichnet. Stereotype lassen sich als »in Worte oder Bilder gefaßte verallgemeinerte Wahrnehmun-

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schen Berichten der Dichter und Künstler von ihren Aufenthalten auch in nahegelegenen Ländern, sind eine wahre Fundgrube und ein ideales Experimentierfeld für alle in Frage stehenden Stereotypen, Topoi und Klischees.« Vgl. Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 39: »Möglicherweise weist aber die Konzentration auf nationale Stereotype als Element eines vorgängigen kollektiven Wissens, mit denen Texte entweder auf kulturell Fremdes verweisen oder Fremdheit regelrecht inszenieren, einen Ausweg aus dem Dilemma, in das die komparatistische Imagologie geführt hat, weil der Blick auf die Eigenlogik des jeweiligen Textes unverstellt bleibt. Außerdem bietet eine solche Fokussierung auf das Stereotyp den Vorzug, daß es als eine sichere Brücke zwischen Literaturwissenschaft und anderen Wissenschaften dienen kann, ist es doch ein Konzept, das Sozialpsychologie, Sprach- und Geschichtswissenschaft verbindet – gewissermaßen ein kleinster gemeinsamer Nenner.« Vgl. ebd., S. 47: »Zwar taugt das Stereotyp kaum als Schlüssel zur umfassenden Deutung eines Textes, denn in der Regel hat es in dessen Gefüge nur einen untergeordneten Stellenwert. Wird es jedoch weder als Stereotyp erkannt noch auf seine textabhängige Funktion befragt, wird es zudem aus dem unmittelbaren Kontext isoliert und als wörtlich zu nehmendes Urteil des Verfassers über ein Volk gelesen, bietet ein solches Muster Anlaß zu Mißverständnissen.« Florack, Bekannte Fremde, S. 232. – Insbesondere die Imagologie hat sich mit dem Komplex nationaler Zuschreibungen in der Literatur beschäftigt. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Nationen Bilder anderer Nationen konstruierten, wobei Fremdbild (heteroimage) und Selbstbild (autoimage) in einem komplementären Verhältnis stünden. Getragen wird die Mehrzahl der einschlägigen Arbeiten von einem aufklärerischen Impetus; ihr Ziel ist gerade der Abbau präformierter Vorstellungen. Vgl. zur Imagologie: Hugo Dyserinck, »Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹ und ihrer Untersuchung im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft«, in: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 1 (1966), S. 107–120, bes. S. 118; Thomas Bleicher, »Elemente einer komparatistischen Imagologie«, in: Komparatistische Hefte, H. 2 (1980), S. 12–24; Manfred S. Fischer, Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie (Aachener Beiträge zur Komparatistik; 6), Bonn 1981. Seit den 1980er Jahren werden berechtigte Einwände laut, die gegen die unreflektierte Übernahme ihrer Methode und Terminologie sprechen. Sowohl die nationale Begrenzung als auch die mangelnde Binnendifferenzierung zeigen, dass vielfach mehr konstruiert als tatsächlich erforscht wird; auch die inflationäre Verwendung des Bild-Begriffs ist nur wenig ergiebig. Vgl. zur Kritik an der Imagologie Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/Weimar 2001, bes. S. 16–23 (»Die Grenzen der Imagologie. Eine Grundsatzkritik«); Dies., Bekannte Fremde.

Zu Methode und Gang der Untersuchung

13

gen der Welt« begreifen.35 Dabei beziehen sich Stereotype auf Gruppen, das heißt, die Wahrnehmung eines Individuums erfolgt als Wahrnehmung eines Gruppenangehörigen. Dies bewirkt wiederum, dass gerade die Erforschung von Stereotypen vielfach mehr über die Subjekte der Stereotypisierung aussagt als über deren Objekte.36 Auch einzelne Menschen als Mitglied einer Gruppe und auch »sekundär bestimmte Beziehungen, Aktionsformen oder Institutionen von Menschen«37 können Gegenstand von stereotyper Wahrnehmung sein. Allerdings ist nicht jede Verallgemeinerung ein Stereotyp.38 Was Stereotype etwa von Topoi unterscheidet, ist ihre eindeutig emotionale Komponente. Stereotype sind immer Werturteile: »Stereotypen wirken meist durch ihre Eindeutigkeit. Sie reduzieren Komplexität, und dieser reduktive Charakter steht in direkter Verbindung mit der […] Orientierungsfunktion.«39 Paradoxerweise dient die Reiseerfahrung eben nicht dem Abbau von Stereotypen:40 In einer auch für die Reiseliteratur charakteristischen Argumentationsstruktur wird die Erfahrung, die dem Stereotyp widerspricht, als Ausnahme abgetan.41 35

36

37 38 39

40 41

Hans Henning Hahn, »12 Thesen zur Stereotypenforschung«, in: Ders./Elena Mannová (Hrsg.), Nationale Wahrnehmung und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung, Frankfurt am Main u. a. 2007 (Mitteleuropa – Osteuropa; 9), S. 15–24, hier S. 16. Vgl. ebd., S. 17: »Das Zeichen ›Stereotyp‹ führt also, und das ist eine wichtige Grundtatsache jeglicher Stereotypenforschung, immer zum Zeichensystem der entsprechenden Gesellschaft zurück; mit anderen Worten: auf dem Weg über die Erforschung der Stereotypen erfahre ich etwas über die Gesellschaft, in der sie wirken bzw. akzeptiert werden.« Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 17. Ebd., S. 19. – Vgl. Günther Blaicher, »Einleitung des Herausgebers: Bedingungen literarischer Stereotypisierung«, in: Ders. (Hrsg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, Tübingen 1987, S. 9–25, bes. S. 17: »Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß literarische Stereotypisierung häufig im intertextuellen Bereich erfolgt, und diese intertextuelle Stereotypisierung kann sich auf literarische Strukturen, auf literarische Figuren und literarische Aussageweisen beziehen.« Vgl. Hahn: »12 Thesen«, S. 19. Vgl. ebd. – Die Frage nach dem Realitätsgehalt solcher Stereotype kann nicht eindeutig geklärt werden; es ist auch nicht Aufgabe einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, dies zu versuchen. Abgesehen von der Wahrnehmung von offenkundigen Fehlern etwa geographischer oder historischer Art ist es schlechterdings unmöglich zu rekonstruieren, was genau die Reisenden erfuhren, wahrnahmen, wahrnehmen konnten usf. Entscheidend ist, dass die Texte selbst zumeist den Anspruch formulieren, faktual zu sein. Dass dies wiederum eine Übereinkunft zwischen

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Einleitung

Bei der Anwendung des Begriffs auf die literaturwissenschaftliche Analyse kann es nicht darum gehen, jegliche Stereotypisierung von vornherein pauschal zu verurteilen. In literarischen Texten ist die Verwendung stereotyper Elemente oftmals gerade nicht Zeichen von diffusen Vorurteilen und unreflektierter Ausblendung der Realität, sondern vielmehr künstlerisches Mittel.42 Dennoch darf ebenso wenig über Ungeheuerlichkeiten und Verzerrungen, die im zeitweise hochideologisierten deutschen Griechenland-Diskurs häufig anzutreffen sind, mit dem Verweis auf ästhetische Autonomie hinweggegangen werden. Es ist weder möglich noch sinnvoll, aus den verschiedenen Texten, die in dieser Arbeit behandelt werden, ein Griechenland-Bild zu konstruieren: Der Plural »Imaginationen« deutet an, dass trotz aller Gemeinsamkeiten eine Vielzahl von Zuschreibungen nebeneinander existiert, dass die Reiseberichte oftmals eher den Charakter von Sinnsuchen besitzen, für die die Beschreibung eines empirisch fassbaren Griechenland lediglich den Ausgangspunkt bildet. Im »magischen Spiegel«43 nicht nur der Antike, sondern ebenso des modernen Griechenlands erschreiben die unterschiedlichsten Autoren ihre Identitätsentwürfe. Dass dies in der konkreten Begegnung mit den materiellen Überresten der griechischen Kultur erfolgt, bringt mit sich, dass die

42

43

Leser und Autor voraussetzt, muss nicht erneut hervorgehoben werden. Festzuhalten ist: Die Texte konstruieren in der Regel eine Realität und machen deutlich, dass es sich dabei um empirisch verifizierbare Fakten handelt. Was schließlich den Bereich der subjektiven Wahrnehmung und nicht zuletzt Wertung betrifft, der konstitutiv mit der Faktenwiedergabe verbunden ist, so lässt sich diese Sphäre ohnehin nicht verifizieren oder falsifizieren. Die Stereotype, die in diesen Bereichen anzutreffen sind, konstituieren aber auch nicht einfach das Griechenlandbild des Autors. Dies zu behaupten, würde bedeuten, hinter die literaturwissenschaftliche Trennung von Autor und Erzähler zurückzugehen. So lässt sich lediglich feststellen, dass die in dieser Arbeit untersuchten Texte verschiedene Bilder des antiken und des modernen Griechenland konstruieren und transportieren. Erst auf der Basis dieser durchaus simplen Feststellung lassen sich die Texte angemessen verstehen. Vgl. Emer O’Sullivan, Das ästhetische Potential nationaler Stereotypen in literarischen Texten. Auf der Grundlage einer Untersuchung des Englandbildes in der deutschsprachigen Kinderund Jugendliteratur nach 1960, Tübingen 1989, S. 26: »Die Auseinandersetzung mit dem bewußten Umgang mit Stereotypen aber scheint mir die zentrale Frage der literarischen Stereotypenforschung überhaupt zu sein.« (Hervorhebung im Original) Gerade das Zitat stereotyper Meinungen kann spielerisches Mittel zur Entlarvung dieser Stereotype sein, wie überhaupt der Einsatz von Stereotypen nicht zuletzt ein literarisches Spiel darstellt. Hofmannsthal, »Buch der Freunde«, S. 265.

Zur Forschungslage

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Texte ungleich skeptischer, zugleich aber auch wesentlich selbstsicherer als andere Manifeste des philhellenischen Diskurses argumentieren. Die vermeintliche Authentizität der eigenen Erfahrung lässt kaum Einwände gelten. So erheben paradoxerweise nicht wenige der hier analysierten höchst subjektiven Texte den Anspruch, einen allgemeingültigen Blick auf Griechenland zu vermitteln. Diese konkurrierenden, jeweils ungemein selbstsicher vertretenen Positionen bilden einen literarischen Komplex, der verdeutlicht, wie gerade in der Moderne versucht wird, Traditionsbestände zum Leben zu erwecken und von der Vitalität der Vergangenheit zu zehren.

3.

Zur Forschungslage

Umfassende und befriedigende Arbeiten zur Reiseliteratur über Griechenland im 20. Jahrhundert existieren nicht, obwohl in der germanistischen Literaturwissenschaft sowohl die Rezeption der Antike44 als auch die Reiseliteratur45 seit den letzten Jahrzehnten wichtige Untersuchungsgegenstände darstellen. Die beiden Dissertationen von Richard Bechtle und Dorothea Ipsen sind die einzigen Monographien, die dezidiert Reiseliteratur über Griechenland in den Mittelpunkt stellen. In Bechtles 1959 erschienener Studie Wege nach Hellas, einer eingehenden literaturwissenschaftlichen Untersuchung deutschsprachiger Reiseberichte vom 18. Jahrhundert bis zu Texten der 1920er Jahre, liegt der Schwerpunkt auf Autoren des 19. Jahrhunderts.46 44

45

46

Vgl. Volker Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2000; Lorella Bosco, »Das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen«. Deutsche Antikebilder (1755–1875), Würzburg 2004; Daria Santini, Wohin verschlug uns der Traum? Die griechische Antike in der deutschsprachigen Literatur des Dritten Reichs und des Exils, Frankfurt am Main u. a. 2007; sowie die Sammelbände: Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof (Hrsg.), »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt am Main 2002; Olaf Hildebrand/Thomas Pittrof (Hrsg.), »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur, Freiburg i. Br. 2004; Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2001. Vgl. Peter J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht; Ders., Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 2. Sonderheft); Ders. (Hrsg.), Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹, Tübingen 1997. Richard Bechtle, Wege nach Hellas. Studien zum Griechenlandbild deutscher Reisender, Eßlingen 1959.

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Einleitung

Diese trotz einiger ergiebiger Einzelanalysen überholte Arbeit leidet vor allem an der willkürlichen und oftmals kaum nachvollziehbaren Textauswahl. Bechtles Wertungen bestehen zudem aus stereotypen Etikettierungen wie ›klassizistisch‹ oder ›modern‹. Andere zeitgenössische Quellen über den deutschen Griechenland-Diskurs zieht der Autor nicht hinzu, obwohl doch gerade Reisetexte ohne ein Mindestmaß an Kontextualisierung kaum in ihrem besonderen Status verständlich sind. Auch verhindert Bechtles äußerst affirmatives Verhältnis zu dem Gegenstand seiner Untersuchung eine fruchtbare kritische Auseinandersetzung mit dem kulturhistorischen und literarischen Komplex: »Das durch längere Zeitläufte geführte Panorama des Ringens um das Bild Griechenlands enthüllt Größe und Tragik dieser nicht endenden Auseinandersetzung.«47 Das Verdienst von Dorothea Ipsen liegt darin, dass sie in ihrer Dissertation Das Land der Griechen mit der Seele suchend48 weithin unbekannte und für den deutschen Griechenland-Diskurs höchst aufschlussreiche Texte erstmals erschlossen hat. In ihrer Monographie, die bereits mit dem titelgebenden Goethe-Zitat auf ein philhellenisches Klischee verweist, analysiert sie deutschsprachige Reiseberichte der Jahrhundertwende in Bezug auf das darin entfaltete Antikebild.49 Anders als Bechtle, mit dessen Korpus sich ihr Untersuchungsgegenstand zum Teil überschneidet, legt sie ihre Auswahlkriterien offen: Sie untersucht, was durch den stark eingeschränkten Zeitraum möglich wird, sämtliche relevanten Texte, die sie nach der kaum greifbaren Kategorie der »Reiseintention der Verfasser«50 klassifiziert. Dieser Ordnungsversuch führt bei Ipsen eher zur Befestigung überkommener Klischees, als dass er sich als brauchbares Werkzeug für die Textinterpretation erwiese. An ihrer Arbeit wird deutlich, dass ein kulturhistorischer Ansatz notwendigerweise defizitär bleiben muss, wenn literaturwissenschaftliche Techniken für die Textinterpretation fehlen.51 So führt die Abfolge eher oberflächlicher Interpretationen von oft47 48

49 50 51

Ebd., S. 7. Dorothea Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Die Wahrnehmung der Antike in deutschsprachigen Reiseberichten über Griechenland um die Wende zum 20. Jahrhundert, Osnabrück 1999 (Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption; 2). Vgl. ebd., S. 12. Ebd. Vgl. ebd.: »In den Reiseberichten spiegelt sich eine individuelle, aber von der Zeit geprägte Einstellung zum griechischen Altertum wieder [ ! ], die Schlußfolgerungen erlaubt, welche Bedeutung es für den Autor und die potentiellen Leser hatte. Der Reisebericht wird deswegen als kulturhistorische Quelle betrachtet, die Auskunft gibt über die Wahrnehmungsmuster im Hinblick auf die Antike zur Zeit der

Zur Forschungslage

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mals wenig interessanten Texten zu gewissen Ermüdungserscheinungen. Wie Bechtle wertet Ipsen stereotyp und kann so in ihren Analysen letztlich nur bekannte Klischees wiederholen. Problematisch ist zudem, dass sie den Reisebericht einseitig als »Sachprosa«52 versteht und so die künstlerische Komponente der Texte von vornherein ausblendet. Die Arbeit von Norbert Pessentheiner über die expressionistische Reiseliteratur und die Studie von Srdan Bogosavljevic über die literarischen Reiseberichte der Jahrhundertwende vermitteln wichtige Kontexte und behandeln zudem einige Reiseberichte über Griechenland.53 Gleiches gilt für Ulla Biernats Dissertation über die Reiseliteratur in der jungen Bundesrepublik.54 Hilfreich sind die Einleitungen in einschlägigen Textanthologien, die allerdings das Material eher ausbreiten als kritisch reflektieren.55 Daneben existieren zu einzelnen Autoren zum Teil gehaltvolle Monographien und Aufsätze,56 etwa über Erhart Kästner, Gerhart Hauptmann oder Hugo von Hofmannsthal, die allerdings nicht die literarischen Verarbeitungen von Griechenland-Reisen in den Vordergrund stellen. Eine ebenfalls überschaubare Zahl von Arbeiten untersucht die Darstellungen Griechenlands und seiner Bewohner in der Literatur. Zu nennen sind die als Materialquelle wertvolle, inhaltlich und methodisch allerdings problematische Studie von Georgios A. Thanopoulos über Das deutsche Neugriechen-

52 53

54

55

56

Jahrhundertwende in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.« Methodisch stützt sich Ipsen hauptsächlich auf die Arbeiten von Brenner, imagologische Fragestellungen ignoriert sie. Vgl. ebd., S. 14–24. Ebd., S. 14. Vgl. Norbert Pessentheiner, Die Reisebeschreibung im Expressionismus, Phil. Diss. Graz 1977; Srdan Bogosavljevic, German Literary Travelogues around the Turn of the Century. 1890–1914, Phil. Diss. University of Illinois at Urbana-Champaign 1983. Bogosavljevic gibt wertvolle Kontexte für die Reiseliteratur der Jahrhundertwende, auch wenn seine zum Teil undifferenzierten Begriffsverwendungen und nicht zuletzt seine monokausalen sozialhistorischen Argumentationen deutlich die Beschränkungen seines Unternehmens markieren. Vgl. die Kritik von Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, S. 569–571. Vgl. Ulla Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Würzburg 2004 (Epistemata; 500). Vgl. Ernst Reisinger, »Griechenland im Mittelalter und zur Neuzeit / Seine Wiederentdeckung durch Reisende«, in: Ders. (Hrsg.), Griechenland. Landschaften und Bauten. Schilderungen deutscher Reisender, Leipzig 1916, S. 5–22; Heinrich Alexander Stoll (Hrsg.), Entdeckungen in Hellas. Reisen deutscher Archäologen in Griechenland, Kleinasien und Sizilien, Berlin (Ost) 1979; Max Wegner, »Nachwort«, in: Ders. (Hrsg.), Land der Griechen. Reiseschilderungen aus sieben Jahrhunderten, Dritte Auflage, Berlin 1955, S. 239–304. Vgl. die Angaben in den jeweiligen Kapiteln.

18

Einleitung

land-Bild 1918–194457 und die komparatistische Arbeit von Kirky Kefalea Das Land der Griechen. Studien zur Griechenlandrezeption in der modernen europäischen Erzählliteratur.58 Der von Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou herausgegebene Sammelband Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert enthält wichtige Beiträge über ein vergleichsweise wenig beachtetes Thema.59 Das Thema Reisen nach Griechenland spielt also innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung eine marginale Rolle. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich um einen wesentlichen Aspekt nicht nur der deutschsprachigen Reiseliteratur, sondern auch der deutschen Kulturgeschichte handelt. Ursache für diese bemerkenswerte Lücke dürfte der Umstand sein, dass nach wie vor das Interesse am nachantiken Griechenland verschwindend gering ist.

57

58

59

Vgl. Georgios A. Thanopoulos, Das deutsche Neugriechenland-Bild 1918–1944, Neuried 1987 (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichte Osteuropas und Südosteuropas der Universität München; 3). Vgl. Kirky Kefalea, Das Land der Griechen. Studien zur Griechenlandrezeption in der modernen europäischen Erzählliteratur, Würzburg 1995. – Mehr Beachtung fand das Verhältnis zu Griechenland in der Anglistik und Amerikanistik. Allerdings bleiben die Studien zumeist auf die englischsprachige Literatur beschränkt. Vgl. David Constantine, Early Greek Travellers and the Hellenic Ideal, Cambridge 1984; David Roessel, In Byron’s Shadow. Modern Greece in the English & American Imagination, Oxford 2002; David Wills, The Mirror of Antiquity. 20th Century British Travellers in Greece, Newcastle 2007. Vgl. Chryssoula Kambas/Marilisa Mitsou (Hrsg.), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2010.

Zur Forschungslage

I.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Kennzeichnend für den Reisediskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts ist die Hinwendung zur Subjektivität. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht vielfach nicht das bereiste Land, sondern die Innenwelt des Reisenden: Der Reisende, der die wirkliche Wonne des Reisens versteht, gießt seine Seele in die Gegend, die sein Auge entzückt. Das nennt man dann eine Landschaft genießen. Aus der Welt strahlt uns immer nur entgegen, was wir in sie hineintragen. Wir reisen, um zu erfahren, wie reich wir in unserer Seele sind.1

Letztlich erfährt der Reisende nur das, was ohnehin schon in ihm vorhanden oder angelegt ist. Er projiziert diese Vorprägungen auf die Erfahrung der Reise: Reisen erscheint so als ein möglicher Weg, um sich seiner selbst zu vergewissern. Die Gestaltung dieser Prozesse ist wesentliches Merkmal der Reiseliteratur um 1900. Gerade auch die Reisetexte über Griechenland haben entscheidenden Anteil an dieser Bewegung.2 Auch wenn gleichzeitig noch traditionelle, auf Faktenwiedergabe ausgerichtete Texte entstehen, so verlieren diese doch zunehmend die Gunst des Lesepublikums. Gerade diejenigen Texte, die sich auf die Darstellung psychischer Vorgänge fokussieren, erscheinen als spezifisch modern. Angesichts einer weitgehend klassifizierten und beschriebenen Außenwelt ziehen 1

2

Rudolf Lothar, »Das Reisen mit und ohne Sentiments«, in: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1163–1166, hier Sp. 1164. Heinz Piontek sieht Hugo von Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland am Beginn der eigentlich modernen Reiseprosa: Vgl. Piontek, »Thema Reisen«, S. 247. Bereits Zeitgenossen verwiesen auf die besondere Stellung von Hauptmanns Griechischem Frühling. Vgl. Georg Hermann, »Literarische Reiseführer«, in: Das literarische Echo 12 (1909/10), Sp. 560–564, hier Sp. 561: »Aber die Wissenschaft, sie vergaß es, der Geographie eine Seele einzuhauchen. […] Reisebücher der Art aber [wie Goethes Italienische Reise] sind die einzigen, die wir heute noch suchen, und sie sind es auch gerade, die sich die Anteilnahme jener Kreise erringen wollen, die sonst nicht mehr nach Reisewerken und Reiseführern greifen, die aber doch gern zuhören, wenn man vom Wesen einer Kultur, vom Wesen einer Landschaft, von den Resten historischen Lebens in der Jetztzeit spricht. Hier jedoch tritt ein Novum ein, hier ist eben nicht der Forscher mehr der Interpret, sondern der Dichter, der Literat ist es. […] Er will keine Reisebücher geben, keine Beschreibung von Erlebnissen, sondern er will nur versuchen, mit Worten etwas einzufangen von dem, was der ureigenste Charakter eines Landstriches, einer Stadt ist. Er will nicht Forscher sein, sondern Deuter. Das Tatsachenmaterial überläßt er den anderen.« Zu eben dieser Art von Texten zähle auch Hauptmanns Griechischer Frühling (ebd.).

20

Subjektivitätsentwürfe um 1900

sich viele Autoren auf die Gestaltung von Innerlichkeit zurück. Doch handelt es sich dabei nicht nur um eine regressive Bewegung, im Gegenteil: In bewusster Abgrenzung von gelehrten Diskursen und somit auch von der Verpflichtung auf Faktentreue und Nachprüfbarkeit erschreiben sich die Autoren der literarischen Moderne ein Terrain, das zumindest in der Reiseliteratur bislang vor allem ein Refugium von Gelehrten war. Mit einer gewissen Verspätung findet das Schreiben über Reisen somit Anschluss an das Feld der literarischen Antiketransformationen, gerade was den freien und künstlerischen Umgang mit Traditionsbeständen betrifft. So fällt auf, dass, anders als im 19. Jahrhundert, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vergleichsweise wenige Reisetexte von Wissenschaftlern erscheinen. Stattdessen dominieren Texte von Autoren, die Griechenland aus privaten Gründen besuchen. Trotz durchaus vorhandener klassischer Bildung begreifen sie sich dezidiert nicht als Gelehrte. Ihre Reiseberichte sind weitestgehend nicht didaktisch ausgerichtet. An diesem Ensemble von Texten wird deutlich, dass die Reise nach Griechenland zunehmend zu den Möglichkeiten eines wohlhabenden Bürgertums zählt. Dass eine Vielzahl von Reisenden ihr Erlebnis in literarischer Form publiziert, zeigt zudem, dass das Schreiben über Reisen zu den Ritualen der Selbstverständigung und in etlichen Fällen auch der Selbstdarstellung zählt – eine Spielart der Subjektivitätserkundung, die sowohl etablierten Autoren wie Gerhart Hauptmann als auch älteren österreichischen Adeligen wie Olga Gräfin Meraviglia nicht fremd ist.3

1.

Kontexte

1.1. Neue Reisemöglichkeiten Ein strahlender Ostermontag ist angebrochen. Ganz frühe fahren wir nach dem Piraeus, wo uns der nach Ägina bestimmte Vergnügungsdampfer erwartet. Wir sind eine kleine Anzahl Reisender aus aller Herren Ländern, die der Zufall zusammengeweht hat und die jetzt durch den Gjolmanschen Agenten gemeinsam eingebootet werden; lauter gute Gesellschaft, denn der gewöhnliche Reisepöbel verirrt sich zum Glück noch nicht nach Griechenland.4

3

4

Vgl. Olga Gräfin Meraviglia, Ein Ausflug nach Griechenland und Konstantinopel im Jahr 1914 vor Ausbruch des Großen Weltkrieges, Graz o. J. [1916]. Isolde Kurz, Wandertage in Hellas [1913], 9. Auflage, Tübingen 1944, S. 59.

Kontexte

21

Eine Spießbürgerfamilie hat auf den üblichen Klappstühlen Platz genommen. Mehrmals ertönt aus ihrer Mitte das Wort »Phäakenland«. Erfüllt von einer großen Erwartung, wie ich bin, erzeugt mir Klang und Ausdruck des Wortes in diesem Kreise eine starke Ernüchterung.5

Beide Textausschnitte aus Reiseberichten über Griechenland zeigen den Blick auf die Mitreisenden. Doch während aus der Perspektive von Isolde Kurz vor allem wichtig ist, dass ihre Mitreisenden der »gute[n] Gesellschaft« entstammen, steht für Gerhart Hauptmann ihre Gesinnung im Vordergrund. Er unterstellt der Familie einen unreflektierten und oberflächlichen Gebrauch von Versatzstücken klassischer Bildung, der dem angestrebten emphatischen und distanzlosen Erlebnis der griechischen Kultur entgegensteht, wie es Hauptmann in seinem Reisebericht für sich reklamiert. Diese beiden Einschätzungen verdeutlichen unterschiedliche elitaristische Sichtweisen: Während Isolde Kurz darauf insistiert, lediglich Reisende der guten Gesellschaft seien in Griechenland anzutreffen, distanziert sich Hauptmann von einer solch rein sozialen Schichtung; für ihn stehen saturierte Spießbürger Künstlern gegenüber, die in Griechenland eine tiefe Erfahrung überzeitlicher Ideale suchen. Beiden gemein ist aber der Versuch, sich von anderen Reisenden abzusetzen, ein Verfahren, das im Schreiben über Reisen überall anzutreffen ist. Max Osborns Einschätzung kann für die Zeit der Jahrhundertwende als symptomatisch gelten: Freilich, wie alle Künste hat sich auch die des Reisens bedenklich demokratisiert. Ehedem war es ein einigermaßen aristokratischer Betrieb, heut darf sich jeder Schlingel daran beteiligen.6

Dabei darf nicht vergessen werden, dass Reisen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg noch immer ein Privileg der oberen Schichten ist.7 Gerade auch die Reise nach Griechenland ist ein exklusives Unternehmen – zum einen wegen der mit einer solchen Reise verbundenen Kosten, zum anderen wegen der dürftigen Infrastruktur des Landes, die für Westeuropäer die Reise nach Griechenland teilweise zu einem abenteuerlichen Erlebnis werden lässt. 5

6

7

Gerhart Hauptmann, Griechischer Frühling. Reisetagebuch Griechenland – Türkei, hrsg. v. Peter Sprengel, Berlin 1996, S. 7. M. O. [Max Osborn], »Vom Reisen«, in: Neue Deutsche Rundschau XIII (1902), S. 889–891, hier S. 890. Vgl. zur Entwicklung des Tourismus bes. Hasso Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003; Rüdiger Hachtmann, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007; Petra Krempien, Geschichte des Reisens und des Tourismus von den Anfängen bis zur Gegenwart, Limburgerhof 2000.

22

Subjektivitätsentwürfe um 1900

Auch wenn in der Reiseliteratur über Griechenland oftmals die zu hohe Zahl von Mitreisenden beklagt wird, hält diese Wahrnehmung einer genaueren Überprüfung nicht stand. Zwar liegen für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg keine Zahlen über Touristen in Griechenland vor, doch eine Angabe von 1919 erlaubt Rückschlüsse auf die Vorkriegszeit. In diesem Jahr wurden 7600 Besucher gezählt.8 Es scheint plausibel, dass die jährliche Zahl in den Jahren vor Kriegsausbruch höher anzusetzen ist – 1919 herrschte nicht nur eine weltweite Wirtschaftskrise, Griechenland befand sich auch im Krieg mit seinen Nachbarn – wobei eine Zahl von etwa 10 000 Touristen realistisch sein dürfte. Überhaupt waren lediglich Angehörige der höheren Schichten sowohl finanziell als auch zeitlich überhaupt in der Lage zu verreisen. Die jährliche Urlaubsreise war im Bürgertum zur Selbstverständlichkeit geworden und wahrte doch zugleich einen Nimbus der sozialen Auserwähltheit. Die Teilhabe am Tourismus hatte sich zwar etwa zeitgleich auch in den bürgerlichen Schichten anderer Industrieländer durchgesetzt, doch besonders in Deutschland prägte die »Reiselust« nun – wie schon in England – die nationale Identität.9

Verglichen mit den Bedingungen des Massentourismus der zweiten Jahrhunderthälfte herrschten also in Griechenland um die Jahrhundertwende – zumindest was die Zahl der Reisenden betrifft – geradezu idyllische Bedingungen. Dass sich die Reisenden dennoch immer wieder über die mitreisenden Massen beschwerten, lässt sich wiederum als Abwehrreaktion deuten, die die Exklusivität des eigenen Erlebens betont.10 Griechenland gehört um 1900 sicherlich nicht zu den bevorzugten Reisezielen, was angesichts der Bedeutung des Landes für die europäische Kulturgeschichte zunächst verwundert.11 Ein Blick auf die Verkehrsbedingungen kann dies erklären: So war Griechenland bis zum Anschluss des Landes an das europäische Eisenbahnnetz im Jahr 1916 nur per Schiff erreichbar; die Reisedauer von Berlin nach Athen betrug circa 90 Stunden, von Hamburg und Bremen verkehrten Kreuzfahrtschiffe, die für die Reise elf bis 13 Tage benötigten.12 Auch waren die Verkehrswege in Griechenland nur an weni8 9 10

11

12

Vgl. Stephen Ronart, Griechenland von heute, Amsterdam 1935, S. 249. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 100. Vgl. ebd., S. 100: »Der Kontrast zwischen der – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – geringen Verbreitung dieses Typus [des Touristen] und der Rede vom ›Massenreisen‹ überrascht nicht angesichts der tief greifenden Umwälzung im Lebensrhythmus und -stil der tonangebenden Milieus.« Vgl. zur Geschichte Griechenlands in der Neuzeit Apostolos Vakalopoulos, Griechische Geschichte von 1204 bis heute, Köln 1985. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 49.

Kontexte

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gen Stellen auf europäische Reisende eingestellt. So umfasste das griechische Eisenbahnnetz 1905 lediglich 1390 Kilometer.13 Viele touristisch interessante Stätten waren nur beritten oder zu Fuß erreichbar. Schließlich genügten auch die Unterkünfte außerhalb Athens keinen gehobenen Standards: In der Regel ist man darauf angewiesen, bei den Besitzern von Kaffeehäusern oder Kaufmagazinen oder in den einheimischen Herbergen, den Chanis, oder in einem Bauernhaus ein höchst fragwürdiges Nachtlager zu suchen; an Stelle des Bettes erhält man hier einfach über den Boden gebreitete Decken.14

Auch wenn einige Hinweise in den Reiseführern und etliche Schilderungen in der Reiseliteratur übertrieben sein mögen und von einem abschätzigen Blick auf das moderne Griechenland geprägt sind, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die Reisebedingungen sicherlich viele potentiell an Griechenland Interessierte eher abschreckten, zumal auch die institutionalisierte Tourismusförderung noch im Aufbau begriffen war.15 Insbesondere die hygienischen Verhältnisse in der Provinz gaben Anlass zu Warnungen, die teilweise groteske Züge annahmen: Es empfiehlt sich, Landtouren in Griechenland um die Osterzeit zu machen, da zu diesem Feste der Grieche sich, sein Hausgerät und Haus wäscht und man dann weniger durch Ungeziefer leidet.16

So steht Griechenland als Reiseziel abseits des Netzes »prinzipiell austauschbarer Orte«,17 die von großen Touristenströmen besucht werden. Dies führt interessanterweise dazu, dass gerade die vergleichsweise wenig komfortable 13

14 15

16 17

Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, 6. Auflage, Leipzig/Wien 1906, S. 39. Ebd., S. 16. Vgl. zur Entwicklung der staatlichen Tourismusförderung in Griechenland Gerassimos Zacharatos, Tourismus und Wirtschaftsstruktur. Dargestellt am Beispiel Griechenlands, Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 70: »Im Jahr 1898 wurde in Athen die ›Radgesellschaft‹ als private Vereinigung zur Förderung des Radfahrens gegründet. Die ›Radgesellschaft‹ wurde 1920 in ›Wandergesellschaft‹ umbenannt, deren Bestreben es u. a. war, für Griechenland in den europäischen Metropolen zu werben, eine Liste der vorhandenen Unterkunftsbetriebe sowie ein Bulletin herauszugeben, in dem zum ersten Mal die wirtschaftlichen Auswirkungen des Fremdenverkehrs zur Sprache kamen. Diese Vereinigungen stellten eine Art privatgesellschaftlicher Aktivität bürgerlicher Kreise dar, deren Interesse vor allem darin bestand, ihren eigenen Status zu pflegen.« Diese Vereinigung verschmilzt mit der 1914 gegründeten »Gesellschaft der Gastfreundlichen« (ebd.); das Jahr 1914 kann als »Ausgangspunkt einer Tourismuspolitik als staatliche[r] Funktion« (ebd., S. 71) gelten. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 15. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 103.

24

Subjektivitätsentwürfe um 1900

Reise nach Griechenland dazu dienen konnte, sich sozial von anderen Gruppen von Reisenden abzugrenzen, wie an den oben zitierten Äußerungen von Isolde Kurz und Gerhart Hauptmann deutlich wurde. Auch Josef Ponten sieht in der schlechten Anbindung Griechenlands an das europäische Verkehrsnetz einen Vorteil, da diese verhinderte, dass »die Scharen des europäischen gebildeten Pöbels«18 über Griechenland herfielen. Indem die Eigenschaft, Tourist zu sein – der touristische Habitus als solcher – allen Touristen gemeinsam war, war es umso wichtiger, im Urlaub die feinen Unterschiede – den schichtspezifischen Habitus – herauszustellen. Das hieß im Bürgertum zumeist, sich von den jeweils »einfachen« Leuten abzusetzen (um am Urlaubsziel paradoxerweise wohlmöglich noch »einfacheren« Leuten, am besten Bauern oder Hirten, zu begegnen).19

Grundlegendes Hilfsmittel der Reisenden sind Reiseführer,20 die für unsere Fragestellung aus zwei Gründen von Interesse sind: Erstens liefern sie wertvolle Informationen über die touristische Lebenswirklichkeit, zweitens demonstrieren sie, wie der Blick der Reisenden vorgeprägt ist. So sind Baedeker und Meyers Handbuch für Reisende vielfach ausschlaggebend für das, was tatsächlich zur Kenntnis genommen bzw. beschrieben wird.21 Dies macht deutlich, dass in nahezu allen Fällen das vorliegt, was Manfred Pfister als intertextuelles Reisen bezeichnet hat.22

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Josef Ponten, Griechische Landschaften. Ein Versuch künstlerischen Erdbeschreibens. Farbenbilder, Zeichnungen, Lichtbilder von Julia Ponten von Broich, Stuttgart/Berlin 1914 [Bd. 1], S. 245: »Man kann nur zur See nach Griechenland reisen, solange die Türken das Anschließen der griechischen thessalisch-böotischen Bahn an ihr Netz in Saloniki nicht gestatten. Wer die Seekrankheit fürchtet, kann nicht nach Griechenland reisen, die Seekrankheit ist ein stygischer Schrecken, der noch dieses für uns Kulturleute ›heilige‹ Land umgürtet und die Scharen des europäischen gebildeten Pöbels fernhält, der heute über das schutzlose Italien hereinbricht. Wenn die Griechen im Kriege, von dem sie träumen, siegen, und Makedonien erobern, knüpfen sie ihr Bahnnetz an die Balkanüberlandbahn, und auch über Griechenland fällt das Heer der neuen Barbaren im Luxuszuge herein.« Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 104. Vgl. Alex W. Hinrichsen, »Zur Entstehung des modernen Reiseführers«, in: Hasso Spode (Hrsg.), Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berlin 1991, S. 21–32. Vgl. Dorothea Ipsen, »Der verstellte Blick: Man sieht nur, was man weiß. Antikewahrnehmung in Reiseberichten über Griechenland um 1900«, in: Manuel Baumbach (Hrsg.), Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike, Heidelberg 2000, S. 459–471. Vgl. Pfister, »Intertextuelles Reisen«; Ders., »Autopsie und intertextuelle Spurensuche«.

Kontexte

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Baedeker’s Handbuch für Reisende: Griechenland erlebte zwischen 1883 und 1908 fünf Auflagen.23 Griechenland und Kleinasien aus der Reihe »Meyers Reisebücher« erschien bereits 1906 in der sechsten Auflage.24 Diese Reiseführer prägen in deutlicher Weise die Wahrnehmung, insbesondere was die der modernen Griechen betrifft. Sie ergänzen zudem das Vorwissen der Reisenden, die zumeist an den grundlegenden Veränderungen des Antikebildes um 1900 partizipieren. Daran haben auch die Reiseberichte teil, die eindrucksvoll die Bedeutung des antiken Griechenland für das Selbstverständnis der Moderne belegen. So lässt der Baedeker keinen Zweifel daran, dass Griechenland vor allem wegen seiner antiken Vergangenheit als Reiseziel von Interesse ist: Eine Reise nach Griechenland gehört nicht mehr zu jenen außerordentlichen Glücksfällen des Lebens, welche nur einzelnen Begünstigten zu teil werden. Immer größer wird die Zahl derjenigen, welche nach der Bereisung Italiens und Siziliens sich der ältesten Heimat alles Schönen, dem klassischen Boden von Hellas, zuwenden. Ein noch so kurzer Aufenthalt daselbst wird durch reiche Belehrung belohnen und die Vorstellungen über eine Kulturentwicklung, von der wir noch fortwährend lernen, mehr als langjähriges Studium beleben.25

1.2. Der Wandel des Antikebildes Griechenland ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in erster Linie ein Reiseziel für Gebildete.26 Da bis 1900 »die Allgemeine Hochschulreife in Deutschland nur am Humanistischen Gymnasium erworben werden«27 konnte, lässt sich von einer soliden klassischen Bildung der meisten (männlichen) Reisenden ausgehen:

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Vgl. Alex W. Hinrichsen, Baedeker’s Reisehandbücher 1832–1990. Bibliographie 1832–1944; Verzeichnis 1948–1990. Verlagsgeschichte mit Abbildungen und zusätzlichen Übersichten, 2. Auflage, Bevern 1991, S. 161. Vgl. Werner Hauenstein, Wegweiser durch Meyers Reisebücher 1862–1936. Bibliographie, Stadtoldendorf 1993, bes. S. 148–153. Griechenland. Handbuch für Reisende von K. Baedeker. Mit einem Panorama von Athen, 11 Karten, 19 Plänen, 5 Grundrissen und 2 Tafeln. Vierte Auflage, Leipzig 1904, S. V. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 30–33. Christoph Führ/Wolfgang Mitter, »Vorwort der Herausgeber«, in: Hans Jürgen Apel/Stefan Bittner, Humanistische Schulbildung 1890–1945. Anspruch und Wirklichkeit der altertumskundlichen Unterrichtsfächer, Köln u. a. 1994 (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte; 55), S. IXf., hier S. IX. Vgl. auch Ute Preuße, Humanismus und Gesellschaft. Zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts in Deutschland von 1890 bis 1933, Frankfurt am Main u. a. 1988.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 Bei Griechenlandreisenden, die das Gymnasium absolviert hatten, können also gute Kenntnisse antiker griechischer Autoren vorausgesetzt werden, die im Unterricht in der Originalsprache gelesen wurden und mit denen bzw. an denen die Geschichte und kulturellen Werte der griechischen Antike erarbeitet wurden.28

Diese traditionellen Bildungsbestände sind ein wichtiger Aspekt der Vorprägung der Reisenden. So dient auch die antike Reisebeschreibung des Pausanias aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus als Quelle für die Reiseplanung und tritt oftmals gleichberechtigt neben die modernen Reiseführer.29 Die Bedeutung von Pausanias’ Periegesis für die Wiederentdeckung des antiken Griechenlands kann kaum überschätzt werden. Sie erwies sich als unentbehrliches Hilfsmittel bei der Suche nach historischen Stätten und deren Benennung. Gerade die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts nutzten die Beschreibung Griechenlands als Leitfaden für ihre Entdeckungen.30 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nimmt die direkte Pausanias-Rezeption ab: Die Funktion des antiken Textes übernehmen nun vielfach die modernen Reiseführer, die neben den antiken Sehenswürdigkeiten auch touristisch relevante Informationen bieten. Dennoch bleibt Pausanias eine Lektüre vieler Reisender, die vor allem seine Mythenwiedergaben schätzen, wie das Beispiel Gerhart Hauptmanns demonstriert. Diese humanistische Vorbildung verbindet sich mit neuen ästhetischen Strömungen, die auf Tendenzen in Geschichtswissenschaft, Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Gemeinhin wird gerade der Traditionsbruch als Wesensmerkmal der literarischen Moderne angeführt.31 Insbesondere in programmatischer Abkehr 28 29

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Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 32. Vgl. Pausanias, Reisen in Griechenland. Gesamtausgabe in drei Bänden. Auf Grund der kommentierten Übersetzung von Ernst Meyer hrsg. v. Felix Eckstein. Dritte, nunmehr vollständige Ausgabe, Zürich/München 1986–1989. – Vgl. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Dritter Band 1897–1905, hrsg. v. Carina Schäfer/Gabriele Biedermann, Stuttgart 2004, S. 353: »Ich reise immer mit dem Pausanias bei der Hand; dann sieht man, wie eng überall die Sage mit dem Boden zusammenhängt.« – Vgl. auch Albert von Berzeviczy, Griechische Reiseskizzen aus dem Sommer 1912, München/Leipzig 1914, S. 6f. Vgl. Maria Pretzler, Pausanias. Travel Writing in Ancient Greece, London 2007 (Classical Literature and Society), bes. S. 130–149 (»Discovering Greece with Pausanias«). Vgl. auch Christian Habicht, Pausanias und seine »Beschreibung Griechenlands«, München 1985, S. 40: »Ein breiteres Publikum fand Pausanias erst, als es Mode wurde, Griechenland als Tourist zu besuchen.« Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern. Modernität, Moderne«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zu politisch-sozialer Sprache in Deutschland, Bd. 4: Mi–Pre, Stuttgart 1978, S. 93–131; Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004.

Kontexte

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von den an dem Vorbild der Antike abgeleiteten ästhetischen Normen manifestiere sich eine Literatur, die den Anspruch vertrete, völliges Neuland zu betreten.32 Wie einseitig diese Sichtweise ist, muss mittlerweile nicht mehr hervorgehoben werden. Gerade die teilweise obsessive Auseinandersetzung mit wesentlichen kulturellen Traditionsbeständen ist ein Grundzug der Literatur der klassischen Moderne.33 In der deutschsprachigen Literatur äußert sich diese Tendenz etwa in den Josephs-Romanen Thomas Manns, in der Lyrik Gottfried Benns und nicht zuletzt in den zahlreichen dramatischen Auseinandersetzungen mit der griechischen Tragödie.34 Innerhalb der verfügbaren Vorgängerepochen ist nach wie vor die griechische Antike von wesentlicher Bedeutung. Die Antikerezeption um 1900 steht unter dem Eindruck der fundamentalen Wandlung des Antikebilds im 19. Jahrhundert.35 Ihre Grundtendenz – die Hinwendung zum Ursprünglichen, Archaischen – steht in größeren kulturellen Zusammenhängen, die Altertumswissenschaften und Philosophie ebenso betreffen wie Kunst und Literatur. Bei allen zum Teil einschneidenden Veränderungen, denen die Griechenland-Bilder unterliegen, ändert sich doch nichts an dem emphatischen Bezug auf Griechenland.36

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In Eugen Wolffs Berliner Proklamation heißt es etwa programmatisch, »daß der Einfluß der Antike auf unser Leben zu Ende ist.« Zitiert nach Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 17. Vgl. Werner Frick, »Avantgarde und longue durée. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der klassischen Moderne«, in: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, Berlin/New York 2007, S. 97–112. Vgl. Werner Frick, ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998 (Hermea, NF; 86); Christian Horn, Remythisierung und Entmythisierung. Deutschsprachige Antikendramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2008. Vgl. zu den Wandlungen des deutschen Antikebilds besonders Bosco, »Das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen«; vgl. auch die etwas pauschale Darstellung von Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur. Für die Altertumswissenschaften allerdings konstatiert Karl Christ, »Die Antike im 19. Jahrhundert«, in: Ders., Geschichte und Existenz, Berlin 1991, S. 35–49, hier S. 46: »Ziehen wir eine vorläufige Zwischenbilanz in den drei skizzierten Dimensionen, so zerrann die Idealisierung der Antike schon im 19. Jahrhundert. An die Stelle des Glaubens an ein gerade für die Deutschen komplementäres, überhöhtes Griechentum trat die streng rationale, handwerkliche, kritische Beschäftigung mit dem Gesamtbereich der antiken Welt. Enthusiasmus und Pathos der Humboldtära lebten in unserem Jahrhundert allenfalls in kleinen elitären Zirkeln, wie im Georgekreis, fort. In der Dimension der Verwissenschaftlichung erlebte die Altertumsforschung ihre Unterwerfung unter die sozialen und technischen Rahmenbedingungen der modernen Welt.«

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Die größte Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang zweifellos Friedrich Nietzsches Abhandlung Die Geburt der Tragödie (1872) zu.37 Emil Waldmann konstatiert 1913: »Seine Auffassung des Griechentums beherrscht auch heute noch die Geister merklich oder unmerklich, bewußt oder unbewußt, sogar in der Wissenschaft, sogar in der Philologie.«38 In seiner Tragödienschrift entwirft Nietzsche ein Bild der griechischen Kultur, das sich von den klassizistischen Vorstellungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts deutlich unterscheidet. Gegen das Bild von den heiteren Griechen erklärt er: »Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins«;39 die olympische Religion sei eine vor diesem Hintergrund notwendige Konstruktion, »um überhaupt leben zu können«.40 So sind für Nietzsche die Bändigung des dionysischen Untergrunds und das ständige Bewusstsein um diese Tiefenschicht kennzeichnend für das antike Griechenland: Ja er [der apollinische Grieche] musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntnis, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde.41

Die wichtigsten Hervorbringungen der griechischen Kultur sind für Nietzsche auf dieses Bewusstsein der permanenten Gefährdung zurückzuführen. Gerade die Griechen seien besonders prädestiniert gewesen, diese Erkenntnis auszuhalten und produktiv zu machen: Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind.42 37

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Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari; 1, Berlin/New York 1967, S. 9–156. Vgl. dazu Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« (Kapitel 1–12), Stuttgart/Weimar 1992; Michael Silk/Joseph P. Stern, Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981; Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar 1995; Joachim Latacz, »Fruchtbares Ärgernis: Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ und die gräzistische Tragödienforschung«, in: David Marc Hoffmann (Hrsg.), Nietzsche und die Schweiz, Zürich 1994, S. 30–45. Emil Waldmann, »Die Antike und wir«, in: Die neue Rundschau 2/1913, S. 1281–1302, hier S. 1297. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 35. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 155.

Kontexte

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In der Gegenüberstellung des durch Maß geprägten Apollinischen und des Dionysischen, das letztlich die Aufhebung des principium individuationis bedeutet, entwirft Nietzsche in Anlehnung an die romantische Symbolforschung ein für die weitere Beurteilung der griechischen Kultur folgenreiches Modell.43 Für ihn ist die griechische Tragödie die Gattung, in der ein Ausgleich zwischen beiden Prinzipien gelungen sei: Das Drama lasse sich so als »die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse«44 verstehen, der tragische Mythos »als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel«.45 Auch wenn Nietzsche scheinbar beide Prinzipien gleichberechtigt gegenüberstellt, so ist doch unverkennbar, dass die größere Faszination vom Dionysischen ausgeht. An seiner Kulturkritik einer sokratischen Moderne, die eben das Dionysische mit letztlich schädlichen Folgen zurückgedrängt habe, wird deutlich, dass eine Wiedergeburt dionysischer Kunst bevorsteht, und zwar offensichtlich im deutschen Kulturraum. Die »dionysische Befähigung«46 des deutschen Volkes lasse darauf hoffen, dass dies bald erreicht werden könne.47 Nietzsches Tragödienschrift hat also eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits dekonstruiert sie die Vorstellungen einer vermeintlich heiteren griechischen Kultur, ja sie deutet eben diese Kultur als Bollwerk gegen dionysische Gefährdungen, andererseits sagt sie in gleichsam prophetischen Passagen eine neue Kunst voraus, die unter den Bedingungen der Moderne wiederum an die griechische Kunst anknüpfen könne. Dass dabei auch Nietzsche die Vorstellung einer griechisch-deutschen Sonderbeziehung fortschreibt, zeigt deutlich, wie sehr auch im bewussten Traditionsbruch der grundlegende Bezug auf die griechische Kultur unangetastet bleibt. Nietzsches Hervorhebung des Dionysischen geht einher mit einer generellen Hinwendung zu bislang vernachlässigten Aspekten der griechischen Kulturgeschichte. Archäologie, Kunstgeschichte und Kulturgeschichtsschreibung haben gleichermaßen Teil an dieser Wende hin zum unklassischen Griechenland.48 Jacob Burckhardt etwa zitiert in seiner Griechischen Kulturgeschichte (publiziert postum zwischen 1898 und 1902) programmatisch August

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Vgl. dazu Reibnitz, Kommentar, S. 62f. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 62. Ebd., S. 141. Ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 154 (Drachentöter-Passagen). Vgl. zu den Wandlungen in der historischen Anthropologie Renate Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt am Main 1994.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Boeckh: »Die Hellenen waren unglücklicher, als die Meisten glauben.«49 An der Größe und Bedeutung der Griechen besteht auch für Burckhardt keinerlei Zweifel,50 allerdings wendet er sich entschieden gegen jegliche Idealisierung. Je deutlicher die dunklen Seiten der griechischen Kultur zutage treten, desto weniger taugen die Griechen als ethische Vorbilder. Für Burckhardt ist das Leid das grundlegende Element der griechischen Welterfahrung: »Aber von allen Kulturvölkern sind die Griechen das, welches sich das bitterste, empfundenste Leid angetan hat.«51 In seinem anthropologischen Entwurf des agonalen und kolonialen Menschen der vorklassischen Epoche stellt Jacob Burckhardt die permanente Selbstgefährdung der griechischen Kultur heraus und insistiert auf dem Wettkampfprinzip, das grundlegend für alle Bereiche des griechischen Lebens gewesen sei.52 Folgerichtig betrachtet Burckhardt das Griechenland-Bild des deutschen Klassizismus als eine »der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils, welche jemals vorgekommen«53 sei. Neben diesen philosophischen und kulturgeschichtlichen Entwürfen stehen wissenschaftliche Entdeckungen, die das Bild der Antike wesentlich beeinflussen. Die Grabungen Heinrich Schliemanns finden weit über das Fachpublikum hinaus, das zumindest in Deutschland seinen Methoden eher skeptisch gegenübersteht, ein breites Echo.54 Die vermeintliche Welt der homerischen Epen ist nun sichtbar. Schliemann legt die Präsentation der Grabungsfunde geradezu auf Verlebendigung an. Wenn er etwa seine Frau mit dem trojanischen Schmuck fotografieren lässt, so zeigt dies deutlich, dass 49

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Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2007 (Das Geschichtswerk; 2), S. 13. Vgl. ebd., S. 14: »Und so werden wir ewig im Schaffen und Können die Bewunderer und in der Welterkenntnis die Schuldner der Griechen bleiben. Hier sind sie uns nahe, dort groß, fremd und ferne.« Vgl. auch Leonhard A. Burckhardt, »Das Bild der Griechen in Jacob Burckhardts Griechischer Culturgeschichte«, in: Aurnhammer/Pittrof (Hrsg.), »Mehr Dionysos als Apoll«, S. 113–134. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, S. 36. Vgl. auch ebd., S. 421: »Man hat es vor allem zu tun mit einem Volke, welches in höchstem Grade seine Leiden empfinden und derselben bewußt werden mußte.« Burckhardt verwendet den Begriff des Archaischen nicht! Vgl. Glenn W. Most, »Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg«, in: Seidensticker/ Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne, S. 20–39, hier S. 29. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, S. 414. Vgl. zu Schliemann den konzisen Überblick von Justus Cobet, Heinrich Schliemann. Archäologe und Abenteurer, München 1997; William M. Calder III/Justus Cobet (Hrsg.), Heinrich Schliemann nach hundert Jahren, Frankfurt am Main 1990. Vgl. auch Christiane Zintzen, Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998 (Commentarii; 6).

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nicht nur museale und antiquarische Interessen bestimmend sind, sondern es vielmehr auf eine ästhetische Aktualisierung ankommt. Die angebliche Totenmaske Agamemnons aus dem sogenannten Schatzhaus des Atreus ermöglicht scheinbar, einer Figur des Mythos ins Gesicht zu sehen.55 Diese Beglaubigung einer archaischen Heroenzeit ist verbunden mit der Illusion, man könne über die Kluft von Jahrtausenden hinweg in direkten Kontakt mit dieser Epoche treten. Für die Kultur der Jahrhundertwende und ihre Vorstellungen einer großen Nähe zur Antike ist diese Denkfigur von wesentlicher Bedeutung. Etwa zeitgleich mit Schliemanns Entdeckungen der homerischen Welt vollzieht sich auch in der akademischen Kunstgeschichtsschreibung eine fundamentale Wandlung hin zu einer objektiven, ja teilweise geradezu enthusiastischen Wertung der archaischen Kunst.56 Galten zuvor die nur vereinzelt bekannten archaischen Kunstwerke als überwundene Vorstufen einer Blütezeit,57 so verändert sich der Blickwinkel in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hin zu einer positiven Wertung der Epoche und des Begriffs.58 Insbesondere der Münchner Archäologe Heinrich Brunn verteidigt die archaische griechische Plastik als vollgültige Kunstwerke, die auf keineswegs unbeholfene Weise den Intentionen ihrer Schöpfer entsprächen.59 Diese Sichtweise auf die archaische Kunst bringt letztlich mit sich, dass die Vorstellungen von der griechischen Antike vielfältiger werden und das klassizistische Schönheitsideal seine Normativität verliert. So fragt 1901 der Kunsthistoriker Reinhard Kekulé von Stradonitz: In welcher Epoche sollen wir das echte und wahre antike Ideal suchen? Die Wahl würde frei stehen, und die Schätzung auch der berühmtesten Antiken ist wandelbar; sie ändert sich jeden Tag und wird sich in aller Zukunft weiter ändern.60

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Vgl. etwa D’Annunzios Drama La città morta. Vgl. hierzu Most, »Die Entdeckung der Archaik«. Vgl. ebd., S. 21f. Vgl. Waldmann, »Die Antike und wir«, S. 1290: »Und nun sollte man in denselben Jahren auf einmal auch diese Ägineten lieben, diese höchst realistischen, derben, häßlichen Figuren mit den aufgerissenen Augen, dem grinsenden Munde und dem spitzen Kinn, mit all ihrer affenartigen Unruhe und Verwegenheit, die zu der erhabenen Gelassenheit der Parthenongiebel, zu der geforderten ›Einfalt und stillen Größe‹ im schreiendsten Widerspruch standen.« Vgl. Heinrich Brunn, Griechische Kunstgeschichte. Nachgelassene Theile. Hrsg. v. A. Flasch. Zweites Buch: Die archaische Kunst, München 1897. Vgl. dazu Most, »Die Entdeckung der Archaik«, S. 26. Reinhard Kekulé von Stradonitz, Die Vorstellungen von griechischer Kunst und ihre Wandlungen im neunzehnten Jahrhundert […], Berlin 1901, S. 21f.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Diese Dynamisierung des Griechenbildes, die sowohl in den Konzeptionen Nietzsches als auch der Wertung des Kunsthistorikers deutlich wird, sollte davor bewahren, einseitig die dionysischen Aspekte der Antikerezeption um 1900 hervorzuheben. Zwar kann kein Zweifel daran bestehen, dass hinter die epochalen Erkenntnisse von Philosophie, Altphilologie und Archäologie nicht mehr zurückgegangen werden kann. Dies heißt allerdings nicht, dass klassizistische Griechenland-Konzeptionen nicht weiterhin virulent wären. Auch wenn in aller Regel die betont unklassischen Rezeptionszeugnisse das höhere innovative Potential besitzen, so ist zumindest quantitativ der deutsche Klassizismus um 1900 eine nicht zu negierende Größe.61 In Anknüpfung an Nietzsches Konzept des Apollinischen kommt es zu etlichen Versuchen, diese Vorstellung mit klassizistischen Konzepten zu verbinden. Eine Gleichsetzung archaisierender und dionysischer Strömungen führt somit schlichtweg zu falschen Implikationen und negiert die Pluralität der Antikebilder um 1900. In der Literatur der Jahrhundertwende sind antike Themen allgegenwärtig. Ihre Häufung ist so auffällig, dass Zeitgenossen dahinter ein tiefes Bedürfnis erblicken wollten: Denn unsre Zeit verlangt nach der griechischen Antike. Man braucht sich nur das Schaffen unsrer Dichter anzusehen und aufzumerken, wohin ihre Phantasie sie immer wieder führt, wie sie von den griechischen Dingen erfüllt sind, vom Mythus, von der Form, vom Menschentum.62

Eine intensive literarische Antikerezeption findet im Umkreis des sogenannten Jungen Wien statt.63 Autoren wie Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal setzen sich sowohl theoretisch als auch praktisch mit Beständen der griechischen Kultur auseinander. Dabei wird die große Nähe zwischen historischen, naturwissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen augenfällig. Wenn etwa Hermann Bahr in seinem Dialog vom Tragischen (1904) die grie61

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Vgl. Esther Sophia Sünderhauf, Griechenlandsehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. Waldmann, »Die Antike und wir«, S. 1300. Vgl. zu den Voraussetzungen Wendelin Schmidt-Dengler, »Decadence and Antiquity: The Educational Preconditions of Jung Wien«, in: Erika Nielsen (Hrsg.), Focus on Vienna 1900. Change and Continuity in Literature, Music, Art and Intellectual History, München 1982, S. 32–45 (Houston German Studies 4, 1982); Jacques Le Rider, Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, Wien 2004; Peter Sprengel, »Wiener Moderne und Wiener Antike: von Hofmannsthal bis Ehrenstein«, in: Seidensticker/Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne, S. 217–233.

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chische Kultur als auf Hysterie gegründet darstellt,64 wenn Hugo von Hofmannsthal in seiner archaisierenden Bearbeitung der sophokleischen Elektra (uraufgeführt 1903) auf die Studien über Hysterie (1895) von Breuer und Freud zurückgreift,65 wenn wiederum Sigmund Freud in seiner Traumdeutung (1899) den antiken Ödipus-Mythos für die Erklärung psychischer Phänomene heranzieht,66 so verdeutlicht diese eindrucksvolle Beispielreihe die enorme Virulenz des Antikebezugs um 1900. Diese Auflistung von Wechselwirkungen ließe sich von Hofmannsthals von der Psychoanalyse geprägten Ödipus-Bearbeitungen bis hin zu Albert Ehrensteins respektlosen Travestien von Tragödienstoffen weiter fortsetzen.67 Doch nicht nur in Wien, auch im George-Kreis68 und mit einiger zeitlicher Verzögerung auch in Berlin, dem Zentrum der naturalistischen Bewegung, kommt es zu fruchtbaren Annäherungen an die griechische Antike, so dass man mit Recht von einer Blüte literarischer Antikenbearbeitungen um 1900 sprechen kann.69 Gerade auf dem Gebiet der Tragödie – die agonale Gattung schlechthin – kommt es zu einer Vielzahl von produktiven Auseinandersetzungen mit dem antiken Mythos.70 Dieser Mythos wird zunehmend als Produkt der menschlichen Psyche verstanden, als Ausdruck einer 64

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Vgl. Hermann Bahr, »Dialog vom Tragischen«, in: Ders., Dialog vom Tragischen, Berlin 1904, S. 9–78; vgl. dazu Frick, ›Die mythische Methode‹, S. 61–65. Vgl. zu Hofmannsthals Elektra Frick, ›Die mythische Methode‹, S. 111–138; Monika Meister, »Die Szene der Elektra und die Wiener Moderne. Zu Hugo von Hofmannsthals Umdeutung der griechischen Antike«, in: Henry Thorau/Hartmut Köhler (Hrsg.), Inszenierte Antike – Die Antike, Frankreich und wir. Neue Beiträge zur Antikenrezeption in der Gegenwart (Trierer Studien zur Literatur; 33), Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 59–86; Michael Worbs, Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1988, S. 259–295. Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900), 4. Auflage, Frankfurt am Main 1972 (Studienausgabe; 2), S. 267f. Zu Freuds Antikerezeption vgl. Paola Traverso, »Psyche ist ein griechisches Wort …« Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud. Aus dem Italienischen von Leonie Schröder, Frankfurt am Main 2003. Vgl. auch den aufschlussreichen Ausstellungskatalog von Lydia Marinelli (Hrsg.), »Meine alten und dreckigen Götter«: aus Sigmund Freuds Sammlung, Frankfurt am Main 1998. Vgl. Sprengel, »Wiener Moderne und Wiener Antike«. Vgl. Gert Mattenklott, »›Die Griechen sind gut zum schnuppern, schmecken und beschwatzen‹. Die Antike bei George und in seinem Kreis«, in: Vöhler/Seidensticker (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne, S. 234–248. Vgl. die eindrucksvollen Belege bei Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 255–285. Vgl. Frick, ›Die mythische Methode‹; Horn, Remythisierung und Entmythisierung. Zu den Aufführungen antiker Tragödien vgl. Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1991, S. 110–142.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Tiefenschicht, die durch Zivilisation und Entfremdungserscheinungen der Moderne verstellt sei. Nicht zufällig vergleicht Sigmund Freud in seiner Schrift Das Unbehagen an der Kultur psychoanalytische und archäologische Verfahren miteinander. Und tatsächlich ist die Nähe beider Diskurse evident; literarisch gestaltet wird sie etwa in Arthur Schnitzlers Drama Der einsame Weg (1904) und mit kaum zu überbietender Deutlichkeit in Gabriele D’Annunzios Tragödie La città morta (1899). Der Hinwendung zur Antike wohnt somit auch ein dezidiert kulturkritisches Moment inne. Die Grundtendenz der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die allmähliche Hinwendung zur Archaik – bedeutet im Kontext der Zivilisationskritik um 1900 eine emphatische Aufwertung des vermeintlich Urtümlichen. Auch in der elitaristischen pseudo-antiken Selbstinszenierung von George-Kreis und Kosmikern manifestiert sich die Kritik an einer Moderne, die den Kontakt zu ihren Wurzeln verloren hat. An diesem Punkt wird deutlich, welch zentrale Bedeutung vor diesem Hintergrund die Reisen nach Griechenland besitzen. Sie werden zu Fahrten in das Ursprungsland des Mythos, der reisend neu erfahren und beglaubigt werden soll. Gerhart Hauptmann etwa bezieht sich offensichtlich auf Vorstellungen der Psychoanalyse, wenn er in seinem Griechischen Frühling schreibt, die Antike sei im Individuum selbst verborgen und müsse gleichsam archäologisch wieder ausgegraben werden.71 Hauptmanns Griechischer Frühling ist der erste Reisetext, der konsequent ein archaisierendes Griechenland-Bild entwirft. Somit wird er im Rückbezug auf die Welt des Mythos und der Antike ein nicht zu unterschätzendes Gründungsdokument einer ästhetischen Moderne.

2.

Auf der Suche nach einer neuen Antike

2.1. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908) als Gründungsdokument In den beiden aufeinanderfolgenden Jahren 1907 und 1908 bereisen mit Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal zwei der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren Griechenland. Ihre literarischen Verarbeitungen der Reisen sind der Beginn einer dezidiert modernen Auseinandersetzung mit dem bereisten Land. Sie stehen in denkbar scharfem Kontrast zu den Texten, die von deutschen Gelehrten als Nebenprodukte ihrer Forschungs-

71

Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 77.

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reisen publiziert wurden.72 Hatten diese in didaktischer Absicht populärwissenschaftlich ihre Erkenntnisse ausgebreitet, steht bei Hauptmann wie auch bei Hofmannsthal die eigene Subjektivität im Vordergrund. Die Texte von Hauptmann und Hofmannsthal wollen eine Standortbestimmung des modernen Subjekts leisten, ohne in die Repetition erworbenen Wissens zu verfallen. So ist ihr grundlegendes Prinzip die Inszenierung von Unmittelbarkeit. Die griechische Antike, die im Mittelpunkt der gelehrten Reiseberichte des 19. Jahrhunderts stand, verliert zwar nicht an Bedeutung, wohl aber die wissenschaftliche Herangehensweise an ihre Kultur. Von Wissenschaftlichkeit sind die Texte von Hauptmann und Hofmannsthal ebenso entfernt wie von der Forderung nach mimetischer Wiedergabe der Realität. Sie bedeuten nicht nur den Durchbruch des modernen Schreibens über Griechenland, sondern teilweise für die deutschsprachige Reiseprosa überhaupt.73 Während Gerhart Hauptmann eine archaische Hirtenwelt entwirft und den Reisebericht nutzt, um seine Kunstanschauung zu propagieren, setzt sich Hofmannsthal vor allem mit der Frage nach dem Fortleben der Antike auseinander. Anders als Hauptmann differenziert er zwischen der Erfahrung erfüllter Augenblicke und der Erfahrung der Antike: Beides hängt für ihn nicht zwangsläufig zusammen. 2.1.1.

Schreibweisen I: Auf der Suche »nach andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne«. Die Pilgerfahrt als voyage intérieur

Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling ist in zweifacher Hinsicht von paradigmatischer Bedeutung: Als erster Reisebericht über Griechenland entwirft er ein Antikebild, das ohne das Vorbild Nietzsches in dieser Form nicht denkbar wäre. Dies geschieht durch eine Art der Aneignung, die ebenfalls neue Wege einschlägt: Hauptmann stellt die Reise als höchst subjektive, irrationale Anverwandlung kultureller Bestände dar. 72

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Vgl. zu den Forschungsreisen ausführlich Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 53–63. So Daria Santini »›Wir wollen in uns spazierengehen‹: Gerhart Hauptmann’s and Hugo von Hofmannsthal’s Greek Travel Writings«, in: Oxford German Studies 29 (2000), S. 131–154, bes. S. 131f.: »Despite obvious differences, Griechischer Frühling and Augenblicke in Griechenland have much in common: they are the first examples of a new type of travel description in German, and express a similarly modern perception of the classical heritage and the concept of myth.« Vgl. zum deutschsprachigen Reisebericht der Jahrhundertwende insbesondere Bogosavljevic, German Literary Travelogues around the Turn of the Century.

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Zugleich handelt es sich nicht nur um das Dokument einer unreflektierten Subjektivitätsfeier: In bemerkenswerter Deutlichkeit stellt der Text die Mechanismen der Bedeutungszuschreibung heraus. Indem Hauptmann sein literarisches Verfahren in die Antike zurückprojiziert und Analogien zwischen der delphischen Pythia und den intuitiven Gewissheiten des modernen Autors herausstellt, konstruiert er ein Nachfolgeverhältnis, das aber gerade in seiner offensichtlichen Gemachtheit alles andere als naiv ist. Hauptmanns Auseinandersetzung mit der Antike erfolgt unter irrationalistischen Vorzeichen und ist gleichsam als Fortsetzung seiner Hinwendung zu mythisch gefassten Tiefenschichten zu verstehen, die bereits in den neuromantischen Märchendramen der 1890er Jahre deutlich wurde.74 Dies führt zu dem paradoxen Befund, dass Hauptmann irrationalistische, neumystische Verfahren literarisch gestaltet, durch die Art der Darstellung aber zugleich auf deren Konstruiertheit verweist. Das ein Jahr nach Hauptmanns Griechenland-Reise publizierte, stark überarbeitete Reisetagebuch Griechischer Frühling75 avancierte rasch – wenn auch nicht unwidersprochen76 – zum beliebtesten deutschsprachigen Reisebericht über Griechenland: Noch im Erscheinungsjahr 1908 wurde der Text insgesamt siebenmal aufgelegt.77 Er beeinflusste direkt oder indirekt die meisten deutschsprachigen Reiseberichte über Griechenland, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden. 74

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76

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Vgl. Sverre Dahl, »Gerhart Hauptmanns Griechenlandbild«, in: Osloer Beiträge zur Germanistik 3 (1979), S. 133–148; grundlegend (aber aufgrund der Erschließung von Hauptmanns Nachlass teilweise veraltet) Felix A. Voigt, Gerhart Hauptmann und die Antike, Berlin 1965; Rudolf Haller, »Gerhart Hauptmanns Begegnung mit dem Griechentum«, in: Antike und Abendland 8 (1959), S. 107–117; vgl. auch die wichtige Studie von Peter-Christian Wegner, Gerhart Hauptmanns Griechendramen. Ein Beitrag zu dem Verhältnis von Psyche und Mythos, Phil. Diss. Kiel 1968. Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling. – Auszüge waren zuvor in der Neuen Rundschau erschienen. Vgl. Gerhart Hauptmann, »Aus einer griechischen Reise«, in: Die neue Rundschau 1/1908, S. 6–30; 2/1908, S. 584–599. Vgl. insbesondere die polemische Rezension von Josef Hofmiller, »Griechischer Frühling«, in: Süddeutsche Monatshefte 6, 2 (1909), S. 531–541. Vgl. auch Reisinger, »Griechenland im Mittelalter und zur Neuzeit / Seine Wiederentdeckung durch Reisende, in: Ders. (Hrsg.): Griechenland. Landschaften und Bauten. Schilderungen deutscher Reisender, S. 22: »Die Person des Autors tritt hinter dem einzigartigen Wesen des Landes zu wenig zurück, die Absicht, den kurzen Aufenthalt in Griechenland zu einem Buche zu verarbeiten, kommt verstimmend zutage, und neben feinsinnigen Betrachtungen breitet sich viel gequältes Sinnieren vor dem Leser aus.« Vgl. Peter de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt am Main 1970, S. 549. Zur Rezeption des Griechischen Frühlings: Roy C. Cowen, Hauptmann-Kommentar zum nichtdramatischen Werk, München 1981, S. 76–69.

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Hauptmann selbst hatte den Reiseplänen zunächst skeptisch gegenübergestanden, fürchtete er doch, aus einer literarisch produktiven Phase herausgerissen zu werden: Nachdem gestern die Plätze für »Triest Piräus« bestellt, heute starke Depression, langes Ringen. Gestern Abend grosse, volle Begeisterung. Ich verlasse einen Platz, wo ich zufrieden sein konnte, ich lebte, in der mir angemessenen Weise, und in Produktivität, wie seit langem nicht.78

Die Initiative zu der Griechenland-Reise war von dem befreundeten Maler Ludwig von Hofmann ausgegangen.79 Die Reisegesellschaft bestand schließlich aus Hauptmann und Hofmann, ihren Frauen, Hauptmanns sechsjährigem Sohn Benvenuto, seinem Sohn aus erster Ehe, Ivo, der bei Hofmann Malerei studierte, sowie einem Kindermädchen und einem Privatsekretär. Nach Angaben von Ivo Hauptmann stand das Unternehmen von Beginn an unter keinem guten Stern: So gestaltete sich bereits die Buchung der Schiffspassage schwierig; in Athen ging Hauptmanns Schreibmappe verloren, die das auf Korfu begonnene Odysseus-Drama enthielt. Zudem kam es zu Spannungen zwischen den Familien Hauptmann und Hofmann, so dass sich ihre Wege bald trennten.80 Gerhart Hauptmanns Stimmungsschwankungen zwischen Euphorie und Frustration fanden allerdings ebensowenig Eingang in den publizierten Text wie die Mitreisenden, die kaum einmal erwähnt werden. Der Fokus liegt auf dem subjektiven Griechenland-Erlebnis des Dichters. Dabei gilt der Schilderung mythisch aufgeladener Orte besonderes Augenmerk, zum einen den antiken Stätten, zum anderen der griechischen Berglandschaft mit ihren Hirten. Hauptmanns Text zerfällt dabei deutlich in zwei Teile: Der Schilderung der Schiffsreise und der homerischen Fantasie auf Korfu stehen die Beschreibungen des griechischen Festlands und Hauptmanns Deutung der griechischen Kultur gegenüber. 78

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Gerhart Hauptmann, Tagebücher 1906–1913. Mit dem Reisetagebuch Griechenland–Türkei 1907. Nach Vorarbeiten von Martin Machatzke hrsg. von Peter Sprengel, Frankfurt am Main/Berlin 1994, S. 163 (Tagebucheintrag vom 21. 3. 1907, Lugano). Hofmann drängte den zögernden Autor, die Reise anzutreten: »Entschließe Dich nur, wo die Gelegenheit sich so aufdrängt. Denn bis Du zu der großen Weltreise nach Japan kommst, fällt vielleicht die ganze Akropolis zusammen. […] Es wird schon gehen, nimm Deinen Leichtsinn zusammen und denke, wenn Du es nicht tust, wie es Dich nachher ärgern wird.« (Ludwig von Hofmann an Gerhart Hauptmann, 13. 3. 1907, in: Gerhart Hauptmann/Ludwig von Hofmann, Briefwechsel 1894–1944, hrsg. v. Herta Hesse-Frielinghaus, Bonn 1983, S. 70). Er informierte ihn über die Fahrtkosten, über die griechische Infrastruktur und erinnerte nicht zuletzt daran, dass die Reise für mehrere Personen auch finanzielle Vorteile mit sich brächte. Vgl. die Angaben bei Ivo Hauptmann, Bilder und Erinnerungen, Hamburg 1976, S. 36.

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Bereits der Beginn von Hauptmanns Reisebericht verdeutlicht eindringlich das Erzählprogramm des Autors: In der Beschreibung der Schiffspassage von Triest nach Korfu definiert Hauptmann die Funktion seiner Griechenland-Reise, indem er rezeptionssteuernde Signale setzt, die von vornherein seinen Reisebericht von anderen Texten dieser Gattung abgrenzen. Hauptmann amalgamiert vielfältigste Vorstellungen und Quellen synkretistisch zu einem compositum mixtum, das dennoch den Eindruck von Unmittelbarkeit hervorrufen soll. Der zweite Absatz des Griechischen Frühling setzt programmatisch mit einer Satire auf eine »Spießbürgerfamilie«81 ein, die ihre Parallelen in Gerhart Hauptmanns naturalistischer Dramatik findet,82 zugleich aber auf neuromantische Strömungen der Jahrhundertwende verweist.83 Den reisenden Autor provoziert vor allem, dass »aus ihrer Mitte das Wort ›Phäakenland‹«84 ertönt: »Erfüllt von einer großen Erwartung, wie ich bin, erzeugt mir Klang und Ausdruck des Wortes in diesem Kreise eine starke Ernüchterung.«85 Man befindet sich auf der Schiffspassage nach Korfu, das traditionell als das homerische Scheria gilt, an dessen Strand der nackte und schiffbrüchige Odysseus der phäakischen Königstochter Nausikaa begegnete.86 Konfrontiert mit diesen Versatzstücken klassischer Bildung, setzen die Abwehrreaktionen Hauptmanns ein. Offenbar wertet er die Mitreisenden als philiströs, ihre Bildung wirkt phrasenhaft. Diese Distanzierung gilt aber bezeichnenderweise nicht dem Bezug auf Homer als solchem – im Gegenteil, bei der Beschreibung Korfus gebraucht Hauptmann selbst diesen abgegriffenen Vergleich, wenn er die Landung in »einer wahrhaft phäakischen Bucht«87 beschreibt –, sondern den Personen, die diesen Bezug für sich reklamieren. Die Familie, die sich »auf den üblichen Klappstühlen«88 niedergelassen hat, ent81 82

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Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 7. Vgl. etwa die Hassenreuter-Episoden in Hauptmanns Ratten. Vgl. dazu Peter Sprengel, »Zwischen Nachfolge und Parodie. Zur Klassik-Rezeption im Drama der Jahrhundertwende«, in: Ders., Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne, Berlin 1993 (Philologische Studien und Quellen; H. 125), S. 130–146. Vgl. zu Hauptmanns neuromantischen Tendenzen Reinhild Schwede, Wilhelminische Neuromantik – Flucht oder Zuflucht? Ästhetizistischer, exotistischer und provinzialistischer Eskapismus im Werk Hauptmanns, Hesses und der Brüder Mann um 1900, Frankfurt am Main 1987, S. 38–49. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 7. Ebd. Vgl. Homer, Odyssee. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Text der ersten Ausgabe, Stuttgart 1975, VI. Gesang. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 18. Ebd., S. 7.

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spricht offenbar einem Hauptmann äußerst unangenehmen Typus, nämlich dem des bildungsbeflissenen Touristen, der das mittlerweile für den Fremdenverkehr erschlossene Griechenland besucht. Dabei ist auffällig, dass Hauptmann nicht die Unbildung seiner Mitreisenden geißelt, wie es in der Tradition der griechischen Reisebeschreibungen üblich ist. So merkt etwa der hessische Gymnasialprofessor Otto Dingeldein bei der Beschreibung seiner Schiffsreise »nach dem Goldenen Horn« stolz an: Nicht unerwähnt soll bleiben, daß ich der einzige an Bord war, der das Mittagessen erst unter- und dann abbrach, um des Anblickes der klassischen Stätte nicht verlustig zu gehen. Freilich war kein Philologe mehr unter uns.89

Dingeldeins unfreiwillige Selbststilisierung zum Bildungsphilister mag ein Extrembeispiel darstellen; jedoch lässt sich kaum leugnen, dass eine Vielzahl der um die Jahrhundertwende entstandenen Reiseberichte Dokumente professoralen Selbst- und Sendungsbewusstseins sind. Indem Hauptmann seine Mitreisenden für seine »Ernüchterung«90 verantwortlich macht, wendet er sich zugleich implizit gegen eine bestimmte Art des Reisens und auch des Schreibens über Reisen. Allerdings wird an dieser Stelle die Distanz nur behauptet, keinesfalls begründet: Hauptmann betont den eigenständigen Charakter seiner Reise, die er dezidiert als Dichter unternimmt. Bezeichnend für die Ausrichtung von Hauptmanns Reisebericht ist das Gefühl, das ihn überkommt, als ihm bewusst wird, dass er sich tatsächlich auf dem Weg nach Griechenland befindet: Ich erwäge plötzlich mit einem gelinden Entsetzen, daß ich mich nun doch noch auf einer Reise nach jenem Lande befinde, in das es mich schon mit achtzehn Jahren hyperionsehnsüchtig zog. Zu jener Zeit erzwang ich mir einen Aufbruch dahin, aber die Wunder der italienischen Halbinsel verhinderten mich, mein Ziel zu erreichen. Nun habe ich, das Versäumte nachzuholen, in sechsundzwanzig Jahren zuweilen gehofft, zuweilen nicht mehr gehofft, zuweilen gewünscht, zuweilen auch nicht mehr gewünscht; einmal die Reise geplant, begonnen und liegen gelassen. Und ich gestehe mir ein, daß ich eigentlich niemals an die Möglichkeit ernstlich geglaubt habe, das Land der Griechen mit Augen zu sehen. Noch jetzt, indem ich diese Notizen mache, bin ich mißtrauisch!91 89

90 91

Otto Dingeldein, Eine Ferienreise nach dem Goldenen Horn, Büdingen 1907, S. 17 (Fußnote). Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 7. Ebd., S. 13. – Vgl. Freud, »Brief an Romain Rolland«, S. 254: »Ich erinnere mich nicht einfach daran, daß ich in frühen Jahren daran gezweifelt, ob ich je die Akropolis selbst sehen werde, sondern ich behaupte, daß ich damals überhaupt nicht an die Realität der Akropolis geglaubt habe. Grade aus diesem Ergebnis der Entstellung ziehe ich den Schluß, daß die gegenwärtige Situation auf der Akropolis ein Element von Zweifel an der Realität enthalten hat.«

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Hauptmanns Jugendtraum war also nicht zuletzt literarisch geprägt: Der Verweis auf Hölderlins Hyperion verdeutlicht, dass sich der Autor in einer langen literarischen Tradition der Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur begreift. Der erste Anlauf scheiterte in der Logik des Textes an der Attraktivität Italiens, wo Hauptmann ein Jahr als Bildhauer lebte.92 Sein Traum erfüllt sich erst mit der Verspätung von mehr als einem Vierteljahrhundert. Für Hauptmann ist die Reise nach Griechenland nicht mit einer üblichen touristischen Unternehmung vergleichbar, da Griechenland längst aufgehört habe, ein bloßer geographischer Ort zu sein. Vielmehr begreift Hauptmann Griechenland als »eine Provinz jedes europäischen Geistes«,93 als einen Topos im rhetorischen Sinne also, als den Erinnerungsort der westlichen Kultur schlechthin.94 Schließlich rückt Griechenland in die Sphäre des Irrealen, wenn Hauptmann es als den »Himmel eigener Phantasie«95 bezeichnet: Ich kenne übrigens keine Fahrt, die etwas gleich Unwahrscheinliches an sich hätte. Ist doch Griechenland eine Provinz jedes europäischen Geistes geworden; und zwar ist es noch immer die Hauptprovinz. Mit Dampfschiffen oder auf Eisenbahnen hinreisen zu wollen, erscheint fast so unsinnig, als etwa in den Himmel eigener Phantasie mit einer wirklichen Leiter steigen zu wollen.96

Wenn die Reise mit modernen Verkehrsmitteln in die erleb- und beschreibbare griechische Gegenwart notwendigerweise defizitär bleiben muss, ergibt sich für Hauptmanns Text folgerichtig die Konsequenz, die inneren Vorgänge zu thematisieren, die mit einer Reise nach Griechenland verbunden sind. Die Reise wird zur Teilhabe an einem Mysterium.97 So setzt Hauptmann der ernüchternden humanistischen Bildung, für die die Odyssee als Reservoir an beliebig einsetzbaren mythologischen Versatzstücken dient, in einer durchaus elitaristischen Geste seine besondere Intuitionsfähigkeit entgegen, die es ihm ermöglicht, die antike Dichtung und Kultur nicht nur passiv zu rezipieren, sondern sie sich produktiv anzuverwandeln und fortzufüh92

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Vgl. Gerhart Hauptmann, Italienische Reise 1897. Tagebuchaufzeichnungen, hrsg. v. Martin Machatzke, Berlin 1976. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Vgl. zu der Terminologie Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek; 16). Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Ebd. So ein Schlüsselbegriff für Hauptmanns Denken. Vgl. Peter Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses (Veröffentlichungen der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft; 2), Berlin 1982, S. 145.

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ren, und zwar rauschhaft und vorrational. Es ist diese Fähigkeit zur Teilhabe, die Hauptmanns Text (manchmal penetrant) demonstriert. Er hebt die Person des Autors heraus, stellt ihn implizit über die »naturfremde[n] Durchschnittsmensch[en]«,98 deren Reiseerlebnis – so die Logik von Hauptmanns zivilisationskritisch geprägter Sichtweise – immer defizitär bleiben muss. Ihnen gegenüber steht der Dichter, der im Idealfall, den Hauptmann für sich reklamiert, Zugang zu sämtlichen sinnlich wie übersinnlich erfahrbaren Wissens- und Gefühlsbereichen besitzt. Dieser Gedanke deutet sich erstmals in einer von der Forschung bisher vernachlässigten kurzen Passage an, nämlich der Sage vom grünen Strahl: Der Schiffsarzt erzählt von einer merkwürdigen Lichterscheinung, die angeblich »in dem Augenblick« auftritt, »ehe die Abendsonne ganz unter die Wasserlinie tritt«99. Ein Mitreisender erklärt,100 dieses Phänomen sei bereits in der Antike bekannt gewesen, »der Name des ägyptischen Sonnengottes bedeute ursprünglich: grün«101. Diese Geschichte löst bei Hauptmann eine »Fülle rätselhaften Naturempfindens«102 aus: Er »fühle in [sich] eine Sehnsucht, den grünen Strahl zu erblicken«.103 Diese Sehnsucht führt zur Vorstellung einer völligen Hingabe an die Suche nach diesem kaum greifbaren Phänomen, das zudem religiös überhöht wird: Ich könnte mir einen reinen Toren vorstellen, dessen Leben darin bestünde, über Länder und Meere nach ihm zu suchen, um endlich am Glanz dieses fremden, herrlichen Lichtes unterzugehen. Befinden wir uns vielleicht auf einer ähnlichen Pilgerfahrt? Sind wir nicht etwa Menschen, die das Bereich [ ! ] ihrer Sinne erschöpft haben, nach andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne dürsten?104

Lebenserhöhung im Augenblick des Todes, Pilgerfahrt, reizüberflutete Menschheit – Hauptmann schöpft hier aus dem Begriffsrepertoire der Jahrhundertwende, um im Konjunktiv eine Wesensbestimmung der idealen Reise zu geben. Diese kurze Passage kann als programmatische Aussage über Wesen und Funktion von Gerhart Hauptmanns Griechenland-Reise verstanden werden. So verweist die Figur des »reinen Toren« auf Wagners

98 99 100

101 102 103 104

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 8. Ebd., S. 14. Laut dem Reisetagebuch erinnert diese seltsame Gestalt an Siegfried Wagner. Vgl. Hauptmann, Tagebücher 1906–1913, S. 161. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Ebd. Ebd. Ebd.

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Parsifal 105 und auf die mit dem Bühnenweihfestspiel verbundenen religiösen Konnotationen. Auch das Thema der Identitätssuche und die damit verbundene Sehnsucht nach Eingang in eine mystisch-religiöse Sphäre klingen hier an. Für Hauptmann drückt sich in Wagners Musik – ähnlich wie in der griechischen Tragödie – ein tiefes Mysterium aus; in seinem Tagebuch unterstreicht er, dass Wagner im antiken Griechenland eine Priesterfunktion innegehabt hätte, und vergleicht Bayreuth mit Delphi.106 Der Suche nach dem Gral entspricht der Versuch, den Glanz des grünen Strahls zu erhaschen; ein Unternehmen, das wohl nur einem reinen Toren gelingen kann,107 der schließlich – so die Aussage von Wagners Oper – den Weg zur Erlösung findet. Das Bild vom Untergang »am Glanz dieses fremden, herrlichen Lichtes« verweist auf Einheitsvorstellungen der Mystik, insbesondere auf Meister Eckart und den von Hauptmann stark rezipierten Jakob Böhme:108 Diese Einheitsvorstellungen liegen als konstitutives Schema Hauptmanns AntikeErlebnis zugrunde, wobei der Untergang nicht mit der physischen Vernichtung gleichzusetzen ist, sondern vielmehr eine allumfassende Ausweitung des Ich, das Aufgehen in einer unio mystica mit dem Göttlichen meint. Auch Gedanken von einem Liebestod spielen hier mit hinein, ohne dass die erotische Komponente ausgeführt würde. Bezeichnend ist die Nähe der Lichtmetaphorik zu Hanneles Himmelfahrt (1893), dem »Glashüttenmärchen« Und Pippa tanzt (1906) sowie besonders zu dem Märchendrama Die versunkene Glocke (1896), in dem der Sonne gleichsam religiöse Bedeutung zukommt.109 Der Strahl und die mit ihm verbundene Sonnensymbolik verweisen auf na105

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Hauptmann war auch mit Wolframs von Eschenbach Parzival vertraut; in seinen Gralphantasien bearbeitete er unter dem Einfluss Wagners den Parzival- und den Lohengrinstoff. Vgl. dazu Cowen, Hauptmann-Kommentar zum nichtdramatischen Werk, S. 88–90. Vgl. Hauptmann, Tagebücher 1906–1913, S. 206. Auch in Hauptmanns Till Eulenspiegel findet sich der grüne Strahl. Vgl. Gerhart Hauptmann, »Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 4, S. 597–916, hier S. 689: »Was ich will, Herr, das ist: Nicht mehr wollen zu müssen! Und was ich / suche? Weniger nicht als ein Wunder, genannt grüner Strahl, Herr!« Vgl. zu Hauptmanns Böhme-Rezeption Philip Mellen, »Gerhart Hauptmann – Jacob Boehme. Anatomy of Influence«, in: Peter Sprengel/Philip Mellen (Hrsg.), Hauptmann-Forschung. Neue Beiträge, Frankfurt am Main u. a. 1986, S. 93–125. So ruft Heinrich etwa die »Urmutter Sonne« an, von der alles Leben ausgehe. Vgl. Gerhart Hauptmann, »Die versunkene Glocke«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 1, S. 757–869, hier S. 826. Auch in Hauptmanns übrigem Werk kommt der Sonnensymbolik wesentliche Bedeutung zu.

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turreligiöse Strömungen der Jahrhundertwende: Diese Symbolik »wird zum Ausdruck der Befreiung des einzelnen aus den Fesseln der Gesellschaft, der Erhebung über die Vielzuvielen und des Aufschwungs auf die Höhen der Menschheit«,110 nicht zuletzt auch zum Indiz eines bereits in der Spießersatire anklingenden Elitarismus. Schließlich sind sowohl die Suche nach dem grünen Strahl als auch die Reise nach Griechenland eine Pilgerfahrt – eine in nahezu jedem Text der Zeit völlig unironisch gebrauchte Metapher. Diese Pilgerfahrt sei wegen der Reizüberflutung notwendig, der der moderne Mensch ausgesetzt sei, die aber vielerlei Bedürfnisse unbefriedigt lasse. Das Erlebnis Griechenlands könne andersartige Reize auslösen, die auch die rational nicht fasslichen »Übersinne«111 fesseln könnten. Für Hauptmann – und spätestens hier wird deutlich, wie fragwürdig das verallgemeinernde »wir« der zitierten Passage ist, – ist in besonderer Weise der Dichter für eine tiefergehende Art der Wahrnehmung qualifiziert. Hauptmanns Affinität zu einer Genieästhetik, die zugleich Versatzstücke antiker Dichterbilder integriert, zeigt sich nicht nur an den zahlreichen entsprechenden Passagen des Griechischen Frühling: Bereits früh distanzierte er sich von Arno Holz’ Definition der Kunst, die aus seiner Sicht zu wenig die schöpferische Kraft des Individuums berücksichtigte.112 Durchweg verstand er sein Künstlertum als medial, sich selbst als poeta vates, als »Mönch der Poesie«,113 wie er nach dem Kauf einer Mönchskutte in seinem Tagebuch notierte. Anlässlich des Festbanketts zu seinem 50. Geburtstag stellte Hauptmann sein dichterisches Selbstverständnis heraus: Der Dichter, wahrhaft durchdrungen vom Göttlichen, vom Hauch einer tiefen Erkenntnis berührt, ist zum Werkzeug göttlicher Bildkraft geworden und erfüllt eine köstliche, lebendige Mission, die ihn zum dogmenfreien Priester macht.114

Vor diesem befremdlich wirkenden, aber ernst gemeinten und von Hauptmann fraglos als gültig empfundenen Hintergrund ist der Griechische Frühling zu lesen. Auf der »Pilgerfahrt« nach »andersartigen Reizen für Sinne und Übersinne«115 ist es Aufgabe des Dichters, sich gleichsam als Medium in 110

111 112 113 114

115

Peter Sprengel, Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung, München 1984, S. 162. Die zitierte Passage bezieht sich auf Die versunkene Glocke. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Vgl. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 53–59. Hauptmann, Tagebücher 1906–1913, S. 310. Gerhart Hauptmann, »Kunst und Jugend«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 6, S. 692–694, hier S. 694. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14.

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Kontakt mit der Antike zu setzen. Ein wichtiger Teil dieser Strategie besteht darin, von vornherein den Gegensatz zwischen dem Fremden und dem Eigenen so klein wie möglich zu halten: »Ich sage mir, dieses köstliche fremde Land wird nun auf Wochen hinaus – und Wochen bedeuten auf Reisen viel – für mich eine Heimat sein.«116 Geradezu spielerisch wird bereits vor der Landung auf Korfu der Gegensatz zwischen Heimat und Fremde aufgelöst. Mit martialisch anmutendem Gestus erklärt Hauptmann: »Was mir bevorsteht, ist eine Art Besitzergreifen. Es ist keine unreale, materielle Eroberung, sondern mehr.«117 Bewusst paradox postuliert Hauptmann an dieser Stelle, dass die eigentliche Realität in einer immateriellen Sphäre liege, dass also seine geistige Inbesitznahme die einzig sinnvolle sei. Diese deutlichen kolonialistischen Untertöne in der Wortwahl sind bemerkenswert nahe an der Rhetorik der wilhelminischen Ära.118 Die Möglichkeit dieser Besitzergreifung besteht, da es für Hauptmann keinen Zweifel an der besonderen Beziehung zwischen griechischem und deutschem Geist gibt.119 Erst diese ideologische Fundierung ermöglicht es ihm, sich zum legitimen Nachfolger der griechischen Kultur zu stilisieren, dem eben wegen dieses Nachfolgeverhältnisses der Zugang zur untergegangenen Welt der Antike besonders leicht fallen muss. Hauptmanns Besitzergreifung geht einher mit einer Verjüngung, mit einem rauschhaften Zustand der Antizipation. Erwartung und Erinnerung vermischen sich, so dass die Landung auf Korfu beinahe wie eine Heimkehr empfunden wird: »Ich bin wieder jung. Ich bin berauscht von schönen Erwartungen, denn ich habe von dieser Insel, solange ich ihren Namen kannte, Träume geträumt.«120 Diese figura etymologica unterstreicht den zentralen Stellenwert der Traumsymbolik 116 117 118

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Ebd. S. 17. Ebd. Vgl. auch Max Osborns Ausführungen über die Position des Reisenden: »Denn in der Einsamkeit bin ich Herrscher, ein orientalischer Despot, der von dem Lande, in dem er thront, nur nimmt, ohne die Verpflichtung, ihm auch etwas zu geben.« (Osborn, »Vom Reisen«, S. 890) Bezeichnenderweise wird Wilhelm II. ein Jahr nach Hauptmanns Reise das Achilleion auf Korfu erwerben. Vgl. zu dieser Konstruktion einer Geistesverwandtschaft Fuhrmann, »Die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Nationalismus und die Deutsche Klassik«; Landfester, »Griechen und Deutsche: Der Mythos einer ›Wahlverwandtschaft‹«. Vgl. zu Hauptmanns Konstruktion der Athene Deutschland Gesa von Essen, »Gerhart Hauptmann im Mythensystem des Kaiserreiches: von der Hermannsschlacht zur Athene Deutschland«, in: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen (Identitäten und Alteritäten; 7), Würzburg 2001, S. 391–416. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 18.

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in Hauptmanns Reisebericht. Sie deutet zudem an, dass der Text oftmals die Grenzen zwischen Realitätsbeschreibung und Transzendierung der empirisch fasslichen Realität gestaltet. Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling ist also die literarische Gestaltung einer vom Autor als »Pilgerfahrt« empfundenen Reise. Ziel ist es, sich in die Welt des griechischen Mythos einzufühlen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Innenwelt des Reisenden: Es geht also nicht darum, Informationen über die bereisten Orte zu präsentieren. Stattdessen stellt Hauptmann die Reaktionen des Reisenden auf diese mythisch aufgeladenen Stätten dar. Dabei ist der durchgehend projektive Gestus des Schreibens offenkundig: Zumeist stehen Setzungen und Behauptungen an der Stelle von stringenten logischen Argumentationen. Weshalb es denn nötig, ja für den modernen Menschen geradezu heilsam sei, sich in die Welt der Mythen zu versetzen, erklärt Hauptmann, der hier auf ein seit langem etabliertes Stereotypenreservoir der Kulturkritik zurückgreift, mit der Zersplitterung, dem Transzendenz- und Einheitsverlust der Moderne. Der Mythos kann hier als Korrektiv wirken, bildet er doch eine Einheit, in der das moderne Individuum zumindest zeitweise seine defizitären Lebensumstände vergessen kann: Und deshalb, weil die Kräfte der Phantasie heut vereinzelt und zersplittert sind und keine gemäße Umwelt (das heißt: keinen Mythos) vorfinden, außer jenem, wie ihn eben das kurze Einzelleben der Einzelkraft hervorbringen kann, so ist für den Spätgeborenen der Eintritt in diese unendliche, wohlgegründete Mythenwelt zugleich so beflügelnd, befreiend und wahrhaft wohltätig.121

Der Mythos ist für Hauptmann der repräsentative Ausdruck des Griechischen. Seine literarischen Bearbeitungen hätten im antiken Griechenland Allgemeingültigkeit besessen. Für moderne Autoren sei es schwierig, diesen Anspruch zu erfüllen. Auch für sie biete sich deshalb der antike Mythos an, wenn sie einen hohen Grad an universeller Geltung erreichen wollten. Die mythische Welt der Griechen kann für Hauptmann nur auf vorrationalem Weg erfahren werden, wobei deutlich wird, dass das Erstrebte selbst im suchenden Individuum angelegt, ja wohl bereits vorhanden ist. Hauptmann artikuliert diesen Gedanken bei seiner Beschreibung der Athener Akropolis: In dieser Stunde, im Glanze des unendlichen Zaubers der Gottesburg, pocht und bebt und rauscht für den echten Pilger in allem der alte Puls. Und seltsam eindringlich wird es mir, wie das Griechentum zwar begraben, doch nicht gestorben ist. Es ist sehr tief, aber nur in den Seelen lebendiger Menschen begraben, und 121

Ebd., S. 82f.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 wenn man erst alle die Schichten von Mergel und Schlacke, unter denen die Griechenseele begraben liegt, kennt, wie man die Schichten kennt über den mykenischen, trojanischen oder olympischen Fundstellen alter Kulturreste aus Stein und Erz, so kommt auch vielleicht für das lebendige Griechenerbe die große Stunde der Ausgrabung.122

Die Bedingung für diese Erfahrung des Griechentums ist zunächst der Ort; allerdings kann nicht jeder Besucher die Nähe der Alten erleben. Mit seiner Herausstellung des »echten Pilger[s]«123 rekurriert Hauptmann auf die Abgrenzung von den übrigen philiströsen Reisenden und macht zugleich deutlich, dass seine Reiseerfahrung durchaus exklusiv ist, auch wenn sein Reisebericht ohne Unterlass Anleitungen bietet, diese Einheitserlebnisse herzustellen. Die Antike wird hier Teil der Körperlichkeit des Reisenden, sie ist nicht mehr nur eine auf abstraktem Weg erlernbare historische Epoche, sondern wird zu einer vorrational erfahrbaren Entität, die nun anthropologisch konnotiert ist. Der Vergleich mit archäologischen Verfahren verdeutlicht wiederum, dass sich Hauptmann programmatisch gegen Buchgelehrsamkeit wendet. Zugleich liegt die Ähnlichkeit zu der Metaphernsprache der Psychoanalyse auf der Hand. Man muss hier nur an Sigmund Freuds Engführung von Psychologie und Archäologie in der Abhandlung Zur Ätiologie der Hysterie (1896) erinnern,124 um zu erkennen, wie wenig originell Hauptmanns Idee ist. Hauptmanns Verhältnis zu Freud ist bekanntermaßen ambivalent.125 Aufschlussreich ist diese Ähnlichkeit vor allem deshalb, da sie verdeutlicht, wie Hauptmann an literarische Diskurse des Fin de Siècle anschließt. Gegenüber den morbiden und todestrunkenen Fantasien von Schnitzler und D’Annunzio erweist sich Hauptmanns Bezug auf die Archäologie als wesentlich lebensfroher. Es geht ihm offenkundig um ihr Vermögen, verschüttete, tot geglaubte Objekte wieder ans Licht zu bringen, präsent zu machen und auf diese Weise wieder zum Leben zu erwecken. Wie dies funktionieren kann, versucht der Text an einer Vielzahl von Stellen vorzuführen. Dabei ist beachtenswert, dass nahezu immer der Konstruktionscharakter offensichtlich bleibt, ja manchmal geradezu ausgestellt wird, so dass es weniger um die Antike als vielmehr um das erlebende Subjekt geht: 122 123 124

125

Ebd., S. 77. Ebd. Vgl. Sigmund Freud, »Zur Ätiologie der Hysterie (1896)«, in: Ders., Hysterie und Angst, Frankfurt am Main 1971 (Studienausgabe; 6), S. 51–81. Vgl. Karl S. Guthke, »Hauptmann und Freud. Eine Arabeske über die Logik des Kuriosen«, in: Neue Deutsche Hefte 26, 1 (1979), S. 21–44; ergänzend Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 205–207.

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Was Wunder, wenn durch die Erregung der langen Fahrt, in Dunkelheit, in Wind und Wetter, einer höchsten Erfüllung nah, die Seele in einen luziden Zustand gerät, wo es ihr möglich wird, von allem Störenden abzusehen und deutliche Bilder längst vergangenen Lebens in die phantastische sogenannte Wirklichkeit hineinzutragen.126

Die äußeren Faktoren, die die erweiterte Wahrnehmung bedingen, sind klar benannt. Allerdings erschöpft sich trotz des Konstruktionsbewusstseins der Text nicht in der Darstellung von Beliebigkeit: Das, was erfahren wird, ist in der Logik des Textes zweifellos gültig, weil es adäquater, an anderem Ort in dieser Form nicht möglicher Ausdruck der dichterischen Subjektivität ist. So sind auch die Passagen zu verstehen, in denen Hauptmann die Belebung der Antike als Echoexperiment darstellt: Dem »Rufe des wahren Pilgers [käme] jedweder heilige Name aus dem alten, ewigen Herzen der Berge fremd, lebendig und mit Gegenwartsschauern zurück.«127 Wilfried van der Will hat zu Recht darauf verwiesen, dass in Hauptmanns Text oftmals eine Struktur vorliegt, die einem mystischen Dreischritt entspricht.128 Diese Beobachtung zeigt wiederum, dass der »Pilger« beim Abfassen seines Textes auf Muster der ihm bestens bekannten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystik zurückgreift, um Einheitserlebnisse zu gestalten, die zumeist von der Erfahrung der Natur oder antiker Monumente ausgehen. Davon bleibt allerdings unberührt, dass die Muster seiner literarischen Subjektivitätsgestaltung durchweg literarisch sind. Das vermeintliche authentische Erlebnis wird in Auseinandersetzung mit Homer, Goethe, Nietzsche und einer Vielzahl weiterer Autoren entwickelt und beschrieben. Hauptmanns säkularisierte mystische Introspektion macht also sehr deutlich, dass er Projektionen, die einen hohen Grad an Intertextualität besitzen, erzählerisch gestaltet. 2.1.2.

Schreibweisen II: Intertextuelles Reisen. Gerhart Hauptmann in den Spuren von Homer und Goethe

Dass Gerhart Hauptmann auf seiner Reise nach Griechenland die westliche Bildungstradition gleichsam im Gepäck mit sich trug, verdeutlicht ein Auszug aus den Erinnerungen seines Sohns Ivo: »Der Vater reiste mit viel Ge126 127 128

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 54. Ebd., S. 69. Wilfried van der Will, Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Symbolsprache im Werk Gerhart Hauptmanns, Diss. Köln 1962, S. 171: »Manche Satzfolgen geben einen Dreistufenweg der unio der Sinne mit dem so in die Erlebniswirklichkeit gelangenden Mythos zu erkennen, der dadurch als ein auf die Phantasie ausgeübter Naturzwang erscheint, dem sich der Dichter überläßt.«

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päck. Bücherkoffer von außergewöhnlichem Gewicht wurden mitgeführt, so daß die Gepäckträger unter der Last stöhnten.«129 Obwohl Hauptmann seine Reise programmatisch als subjektive und irrationale, die »Übersinne«130 ansprechende Suche nach einem unverstelltem Zugang zum Kern der griechischen Kultur versteht und darstellt, macht diese Episode doch auf einen wesentlichen Aspekt aufmerksam, den der auf genialische Unmittelbarkeit zielende Gestus des Textes zunächst verstellt: Sowohl die Anlage der Reise selbst als auch die literarische Umsetzung des Reiserlebnisses sind offenbar von Autoritäten vorgeprägt. Hauptmann reist in Spuren, auch sein Schreiben über die Reise ist in hohem Maße intertextuell.131 Während in der älteren Forschung zumeist auf die Unmittelbarkeit des Erlebnisses, das der Reisebericht vermittele, abgehoben wurde,132 hat Manfred Pfister überzeugend gezeigt, dass intertextuelles Reisen – also Reisen, das textuell vorgegebenen Spuren folgt, – eher die Regel als die Ausnahme darstellt: »Reisen folgt Kanonbildungen, die selbst auf Texten beruhen und in diesen fortgeschrieben werden.«133 Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling ist geradezu ein Paradebeispiel für intertertextuelles Schreiben über Reisen: Sein Reisebericht orientiert sich durchgehend an literarischen Mustern, ohne deshalb in dem Sinne kompilatorisch zu sein wie eine Vielzahl entsprechender Texte bis weit hinein ins 18. Jahrhundert.134 Einerseits sind Hauptmanns Vorbilder strukturell wirksam – Goethes Italienische Reise und Homers Odyssee liefern als wichtigste Prätexte grundlegende Muster der narrativen Darstellung, die Hauptmanns Text nachvollzieht135 –, andererseits durchzieht den Text ein dichtes Netz von mehr oder weniger stark markierten literarischen Allusionen vielfältigster Natur, die vom griechischen Drama über Walter Paters Griechische Studien136 bis hin zu Hermann 129 130 131

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Ivo Hauptmann, Bilder und Erinnerungen, S. 34. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Vgl. Pfister, »Intertextuelles Reisen«; Ders., »Autopsie und intertextuelle Spurensuche«. Vgl. Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, S. 11. Pfister, »Intertextuelles Reisen«, S. 113. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. Santini, »›Wir wollen in uns spazierengehen‹«, S. 123. Santini geht knapp auf die Italienische Reise als Vorbild für Hauptmann ein; vgl. auch Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 170f., sowie Erwin Meyenburg, »Goethes ›Italienische Reise‹ und Hauptmanns ›Griechischer Frühling‹, in: Goethe-Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft in Japan 2 (1933), S. 73–100; Siegfried H. Muller, Gerhart Hauptmann and Goethe, London 1949, S. 59–67. Walter Paters im englischen Original postum 1895 erschienene Griechische Studien sind insbesondere für Hauptmanns Auseinandersetzung mit dem Demeter-My-

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Bahrs Dialog vom Tragischen und anderen mehr reichen, so dass dem Griechischen Frühling insgesamt ein hoher Grad an Intertextualität bescheinigt werden kann.137 Die Vielzahl der integrierten Prätexte und die Art, wie vielfältige Bezüge zu Literatur, aber auch zu Musik und bildender Kunst verwoben sind, machen Hauptmanns Reisebericht zu einem durchaus hybriden Gebilde, das aber gerade in dieser Art der bricolage138 spezifisch moderne Züge aufweist. Gerade im ersten Teil des Textes – konkret: der Beschreibung Korfus – wird deutlich, wie Hauptmann auf verschiedene Prätexte zurückgreift. Anhand einer Analyse der intertextuellen Verweise auf Goethe und Homer lässt sich zeigen, dass Hauptmanns Reisebericht als Beispiel einer Literatur auf zweiter Stufe gelten kann. Wenn Hauptmann die Landung in »einer wahrhaft phäakischen Bucht«139 beschreibt, so ist von Beginn seiner Schilderung an der Bezugsrahmen klar: Der Verweis auf den sechsten Gesang von Homers Odyssee rückt Korfu in eine mythische Sphäre, in einen Bereich, in dem die Gesetze der Alltagsrealität nur bedingt gelten. Allerdings setzt die Beschreibung der Insel mit einigen Signalen ein, die scheinbar in eine andere Richtung weisen: So thematisiert Hauptmann einerseits seine »Kopfneuralgien«,140 andererseits räumt er der Beschreibung sozialen Elends auffällig viel Raum ein. Insbesondere die Darstellung verelendeter Bettler steht scheinbar in schärfstem Kontrast zu der durch die Anspielung auf die Odyssee geweckten Erwartungshaltung: Einer dieser Bettler nähert sich mir. Er überbietet jeden sonstigen europäischen Eindruck dieser Art. Seine Augen glühen über einem sackartigen Lumpen hervor, mit dem er Mund, Nase und Brust vermummt hat. Er hustet in diese Umhüllung hinein. Er bleibt auf der Straße stehen und hustet, krächzt, pfeift mit Absicht, um aufzufallen, sein fürchterliches Husten minutenlang. Es ist schwer, sich etwas so Abstoßendes vorzustellen wie dieses verlauste, unflätige, barfüßige und halbnackte Gespenst.141

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thos von Bedeutung. Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 70–75; vgl. dazu Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 284–335. Vgl. Manfred Pfister, »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hrsg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 1–30, bes. S. 25–30 (»Skalierung der Intertextualität«). Vgl. Genette, Palimpseste, S. 532: »Die Hypertextualität gehört gewissermaßen zum Basteln.« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 18. Ebd. Ebd., S. 24f.

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Die Drastik dieser Schilderung transportiert noch einiges von dem Schockerlebnis der Begegnung. Sie verweist in ihren Beschreibungsmustern auf die Literatur des Naturalismus. Während aber etwa in Hauptmanns Dramen die Darstellung sozialen Elends mit einer Diskussion der Ursache verbunden war, so fehlt im Fall der zitierten Beschreibung jeglicher Verweis auf die Ursachen sozialer Missstände, die es zu verbessern gälte.142 Ursula Münchow hat in ihrer marxistischen Interpretation des Griechischen Frühling an solchen Passagen »Hauptmanns Kritik am Kapitalismus«143 festmachen wollen; Richard Bechtle betont, hier sei »die Tendenz zur Schilderung dessen, was Hauptmann vor Augen trat«144, unverkennbar; Hans Mayer wiederum interessiert sich in seiner Interpretation nicht für das »Touristengeschwätz«145, sondern für die für Hauptmann zentrale Auseinandersetzung mit den griechischen Tragikern. Insgesamt wird das Unbehagen der Interpreten an der Uneinheitlichkeit von Hauptmanns Text deutlich: Der große Kontrast zwischen der Auseinandersetzung mit dem Mythos und den vorgeblich realistischen Passagen scheint unüberbrückbar. Ohne eine Rettung des tatsächlich in vielen Belangen disparaten Textes zu versuchen, scheint doch deutlich, dass solche vermeintlich unpassenden Textstellen keinesfalls aus dem mythischen Bezugsrahmen fallen, den Hauptmann sowohl für das Erlebnis als auch für die Darstellung seiner Reise beansprucht: In der Logik von Hauptmanns Text sind sogar die Bettlerbeschreibungen Teil der mythisierenden Tendenzen; sie verweisen – was bislang nicht erkannt wurde – auf die Welt der homerischen Epen. So erinnert sich Hauptmann kurz vor der zitierten Passage an das Schicksal des heimkehrenden »Bettlers Odysseus«146 und kann so die Wahrnehmung des Elends gleichsam als Brücke in die Vorstellungswelt der Mythen nutzen. Auch der Anblick weiterer drastischer Elendsszenarien von Hauptmanns Hotelzimmer aus weckt Assoziationen zur griechischen Vergangenheit:147

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So auch Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 168. Ursula Münchow, »Gerhart Hauptmanns ›Griechischer Frühling‹«, in: Neue deutsche Literatur. Monatsschrift für schöne Literatur und Kritik 4 (1956), H. 6, S. 110–114, hier S. 114. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 172: »Ein derartiger Realismus in der deutschen Griechenlandliteratur war bis dahin unbekannt.« Hans Mayer, »Griechischer Frühling [1967]«, in: Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.), Gerhart Hauptmann, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung; 207), S. 328–336, hier S. 330. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 24. Bezeichnenderweise erinnert sich Ivo Hauptmann noch siebzig Jahre später an eben diesen Anblick. Vgl. Ivo Hauptmann, Bilder und Erinnerungen, S. 35.

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Von Müllhaufen zu Müllhaufen wandern, welch ein unbegreifliches Los der Erbärmlichkeit! Mit Hunden und Katzen um den Wegwurf streiten! Und doch war es vielleicht mitunter das Los Homers, der, wie Pausanias schreibt, auch dieses Schicksal gehabt hat, als blinder Bettler von Ort zu Ort zu ziehn.148

Vor diesem Hintergrund erscheint die oben als Beispiel eines krassen Naturalismus zitierte Beschreibung eines Bettlers in einem wesentlich anderen Licht: Sie verweist sowohl auf die Odysseus-Figur als auch auf deren Schöpfer, den Dichter Homer. Beide – sowohl der mythische Dichter als auch sein Protagonist – sind für Hauptmann gleichermaßen in der Gestalt des Bettlers präsent. Dies ist kein Zufall, verkörpern doch beide für Hauptmann wesentliche Existenzformen. Homer steht metaphorisch für die Unbehaustheit der Dichterexistenz. Diese Vorstellung steht zunächst im Widerspruch zu Hauptmanns auf Repräsentation zielendem Gestus, findet aber ihre Parallelen im dramatischen Werk, in Michael Kramer (1900) und dem Armen Heinrich (1902).149 Odysseus wiederum, der vielgewandte Dulder, ist nicht zuletzt eine Art Schutzpatron des Reisenden, ja als Heimkehrender schlechthin verkörpert er das, was Hauptmann als einen wesentlichen Grundzug seiner Reise bestimmt hatte, nämlich die Heimkehr in ein bekanntes Land.150 Identifikation über mythologische Vergleiche ist somit ein Grundmuster von Hauptmanns Wirklichkeitsdarstellung. Ihm gelingt es scheinbar mühelos, die an und für sich deprimierenden Erlebnisse in die Ferne zu rücken und sie über Vergleiche zu mythisieren. Dieser Befund wird gestützt, wenn man betrachtet, wie Hauptmann diese Bilder literarisch wiederverwertet hat: Gerade die Elendsbeschreibungen fanden Eingang in Hauptmanns Drama Der Bogen des Odysseus (1914). Dort beschreibt Telemach, der seinen Vater nicht erkennt, den als Bettler verkleideten Odysseus in Versen, die deutlich als Übernahme aus dem Griechischen Frühling zu erkennen sind: Du starrst von Unflat, deine Augen quellen / aus blut’gen Rändern, deine Brauen sind / verfilzt und buschig. Deine Lippe trieft / und feuchtet dein verfilztes Bartgestrüpp, / das kein Schermesser sah seit vielen Jahren. / Spärlich bedecken Lumpen deinen Leib, / den ausgemergelten, von Hunger, Siechtum und / Alter ge-

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Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 36f. – Vgl. Pausanias, Reisen in Griechenland, Bd. I, S. 151 (Pausanias II 33,3). Vgl. Sprengel, Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung, S. 169. Vgl. zu den Transformationen der Odysseus-Gestalt Bernhard Zimmermann, »Odysseus – ein Held mit vielen Gesichtern«, in: Ders. (Hrsg.), Mythos Odysseus. Texte von Homer bis Günter Kunert, Leipzig 2004, S. 169–183.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 krümmten. Deines Mundes Laute / sind stammelnd. Deiner Brust entringt sich pfeifend / und röchelnd ein verdorbner Atem.151

Odysseus scheint »besessen und entwürdigt«,152 wird sich aber im Verlauf des Dramas zum triumphierenden König entwickeln, der blutige Rache an den Freiern nehmen wird. Der Bettler ist für ihn nur eine äußere Hülle. Zugleich erscheint das Bettlerdasein als eine Metapher für Unbehaustheit schlechthin. Diese Unbehaustheit ist auch Homer eigen, der in Hauptmanns Drama mit Odysseus verglichen wird, wenn im vierten Akt der Freier Amphinomos Odysseus mit folgenden Worten beschimpft: »Bin ich vielleicht ein grindiger Homer / wie dieser da, der Lieder krächzt und bettelt?«153 Weitaus idyllischer wird die Beschreibung im Griechischen Frühling, wenn Hauptmann die Stelle besucht, an der Odysseus angeblich der ballspielenden Nausikaa begegnete.154 Die vorhersehbare literarische Reminiszenz bleibt nicht aus: Hauptmann zitiert aber eben nicht aus der Odyssee,155 sondern aus Goethes Nausikaa-Fragment.156 An dieser Stelle wird deutlich, wie vermittelt Hauptmanns Homer-Bild ist, wie stark er den griechischen Stoff durch die Nachschöpfung Goethes wahrnimmt. Dabei handelt es sich um eine Huldigung des Weimaraners, die mit der Konstruktion von Nachfolgerschaft verbunden ist: Hauptmanns tiefe Affinität zu Goethe erstreckte sich in späteren

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Gerhart Hauptmann, »Der Bogen des Odysseus«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 2, S. 833–942, hier S. 896. Ebd. Ebd., S. 925. Vgl. Homer, Odyssee, VI. Gesang, V. 135–141: »Also ging der Held, in den Kreis schönlockiger Jungfraun / Sich zu mischen, so nackend er war; ihn spornte die Not an. / Furchtbar erschien er den Mädchen, vom Schlamm des Meeres besudelt; / Hiehin und dorthin entflohn sie und bargen sich hinter die Hügel. Nur Nausikaa blieb; ihr hatte Pallas Athene / Mut in die Seele gehaucht und die Furcht den Gliedern entnommen. / Und sie stand und erwartete ihn.« Vgl. auch Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 64: »Der Weg wendet sich bei Manduchio vorbei zur Küste, überschreitet auf schöner Brücke den Potamos (hierhin verlegt die Sage die Stelle, wo Odysseus die Nausikaa traf) und bleibt anfangs unweit der Küste in der Ebene.« Eine Vielzahl von Reiseberichten beizieht sich explizit auf das Vorbild Homers. Vgl. Leo Weber, Im Banne Homers. Eindrücke und Erlebnisse einer Hellasfahrt, Leipzig 1912; Ludwig Hevesi, Sonne Homers. Heitere Fahrten durch Griechenland und Sizilien 1902–1904, Stuttgart 1905. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 22: »Goethes Entwurf zur ›Nausikaa‹ begleitet mich.« – Vgl. Gerhart Hauptmann, Tagebücher 1897–1905, S. 439f.: »Goethe zeigt sich im Nausikaa-Entwurf als der wahre moderne Dramatiker.« (Eintrag vom 22. 7. 1905).

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Jahren bis auf Kleidung und Haarschnitt.157 Diese Imitatio beschränkt sich aber keineswegs auf Repräsentation,158 auf die Selbststilisierung zum Dichterfürsten, sondern geht tiefer: Ihr liegt eine zwar befremdlich wirkende, aber offenbar als authentisch empfundene Vorstellung von größter Nähe gerade auch im dichterischen Schaffensprozess zugrunde. Grotesk anmutende Tagebuchnotizen – »Ich würde sicherlich viele der kleineren Gedichte Goethes machen, wenn er sie nicht schon gemacht hätte«159 – zeigen, dass Hauptmann die Distanz zu Goethe nicht wahrnimmt: Für ihn ist er kein Vertreter einer epigonal nachzuahmenden Vergangenheit, sondern gleichsam Zeitgenosse im Geist.160 Hauptmann kann also ungebrochen Goethes Spuren folgen – auch bei der Reise in ein Land, das dieser niemals betreten hat. Probleme dieser offensichtlich paradoxen Konstellation thematisiert der Text an keiner Stelle, vielmehr konstruiert er Äquivalenzen zwischen Goethes Italienischer Reise und Hauptmanns Griechenland-Erlebnis. So erwähnt Hauptmann Goethes Nausikaa-Fragment im Griechischen Frühling nicht nur, sondern vollzieht selbst die Entstehung des Dramenfragments nach, das Goethe in den öffentlichen Gärten von Palermo begann. In der Italienischen Reise schreibt Goethe: Der »Eindruck jenes Wundergartens […], das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne sowie ins Gedächtnis«.161 Dieser Eindruck ist so stark, dass Goethe eine zweisprachige Homer-Ausgabe erwirbt, spontan den sechsten Gesang der Odyssee übersetzt und schon bald den Plan fasst, die Episode zu dramatisieren. Der Park von Palermo ist für Goethe »der wunderbarste Ort von der Welt. Regelmäßig angelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht gar langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum«.162 Goethes Beschreibung des »Wundergartens«163 hebt besonders hervor, dass er trotz der planmäßigen Anlage gleichsam als Tor zur Antike diene. Das ausgewogene Verhältnis von Natur und Kunst ermögliche den Eintritt in eine irreale Sphäre, auf die auch die verwendeten 157

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Vgl. Gunter Grimm, »Goethe-Nachfolge? Das Beispiel Gerhart Hauptmanns«, in: Ders., Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. Mit Analysen und Bibliographie, München 1977, S. 206–239. So die These von Grimm, »Goethe-Nachfolge?«, S. 210. Hauptmann, Tagebücher 1897–1905, S. 165 (Eintrag vom 2. 4. 1898). Vgl. Eberhard Hilscher, Gerhart Hauptmann. Leben und Werk, Berlin 1996 (erstmals 1969), S. 15. Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Mit 40 Illustrationen nach zeitgenössischen Vorlagen. Hrsg. u. kommentiert v. Herbert von Einem, München 1981, S. 241. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241.

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Adjektive wie etwa »feenhaft«164 verweisen. Zumindest temporär kann der Autor in dieser Umgebung die Gegenwart transzendieren und in eine mythengesättigte Sphäre vordringen, die dichterische Kreativität stimuliert. Gerhart Hauptmann beschreibt den Garten, den er auf der Phäakeninsel Korfu besucht, deutlich nach dem Muster Goethes.165 Hauptmann verbringt die Stunde um Sonnenuntergang in dem schönen, verwilderten Garten, der dem König von Griechenland gehört. Es ist eine wunderbare Wildnis von alten Zypressen, Oliven- und Eukalyptusbäumen, ungerechnet alle die blühenden Sträucher, in deren Schatten man sich bewegt.166

Ihn zeichnet der »Reiz des Verwunschenen«167 aus, dasselbe Verhältnis von planmäßiger Anlage und Verwilderung, das für Goethe den besonderen Reiz des Gartens von Palermo ausmachte. Die deutlichen Parallelen erschöpfen sich nicht in der Übernahme bestimmter konventionalisierter Beschreibungsmuster, sie dienen vielmehr der Evokation einer Atmosphäre von Inspiration und Kreativität. Wie Goethe – oder vielleicht zutreffender: wegen Goethe – beginnt Hauptmann im Garten ein Drama, dem eine Episode aus der Odyssee zugrunde liegt. Der agonale Anspruch, der in diesem Nachfolgeverhältnis mitschwingt, ist nicht zu übersehen. Ausgestreckt auf den »Marmorreste[n] eines antiken Tempelchens«168 beginnt Hauptmann mit der Niederschrift: Weniger um etwas zu schaffen, als vielmehr um mich ganz einzuschließen in die homerische Welt, beginne ich ein Gedicht zu schreiben, ein dramatisches, das Telemach, den Sohn des Odysseus, zum Helden hat. Umgeben von Blumen, umtönt von lautem Bienengesumm, fügt sich mir Vers zu Vers, und es ist mir all-

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Ebd., S. 240. Vgl. Santini, »›Wir wollen in uns spazierengehen‹«, S. 140: »The first half of the journey he clearly identifies with Goethe, whose visit to Palermo’s botanical gardens echoes in his wanderings through the royal gardens at Corfu.« – Vgl. auch Rüdiger Görner, »Odysseus, Nausikaa und die Urpflanze. Zu einer mythopoetisch-szientistischen Konstellation bei Goethe«, in: Ders., Goethe. Wissen und Entsagen – aus Kunst, München 1995, S. 29–39. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 25. Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 63: »Der *Garten (stets geöffnet, Trinkgeld, ½ Dr.) besitzt eine herrliche südliche Vegetation, prachtvolle Bäume, darunter alte, tief zerspaltene Ölbäume.« Vgl. Griechenland. Handbuch für Reisende, 4. Auflage, S. 258: »Unter dem subtropischen Klima der geschützten Lage gedeihen hier nicht nur Oliven, Cypressen, Orangen, Limonen, Feigen in ausgezeichneten Prachtexemplaren, sondern auch Palmen, Magnolien, Paulownien, Eukalyptus, Bananen, Papyrus, Agaven u. s. w.« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 25. Ebd., S. 28.

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mählich so, als habe sich um mich her nur mein eigener Traum zu Wahrheit verdichtet.169

Der Dichter – so die Logik des letzten Satzes – schafft sich selber seine Realität. Die Bedeutung des Ortes, die kurz zuvor betont wird, erscheint in diesem Lichte weitaus geringer, als eingangs behauptet wird. Hauptmann erlebt zwar im königlichen Garten »jene köstlichen Augenblicke, die auf Jahre hinaus der Seele Glanz verleihen und um derentwillen man eigentlich lebt«,170 wird sich gar erst völlig bewusst, wo er sich denn befindet171 – zugleich aber verliert die äußere Welt in dem Maße an Bedeutung, wie die innere in den Vordergrund tritt. Wiederum ist es die Traumwelt, die eine eigene höhere Realität zu offenbaren scheint. Hauptmanns Griechischer Frühling steht also deutlich in der Tradition von Goethes Italienischer Reise, setzt sich produktiv gerade mit den Passagen auseinander, in denen der dichterische Schaffensprozess im Vordergrund steht. Nicht zuletzt die intertextuelle Replik auf Goethes Arbeit am NausikaaDrama macht deutlich, dass von Spontaneität des Erlebens und Wahrnehmens in Hauptmanns Griechischem Frühling keine Rede sein kann, obwohl der Text dies behauptet. Trotz des stark markierten Versuchs einer Goethe-Nachfolge besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Goethes und Hauptmanns Naturwahrnehmung: Goethe wird von seinem Dramenplan durch den Gedanken abgehalten, unter den unzähligen Pflanzen des Parks auch die Urpflanze entdecken zu können.172 Diese Ablenkung durch Wissenschaft ist Hauptmann völlig fremd:173 Für ihn hat das Naturerlebnis in erster Linie eine mediale Funktion, es ruft in dem empfänglichen Dich169

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Ebd., S. 29. – Vgl. Ingo Starz, »›Heiliger Frühling‹ als Kulturformel der Moderne. Erinnerung und kultureller Raum in der Kunst der Jahrhundertwende«, in: Baumbach (Hrsg.), Tradita et Inventa, S. 473–485, hier S. 474: »Kulturelles Gedächtnis und moderner Blick gehen in der Vorstellungswelt des Dichters eine Synthese ein, sein Griechischer Frühling gewinnt Züge eines poetologischen Bekenntnisses.« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 28. Vgl. ebd.: »Es dringt mir mit voller Macht ins Gemüt, wo ich bin und daß ich das Ionische Meer an den felsigen Rändern des Gartens brausen höre.« Vgl. Goethe, Italienische Reise, S. 266: »Es ist ein wahres Unglück, wenn man von vielerlei Geistern verfolgt und versucht wird! […] Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte.« Vgl. Muller, Gerhart Hauptmann and Goethe, S. 61: »This ›scientific‹ method of observation and formulation of theories so characteristic of Goethe, we find lacking in Hauptmann’s description. It is one of the salient differences in the two accounts.«

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ter vorrationale Fähigkeiten hervor.174 Die literarische Betätigung steht in Hauptmanns Text am Beginn der völligen Versenkung in die Welt des Mythos. So mündet die Beschreibung der Tempelruine und der Pflanzen, die sie umgeben, in das Gefühl, immer schon »ein Diener der unsterblichen Griechengötter gewesen zu sein«.175 Offenbar bringt diese Dienerexistenz quasimagische Fähigkeiten mit sich, die rational nicht begreiflich sind. Der Dichter erscheint als eine Art Sensor, der mythisch-magische Relikte der Vergangenheit aufspüren kann: Ich weiß nicht, wie ich auf die Vermutung komme, daß unterhalb des Tempelchens eine Grotte und eine Quelle sein müsse. Ich steige verfallene Stufen tief hinab und finde beides. […] Ich bin hier, um die Götter zu verehren, zu lieben und herrschen zu machen über mich. Deshalb pflücke ich Blumen, werfe sie in das Becken der Quelle, zu den Najaden und Nymphen flehend, den lieblichen Töchtern des Zeus.176

An die Stelle wissenschaftlicher Neugier tritt eine religiöse Opfergeste, die bezeichnenderweise den weiblichen Quellgottheiten gilt, denen sich Hauptmann ausliefert: Der Garten erscheint von nun an als ein mythischer Ort, der von weiblichen Kräften geprägt ist. Im Folgenden wird der Tempel zum Ort eines pantheistischen Rituals. Der »Gottesdienst in der Natur«177 bewirkt, dass sich Hauptmann mühelos »in den Geist der Alten entrückt«178 fühlt. Zugleich wird an dieser Stelle die Identifikation Hauptmanns mit Odysseus wiederaufgenommen: Wie »ein erster Grieche«, der »soeben nach vieler Mühsal gelandet«179 ist, empfindet Hauptmann eine Einheit mit der ihn umgebenden fruchtbaren Natur. Er stilisiert sich zu einer literarischen Figur, taucht somit tief in die Welt der homerischen Epen ein und kann durch diese Initiation gleichsam in direkten Kontakt mit dem Mythos treten. Jeder »Naturkult, jede Art Gottesdienst, jedes irgendwie geartete höhere Leben des Menschen« sei –

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Vgl. Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende (Studien zur deutschen Literatur; 125), Tübingen 1993, S. 226: »Grundzüge dieser Naturauffassung [des Friedrichshagener Dichterkreises] eignet Hauptmann sich an. Wesentlich ist hierbei eine Einstellung, die man ›idealistischen Realismus‹ nennen könnte: die Selbstverständlichkeit, mit der von der Versenkung in das Äußere das Gefühl des All-Lebens erhofft wird.« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 29. Ebd. – Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 63: »Wieder hinab zum Boot und bald hoch am Ufer die unbedeutenden Trümmer eines alten AsklepiosTempels (Äskulapschlangen nicht selten).« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 30. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32.

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so Hauptmann – »durch Eros bedingt«.180 Für das Erlebnis eines erotisch getönten erhöhten Augenblicks im Einklang mit der Natur scheint der »Garten der Kirke«,181 wie ihn Hauptmann von seinem nächsten Besuch an nennt, geradezu prädestiniert. Er stellt das Naturerlebnis als verzaubernd, aber auch potentiell gefährdend dar. Zugleich erotisiert Hauptmann die Natur: Die Luft ist feucht. Der Garten, in den ich eintrete, braust laut. Der Garten der Kirke, wie ich den Garten des Königs jetzt lieber nenne, braust laut und melodisch und voll. […] Es ist herrlich! Der Webstuhl der Kirke braust wie Orgeln: Choräle, endlos und feierlich. Und während die Göttin webt, die Zauberin, bedeckt sich die Erde mit bunten Teppichen. Aus grünen Wipfeln brechen die Blüten: gelb, weiß und rot wie Blut. […] Der gewaltige Eukalyptus, an dem ich stehe, scheint zu schaudern vor Wonne, im Ansturm des vollen, erneuten Lebenshauchs. Das sind Boten, die kommen! Verkündigungen!182

Die Schilderung der Sinneseindrücke evoziert eine rauschhafte, ja geradezu dionysische Atmosphäre. Dass es sich um eine religiös getönte vitalistische Fruchtbarkeitsfeier handelt, verdeutlicht etwa die Beschreibung der aufbrechenden Blüten und des schaudernden Eukalyptus. Die Natur wird sexuell aufgeladen: Dabei erscheint der Garten als riesiges Instrument, als klingender Webstuhl der Kirke. Dieses Bild übernimmt Hauptmann aus der Odyssee, wo die Gefährten des Odysseus die singende Zauberin am Webstuhl antreffen: »Singend webete Kirke den großen unsterblichen Teppich, / Fein und lieblich und glänzend, wie aller Göttinnen Arbeit.«183 Hauptmann betont die zauberisch-verlockenden Qualitäten Kirkes. Die Gleichsetzung des Webstuhls mit Orgeln verweist zudem auf die religiöse Sphäre. Der Garten der Kirke ist somit ein Ort, an dem dämonische Weiblichkeit erfahrbar wird. Neben der Zauberin Kirke wird noch eine weitere Frauengestalt der Odyssee explizit erwähnt, nämlich die Nymphe Kalypso, deren Beschreibung in der Odyssee große Ähnlichkeit mit der Kirkes aufweist: »Sie sang mit melodischer Stimme, / Emsig, ein schönes Gewebe mit goldener Spule zu wirken.«184 Neben äußerlichen Ähnlichkeiten ist ihnen gemein, dass sie laut Hauptmann beide »der mythische Ausdruck sich regender Wachstumskräfte in der Frühlingsnatur«185 seien. Die Atmosphäre des Parks hat berauschende 180 181 182 183 184 185

Ebd. Ebd., S. 33. Ebd. Homer, Odyssee, X. Gesang, V. 222f. Ebd., V. Gesang, V. 61f. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 34. – In der Odyssee dient die Pflanze Moly als Gegenmittel, mit dem die Verwandlung der Gefährten in Schweine rückgängig gemacht wird. Vgl. Homer, Odyssee, X. Gesang, V. 304f.: »Ihre Wurzel war schwarz und milchweiß blühte die Blume; / Moly wird sie genannt von den Göttern.«

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Wirkung; der konkrete Sinneseindruck führt zu der Überzeugung, Mythos sei ein Ausdruck von Naturkräften.186 Ein Aspekt von Gefährdung wird in Hauptmanns Fruchtbarkeitsbeschwörung allerdings niemals ausgeklammert. So erscheint eine schöne griechische Wäscherin, der Hauptmann begegnet, wie eine der Mägde Kirkes: Und wie sie mir in die Augen blickt, befällt mich Furcht, als läge die Kraft der Meisterin auch in ihr, Menschen in Tiere zu verwandeln, und ich sehe mich unwillkürlich nach dem Blümchen Moly um.187

Indem er sich zum Nachfolger des Frauenbezwingers Odysseus stilisiert, verlässt Hauptmann den Garten. Bei seinem nächsten Besuch erscheint die Szenerie weitaus feindseliger. Eine Atmosphäre des Schreckens herrscht vor, die mit der dionysisch getönten vitalistischen Lebensfeier der oben zitierten Passage nur wenig gemein hat. Im Gegenteil: Es ist etwas ewig Totes, ewig Stummes, ewig Verlassenes, ewig Verwandeltes in der Natur und in allem vegetativen Dasein des Gartens. Die Tiere der Kirke schleichen lautlos, tückisch und unsichtbar! der bösen, tückischen Kirke Gefangene! sie erscheinen für ewig ins Innere dieser Gartenmauer gebannt, wie Sträucher und Bäume an ihre Stelle. Alle diese uralten, rätselhaft verstrickten Olivenbäume gleichen unrettbar verknoteten Schlangen, erstarrt, mitten im Kampf, durch ein schreckliches Zauberwort.188

Kirke erscheint mit einem Mal als böse und tückisch. Der Garten erinnert an das Schicksal von Odysseus’ Gefährten, die durch ein »schreckliches Zauberwort« verhext sind. Wie Peter Sprengel gezeigt hat, bildet der Kirke-Mythos, 186

187 188

Noch eine dritte homerische Frauengestalt ist über Anspielungen präsent: Gemeinhin assoziiert man Penelope, die Gattin des Odysseus, mit einem Webstuhl. Zwar wird sie nicht namentlich erwähnt, allerdings verknüpft Hauptmann im Bogen des Odysseus Attribute von Kirke und Penelope, so dass in der Forschung Der Bogen des Odysseus als Kirke-Drama gedeutet wurde. Diese Gleichsetzung von Kirke und Penelope funktioniert allerdings nur, wenn man den homerischen Charakter umdeutet. Hauptmann nutzt das Bild vom Webstuhl, um auch Penelope mit dämonischen Zügen auszustatten: »Wenn sie wie eine große bunte Spinne / inmitten des Gewebs am Webstuhl sitzt / und immer starr und undurchdringlich lächelt / und Atem schwellend ruhig durch sie hingeht, / durch diesen wogenden Leib, den köstlichen: / wer will da widerstehn?« (Hauptmann, »Der Bogen des Odysseus«, S. 923) Diese Gleichsetzung von Kirke und Penelope – der Grundgedanke des Bogen des Odysseus – klingt bereits im Griechischen Frühling an. Ohne Aspekte des später entstandenen Bogen des Odysseus in die Zeit von Hauptmanns Griechenlandreise zurückzuprojizieren, wird dennoch mehr als deutlich, dass bei Hauptmann die verderbenbringenden Aspekte von Weiblichkeit niemals völlig in den Hintergrund treten. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 35. Ebd., S. 37.

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die Vorstellung von der Frau als verderbenbringender Zauberin, die man domestizieren müsse, um die von ihr ausgehende Gefahr abzuwenden, eine zentrale Komponente von Hauptmanns mythischem Denken.189 Kirke wird zur femme fatale stilisiert, deren sexuelle Anziehungskraft den Untergang des Mannes nach sich zieht.190 Eben diesen Gedanken artikuliert der Griechische Frühling besonders deutlich. Das Panoptikum homerischer Frauengestalten, die allesamt mit Odysseus erotisch verbunden sind, macht deutlich, wie mehrdeutig Hauptmanns Konstruktion von Weiblichkeit ist. Es bleibt eine bemerkenswerte Ambivalenz von Faszination und Furcht. Sowohl Kirke als auch Kalypso können Männern Schaden bringen. Bezeichnenderweise wird die deutlich harmlosere Nausikaa nicht mehr erwähnt. Das Phäakenland, der Garten des Antinoos, ist in Hauptmanns Beschreibung zur Insel der Kirke geworden. Die beiden unterschiedlichen Schilderungen des Parks sind komplementär aufgebaut. Die Fruchtbarkeitsfeier steht der Konstruktion einer bedrohlichen Weiblichkeit gegenüber. Beide Aspekte sind in Hauptmanns Weltbild untrennbar und leidbringend miteinander verbunden: »Diese, die Frau-Mythen, stehen dem Eigenen der Männlichkeit als das Fremde schlechthin gegenüber.«191 So wird Kirke, der dämonischen Urheberin eines »schreckliche[n] Zauberwort[s]«,192 mit dem Donnergrollen Zeus’ ein männliches Gegenbild entgegengesetzt.193 Hauptmann verleiht der dualistischen Vorstellung eines permanenten und unauflöslichen Geschlechterkampfs Ausdruck. Mythische Allusionen und die Schilderung visionshafter Prozesse dienen somit der Illustration ureigener – wenn auch nicht originär – Hauptmann’scher Positionen. Bezeichnenderweise identifiziert sich Hauptmann mit Odysseus, der im später entstandenen Drama nicht zuletzt die geradezu unheimlich dargestellte Penelope bezwingen muss und doch zugleich immer ein Zweifelnder und Suchender bleibt. In dieser Identifikation mit Odysseus folgt Hauptmann aber auch Goethe, der sich ebenfalls, insbesondere bei der Beschreibung seiner Reise nach Sizilien, mit dem vielgewandten homerischen Helden verbunden fühlte.194 Trotz der plakativen Bezugnahme auf 189 190

191 192 193

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Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 220–238. Vgl. Carola Hilmes, Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur, Stuttgart 1990. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 185. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 37. Vgl. zu Hauptmanns dualistischem Weltbild Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 184. Vgl. Goethe, Italienische Reise, S. 300: »Es war in dieser Komposition [dem Nausikaa-Plan] nichts, was ich nicht aus eignen Erfahrungen nach der Natur hätte ausmalen können. Selbst auf der Reise, selbst in Gefahr, Neigungen zu erregen, die,

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Goethe ist Hauptmanns Bild der homerischen Welt von Vorstellungen der Jahrhundertwende geprägt: Eine schlanke, hohe, jugendschöne Engländerin mit den edlen Zügen klassischer Frauenbildnisse ist an Bord. Seltsam, ich vermag mir das homerische Frauenideal, vermag mir eine Penelope, eine Nausikaa nur von einer so gearteten Rasse zu denken.195

Der nordische Frauentyp gibt also den Bezugsrahmen für Hauptmanns Vorstellungen ab.196 Gemälde von John William Waterhouse – etwa Circe Invidiosa aus dem Jahr 1892 – können als veranschaulichende Beispiele für diese Bilderwelt dienen.197 Auch Penelope hat Waterhouse ähnlich gemalt: Unter der klassizistischen Oberfläche verbirgt sich eine für den Mann gleichermaßen verlockende wie gefährliche Sinnlichkeit.198 Daria Santini hat als einen wesentlichen Grundzug von Hauptmanns Text »the transmutation of reality into dreams and vision«199 ausgemacht, und tatsächlich lässt sich dieser Aspekt an der Beschreibung der visionsartigen Erlebnisse im königlichen Garten zeigen. Darüber hinaus muss aber festgehalten werden, dass dieser Anverwandlungsvorgang zu jeder Zeit intertextuellen Spuren folgt: Homer und Goethe sind die Ausgangspunkte von Hauptmanns Antike-Erlebnis; beide Autoren dienen als identifikatorische Muster für seine Selbststilisierung. Während der Bezug zu Homer die Randständigkeit der Dichterexistenz betonte, diente der Verweis auf Goethe der Evokation einer Atmosphäre von Inspiration und Kreativität. Die Identifikation mit Odysseus schließlich ermöglichte die Darstellung mythischer Konstanten, die für Hauptmanns Denken von zentraler Bedeutung sind. Wenn Hans Mayer

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199

wenn sie auch kein tragisches Ende nehmen, doch schmerzlich genug, gefährlich und schädlich werden können; selbst in dem Falle, in einer so großen Entfernung von der Heimat abgelegne Gegenstände, Reiseabenteuer, Lebensvorfälle zu Unterhaltung der Gesellschaft mit lebhaften Farben auszumalen, von der Jugend für einen Halbgott, von gesetztern Personen für einen Aufschneider gehalten zu werden, manche unverdiente Gunst, manches unerwartete Hindernis zu erfahren; das alles gab mir ein solches Attachement an diesen Plan, an diesen Vorsatz, daß ich darüber meinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil meiner übrigen sizilianischen Reise verträumte.« Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 42. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 169: »Sogar bei der Vorstellung klassischer Züge hat der Dichter eher Vertreterinnen des Nordens vor Augen.« Vgl. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 261: Waterhouse »gehörte zum selbstverständlichen Inventar der Epoche«. Vgl. Aubrey Noakes, John William Waterhouse, London 2004, bes. S. 90–107 (Kapitel »A Mind Saturated with Classical Imagery«). Santini, »›Wir wollen in uns spazierengehen‹«, S. 139.

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äußerst prägnant, aber ebenso unzutreffend formuliert, »daß Hauptmanns Denkspielereien um Odysseus und die Odyssee zu Beginn der Griechenlandfahrt nicht viel mehr gewesen waren als Bildungsgetue«,200 und sie im Vergleich mit den Blut- und Opferfantasien abwertet, die Hauptmann bei seiner Beschreibung Delphis entfaltet, so zeigt diese Position, wie selbst in der Forschung Hauptmanns Unmittelbarkeitspostulat verinnerlicht wurde. Denn schließlich besteht die Besonderheit von Hauptmanns Text gerade in seiner prinzipiellen Offenheit, ja er wird erst dadurch zu einem spezifisch modernen literarischen Experiment, das sich deutlich von den üblichen Schreibweisen über Griechenland abhebt. Dies geschieht allerdings um den Preis, dass Griechenland in den Hintergrund tritt. Die Wahrnehmung des fremden Landes dient lediglich als Ausgangspunkt für eine scheinbar visionshafte Auseinandersetzung mit dem Mythos, die tatsächlich in hohem Maße intertextuell ist. Hauptmanns Griechischer Frühling ist von gegenläufigen Bewegungen geprägt: Einerseits steht an vielen Stellen das subjektive, emphatisch überhöhte Erlebnis im Vordergrund, andererseits thematisiert Hauptmann explizit seine Vorbilder und Orientierungspunkte. Diese Binnenspannung wird zu keinem Zeitpunkt aufgelöst. Hinzu kommt, dass auch diejenigen Passagen, die scheinbar von dichterischer Subjektivität geprägt sind, auf vielfältigste Prätexte verweisen, so dass der Griechische Frühling an nahezu jeder Stelle Fremdes integriert oder diskutiert: Wenn dem Text überhaupt ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt, so ist es das der Vorlagenakkumulation. Diese führt wiederum dazu, dass auf Korfu mehrere Orte präsent sind. Hauptmann vermengt Stationen der Odyssee und erschafft so ein mythologisches Kontinuum, eine Gegenwelt, die mit der konkret erfahrbaren Insel Korfu nur noch wenig gemein hat. Die Faszination, die von diesem hybriden Text ausgeht, liegt gerade in der Art, wie Hauptmann vielfältigste literarische und künstlerische Vorbilder und Einflüsse ohne Bedenken vermengt und überblendet, so dass nach gründlicher Lektüre der Eindruck entsteht, Hauptmann habe die »Bücherkoffer von außergewöhnlichem Gewicht«201 nicht ohne Nutzen mitgeführt. 2.1.3.

Beschriebenes I: Griechenland als nordische Hirtenwelt

Wie bereits die Interpretation der Passagen über den »Garten der Kirke«202 verdeutlicht hat, trennt Hauptmann nicht scharf zwischen antikem und mo200 201 202

Mayer, »Griechischer Frühling«, S. 334. Ivo Hauptmann, Bilder und Erinnerungen, S. 34. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 33.

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dernem Griechenland: Für ihn sind in der Gegenwart Geschichte und Mythos greifbar. Diese Überblendung von Vergangenheit und Gegenwart stellt Hauptmann dadurch heraus, dass er programmatisch Kontinuitäten und Ähnlichkeiten in der Natur, aber auch bei den Bewohnern Griechenlands betont. In einer epochenübergreifenden Synthese versucht Hauptmann, das Wesen der griechischen Kultur und Religion aus ihrem »Hirtenursprung«203 zu erklären. Dabei entwirft er Griechenland als einen Raum, in dem der Mythos vorrational wahrgenommen werden kann. Befremdlich wirkt Hauptmanns Tendenz, nach der Bestätigung für seine Vorstellung einer Verwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen zu suchen. Zum einen betont er immer wieder die grundsätzliche Ähnlichkeit von griechischer und deutscher Landschaft, zum anderen verwendet er auf die Beschreibung blonder Griechen große Sorgfalt. Seine Herangehensweise übersteigt die altbekannten Vorstellungen von einer Affinität zwischen griechischem und deutschem Geist und deutet diese unter dem unverkennbaren Einfluss naturwissenschaftlicher Vererbungs- und Milieutheorien um. Hatten die meisten anderen Reiseberichte gerade das Unzugängliche, Befremdliche des modernen Griechenland hervorgehoben, das dem angestrebten Erlebnis der griechischen Kultur im Weg stehe, so schlägt Hauptmann den entgegengesetzten Weg ein: Indem er durchgehend die erstaunliche Ähnlichkeit Griechenlands und seiner Bewohner mit Deutschland und den Deutschen betont, verringert er merklich die Distanz zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Zwar fehlen auch die Enttäuschungssignale in Hauptmanns Text nicht gänzlich; verglichen aber mit der schieren Menge und Plakativität der Ähnlichkeitsbehauptungen verlieren sie ihre Bedeutung.204 Bereits das »Phäakenland«205 Korfu, die erste Station der Reise, trägt dezidiert deutsche Züge: Der Gesang der Korfioten hat »mehr einen kühlen deutschen Charakter«,206 die Umgebung der Stadt ist geprägt von »fast nordischen Rasenflächen«,207 die Landschaft erinnert »an die Schwermut nord203 204

205 206 207

Ebd., S. 102. Hauptmanns emphatische Würdigung Griechenlands ist nicht selbstverständlich. Vgl. Olga Gräfin Meraviglia, Ein Ausflug nach Griechenland und Konstantinopel im Jahr 1914, S. 151f.: »Und so schließe ich den Bericht dieser meiner Reise, der ersten, welche mir eigentlich nur Enttäuschung brachte, aber ich bin doch froh, daß ich sie gemacht, denn ich hätte mir das bereiste Land stets anders vorgestellt und meine Phantasie hätte sich darnach gesehnt.« Vgl. auch ebd., S. 79f. – Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 122–129. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 7. Ebd., S. 19. Ebd.

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deutscher Ebenen«.208 Diese Beschreibungstendenz verstärkt sich angesichts des griechischen Festlands, dessen Vegetation an die Heimat erinnert. Hauptmann trifft auf »deutsche Eichen, so alt und mächtig entwickelt, wie in der Heimat sie gesehen zu haben ich mich nicht erinnern kann«,209 er hat den Eindruck, als liefe unser Schiff in einen Fjord und wir befänden uns in Norwegen statt in Griechenland. Beim Anblick der Nadelwälder, von denen die steile Flanke der Kiona bedeckt ist, erfüllt mich das ganze starke und gesunde Bergglück, das mir eingeboren ist.210

Hauptmann betont nicht nur die landschaftlichen Entsprechungen, sondern auch die Ähnlichkeit vieler Griechen mit Bewohnern des Nordens. Unter den Griechen fänden sich immer wieder Individuen, die einem nordischen Schönheitsideal entsprächen. Die Griechen sind in Hauptmanns Sicht »ein Bergvolk«,211 das unter ähnlichen Bedingungen lebt wie die Bewohner von Hauptmanns schlesischer Heimat. Es scheint ein in mancher Beziehung veredelter deutscher Schlag zu sein, so überaus vertraut in Haltung, Gang und Humor, in den Proportionen des Körpers sowie des Angesichts, mit dem blonden Haar und dem blauen Blick, wirken auf mich die Trupps der Landleute. Wir lassen zur Linken ein eilig wanderndes und mit einer dunklen Genossin plauderndes blondes Mädchen zurück. Sie ist frisch und derb und germanisch kernhaft.212

Die blonden und blauäugigen Griechen wirken wie aus einer Alpenidylle entsprungen. Hauptmanns Betonung der kernigen, vitalen Griechen ist insbesondere gegen Tendenzen der Reiseliteratur gerichtet, die modernen Griechen aus einer Perspektive der Überlegenheit abzuwerten. Seine Haltung lässt sich nur vor dem Hintergrund der Diskussion über die Griechenthese Jakob Philipp Fallmerayers beurteilen. Dessen 1830 publizierte Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters beginnt programmatisch mit den Sätzen: Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet. Schönheit der Cörper, Sonnenflug des Geistes, Ebenmaß und Einfalt der Sitte, Kunst, Rennbahn, Stadt, Dorf, Säulenpracht und Tempel, ja sogar der Name ist von der Oberfläche des griechischen Continents verschwunden. Eine zweifache Erdschichte, aus Trüm-

208 209 210 211 212

Ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 mern und Moder zweier neuen und verschiedenen Menschenracen aufgehäuft, decket die Gräber dieses alten Volkes.213

Diese Provokation der enthusiastischen Philhellenen erwies sich, trotz der erbittert geführten Diskussion über die Richtigkeit von Fallmerayers Behauptung, als wichtiges Argument, um die Geringschätzung der modernen Griechen zu begründen. Zugleich rüttelte sie am Selbstverständnis des Königreichs Griechenland, das sich als legitimer Nachfolger der antiken Kultur verstand.214 Gerade in der Reiseliteratur finden sich vielfach Reflexe auf Fallmerayers Positionen. So lässt sich exemplarisch an Theodor Birts vielgelesenen Griechischen Erinnerungen eines Reisenden (1902) zeigen, wie das moderne Griechenland und seine Bewohner aus rassistischen Gründen abgewertet werden. Der Marburger Althistoriker geht so weit, die modernen Griechen wegen der Aussprache ihrer Muttersprache der Lächerlichkeit preiszugeben.215 Für Birt ist die Nationaltracht der modernen Griechen weibisch; im Vergleich mit der heroischen Landschaft sind die Griechen nicht von Belang: »Der jetzige Grieche ist wie ein Spielzeug; die Natur dagegen ist groß wie von Ewigkeit.«216 Bei der Beschreibung und Wertung überwiegen Diminutive und verniedlichende Wendungen: »Man gönne nur diesem verjüngten Völkchen

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216

Jak. Phil. Fallmerayer, Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Ein historischer Versuch, Teil I, Stuttgart/Tübingen 1830, S. I. Vgl. Thomas Leeb, Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861). Publizist und Politiker zwischen Revolution und Reaktion, München 1996; Armin Hohlweg, »Jakob Philipp Fallmerayer und seine geistige Umwelt«, in: Eugen Thurnher (Hrsg.), Jakob Philipp Fallmerayer. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Innsbruck 1993 (Schlern-Schriften 292), S. 47–73; Georg Pfligersdorffer, »Eine weniger bekannte Stellungnahme zu Fallmerayers Griechenthese«, ebd., S. 159–170; Eugen Thurnher, »Jakob Philipp Fallmerayer in seiner und in unserer Zeit«, ebd., S. 9–17. Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 33: »Die Griechen (Neugriechen) halten sich für die Nachkommen der alten Hellenen; sie sind aber jedenfalls stark gemischt mit slawischem und albanesischem Blut auf dem Festlande, mit italienischem auf den Inseln.« Theodor Birt, Griechische Erinnerungen eines Reisenden [1902], 2. Auflage Marburg 1922, S. 121, berichtet über den Eindruck einer Aufführung des König Ödipus des Sophokles in Athen: »Das Versmaß durch Sprechung der Akzente zerstört – dazu die süßliche neugriechische Aussprache! – wer ein deutscher Primaner war, der erkennt da seinen Sophokles nicht wieder.« Bereits zuvor stellt er die rhetorische Frage, weshalb man nach Griechenland reisen müsse, dem Ort, »wo man griechisch spricht, jräßliches Neujriechisch, das wie der Esel fast nur die zwei Vokale i und a kennt« (ebd, S. 3). Ebd., S. 25.

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seine drollige moderne Verkleidung und seinen Ahnenkult.«217 Immerhin befinde sich Griechenland – so die gönnerhafte Wertung Birts – auf dem Weg zum zivilisierten Nationalstaat: Der verwilderte Grieche, der Klephte, dagegen hat seine Raubtiernatur rasch abgelegt, und in seinem Miniaturstaat sieht es schon jetzt ganz nett ordentlich und sauber, ja geradezu traulich aus[.]218

Der moderne Grieche hat für Birt den Status des Raubtiers überwunden – allerdings bedeutet dies nicht, dass er die Sphäre des Tierischen verlassen hätte, wie die Vielzahl unterschiedlicher Tiermetaphern belegt, die in einem Vergleich mit Ungeziefer münden: Wir sehen uns [auf der Akropolis] um. Da sind ja moderne Griechlein genug, die treu und langbeinig wie Hausspinnen um uns herum durch Burgtrümmer und Marmorblöcke klettern.219

Ebenso wie Hauptmann ist Theodor Birt, der hier die römische Abwertung der Griechen als Graeculi aufnimmt, auf der Suche nach reinrassigen Griechen, den »Leute[n] mit geraden Nasen«,220 die allerdings selten seien. Vor dem Hintergrund von Birts abschätzigen Wertungen der modernen Griechen im Vergleich mit denen der Antike wird deutlich, dass Hauptmann in seinem Reisebericht alles daran setzt, die modernen Griechen aufzuwerten und zugleich gegen die Thesen Fallmerayers anzuschreiben. Dessen Vorstellung einer Völkervermischung setzt er die ungebrochene Verbindungslinie zwischen modernen und antiken Griechen entgegen. Als Mittel der Begründung dient ihm dabei die eigene Anschauung, die für ihn über wissenschaftlicher Spekulation steht. Ganz offenkundig ist für Hauptmann die Denkfigur von der Geistesverwandtschaft zwischen Hellas und Hesperien auch biologisch fundiert. Sein Reisebericht trägt programmatisch dazu bei, diese biologische Verwandtschaft zu demonstrieren, um so über weithin unreflektierte Rasse-Vorstellungen die ohnehin als fraglos empfundene Geistesverwandtschaft um eine Blutsverwandtschaft zu ergänzen.221 Im Kontext des philhellenischen Diskurses ist dabei von großer Bedeutung, dass für Hauptmann dieses Verwandtschaftsverhältnis sowohl die alten wie auch zumindest große Teile der 217 218 219 220 221

Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72f. Ebd., S. 94. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 169: Mit dieser Vorstellung sei »nicht die sonst betonte Geistesverwandtschaft zwischen antiken Griechen und Deutschen gemeint«.

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modernen Griechen betrifft.222 Indem er Griechenland germanisiert, nimmt Hauptmann Besitz von dem bereisten Land. Eng mit der Betonung der nordischen Rauheit von Landschaft und Bewohnern verbunden ist die Würdigung der Hirtenwelt, der für eine Deutung von Hauptmanns Griechischem Frühling zentrale Bedeutung zukommt.223 Bereits die Häufigkeit der Erwähnungen der Hirten weist darauf hin.224 Dabei zitiert Hauptmann Traditionen der idyllischen Hirtendichtung und variiert diese unter Vorzeichen eines dionysischen Antikebildes. Wiederum geht er von der konkreten Anschauung aus und projiziert das, was er sieht, in die griechische Antike zurück: Es geht ihm um Grundkonstanten griechischen Lebens, die sowohl durch Milieu als auch durch Vererbung geprägt sind. Hauptmann schreibt dem Hirtenleben besondere Eigenschaften zu. Der Hirte ruht in sich selbst und ist von den Anfechtungen der Zivilisation weitgehend unberührt; auch an den modernen Griechen finden sich Züge »von 222

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224

In einer Art von vergleichender Kulturbetrachtung stellt Hauptmann die homerische Frühzeit der germanischen Welt gegenüber und bemerkt dabei eklatante Ähnlichkeiten. So lässt die Betrachtung der modernen Griechen schließlich Hauptmann über eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen den Griechen des homerischen Zeitalters und der Germanen reflektieren: »Überhaupt erscheinen mir die homerischen Zustände den frühen germanischen nicht allzu fernstehend. Der homerische Grieche ist Krieger durchaus, ein kühner Seefahrer, wie der Normanne verwegener Pirat, von tiefer Frömmigkeit bis zur Bigotterie, trunkliebend, zur Völlerei neigend, dem Rausche großartiger Gastereien zugetan, wo der Gesang des Skalden nicht fehlen durfte.« (Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 30) Wenn Hauptmann die Griechen als landfremde Seefahrer wertet, so deutet dies auf einen nordischen Ursprung hin, ebenso wie die Diskussion der Frage, ob die bei Homer erwähnten Schiffe »den Nordlandsdrachen ähnlich gewesen« (ebd., S. 31) seien. Dieses Bild hat Hauptmann offensichtlich lange umgetrieben; es findet schließlich wie etliche Details aus dem Griechischen Frühling Eingang in die Atridentetralogie. – Die Beispielreihe ließe sich beliebig fortsetzen. So geht Hauptmann bei der Beschreibung des Taygetos so weit, spartanische und germanische Opferriten gleichzusetzen: »Man fühlt hier oben das unbestrittene Reich der göttlichen Jägerin Artemis, die in Lakonien vielfach verehrt wurde. Hier ist für ein freies, seliges Jägerleben noch heut der eigentlich arkadische Tummelplatz. Hier oben fanden auch Opfer statt. Und zwar jene selben Sonnenopfer, die bei den alten Germanen üblich gewesen sind und bei denen die Spartiaten, nicht anders als unsere Vorfahren, Pferde schlachteten.« (ebd., S. 151). Vgl. zu den übergreifenden Zusammenhängen Dietrich Meinert, »Hirte und Priester in der Dichtung Gerhart Hauptmanns«, in: Acta Germanica 4 (1969), S. 39–49. Vgl. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 177: »Kein Substantiv kommt öfter vor als ›Hirt‹.«

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einer Jahrtausende alten, verfeinerten Hirtenwürde«.225 Dabei sind die gängigen Vorstellungen von einem idyllischen Hirtenleben völlig unzutreffend, ist doch der Hirte immer zugleich Jäger und Opfernder. Grundlegend für Hauptmanns Sicht der Hirtenwelt ist neben diesen vitalistischen Aspekten die Tatsache, dass der Hirte in größtmöglicher Naturnähe lebt und dadurch einen direkten Zugang zu vorrationalen und übernatürlichen Sphären finden kann. Der meditative Charakter des Hirtenlebens führt zu einer geschärften Wahrnehmungsfähigkeit, die visionshafte Züge annehmen kann: Das Hirtenleben ist in den meisten Fällen ein Leben der Einsamkeit. Es begünstigt also alle Kräfte visionärer Träumerei. Ruhe der äußeren Sinne und Müßiggang erzeugen die Welt der Einbildung, und es würde auch heut nicht schwerhalten, etwa in den Irrenhäusern der Schweiz ländliche Mädchen zu finden, die, befangen in einem religiösen Wahn, von ähnlichen Dingen überzeugt sind, von ähnlichen Dingen »mit rasendem Munde« sprechen, wie die erste Seherin, die Sibylle oder ihre Nachfolgerin zu Delphi taten.226

Diese Äußerung schlägt den Bogen in die Antike, denn schließlich geht es Hauptmann um nichts Geringeres als eine Gesamtdeutung der griechischen Kultur aus dem Hirtenwesen. Seine Betonung der ländlichen Ursprünge führt dazu, dass er – wie auch an seiner Beschäftigung mit dem DemeterMythos in Eleusis deutlich wird227 – sich bevorzugt den nicht-olympischen Göttern widmet, insbesondere Dionysos und dem Hirtengott Pan. Für Hauptmann sind die Götter in der Natur präsent; das Bild der griechischen Gottheiten entspricht für ihn bezeichnenderweise nicht den erhaltenen Plastiken. Vielmehr denkt er »an gewisse Idole, die uralten Holzbilder, deren keines leider auf uns gekommen ist.«228 Wenn sich der Autor auf die Ursprünge der griechischen Kultur bezieht, so bedeutet dies die archaisierende Hintergehung des klassischen Griechenlands, dessen Überresten nun vergleichsweise geringe Bedeutung zukommt. Hauptmann stellt vielmehr die Frage nach Kontinuität, danach, ob der moderne Mensch in Kontakt zu der griechischen Kultur treten kann. Und tatsächlich bejaht Hauptmanns Griechischer Frühling dies an jeder Stelle. In programmatischer Wendung gegen die bei Plutarch überlieferte Episode vom Tod des Pan erklärt Hauptmann in Delphi:229 225 226 227 228 229

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 90. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 70–75. Ebd., S. 96. Vgl. Plutarch, »De defectu oraculorum«, in: Plutarch’s Moralia V, with an English translation by Frank Cole Babbitt, Cambridge/London 1969, S. 347–501, bes. S. 401. – Vgl. dazu die (wenig befriedigende) Studie von Martina Adami, Der große

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 Ich glaube, daß eher jeder andere Quell des vorchristlichen Lebensalters verschüttet ist als der pythische, und glaube, daß der große Pan nicht gestorben ist: nicht aus Schwäche des Alters und ebensowenig unter den jahrtausendelangen Verfluchungen einer christlichen Klerisei. Und hier, zwischen diesen sonnebeschienenen Trümmern, ist mir das ganze totgeglaubte Mysterium, sind mir Dämonen und Götter samt dem totgesagten Pan gegenwärtig.230

Diese Vergegenwärtigung kann nur gelingen, da Hauptmann gleichsam milieutheoretisch die griechische Religion aus ihren natürlichen Entstehungsbedingungen zu fassen sucht.231 Somit versetzen das Erlebnis der griechischen Landschaft und die Vertrautheit mit den griechischen Hirten den modernen Reisenden in die Lage, diese am eigenen Leib nachzuvollziehen. Bezeichnenderweise schreckt Hauptmann auch vor psychopathologischen Deutungen nicht zurück, wenn er die Pythia als Hysterikerin deutet und auf parallele Fälle in der Gegenwart verweist. Allerdings muss hierbei Hauptmanns Sicht des Wahnsinns berücksichtigt werden, ist er doch für den Autor immer auch Ausdruck des Dämonischen,232 so dass der Wahn zugleich Zugänge zu tieferen Bewusstseinsschichten ermöglicht. An dem zunächst überraschenden Vergleich mit den Schweizer Anstalten wird Hauptmanns positive Sichtweise auf den Wahnsinn deutlich, die auf seinen Schweiz-Aufenthalt im Jahr 1888 zurückgeht.233 In der von Auguste Forel geleiteten Heilanstalt Burghölzli bei Zürich glaubte Hauptmann, in einer Patientin eine »Mänade«234 zu erkennen: Wahnsinn bedeutet für Hauptmann offenbar die Möglichkeit, mit den Bereichen der Psyche in Verbindung zu treten, die durch die Zivilisation verdrängt wurden. Dieses rauschhafte und vorzivilisatorische Element ist grundlegend für Hauptmanns Deutung der griechischen Kultur. Wiederum lässt es sich anhand der Begegnung mit Hirten vergegenwärtigen und erzählerisch nach-

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Pan ist tot!? Studien zur Pan-Rezeption in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Innsbruck 2000 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe; 61). Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 97. Vgl. van der Will, Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Symbolsprache, S. 175: »Weil die ursprüngliche Schöpfung besonders der Mythenbilder von einer determinativen Beziehung zwischen Seele und Landschaft abhängig gemacht wird, dient die mit Hilfe von sinnlichen Eindrücken gelingende Einstimmung in die naturgegebenen Verhältnisse Griechenlands der Wiederholung der Mythenzeugung in der Einbildungskraft des Dichters.« Vgl. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 202–210. Vgl. Gerhart Hauptmann, »Das Abenteuer meiner Jugend«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 7, S. 451–1088, hier S. 1059. Ebd., S. 1064.

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vollziehen: Wenn Hauptmann etwa den diabolischen Eindruck beschreibt, den der Anblick einiger Böcke im Gebirge auf ihn ausübt, dann geht er so weit, in den Tieren dämonische Kräfte nicht nur zu ahnen, sondern sich darüber sicher zu sein. Dies ist allerdings nur dem vorbehalten, in dessen »Seele nur etwas von dem alten Urväter-Hirten-Drama noch rumort«,235 dem Menschen also, der noch in der Lage ist, einen Zugang zu den verschütteten urtümlichen Bereichen der griechischen Kultur zu finden. Wer sich – so Hauptmanns zirkuläre Begründung – erst »einmal in das Innere des Mythos hineinbegeben hat«,236 ist in der Lage, jeden Eindruck mit der mythischen Sphäre zu verbinden. Die Assoziationen, die der Hirtenzug auslöst, sind also auch Folge einer sorgfältig kalkulierten Autosuggestion, die solche Erweiterungsphänomene geradezu einfordert. Auch hier schwankt Hauptmann eigentümlich zwischen dem Bewusstsein der Konstruiertheit, das deutlich ausgesprochen wird, und der unreflektierten Hingabe an Identifikationserlebnisse. Von ungleich größerer Bedeutung für die Gesamtdeutung des Texts allerdings sind die Passagen, in denen Hauptmann die eigentümliche Qualität des Hirtenlebens bestimmt, das für ihn von der besonderen Fähigkeit zu visionshafter Ich-Erweiterung geprägt ist. Die Hirtenexistenz gewinnt deshalb so großes Gewicht, da ihr Nachvollzug eine Annäherung an die griechische Kultur jenseits von Buchgelehrsamkeit ermöglicht und sie somit gerade auch für das moderne Individuum erfahrbar macht.237

235 236 237

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 110. Ebd., S. 109. Selbstverständlich handelt es sich bei Hauptmanns Griechenland-Darstellung vor allem um eine Stilisierung, die das moderne Griechenland nahezu völlig vernachlässigt. Vgl. Adolf Gelber, Auf griechischer Erde. (Im Sommer 1912, vor dem Kriege.), Wien 1913, S. 96. Gelber zitiert dort einen griechischen Freund: »Sie sprechen immer von Kulturwerten, und sehen das nicht, worin sich am stärksten der Schaffenstrieb eines Volkes bewährt. So z. B. war vor einigen Jahren Gerhard [ ! ] Hauptmann in Griechenland. Wie muß uns nun zumute sein, wenn wir bemerken, daß er auch nicht Einen Gedanken und nicht Ein Wort an dieses unser lebendiges Griechenland verloren hat. Begreifen Sie das? Können Sie sich vorstellen, daß Goethe durch unser Land immer nur gewandert wäre, um unsere Ziegen und unsere alten Dichter wahrzunehmen?« – Vgl. auch ebd., S. 96f.

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2.1.4.

Beschriebenes II: Blutopfer und Tragödie

2.1.4.1. Hauptmanns archaisierendes Griechenbild Hauptmanns Auseinandersetzung mit dem Drama lässt sich nicht isoliert von dem Erzählzusammenhang des Reiseberichts betrachten.238 Sie gehört in den Kontext von Hauptmanns Entwurf der griechischen Hirtenkultur. Dabei beschäftigt sich Hauptmann sowohl mit der Komödie als auch mit der Tragödie. Anlass ist der Besuch der Theater von Athen und Delphi. Hauptmanns vitalistische Revision des Griechenbildes schließt den Blick auf die Religion ebenso mit ein wie Architektur und Skulptur. Programmatisch wendet sich Hauptmann gegen klassizistische Tendenzen: Ich habe das schwächliche Griechisieren, die blutlose Liebe zu einem blutlosen Griechentum niemals leiden mögen. Deshalb schreckt es mich auch nicht ab, mir die dorischen Tempel bunt und in einer für manche Begriffe barbarischen Weise bemalt zu denken. […] Ich nehme an, es gab dem architektonischen Eindruck eine wilde Beimischung.239

Hauptmanns Sicht auf die griechische Kultur vereint die wichtigsten antiklassizistischen Stereotype: Sie ist für ihn von Kraft und Wildheit bestimmt, die bunten Tempel wirken geradezu barbarisch. So polemisiert Hauptmann explizit gegen klassizistische Deutungen der griechischen Kultur: Der Anblick des Parthenon etwa bietet Anlass zu einer Reflexion über die Bemalung der griechischen Tempel. Allerdings herrscht zum Zeitpunkt von Hauptmanns Griechenland-Reise bereits Konsens in der Fachwelt, dass die antiken Tempel und Skulpturen bemalt waren,240 so dass seine »Schadenfreude«241 gegenüber den »Zärtlingen«242 etwas bemüht wirkt.243 238

239 240

241 242 243

Hans Mayer geht so weit, allein diese Passagen für gültig zu erklären, da sie die einzig tiefempfundenen seien. Vgl. Mayer, »Griechischer Frühling«, S. 331. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 58. Vgl. Raimund Wünsche, »Die Farbe kehrt zurück …«, in: Vinzenz Brinkmann/ Raimund Wünsche (Hrsg.), Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Eine Ausstellung der Staatlichen Antikensammlungen und Glyptothek München. In Zusammenarbeit mit der Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen und den Vatikanischen Museen, Rom, München 2003, S. 10–23, hier S. 17: »Um die Jahrhundertwende wurde nicht mehr diskutiert, ob, sondern nur noch wie die antike Skulptur bemalt war.« Vgl. Kerstin Schwedes, »Polychromie als Herausforderung. Ästhetische Debatten zur Farbigkeit von Skulptur«, in: Gilbert Heß/Elena Agazzi/Elisabeth Décultot (Hrsg.), Graecomania. Der europäische Philhellenismus, Berlin/New York 2009 (Klassizistisch-romantische Kunst(t)räume; 1), S. 61–84. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 58. Ebd. Diese Position, die ganz in der Nachfolge Nietzsches und Burckhardts das klassizistische Griechenlandbild als ahistorische Projektion begreift, ist auch deshalb

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Allerdings lässt sich Hauptmanns Blick auf die Griechen nicht nur auf diese vitalistisch-dionysische Stoßrichtung festlegen: Daneben betont er die maßvollen Aspekte der griechischen Kultur und die »Heiterkeit«,244 die wesentlicher Teil des griechischen Lebens gewesen sei.245 Offenkundig ähnelt Hauptmanns dualistische Sicht auf die griechische Kultur den Überlegungen aus Nietzsches Tragödienschrift, wobei Hauptmann wie Nietzsche von den rauschhaften Elementen deutlich stärker fasziniert ist. Bei der Beschreibung des Athener Dionysostheaters widmet sich Hauptmann zunächst der Komödie, wobei die ersehnte Nähe zur griechischen Antike im ländlichen Olympia anscheinend leichter zu erreichen war als im großstädtischen Athen,246 wo selbst im Dionysostheater »der Lärm einer großen Stadt […] jedweden Versuch zur Feierlichkeit«247 erstickt. Das mo-

244 245

246

247

aufschlussreich, da Hauptmann keinesfalls, wie er verkündet, immer schon diese Position vertrat. Im Gegenteil, in den 1887 entstandenen Gedanken über das Bemalen der Statuen kommt Hauptmann zu dem Ergebnis, »die Bemalung der Statuen« widerstrebe »dem Wesen der Kunst« (Gerhart Hauptmann, »Gedanken über das Bemalen der Statuen«, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Hans-Egon Hass, Berlin 1996, Bd. 6, S. 896–898, hier S. 898). Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 56. Dabei fällt auf, dass Hauptmann etliche Schlüsselbegriffe verwendet, die eher klassizistischen Sichtweisen auf die griechische Kultur verpflichtet scheinen. So widersprechen die geschilderten Eindrücke zunächst den Erwartungen eines Lesers, der auf dionysische Blutfantasien eingestellt ist. Die Architektur weckt »die Empfindung von etwas Hellem, Klar-Geistigem« (ebd., S. 55), alles »berührt hier gesund und natürlich« (ebd.), ja der attische Geist »blieb leicht und rein und durchsichtig wie die attische Luft, auch nachdem das Gewitter der Tragödie sie vorübergehend verfinstert« (ebd., S. 56) hatte. Diese Fokussierung auf die Komödie deutet sich bereits in den Schilderungen der Natur um Olympia an, die der Beschreibung der Fahrt nach Athen vorangestellt sind. Angesichts des Tals von Olympia glaubt Hauptmann, zu einem tieferen Verständnis der griechischen Kultur zu gelangen: »Wie so ganz nah und natürlich berührt nun auf einmal das Griechentum, das durchaus nicht nur im Sinne Homers oder gar im Sinne der Tragiker zu begreifen ist. Viel näher in diesem Augenblick ist mir die Seele des Aristophanes, dessen Frösche ich von den Alpheiossümpfen herüber quaken höre.« (Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 46f.) Aristophanes und nicht mehr Homer ist also Hauptmanns Bezugsgröße. Wiederum ist bezeichnend, dass das Naturerlebnis für diesen Vorbildwechsel verantwortlich ist; es führt dazu, dass Hauptmann sich vom Griechentum »berührt« fühlt; dies zieht offenbar nach sich, dass er auf vorrationale Weise dazu befähigt wird, allgemeingültige Aussagen über die griechische Kultur zu treffen. Die Nähe zur »Seele des Aristophanes«, die durch das Froschkonzert initiiert wird, bewirkt eine Vergegenwärtigung des alten Griechenland, als dessen legitimer Bewohner auch Hauptmann erscheint. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 55.

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derne Athen ist dabei nichts als ein Hindernis, das »erst in einem gewissen Sinn überwunden werden«248 muss, »bevor der Geist sich der ersehnten Vergangenheit ungestört hingeben kann«.249 Diese ersehnte Vergangenheit ist die der attischen Dramenaufführungen, die sich allerdings angesichts des Lichts und des Lärms nur schwer vergegenwärtigen lassen. Schließlich betont Hauptmann in gewohnt dualistischer Weise die Doppelnatur der Griechen. Ihre Welt sei geprägt durch Heiterkeit auf der einen und durch Angst auf der anderen Seite, wobei Heiterkeit hier wiederum vitalistisch verstanden wird: Für Hauptmann ist die »Heiterkeit« die »höchste menschliche Lebensform«,250 die sich gerade in der Komödie in ihrer gesteigerten Form ausdrücke.251 Sie steht also in der Gattungshierarchie potentiell über der Tragödie, wobei Hauptmann in einer seltsamen und an dieser Stelle kaum verständlichen Wendung erklärt, Tragödie und Komödie hätten »das gleiche Stoffgebiet«,252 was ihm erlaubt, von nun an die dramatischen Gattungen als Einheit zu behandeln. Beide Gattungen sind »volkstümlich«,253 sie »haben nichts mit schwachen, überfeinerten Nerven zu tun«, weder was das Publikum noch was den Dichter betrifft.254 Hier wendet sich Hauptmann aus vitalistischer Perspektive gegen Vorstellungen des Fin de siècle. Komödie und Tragödie haben ihren deutlich markierten Sitz im Leben: Sie erfüllen komplementäre Funktionen. Ihre Verbindung mit dem Dionysoskult führte auch zu derben Vergnügungen, die – so Hauptmann – »Ausdruck überschäumender Lustigkeit, ein derber überschüssiger Lebensmut«255 gewesen seien. Diese vitalistische Interpretation der griechischen Kultur verdeutlicht, dass Hauptmanns Begriff der Heiterkeit gerade nicht mit klassizistischen Vorstellungen gleichzusetzen ist: Hauptmann verwendet pointiert Schlüsselbegriffe der Kulturbetrachtung, um sie programmatisch umzudeuten. Seine Vorstellung von griechischer Heiterkeit ist derb und volkstümlich, sie bedeutet für ihn überschüssigen Lebensmut: Aus ihr »entstehen Tragödie und Komödie!«256 Auch die griechische Religion sei anders als das Christentum nicht lebensfeindlich: Im

248 249 250 251 252 253 254 255 256

Ebd. Ebd. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 57. Ebd.

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Gegenteil, der Tempel lockte »ins höhere, festliche Leben […] wie ein buntes, göttliches Gauklerzelt«.257 Hinter der Dialektik von Angst und Heiterkeit lässt sich unschwer Nietzsches Gegensatz von Apollinischem und Dionysischem ausmachen, wobei Hauptmann anders als Nietzsche programmatisch immer wieder die volkstümlichen Wurzeln der griechischen Kultur gegenüberstellt, die mit Nietzsches Vorstellungen vom dorischen Staat denkbar wenig gemein haben. 2.1.4.2. Dramentheorie als visionäre Schau Bei einem weiteren Besuch der Akropolis nimmt Hauptmann wie selbstverständlich »auf einem Priestersessel im Theater des Dionysos« Platz.258 Von diesem privilegierten Platz aus beschreibt Hauptmann aus der »Perspektive intensiver Identifikation«259 die religiösen Grundlagen der Tragödie, die für ihn in der Furcht vor numinosen Instanzen besteht. Ungleich intensiver als in Athen setzt sich Hauptmann in Delphi mit der Tragödie auseinander. Die besondere Bedeutung dieses Ortes erklärt sich aus Hauptmanns Bevorzugung der ungezähmten Gebirgslandschaft und nicht zuletzt aus der Bedeutung des Kultortes Delphi. Die Landschaft um Delphi bietet Anlass für religiöse Spekulationen; »chthonische Nebel«260 und »eine fast übergewaltige Feierlichkeit«261 der Gebirgslandschaft ermöglichen, »den Ursprüngen«262 der »griechischen Seele«263 nahezukommen. Wie bei der Beschreibung des korfiotischen Gartens besteht für Hauptmann kein Zweifel daran, dass Religion ihre Wurzeln in der Natur hat.264 Die Nähe zur griechischen Natur ermöglicht in dieser Logik auch den Zugang zu verschütteten Elementen der griechischen Kultur: Es ist, als trennte – sagen wir von den »Müttern«! – nur eine dünne Wand oder als läge das ganze Geheimnis, in dem wir schlummern, in einem zurückgehaltenen göttlichen Atemzug, dessen leisestes Flüstern uns eine Erkenntnis eröffnen könnte, die über die Kraft des Menschen geht.265 257

258 259 260 261 262 263 264 265

Ebd., S. 59. – In dieser Passage kündigt sich bereits Hauptmanns Interesse an den Mimus-Studien von Hermann Reich an. Vgl. Voigt, Gerhart Hauptmann und die Antike, S. 71–76. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 60. Frick, ›Die mythische Methode‹, S. 66. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. ebd., S. 87. Ebd., S. 89.

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Wie Goethes Faust, zu dessen Nachfolger sich Hauptmann hier stilisiert, möchte der Dichter kosmische Zusammenhänge erkennen. Die Hybris dieser Vorstellung tritt deutlich zutage, wenn Hauptmann konstatiert, er fühle »eine fast schmerzhafte Spannung, als ob ich mich einem redenden Brunnen, einem Urbrunnen aller chthonischen Weisheit gleichsam annäherte, der, wiederum einem Urmunde gleich, unmittelbar aus der Seele der Erde geöffnet sein würde«.266 Diesem »Urbrunnen« nähert sich Hauptmann in Delphi an. Bereits die Lage des Theaters scheint »den furchtbarsten Ernst blutiger Schauspiele von den Menschen zu fordern«.267 In der Gebirgslandschaft Delphis ist für Hauptmann die Präsenz der Götter eine Selbstverständlichkeit. Ebenso gewiss ist für ihn, dass die Götter »grausame Zuschauer«268 waren: »[U]nter den Schauspielen […] waren die, die von Blute trieften, den Göttern vor allen anderen heilig und angenehm«.269 Für Hauptmann ist die Verbindung mit dem Opferkult grundlegend für das Wesen der griechischen Tragödie: Wenn zu Beginn der großen Opferhandlung, die das Schauspiel der Griechen ist, das schwarze Blut des Bocks in die Opfergefäße schoß, so wurde dadurch das spätere höhere, wenn auch nur scheinbare Menschenopfer nur vorbereitet: das Menschenopfer, das die blutige Wurzel der Tragödie ist.270

Ähnlich wie moderne anthropologische Theorien begreift Gerhart Hauptmann die Tragödie als sublimiertes Menschenopfer.271 Dieser blutige Ursprung sei in der Tragödie immer greifbar; eine Tragödienaufführung sei stets eine Grenzerfahrung. Noch intensiver als im Dionysostheater von Athen gelingt es Hauptmann in Delphi, sich die Tragödienaufführung und ihre Wirkung zu imaginieren. In Delphi wirkt die Tragödie »tiefer und grausamer und mit größerer Macht«272. Diese verstärkte Wirkung liegt in der Umgebung begründet, einerseits in der Bergatmosphäre, andererseits in der Kultstätte des Orakels, das schon von vornherein mit dem Opfer verbunden ist. Der ganze Tem-

266 267 268 269 270 271

272

Ebd., S. 90. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd. Ebd. Vgl. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen zu altgriechischen Opferriten und Mythen, Berlin/New York 1972; Bernhard Zimmermann, Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart, Frankfurt am Main 2000, S. 13–23. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 99.

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pelbezirk »ist blutgetränkt«,273 Ort einer »heilige[n] Schlächterei«,274 die den ganzen Bezirk bestimmte, »bis ins Innere der Schatzhäuser und in die Gespräche der Philosophen«275 hineindrang. Das Opfer ist nicht nur die Wurzel der Tragödie, sondern darüber hinaus die Basis der gesamten griechischen Kultur, wie sie in Delphi sichtbar wird. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass die griechische Religion für Hauptmann auf dem Hirtenwesen basiert. Ihre abstoßenden Aspekte – die »Schlachthausromantik«276 – erklären sich aus diesen wilden Ursprüngen: »Der Opferpriester, mit Blut besudelt, der einem Kyklopen gleich das geschlachtete Tier zerstückte und ihm das Herz aus dem Leibe riß, war dem Volk ein gewöhnlicher Anblick.«277 Das Opfer bedeutet auch die Dehumanisierung des Opfernden, der im Vollzug der rauschhaften blutigen Handlung zeitweise seine Menschlichkeit verliert und zu einem mythischen Ungeheuer wird. Vor dem Hintergrund dieser Opfervorstellungen ist Hauptmanns Tragödientheorie zu verstehen. Das Tragische liegt für Hauptmann in der »schaudernden[n] Anerkennung unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte«.278 Blutopfer ist für Hauptmann nicht nur die Grundlage der Tragödie, sondern des menschlichen Lebens überhaupt. Dabei gesteht Hauptmann durchaus zu, dass die Tragödie gewisse gefährdende Elemente besaß, »daß die Dünste aller chthonischen Quellen von einem furchtbaren Wahnsinn schwanger sind«.279 Hauptmann bezeichnet das Theater als »Blutbrunnen«, aus dem »dumpfer, betäubender Wahnsinn« aufstieg.280 Die künstlerische Opfergabe, die in der suggestiven Darstellung des Menschenopfers bestand, affizierte das Publikum in einem Höchstmaß, wobei die Musik die Wirkung um ein Vielfaches steigerte. Es kann nicht geleugnet werden, Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung, Haß und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein, Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord, Blutgier, Blutschande, Schlächterei – wobei die Blutschande nur gewaltsam in das Bereich des Grausens gesteigert ist. Eine wahre Tragödie sehen hieß, beinahe zu Stein erstarrt, das Angesicht der Medusa erblicken, es hieß, das Entsetzen vorwegnehmen, wie es

273 274 275 276 277 278 279 280

Ebd., S. 101. Ebd. Ebd. Ebd., S. 102. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 das Leben heimlich immer, selbst für den Günstling des Glücks, in Bereitschaft hat.281

Aus einer Perspektive der absoluten Gewissheit würdigt Hauptmann die Tragödie. Er entwickelt keine Tragödientheorie im eigentlichen Sinn, sondern beschwört geradezu ekstatisch ihre Wirkung. In hartgefügten Substantivreihungen und »selbst fast rauschhaft anmutender Rhetorik«282 listet Hauptmann das Stoffgebiet auf und erklärt, ihre Wirkung sei mit dem Einblick in das tiefste Entsetzen gleichzusetzen. Zentral ist der Begriff des Lebens, der unterstreicht, dass Hauptmanns Vorstellungen für ihn anthropologisch verankert sind: Die Tragödie ist für ihn Ausdruck menschlicher Disposition zum Leid. Erkenntnistheoretische oder gar didaktische Aspekte sind Hauptmann völlig fremd. Es geht ihm um größtmögliche Erschütterung durch ein blutiges und grausames Dramengeschehen, ehe sich der Druck in einer wohl rein medizinisch zu fassenden Katharsis entlädt. Damit folgt Hauptmann der Interpretation der Katharsis als medizinischem Vorgang, wie ihn im 19. Jahrhundert insbesondere Bernays vertrat.283 Im Medium der Sprache versucht Hauptmann, diese affizierende, ja zunächst geradezu lähmende Wirkung des tragischen Spiels nachzuahmen. Zunächst besteht der Effekt der Tragödie nur in unmittelbarer Reaktion auf das grausame Geschehen: Ich stelle mir vor, daß aus dem vieltausendköpfigen Griechengewimmel dieses Halbtrichters zuweilen ein einziger, furchtbarer Hilfeschrei der Furcht, der Angst, des Entsetzens gräßlich betäubend zum Himmel der Götter aufsteigen mußte, damit der grausamste Druck, die grausamste Spannung sich nicht in unrettbaren Wahnsinn überschlug.284

Die Tragödie reizt vorrational die elementarsten menschlichen Affekte bis zur Unerträglichkeit, ehe eine Reaktion erfolgt, die allerdings keine Reinigung bedeutet, sondern lediglich die mechanische Auswirkung darstellt. Hauptmanns Tragödientheorie betont somit einseitig die Affektreizung. Allerdings sieht seine Betrachtung der griechischen Kultur durchaus ein Gegenbild vor. Auch im blutgetränkten Delphi war – so Hauptmann – »der wild glückselige Schrei und Begeisterungsruf des Lebens«285 zu hören, und zwar im Stadion, dem Ort, der von den »Dünste[n] des Blutbrunnens«286 unbe281 282 283 284 285 286

Ebd., S. 100f. Frick, ›Die mythische Methode‹, S. 66. Vgl. Reibnitz, Kommentar, S. 111–113. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 101. Ebd., S. 103. Ebd.

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rührt blieb: »Hier herrschte das Lachen, hier herrschte die freie, von Erdenschwere befreite, kraftvolle Heiterkeit.«287 Vor dem Hintergrund dieser Passagen wird klar, was bereits die Beschreibung des Dionysostheaters andeutete: Die griechische Kultur ist von der Dialektik von Angst und Heiterkeit geprägt, die Tragödie ist zwar ihr wesentlicher, aber nicht ihr einziger Ausdruck. Allerdings verleitet die schiere Suggestionskraft der analysierten Passagen dazu, die Rolle der Tragödie zu verabsolutieren. Das Drama und seine Entstehung sind für Hauptmann offenbar anthropologisch verankert, da es elementare menschliche Bedürfnisse befriedigt. So expliziert Hauptmann die für seine Poetik eminent wichtige Vorstellung vom Urdrama. Dieser Begriff findet sich bereits ein Jahr zuvor in Hauptmanns Tagebuch; dort nimmt er sich vor, das »reine, echte Kulttheater«288 wiederherzustellen, wie es etwa in Japan oder Griechenland bestanden habe. Bereits bei den Athener Reflexionen klingt diese kultische Dimension an, wenn Hauptmann betont, das Drama sei Ort des Verkehrs von Göttern und Menschen gewesen.289 Das Drama sei »Kampf und […] Harmonie zugleich«.290 Dieses Paradox ist möglich, da es Ausdruck der menschlichen Denkfähigkeit sei, die sich allmählich differenziere. Bereits diese Beispiele verdeutlichen, dass es Hauptmann nicht nur um visionshaftes Beschreiben, sondern eben auch um die Formulierung seiner poetologischen Vorstellungen geht. Hauptmann verfolgt offensichtlich zwei Tendenzen: Einerseits möchte er sich in eine anerkannte Tradition einschreiben – eine bezeichnende Tagebuchnotiz spricht von Tragikern »von Aisc[h]ylos bis auf mich«291 –, andererseits entwickelt er Ansätze einer Wirkungsästhetik des Dramas, die beeinflusst von Nietzsche, Rohde und Walter Pater zugleich in der Lage ist, wesentliche Aspekte der griechischen Kultur zu deuten. Der Reisebericht wird zum poetologischen Text. Als Legitimation für Hauptmanns Tragödientheorie dient nicht mehr die Berufung auf Autoritäten, sondern die eigene Anschauung, die keinen Zweifel an der Richtigkeit und Gültigkeit seiner Positionen aufkommen lässt. Dabei sind Hauptmanns Überlegungen zunächst einmal (pseudo)historische Rekonstruktion auf intuitiver Grundlage und eben keine universell anwendbare Poetik, auch wenn Hauptmanns eigenes Verfahren der wiederholten Bezugnahme etwa

287 288 289 290 291

Ebd. Hauptmann, Tagebücher 1906 bis 1913, S. 100 (Eintrag vom 27. 7. 1906). Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 63. Ebd., S. 83. Hauptmann, Tagebücher 1906 bis 1913, S. 178 (Eintrag vom 3. 10. 1907).

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im Bogen des Odysseus und der Atridentetralogie eine gegensätzliche Lesart nahe legt.292 2.1.4.3. Blutopfer oder Versöhnung? Hauptmanns Interpretation der Tragödie im Spiegel der Reiseliteratur Gerhart Hauptmanns Griechenbild und seine Sicht auf die Tragödie nimmt wesentliche Strömungen der Literatur der Jahrhundertwende auf und entwickelt diese weiter. Allerdings wird an der Rezeption seines Reiseberichts deutlich, dass die an Nietzsche orientierten Deutungen keineswegs ohne Widerspruch blieben. Gerade in der zeitgenössischen Reiseliteratur finden sich zahlreiche Auseinandersetzungen mit der Tragödie, von denen sich etliche explizit oder implizit gegen Hauptmanns Sichtweise wenden.293 Insbesondere Julius Hirschberg wehrt sich in seinen Hellas-Fahrten (1910) gegen Hauptmanns Vorstellung der Tragödie als Blutopfer. Als Gegenbeispiel führt er die Ödipus-Dramen des Sophokles an, deren Verhältnis letztlich gerade das versöhnende Element der griechischen Tragödie belege: Wenn im König Ödipus das Schicksal noch so grausig den Menschen seine Übermacht fühlen läßt, – es gibt eine Versöhnung im Ödipus auf Kolonos, die allerdings der nicht versteht, der die griechische Tragödie einen Ersatz des Menschenopfers genannt hat.294

292

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294

Harry Graf Kessler nimmt in seinem 1909 in der Neuen Rundschau erschienenen Essay über den Griechischen Frühling bereits wesentliche Tendenzen der neueren Hauptmann-Forschung vorweg, wenn er die Opfervorstellung als grundlegend für Hauptmanns dramatisches Werk ansieht. Vgl. Harry Graf Kessler, »Griechischer Frühling [1909]«, in: Ders., Künstler und Nationen. Aufsätze und Reden 1899–1933. Mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Cornelia Blasberg und Gerhart Schuster, Frankfurt am Main 1988, S. 147–179. Diese Beobachtung weist auch darauf hin, dass Hauptmanns Griechenland-Erlebnis keinesfalls einen Bruch mit älteren Positionen des Autors bedeutet: Vielmehr kulminieren in der Beschreibung der Reise Tendenzen, die bereits im Frühwerk angelegt sind. Eine mittlere Position nimmt Albert von Berzeviczy ein. Vgl. Berzeviczy, Griechische Reiseskizzen, S. 33f.: »Unversehrt aber sind die Marmorfliesen der jetzt halbrunden Orchestra, auf welchen einst bei stürmisch-wilden Melodien bacchantische Tänze aufgeführt wurden[.]« Julius Hirschberg, Hellas-Fahrten, Leipzig 1910, S. 25. – Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 93–99, zu der Auseinandersetzung mit Hauptmann bes. S. 97f.

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Die Tragödie als Medium der Versöhnung – diese klassizistische Position steht im schärfsten Gegensatz zu Hauptmanns Bild vom »Blutbrunnen«.295 Für Hirschberg ist zudem die Tragödie keineswegs lebensverneinend, wobei er interessanterweise ebenso wie Hauptmann seine Position durch sein persönliches Erleben des Ortes stützt: Nein, die Verneinung und Vernichtung des Lebens ist auf dieser Bühne nicht vorgeführt worden. Unter diesem freien und blauen Himmel, am Abhang dieses Burgberges, war nicht der Platz für Gespenster.296

Hirschberg wendet sich somit nicht nur gegen Hauptmanns Tragödieninterpretation, sondern gegen dessen Vorstellung einer von Angst geprägten griechischen Kultur, die sich insbesondere an dem mit Heiligtümern übersäten attischen »Gespensterfelsen«297 manifestiere.298 Auch Isolde Kurz entwirft in ihren äußerst erfolgreichen Wandertagen in Hellas (1913) ein Griechenland-Bild, das dem von Gerhart Hauptmann diametral entgegengesetzt ist. Das griechische Leben ist für sie von Harmonie und Glück bestimmt;299 diese Harmonie äußert sich für die Autorin in der griechischen Landschaft wie auch in Kunst300 und Literatur. Ihre Schilderung der Lage des Athener Dionysostheaters, dessen »köstliche[s] Halbrund« sich »voll Anmut in die gelindere südliche Bergflanke einpasst«,301 verdeutlicht diese Tendenzen: Mit zarter Wölbung und strahlig gerieft wie die schönste Muschel des Meeres liegt das Dionysostheater mit seinen Stufenreihen und Keilschnitten dem flachen Abhang eingebettet, mitten im heiligen Bezirk des Gottes, dem es angehört.302

Wie Hirschberg akzentuiert sie die versöhnenden Elemente der Tragödie, wenn sie bei der Beschreibung des Areopag die Eumeniden erwähnt, die gezähmten Erinnyen, die Aischylos im letzten Teil seiner Orestie zu Schutzgöttinnen Athens erhob: 295 296 297

298

299 300 301 302

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 100. Hirschberg, Hellas-Fahrten, S. 25. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 61: »Die Akropolis ist ein Gespensterfelsen. In diesem Theater des Dionysos gingen Gespenster um. In zahllosen Löchern des rotvioletten Gesteins wohnten die Götter wie Mauerschwalben. […] Die Art, wie sie [die Athener] allen möglichen Göttern Asyle und wieder Asyle gründeten, deutet auf Angst.« Auch an anderer Stelle richtet sich Hirschberg gegen Hauptmann. Vgl. Hirschberg, Hellas-Fahrten, S. 23, S. 227. Vgl. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 30, S. 123. Vgl. ebd., S. 121: Die Rede ist vom »schöne[n] Formsinn« der Griechen. Ebd., S. 41. Ebd.

80

Subjektivitätsentwürfe um 1900 Seid mir in Ehrfurcht gegrüsst, versöhnte Eumeniden, ihr Hochehrwürdigen, die ihr nach abgelegter Schlangengeissel unter Segenswünschen hier unten einzogt, um euch mit der nahe wohnenden Herrin Pallas Athene in den Besitz des attischen Landes zu teilen.303

Offensichtlich ist für Isolde Kurz die Überwindung der Tragik zentrales Kennzeichen der Tragödie. Statt Affektreizung und Katharsis ist für sie wie für Hirschberg metaphysischer Trost die wesentliche Funktion der tragischen Gattung, ja der gesamten griechischen Kultur. Bereits der Besuch der von einem lieblichen Duft erfüllten Akropolis304 zieht dieses Gefühl der Versöhnung nach sich.305 Die Distanz zwischen ihrem Bild von den griechischen Tragikern – Sophokles etwa ist in ihren Augen »kühn und mild«306 – und demjenigen Hauptmanns zeigt das Provokationspotential der antiklassizistischen Interpretationen der griechischen Kultur. Auch in den Jahren nach 1900 nehmen klassizistische Positionen breiten Raum ein: Teilweise sind sie als Gegenreaktion auf die penetranten Archaisierungen zu verstehen. 2.1.5.

Autoritätsgewinn durch Reisen?

Hauptmanns Tragödiendeutung, in der seine Sicht auf die Griechen kulminiert, steht also in einem Spannungsfeld, das für das deutschsprachige Schreiben über Griechenland symptomatisch ist. Bezeichnenderweise legitimieren sowohl Hauptmann als auch seine Zeitgenossen ihre Positionen durch die eigene Anschauung. Diese Beobachtung sollte Anlass dazu geben, den Wert der Autopsie kritisch zu reflektieren, zumal – wie gezeigt werden konnte – gerade Hauptmanns Griechischer Frühling, aber auch die hier nur kurz zitierten anderen Texte, intertextuell geprägt sind. Gerhart Hauptmanns Griechenland-Entwurf basiert auf einer Vielzahl von Prätexten. Zugleich reklamiert der Reisebericht die Authentizität des Erlebens als notwendige Bedingung für einen tiefen Zugang zu der griechischen Kultur und der Welt des Mythos. In dieser Gedankenfigur ist der Versuch erkennbar, die Bedeutung der Autopsie zu untermauern und Anschauung und Einfühlung über reine Buchgelehrsamkeit zu stellen: Es ist aber etwas anderes, von jemand belehrt zu werden, der mit eigenen Augen gesehen hat, oder selber die steilen Marmorstufen zu den Propyläen hinaufzusteigen und mit eigenen Augen zu sehn.307 303 304 305 306 307

Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 237. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 57.

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Diese offenkundig aporetische Konstellation lässt sich kaum befriedigend auflösen. Sie verursachte bereits den Zeitgenossen Unbehagen: Entweder wird die Natürlichkeit oder aber die Gemachtheit des Textes hervorgehoben. Dabei macht gerade das leitende stilistische Prinzip des Griechischen Frühlings – der Versuch, über ein Höchstmaß an Künstlichkeit den Eindruck von Natürlichkeit und Authentizität zu erwecken –, den spezifisch modernen Charakter des Textes aus. Angesichts einer übermächtigen Tradition und selbst schon traditioneller Konstruktionen einer Sonderbeziehung zwischen Deutschen und Griechen ist es schwierig, einen unabhängigen Standpunkt zu markieren. Hauptmann entscheidet sich für konsequente Verinnerlichung: Das Fließen »jenes unversiegbaren, silbernen Stromes der Griechenseele«308 ist für den modernen Reisenden immer noch aufzuspüren – allerdings nur bei entscheidender Vorprägung und letztlich nur im Subjekt selbst. Hugo von Hofmannsthal geht in seinen Augenblicken in Griechenland von ähnlichen Voraussetzungen aus, problematisiert jedoch anders als Gerhart Hauptmann den Projektionscharakter des Schreibens über Griechenland. 2.2.

Programmatische Zurücknahme: Hugo von Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland (1908–1917)

2.2.1.

Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland als Erwiderung auf Hauptmanns Griechischen Frühling

Hugo von Hofmannsthal reagiert in seinen Augenblicken in Griechenland309 offenkundig auf Hauptmanns Griechischen Frühling. Dies wurde von der Hofmannsthal-Forschung bislang nur wenig zur Kenntnis genommen, was umso mehr erstaunt, weil das Konkurrenzverhältnis der beiden Autoren bereits für ihre Zeitgenossen deutlich zutage trat. Hofmannsthal hat seine Augenblicke in Griechenland teilweise als bewusste Antwort auf Hauptmanns populären Reisebericht konzipiert. Die Entstehungsbedingungen stützen diese

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Ebd., S. 97. Hugo von Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, in: Ders., Die prosaischen Schriften gesammelt, Bd. 3, Berlin 1917, S. 145–195. Diese Ausgabe – die erste zusammenhängende Publikation der Augenblicke – wird hier als Textgrundlage verwendet; hinzugezogen wurde die kritische Ausgabe, die im Fall der Statuen einen späteren gekürzten Text bringt. – Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke XXXIII. Reden und Aufsätze 2, hrsg. v. Konrad Heumann u. Ellen Ritter, Frankfurt am Main 2009, S. 180–196. Vgl. dazu Konrad Heumann/Ellen Ritter, »Kommentar«, ebd., S. 643–717.

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These:310 Die Lektüre dieses ihm gewidmeten Reiseberichts – ausgerechnet in einem Brief an Hofmannsthal bezeichnet er sie als »die schönste deutsche Prosa« der letzten Jahre311 – regte Harry Graf Kessler an, ebenfalls Griechenland zu besuchen. Als Reisebegleiter wählte er den französischen Bildhauer Aristide Maillol und Hofmannsthal, wohl auch, weil er sich durch das Zusammentreffen des Bildhauers und des Dichters, für deren beider Werk die griechische Antike von wesentlicher Bedeutung ist,312 interessante Anregungen für alle Beteiligten versprach. Kessler selbst hatte bereits im Herbst und Winter 1900 Griechenland bereist,313 so dass die gemeinsame Fahrt für ihn auch eine Rückkehr zu Orten bedeutete, die für ihn mit Jugenderinnerungen verbunden waren.314

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Vgl. zu den äußeren Umständen der Reise Werner Volke, »Unterwegs mit Hofmannsthal. Berlin – Griechenland – Venedig«, in: Hofmannsthal-Blätter 35/36 (1987), S. 50–104; Harry Graf Kessler. Tagebuch eines Weltmannes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, 2., durchgesehene Auflage, Marbach am Neckar 1988 (Marbacher Kataloge; 43), S. 225–247. Harry Graf Kessler, »Brief an Hugo von Hofmannsthal, 11. 1. 1908«, in: Hugo von Hofmannsthal/Harry Graf Kessler, Briefwechsel 1898–1929, hrsg. v. Hilde Burger, Frankfurt am Main 1968, S. 166. Das aufschlussreiche Zitat lautet im Zusammenhang: »Inzwischen ist mir unsere Reise wieder sehr lebhaft durch Gerhart Hauptmanns Tagebuchblätter in der Neuen Rundschau ins Bewußtsein getreten. Hast du diese Seiten gelesen? Sie schienen mir mit die schönste deutsche Prosa, die ich seit Jahren gelesen habe; so ganz und gar schlicht und ohne Rhetorik schön, wie wir es in unserer Litteratur kaum kennen. Eine Leichtigkeit der Hand, eine Grazie, eine überall ohne jede Emphase, ohne ›Ausholen‹ hervorbrechende Poesie, daß das Lesen von Anfang bis zu Ende ein Entzücken ist. Es kam mir vor wie geschriebener Corot.« Vgl. Martin Stern, »Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann. Chronik ihrer Beziehungen 1899–1929«, in: Hofmannsthal-Blätter 37/38 (1988), S. 5–141, bes. S. 125: »Als verbindendes Element zwischen Hauptmann und Hofmannsthal wirkte von Weimar aus vor allem der unermüdliche Kunstenthusiast Harry Graf Kessler.« Vgl. Harry Graf Kessler, »Aristide Maillol«, in: Ders., Künstler und Nationen, S. 263–271. »Maillol, der Grieche« (ebd., S. 263) weist für Kessler in Lebensweise, Weltverständnis und selbstverständlich in seinem Werk eine große Ähnlichkeit mit den Alten auf: »In dieser Naivität seines Nackten berührt er sich gefühlsmäßig mit den Griechen, so wie er sich in seinem Begriff der Plastik, daß sie nämlich nicht eine bloße Wiederholung der Natur, sondern eine Harmonie von Massen sei, technisch mit ihnen berührt. […] Die Griechen führten ihn also ebenso wie Gauguin nur tiefer in sich selbst und seine Heimat zurück.« Vgl. Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Dritter Band 1897–1905, S. 320–354. Vgl. zu Kesslers Sicht auf die Griechenland-Reise: Harry Graf Kessler, Das Tagebuch. Vierter Band 1906–1914, hrsg. v. Jörg Schuster, Stuttgart 2005, S. 443–486.

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Die Reise – unternommen im April 1908, gerade einmal ein Jahr nach derjenigen Hauptmanns – wurde somit implizit zu einer Art Wiederholung von Hauptmanns Griechenland-Reise unter ähnlichen Vorzeichen: Während Hauptmann mit dem Maler Ludwig von Hofmann und seinem malenden Sohn Ivo gereist war, begleitete Hofmannsthal den Bildhauer und Graphiker Maillol und den Kunstmäzen Kessler. Diese Konstellation führte allerdings zu etlichen Komplikationen, die den Eifersüchteleien in Hauptmanns Umgebung durchaus ähnelten.315 Schließlich reiste Hofmannsthal nach nur elf Tagen in Griechenland wieder ab. Er hatte von den bedeutenden antiken Stätten lediglich Athen und Delphi besucht.316 Ebenso wie die Griechenland-Reise wäre die literarische Verarbeitung ohne den Anstoß Hauptmanns zumindest in ihrer spezifischen Ausrichtung undenkbar. So schenkte Gerhart Hauptmann dem ihm persönlich gut bekannten Hofmannsthal zum Weihnachtsfest 1908 ein Exemplar seines Griechischen Frühling mit der expliziten Aufforderung, es ihm nachzutun: Er widmete Hofmannsthal »diese griechische Reise in Hoffnung auf die seinige«.317 Diese anscheinend spielerische Aufforderung gewinnt größeres Gewicht, wenn man um die Beziehung zwischen den beiden Autoren weiß, die sowohl von gegenseitiger Wertschätzung als auch von einer »freundschaftlichen Konkurrenz«318 geprägt ist. Für Hofmannsthal wird zumindest in den Augenblicken in Griechenland der Reisebericht zu einer agonalen Gattung,319 trägt er in ihm doch einen Wettstreit mit Hauptmanns Griechischem Frühling aus, der die bloße intertextuelle Bezugnahme übersteigt. Hofmannsthal schreibt insbesondere im letzten Teil Die Statuen geradezu polemisch gegen die Grundtendenzen von Hauptmanns Text an und setzt dessen provokanten Einheits- und Verschmelzungsgedanken aus dezidiert moderner Perspektive das Bewusstsein einer unüberbrückbaren Differenz zu den Griechen gegenüber: Gerade in Grie-

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Vgl. Volke, »Unterwegs mit Hofmannsthal«, S. 50–54. Vgl. ebd., S. 54. Stern, »Hugo von Hofmannsthal und Gerhart Hauptmann«, S. 110. Hofmannsthal wiederum bedankte sich für das »Tage- und Traumbuch aus Griechenland« (ebd., S. 57). Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 136: »Ein weiteres wichtiges Feld gemeinsamer Interessen war nach 1900 die griechische Antike.« Vgl. auch Peter Sprengel, »Hauptmann über Hofmannsthal: Aristophanisches und anderes«, in: Ursula Renner/G. Bärbel Schmid (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen, Würzburg 1991, S. 37–53.

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chenland trete diese klar hervor. Auch von dem dionysischen Antikebild, das noch im Hintergrund seiner Elektra stand, distanziert sich Hofmannsthal in seinen Reiseessays. An die Stelle wilder Archaisierung, die vielfach mit dem Gedankengut der jungen Psychoanalyse verbunden war, tritt das Bild eines sanften und harmonischen Griechenlands, das sichtlich von den Bilderwelten von Nicolas Poussin geprägt ist.320 2.2.2.

Mystischer Dreischritt. Zur bedeutungsstiftenden Struktur von Hofmannsthals Text

Zweifellos verlief Hofmannsthals Griechenland-Reise unbefriedigend. Harry Graf Kessler etwa formuliert bündig: »Hofmannsthal in Greece was a failure.«321 Dieses Scheitern hängt zum einen mit dem für Hofmannsthal belastenden Dreiecksverhältnis zusammen, zum anderen wird darin auch eine grundlegende Disposition von Hofmannsthal deutlich, der nach eigenem Bekunden der nachträglichen erzählerischen Vergegenwärtigung der Reise bedurfte, um sich des Erlebnisses zu vergewissern: [I]ch kann alles dergleichen eigentlich erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen, durch eine Art von Reproduktion, indem ich es in mich aufnehme und gleichsam aus mir hervor wieder vor mich bringe, fast wie etwas von meiner Phantasie Erfundenes.322

Diese Vorgehensweise gilt auch für die Augenblicke in Griechenland. In weitaus höherem Maße als bei Hauptmanns Griechischem Frühling, der geradezu penetrant die Präsenz des Beschriebenen herausstellt,323 handelt es sich bei Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland um die nachträgliche narrative Sinnstiftung disparater Eindrücke. Es geht nicht mehr nur um die Beschreibung und Vergegenwärtigung der Reise. Dies wird auch daran deutlich, dass Hofmannsthal (anders als Hauptmann) im Präteritum erzählt und drei Augenbli-

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Vgl. hierzu Ursula Renner, »Die Zauberschrift der Bilder«. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten, Freiburg i. Br. 2000 (Litterae; 55), S. 464f. Volke, »Unterwegs mit Hofmannsthal«, S. 87 (Brief von Kessler an seine Schwester Wilma, 1. 6. 1908). Hugo von Hofmannsthal, »Brief an die Eltern, 12. 10. 1902«, in: Ders., Briefe 1900–1909, Wien 1937, S. 90. Vgl. Hofmiller, »Griechischer Frühling«, S. 535: »Die eigensinnig festgehaltene Gegenwartsform im Reisetagebuch ist auf die Dauer unausstehlich, weil sie innerlich unwahr ist und das Buch zu einer einzigen Pose macht von Anfang bis zu Ende: zur Pose des fortgesetzten Erlebnisses, Eindrücke-Empfangens um jeden Preis.«

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cke seiner Reise präsentiert, deren Darstellung jeweils über die konkrete Reiseschilderung hinausweist.324 Während Gerhart Hauptmann seinen Griechischen Frühling programmatisch als Dokument einer Suche nach »Reizen für Sinne und Übersinne«325 konzipierte, ist Hofmannsthal zurückhaltender in seinen programmatischen Äußerungen. Vor diesem Hintergrund kommt der Form der Texte besondere Bedeutung zu. Hofmannsthals Erzählprogramm lässt sich vor allem an der Struktur des Textes ausmachen. Seine Augenblicke in Griechenland bestehen aus drei Teilen, die zunächst separat publiziert wurden: Am 19. 6. 1908 erschien in Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur der spätere erste Teil der Augenblicke unter dem Titel Ritt durch Phokis. Das Kloster des heiligen Lukas, während Der Wanderer und Die Statuen erst 1917 im dritten Band von Hofmannsthals Prosaischen Schriften publiziert wurden.326 Insbesondere an den Statuen hatte Hofmannsthal lange und skrupulös gearbeitet.327 Im ersten Teil, Das Kloster des heiligen Lukas, entwirft Hofmannsthal eine arkadische Idylle, in der das Gefühl von Geborgenheit und Alleinheit dominiert. Der zweite Teil, Der Wanderer, bedeutet demgegenüber einen deutlichen Bruch: Hier steht die Problematik des Lebens im Mittelpunkt, die an der einsamen und letztlich tragischen, immer gefährdeten modernen Künstlerexistenz exemplifiziert wird. Die Statuen schließlich diskutieren die Bedeutung der griechischen Antike für das moderne Individuum und problematisieren explizit die Mythos- und Traditionsaneignung Hauptmann’scher Art, ehe der Reisende in einem erhöhten Augenblick allumfassende Zusammenhänge erfährt.

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Vgl. Klaus Weissenberger, »Hugo von Hofmannsthals Entwicklung der Reiseprosa von der Allusion des Schöpferischen zu dessen dichterischer Darstellung«, in: Gabriele Scherer/Beatrice Wehrli (Hrsg.), Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, Bern u. a. 1996, S. 499–517, S. 510 zu der Ähnlichkeit mit den »guten Augenblicken« des Chandos-Briefs. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 14. Vgl. Heumann/Ritter, »Kommentar«, S. 643–645. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, »Brief an Helene von Nostitz, 23. 1. 1914«, in: Hugo von Hofmannsthal/Helene von Nostitz, Briefwechsel, hrsg. v. Oswald von Nostitz, Frankfurt am Main 1965, S. 128: »Der dritte griechische Aufsatz ist noch nicht entstanden – mahnend hängt noch die Photographie der wunderbaren Mädchenstatue an meiner Tür – und Sie lassen sie mir – nicht wahr – bis der Aufsatz geschrieben ist – was bald sein wird! – der mir so lebhaft vor der Seele steht.« – Hofmannsthal kürzte das Prosastück für die Aufnahme in die Gesammelten Werke (1924). Diese Fassung liegt dem Abdruck in der kritischen Hofmannsthal-Ausgabe zugrunde.

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Hofmannsthals Text ist also offensichtlich nach einem triadischen Schema strukturiert: Auf die Darstellung einer Einheitserfahrung folgt die von Entfremdung und Gefährdung, während schließlich in den Statuen das Gefühl einer Alleinheit gestaltet wird, die den engen Rahmen der griechischen Kultur transzendiert. Diese »für die späteren Reisebilder charakteristische Struktur der Dreiteilung«328 findet sich bereits in den 1892 entstandenen Südfranzösischen Eindrücken. Sie ist grundlegend für sämtliche Reisetexte Hofmannsthals, die allesamt von mythisierenden Tendenzen geprägt sind. Insbesondere gewinnt sie in den Augenblicken in Griechenland an Bedeutung: Unabhängig von dem unterschiedlichen Abstand zur Reise, in dem die drei Teile entstanden sind, verweist ihre zum eigentlichen Reiseverlauf umgekehrte Folge auf Hofmannsthals Intention, auch diese Reiseerinnerungen seinem triadischen Strukturprinzip der mythischen Reise anzupassen, vielleicht um die mit dieser Reise verbundene Problematik in einen übergeordneten Zusammenhang zu integrieren und dadurch zu sublimieren.329

Auch wenn man dieser Sublimierungsthese kritisch gegenüberstehen mag, ist doch evident, in wie hohem Maße Hofmannsthal um Sinngebung durch Struktur bemüht ist. Darin unterscheidet er sich von der Vorgehensweise Gerhart Hauptmanns, der im Wesentlichen der Reisechronologie folgt und die Darstellung mit visionshaften Reflexionen anreichert. 2.2.3.

Transzendentale Geborgenheit. Das Kloster des heiligen Lukas

Zeitlichkeit ist für Hofmannsthal von zentraler Bedeutung. Man kann seine Augenblicke in Griechenland auch als eine Variationenfolge über die Themen Ewigkeit und Vergänglichkeit lesen, als Versuch, einer diffusen und letztlich bedrohlichen Zeiterfahrung zumindest im Medium der Literatur Kontinuität und Geborgenheit entgegenzustellen. Dies wird gerade am ersten Prosastück, Das Kloster des heiligen Lukas, deutlich. Hofmannsthal inszeniert hier die Einbettung des Individuums in naturhafte Zusammenhänge. Es erfährt in einer Atmosphäre von Spiritualität, Gelassenheit und Transparenz eine tiefe Geborgenheit. Antike und Christentum vermischen sich in einem Text, der in deutlicher Anlehnung an literarische und ikonographische Traditionen eine idyllische Szenerie entwirft. 328 329

Weissenberger, »Hugo von Hofmannsthals Entwicklung der Reiseprosa«, S. 500. Ebd., S. 511. Hofmannsthals Landschaftsdeutung erfolge auf Grundlage der »Transzendierung des Empirischen« (ebd., S. 500). Charakteristisch für den Aufbau seiner Texte sei eine dreiteilige Struktur. Kultur bewahrheite sich schließlich »in letzter Konsequenz als Naturvorgang« (ebd., S. 501). Hofmannsthal stilisiere die »Landschaft zur Kunst« (ebd., S. 502).

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Ungewöhnlich ist der Bezug auf die Welt orthodoxer Mönchsklöster, die Hauptmann (wie in der Reiseliteratur der Jahrhundertwende üblich) im Griechischen Frühling eher beiläufig behandelt.330 Das Prosastück setzt ein mit der Beschreibung des Ritts durch eine zunächst unwirtliche Landschaft. Je näher das Kloster rückt, desto lieblicher wird die Umgebung. Die Übernachtung in dem Mönchskloster schließlich bedeutet die Erfahrung einer fremden Sphäre, die von Harmonie und Ruhe geprägt ist. In der Landschaft um das Kloster ist auch die Nähe zu dem antiken Delphi spürbar. Bereits die Beschreibung des Ritts,331 mit der der Text beginnt, verdeutlicht den natürlichen Charakter der Reise. Der Weg führt die Reisenden »in einem urzeitigen versteinten Flußbett«332 von Wasserstelle zu Wasserstelle. Durch diese Orientierung am Verlauf des Wassers gewinnt die Reise natürlichen Charakter. Der Reisende ist so Teil des bereisten Landes und der ihn umgebenden Natur. Zudem vermittelt die Umgebung den Eindruck von Dauer und Ewigkeit, die menschliches Maß übersteigen: Manche Strecken waren öde mit der Öde von Jahrtausenden und nichts als einer raschelnden Eidechse überm Weg und einem kreisenden Sperber hoch oben in der Luft; manche waren belebt von dem Leben der Herden.333

Diese Landschaft erscheint völlig zeitenthoben. Die figurae etymologicae tragen dazu bei, den Eindruck von Monotonie und Wiederholung zu unterstützen, der die Szenerie bestimmt. Griechenland ist ein Ort archetypischer Erfahrungen. Die Gleichförmigkeit der Reise bewirkt, dass die Wahrnehmungsfähigkeit der Reisenden geschärft wird. In der weitgehend menschenleeren Landschaft begegnet den Reisenden lediglich ein Hirte. Anders als Hauptmann, der angesichts einer Schafherde eine panisch-dionysische Vision geschildert hatte,334 betont Hofmannsthal 330

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Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 114f. Hauptmann betont ebenso wie Hofmannsthal die Schönheit der Landschaft und die friedliche Atmosphäre, widmet sich aber auch den Folgen der Moderne für das Klosterleben, so dass eben kein Eindruck von Zeitlosigkeit entsteht: »Der Prior wünscht uns die Kirche zu zeigen, die innen ein trauriges Bild der Verarmung ist. Reste von Mosaiken machen wenig Eindruck auf mich, desto mehr ein Geldschrank, der, an sich befremdlich in diesem geweihten Raum, zugleich ein wunderlicher Kontrast zu seinem kahlen, ausgepowerten Zustand ist.« (ebd., S. 114). Der Weg von Delphi über das Kloster Hosios Lukas nach Chäronea wird ausdrücklich empfohlen. Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 94f. Es handele sich um eine »sehr lohnende Tour« (ebd., S. 94). Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 147. Ebd. Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 109.

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die friedlichen Aspekte des Hirtenlebens. So erscheint der Hirte als eine Christus-Figuration, die auf das Reiseziel vorausdeutet: »Ein junger hübscher Hirt trug ein kleines Lamm auf dem Nacken.«335 Diese Verweise auf die Bibel und Traditionen der Idyllik verdeutlichen den religiösen Bezugsrahmen des Textes, der das Programm einer transzendentalen Geborgenheit entwickelt. Von vornherein ist deutlich, dass die Reise einem bestimmten Ziel gilt, das von der Natur vorgegeben ist: »Man fühlte, wie die bläulichen Berge sich schlossen und wie dieses Tal das Ende des ganzen Weges war.«336 Dieses Ziel wird vorreflexiv erfasst. Ausschlaggebend ist die Intuition der Reisenden: Es scheint, als sei ihnen ihr Reiseziel geradezu providentiell vorbestimmt. Es ist gleichsam Teil der Natur, da es »in den Berg hineingebaut«337 wurde. Die Umgebung des Klosters ist von ausgesprochener Anmut. Der Erzähler stellt sie als topische Musterlandschaft dar, die deutlich an die von Hofmannsthal so geschätzten Gemälde von Nicolas Poussin erinnert.338 Die Landschaft dient nicht nur agrarischem Nutzen, etliche Wege sind »zur Lust angelegt«.339 Eine Pinie hat »etwas von ewiger Jugend«,340 obwohl sie »uralt«341 ist. Diese geheimnisvolle Verbindung von hohem Alter und jugendlicher, ja zeitloser Anmut ist Grundzug des gesamten Klosterlebens, das von der Wiederholung des Immergleichen bestimmt ist, die letztlich zu der Präsenzerfahrung einer metaphysischen Instanz führt. So ist die Wirkung des Klosters geradezu verzaubernd. Der Pförtner, der die Gäste »in dieser paradiesischen Einsamkeit«342 empfängt, hat »etwas vom Magier an sich«.343 Diese Atmosphäre wird durch den rituellen Gesang der Mönche gesteigert, in dem sich die Essenz des zeitenthobenen und sich selbst genügenden Klosterlebens ausdrückt: In der Kirche fingen halblaute Stimmen an, Psalmen zu singen, nach einer uralten Melodik. Die Stimmen hoben und senkten sich, es war etwas Endloses, gleich weit von Klage und von Lust, etwas Feierliches, das von Ewigkeit her und weit in die Ewigkeit so forttönen mochte.344 335 336 337 338

339 340 341 342 343 344

Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 148. Ebd. Ebd., S. 151. Vgl. zur Bedeutung von Poussin für Hofmannsthal Ursula Renner, »Die Zauberschrift der Bilder«, S. 459–502. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 149. Ebd. Ebd. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd., S. 152.

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Dieser androgyne Gesang kennt keinen Beginn und kein Ende. Er hat Teil an der Ewigkeit und übersteigt menschliches Maß bei weitem. In ihm drückt sich ein tiefes, nicht näher fassliches Mysterium aus: »Es schien, als sänge dort das Geheimnis selber, ein Wesenloses.«345 Die menschliche Urheberschaft ist sekundär, der Sänger ist lediglich Gefäß eines Göttlichen, das in der Kunstausübung manifest wird. Die Nachtschilderung, die Das Kloster des heiligen Lukas abschließt, bündelt wesentliche Motive des Textes und verweist zudem auf das antike Delphi. Die Darstellung des weiten Tals, das nur von Hirtenfeuern beleuchtet wird, erinnert an biblische Szenen, insbesondere an die Weihnachtsgeschichte. Die religiöse Sphäre ist allerdings nicht nur christlich konnotiert. So lässt die Stimmung den Erzähler an das nahe Delphi denken: Wo der Abendstern stand, dort glänzte unsichtbar hinter dunklen Bergen der Parnaß. Dort, in der Flanke des Berges, lag Delphi. Wo die heilige Stadt war, unter dem Tempel des Gottes, da ist heute ein tausendjähriger Ölwald, und Trümmer von Säulen liegen zwischen den Stämmen. Und diese tausendjährigen Bäume sind zu jung, diese Uralten sind zu jung, sie reichen nicht zurück, sie haben Delphi und das Haus des Gottes nicht mehr gesehen. Man blickt ihre Jahrhunderte hinab wie in eine Zisterne, und in Traumtiefen unten liegt das Unerreichliche.346

Aus der Perspektive des orthodoxen Klosters imaginiert der Erzähler das religiöse Zentrum des antiken Griechenlands. Während Hauptmann die Schilderung seines Aufenthalts in Delphi dazu nutzte, seine Tragödientheorie auszuführen und sich in Gedanken in das alte Griechenland zu versetzen, betont Hugo von Hofmannsthal die Unzugänglichkeit der Antike. Auch in Delphi selbst ist sie nur zu erahnen: Die Natur hat die Ruinen überwuchert. Der Verfall und die Überwucherung der Ruinen machen den Zugang zu den »Traumtiefen«, in denen das »Unerreichliche« liegt, unmöglich. In Hauptmanns Griechischem Frühling dient vielfach die Naturerfahrung als Medium, um mit dem antiken Griechenland in Kontakt zu treten. Hofmannsthal hingegen hebt hervor, dass selbst über die Natur kein Zugang zu der Vergangenheit möglich sei. Das antike Delphi gehört einer fernen Vergangenheit an, die keine lebendigen Spuren mehr hinterlassen hat. Der Ort höchster religiöser Erfüllung ist für Hofmannsthals Erzähler als konkret erleb- und bereisbarer Ort bedeutungslos geworden, da aus seiner Sicht der gegenwärtige Zustand eine Verbindung zur Vergangenheit verwehrt. Allerdings ist diese konkret fassliche Vergangenheit – und eben darin liegt das Besondere nicht nur des ersten Teils der Augenblicke in Griechenland – 345 346

Ebd., S. 152f. Ebd., S. 156f.

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selbst nicht mehr von absoluter Bedeutung. Vielmehr ist auch Delphi Teil eines übergreifenden Ganzen, in dem griechische Religion und Christentum verschmelzen. Wenn Hofmannsthal von etwas Unerreichlichem spricht, so legt dies zunächst nahe, dass tatsächlich keine Möglichkeit besteht, zu dieser Sphäre vorzudringen. Die Erwähnung der »Traumtiefen« wiederum stützt diese Annahme, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit der Kompensation, indem sie auf die menschliche Psyche verweist, in deren Tiefenschichten für Hofmannsthal offenbar das von der Geschichte Verschüttete prinzipiell zugänglich ist. Hofmannsthal kontrastiert eine unerreichbare Vergangenheit mit einer Gegenwart, die nur im Traum in die Vergangenheit vordringen kann. Er stellt also nicht eine hymnische Aneignung der Antike dar, sondern evoziert die Erfahrung einer metaphysischen Geborgenheit, die letztlich auf das Subjekt zurückverweist, das diese erlebt. Hauptmann wie Hofmannsthal geht es um das Vordringen in unbekannte, verschüttete Bereiche der menschlichen Existenz. Während Hauptmann dies aber in Anschauung, in Erfahrung des aufgeladenen Ortes gelingt, negiert Hofmannsthals Erzähler diese Möglichkeit. Die große Distanz scheint zunächst unüberbrückbar. Allerdings kann die Erfahrung des klösterlichen Lebens, von Harmonie und Frieden, das Heiligtum vergegenwärtigen: Aber hier ist es nah. Unter diesen Sternen, in diesem Tal, wo Hirten und Herden schlafen, hier ist es nah, wie nie. Der gleiche Boden, die gleichen Lüfte, das gleiche Tun, das gleiche Ruhn. Ein Unnennbares ist gegenwärtig, nicht entblößt, nicht verschleiert, nicht faßbar, und auch nicht sich entziehend: genug, es ist nahe. Hier ist Delphi und die delphische Flur, Heiligtum und Hirten, hier ist das Arkadien vieler Träume, und es ist kein Traum.347

Hofmannsthal entwirft ein Bild von Griechenland, das deutlich auf Traditionen der arkadischen Idylle verweist. Zugleich erinnert seine Beschwörung Arkadiens sowohl an das Motto von Goethes Italienischer Reise als auch an das berühmte Gemälde von Poussin.348 Für Hofmannsthal wird am Parnass eine arkadische Idylle erfahrbar, die über die Schäferromantik hinausweist: Ein Traum hat sich erfüllt. Doch anders als bei Hauptmanns Traummetaphorik, in der der wahrgewordene Traum von vornherein konkret ausgestaltet war, ist der Gegenstand der Offenbarung bei Hofmannsthal gerade durch seine Unbestimmtheit gekennzeichnet – weder verschleiert noch entblößt, weder

347 348

Ebd., S. 157. Vgl. Renner, »Die Zauberschrift der Bilder«, S. 476; Reinhard Brandt, Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung (Quellen zur Kunst; 25), Freiburg i. Br. 2005.

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fassbar noch sich entziehend. Das Unnennbare ist zwar nahe, diese Nähe allein sagt aber nichts über das Wesen des Geheimnisvollen aus. Dieses Unnennbare geht weit hinter das antike Griechenland zurück. Die Konversation der Mönche hat einen Rhythmus in sich, der von Ewigkeit her ist. Dies reicht zurück, dies Lebendige, wohin die uralten Ölbäume nicht reichen. Homer ist noch ungeboren, und solche Worte, in diesem Ton gesprochen, gehen zwischen dem Priester und dem Knecht von Lippe zu Lippe.349

Der Erzähler geht also nicht nur hinter die klassische griechische Antike zurück, sondern sogar hinter Homer, ohne deshalb – und das ist bemerkenswert, bedenkt man die Folgen, die diese Archaisierungen etwa für die Tragödie mit sich bringen350 – in wilde oder gar dionysische Regionen vorzustoßen. Im Gegenteil, der friedliche Eindruck von größter Klarheit und Transparenz überwiegt in Hofmannsthals arkadischer Idylle, deren sentimentalischer Grundzug unübersehbar ist. Die Umgebung von Delphi, des Heiligtums Apolls, verschmilzt in der Wahrnehmung des Erzählers mit alttestamentarischen Landschaften. So unterhalten sich die Mönche in einem »Ton […] aus den Zeiten der Patriarchen«.351 Diese synkretistische Tendenz, die klassische Antike, biblische Vergangenheit und byzantinisches Klosterwesen in eins zieht, ist denkbar ungewöhnlich: Das griechische Mittelalter und die damit verbundene Orthodoxie sind für etliche Autoren eine Phase des Verfalls. In den Klöstern sei dieses finstere Zeitalter noch zu erleben.352 Für Hofmannsthal hingegen manifestiert sich gerade in Tagesablauf und Ritualen der Mönche eine große Kontinuität. Sie evozieren eine mythische Zeitlosigkeit, die eine Erfahrung von Ewigkeit bewirkt.353 In der Welt des orthodoxen Klosters sind für Hof349 350

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Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 158. Vgl. Frick, ›Die mythische Methode‹, S. 72: Hofmannsthal habe den Stoff der griechischen Tragödie »in die Unnahbarkeit einer fremdartigen ›Vor-Vergangenheit‹ zurückverlegt«. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 157. Vgl. Ponten, Griechische Landschaften, S. 112: »Dies nichtstuerische Klosterleben darf man nicht mit germanischen oder gar protestantischen Augen ansehen, mit denen man schon dem deutschen katholischen Klosterleben unrecht tut. Die Faulheit ist Ausfluß der Rasse, des Klimas, der Geschichte, allgemeiner Denkungsart.« Diese Verbindung verschiedenster Perioden wird in der einige Jahre später entstandenen überarbeiteten Fassung des Schlusses noch deutlicher, mit der Hofmannsthals Griechenland-Essay endet. Dort verweist Hofmannsthal auf den Ion des Euripides, den er fälschlicherweise Sophokles zuschreibt, und setzt ihn mit den jungen androgynen Mönchen gleich: »Nirgend waren wir zum Schein jener

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mannsthal biblisches Geschehen und die griechische Antike gleichermaßen präsent. Er überwindet den stereotypen Kontrast zwischen Antike und Mittelalter, ja entwirft einen großen Zusammenhang, der eher atmosphärisch erfahren als argumentativ begründet wird: »Stunde, Luft und Ort machen alles.«354 Das Kloster des heiligen Lukas schildert also in geradezu impressionistischen Bildern die Erfahrung einer tiefen Vergangenheit,355 die weit über die griechische Geschichte hinausreicht und die zugleich die Erfahrung einer kosmischen Einheit und allumfassenden Harmonie ist:356 Diese Geborgenheit ist allerdings nur ein Aspekt menschlicher Welterfahrung, die in einem erfüllten Augenblick gelingen kann. Wie fragil solche Momente der transzendentalen Geborgenheit tatsächlich sind, demonstrieren die folgenden Teile der Augenblicke in Griechenland.

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versunkenen heidnischen Welt entrückter und niemals in der Tat ihr so fühlbar nahe; und als an einem Fenster der Kopf eines Klosterknaben erschien, eines recht schönen, anmutig selbstbewußten, des gleichen, der vordem die heilige Melodie nachgesungen hatte, da lag nichts näher, als diesen Priesterschüler mit einem anderen zu vertauschen, und mit diesen Bräuchen hier, die uns geheimnisvoll und doch faßlich waren, eine andere Gestalt zu umkleiden, und nie war uns ein Phantom wenigstens des hohen Altertums so zum Greifen nahe, als da wir in diesem phokäischen Tempelvorhof den Knaben Ion des Sophokles für einen Augenblick leibhaft vor uns zu sehen und eine Luft mit ihm zu atmen glaubten.« (Hugo von Hofmannsthal, »Griechenland«, in: Ders., Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt am Main 1979 [Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. VII], S. 629–640, hier S. 139f.). Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 158. – Vgl. Hans-Jürgen Schings, »Hier oder nirgends. Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland«, in: Olaf Hildebrand/Thomas Pittrof (Hrsg.), »… auf klassischem Boden begeistert«. AntikeRezeptionen in der deutschen Literatur, Freiburg i. Br. 2004, S. 365–388, hier S. 371: »Nichts vom Mythos und seiner Beschwörung im forcierten Rausch, dem Hofmannsthal in den griechischen Stücken gehuldigt hatte. Es scheint, als kehre er zur sensitiven Empfänglichkeit der impressionistischen Seele zurück, als befreie er sie von einem Opiat.« Vgl. die genaue Stilanalyse bei Ernst-Otto Gerke, Der Essay als Kunstform bei Hugo von Hofmannsthal, Lübeck/Hamburg 1970, S. 143–148. Aufschlussreich ist der Vergleich mit einem Prosastück des expressionistischen Autors Karl Otten, der ähnliche Eindrücke verarbeitet, dabei aber die Fremdheit des Klosterlebens hervorhebt. Seine Schilderung gipfelt in der Beschreibung einer Begegnung mit einem geisteskranken Mönch. Weltanschauliche Orientierung oder gar die Erfahrung von Geborgenheit sind für Otten im Kloster Hosios Lukas nicht zu erlangen. Vgl. Karl Otten, »Das Kloster in Stiri [1918/19]«, in: Ders., Die Reise nach Albanien und andere Prosa, hrsg. v. Ellen Otten u. Hermann Ruch, Zürich 1989, S. 117–124.

Auf der Suche nach einer neuen Antike

2.2.4.

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Einsamkeit und Empathie. Der Wanderer

Während Das Kloster des heiligen Lukas allumfassende Geborgenheit darstellt, diskutiert das zweite Prosastück, Der Wanderer, die Möglichkeit eben dieses Zustandes und die grundsätzliche Gefährdung der menschlichen Existenz. Hier wie im Kloster des heiligen Lukas geht es weniger um die Erfahrung der griechischen Kultur als um die Vergegenwärtigung anthropologischer und mythischer Grundkonstanten. Den äußeren Rahmen bildet wiederum eine Reise durch griechische Landschaft, die Reise von dem Mönchskloster nach Chäronea. Während dieses Fußmarschs, der eine der üblichen touristischen Touren durch Griechenland darstellt,357 führen der Erzähler und sein Begleiter ein Gespräch über ihre lebenden und verstorbenen Freunde. Diese Unterhaltung geht über in die Evokation des sterbenden Arthur Rimbaud. Schließlich begegnen die Reisenden einem völlig verwahrlosten deutschen Handwerker, dem titelgebenden Wanderer, und nehmen sich seiner an. Das Prosastück endet mit einer Meditation über die Möglichkeit zwischenmenschlicher Empathie und Nähe. Hofmannsthal verbindet die Darstellung eines tatsächlichen Erlebnisses mit intertextuellen Verweisen auf eine Vielzahl von Prätexten, von denen drei besondere Bedeutung zukommt: Das griechische Motto des Textes stammt aus Gilbert Murrays altphilologischer Darstellung The Rise of the Greek Epic und wird dort übersetzt als »there is vengeance in heaven for an injured dog«.358 Auch Hofmannsthals Entwurf der Koren in den Statuen ist zumindest teilweise auf den Einfluss von Murrays ungemein lebendiger Arbeit zurückzuführen. Daneben steht im Hintergrund der Ödipus-Mythos, der bereits durch den Ort vorgegeben ist: Die Reisenden befinden sich auf dem »Weg des Ödipus«.359 Schließlich integriert der Erzähler Elemente aus der Biografie des jung verstorbenen Dichters Rimbaud. All diese Bezüge sind integriert in den übergreifenden Zusammenhang der Darstellung der Lebensproblematik. Anders als Hauptmann, dessen Reisebericht von vitalistischen Tendenzen geprägt ist, problematisiert Hofmannsthal das Leben: Es ist geprägt von Leid und Einsamkeit. Lediglich in einigen herausgehobenen Augenblicken, die gerade die Literatur gestalten

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Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 94f. Vgl. Gilbert Murray, The Rise of the Greek Epic. Being a Course of Lectures Delivered at Harvard University. Dritte Auflage, Oxford 1924, S. 89, Fußnote 1. – Hofmannsthal besaß die 1911 erschienene zweite Auflage. Vgl. Heumann/Ritter, »Kommentar«, S. 646. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 160.

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kann, ist so etwas wie Empathie und Überwindung der Grenzen möglich, die die Individuen trennen. Im Mittelpunkt des Gesprächs der Reisenden steht das Leben. Diese Unterhaltung wird von vornherein als ein Beispiel gelungener und tiefer Kommunikation dargestellt. Dazu trägt nicht nur das Wissen um den mythisch aufgeladenen Ort bei, sondern auch die psychische und physische Disposition der beiden Reisenden, die im Gespräch über die Freunde tatsächlich deren Anwesenheit erfahren: Aber die tiefe und gleichsam zeitlose Einsamkeit, die uns umgab, das körperlose Erhabene der Umgebung – daß wir vom Fuß des Parnaß nach Chäronea, vom delphischen Gefild gegen Theben hinunterschritten, den Weg des Ödipus – die strahlende Reinheit der Morgenstunde nach einer Nacht ohne tiefen, dumpfen Schlaf, dies alles machte unsere Einbildungskraft so stark, daß jedes Wort, von einem ausgesprochen, den Geist des andern mit sich fortriß und er mit Händen zu greifen wähnte, was dem andern vorschwebte.360

Der Erzähler stellt also deutlich heraus, was die Ursachen der außergewöhnlichen Perzeptionsbereitschaft der Reisenden sind: Die Einsamkeit, die erhabene Wirkung der Landschaft und nicht zuletzt Schlafmangel tragen dazu bei, dass im Gespräch die Nähe entfernter, ja sogar unbekannter Menschen erlebt werden kann. Zusätzlich bewirkt der mythische Verweischarakter der Landschaft, dass diese an sich persönlichen Erfahrungen und Bekanntschaften ins Allgemeine überhöht werden können: Der »Weg des Ödipus« ist der geeignete Ort für Grenzerfahrungen. Nicht zuletzt gelingt unter diesen Bedingungen eine besondere Art des Gesprächs, fühlen sich doch die Gesprächspartner enger als sonst miteinander verbunden. Ihr Gespräch ist harmonisch und berührt Grundfragen des menschlichen Lebens. Auch die entferntesten Individuen sind für die Reisenden gegenwärtig, die gerade in der menschenleeren Landschaft visionsartig ihre Bindungen erleben. Die Reise durch das Gebirge wird somit zu einer quasi-religiösen Erfahrung des Lebens schlechthin. Innenwelt und Außenwelt verschwimmen ebenso wie die Bezugsgrößen von Raum und Zeit: [D]och wußten wir kaum, ob, was wir erinnerten, die Regungen des eigenen Innern waren oder die jener andern, deren Gesichter uns anblickten; nur daß es gelebtes Leben war, und Leben, das irgendwo immer fortlebte, denn es schien alles Gegenwart, und die Berge waren in diesem lautlosen, bläulichen Leben der Luft nicht wirklicher als die Erscheinungen, die uns begleiteten.361

360 361

Ebd. Ebd., S. 161.

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Jenseits der konkreten Menschen, denen die Erinnerungen gelten, offenbart sich das Leben als geheimnisvolle Größe mit einer deutlichen Eigendynamik, in der die übergreifenden Kontexte aufgehen.362 Angesichts dieser Kraft löst sich menschliche Individualität auf. Wiederum macht Hofmannsthal exzessiven Gebrauch von der figura etymologica. Variationsartig umkreist dieser Abschnitt das Grundthema des Lebens, das als religiös überhöhte Kraft die Reisenden ebenso wie ihre abwesenden Freunde durchdringt und mithin übergreifendes Movens jeglicher menschlicher, ja irdischer Existenz ist. Die Eigendynamik des Lebens offenbart sich an jeder Stelle. In gleichsam meditativer Stimmung nehmen die Reisenden die Seherrolle ein und werden selbst zum Gefäß des Lebensprinzips: Die noch leben und in diesem Licht atmen, kommen zu uns wie die, welche nicht mehr da sind. In diesen Minuten sehen wir alles rein: die geheimnisvolle Kraft Leben lodert in uns nur als Enthüllerin des Unenthüllbaren.363

In einem Gefühl von Reinheit erleben die Reisenden einen Moment höchster Transparenz. Der Gegenstand dieser Erfahrung ist durch Sprache nicht darzustellen: Nur als Paradox – »Enthüllerin des Unenthüllbaren« – kann das geheimnisvolle Leben gefasst werden. Hofmannsthals formelhafte Beschwörung der »geheimnivolle[n] Kraft Leben« hat eine geradezu melancholische Kehrseite. Seine Vorstellung von Teilhabe besteht nämlich in der Einsicht der grundsätzlichen Fremdheit und Einsamkeit selbst der ihm Nächsten: 362

363

Vgl. Wolfdietrich Rasch, »Aspekte der deutschen Literatur um 1900«, in: Viktor Zmegaˇc (Hrsg.), Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Königstein/Taunus 1981, S. 18–48, bes. S. 27: »Leben ist das Grundwort der Epoche, ihr Zentralbegriff, vielleicht noch ausschließlicher geltend als der Begriff Vernunft für die Aufklärungszeit oder der Begriff Natur für das spätere 18. Jahrhundert. […] In der Absolutsetzung des Lebens konvergieren die verschiedensten literarischen Richtungen, und jeder Autor der Zeit, ohne Ausnahme, hat sich auf irgendeine Weise zu ihr bekannt.« Vgl. Otto Friedrich Bollnow, »Der Lebensbegriff des jungen Hugo von Hofmannsthal«, in: Ders., Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter. Acht Essais, Stuttgart 1953, S. 15–30, hier S. 17: »Wir finden bei Hugo von Hofmannsthal als die Grundlage seines gesamten Weltbildes […] dieselbe Idee eines die gesamte Natur durchwaltenden und alles einzelne Dasein zur Einheit verbindenden Gesamtlebens.« – Vgl. zu den philosophischen Kontexten Karl Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg i Br./München 1995; Ferdinand Fellmann, »Die erotische Rechtfertigung der Welt. Aspekte der Lebensphilosophie um 1900«, in: Wolfgang Braungart u. a. (Hrsg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900, Paderborn 1998, S. 31–46. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 162.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 Jedes dieser Gesichter ist ein Geschick, etwas Einziges, das Einzelnste was es gibt, und dabei ein Unendliches, ein Auf-der-Reise-Sein nach einem unsagbar fernen Ziel.364

Bei aller menschlichen Empathie sind doch die Individuen einander fremd. Durch ihre Teilhabe am Leben sind sie zwar verbunden, doch bedeutet dies nicht, dass alles Trennende dadurch überwunden wäre.365 Der übergreifende Lebenszusammenhang führt nicht zu einer dionysischen Auflösung des principium individuationis. Vielmehr gipfelt die Teilhabe an der Welt der Freunde im Gefühl der Abgeschiedenheit, ja des Todes: »Wir sind wie zwei Geister, die sich zärtlich erinnern, an den Mahlzeiten der sterblichen Menschen teilgenommen zu haben.«366 Für die Reisenden sind nun die Freunde denkbar weit entfernt: Dass sie sich zu Geistern Verstorbener stilisieren, führt dazu, dass die Erfahrung von Isolation ihren Höhepunkt erreicht. So münden die empathische Evokation der Freunde und die gleichzeitige Beschwörung der Freundschaft, die die Reisenden verbindet, in die Erfahrung eines todesähnlichen Zustandes. Die Reise durch das griechische Gebirge wird so zu einer Art von Unterweltfahrt,367 bei der tatsächlich die Schatten von Toten erscheinen. Die Vereinzelung und Einsamkeit wird an den beiden Begegnungen, der imaginären wie der realen, deutlich. In der mythisch aufgeladenen Landschaft ist mit einem Mal der Dichter Arthur Rimbaud präsent: »Wir sahen ihn auftauchen, der am unsäglichsten gelitten hat, bevor er uns für immer entschwand.«368 Wie in einer Fata Morgana erscheint der todkranke Rimbaud, der in Nordafrika von Einheimischen auf einer Bahre getragen wird: Und nun sehen wir ihn abyssinisches Gebirg herabgetragen kommen, einsamen Felspfad herunter, schweigende Luft: eine ewige Gegenwart, wie hier; es ist, als trügen sie ihn auf uns zu.369

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Ebd. Vgl. Weissenberger, »Hugo von Hofmannsthals Entwicklung der Reiseprosa«, S. 513: »Gerade die Intensität der Erinnerungen an die Freunde evoziert die Fragilität dieses Gemeinschaftsbewußtseins, die Hofmannsthal während dieser Reise bereits erfahren hatte, und verweist damit auf die Individuationsproblematik des modernen Menschen.« Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 163. Vgl. Heumann/Ritter, »Kommentar«, S. 708: Diese Passage sei an »die Szene der Schattenbeschwörung in Homers ›Odyssee‹ angelehnt«. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 163. Ebd., S. 164. – Hofmannsthal verwendete folgende Ausgabe: Arthur Rimbaud, Leben und Dichtung. Übertragen von K. L. Ammer. Eingeleitet von Stefan Zweig,

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Rimbauds Leben wird in der Würdigung Hofmannsthals zu einer mit epochentypischen christologischen Anspielungen gesättigten paradigmatischen Passion des modernen Künstlers.370 Noch Rimbauds letzter Weg ist geprägt von Unrast und Eile; der Dichter »will steil hinab, ohne Weg, schnell«.371 Er ist zerrissen, trotzig und einsam und ringt um etwas Dämonisches, das ihn letztlich zerstört. Sein Leben erscheint als manische Selbstzerstörung. Während Gerhart Hauptmann Homer als Prototyp des Dichters erwähnt, verweist Hofmannsthal auf eine paradigmatische Figur der literarischen Moderne, deren Tod in der Fremde aber wiederum mythische Dimensionen besitzt. Die Evokation Rimbauds bildet einen scharfen Kontrast zu den harmonischen, wenn auch durchaus melancholischen Vorstellungen von Teilhabe, die bisher das Gespräch der Freunde bestimmten. Diese Erscheinung bedeutet einen klaren Bruch, eine Dissonanz, die zugleich antizipatorischen Charakter besitzt: »Unsagbare Auflehnung, Trotz dem Tod bis ins Weiße des Augs, den Mund vor Qual verzogen und zu klagen verachtend.«372 Die Nähe zu Rimbaud ist nur scheinbar vorhanden, anders als im Fall des deutschen Wanderers. Diese an sich absurd scheinende Begegnung, die aber bis in die Namensnennung der Realität entspricht,373 ist syntaktisch als eine Wiederholung der Rimbaud-Vision gestaltet: »[D]a erschien noch einer«374 – »Da kam von ferne ein Mensch auf uns zu.«375 Die Beschreibung dieses getriebenen und halbwahnsinnigen deutschen Handwerkers verweist sowohl auf die Rimbaud-Evokation wie auch auf den Ödipus des antiken Mythos. Alle drei Figuren verkörpern Unbehaustheit, Einsamkeit und Krankheit. Im Blick des ausgezehrten und zerlumpten Wanderers Franz Hofer ist »etwas Irres«.376 Er weigert sich umzukehren und ist nicht davon abzubringen, den gefährlichen Weg durch das Gebirge fortzusetzen:

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Leipzig 1907. Wichtig für Hofmannsthal ist die darin enthaltene Darstellung »Arthur Rimbauds Leben […]« von K. L. Ammer, ebd., S. 16–125, hier S. 101. Vgl. Rudolf Eppelsheimer, Mimesis und Imitatio Christi bei Loerke, Däubler, Morgenstern, Hölderlin, Bern/München 1968; Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 109f. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 165. Ebd. Vgl. Volke, »Unterwegs mit Hofmannsthal«, S. 101f. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 163. Ebd., S. 165. Ebd., S. 168.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900 Nun konnte man, wie er so drohend dastand und den Stock gegen uns hob, aber mit merklich schütterndem Arm, sehen, was er für ein großer, starker Mensch war und welche Unbändigkeit in ihm steckte und wie er der Gewalttätige eines ganzen Dorfes sein konnte und der Gefürchtete, und wie dies alles herabgewüstet war zu einem tierhaft umängstigten Wesen, das sich noch diesen Tag und den nächsten hinschleppen mochte und vor Nacht hinfallen und eines elenden und einsamen Todes sterben würde.377

Der Wanderer ist auf sich selbst zurückgeworfen: Wegen seiner Krankheit und Einsamkeit trennt ihn nur noch wenig von einer tierischen Existenz. Auch in der Zeichnung des Wanderers spielen christologische Motive eine wichtige Rolle. Seine Darstellung als Schmerzensmann und seine Abreise auf dem Esel verweisen auf den Religionsstifter. Zugleich und vor allem aber ist in ihm der mythische Ödipus präsent, dessen letztlich Unheil bringendem Weg vom delphischen Orakel nach Theben die Reisenden folgen.378 Dieser mythische Bezugsrahmen erklärt auch den Verweis des Erzählers auf die potentielle Gewalttätigkeit des Wanderers, die sich in seinem Verhalten nicht äußert, sondern reine Projektion des Erzählers ist. Gerade dass sich diese Begegnung auf dem mythischen Weg des Ödipus zuträgt, verweist auf diesen Mythos und die darin gestalteten undurchschaubaren Schicksalszusammenhänge. So erscheint auch der Wanderer als Ödipus-Figuration, als archetypische Existenz, an der menschliche Vereinzelung und Einsamkeit deutlich werden. Ödipus kann so paradigmatisch für menschliche Einsamkeit stehen, für die unüberbrückbare Fremdheit zwischen den Menschen. Mehr noch als die Reisenden ist er von anderen Menschen isoliert und entfremdet, ein Halbtoter, der sich – ähnlich wie auch Rimbaud – auf der Flucht vor sich selbst befindet. In Murrays Darstellung The Rise of the Greek Epic findet sich eine aufschlussreiche Passage, die ins Zentrum von Hofmannsthals Mitleid mit dem fremden Wanderer führt: »Realize what a stranger is, in a primitive society. He is a man with no home, no friends, no one to protect him from injury, no one to avenge him afterwards.«379 Die Reisenden füllen eben diese Leerstellen aus, wenn sie sich des fremden Menschen annehmen. Erschütterung und Identifikation bewirken, dass die Begegnung mit diesem Menschen in besonderer Weise die Empathiefä377 378

379

Ebd., S. 169f. Vgl. Schings, »Hier oder nirgends«, S. 373: »Zu beobachten ist, wie der in dieser Landschaft anwesende Ödipus sich des Geschehens bemächtigt. Der Augenblick in Phokis wird zum Augenblick des Ödipus.« Schings stellt überzeugend die Parallelen zu der Eingangsszene von Hofmannsthals Drama Ödipus und die Sphinx heraus. Vgl. ebd., S. 375: »Bis ins Detail wiederholt der junge Franz Hofer aus Lauffen an der Salzach das Verhalten des Ödipus«. Murray, The Rise of the Greek Epic, S. 86.

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higkeit des Erzählers steigert. Erschüttert von diesem Schicksal beschreibt der Erzähler ein Gefühl der Nähe, das ihn überkommt, als er aus derselben Quelle trinkt, die wohl auch der Wanderer besuchte: Hier war vor wenigen Stunden auch er gelegen, der Schiffbrüchige, das wandelnde nackte Menschenleben, und ringsum lauerte die ganze Welt wie ein einziger Feind. Mir war, da ich nun hier trank, als flösse das Wasser von seinem Herzen zu meinem.380

Fremde und Freunde verschwimmen vor dem inneren Auge des Erzählers. Er erlebt eine Ich-Erweiterung und erfährt eine Einheit mit dem zuvor als äußerst fremd dargestellten Wanderer. Diese Distanzüberbrückung, die durch die Metaphorik des Fließens hervorgehoben wird, bedeutet zugleich eine Solidarisierung mit dem Einsamen und Getriebenen, mithin also auch die Aufgabe des eigenen festen Standpunkts. Der Erzähler leugnet nicht die Einsicht in die grundsätzliche Fremdheit. Wie aber bei der Beschwörung der abwesenden Freunde hält er dem indifferenten Leben auch hier die Möglichkeit einer zumindest partiellen und wohl auch Projektionscharakter tragenden empathischen Distanzüberbrückung entgegen. Der Text problematisiert die Frage nach der eigenen, als brüchig empfundenen Identität im Zusammenspiel mit anderen Individuen. Rimbaud und der Wanderer Franz Hofer verweisen auf die grundsätzliche Gefährdung der menschlichen Existenz, die primär von psychischen Dispositionen und nicht zuletzt dem Gefühl von Einsamkeit, ja geradezu Ausgesetztheit abhängt. Zwischenmenschliche Beziehungen sind unverzichtbar, besitzen sie doch eine gewisse Schutzfunktion. In gelungenen Augenblicken kann zwischenmenschliche Empathie die an sich unüberbrückbare Distanz überwinden. So fühlt sich auf der abschließend dargestellten Bahnfahrt nach Athen der Erzähler mit den namenlosen Gebirgen eins. Er resümiert: »Einmal offenbart sich jedes Lebende, einmal jede Landschaft, und völlig: aber nur einem erschütterten Herzen.«381 Dieses erschütterte Herz ist offenbar die Grundbedingung für eine tiefgehende Weltaneignung. Es bedeutet zugleich Gefährdung und Gewinn, die Möglichkeit des Selbstverlusts wie auch der 380

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Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 171f. – Vgl. zu der Metaphorik Rasch, »Aspekte der deutschen Literatur um 1900«, S. 29: »Aber im ganzen gilt das Lebenspathos nicht dem personhaften Einzelleben, das zwischen Geburt und Tod in der Zeit verläuft, sondern durchaus dem Gesamtleben, dem Ganzen der überindividuellen, vorindividuellen, ewig flutenden Strömung, die jedes Einzelwesen gleichermaßen durchdringt. Diese Zugehörigkeit jeglicher Einzelerscheinung, auch des Ich, zum Gesamtleben ist der Kern jener Vorstellung, die das emphatisch gesprochene Wort Leben bezeichnet.« Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 173.

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Selbstübersteigung. Konfrontiert mit Wahnsinn, Einsamkeit, Besessenheit, Fremdheit, Krankheit und Gewalt vergewissert sich der Erzähler in einem nahezu therapeutischen Vorgang seiner selbst. Die Strategien, die Hofmannsthals Text hier entwickelt, zeigen deutlichen Einfluss der Subjektivitätsdiskurse der Jahrhundertwende.382 Die Form einer schier unendlichen Teilhabe führt letztlich wiederum dazu, dass sich die Frage nach dem eigenen Ich umso schärfer stellt. Die völlige Dissoziation wird als bedrohlich wahrgenommen, eine partielle Empathie allerdings, eine Form von gleichsam metaphysischer Solidarität, kann zumindest zeitweilig einen Ausweg bieten. Diese scheinbare Harmonie ist allerdings nur unter großen Gefährdungen erkämpft – wie brüchig sie tatsächlich ist, wird in den Statuen deutlich, wo es um das Verhältnis des Individuums zu einer prägenden Tradition geht. 2.2.5.

Tradition und Konstruktion. Die Statuen

2.2.5.1. »Unmögliche Antike« Erst im letzten Teil der drei Augenblicke in Griechenland beschäftigt sich Hofmannsthal explizit mit den greifbaren Überresten der Antike.383 Die Statuen spielen an einem der zentralen Erinnerungsorte der griechischen Kultur, der Akropolis von Athen, einem Ort, der anders als die Umgebung des orthodoxen Mönchsklosters und der Weg des Ödipus nicht nur naturmythisch aufgeladen ist, sondern an dem die Hinterlassenschaften der griechischen Zivilisation konkret zu greifen sind. Die Evokation der Antike an diesem zentralen Erinnerungsort gelingt aber zunächst nicht. Erst im AkropolisMuseum kommt es angesichts der archaischen Korenstatuen zu einem erhöhten Augenblick, der die mystisch getönte Erfahrung einer Alleinheit in deutlicher Nähe zu Gedankengängen des Chandos-Briefs an die Stelle einer Erfahrung eines wie auch immer gearteten Griechenlands setzt.384 Ange382

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Vgl. zu den Kontexten Manfred Diersch, Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien, Berlin (Ost) 1973. Vgl. zu den folgenden Ausführungen meine Vorüberlegungen: Christopher Meid, »›Unmögliche Antike‹. Erfahrung von Kulturgeschichte in Hugo von Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland«, in: Thiemo Breyer/Daniel Creutz (Hrsg.), Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen, Berlin/ New York 2010, S. 257–273 (Narratologia; 23). Vgl. Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn u. a. 1997; Martina Wagner-Egelhaaf, »Die mystische Tradition der Moderne. Ein unendliches Sprechen«, in: Moritz Baßler/Hildegard Châtellier

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sichts der archaischen Skulpturen wird die griechische Kultur in ihrer Bedeutung relativiert. Gemeinhin bietet das Erlebnis der Akropolis einen Anlass für identifikatorische Lobeshymnen: So publiziert etwa der französische Autor Ernest Renan ein Gebet auf der Akropolis.385 Allerdings ist diese religiöse Überhöhung nicht ohne Ausklammerung der Realität möglich. Die Reiseführer bieten Kompensationsstrategien an, wie den Besuch bei Mondschein, der den ruinösen Zustand verwischt und den Eindruck von Unzerstörtheit hervorruft.386 Tatsächlich finden sich Beschwörungen der Akropolis mit oftmals austauschbarem Wortlaut geradezu topisch in Reiseschilderungen. Isolde Kurz etwa erlebt ein »ungeheures Trümmerfeld, aber was aufrecht steht, ist noch ungeheurer und übertönt mit seiner gewaltigen Harmonie die Dissonanz der Zerstörung«.387 Gerade diese »Dissonanz der Zerstörung«, die Isolde Kurz harmonisierend beschönigt, ist der bestimmende Eindruck, den der erste Teil von Hofmannsthals Statuen transportiert: Der Erzähler erlebt eine Frustrationserfahrung, wie sie stärker kaum sein könnte. Keine der zahlreichen vom ihm erprobten Kompensationsmöglichkeiten hat Erfolg. Die Statuen sind thematisch eng mit den übrigen Augenblicken in Griechenland verknüpft. Bereits der Beginn des Textes schließt an die Begegnung mit dem Wanderer an, allerdings in deutlicher Absetzung von diesem Erlebnis, das nun als »[s]onderbar unwirklich«388 erscheint. Der Erzähler besteigt kurz vor Sonnenuntergang allein die Akropolis. Hinter ihm liegen Besichtigungstouren, die offensichtlich keine tiefere Wirkung hinterlassen konnten389 und deren Misserfolg den Erzähler grundsätzlich am Sinn seiner Griechenland-

385

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(Hrsg.), Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900. Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, Strasbourg 1998, S. 41–57. Die Jahrhundertwende sei »eine Zeit der Wiederkehr der alten Mystik« (ebd., S. 43). In seinen Jugenderinnerungen betitelt Renan ein Kapitel »Prière sur l’Acropole«. Vgl. Ernest Renan, Souvenirs d’enfance et de jeunesse, Paris o. J., S. 57–72. Für Renan manifestiert sich in Athen zeitlose Schönheit in ungeahnter Perfektion: »L’impression que me fit Athènes est de beaucoup la plus forte que j’aie jamais ressentie. Il y a un lieu où la perfection existe; il n’y en a pas deux: c’est celui-là. […] C’était l’idéal cristallisé en marbre pentélique qui se montrait à moi.« (Ebd., S. 59). Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 128. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 25. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 174. Vgl. ebd., S. 176: »Dieser Vormittag kam zurück, das endlose Umhergehen, von einem Ding zum anderen. Die Ermüdung des Wegs, Schritt um Schritt, zu Steinen hin und Trümmern von Steinen; da waren die Ausgrabungen auf der Agora, da war die Pnyx, da war der Rednerhügel, da die Tribüne; da die Spuren ihrer Häuser, ihre Weinpressen, da waren ihre Grabmäler an der eleusinischen Straße. Dies war Athen.«

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Reise zweifeln lässt. Der Gang auf die Akropolis wird so zum letzten Versuch, sich der griechischen Kultur anzunähern, sie zu beleben und sinnlich zu erfahren. Das sei nur an diesem Ort möglich: »Hier! oder nirgends. Hier ist die Luft und hier ist der Ort.«390 Lediglich in den Statuen entwirft der Erzähler ein Programm, das er einlösen möchte, thematisiert also die Spannung zwischen Vorurteil und tatsächlichem Erlebnis. Offenbar ist die Akropolis ein in so hohem Maße kulturell besetzter Ort, dass dem Erzähler keine unbefangene Begegnung mit den Ruinen möglich ist.391 Sein selbstauferlegtes Ziel entspricht dem des Sprechers in Goethes Römischen Elegien. Ebenso wie dieser möchte er die Vergangenheit als Gegenwart erleben, möchte zu einem tieferen, nicht mehr nur rational geprägten Verständnis der antiken Kultur vordringen.392 Während es aber dem Sprecher in Goethes Zyklus gelingt, über seine sinnliche Erfahrung die antiken Ruinen zu beleben und nicht zuletzt durch die Liebeserfahrung den genius loci zu evozieren, geschieht in Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland nichts Vergleichbares. Im Gegenteil, für Hofmannsthals Erzähler scheinen sogar die steinernen Überreste einem organischen Verwesungsprozess zu unterliegen: Das Hervorströmen der Schatten hatte etwas Feierliches, es schien das Letzte vom Leben, das noch in ihnen war, in einem abendlichen Trankopfer sich hinzugießen auf diesen Hügel, auf dem selbst die Steine vom Alter verwesten.393

Der Übergang vom Tag zur Nacht ist somit zugleich der Augenblick eines endgültigen Todes, der den antiken Ruinen bereits inhärent ist. Dies wird auch an der Beschreibung einer Säule deutlich, deren Existenz gerade im permanenten Vergehen besteht: Aber auch um sie spielte in dem Abendlicht, das klarer war als aufgelöstes Gold, der verzehrende Hauch der Vergänglichkeit, und ihr Dastehen war nichts mehr als ein unaufhaltsam lautloser Dahinsturz.394

Für den Erzähler befinden sich also die Ruinen in Bewegung. Ironischerweise aber bedeutet diese Dynamisierung einen Verfallsprozess bis hin zum Tod. Von einer Belebung der antiken Stätte kann also keine Rede sein, sondern vielmehr von dem genauen Gegenteil. Die Distanz zu Hauptmanns 390

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Ebd., S. 178. – Schings, »Hier oder nirgends«, S. 366, verweist auf die Bezüge zu Goethes Wilhelm Meister. Vgl. Freud, »Brief an Romain Rolland«. Dort konstatiert Freud, dass gerade das Vorwissen zu einem Gefühl der Unwirklichkeit führen kann. Vgl. Reiner Wild, »Römische Elegien«, in: Regine Otto/Bernd Witte (Hrsg.), Goethe-Handbuch, Bd. 1: Gedichte, Stuttgart/Weimar 1996, S. 225–232. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 175. Ebd.

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Griechischem Frühling könnte kaum größer sein. Hauptmann erklärt dort in ungebrochenem Selbstbewusstsein: »Immerhin sind mir auch hier die Steine nicht stumm gewesen.«395 Hofmannsthals Erzähler, der mit der Absicht die Akropolis bestieg, sich seiner Vorbildung zu vergewissern, durchlebt eine Enttäuschungserfahrung, die drastischer kaum sein könnte. Auf der Akropolis scheint sich das Frustrationserlebnis des übrigen Athener Besichtigungsprogramms auf höherem Niveau zu wiederholen: »Dies war Athen. Athen? So war dies Griechenland, dies die Antike. Ein Gefühl der Enttäuschung fiel mich an.«396 Diese Enttäuschung angesichts der spärlichen Überreste der Antike ist ein topisches Element moderner Reiseschilderungen;397 ebenso topisch aber ist die Überwindung dieser Enttäuschung: Mithilfe des Baedekers etwa gelingt es in der Regel bald, Ordnung in die verwirrenden Trümmer zu bringen. Anders als für die überwiegende Zahl von Griechenland-Reisenden der Jahrhundertwende haben für Hofmannsthal die Ruinen keine Referenzfunktion. Es ist ihm nicht möglich, die Nähe der Griechen zu erfahren: Diese Griechen, fragte ich in mir, wo sind sie? Ich versuchte mich zu erinnern, aber ich erinnerte mich nur an Erinnerungen, wie wenn Spiegel einander widerspiegeln, endlos. Namen schwebten herbei, Gestalten; sie gingen ineinander über ohne Schönheit; als löste ich sie auf in einem grünlichen Rauch, darin sie sich verzerrten.398

Bezeichnenderweise verortet der Erzähler die Ursache für dieses Scheitern in sich selbst. Er ist es, der die vorüberschwebenden Gestalten nicht fassen kann, ja sie im Akt der Erinnerung endgültig vernichtet. Der Text wird so auch zu einer Selbstanklage des modernen Subjekts, das nicht mehr in der Lage ist, sich seiner Wurzeln zu vergewissern, und deshalb eine Identitätskrise erfährt. Was war das, was ich an ihnen trieb? Ich prüfte mich selber. Es war nichts anderes als der Fluch der Vergänglichkeit, mit dem ich sie behauchte; das kleine Wort »Gewesen« war stärker als diese ganze Welt. Ich warf die Zeit auf sie und ich sah, wie ihre Gesichter grünlich wurden, vergingen.399

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Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 107 (in Bezug auf Delphi). Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 176. Vgl. Isolde Kurz’ Olympiaschilderung. Dies., Wandertage in Hellas, S. 183: »Durch eine der Toröffnungen in der Mauer […] betritt man den heiligen Bezirk. Der erste Anblick ist niederschmetternd wie bei den meisten dieser Trümmerstätten: eine Steinwüste, aus der riesige Marmorbrocken in die Luft wachsen, zerschlagene Gebeine einer Wunderwelt, über die man am liebsten wieder die grüne schützende Decke gebreitet sähe.« Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 176f. Ebd., S. 177.

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Die Verwesung betrifft nicht nur die physisch greifbaren Überreste der griechischen Kultur, sondern auch die Griechen selbst, denen der Erzähler gleichsam beim Absterben zusieht. Einerseits ist der Erzähler selbst für diese Vergänglichkeit verantwortlich. Er ist es, der »die Zeit auf sie« wirft und somit selbst den Verwesungsprozess in Gang setzt. Andererseits hält er den Griechen eben diese Vergänglichkeit vor: »Daß sie längst dahin waren, darum haßte ich sie, und daß sie so rasch dahingegangen waren.«400 Der Selbstvorwurf, nicht in der Lage zu sein, die Antike zu beleben, wird umgewendet: Die Stoßrichtung geht nunmehr gegen die Griechen, deren Kultur als Beispiel für selbstverschuldete Vergänglichkeit erscheint. Folgerichtig erscheint dem Erzähler die griechische Geschichte als Verfallsprozess. »Ihre paar Jahrhunderte, die elende Spanne Zeit, jenseits des ungeheuren Abgrundes«401 erscheinen als kurzer Augenblick der Weltgeschichte, der unwiederbringlich verloren ist: »Schon war ja alles nicht, indem es zu sein glaubte!«402 Wegen ihrer Verfallsaffinität wirkt die griechische Kultur fremd, ja geradezu grotesk. Noch grotesker erscheint allerdings, dass eben diese Kultur als maßgeblich für die eigene erachtet wird. Die griechische Geschichte ist für den Erzähler in deutlicher Anlehnung an Jacob Burckhardts kulturhistorischen Entwurf ein »Wust von Fabel, Unwahrheit, Gewäsch, Verräterei, Furcht, Neid, Worten; das ewige Prahlen darin, die ewige Angst darin, das rasche Vergehen«403 wirken nur mehr befremdlich. Hofmannsthal dekonstruiert hier nahezu sämtliche philhellenischen Idealvorstellungen: Aus antiklassizistischer Perspektive erscheinen die Griechen als verlogen und unheroisch. Anders als Hauptmann, der zwar den Klassizismus abwertete, aber seinen Entwurf eines wilden Griechenlands dagegen setzte, kompensiert Hofmannsthal seine Desillusionierung nicht: Kein Aspekt der griechischen Kultur ist für ihn positiv besetzt. So erscheint die griechische Poesie als »ewige Fata Morgana«;404 die olympischen Götter werden zu »unsicheren, vorüberhastenden Phantome[n]«,405 die Göttergeschichten sind »milesische Märchen, eine Dekoration an die Wand gemalt im Hause einer Buhlerin«.406 Gerade der Lügenvorwurf gewinnt besondere Bedeutung, vergegenwärtigt man sich ein um 1900 trotz aller Anfechtungen noch äußerst virulentes Griechenideal, das postuliert, die Begegnung mit der 400 401 402 403 404 405 406

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 178.

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griechischen Kultur führe zur Erkenntnis des Wahren und Schönen.407 Zu Geschichte und Geschichtsschreibung, zu Religion und Dichtkunst tritt die Philosophie: Kein Geringerer als Plato erscheint – allerdings als Phantom, das für seine Umgebung nur Verachtung übrig hat.408 Der Erzähler ist lediglich in der Lage, stumme Gespenster herbeizurufen. Das Bewusstsein des eigenen Unvermögens führt zu heftigen Selbstanklagen wegen dieses vermeintlichen Versagens: Es ist deine eigene Schwäche, rief ich mich an, du bist nicht fähig, dies zu beleben. […] Du selber zitterst vor Vergänglichkeit, alles um dich tauchst du ins fürchterliche Bad der Zeit.409

Hierbei handelt es sich um ein spezifisch modernes Problem: Das Bewusstsein von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit verbunden mit dem Versuch, trotz aller Historisierung an der Bedeutung der griechischen Kultur festzuhalten, hat genau den gegenteiligen Effekt und verstärkt das Gefühl der Vergänglichkeit. Die Anwesenheit des Erzählers lässt die griechische Kultur noch einmal vergehen: »Meine Gegenwart lastete auf diesem Ort. Durch mich starb das Gestorbene nochmals dahin.«410 Angesichts der Vergänglichkeit, der der Erzähler unterworfen ist, scheint keine Ewigkeit denkbar. Für diesen Eindruck ist paradoxerweise gerade die Grundannahme klassischer Bildung verantwortlich, es bestehe keine Distanz zwischen den vorbildhaften Griechen und der Moderne, die aus ihren Wurzeln hervorgegangen sei. Auch das letzte Mittel des Bildungsreisenden, die Klassikerlektüre, bleibt ohne Wirkung.411 Der Philoktet des Sophokles ist denkbar ungeeignet, die Distanzerfahrung schwinden zu lassen. Es entsteht der Eindruck, als habe der Erzähler eben das Drama ausgewählt, das am geeignetsten ist, die Vorstellung vom edlen Charakter der Griechen zu unterminieren. Der listenreiche und 407

408 409 410 411

Vgl. Leo Weber, Im Banne Homers, S. 264: »Was er [der Reisende] in dankbarer Erinnerung an die Zeit empfindet, die er auf jenem durch Dichtung und Geschichte geweihten, ihm schon von Jugend auf im Geiste vertrauten Boden so einzig froh durchlebt, und die noch einmal zur schöneren Wirklichkeit reifen zu lassen seiner Wünsche höchstes Ziel ist, das hilft ihm über manche Bitternis und Enttäuschung des Lebens hinweg: das verleiht seiner Seele die Schwungkraft, mit der er vom niederdrückenden Bleigewichte gemeiner Alltäglichkeit befreit sich selbst erhebt.« Vgl. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 178f. Ebd., S. 179. Ebd. Völlig unverständlich bleibt die Behauptung von Daria Santini, »›Wir wollen in uns spazierengehen‹«, S. 143: »Hofmannsthal avoids realism as well as any reference to classical literature and mythology.«

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völlig skrupellose Machtmensch Odysseus erscheint in Sophokles’ Tragödie als Inbegriff der Inhumanität.412 An dieser Stelle führt Hofmannsthal die forcierte Pflege des klassischen Bildungsguts vor. Dieser Gestus steht in deutlichem Kontrast zu den selbstverständlichen Verweisen auf Bestände der Antike in den beiden ersten Reisetexten Hofmannsthals. Gerade das zwanghafte Streben nach Initiation ist zum Scheitern verurteilt. Das bildungsbürgerliche Ritual erweist sich ironischerweise als ungeeignet, um bei der mittlerweile verzweifelten Suche nach einem emotionalen Zugang zur griechischen Welt zu helfen. So will es dem Erzähler offenkundig nicht gelingen, sich selbst zu entfliehen, das heißt, seinen spezifisch modernen, durchaus kritischen Standpunkt aufzugeben.413 Eine identifikatorische Erfahrung ist unmöglich geworden: »Dies alles war fremd über die Maßen und unbetretbar.«414 Mit der einseitigen Fokussierung auf Verfall, Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit wendet sich Hofmannsthal gegen Hauptmanns Griechischen Frühling, aber eben auch gegen Schreibweisen, die er in eigenen Texten erprobte. Ein Vergleich mit den frühen Südfranzösischen Eindrücken (1892) verdeutlicht, in wie hohem Maße sich Hofmannsthal in den Augenblicken in Griechenland von früheren Positionen gelöst hat. In den Südfranzösischen Eindrücken bestand kein Zweifel daran, dass die Erfahrung der Gegenwart zugleich die Erfahrung von Kultur und Geschichte eines Landstrichs sicherstellen konnte. Bezeichnenderweise fühlt sich so der junge Hofmannsthal gerade in der Provence besonders mit der antiken griechischen Kultur verbunden. Wie für Hauptmann ist auch für Hofmannsthal in den Bewohnern die Vergangenheit greifbar: Frauen von Arles haben noch immer die feierliche römische Schönheit, die Kameenprofile und den königlichen Gang und die königlichen Gebärden; und andere haben die griechische Grazie im Stehen und Lehnen, wie die Tanagrafiguren, und griechische Koketterie in der leichtbeflügelten Rede; und andere haben den mattgoldenen maurischen Glanz und das weiche, biegsame Gleiten, »wie Palmen im Wind«.415 412

413

414 415

Vgl. zu Sophokles’ Philoktet Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen. Dritte, völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen 1972, S. 238–284. Vgl. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 180: »Aber es schob sich zwischen mich und alles dieses jener grünliche Schleier, es ergriff mich jener verzehrende Verdacht, jene Auflehnung meines ganzen Innern. Diese Götter, ihre Sprüche, diese Menschen, ihr Handeln, alles schien mir fremd über die Maßen, trüglich, vergeblich.« Ebd., S. 181. Hugo von Hofmannsthal, »Südfranzösische Eindrücke«, in: Ders., Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt am Main 1979, S. 589–594, hier S. 592.

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Eine Aufführung des König Ödipus im römischen ( ! ) Theater von Orange entspricht für ihn »ganz […] der Natur«.416 Auch in der provenzalischen Landschaft sind die griechischen Mythen präsent.417 In den Reisetexten des jungen Hofmannsthal besteht kein Zweifel daran, dass die sinnlich erfahrbare Gegenwart auf eine hinter ihr liegende Vergangenheit transparent gemacht werden kann. Gerade dieser Optimismus ist in den Augenblicken in Griechenland tiefer Resignation gewichen. Während Hauptmann im Griechischen Frühling darstellt, wie der Reisende über die Erfahrung von Natur und Menschen mit der ersehnten Antike in Kontakt zu treten vermag, macht der Erzähler in Hofmannsthals Statuen auch diese Hoffnung zunichte, ja er trifft eine bewusste Entscheidung gegen die Verlockungen der Natur, denen er sich (anders als Hauptmann im Griechischen Frühling) nicht hingeben will: Ich fühlte die Bezauberung dieses Duftes, in dem die ganze Landschaft sich zusammenfaßte; dieser Landschaft, um die die Spur von Jahrtausenden hauchte, dieser Luft, worin das Gold der Ewigkeit aufgelöst schien. Aber ich wollte mich diesen nicht hingeben.418

Es scheint, als sei der Erzähler in seinem Vorhaben auf ganzer Linie gescheitert: Einerseits ist die Naturerfahrung trügerischer Schein. Zwar führt sie zu bequemen Kontinuitätsvorstellungen, diese stellen sich aber letztlich als falsch heraus, weil ihre Erfahrung nichts mit der griechischen Kultur zu tun hat. Andererseits zieht die rationale Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur die Gewissheit unüberbrückbarer Distanz nach sich: Unmögliche Antike, sagte ich mir, unmögliches Beginnen, vergebliches Suchen. – Die Härte dieses Wortes schien mich zu ergötzen. – Nichts ist von all diesem vorhanden. Hier, wo ich es mit Händen zu greifen dachte, hier ist es dahin, hier erst recht. Eine dämonische Ironie webt um diese Trümmer, die noch im Verwesen ihr Geheimnis festhalten. Sie gleichen allzu sehr diesen Düften. Beide reizen zu vergeblichen Träumen und, was zurückbleibt, ist der Geschmack der Lüge auf der Zunge.419

416 417

418 419

Ebd., S. 594. Vgl. ebd.: »So hat es rings um den Engpaß ausgesehen, wo Ödipus dem Vater begegnete. So um den Hügel, wo Antigone den Leichnam des Bruders besuchte. Hier hat der heutige Tag kein Eigenleben. Die Vergangenheit ist noch immer. Und es war ganz im Stile der Natur, als vor ein paar Jahren die Comédie Française nach Orange kam, um in provenzalischer Natur und auf dem steinernen Gerüst einer antiken Bühne den ›König Ödipus‹ zu spielen …« Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 181. Ebd., S. 181f.

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Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland lassen sich somit auch als bitterironische Abrechnung mit einem weithin unreflektierten Griechenkult lesen. Sie wenden sich gegen Vorstellungen, dass man nur mit der notwendigen Bildung und Rezeptionsbereitschaft das Sehnsuchtsland bereisen müsse, um sich dort in kürzester Zeit heimisch zu fühlen. 2.2.5.2. Archaische Plastik und erhöhter Augenblick Vor dem Hintergrund dieser äußerst negativen Befunde wirkt die Schlussapotheose von Hofmannsthals Text umso erklärungsbedürftiger. Sie erfolgt zu einem Zeitpunkt, als der Reisende bereits jegliche Hoffnung aufgegeben hat, die ursprünglich angestrebte Nähe zum antiken Griechenland zu erreichen. Als Kompensation für die deprimierenden Erfahrungen soll der Anblick antiker Kleinkunst dienen. Wenigstens im kleinen Maßstab möchte der Erzähler die Ganzheit erfahren, die ihm auf der Akropolis verwehrt war. Die Schmuckstücke, die er betrachten möchte, »haben der Gewalt der Zeit widerstanden, für den Augenblick wenigstens, sie sprechen nur sich aus und sind von vollkommener Schönheit«.420 Eben wegen ihrer Referenzlosigkeit ist der Anblick dieser Schmuckstücke erholsam. Ihre Betrachtung kann den rastlosen Wanderer von seinem »Streben nach Unendlichkeit«421 abbringen. Diese Bewegung ist zugleich als Akt der Resignation zu verstehen, bedeutet sie doch den völligen Verzicht auf die ursprünglichen Ziele. Die mangelnde Fähigkeit, mit der Antike in Verbindung zu treten, ist so Symptom eines spezifisch modernen Defizits, einer Sinn- und Individualitätskrise, die kaum zu überwinden ist. Der Besuch des Akropolis-Museums besitzt für den Reisenden therapeutische Funktion. Doch auch dieser steht zunächst unter keinem guten Stern: Nur mühsam kann der Erzähler dem aufdringlichen Museumswärter entfliehen. Diese Figur verkörpert eine museale Praxis des selbstzweckhaften Sammelns und Archivierens unter durchaus obsessiven Vorzeichen.422 Sie erschöpft sich in Aufbewahrung und Katalogisierung: Gerade im Museum, dem ganzen Stolz des Historismus, ist die griechische Kultur tot und unzugänglich.

420 421 422

Ebd., S. 182. Ebd. Vgl. Jacques Le Rider, Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Aus dem Französischen von Leopold Federmair, Wien u. a. 1997 (Nachbarschaften. Humanwissenschaftliche Studien; 6).

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Das entscheidende Erlebnis kommt für den Erzähler, der lediglich vor dem Wärter fliehen möchte, völlig überraschend. Plötzlich findet er sich in einem dämmerigen Saal allein vor Frauenskulpturen:423 »Standbilder waren da, weibliche, in langen Gewändern. Sie standen um mich im Halbkreis, unwillkürlich zog ich den Vorhang vor die Tür und war allein mit ihnen.«424 Diese Skulpturen sind »bis zum Rande gefüllt mit Leben«.425 Hofmannsthal schließt also an die Lebensthematik des vorangehenden Prosastücks an. Doch während in Der Wanderer nur Menschen an dem Lebenszusammenhang teilhaben, wird dieser in den Statuen auf die antiken Skulpturen ausgedehnt. Diese Verlebendigung antiker Kunst steht in deutlichem Gegensatz zu den Verfallsvorstellungen, die der Erzähler auf der Akropolis entwickelte. Der Anblick dieser Statuen affiziert den Erzähler in hohem Maße. Er empfindet ein »namenloses Erschrecken«,426 das »nicht von außen, sondern irgendwoher aus unmeßbaren Fernen eines inneren Abgrundes«427 kommt. Es hat also seinen Ursprung letztlich im Erzähler selbst. Er wird sich bewusst, dass er etwas Bekanntes erlebt, ohne dies näher spezifizieren zu können: [D]ie Augen der Statuen waren plötzlich auf mich gerichtet und in ihren Gesichtern vollzog sich ein völlig unsägliches Lächeln. Der eigentliche Inhalt dieses Augenblickes aber war in mir dies: ich verstand dieses Lächeln, weil ich wußte: ich sehe dies nicht zum erstenmal, auf irgendwelche Weise, in irgendwelcher Welt bin ich vor diesen gestanden, habe ich mit diesen irgendwelche Gemeinschaft gepflogen, und seitdem habe alles in mir auf einen solchen Schrecken gewartet, und so furchtbar mußte ich mich in mir berühren, um wieder zu werden, der ich war.428

Der Reisende begegnet also in einem Akt der Anamnesis Instanzen, denen er sich verbunden fühlt. Die Ursache für dieses Gefühl liegt in der Vergangenheit. Es rührt so an das innerste Wesen des Individuums, das unbewusst auf eine Wiederkehr dieser Gemeinschaft gewartet hat. Der »Schrecken« ist deshalb so tief, da er auf eine Begegnung mit Aspekten der eigenen Indivi423

424 425 426 427 428

Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 170: »Im VI. Zimmer sind eine Reihe archaischer Frauenstatuen, Weihebilder, die als Darstellungen vornehmer Mädchen im Dienste der Athene angesehen werden […]; trotz des Archaismus treten vielfach individuelle Züge deutlich hervor. Sie wurden zum größten Teil 1885 im Perserschutt der Nordmauer gefunden, stammen also aus der Zeit vor 480.« Vgl. Griechenland. Handbuch für Reisende, 4. Auflage, S. 59: Die Koren bilden »den Hauptstolz des Museums«. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 186. Ebd., S. 186f. Ebd., S. 187. Ebd. Ebd., S. 187f.

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dualität zurückzuführen ist. Zugleich führt er zu einer Rückkehr zu einem früheren Zustand. Diese zirkuläre Bewegung, die vom Anblick der Statuen ausgelöst wird, verdeutlicht, dass es nun um die Psyche des Reisenden geht. Der Versuch, sich der griechischen Kultur anzunähern, ist unwillkürlich zu einer Erkundung der eigenen Psyche geworden. Diese voyage intérieur lässt sich nicht adäquat in Sprache fassen.429 So muss der Erzähler seine Aussagen über die zeitlichen Aspekte relativieren: Lediglich über Negationen und Kontrastbildungen kann die außergewöhnliche und überwältigende Erfahrung annäherungsweise beschrieben werden. Auch die Metaphern, die dem Bildfeld des Fließens und der Bewegung entstammen, umkreisen den Vorgang eher, als dass sie ihn definieren. Insbesondere die Erfahrung des Raumes ist mit der Überwältigung durch die Statuen verbunden. Sie transzendiert die Beschränkungen des Museumssaals. In einem einzigen Satz gestaltet Hofmannsthal diese Entgrenzungserfahrung und ihren Umschlag hin zu einem Gefühl von Fremdheit,430 das scheinbar die Enttäuschungserfahrungen des ersten Teils wieder aufnimmt: Irgendwo geschah eine Feierlichkeit, eine Schlacht, eine glorreiche Opferung: das bedeutete dieser Tumult in der Luft, das Weiter- und Engerwerden des Raumes – das in mir dieser unsagbare Aufschwung, diese überschwellende Geselligkeit, wechselnd mit diesem schlaffen todbehauchten Verzagen: denn ich bin der Priester, der diese Zeremonie vollziehen wird – ich auch das Opfer, das dargebracht wird: das alles drängt zur Entscheidung, es endet mit dem Überschreiten einer Schwelle, mit einem Gelandetsein, einem Hier – mit diesem Dastehen hier, ich inmitten dieser: noch ist das Ganze Gegenwart, in ihren rieselnden Gewändern, in ihrem wissenden Lächeln: da verlischt schon dies in ihre versteinernden Gesichter hinein, es verlischt und ist fort; nichts bleibt zurück als eine todbehauchte Verzagtheit.431

Auf- und Abschwung folgen unmittelbar aufeinander: Indem der Erzähler eine kultische Opferhandlung vergegenwärtigt, bei der er zugleich Priester und Opfer in einer Person ist, imaginiert er sowohl absolute Kontrolle als auch vollständige Selbstaufgabe. Daran wird deutlich, dass sein Ich keineswegs eine feste Größe darstellt. Gerade in der Ausweitung der Subjektivi429

430

431

Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Die mystische Tradition der Moderne«, S. 47: »In den Formen ihrer sprachlichen Repräsentation, die ein einziges Dokument ihrer Nichtrepräsentierbarkeit sind, drückt sich die ganze Virulenz, die ganze Unerhörtheit der mystischen Erfahrung aus.« Vgl. Helmut Koopmann, »Entgrenzung. Zu einem literarischen Phänomen um 1900«, in: Roger Bauer u. a. (Hrsg.), Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts; 35), Frankfurt am Main 1977, S. 73–92. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 188f.

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tät liegt eine Möglichkeit der Totalitätserfahrung. Dieser erste Anlauf führt nicht zum Erfolg. Sofort überwiegt das Gefühl von Fremdheit: »Stehe ich nicht vor dem Fremdesten vom Fremden? Blickt hier nicht aus fünf jungfräulichen Mienen das ewige Grausen des Chaos?«432 Allerdings ist diese Fremdheit – anders als die Unzugänglichkeit der griechischen Kultur – vergleichsweise leicht zu überwinden, da von den Skulpturen eine große sinnliche Kraft ausgeht, die unabhängig von einem rationalen Verständnis den Betrachter affiziert und entrückt. Der Erzähler überhöht die Statuen. Wohl in Anlehnung an Murrays The Rise of the Greek Epic streicht er ihre priesterliche und mütterliche Funktion heraus.433 Die Existenz der Koren ist zu »wirklich«,434 ihre »atemberaubende sinnliche Gegenwart«435 stellt sicher, dass sie nicht mit der Sphäre des Verfalls in Verbindung gebracht werden, anders als die dahinschwindenden Ruinen. Deren Verfall steht nun das »Grausen des Chaos«436 gegenüber. Diese Vorstellungen von Chaos, von Auflösung der Individualität, stehen in der Nachfolge von Nietzsches Tragödienschrift, wo diese der Sphäre des Dionysischen zugeordnet werden. Allerdings erlebt Hofmannsthals Erzähler diese Auflösung nicht im Kollektiv, sondern im Gegenteil völlig allein gegenüber Skulpturen, wobei zu bedenken ist, dass gerade die Plastik die apollinische Kunst schlechthin ist. Auch die Opfervorstellungen gehören in Zusammenhänge der Literatur der Jahrhundertwende.437 Die kontemplative mystische Versenkung des Erzählers in die Schönheit der Statuen führt zu einem zweiten Aufschwung: Die Materie der Statuen er432 433

434 435 436 437

Ebd., S. 190. Vgl. Murray, The Rise of the Greek Epic, S. 75: »There was another form of worship which might have been expected to persist, or at least quickly to recover itself. Throughout the region that we are concerned with, from Western Greece to the heart of Asia Minor, it seems as if every little community in pre-Hellenic times had worshipped a certain almost uniform type of goddess. An Earth-Mother or Mountain-Mother in the eastern and the pre-Hellenic communities, Mother of fruits and trees and of wild beasts, she is apt to be a Maiden and a Bride as well, and in Greek lands is perhaps best imagined as Korê (Maiden). She is really the Earth as Woman, passing at different times through all the different normal phases of woman’s life.« Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 190. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu die Studie von Hans Richard Brittnacher, Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle (Literatur – Kultur – Geschlecht, Große Reihe 18), Köln u. a. 2001, bes. S. 9–32. So entwirft der junge Hofmannsthal in dem Dialog Über Gedichte eine Theorie des poetischen Symbols, die auf der Idee des Opfers basiert.

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scheint nicht mehr fest, sondern »es ist etwas Liquides an ihr, etwas Sehnsüchtiges, sie kommt irgendwoher und sie verrät, daß sie irgendwohin will«.438 Die Statuen sind »auf einer Reise«,439 auf die sie den Erzähler offenbar mitnehmen, der in sich die »Ahnung einer Abreise«440 verspürt. Der Gedanke, mit den Statuen zu verschmelzen, erhebt den Erzähler »wie ein großes Wasser, das, ins Haus hineindringend, einen unter den Achselhöhlen ergreift«.441 Kontrollverlust und Fremdbestimmtheit bewirken, dass sich die Grenzen der Individuation scheinbar auflösen. Diese Passagen erinnern deutlich an den sogenannten Chandos-Brief. Auch dort geht es um die Auflösung und Ausweitung der Individualität, um »freudige und belebende Augenblicke«,442 in denen ein krisenhafter Zustand temporär überwunden wird. Diese Parallelen, die gerade auch an der Metaphorik des Fließens deutlich werden, erlauben es, einige Aspekte der mystischen Erfahrung in den Statuen näher zu bestimmen: Von Bedeutung ist vor allem, dass in beiden Texten Vorgänge dargestellt werden, die nicht mehr in den Bereich der Sprache gehören, sondern körperlicher Natur sind. Auch der Gestus der Selbstbeobachtung verweist auf den Chandos-Brief. Der Erzähler tritt aus sich selbst hinaus. Die Vereinigung mit den Statuen gleicht einem »Schlaf im Wachen, eine[m] Schlaf von wenig Atemzügen, der größere Kraft der Verwandlung in sich hat und dem Tode verwandter ist als der lange tiefe Schlaf der Nächte«.443 Eine Reihe von Gedankenstrichen signalisiert, dass die Schilderung von quasi-mystischen Erfahrungen zu Ende ist. Sie verdeutlicht zudem, dass das Dazwischenliegende nicht adäquat in Sprache umgesetzt werden kann. An die Stelle der Darstellung tritt nun die Reflexion über das Erlebte. Der Erzähler erklärt, er befinde sich in diesem Raum »in der Gewalt der Gegenwart, stärker und in anderer Weise, als es sonst gegeben ist«.444 Gerade diese intensive Gegenwartserfahrung aber verweist auf die Unendlichkeit. Die Statuen sind mit Erinnerungen verbunden. Diese ziehen die Überwindung kulturel438 439 440 441 442

443 444

Hofmannsthal, Augenblicke in Griechenland, S. 191. Ebd. Ebd. Ebd, S. 192. Vgl. Hugo von Hofmannsthal, »Ein Brief«, in: Ders., Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, Frankfurt am Main 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. VII), S. 461–472, hier S. 467. – Vgl. zum Verhältnis des Chandos-Briefs zu ähnlichen Szenarien in Hofmannsthals Werk die Studie von Spörl, Gottlose Mystik in der Literatur um die Jahrhundertwende, S. 379. Vgl. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 192. Ebd., S. 193.

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ler und zivilisatorischer Bindungen nach sich und bewirken, dass sich der Erzähler auf seine pure Existenz zurückgeworfen fühlt. Dieses Selbstvergessen, die Rückkehr in unbekannte Regionen der Psyche, gipfelt in einem Gefühl von Stärke, aber auch von Isolation, die paradoxerweise wiederum die Kommunikation mit den ebenfalls unzerstörbaren Koren sicherstellt, denen der Erzähler nun von gleich zu gleich begegnen kann.445 Es dauert allerdings nur kurze Zeit, ehe das Gefühl einer Ebenbürtigkeit aufgegeben wird: Nun fühlt der Erzähler, »daß die mehr als menschliche Größe dieser Wesen sich an mir auflöst, zu nichts wird«.446 Die Verhältnisse kehren sich um: »Ich brauche sie nur, wie sie mich brauchen. Sie stünden nicht vor mir, wenn ich ihnen nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit hülfe, sich aufbauen.«447 Diese Feststellung markiert einen entscheidenden Umschlagspunkt. Während zuvor der Erzähler weitgehend rezeptiv ein für ihn ungewohntes Gefühl erlebte und die Teilhabe daran durchaus einen gnadenhaften Aspekt besaß,448 sind es nun die Statuen, die von dem Erzähler abhängig sind. Dieses Bewusstsein kulminiert in der Frage, mit der die Augenblicke in Griechenland enden: »Wenn das Unerreichliche sich speist aus meinem Innern und das Ewige aus mir seine Ewigkeit sich aufbaut, was ist dann noch zwischen der Gottheit und mir?«449 Die Skepsis, die den Text zu Beginn bestimmt hatte, ist also dem Gefühl der Selbstvergöttlichung gewichen. Im Angesicht der archaischen Korenstatuen kommt es zu einer Ich-Ausweitung, zur zeitweisen Aufgabe der Individualität, zu einer Verschmelzung mit den Statuen, zu einer Erfahrung also, die Zeitlichkeit und Räumlichkeit zugunsten einer Erfahrung von Ewigkeit transzendiert. Schließlich, so die abschließende Pointe, benötigt der Erzähler nicht einmal mehr die Statuen, um das Göttliche zu erfahren. Er selbst produziert das Göttliche, das nunmehr als Projektion erkennbar wird. Die archaischen Skulpturen dienen lediglich als Medium einer gesteigerten Erfahrung der Subjektivität im übergreifenden Lebenszusammenhang. Diese Apotheose der Subjektivität und des Lebens wird in der Forschung denkbar unterschiedlich bewertet. Einigkeit besteht darin, dass der Erzähler einen erhöhten Augenblick erlebt, ein »Erlebnis der Allverwandtschaft, synchron mit allem, was ist, diachron mit den Vorfahren und den Nachgebore-

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Vgl. ebd., S. 194. Ebd. Ebd., S. 195. Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Die mystische Tradition der Moderne«, S. 46: Die unio mystica erfolgt bei Meister Eckart als »Gnadengeschenk«. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 195.

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nen«,450 der vom Anblick der Koren ausgelöst wird. Was die Selbstvergöttlichung des Erzählers zu bedeuten habe, wird hingegen kontrovers beurteilt. So erfährt der Erzähler laut Bärbel Götz das »Erlebnis des kreativen Prozesses«,451 nach Waltraud Wiethölter eine Bemutterung durch die Kunst,452 für Jacques Le Rider wiederum die »Offenbarung einer Ästhetik der Moderne«.453 Diese beliebig wirkenden Auslegungen deuten darauf hin, dass Hofmannsthals Text in der Darstellung des mystischen Aufschwungs eine Leerstelle markiert, die eine Vielzahl von Ergänzungen zulässt, von denen keine für sich zu überzeugen vermag. Oftmals werden die Statuen nach dem Schema von Erwartung und Erfüllung gedeutet,454 wobei dagegen zu betonen ist, dass der erhöhte Augenblick nur wenig mit dem zuvor postulierten Versuch zu tun hat, die griechische Kultur zu erfahren. Hans-Jürgen Schings ist auf jeden Fall zuzustimmen, wenn er die mystischen Wurzeln dieses erhöhten Augenblicks betont.455 Allerdings lassen sich die Statuen nicht auf diese Mystik-Rezeption verengen: Diese Deutung liefe Gefahr, die Rolle gerade der Statuen zu marginalisieren, die diese rauschhafte Erfahrung auslö450

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Karl Pestalozzi, »Der Mythos des erhöhten Augenblicks bei Hugo von Hofmannsthal«, in: Karol Sauerland (Hrsg.), Melancholie und Enthusiasmus. Studien zur Literatur- und Geistesgeschichte der Jahrhundertwende (Akten internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetik und der Literaturwissenschaft, 5), Frankfurt am Main u. a. 1988, S. 13–31, hier S. 17. Bärbel Götz, Erinnerung schöner Tage. Die Reise-Essays Hugo von Hofmannsthals, Würzburg 1992, S. 101. Vgl. Waltraud Wiethölter, Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk, Tübingen 1990 (Studien zur deutschen Literatur; 106), S. 250. – Vgl. auch Carlpeter Braegger, Das Visuelle und das Plastische. Hugo von Hofmannsthal und die bildende Kunst, Bern/München 1979, S. 121: Braegger setzt den Aufschwung in den Statuen mit einem gesteigerten Gefühl des ästhetischen Genusses gleich. Le Rider, Hugo von Hofmannsthal, S. 198: »So ist die Offenbarung, die dem Besucher des Akropolismuseums angesichts der Koren zuteil wird, die Offenbarung einer Ästhetik der Moderne. Der Beginn der Erzählung hatte den Untergang des Historismus und des akademischen Neoklassizismus beschrieben. Der Schluß des Textes eröffnet neue Perspektiven. Der große Pan lebt.« Vgl. etwa Walter Jens, Hofmannsthal und die Griechen, Tübingen 1955, S. 144: »Wie Gerhart Hauptmann […] fand er das Wesen der Griechen in der Landschaft und in der Plastik, im Bild der Gebirge und im Spiegel der Menschen.« Vgl. Schings, »Hier oder nirgends«, S. 388:»Es [das Ich] hat, wir erinnern uns, das verlorene Griechenland gesucht und findet im ekstatischen Erlebnis der Statuen vom Mythos zur Mystik, von der archaischen Seelenlandschaft zu seinem höchsten Selbst: Mystik der Subjektivität im Medium der Antike, moderne Mystik auf der Akropolis.«

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sen. Die aus dem Perserschutt stammenden Skulpturen werden in der zeitgenössischen Reiseliteratur keineswegs emphatisch behandelt. Wenn etwa Wolfgang von Oettingen 1897 von den »jonischen Tanten«456 schreibt, dann steht diese verniedlichende Benennung in denkbar scharfem Kontrast zu der affizierenden Wirkung, die Hofmannsthals Erzähler diesen Standbildern zuschreibt. Dessen Wertschätzung der archaischen Plastik ist nicht sonderlich originell; so betont Albert von Berzeviczy, der Archaismus sei »jetzt ohnedies Mode«:457 So wie in dem Geschmack der Allgemeinheit der Klassizismus der Renaissance durch die Primitiven verdrängt wurde, so wendet sich jetzt nach Pheidias, Skopas und Praxiteles die Vorliebe der naiv-primitiven, hieratisch-steifen und herben Formensprache der anonymen Künstler der archaischen Periode zu.458

Was Berzeviczy in seinem Reisebericht knapp zusammenfasst, ist tatsächlich für die Antikenbetrachtung der Jahrhundertwende von nicht zu unterschätzender Bedeutung, geht es doch neben dem ästhetischen Paradigmenwechsel vor allem darum, in der griechischen archaischen Kunst den Ausdruck wesentlicher unverfälschter Seelenregungen zu erkennen. Diese epochentypische Abwendung von der griechischen Klassik hin zur Archaik wird auch bei Hofmannsthal deutlich: Gerade die archaische, vermeintlich urtümliche Kunst dient als Anstoß, um mit den verschütteten Seelenregionen in Kontakt zu treten. Dabei geht Hofmannsthal hinter die klassische griechische Kultur zurück, beschwört eine Vorvergangenheit, die zugleich ewige Gegenwart ist, Ausgangs- und Fluchtpunkt des modernen Individuums. In diese Erfahrung einer All-Einheit geht auch die griechische Kultur mit auf. Was wie der letzte Triumph der totgesagten Griechen wirken mag, ist in Wahrheit deren vollständige Ablösung, ja Auflösung in übergreifenden Zusammenhängen. Wer die Ewigkeit in sich trägt, braucht nicht mehr die Antike als Leitbild: Die ästhetische Erfahrung der Statuen ist zwar der Anstoß, die Statuen als Produkte der griechischen Kultur aber werden überflüssig.

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Wolfgang von Oettingen, Unter der Sonne Homers. Erlebnisse und Bekenntnisse eines Dilettanten, Leipzig 1897, S. 239. Vgl. ebd., S. 241f.: »Und weil sie den ausgesprochenen Stil alt-kleinasiatischer, jonischer Kunst zeigen und eine eigentümlich steife Würde beobachten, hat sich die oben angewendete, etwas burschikose Bezeichnung für sie bei den deutschen Archäologen in Athen eingebürgert, natürlich nicht für feierliche Gelegenheiten.« Berzeviczy, Griechische Reiseskizzen, S. 50. Ebd., S. 50f.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

Das Wissen über die griechische Kultur und Geschichte erweist sich letztlich als nutzlos, ja hinderlich, da es falsche Erwartungen weckt: Wer also glaubt, am aufgeladenen Ort die griechische Kultur erfahren zu können, muss sich, will er sich nicht Wunschbildern hingeben, gegen Enttäuschungen wappnen. Der Reisende kann nur sich selbst erfahren, kann aber gerade darin die erfülltesten Augenblicke erleben. Hofmannsthals Statuen entlarven also die Einheitsvorstellungen, die zumeist einem emphatisch überhöhten Griechenland-Erlebnis zugrunde liegen, als Konstruktion. Dieser Befund zieht zwangsläufig die Frage nach sich, ob Hofmannsthals »[u]nmögliche Antike«459 zugleich eine unnötige Antike ist, ob unter Bedingungen der Moderne das kulturelle Erbe tatsächlich noch von Bedeutung ist. Kaum zu übersehen ist, dass Hofmannsthal die Bedeutung der griechischen Kultur relativiert, indem er sie in größeren Zusammenhängen begreift. Allerdings leugnet er an keiner Stelle die Fruchtbarkeit ästhetischer Annäherung an die griechische Kultur, denn um nichts anderes handelt es sich ja bei den Augenblicken in Griechenland. Eine produktive künstlerische Auseinandersetzung mit den Griechen kann nur im Bewusstsein der Konstruiertheit gelingen: Wenn nämlich der Versuch aufgegeben wird, die Antike, die griechische Kultur zu erfahren und sich über diese Erfahrung anzueignen, dann sind unterschiedlichste ästhetische Auseinandersetzungen möglich,460 die ihre eigene Konstruiertheit nicht verleugnen, ja diese produktiv machen. Die griechische Kultur wird so zu einem an sich inhaltsleeren Projektionsraum, gerade auch für den deutschsprachigen Autor, der sich selbst in einer langen Tradition von Projektion befindet. Durch diesen Grad an Selbstreflexivität wird Hofmannsthals Text zu einem wichtigen Dokument moderner Standortbestimmung. Weit davon entfernt, die Bedeutung von Vorbildern zu verleugnen, etabliert er neue Möglichkeiten künstlerischen Schaffens jenseits normierender Autoritätsvorstellungen, erkennt die Bedeutung von Tradition an, demonstriert allerdings, dass sie nur in ihrer ästhetischen Bewältigung erfahren werden kann.

459 460

Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 181. Dieses Bewusstsein ermöglicht auch eine sachliche Wertung verschiedenster Annäherungen an die Antike. So seien »die Antike Goethes, die Antike Shelleys und die Antike Hölderlins drei so seltsam verwandt-geschiedene Gebilde, daß es einen traumhaften Reiz hat, sie nebeneinander zu denken, wie die Spiegelbilder dreier sehr seltsamer Schwestern« (Hugo von Hofmannsthal, »Gedichte von Stefan George [1896]«, in: Ders., Reden und Aufsätze I, Frankfurt am Main 1979, S. 214–221, hier S. 220).

Auf der Suche nach einer neuen Antike

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Wenn Rudolf Alexander Schröder Hofmannsthal ein »höchst problematisches Verhältnis zum eigentlich Griechischen«461 unterstellt, so geht diese Behauptung am Kern der Sache vorbei. Hofmannsthal ist sich vielmehr nicht mehr sicher, was denn dieses eigentlich Griechische sei. Er hat also weniger ein problematisches Verhältnis zu den Griechen als vielmehr zum emphatischen Griechenland-Diskurs seiner Zeit, der von dem hypertrophen Anspruch bestimmt ist, zur Essenz des griechischen Wesens vordringen zu können. Insbesondere Reiseliteratur kann zum Medium der Auseinandersetzung werden, erlaubt sie doch jenseits diskursiver Präzisierung eine artistische Überwindung des Problems. Hofmannsthal erkennt die Fruchtbarkeit von Projektionen und macht deutlich, dass ein fruchtbarer Umgang mit Beständen der Antike nur aus diesem Bewusstsein heraus möglich ist. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Verfahren von Hauptmanns Griechischem Frühling: Zwar ist auch bei Hauptmann der Projektionscharakter offensichtlich; zugleich transportiert sein Text den Eindruck, als befänden sich diese Projektionen des Dichters in großer Nähe zu der griechischen Kultur, als seien sie ein Aufschein des eigentlich Griechischen in der Moderne. 2.2.6.

Fazit

Hofmannsthal war sich des innovativen Charakters seiner Reisetexte über Griechenland bewusst. So schreibt er an Paul Zifferer, in seinen Augenblicken in Griechenland sei »etwas absolut Neues gegeben«, gerade in der Beschreibung psychischer Vorgänge, die »bis ins glühende Innerste« führe.462 Die Außenwelt ist nur mehr als Anstoß für psychische Vorgänge von Bedeutung. Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland sind ein Reisebericht über Griechenland, in dem dieses Land kaum noch eine Rolle spielt: Der Text wird in höchstem Maße selbstreferentiell. Er verweist auf die Psyche des Reisenden, kaum noch auf die Reise. So mündet auch der Dreischritt von Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland nicht etwa in die emphatisch überhöhte Erfahrung der griechischen Kultur und des Mythos, sondern in eine mystisch getönte Apotheose der Subjektivität. Indem er zudem das Augenblickhafte seiner Reiseeindrücke unterstreicht, wendet sich Hofmannsthal gegen Hauptmanns Totalitätsvor461

462

Balz Engler, »Hugo von Hofmannsthal in der Sicht seiner Freunde. Aus dem Briefwechsel zwischen Rudolf Alexander Schröder und Carl Jacob Burckhardt«, in: Hofmannsthal-Blätter H. 19/20 (1978), S. 91–101, hier S. 96 (Rudolf Alexander Schröder an Carl Jacob Burckhardt, 18. 5. 1954). Hugo von Hofmannsthal, »Brief an Paul Zifferer, 1917«, in: Hugo von Hofmannsthal/Paul Zifferer, Briefwechsel, hrsg. v. Hilde Burger, Wien 1983, S. 35.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

stellungen. Hofmannsthal geht so weit, Hauptmanns Gestus der Aneignung, des geistigen »Besitzergreifen[s]«463 als Pose, ja als Selbsttäuschung zu entlarven. Zwar steht in beiden Texten das Subjekt des Erzählers im Vordergrund. Während aber Hauptmann ungebrochen dessen Welt- und Geschichtsaneignung darstellt, problematisiert Hofmannsthal – auch unter dem Eindruck der Erkenntnis- und Empiriekrise um 1900 – die Möglichkeit tatsächlicher Erfahrung, stellt also tatsächlich die Subjektivitätsproblematik in den Vordergrund.464 Hofmannsthals Umgang mit Tradition unterscheidet sich grundlegend von dem Hauptmanns. Gegen dessen Anverwandlung durch Subjektivität setzt er das Bewusstsein von der Konstruiertheit jeder Tradition – gerade auch der eigenen – und markiert so in programmatischer Abgrenzung zu Hauptmann den Durchbruch eines modernen Selbstverständnisses in Auseinandersetzung mit dem griechischen Erbe.465 Über die konkrete Beschäftigung mit dem bereisten Land hinaus artikuliert Hofmannsthal in seinen Augenblicken in Griechenland grundlegende Positionen über das Verhältnis des Menschen zu Geschichte und Tradition. Hofmannsthal selbst betont 1917 in einem Brief an Rudolf Pannwitz, in den Augenblicken in Griechenland gehe es um das »Verstehen der Vergangenheit, das Zweifeln, ob man sie verstehen könne, schließlich das Ahnen: es handle sich um ewige Gegenwart, die zu sich selbst wiederkehrt«,466 also gerade nicht um eine wie auch immer geartete Annäherung an das eigentlich Griechische. In Pannwitz’ Aufsatz Betrachtung über den Wert der Geschichte467 erblickt er Deutungsansätze, die ihm im Nachhinein den Sinn seiner Augenblicke in Griechenland erschließen.468 Pannwitz entwirft dort in deutlicher Bezugnahme auf 463 464

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468

Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 17. In ihrer ansonsten hilfreichen Untersuchung übersieht Santini diesen entscheidenden Unterschied, wenn sie darauf verweist, in beiden Texten gehe es gleichermaßen um die Darstellung von Subjektivität. Vgl. Santini, »›Wir wollen in uns spazierengehen‹«. So konnte Hofmannsthal in dem Festspiel Die Ruinen von Athen ohne weiteres einen Wanderer aus dem Norden auftreten lassen, der die Vereinigung von Hellas und Hesperien gestaltet. Vgl. Manfred Hoppe, »Hofmannsthals ›Ruinen von Athen‹. Das Festspiel als ›konservative Revolution‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 324–356. Hugo von Hofmannsthal, »Brief an Rudolf Pannwitz, 21. 10. 1917«, in: Hugo von Hofmannsthal/Rudolf Pannwitz, Briefwechsel 1907–1926, hrsg. v. Gerhard Schuster, Frankfurt am Main 1993, S. 135f. Rudolf Pannwitz, »Betrachtung über den Wert der Geschichte«, in: Bruno Schuhmann (Hrsg.), Musik und Kultur. Festschrift zum 50. Geburtstags Arthur Seidl’s, Regensburg o. J. [1913] (Deutsche Musikbücherei; 7), S. 137–151. Vgl. Hofmannsthal, »Brief an Rudolf Pannwitz, 21. 10. 1917«, in: BW Hofmannsthal/Pannwitz, S. 135f.: »Der Aufsatz über Wert der Geschichte gab mir mehr als

Zwischen Tradition und Innovation

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Nietzsches Vorstellungen der ewigen Wiederkehr ein Geschichtsmodell, das von der grundlegenden Zirkularität historischer Abläufe ausgeht.469 Pannwitz konstatiert (wie Hofmannsthal in den Statuen) einen »Zweifel an der Erkennbarkeit des Vergangenen«.470 Dieser Zweifel jedoch hat eine produktive Funktion, ermöglicht er doch die Einsicht in die Zirkularität der Weltzusammenhänge: Das Ziel jenes Zweifels ist die umstürzende ungeheuere Erkenntnis, daß nichts Vergangenes vorbei ist oder vorbeigehen kann, daß alle Vergangenheit alle Gegenwart alle Zukunft EIN Ring ist, geschieden nur durch eine stetige Lücke unserer Wahrnehmungs- aber nicht einmal unserer Vorstellungsorgane: die sogenannte Zeit.471

Das »Endziel aller Geschichte« ist für Pannwitz »eine nahezu göttliche Allgegenwart«.472 Diese Gedankenfigur von der Aufhebung in einem Zustand der Allgegenwart weist deutliche Ähnlichkeit mit Hofmannsthals mystischem Aufschwung auf. In dem übergreifenden Lebenszusammenhang verliert der einzelne geschichtliche Augenblick seine Besonderheit: Zugleich kann in herausgehobenen Augenblicken eine Allgegenwart erfahren werden. Diese Erfahrung lässt sich wohl nur literarisch gestalten und nicht argumentativ vermitteln.

3.

Zwischen Tradition und Innovation

Die breite Rezeption der zweifellos traditionsstiftenden Texte von Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal darf nicht den Blick dafür verstellen, dass sie in den Kontext von vielen weiteren Reiseberichten gehören, die allesamt das Verhältnis zu griechischer Gegenwart und Antike ausloten.473 So reist Leo Weber Im Banne Homers durch Griechenland und schildert in begeistertem Ton seine Begegnung mit der (klassizistisch gedämpften) Antike,474 Albert von Berzeviczys journalistische Griechische Reiseskizzen bilden

469

470 471 472 473 474

sich in Kürze sagen lässt. Er wird mir noch unberechenbar viel geben. Er macht mich, so sonderbar dies klingt, meine drei griechischen Reise-aufsätze erst verstehen«. Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956. Pannwitz, »Betrachtung über den Wert der Geschichte«, S. 143. Ebd., S. 144. Im Original gesperrt. Ebd., S. 146. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Vgl. Weber, Im Banne Homers.

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Subjektivitätsentwürfe um 1900

die Quersumme zeitgenössischer Diskurse,475 während die Texte von Otto Kern und C. Fredrich Nebenprodukte reisender Wissenschaftler sind, die trotz gegenteiliger Behauptungen ihre wissenschaftlichen Neigungen nicht immer unterdrücken können.476 Isolde Kurz und Josef Ponten markieren in diesem Kontext zwei Extreme: Während Ponten versucht, auf innovative Weise wissenschaftliches und künstlerisches Schreiben zu verbinden, orientiert sich Isolde Kurz an traditionellen Mustern: Ihre Wandertage in Hellas wirken wie eine verspätete Nachlese des poetischen Realismus. Doch auch sie versucht in bescheidenem Rahmen, neue Akzente zu setzen, indem sie in ihrem Reisebericht ein Modell weiblichen Schreibens konstruiert und ihre bewusst an Weiblichkeitsstereotypen orientierte Wahrnehmung Griechenlands den virilen Setzungen Hauptmann’scher Prägung entgegenhält. 3.1. »Landschaft ist Leidenschaft.« Josef Ponten: Griechische Landschaften (1914) Wie kaum ein anderer Autor ist Josef Ponten vom Griechischen Frühling Gerhart Hauptmanns beeinflusst.477 Dies äußert sich nicht nur daran, dass er emphatisch sein Vorbild nennt478 und etliche Passagen der Griechischen Landschaften auf den Griechischen Frühling verweisen,479 sondern vor allem in der Grundausrichtung seines Textes. Griechische Landschaften. Ein Versuch künstlerischen Erdbeschreibens, der auf Eindrücke einer viermonatigen Reise im Frühjahr und Sommer 1912 zurückgeht,480 stellt Natur und Geographie des bereisten Landes in den Vordergrund. Ponten geht aber über Hauptmann hinaus, indem er versucht, Wissenschaft und künstlerischen Anspruch miteinander in Einklang zu bringen. Die Erfahrung von Natur und Landschaft sind zentrale Aspekte seiner Darstellung: »[D]enn ich kam nicht, im toten Griechenland der Bücher und Mar475 476

477 478

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Vgl. Berzeviczy, Griechische Reiseskizzen. Vgl. C. Fredrich, Vor den Dardanellen, auf altgriechischen Inseln und auf dem Athos, Berlin 1915; Otto Kern, Nordgriechische Skizzen, Berlin 1912. Vgl. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 236. Vgl. Ponten, Griechische Landschaften, S. 156: »Hier [in Delphi] ist denn der Ort, Gerhart Hauptmanns Griechischen Frühling aufzuschlagen und nachzulesen, wie ein aus Liebe zum Griechentume und aus Kenntnis seines Schrifttums geborener pythischer Taumel, doch in griechischem Edelmaße, über diese Landschaft braust.« Vgl. ebd., S. 3f. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 202; Ponten, Griechische Landschaften, S. 2.

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more zu graben, sondern in den Landschaften und Bergen, in den Winden und Sonnen des lebendigen mich zu ergehen.«481 Während Hauptmann im Griechischen Frühling vor allem die subjektiven Eindrücke des Erzählers betonte, verbindet Ponten die Darstellung von Gefühlen mit geologischen und geographischen Erklärungen und Reflexionen. Ihren Innovationsanspruch können Pontens Griechische Landschaften nur bedingt einlösen.482 Auf experimentelle Weise versuchen sie, verschiedene Traditionen des Schreibens über Griechenland in Einklang zu bringen.483 Zudem stellen sie den Versuch dar, eine Wechselwirkung von Text und Bildern herzustellen, die über die Beigabe von Illustrationen hinausgeht. Anmerkungen im Text verweisen auf einen gesonderten Bildband, der Fotografien, Zeichnungen und acht Aquarelle von Pontens Frau Julia Ponten von Broich enthält.484 Auf diese Weise wird so etwas wie eine Simultaneität der Rezeption angestrebt, die den Text um eine zusätzliche anschauliche und sinnliche Dimension erweitern soll.

481 482

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484

Ponten, Griechische Landschaften, S. 2. Vgl. Otto Maull, »Pontens Bedeutung für die Geographie als Landschaftsdarsteller«, in: Wilhelm Schneider, Josef Ponten. Eine Aufsatzreihe über seine Persönlichkeit und sein dichterisches Schaffen, Stuttgart/Berlin 1924, S. 120–134, hier S. 121f.: »Pontens Bedeutung für die Geographie liegt in seinem unmittelbaren Schaffen, in verschiedenen Versuchen künstlerischen Erdbeschreibens. Sobald man in der Geographie von Griechenland spricht, wird der Name Ponten fallen müssen. Es gibt zahlreiche Peloponnesschilderungen, Schilderungen von Reisenden, darunter solche von Künstlerhand, wie von Isolde Kurz, Birt. Sie alle gleichen sich, und in der Erinnerung sind sie darum schwer auseinanderzuhalten. Alle verquicken archäologische Erlebnisse mit etwas Landschaftsmalerei und ein paar persönlichen Eindrücken; und auf dem nächsten Wege reist man bei ihrer Lektüre von antiker Kunststätte zu Kunststätte. Pontens ›Griechische Landschaften‹ stehen diesen im Wesen ganz anders gearteten Vorgängern gegenüber groß und einzigartig da. Die Landschaft steht bei Ponten vollkommen im Vordergrund, die Landschaft in ihrem Werden und ihrem Bilde.« Dorothea Ipsens Annäherung an Pontens Reisebericht wird der hybriden Mischform nicht gerecht. Ihre pauschalen und undifferenzierten Klassifizierungen führen zu einer Verwirrung der Begriffe. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 211: »Pontens Buch entspricht einem Reisebericht des beginnenden 20. Jahrhunderts.« Josef Ponten, Griechische Landschaften. Ein Versuch künstlerischen Erdbeschreibens. Farbenbilder, Zeichnungen, Lichtbilder von Julia Ponten von Broich. Bilder, Stuttgart/Berlin 1914 [Bd. 2].

122 3.1.1.

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»Mit den Augen der Wissenschaft künstlerisch sehen«

Anders als Gerhart Hauptmann, der gerade die Ähnlichkeit Griechenlands mit Deutschland hervorhebt, betont Josef Ponten zunächst die ursprüngliche Fremdheit Griechenlands: »Nur langsam fühlt ein nordischer Nebelmann sich ein in Farben und Formen des fremdartigen Landes.«485 Die Erwähnung von »Farben und Formen« deutet bereits auf den eigentlichen Fokus von Pontens Reisebericht, nämlich Natur und Landschaft. An mehreren Stellen seines Textes äußert sich der Autor explizit über die theoretischen Annahmen, die seinem Reisebericht zugrunde liegen. Programmatisch distanziert er sich von den üblichen Reisebeschreibungen. Er bekennt, dass er bei der Beschreibung bewusst die Strapazen der Reise vereinfachte: Die Reise durch Griechenland verlief nicht ganz so einfach wie ich sie schildere, ich habe es ja nicht mit einer eigentlichen Reisebeschreibung zu tun, die von Griechenland nicht mehr gegeben zu werden braucht.486

Diese glättenden Bearbeitungstendenzen werden auch daran deutlich, dass Ponten bei seinen Beschreibungen nicht der Reisechronologie folgt, sondern den Text nach geographischen Gesichtspunkten gliedert. Dies führt aber keineswegs dazu, dass Pontens Text nicht mehr als Reisebericht einzustufen wäre, auch wenn der Auto selbst die Gattungszugehörigkeit problematisiert. Srdan Bogosavljevic hat schlüssig dargelegt, weshalb die Griechischen Landschaften ebenso wie Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland zu der Gattung gehören:487 Fiktionalisierung ist eben kein Ausschlusskriterium, auch wenn sich Ponten mit unüblicher Offenheit dazu bekennt und seinen Anspruch als bewusst formender Künstler unterstreicht. Wie bereits der Titel seines Reiseberichts andeutet, steht nicht die Antike im Mittelpunkt: »Ich habe mir vorgenommen, mich um Geschichte und Altertümer möglichst wenig zu bekümmern.«488 Stattdessen konzentriert er sich auf die Landschaft, ohne dass der Text deshalb zu einem Dokument wissenschaftlichen Schreibens würde. Ponten strebt eine Mischform an, die aber zuallererst ästhetischen Ansprüchen genügen soll:489 485 486 487

488 489

Ponten, Griechische Landschaften, S. 5. Ebd., S. 83. Vgl. Bogosavljevic, German literary travelogues, S. 203: »Although the work abounds in pure nature descriptions, the element of travel is still very much present in it.« Ponten, Griechische Landschaften, S. 40. Vgl. Maull, »Pontens Bedeutung für die Geographie als Landschaftsdarsteller«, S. 122f.: »Aber so, wie Ponten sich die Aufgabe stellt, ist es nicht die laienhaft aufgefaßte Landschaft seiner Vorgänger; sondern die Landschaft ist ihm, neben aller unmittelbaren Landschaftswirkung und Landschaftseinfühlung, zum wissen-

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Ich will nichts Wissenschaftliches – abgesehen vielleicht von der Inselkleinigkeit, die sozusagen wider meinen Willen in Reise und Arbeit geriet. Ich habe ein schönes Buch schreiben wollen.490

Ponten selbst nennt seine Vorbilder:491 Vor allem ist es Friedrich Ratzel, dessen Verbindung von Kunst und Wissenschaft in seinen geographischen Werken äußerst populär wurde.492 Josef Ponten schließt sich also an Traditionen der Kulturgeographie an und verknüpft diese mit Techniken der literarischen Landschaftsschilderung der Jahrhundertwende. Er reklamiert dabei für sein Schreiben einen dezidiert künstlerischen Anspruch, der letztlich auf die Person des Autors zurückzuführen sei. Nur Menschen mit tiefer künstlerischer Begabung sei es möglich, die Natur tatsächlich zu genießen und angemessen darüber zu schreiben: In der Naturwelt muß der Geist sich erst selbst Ordnung schaffen, in der Kunstwelt hat der Künstler die Arbeit geleistet. Darum ist der Naturgenuß eine Arbeit, der Kunstgenuß ein Ausruhen. Darum muß der Natur Genießende ein Stück Künstler sein, darum braucht der Kunst Genießende es nicht zu sein. Darum ist der Naturgenuß schwerer als der Kunstgenuß, darum versuchen die meisten mit Hilfe der Kunst der Natur zu nahen, der Landschaftsnatur durch die Schilderungen der Maler und Dichter.493

Dieses implizite Eigenlob zeigt, dass Ponten sein Schreiben über Griechenland höher einschätzt als das der meisten Autoren von Reiseberichten, die hauptsächlich die antiken Kunstwerke in den Mittelpunkt stellten. Sein Versuch einer Synthese ist nicht nur innovativ, sondern stellt zugleich den Versuch dar, die zeitgenössische Reiseliteratur zu überbieten. Doch auch gegenüber reiner Wissenschaftlichkeit bedeutet seine Herangehensweise zumindest theoretisch einen Fortschritt, ermöglicht sie doch, das erworbene Wissen zu beleben und im künstlerischen Nachvollzug zu genießen: »Man kann sich daran gewöhnen, mit den Augen der Wissenschaft künstlerisch zu

490

491 492 493

schaftlich gewonnenen Erkenntnisobjekt geworden; es ist die geographische, genauer vielleicht die geologische-geotektonische Landschaft, mit deren Darstellung der Künstler ringt. Damit, daß Ponten ein Objekt geographischer Erkenntnis wählt, hat er den Boden der Geographie betreten, treibt er künstlerische Darstellung auf geographischem Gebiete.« Ponten, Griechische Landschaften, S. 249. Mit der »Inselkleinigkeit« meint Ponten seine Beschreibung der Strophaden. Vgl. ebd., S. 221–239. Vgl. Bogosavljevic, German literary travelogues, S. 199: »The scientific aspect of Ponten’s approach to the Greek landscape is especially noteworthy in his description of a group of hitherto unmapped islands, the Strophaids.« Vgl. Ponten, Griechische Landschaften, S. 251f. Vgl. Bogosavljevic, German literary travelogues, S. 193. Ponten, Griechische Landschaften, S. 145.

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sehen.«494 Diese Feststellung ist zugleich als Aufforderung zu verstehen, die Pontens Vorbildhaftigkeit unterstreichen soll. Dabei legt Ponten großen Wert darauf, dass seine Herangehensweise mühsam ist und sorgfältige Arbeit erfordert, weil sie bei aller künstlerischen Durchformung nicht auf wissenschaftliche Sorgfalt verzichten kann. Zugleich stellt sich auch die wissenschaftliche Landschaftserfassung als sinnlicher Genuss dar: »Das aber ist ein Vergnügen der großen Aussichten, in der Hand die geologische Karte, in der die Stoffe der Erdrinde eingetragen sind, die Eigenart der Naturformen zu studieren.«495 Grundlage für eine gelingende Versinnlichung und Durchdringung im Medium der Literatur ist die vorherige genaue wissenschaftliche Betrachtung, die wiederum sinnliches Vergnügen bereiten kann. Genuss, den erst die Ordnung möglich macht, steht für Josef Ponten am Ende des Schaffensprozesses. Der Genuss bedeutet zugleich Arbeit und umgekehrt: In dieser wechselseitigen Durchdringung scheinbar entgegengesetzter Sphären sieht Ponten den Innovationscharakter seines Ansatzes. Es geht sowohl bei künstlerischen als auch bei wissenschaftlichen Formen der Weltbewältigung und Weltaneignung um Ordnungsversuche. Künstler wie Wissenschaftler arbeiten gleichermaßen daran, die nur schwer fassliche Außenwelt beschreibbar zu machen: Warum soll ich nicht gestehen, daß es eine Arbeit ist, die Aussicht auf ein Gebirge zu genießen? Etwas Feindliches, Aufreizendes haben die vielen wirren Linien an sich, und der Genuß tritt erst ein, wenn der Blick sich Ordnung geschafft. Das Gemälde eines Gebirges ansehend haben wir es leicht, denn der Maler hat uns die Arbeit des Ordnens vorgemacht. Das Ausblicken auf ein Gebirge ist zuerst immer eine künstlerische Arbeit.496

3.1.2.

Die Natur als Künstler. Anthropomorphisierung als Erzählprinzip

Josef Pontens Verhältnis zum Gegenstand seiner Betrachtung ist zutiefst affektiv: »Das Wort Landschaft umfaßt immer eine gewisse räumliche Weite, wie das Wort Persönlichkeit Wirkungskreis und Bewegungsfreiheit einer Person. Landschaft ist Leidenschaft.«497 Der Vergleich der Landschaft mit Personen führt ins Zentrum seines Welt- und Naturverständnisses. Ponten belegt gleichermaßen belebte und unbelebte Natur mit Bezeichnungen, die gemeinhin für Lebewesen gebraucht werden. Für ihn ist Griechenland Aus494 495 496 497

Ebd., S. 250. Ebd., S. 24. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5.

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druck eines künstlerischen Willens: »Wir machen wieder die Beobachtung und werden sie noch oft machen, daß das griechische Land wie von einem bewußten Baumeister künstlerisch angelegt wurde.«498 Dementsprechend personifiziert und anthropomorphisiert Ponten durchgehend die Natur. Sie erscheint als Künstler, der die Berge und ihre Gesteinszusammensetzung nach ästhetischen Erwägungen anordnet: Wir ruhen im kühlen Schatten eines Burggewölbes und genießen das rote Fleisch einer Goldorange. Währenddessen stellt die Natur wie ein auf sein Werk stolzer Künstler genau in den Rahmen des Gewölbes einen schöngeformten mächtigen Kalkklotz des Taygetus, den Berg von Selitza, hin. Der Klotz hat oben einen Rücksprung, eine Art liegender Hohlkehle, welche der ungefügen Masse Gestalt gibt. Es liegt da ein Streifchen leicht verwitternden Flysches.499

Ponten verbindet hier genaue wissenschaftliche Beschreibung mit ästhetischen Erwägungen. Dabei unterstellt er der Natur ein planvolles Vorgehen, das analog zu dem eines Künstlers ist. Auch die literarische Beschreibung des natürlichen Kunstwerks hat einen künstlerischen Anspruch, so dass der Reisebericht ein Dokument mehrfacher Formgebung darstellt. Ponten reklamiert in etlichen Passagen einen emotionalen Zugang zu den Gesteinsformationen der griechischen Landschaft. Während Gerhart Hauptmann einen vorrationalen Zugang zu der Welt des Mythos gestaltete, offenbart sich Ponten auf ähnliche Weise die Sphäre des anthropomorphisierten Glimmerschiefers: Schwächliche Fürsten behaupten ein Land, das ihnen längst entwachsen ist, nur deshalb, weil sie es von alter Zeit beherrschen; so der Glimmerschiefer. Das zartere Weib macht sich gröbere Männer untertänig, nur weil es früher klug und reif war und zu arbeiten begann; so der Glimmerschiefer. Im Gesichte der Landschaft ist der niedrige und weiche Glimmerschiefer der bedeutende Zug. Auch wer sich die Geschichte der Wasserscheide nicht klarmachen kann, wird unbewußt das Gewicht des Glimmerschiefers in der Landschaft empfinden.500

Der Mensch fühlt für Ponten eine besondere Affinität zu den Elementen der Natur, so auch zu den Tieren. Wie Gerhart Hauptmann stellt Ponten insbesondere die Schaf- und Ziegenherden in den Vordergrund. Dabei nähert er sich bei der Beschreibung seiner Verbundenheit mit den Herdentieren wie im Fall seiner Einfühlung in den Glimmerschiefer »wohl unfreiwilliger Komik:«501

498 499 500 501

Ebd., S. 97. Ebd., S. 16. Ebd., S. 37. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 237.

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Erschrocken in sich oder von uns erschreckt fliehen Schafe und Ziegen, nur die schöngehörnten Böcke und Widder bewahren ihre Würde, und ich bin ihnen dafür als Geschlechtsgenosse dankbar. Sie fressen auch langsam.502

Diese männliche Solidarisierung mit den würdevollen Ziegenböcken weist darauf hin, dass Ponten in Zusammenhängen denkt, die scheinbar feste Grenzen transzendieren: Mensch und Tier, Mensch und Gestein und Mensch und Wasser503 sind durch rational kaum fassliche Verknüpfungen miteinander verbunden. In der Landschaft werden diese Zusammenhänge transparent und erfahrbar. 3.1.3.

Landschaft und Geschichte

Auch wenn Josef Ponten programmatisch erklärt, er interessiere sich nicht für Geschichte und Mythos, so widmet sich doch sein Text an etlichen Stellen der Geschichte Griechenlands.504 Dabei geht er von einer engen Verknüpfung von Historie und Geographie aus. Die Kenntnis von Landschaft und Natur kann zu einem vertieften Verständnis der Vergangenheit führen.505 Allerdings wehrt sich Ponten zunächst dagegen, historisches Wissen in die Landschaftsbetrachtung zu projizieren: Vielen Leuten wird eine Landschaft erst dann vertraut, wenn etwas Geschichtliches in ihr vorging. Sie sagen geradezu, daß sie sich in einer geschichtslosen Landschaft verlassen fühlen. Daher ein groß Teil des Überschätzens griechischer und lateinischer Landschaften, von dem wir uns freihalten wollen. Die Natur ist für die bezeichneten Leute nur Bühne, nicht das Schauspiel selbst. Sie lieben die Natur zuinnerst nicht, sie lieben nur das Menschliche, oder sie lieben die Natur um des Menschlichen willen. Sie sind nicht selbstlos im eigensten Sinne. So wird das landschaftliche Erlebnis geradezu zum sittlichen Prüfsteine.506

Diesem Standpunkt folgt Ponten allerdings nicht konsequent:507 An anderer Stelle erklärt er, das Wissen um die Geschichte verstärke den Eindruck der Landschaft.508

502 503 504 505 506 507 508

Ponten, Griechische Landschaften, S. 54. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 205f. Vgl. Ponten, Griechische Landschaften, S. 32. Vgl. ebd., S. 51f. Vgl. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 243. Vgl. Ponten, Griechische Landschaften, S. 69: »Mit einem Blicke kann man den nahen Ira und den fernen Ithome übersehen und die heldische messenische Geschichte mischt sich in das landschaftliche Erlebnis und verstärkt den einfachen mächtigen Eindruck.«

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127

Diese Inkonsequenz ist aufschlussreich, da sie Pontens wissenschaftlichen Anspruch in Frage stellt und zugleich auf den Projektionscharakter auch seines Textes hindeutet, zumal es sich bei der Evokation von historischem Wissen nicht um Beschreibungen im engeren Sinn handelt. So unterläuft Pontens Reisebericht seinen eigenen Anspruch: Indem er die griechische Landschaft mit historischer Bedeutung auflädt, stellt er seine eigenen Zielsetzungen in Frage. An die Stelle von objektiver Betrachtung und Beschreibung tritt nun die höchst subjektive, von Vorwissen geprägte Beschwörung der ruhmreichen griechischen Geschichte. An etlichen Stellen entsteht so der Eindruck, als sei tatsächlich die historische Bedeutung einer Landschaft der Ausgangspunkt, von dem aus die geologischen Strukturen mit Bedeutung aufgeladen würden. Wenn etwa Ponten versucht, die Auserwähltheit Athens zu dem dort vorkommenden Marmor in Beziehung zu setzen, rückt dies seinen Ansatz in ein zweifelhaftes Licht: Attika scheint schon aus den Zeiten des Erdaltertums her den Beruf zur Führung Griechenlands und zur Erzeugung der höchsten Blüte des Griechentums zu haben. Der Kalk des übrigen Griechenland ist in ihm Marmor, kristallinisch umgewandelter Kalk, umgewandelt nach noch nicht ganz aufgeklärten Gesetzen.509

Dieser Veredelungsgedanke liegt auch Pontens Wertung der griechischen Kultur zugrunde. Hier verfällt er in philhellenische Stereotypen und treibt deren Emphase auf die Spitze. In Anlehnung an Renan und andere ist für ihn die Athener Akropolis von zentraler Bedeutung. Bei seiner Würdigung geht Ponten so weit, die Akropolis als Antrieb für die menschliche Existenz überhaupt zu bezeichnen: Die Akropolis ist das heiligste und das schönste Stück Erde. Sie ist kostbarer als ganze Länder, als große Staaten. Sie ist das abgeklärteste Gebilde von Landschaft und Kunst, von Natur und Mensch. Um die Akropolis einmal zu sehen, ist es wert auf die Welt zu kommen, den Sprung ins Leben zu wagen.510

Weil die Akropolis beispielhaft für die Verbindung von Natur und Kunst steht, kommt ihr überragende Bedeutung zu. Auch für Ponten ist Griechenland zur Ersatzreligion geworden. Wie nun diese Überhöhung mit dem angestrebten »Versuch künstlerischen Erdbeschreibens« in Einklang zu bringen ist, lässt sich nicht vollständig auflösen. Zwar steht die Akropolis für die beispielhafte Synthese der entgegengesetzten Sphären, Ponten lässt aber offen, ob dies in dieser Form nur in Griechenland möglich war. 509 510

Ebd., S. 198. Ebd., S. 179.

128

Subjektivitätsentwürfe um 1900

Die Errungenschaften der alten Griechen sind für Ponten von universeller Bedeutung. Sie sind aus seiner Sicht nicht nur für die westlichen Staaten allgemeingültig, sondern besitzen Weltgeltung. Die kolonialistischen Untertöne sind nicht zu überhören, wenn Ponten postuliert, es sei Aufgabe der westlichen Völker, das griechische Erbe weiterzutragen: In diesem sonnenhellen Lande entfaltete sich der klare Geist, der den Reiz der bloßen Zahl ebenso wie den der atmenden Form und der künstlerischen Linie empfand, dem die Berechnung eines Sternlaufes süß wie ein Gedicht klang, der Geist des unerbittlich Unbestechlichen, dem nur die Sonne des Wahren strahlte. Der Geist dieser kleinen, dem Balkanlande angehängten Halbinsel, der Europa, diese kleine Halbinsel Asiens, zum Herzen der Welt gemacht hat, der in den Staaten Amerikas, Australiens und Afrikas alle Seiten des Erdballs umzieht, an dem die Völker des letzten Ostens sich zu erfrischen und zu entzünden suchen, der Geist, den wir nur treu fortzubilden haben und den wir in unsere Kolonien, zu Negern und Papuas tragen.511

Die griechische Kultur ist für Ponten deshalb vorbildhaft, da sie die Synthese von Rationalität und Fortschritt auf der einen und von Kunst und Freiheit auf der anderen Seite bewerkstelligt habe. Kolonialismus ist für Josef Ponten die logische und lobenswerte Konsequenz des prometheischen griechischen Erbes.512 Dabei nehmen in seiner Logik die Kolonisatoren die Bedürfnisse der Kolonisierten vorweg, da die Anziehungskraft der letztlich griechischen Errungenschaften für alle Völker der Erde übergroß ist. Anders als Isolde Kurz, die der griechischen Kultur die moderne Gesellschaft des Westens als Kontrast gegenüberstellt, geht Ponten davon aus, die westlichen Zivilisationen hätten das Erbe angetreten. Sein Reisebericht mündet nicht in Zivilisationskritik, sondern erklärt, dass es die Aufgabe der Kolonialmächte sei, den in seinem Ursprung letztlich griechischen Fortschritt weltweit zu verbreiten und die Naturvölker Afrikas und Ozeaniens zu zivilisieren. Literaturkritik und Literaturwissenschaft konnten sich nur wenig für Josef Pontens Griechische Landschaften erwärmen. Ernst Reisinger verdammt diesen 511 512

Ebd., S. 181. Vgl. ebd., S. 181f.: »Die Griechen besaßen jene schönste und tiefste Weltsage von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, es seinen Lieblingen, den frierenden und darbenden Menschen zu bringen. Der Grieche selbst aber ward der Prometheus der Welt. Daß wir doch rein sein Feuer hüten, das er aus der bunten Nacht der Wunder und des Wahnes mit kühnem götterverachtendem Geistesgriffe herausgerissen hat! Daß wir jene heitere, in den von seligen menschenähnlichen Göttern überwohnten Landschaften entstandene Weltanschauung wahren und mehren, der doch der einzig wahre Gott der gute schöne freie Mensch war!«

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Reisebericht als Tiefpunkt der Gattung: »Geschmacklos mit Wissen prunkend, anmaßend durch den unerfüllten Anspruch, etwas Ganzes gegeben zu haben, und in verdorbenem Deutsch schreibt J. Ponten«.513 Auch Richard Bechtle bemängelt unglückliche Wendungen und tadelt die Inkonsequenz des Verfassers.514 Derartige Wertungen mögen nur allzu berechtigt sein. Tatsächlich stehen die Würdigungen der Antike oftmals unverbunden neben den Landschaftsschilderungen. Die Verrisse verstellen aber den Blick darauf, dass Ponten zumindest den Versuch unternimmt, eine Gattung zu erneuern, die Gefahr läuft, sich in Wiederholungen und Aporien zu verlieren. Er erkennt, dass das traditionelle Schreiben an ein Ende gekommen ist. Mit Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling liegt für Ponten zudem der definitive Versuch vor, sich auf subjektivem Wege an die griechische Antike anzunähern. Mit ihm möchte und kann Ponten nicht konkurrieren. Stattdessen versucht er eine Synthese aus wissenschaftlichem und künstlerischem Schreiben. Auf diese Weise sollen Traditionen und Innovationen der Gattungsentwicklung miteinander verbunden werden. Zudem betont und überhöht er die große Bedeutung, die das antike Griechenland für die Moderne besitzt. Während Hauptmann die Präsenz des Mythos beschwört, versucht Ponten, die Nähe der anthropomorphisierten Landschaft zu erfahren. 3.2. Klassizistische Zurücknahme. Isolde Kurz: Wandertage in Hellas (1913) Im Vergleich mit den Reiseberichten von Gerhart Hauptmann und Josef Ponten, die in hohem Maße die viril akzentuierte Subjektivität des Reisenden betonen, sind Isolde Kurz’ äußerst erfolgreiche Wandertage in Hellas von anderen Tendenzen geprägt: Sie entwirft ein Programm dezidiert weiblichen Reisens. Dabei folgt sie gängigen Geschlechterstereotypen, geht aber in mancherlei Hinsicht über diese hinaus. Ihr Antikebild ist klassizistisch geprägt und unterscheidet sich denkbar scharf von den archaisierenden und vitalistischen Fantasien Gerhart Hauptmanns. Auch ihr Entwurf des modernen Griechenland zeichnet sich durch Zartheit und Maß aus: Im Mittelpunkt 513

514

Reisinger, »Griechenland im Mittelalter und zur Neuzeit / Seine Wiederentdeckung durch Reisende«, S. 22. Vgl. J. W. Dyck, »Josef Pontens Stil und Sprache«, in: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 71 (1961), S. 182–184, bes. S. 182: »Besonders sein Stil und seine Sprache gaben wiederholt Anlaß zu Auseinandersetzungen einer sich oft widersprechenden Literaturkritik.« Vgl. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 237, S. 244.

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steht die Begegnung mit der Natur und mit griechischen Kindern. Der zwischenmenschliche Kontakt, der von gegenseitiger Empathie geprägt ist, kann eine Brücke in die Welt des fremden Landes schlagen. Isolde Kurz reiste vom 4. April bis zum 8. Mai 1912 in Begleitung ihres Jugendfreundes Ernst Mohl nach Griechenland, der dort einen Archäologenkongress besuchte.515 Mohl verdankte sie ihre Griechischkenntnisse.516 Sie folgt bei ihrer Beschreibung der Chronologie der Reise, beginnt mit der Überfahrt von Triest nach Piräus und schließt mit der Einschiffung in Athen. Dazwischen schildert sie sowohl die üblichen Sehenswürdigkeiten – Athen, Ägina, Salamis, Eleusis, den Poseidontempel von Sunion, Mykene und Tiryns, Korinth, Delphi, Olympia und Theben – als auch griechische Landschaft und Folklore. 3.2.1.

Weibliche Identitätskonstruktion

Weibliche Reisende nach Griechenland stellen keineswegs die Ausnahme dar.517 Auch in der Reiseliteratur sind zunehmend Autorinnen vertreten: Cattina von Seybold518 und Olga Gräfin Meraviglia519 schreiben ebenso über Griechenland wie in späteren Jahren Erna Pinner,520 Gioia Schubring521 und Elisabeth von Glasenapp.522 An den Texten, insbesondere an Kurz’ Wandertagen in Hellas, lässt sich beobachten, wie weibliche Schreibweisen konstru515

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520 521 522

Vgl. Karin Schmidgall, »Leben und Schreiben. Chronik«, in: In der inneren Heimat oder nirgends. Isolde Kurz (1853–1944), Marbacher Magazin 104, Marbach am Neckar 2003, S. 71–90, hier S. 79. Im April/Mai 1933 reiste Kurz erneut nach Griechenland und in die Türkei (vgl. ebd., S. 89). Vgl. Isolde Kurz, Aus meinem Jugendland, Stuttgart/Berlin 1918, S. 220: »Und jetzt machte dieser Freund meiner Jugend, der stets für die Bedürfnisse meiner Natur das meiste Verständnis gezeigt und mich durch seinen Glauben gestützt hatte, mir ein Geschenk, das mich auf alle Jahre meines Lebens bereichern und erheben sollte: er unterrichtete mich im Griechischen.« Vgl. zu Reiseliteratur von Frauen die Studien von Karolina Dorothea Fell, Kalkuliertes Abenteuer. Reiseberichte deutschsprachiger Frauen (1920–1945), Stuttgart/Weimar 1998 (Ergebnisse der Frauenforschung; 49), und Irmgard Scheitler, Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780–1850 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 67). Cattina von Seybold, Aus warmen bunten Ländern, München 1909. Olga Gräfin Meraviglia, Ein Ausflug nach Griechenland und Konstantinopel im Jahr 1914. Vgl. Ipsen, Das Land der Griechen mit der Seele suchend, S. 122–129. Erna Pinner, Eine Dame in Griechenland, Darmstadt 1927. Gioia Schubring, Reise durch Griechenland, Berlin 1933. Elisabeth von Glasenapp, Griechische Reise. Von Göttern, Menschen, Scherben und alten Steinen, Amsterdam 1940.

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iert werden, wie im Medium des Reiseberichts versucht wird, einen eigenen weiblichen Standpunkt zu entwickeln. Bereits das Widmungsgedicht von Isolde Kurz’ Text verdeutlicht diese Tendenz. Es richtet sich an die Mutter der Autorin, die ihr die Welt der griechischen Sagen vermittelt habe.523 Das Bildungsgut ist also für Isolde Kurz dezidiert weiblich akzentuiert: Mit deiner Milch, versprengte Griechin, sog ich / den Traum von Griechenland, als Wiegenlieder / umrauschten mich homerische Gesänge, / und meine dämmernden Gedanken wandtest / du Hellas zu.524

Die Reise der Tochter bedeutet somit eine Rückkehr in eine mütterliche Heimat. Griechenland ist vertraut, da die Erfahrung dieses Landes an die verstorbene Mutter erinnert: »So heimatsinnig sah das heilige Land / mich an, weil jeder Schritt mich dein gemahnte.«525 Der Reisebericht wird so zu einer Huldigung an die Mutter, aber auch zu der Darstellung des Versuchs, im Vollzug der Reise das mütterliche Erbe mit Leben zu erfüllen.526 Die Antike ist im Rahmen des Textes weiblich konnotiert. Auch die mythologischen Anspielungen unterstreichen diese Beobachtung. Die Göttin Athene wird für Isolde Kurz zur Identifikationsfigur. Bereits im Eingangskapitel verweist sie darauf, dass sie in der Obhut ihrer »alte[n] Schutzherrin Pallas Athene« reise.527 In dieser Göttin konstruiert die Autorin ein Idealbild von Weiblichkeit. Bei der Beschreibung des Parthenon-Tempels beklagt Isolde Kurz, dass sich das Athene-Standbild des Phidias nicht erhalten habe: Nur von der, die alles hier oben beherrschte, von der goldelfenbeinernen Parthenos, hat sich keine Spur erhalten; die bekannte kleine Nachbildung im athenischen Nationalmuseum ist bloss ein seelenloses Spielzeug, in dem kein Hauch mehr vom Geiste des Phidias weht.528

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527 528

Vgl. Kurz, Aus meinem Jugendland, S. 32: »Die frühesten Eindrücke kamen mir aus den Homerischen Gesängen, die uns Mama, sobald wir nur geläufig lesen konnten, zunächst in prosaischer Bearbeitung, in die Hände gegeben hatte. Die griechische Götter- und Heldensage verband sich blitzschnell und unauflöslich mit unserer Vorstellung. Der Olymp mit allen seinen Insassen thronte leibhaftig in unserem Garten.« Kurz, Wandertage in Hellas, unpaginiertes Widmungsgedicht. Ebd. Das ist umso bemerkenswerter, als Isolde Kurz doch sonst geradezu obsessiv das Erbe ihres Vaters Hermann Kurz pflegte. Vgl. Sibylle Lewitscharoff, »Auf den Finger gehoben: Isolde Kurz«, in: In der inneren Heimat oder nirgends, S. 5–16. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 3. Ebd., S. 29.

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Die Klage über den Verlust geht jedoch sofort in eine Evokation des zerstörten Kunstwerks über. Wie auch Gerhart Hauptmann beschreibt sie das, was nicht mehr anzutreffen ist. Dabei verfährt sie wesentlich rationaler, indem sie ihre Überlegungen als Vermutungen markiert. Von einer rauschhaft beglaubigten Gewissheit ist sie denkbar weit entfernt: Er, der die lemnische Athene so liebenswürdig machte in ihrem Ernst, mit welch majestätischem Liebreiz muss er seine heimische Göttin erst umkleidet haben, als er für sie den Parthenon schuf, die jungfräuliche, die Heldenfreundin, die doch so heimlich mütterlich war wie keine von den andern. Nicht kalt und streng kann sie geblickt haben, das war sie nur den Feinden Athens. Sicherlich hat ihr Mund gelächelt mit einem allverstehenden geheimnisvollen Lächeln, weil sie in die Herzen ihrer Lieblinge, ihrer Athener, schaute. Sie wandelte mit Platon unter den Platanen des Illisos, aber sie sass auch mit beim Symposion, und wenn es die Schwarmgeister der attischen Sommernächte allzu toll trieben und der übermütige Sohn des Klinias in der Trunkenheit die eleusinischen Mysterien nachäffte, dann wendete sie die Augen zur Seite und tat, als hätte sie nichts gesehen; denn was sind alle Formeln ihr, der Ewig-Wahren?529

Athene erscheint als mütterliche Gottheit, die dem attischen Staat wohlgesinnt ist. Sie ist zugleich liebenswürdig und ernst: Ihr Liebreiz ist gebändigt, ja wirkt staatstragend.530 Ihre klassizistische Statuarik wirkt sanft und ehrfurchtgebietend. Die »Heldenfreundin« ist nicht nur jungfräulich, sondern erscheint geradezu asexuell. Von Ausschweifungen wendet sich die gute Kameradin ab, ohne aber den männlichen Übermut, wie er am Mysterienverrat des Alkibiades deutlich wird, offen zu tadeln. Athene steht in der Interpretation von Isolde Kurz für Maß, Wahrheit und Harmonie, für eine mütterliche Weiblichkeit, die das Gemeinwesen eint. Dieser Rollenentwurf, den Isolde Kurz anhand ihrer Vorstellung von dem klassischen Athene-Standbild des Phidias entwickelt, ist nicht nur für ihren Blick auf das antike Griechenland bezeichnend, sondern auch für ihr Selbstbild als Autorin: In der Stilisierung zu einer mütterlichen Figur, die über den 529 530

Ebd., S. 29f. Vgl. Griechenland. Handbuch für Reisende von Karl Baedeker. Mit einem Panorama von Athen, 15 Karten, 25 Plänen, 5 Grundrissen und 2 Tafeln. Fünfte Auflage. Leipzig 1908, S. XCV: »Des Pheidias eigentlichste und wichtigste Aufgabe war das Errichten des Götterbildes für die Cella, der Kolossalstatue der Athena Parthenos, aus Gold und Elfenbein. Sie war 36 Fuß hoch – so hoch als es der bestimmte Raum nur irgend gestatten wollte. […] Den Ausdruck höchster Erhabenheit und Majestät vermag die bildende Kunst niemals durch Heftigkeit und Steigerung der Bewegung zu erreichen, sondern nur durch Vereinfachung und Milderung.« (Zur Geschichte der griechischen Kunst von Prof. R. Kekule v. Stradonitz, neu bearbeitet von Dr. R. Zahn. S. LXI–CXXIV).

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Schwierigkeiten des Alltags steht und den Verwicklungen der Geschlechterverhältnisse entsagt, spiegelt sich ihre Konzeption von Autorschaft. Dieses Konzept, das an die Gestaltung von Goethes Iphigenie erinnert, verdeutlicht nicht zuletzt die problematische Rolle einer gebildeten und berufstätigen Frau: Zwar beklagt Kurz oftmals die Einschränkungen, die die traditionellen Geschlechterrollen bedeuten, steht aber andererseits den gesellschaftlichen Verhältnissen affirmativ gegenüber und entwirft in ihrem Reisebericht ein Bild von Weiblichkeit, das stereotype Vorstellungen weiterträgt. Weisheit und Gelassenheit sind in dieser Konstruktion entscheidende Qualitäten. Das wird am Ende des Textes deutlich, wo Isolde Kurz wiederum das Athene-Motiv aufnimmt. Auch an dieser Stelle verweist sie auf die Skulpturen des Phidias: Mit einem Male zerreisst ein Schleier, und ich erblicke sie, sie selbst, nicht als strenge Promachos, sondern ganz von siegreicher Anmut umflossen. Ich sehe das liebliche Wangenrund, die zaubervollen Lippen, aus denen die süssen Sophokleischen Gesänge gequollen sind, und die strahlenden Augen, die am tiefsten in alles Leben geblickt haben. Eine Jungfrau-Mutter der herrlichsten Heldensöhne und so liebenswürdig wie in ihrer Frühzeit, wo sie sich nicht zu gut dünkte, ihrem Freunde Herakles mit eigener Hand den Peplos zu weben. Gleich darauf ist sie verschwunden. Aber doch nicht verschwunden, denn wohin ich die Blicke wende, strahlt aus dem attischen Land ihre Götteranmut wieder, und alle Dinge sehen mich mit ihren Augen an.531

Die klassizistische Athene ist für Isolde Kurz die Verkörperung Griechenlands. Sie steht für eine entsagende Anmut. Von diesen Setzungen ist der Weg zu Winckelmann’schen Vorstellungen von edler Einfalt und stiller Größe nicht mehr weit. Allerdings erscheinen diese Ideale in gleichsam verniedlichter Form: Die Liebenswürdigkeit als Leitbild passt eher in eine biedermeierliche Salonkultur als in die Welt des antiken Mythos. Isolde Kurz’ verbürgerlichter Klassizismus reklamiert das griechische Erbe für ein Bildungsbürgertum, dessen Ideale vor allem auf Mäßigung und Harmonie ausgerichtet sind. 3.2.2.

Bildungsbürgerliche Antike und klassizistischer Humanismus

Wie vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich, ist Griechenland für Isolde Kurz vor allem als Land der Antike von Bedeutung. Anders als Hauptmann, Hofmannsthal oder Ponten besteht sie darauf, das griechische Mittelalter sei störend und bedeutungslos. Wegen ihrer Vorprägung, die nach 531

Kurz, Wandertage in Hellas, S. 250f.

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eigenem Bekunden Züge einer Antikenfrömmigkeit trug,532 beschreibt sie vor allem die Eindrücke der klassischen Stätten. Die Reise wird so zu einer Wiederbegegnung mit Jugenderinnerungen: Freudige Überraschung! Der Theseustempel, den ich, wie oft! in meiner Kindheit mir aus einem Ausschneidebogen mit Schere und Kleister selber aufrichten durfte, hier liegt er leibhaft vor meinen Augen, und Pallas Athene verzeihe mir, wenn ich frevle, er sieht von hier oben mit seiner dorischen Säulenhalle, mit dem Dach und den doppelten Stufen genau so aus wie der von Pappe.533

Ein Kindheitstraum erfüllt sich. Erstaunlicherweise besteht keine Diskrepanz zwischen den Erwartungen und dem tatsächlichen Erlebnis: Isolde Kurz passt die Wahrnehmung an ihre kindliche Vorprägung an. Die Überreste der Antike – in diesem Fall immerhin der besterhaltene griechische Tempel Athens534 – erscheinen als Spielzeug. Über den Reflex eines bildungsbürgerlichen Umgangs mit Beständen der Antike hinaus ist diese Sichtweise von Bedeutung, führt sie doch zu einer deutlichen Verniedlichung der antiken Monumente. Sie erscheinen nicht als ehrfurchtgebietende Mahnmale, die religiöse Verehrung einzufordern scheinen, sondern als vertraute, geradezu familiäre Objekte, die selbstverständlich Teil der eigenen Erfahrungswelt sind. Diese Eingemeindung ist symptomatisch für Kurz’ Herangehensweise an die griechische Kultur. Wichtigster Gewährsmann ist Friedrich Hölderlin, dem sie sich landsmannschaftlich verbunden fühlt.535 Und auch wenn an einigen Stellen in Anlehnung an Jacob Burckhardt von der Agonalität der Griechen die Rede ist,536 so passt sie auch diese Beobachtung in eine übergreifende Würdigung der griechischen Kultur ein, die von Maß und Harmonie geprägt ist und klassizistische und humanistische Deutungsmuster fortschreibt. So liegt für sie der Höhepunkt der griechischen Kultur und Geschichte im perikleischen Athen. Auf archaische Bauten und Kunstwerke reagiert sie 532

533 534 535 536

Vgl. Kurz, Aus meinem Jugendland, S. 35: »In einem Winkel des Obstgartens hatten wir aus herumliegenden Steinbrocken den großen Himmlischen einen Altar errichtet, und ich nahm dieses Spiel im stillen ernst wie alle unsere Spiele. […] Also glaubte ich an die Götter Griechenlands. Ich schlich mich öfter in der Morgenstille zu unserem Steinaltar, um Opfer in Gestalt von Blumen oder Kornähren darzubringen und mich in die Betrachtung eines großen erhabenen Seins zu versenken.« – Vgl. zu Isolde Kurz’ Verhältnis zur Antike Pauline Julia Steiner, Isolde Kurz and the Spirit of Hellas, Phil. Diss. New York 1953. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 34. Vgl. Meyers Reisebücher. Griechenland und Kleinasien, S. 142f. Vgl. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 156, S. 214, S. 247f. Vgl. ebd., S. 191. Vgl. dazu Ipsen, Das Land der Griechen, S. 199.

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hingegen mit Befremden. So lässt sie den Gorgo-Fries von Korfu allenfalls als Kuriosität gelten: Bei einem kleinen Ausgrabungsfeld neben einer Kirche wird noch einmal haltgemacht, und wir besichtigen auch den neuen Fund, den sie schon ins Museum verbracht haben: einen grotesken archaischen Gorgonenfries, der die griechische Kunst einmal von der Seite wilder Phantastik zeigt.537

Kurz distanziert sich von dieser vermeintlichen Ausnahmeerscheinung, die für sie lediglich ein bizarres Seitenstück zu ihrer Vorstellung von der griechischen Kunst darstellt. Im Fall der Stätten der Argolis, die im Mythos eine wichtige Rolle spielen, fällt dies schwerer. Doch auch bei der Beschreibung von Mykene und Tiryns überwiegt die Abwehrhaltung. In Mykene etwa betont sie die Ähnlichkeit mit ägyptischer Architektur: So starr und despotisch blickt dieser Ort, dass man mitten im menschlich milden Hellas ägyptischen Geist um sich zu fühlen glaubt. Man traut ihm zu, dass er die Greuel der Tantaliden ausgebrütet haben könne.538

Die mythische Vorzeit unterscheidet sich also für Isolde Kurz vollständig von dem von Humanität geprägten klassischen Griechenland. Sie ist tatsächlich zutiefst ungriechisch. An dieser Wertung wird deutlich, dass das Griechische für Isolde Kurz vor allem ein normativer Begriff ist: Die Elemente Griechenlands, die nicht ihren Vorstellungen von Humanität und Klarheit entsprechen, sind für sie nicht griechisch. Auf diese Weise gelingt es ihr, ihre klassizistischen Projektionen auch angesichts konträrer Wahrnehmungen aufrechtzuerhalten. Völlig inkommensurabel sind für Isolde Kurz die Ruinen der Burg von Tiryns, die weitaus »rätselhafter und urzeitlicher«539 seien als die von Mykene: »Soviel man von diesen Bauwundern gehört hat, ihr Eindruck ist so befremdend, dass man ihnen völlig hilflos gegenübersteht wie einer Sphinx.«540 Es bleibt der Eindruck völliger Lähmung angesichts dieser zutiefst fremden Welt. Entlastung kann lediglich die Aussicht schaffen, die »den befreienden Ausblick auf die zauberische Bläue der Bucht von Nauplia«541 gewährt. Diese Ablehnung der griechischen Frühzeit ist zur Entstehungszeit von Kurz’ Reisebericht bereits ungewöhnlich. Die Autorin hängt einem konservativen Ideal an, das angesichts von Nietzsches Umdeutung der griechischen Kultur zumindest seine ästhetische Innovationskraft verloren hat. Für Isolde 537 538 539 540 541

Kurz, Wandertage in Hellas, S. 8. Ebd., S. 124. Ebd., S. 134. Ebd. Ebd., S. 135.

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Kurz liegt die Vorbildhaftigkeit der Griechen eben nicht in ihrer Fähigkeit zum Ausgleich zwischen Dionysischem und Apollinischem begründet, sondern in dem Humanitätsideal, das trotz aller Anfechtungen und Schwächen für ihre Kultur bestimmend gewesen sei. »Das Grösste, was den Griechen gelang, und das Schönste, was sie hinterliessen, sind sie selbst mit ihrer Kraft und ihren Schwächen und ihrer allumfassenden Menschlichkeit.«542 In dieser Feststellung liegt die Quintessenz von Isolde Kurz’ Sicht auf die alten Griechen. Sie strebt nichts weniger als eine Wiedergeburt der griechischen Ideale an. Wiederum ist es Pallas Athene, aus deren Mund die Botschaft verkündet wird. Eine wahre Renaissance sei nur dann möglich, wenn die Verlusterfahrungen der Moderne überwunden würden: »Dann wird es eine solche Kunst wieder geben, wenn das zersplitterte Leben wieder einmal zu einer Einheit zusammenwächst.«543 Kennzeichnend für die griechische Blütezeit sei die Einheit aller Lebensbereiche gewesen: Auch die Kunst habe sich harmonisch in diese Ganzheit eingefügt. So wirken die römischen Ruinen im Vergleich mit den griechischen Monumenten defizitär: »Welch ein Abstand von dem heilig-frommen Sinn, der den Parthenon mit seiner erhabenen Einfalt und inneren Notwendigkeit erschuf.«544 Die Zivilisationskritik betrifft also bereits das antike Rom. Einzig Griechenland taugt laut Isolde Kurz als Vorbild für eine Moderne, die der Orientierung bedarf. Isolde Kurz’ klassizistische Kunstfrömmigkeit idealisiert Griechenland in einem ungeahnten Maße. Anders als die meisten ihrer Zeitgenossen orientiert sie sich dabei an Vorgaben eines epigonalen klassizistischen Griechenkults. Ihre Wandertage in Hellas demonstrieren die Wirkmächtigkeit überkommener Traditionen trotz der antiklassizistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts: »Das Griechenlandbuch der Isolde Kurz ist die schönste späte Frucht des Klassizismus in der deutschen Griechenlandliteratur.«545 3.2.3.

»Glanz einer überirdischen Schönheitswelt«. Das sanfte Griechenland

Diese klassizistischen Tendenzen prägen auch Isolde Kurz’ Sicht auf das moderne Griechenland. Auch wenn die Antike im Vordergrund steht, entwirft Isolde Kurz ein Bild der griechischen Gegenwart, das durchweg von Harmonisierungen bestimmt ist. Den modernen Griechen steht sie positiv 542 543 544 545

Ebd., S. 249. Ebd. Ebd., S. 44f. Bechtle, Wege nach Hellas, S. 235.

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gegenüber, nicht zuletzt deshalb, da ihre Sprache große Ähnlichkeit mit dem klassischen Griechisch des Altertums aufweist.546 Angenehm fällt die große Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Griechen auf.547 Insbesondere zu den Kindern gelingt trotz Sprachschwierigkeiten immer wieder eine von gegenseitiger Empathie geprägte Kontaktaufnahme: Ein treuherzigeres Geschöpf habe ich nie gesehen, als dieses Äginetenkind. Sie glüht vor Diensteifer und kann sich in Aufmerksamkeiten nicht genug tun, augenscheinlich nicht des Lohnes wegen, sondern aus jenem starken Gefühl der Verpflichtung, das alle Griechen gegen die fremden Reisenden beseelt. Jeden Augenblick lässt sie den Strick des Gaidhuri fahren und springt ins Feld, um mir eine der wundervollen wilden Blumen zu pflücken, deren Namen sie mich nachsprechen lehrt.548

Die griechischen Kinder erscheinen als naturhafte Wesen, deren angeborene Freundlichkeit und Güte die Reise auch zu einem zwischenmenschlich erfreulichen Erlebnis werden lässt. Gerade weibliche Reisende sind aus Isolde Kurz’ Perspektive für diese Art der Kontaktaufnahme prädestiniert. Bei ihren Landschaftsbeschreibungen betont Kurz immer wieder die Lieblichkeit, die für sie Griechenland auszeichnet. Nicht nur die Insel Ägina – »Waldesschatten ringsum, der würzige, wundervolle Wohlgerüche aushaucht, und Blumen, Blumen wohin das Auge fällt.«549 –, sondern auch die Gebirgslandschaft um Delphi ist für sie vor allem zart und schön. Anders als Gerhart Hauptmann, der die wilde Erhabenheit der Gebirge betont, unterstreicht Isolde Kurz ihre harmonische Größe: »Der Grieche lacht nicht, er lächelt nur, und so auch seine Landschaft.«550 In Delphi ist die Wildheit zu allumfassender Schönheit domestiziert: Tiefste Einsamkeit, erhabenste, unzugängliche Gebirgswildnis und blendender Glanz einer überirdischen Schönheitswelt, der daraus hervorbricht; wahrlich der pythische Gott verstand es, wie man die Herzen bändigt!551

In schwärmerischer Emphase entwirft Isolde Kurz ein Griechenland, dessen Landschaft Ausdruck ästhetischer und ethischer Qualitäten ist. Von den vitalistischen Opferfantasien Hauptmanns ist sie denkbar weit entfernt.552

546 547

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Vgl. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 112f. Vgl. ebd., S. 241: »Es soll unvergessen bleiben, wieviel Takt und Feingefühl wir in der griechischen Bevölkerung gefunden haben.« Ebd., S. 62. Ebd., S. 65. Ebd., S. 163. Ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 95.

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Statt um die Freisetzung dionysischer Energien geht es um apollinisch getönte Bändigung, um Maß und Harmonie. Auch für Isolde Kurz ist die Antike im modernen Griechenland aufzufinden. Ähnlich wie Hauptmann gestaltet sie die Begegnung mit dem antiken Hellas in Passagen, die die bloße Realitätsbeschreibung transzendieren. Dabei sind ihre Visionen keineswegs ekstatisch und erheben auch nicht den Anspruch, als tatsächliche Evokationen mythischer Tiefenschichten verstanden zu werden. Im Kontrast zu den dionysisch akzentuierten Reiseberichten der Jahrhundertwende erscheinen Isolde Kurz’ Wandertage in Hellas als ein Manifest der Zurücknahme. Bewusst unmodern schreibt sie Traditionen des Klassizismus weiter, kann sich dabei aber der Dankbarkeit ihres Publikums sicher sein. So schreibt Franz Strunz im Literarischen Echo: »Sie schreibt warm, wie man von Menschen schreibt, die man nicht vergessen kann. Und ist das nicht die beste Art, über Landschaften und Vergangenheiten zu reden?«553 Isolde Kurz’ harmonisierende Darstellung Griechenlands, die stark in klassizistischen Traditionen verwurzelt ist, steht in deutlichem Gegensatz zu Gerhart Hauptmanns archaisierendem Griechischen Frühling, aber auch zu Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland, die sowohl die Lebensproblematik als auch die Frage nach der Erfahrbarkeit und Versinnlichung von Tradition thematisieren. Trotz aller Unterschiede verbindet sie ein wesentlicher Aspekt mit den übrigen Reiseberichten der Jahrhundertwende: Auch in den Wandertagen in Hellas steht (wenn auch in vergleichsweise gedämpfter Form) die Subjektivität der Reisenden im Zentrum.

553

Franz Strunz, »Wandertage in Hellas«, in: Das literarische Echo 16 (1913/14), Sp. 1644f., hier Sp. 1645.

Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren

II.

»Aus dem zertrümmerten Europa nach Hellas kommend«. Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

1.

Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren

139

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg steigt die Anzahl der Reisen nach Griechenland deutlich an. Diese Zunahme schlägt sich auch in der Reiseliteratur nieder.1 So erscheint eine Vielzahl von Texten, die gerade in ihrer äußersten Heterogenität die Pluralisierung des deutschsprachigen Griechenland-Diskurses demonstrieren. Während die Texte der Jahrhundertwende bei allen Unterschieden doch durchweg die Subjektivität der Reisenden und deren Versuche in den Mittelpunkt stellen, in einen unmittelbaren Kontakt mit der für die eigene Identität als maßstäblich empfundenen griechischen Kultur zu treten, so gehen die Reiseberichte der 1920er und 30er Jahre von anderen Voraussetzungen aus. Die inhaltliche und ideologische Diversifizierung der Texte hat vor allem mit den einschneidenden Folgen des Weltkriegs zu tun.2 Dazu kommen (teilweise damit zusammenhängende) Veränderungen in der Reisepraxis und in der Sozialstruktur der Reisenden. Während die Texte der Jahrhundertwende vor allem ästhetische Probleme diskutierten, dienen nun die Reise und die literarische Verarbeitung der Reiseeindrücke vor allem der Orientierungssuche in Krisenzeiten. Gerade der Bezug auf Griechenland als Mutterland Europas, als Ursprung einer gemeineuropäischen Kultur, soll helfen, die in diesem Ausmaß ungeahnten Krisenerfahrungen zu bewältigen. Die literarischen Ausformungen dieser Orientierungssuche sind wiederum höchst unterschiedlich. Selbst entgegengesetzte Phänomene wie die 1

2

Vgl. das Literaturverzeichnis dieser Arbeit. Zwischen 1922 und 1933 erscheinen über 20 Monographien – Neuauflagen älterer Texte nicht eingerechnet –, die ganz oder teilweise Reisen nach Griechenland zum Thema haben. Vgl. Bernhard Weyergraf, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, München 1995 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger; 8), S. 7–37, hier S. 9: »Der Krieg war das Epochenereignis, vor dem sich die Weimarer Kultur profilierte und das alle zu Zeitgenossen machte. Alle Reaktionen auf den Krieg werden von einem universalen Krisenbewußtsein übergriffen, das die psychopolitische Grundschicht der Weimarer Kultur bildete.«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Flucht in mythische Gegenwelten oder die rational bestimmte Auseinandersetzung mit der griechischen Gegenwart lassen sich auf eine gemeinsame Ursache zurückführen. Die Reiseberichte werden zu Dokumenten einer Krisenerfahrung. Politisierung und Ideologisierung erreichen ein (insbesondere im Vergleich mit den Texten der Jahrhundertwende) ungeahntes Ausmaß, weisen aber gerade darin auf Tendenzen voraus, die in der Reiseliteratur des Dritten Reichs in den Vordergrund treten. 1.1. Reisen aus einem traumatisierten Land in ein traumatisiertes Land Dabei scheint gerade die Reise nach Griechenland besonders ungeeignet, um die Beschädigungen der deutschen Seele zu heilen. So befand sich Griechenland von 1912 bis 1922 nahezu ununterbrochen im Krieg. Auf den ersten Balkankrieg gegen die Türkei (1912) folgte der zweite Balkankrieg gegen den ehemaligen Verbündeten Bulgarien (1913).3 Vom Ersten Weltkrieg war Griechenland seit 1915 betroffen. Englische und französische Truppen waren im Land stationiert, das eine Zeit innenpolitischer Wirren durchlebte.4 Verheerende Folgen hatte der griechische Vorstoß nach Kleinasien, der ursprünglich lediglich dem Schutz der in der Türkei lebenden griechischen Bevölkerung dienen sollte, bald aber in einen Eroberungskrieg überging.5 Die griechische Niederlage hatte nicht nur militärisch katastrophale Auswirkungen, bedeutete doch die sogenannte kleinasiatische Katastrophe, die Vertreibung der kleinasiatischen Griechen als Folge des von panhellenischen Großmachtgelüsten getragenen griechischen Angriffs, eine schier unglaubliche Belastung für den griechischen Staat, der mehrere Millionen von zumeist besitzlosen Flüchtlingen versorgen und integrieren musste.6 Auch die politische Lage Griechenlands war in den 1920er Jahren chaotisch:7 Zu den ökonomischen und sozialen Problemen kamen politische Unruhen. Royalisten und Anhänger von Eleftherios Venizelos, dem bedeutendsten Staatsmann, 3

4 5 6

7

Vgl. Vakalopoulos, Griechische Geschichte, S. 189–192, hier S. 191f.: »Die Ausdehnung des griechischen Staates verdoppelt sich nahezu mit den siegreichen Kriegen von 1912–1913, von 64 786 km2 auf 108 606 km2; die Bevölkerung steigt von 2 666 000 auf 4 363 000.« Vgl. ebd., S. 192–200. Vgl. ebd., S. 200–203. Vgl. ebd., S. 204: »So trägt Griechenland, das besiegt ist und durch die verhängnisvollen Folgen eines erschöpfenden Krieges wirtschaftlich am Abgrund steht, auch noch die Last einer plötzlichen enormen Überbevölkerung (anderthalb Millionen Vertriebene bei einer Bevölkerung von 4,5 Millionen).« Vgl. Mark Mazower, Greece and the Inter-War Economic Crisis, Oxford 1991.

Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren

141

standen sich unversöhnlich gegenüber, was die ohnehin prekäre Lage des Landes noch verschlechterte. Und doch nimmt die Bedeutung des Tourismus für Griechenland stetig zu: Zwischen 1919 und 1933 steigt die Zahl der ausländischen Touristen um mehr als das Zehnfache von 7600 auf etwa 80 000 an.8 Die Reise nach Griechenland wird also für deutsche Reisende zu einer Fahrt in ein von Kriegsfolgen und Flüchtlingselend geprägtes Land. So entspricht das reale Griechenland in den 1920er und 30er Jahren in noch viel geringerem Maße als zuvor dem Sehnsuchtsland der klassisch Gebildeten: Die Kriegsfolgen sind unübersehbar, das Land ist politisch gespalten und wirtschaftlich am Rande des Ruins. Damit ähnelt Griechenland aber in bezeichnender Weise dem Deutschland der Weimarer Republik. Auf der Flucht vor deutschen Verhältnissen erfahren viele Reisende diese in gesteigerter Form im Land ihrer Träume. Auf deutscher Seite verboten die materiellen Folgen der Nachkriegsjahre zunächst eine rege Reisetätigkeit. Hinzu traten Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Visa und Devisen, so dass es einige Jahre dauerte, ehe es wieder zu Auslandsreisen in nennenswerter Zahl kam. Dann aber nahm die Zahl von Reisenden erstaunlich rasch zu. An dieser generellen Zunahme des Reisens in der Weimarer Republik in den Jahren bis zur Weltwirtschaftskrise 19299 hatte auch Griechenland gewissen Anteil. Wichtiger noch als eine zahlenmäßige Zunahme ist die soziale Auffächerung der Reisenden.10 »Ansätze zu einer sozialen Ausbreitung der bürgerlichen Reise«11 werden auch am Beispiel der Reisen nach Griechenland deutlich. So reisen neben den zahlreichen Wissenschaftlern nicht mehr nur Angehörige des Groß- und Bildungs8

9 10

11

Vgl. Ronart, Griechenland von heute, S. 249: »Es erübrigt sich, über den ökonomischen Wert der Touristik im allgemeinen viele Worte zu verlieren, und noch viel mehr, im besonderen über ihre Bedeutung für Griechenland, das Reiseland par excellence, das Ziel der Touristen der ganzen Welt. Es gehen leider statistische Aufzeichnungen über den Fremdenverkehr in Griechenland nicht weiter als bis 1919 zurück. Immerhin betrug in diesem Jahre, dem ersten nach dem Kriege, die Zahl der fremden Besucher blos [ ! ] ein wenig über 7600, um beständig wachsend – nach einem Rückschlag während des kleinasiatischen Krieges – im Jahre 1925 bereits über 22 000, im Jahre 1931 mehr als 76 000 zu betragen. Das folgende Jahr 1932 zeigte, ein Symptom der schlechten Wirtschaftsverhältnisse, einen Rückgang, aber bereits in den ersten zehn Monaten des Jahres 1933 waren an 80 000 Touristen nach Griechenland gekommen.« Vgl. auch die Graphik: Ebd., S. 251. Vgl. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 105. Vgl. Christine Keitz, »Grundzüge einer Sozialgeschichte des Tourismus in der Zwischenkriegszeit«, in: Peter J. Brenner (Hrsg.), Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹, Tübingen 1997, S. 49–71. Spode, Wie die Deutschen »Reiseweltmeister« wurden, S. 105.

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

bürgertums nach Griechenland – gerade die Finanzkraft der zweiten Gruppe lässt deutlich nach –, sondern vermehrt auch mittellose Künstler und zumeist in bündischen Organisationen zusammengeschlossene Jugendliche.12 Zu den traditionellen Bildungs- und Vergnügungsreisen treten Gruppenreisen von Wandervögeln ebenso wie Individualreisen humanistisch weniger gebildeter Autoren, die einen neuen Blick auf das oft beschriebene Land bieten. Die Texte der Zwischenkriegszeit schildern also vielfach ein anderes Griechenland als ihre Vorgänger. Ebenso signifikant ist der Wechsel der Perspektive, der sich aus den veränderten Umständen ergibt. In einigen Fällen weicht der distanzierte touristische Blick einer identifikatorischen Perspektive der Teilhabe:13 Griechen und Deutsche sind gleichermaßen von Kriegsfolgen betroffen und können sich in ihrem Leid solidarisieren. 1.2. Die Antike als Orientierung Hugo von Hofmannsthal betont 1926 in einer Festrede »anläßlich eines Festes der Freunde des humanistischen Gymnasiums«14 die Bedeutung der Antike für eine Welt, die von »Unruhe«, »Zweifel« und »Verworrenheit«15 geprägt ist. In Anlehnung an eine Gedankenfigur von Friedrich Hölderlin erklärt er, gerade in der chaotischen Situation einer Gegenwart, die gefährliche 12

13

14

15

Vgl. Erhard Schütz, »Autobiographien und Reiseliteratur«, in: Bernhard Weyergraf (Hrsg.), Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, München 1995 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begründet von Rolf Grimminger; 8), S. 549–600, hier S. 571: »Neben die zumeist konventionell am Bildungserlebnis orientierten Schriften von Lehrern und Angehörigen akademischer Berufe treten Reiseberichte von Arbeitern, Gewerkschaftern oder Ingenieuren, die ihr Thema unter beruflichen, organisatorischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten behandeln. Mit der steigenden Zahl alleinreisender Frauen treten geschlechtsspezifische Wahrnehmungen hervor.« Diese Hinwendung zum Allgemeinmenschlichen fordert Walter Benjamin. Aus der zunehmenden Uniformierung der Lebensumstände folgert er, Reiseliteratur solle sich vermehrt den Menschen zuwenden. Vgl. Walter Benjamin, »Spanien 1932«, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1985, S. 446–464, hier S. 453: »Die Einebnung durch Industrie und Technik hat so große Fortschritte gemacht, daß von rechtswegen die Desillusionierung den schwarzen Hintergrund der Schilderung machen müßte, von dem dann das wirklich sonderbare Inkommensurable der nächsten Nähe – der Menschen im Verkehr mit ihresgleichen, mit dem Lande – um so schärfer sich abheben könnte.« Hugo von Hofmannsthal, »Vermächtnis der Antike. Rede anläßlich eines Festes der Freunde des humanistischen Gymnasiums«, in: Ders., Reden und Aufsätze III, Frankfurt am Main 1980, S. 13–16, hier S. 13. Ebd.

Reiseberichte über Griechenland in den 1920er und frühen 1930er Jahren

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und furchteinflößende Züge angenommen hat, sei die Hoffnung umso größer. Er konstatiert die scheinbar paradoxe Situation, sich angesichts der widrigen Zeitumstände zu einer Feier des klassischen Erbes zu versammeln: »In der verworrensten der Welten treten Sie zusammen und wollen das Fest der Unverworrenheit feiern, der höchsten Offenbarung geistiger Klarheit, die je da war.«16 Für Hofmannsthal hat die Antike eben keinen musealen Charakter. Der »Geist der Antike«17 ist bestimmend für das spezifisch Europäische: »Es ist unser Denken selber; es ist das, was den europäischen Intellekt geformt hat.«18 In bewusstem Pathos beschwört Hofmannsthal die integrierende und orientierende Funktion der Antike und betont die Lebendigkeit und Erneuerungskraft der Traditionsbestände: »Es ist kein angehäufter Vorrat, der veralten könnte, sondern eine mit Leben trächtige Geisteswelt in uns selber: unser wahrer innerer Orient, offenes, unverwesliches Geheimnis.«19 Eben die Internalisierung bewirkt die ungebrochene Wirksamkeit des antiken Erbes, das in Hofmannsthals Deutung religiöse Bedeutung für die europäische Identität gewinnt: Es ist der Mythos unseres europäischen Daseins, die Kreation unserer geistigen Welt (ohne welche die religiöse nicht sein kann), die Setzung von Kosmos gegen Chaos, und er umschließt den Helden und das Opfer, die Ordnung und die Verwandlung, das Maß und die Weihe.20

Diese Beschwörungen stehen in deutlichem Gegensatz zu der Absage an eine »[u]nmögliche Antike«21 in den ein Jahrzehnt zuvor entstandenen Statuen. Der deutlich erkennbare Wandel in Hofmannsthals Positionen, der auch in seiner und Richard Strauss’ Bearbeitung der Ruinen von Athen deutlich wird,22 ist als Krisenreaktion zu erklären. Angesichts von Orientierungslosigkeit und der Suche nach Werten soll der Bezug auf das klassische Altertum offenkundig Halt bieten und der modernen Zersplitterung eine stabilisierende Einheitserfahrung entgegensetzen.23 Dabei durchschaut Hofmanns16 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 15. Ebd. Im Original gesperrt. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 15f. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 181. Vgl. Hoppe, »Hofmannsthals ›Ruinen von Athen‹«. Vgl. Karl G. Esselborn, Hofmannsthal und der antike Mythos, München 1969, S. 18: »In seinen letzten Jahren erscheint Hofmannsthals Hinwendung zur Antike, wie eine Rede von 1926 aus Anlaß eines Festes der Freunde des humanistischen Gymnasiums zeigt, völlig von der Sorge angesichts einer chaotischen Gegenwart und der Suche nach einem Bindenden, einer verbindlichen Tradition, bestimmt.«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

thal sehr wohl den Projektionscharakter von solch emphatischen Zuschreibungen. Er hält diese allerdings für notwendig, um den einheitsstiftenden Bezug zu ermöglichen. Dieses Wissen um den Zuschreibungsgestus trennt Hofmannsthals Essay von den Positionen vieler Zeitgenossen, deren Bezug zur Antike ungebrochen, ja weniger gebrochen als zuvor wirkt. Allerdings werden an seinem Text wichtige Voraussetzungen sichtbar, die für die konkurrierenden Antikebilder der 1920er Jahre von großer Bedeutung sind. So soll der Bezug auf das griechische Altertum mehr als zuvor bei der Klärung von existentiellen Sinnfragen helfen. Das Spektrum reicht dabei von der Betonung der griechischen Geistigkeit und Klarheit bei Hofmannsthal bis hin zu diffusen okkultistischen, monarchistischen und protofaschistischen Vereinnahmungen.24 Daran partizipieren auch die Altertumswissenschaften, die selbstverständlich an dem allgemeinen Krisenbewusstsein teilhaben.25 So lässt sich Walter F. Ottos neuheidnisch getönte Auseinandersetzung mit der griechischen Religion26 ebenso wie Werner Jaegers Dritter Humanismus27 als Symptom von Selbstvergewisserung und Orientierungssuche auffassen:28 24

25

26

27

28

Vgl. Dr. Freiherr v. Bissing, Das Griechentum und seine Weltmission, Leipzig 1921, S. 4. Der Autor erklärt, sein Ziel seiner vor dem Krieg konzipierten Arbeit sei es gewesen, seinen Hörern bzw. Lesern darzulegen, »wie alle auf Handel und Übertragung geistigen Guts begründete Weltgeltung vergänglich ist, wenn sie sich nicht auf eine kräftige völkische Machtentfaltung stützt.« Nun habe dieses Vorhaben angesichts der deutschen Niederlage neue Brisanz gewonnen: »Der Krieg ließ damals den Gedanken nicht ausreifen. In der Zeit von unseres Volkes tiefstem Jammer nahm ich ihn wieder auf. Die Gegenwart warf auf das Vergangene überraschende Lichter: ich hatte keinen Grund sie auszublasen. So ist das geschichtliche Bild mehr vielleicht als ich ursprünglich gemeint hatte, zur Streitschrift für den völkischen und den Königsgedanken geworden.« Vgl. Manfred Landfester, »Die Naumburger Tagung ›Das Problem des Klassischen und die Antike‹ (1930). Der Klassikbegriff Werner Jaegers: Seine Voraussetzung und seine Wirkung«, in: Hellmut Flashar (Hrsg.), Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse, Stuttgart 1995, S. 11–40, bes. S. 14f. Vgl. auch Beat Näf, »Deutungen und Interpretationen der Griechischen Geschichte in den zwanziger Jahren«, ebd., S. 275–302, hier S. 282: Die »Althistoriker [waren] fast durchweg Verwalter eines konservativen und spezifisch deutschen Erbes«. Vgl. Hubert Cancik, »Die Götter Griechenlands 1929 [1986]. Walter F. Otto als Religionswissenschaftler und Theologe am Ende der Weimarer Republik (I)«, in: Ders., Antik – Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte, hrsg. v. Richard Faber, Barbara von Reibnitz u. Jörg Rüpke, Stuttgart/Weimar 1997, S. 139–163. Vgl. Marcel Remme, »Paideia. Werner Jaegers Bildungsphilosophie«, in: Baumbach (Hrsg.), Tradita et Inventa, S. 515–530. Vgl. Landfester, »Die Naumburger Tagung«, S. 15: »Zur Vielfalt der konkurrierenden Sinnstiftungsangebote […] gehört auch das ›Programm‹, das Werner Jaeger

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Entsprechend der praktisch-pädagogischen Funktion der griechischen Klassik wollten die Vertreter der neuen Klassik-Konzeption selbst ihrer eigenen Gegenwart mit dem antiken Humanitätsideal eine Heilkur verordnen.29

Die Versuche, das griechische Erbe lebendig zu erhalten, um den Preis, es substantiell umzudeuten, gehören ebenso in den Kontext von Verunsicherung und Sinnsuche wie die ästhetischen Umsetzungen der Antikebilder, die sich gerade auch in der Reiseliteratur in ungekannter Pluralität niederschlagen. Den ästhetischen Pilgerfahrten der Jahrhundertwende stehen nun politische Sinnsuchen gegenüber, die angesichts widriger Zeitumstände auf die Orientierungskraft des klassischen Erbes hoffen. 1.3. Tendenzen der Texte Reiseliteratur nimmt in der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle ein; man kann geradezu von einer Blüte der Gattung sprechen.30 Diese Aufwertung von faktualen Texten hängt sicherlich teilweise mit dem zunehmenden Bedürfnis nach Orientierung zusammen.31 Gerade die Reiseliteratur ist als Medium für Gegenwartsanalysen prädestiniert:32 »Autobiographischen Gesellschaftsdiagnosen stehen individuelle Selbstbestimmungsversuche in Reisebüchern gegenüber.«33 Diese Tendenzen verdeutlichen, dass die Reiseliteratur wie kaum eine andere Gattung geeignet ist, gleichsam seismographisch auf politische und soziale Verwerfungen zu reagieren und Modelle der Wirklichkeitsbewältigung anzubieten. Dabei nimmt Griechenland als Reiseziel eine eher untergeordnete, aber keineswegs unwichtige Rolle ein. Zwar stehen in den 1920er Jahren insbesondere die Vereinigten Staaten und die junge Sowjetunion im Fokus,34 im

29 30 31

32

33 34

entwickelte und das im wesentlichen ein ›Programm‹ zur Erneuerung der Klassizität der Antike und über diese neue Klassizität ein Beitrag zur Erneuerung der Gegenwart zu sein beanspruchte. Es stellte sich dabei in die üppig sprießende antimodernistische Bewegung der Zeit, denn die Antike wurde zum Gegenbild der neuen Tendenzen in Politik, Gesellschaft und Kultur.« Ebd., S. 25. Vgl. Schütz, »Autobiographien und Reiseliteratur«, bes. S. 568. Vgl. ebd., S. 549: »In der Weimarer Republik gewinnt Literatur, die als nicht kunsthaft wahrgenommen werden will, zunehmend an Bedeutung.« Vgl. ebd.: »Die Durchsetzung der ›faktographischen‹ Literatur geht gerade auf die Intellektuellen zurück, auf ihren eigenen Wunsch nach Orientierung und ihr Bedürfnis nach Erforschung der nach Krieg und Revolution so radikal verändert erscheinenden Wirklichkeit.« Ebd., S. 550. Vgl. Viktoria Hertling, Quer durch: Von Dwinger bis Kisch. Berichte und Reportagen über die Sowjetunion aus der Epoche der Weimarer Republik, Königstein/Taunus 1982 (Hochschulschriften Literaturwissenschaft; 55); Erhard Schütz, Kritik der literari-

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Vergleich aber mit diesen jungen Staaten kann gerade Griechenland als Beispiel für Zeitenthobenheit und ewig gültige Werte gelten.35 Siegfried Kracauer klassifiziert 1932 die Reiseliteratur der vorangehenden Jahre und kommt dabei zu dem Schluss, die Beliebtheit von Filmen oder Büchern über Reisen liege zum einen an der Bedeutung der Technik, zum anderen an den Fluchtmöglichkeiten, die sie böten: »Reisefilme und -bücher dienen faktisch (bewußt oder unbewußt) auch dem Zweck, unsere eigene Wirklichkeit durch die Ferne zu überblenden.«36 Diese Überblendungsleistung betrifft im Fall einer Reise nach Griechenland auch das Verhältnis von Antike und Gegenwart. So steht trotz der verstärkten Bedeutung der griechischen Gegenwart für viele Autoren nach wie vor die Antike im Mittelpunkt ihrer Texte. Die Diversifizierung des Antikebilds berührt sich mit Veränderungen der Reiseliteratur. Diese betreffen zum einen natürlich den Gegenstand der Reisebeschreibung, zum anderen aber auch die Art des Schreibens. Hier sind zwei gegenläufige Tendenzen dominierend: Einerseits wird an etlichen Texten die Orientierung an Feuilleton und Journalismus deutlich, die Peter J. Brenner als Charakteristikum des Reiseberichts der Weimarer Republik herausgearbeitet hat,37 andererseits nimmt die Zahl bewusst emphatischer mythischer Evokationen stark zu, deren Pathos der Ironie vieler feuilletonistischer Texte diametral entgegen steht. Hinzu kommen technik- und zivilisationskritische Tendenzen: Griechenland wird vielfach zum Rückzugsraum vor einer bedrohlichen Moderne stilisiert. Die Interferenzen zu der Reportageliteratur, die gerade in der Weimarer Republik an Bedeutung gewinnt, sind offensichtlich, ohne dass eine strikte Abgrenzung in jedem Fall möglich wäre. In der Ausstattung der Texte manifestiert sich die Tendenz der Orientierung an der Empirie: »[D]ie Ausstattung mit Photographien wird geradezu obligatorisch und die Reportage als Unterhaltung oder soziale Dokumentation avanciert zum Kern der Reiseliteratur.«38

35

36

37

38

schen Reportage. Reportagen und Reiseberichte aus der Weimarer Republik über die USA und die Sowjetunion, München 1977. Vgl. die Gegenüberstellung beider Reiseziele bei Alfred Schulze, Griechenland und Amerika. Plaudereien über Reiseeindrücke aus der Alten und Neuen Welt, Dresden 1928. Siegfried Kracauer, »Reisen, nüchtern«, in: Ders., Aufsätze 1932–1965 (Schriften, hrsg. v. Inka Mülder-Bach; 5,3), Frankfurt am Main 1990, S. 87–90, hier S. 88. Erstmals erschienen in: Frankfurter Zeitung, 10. 7. 1932. Vgl. Peter J. Brenner, »Schwierige Reisen. Wandlungen des Reiseberichts in Deutschland 1918–1945«, in: Ders. (Hrsg.), Reisekultur in Deutschland: Von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹, Tübingen 1997, S. 127–176, hier S. 134. Schütz, »Autobiographien und Reiseliteratur«, S. 572.

Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung

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Auch darin wird die Distanz zu den bewusst subjektiven Texten der Jahrhundertwende deutlich. Unabhängig aber von Stillage und ideologischer Ausrichtung sind alle diese Reisetexte über Griechenland Dokument einer Orientierungssuche, sie rekurrieren gleichermaßen auf die Welt der griechischen Antike wie auf die deutsche Gegenwart und können oftmals als Versuche der Heilung gelesen werden. Griechenland wird in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg geradezu obsessiv mit den unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen: Je näher das Ziel, desto weltanschaulicher werden die Reisen. Das gilt besonders für Palästina, das antike Griechenland, das faschistische Italien oder den ›Erzfeind‹ Frankreich. Vom Ausland her will man Deutschland und seine Zukunft genauer bestimmen.39

2.

Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung

Nach dem Ersten Weltkrieg entsteht »so gut wie kein Reisebericht, in dem nicht die Auswirkungen der Niederlage Deutschlands, seine damalige und zukünftige Stellung in der durch den Krieg radikal veränderten Welt eine Rolle spielten.«40 Die Verunsicherung und Orientierungssuche der Nachkriegszeit schlägt sich in einem Nebeneinander verschiedener literarischer Strömungen und Stilrichtungen nieder, das auch deutliche Auswirkungen auf die Reiseliteratur hat. Einerseits bedeuten die Reise und ihre literarische Verarbeitung das bewusste Überschreiten zuvor trennender Grenzen, andererseits schwingt in den Reiseunternehmungen der Weimarer Republik oftmals auch ein Gestus nationaler Selbstbehauptung mit, der Versuchen einer Völkerversöhnung entgegensteht. Der Weltkrieg erscheint als nationales Trauma, das auch literarisch bewältigt werden soll, sei es durch trotzig forcierten Nationalismus, sei es durch die programmatische Annäherung an ehemalige Feinde. Daneben spielt auch die Frage nach der Wahrnehmung Deutschlands in der Welt eine große Rolle. Die Antworten schwanken zwischen Larmoyanz und Stolz. Dabei ist nach wie vor der Gedanke einer griechisch-deutschen Sonderbeziehung wichtig, der zunehmend politische Bedeutung gewinnt, nicht zuletzt durch vermeintliche Parallelen in der jüngsten Geschichte beider Staaten. So erscheint der einstige Kriegsgegner Griechenland ebenso wie Deutschland als ein Land, das von den Großmächten missbraucht und in39 40

Ebd., S. 576. Schütz, »Autobiographien und Reiseliteratur«, S. 551.

148

Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

strumentalisiert wird und dessen Freiheit und Würde permanenten Bedrohungen unterliegen. Für Autoren des rechten politischen Spektrums wird zudem die Frage nach der Herkunft der modernen Griechen von großer Bedeutung. An der Beantwortung dieser Frage bemisst sich die Beurteilung der modernen Griechen, denen oftmals nur wenig Wertschätzung entgegengebracht wird, da sie ja keine Nachfahren der bewunderten Griechen des Altertums seien. Mythos und Politik gehen gerade in den Texten konservativer und völkischer Autoren eine zumindest teilweise bedenkliche Synthese ein. Die Identitätssuche und -konstruktion, die für viele Texte der Zwischenkriegszeit konstitutiv sind, führen dazu, dass der Reisebericht zunehmend politisiert wird. Diese Texte verweisen sowohl auf die griechische Antike als auch auf die griechische Gegenwart – und nicht zuletzt auf deutsche Verhältnisse. Zum Teil bittere zeitkritische Diagnosen stehen historischen und mythologischen Reflexionen gegenüber, die allerdings kaum mehr versöhnend wirken können. Eine Flucht in die vermeintlich heile Welt der Antike ist kaum einem der Autoren möglich, zu ungünstig und wirkmächtig sind die Einflüsse einer als verunsichernd und bedrohlich erfahrenen Gegenwart. Am Beispiel Griechenlands setzen sich so unterschiedliche Autoren wie Alfons Paquet, Victor Auburtin, Bernhard Guttmann und Josef Magnus Wehner mit den Problemen Deutschlands und Europas auseinander. Griechenland wird in ihren Texten zur essentiellen Bezugsgröße eines politischen Diskurses, der, je nach Standpunkt des Autors, von der Analyse der griechischen Gegenwart oder aber von dem enthusiastischen Lobpreis einer als vorbildlich empfundenen Antike ausgeht. 2.1. Skepsis und Utopie. Alfons Paquet: Delphische Wanderung (1922) Der Schwerpunkt von Alfons Paquets Reisebericht Delphische Wanderung. Ein Zeit- und Reisebuch 41 liegt auf der Gegenwartsdiagnose. Aus der Perspektive 41

Alfons Paquet, Delphische Wanderung. Ein Zeit- und Reisebuch, München 1922. – Vgl. Karl Korn, »Alfons Paquet«, in: Ders., Rheinische Profile. Stefan George. Alfons Paquet. Elisabeth Langgässer, Pfullingen 1988, S. 111–154; Alfons Paquet 1881–1944. Begleitheft zur Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. 10. September – 7. Oktober 1981, Frankfurt am Main 1981; Johannes Werner, »Welt und Wort: Über Alfons Paquet«, in: Aus dem Antiquariat 6/1994, S. 201–205; wichtige Hinweise finden sich in der Bibliographie Alfons Paquet, Frankfurt am Main 1958. Paquet war bereits zuvor als Reiseschriftsteller hervorgetreten und hatte Bücher über Reisen nach Russland und China publiziert. Von besonderer Bedeutung auch für seine Delphische Wanderung ist die Auseinandersetzung mit Russland und dem aufkommenden Bolschewismus. Trotz seiner relativen Wertschätzung der Anfänge der Sowjetunion ist doch das Christentum bestimmend für Paquets Weltsicht.

Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung

149

des Reisenden stellt der Autor die Folgen des Krieges für Griechenland und Deutschland dar und analysiert die verworrenen politischen Verhältnisse in Europa. Vor dem Hintergrund der zumeist skeptischen Befunde entwickelt Paquet die utopische Vorstellung eines neuen Delphi, das der (metaphysisch grundierten) Völkerverständigung dienen soll. Der Text – der erste deutschsprachige Reisebericht über Griechenland, der nach dem Krieg in Buchform erschien – verarbeitet Eindrücke einer Mittelmeerreise, die Paquet 1921 über Italien nach Griechenland und in die Türkei führte.42 Sein Text würdigt alle diese Stationen, so dass trotz des Titels Griechenland nur einen, wenn auch wesentlichen Schwerpunkt des Buches bildet. Für zeitgenössische Rezensenten liegt der Fokus auf den Zeitbezügen und den weltanschaulichen Passagen des Buchs, die wichtiger seien als die Reisebeschreibung.43 2.1.1.

Deutsche Gegenwartsdiagnose

Alfons Paquet vollzieht in seinem Reisebericht das Zerbrechen einer alten Weltordnung nach. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist die verzweifelte Lage Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg. Er sieht deutlich die konträren Kräfte, die nicht nur das geistige, sondern gleichermaßen auch das politische Leben in Deutschland bestimmen. Bezeichnend ist die allgemeine Orientierungslosigkeit: [I]ch habe von Deutschland einen Nachhall, als sei ich fortgegangen von einem Fasse, in dem ein trüber unermeßlicher Wille mit unterirdischem Sieden und Stöhnen gekeltert wird, ein Raten, eine Frage an das Schicksal, fast unerträglich.44

Vor dieser unerträglichen Situation flieht der Reisende. Die Mittelmeerreise wird zu einer Suche nach Antworten auf diffuse Fragen und Zukunftsängste. Aus der Perspektive des Deutschen im Ausland möchte er offenkundig den Abstand gewinnen, um von einem distanzierten Standpunkt die geistigen und politischen Konstellationen der Zeit einordnen und beurteilen zu können.

42

43

44

Vgl. Bibliographie Alfons Paquet, S. 192. Dort findet sich eine eindrucksvolle Auflistung von Paquets Auslandsreisen. Vgl. Hans Reiser, »Paquet, Alfons, Delphische Wanderung. Ein Zeit- und Reisebuch«, in: Die schöne Literatur 15 (1. 8. 1923), S. 297f., hier S. 298: »Die Bedeutung seines Buches liegt da, wo er vorausschaut, die Zeichen deutet. Man wünschte sich mehr davon und weniger Zurückschauen, weniger Folgern aus Vergangenem und Bestehendem, weniger Frage an das Schicksal und dafür mehr Antwort des Orakels. Der Seher braucht nichts zu wissen.« Paquet, Delphische Wanderung, S. 7f.

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Als Sinnbild für die Zersplitterung Deutschlands dienen Paquet zwei deutsche Reisende. Ein anthroposophischer Schwärmer, dem er im Goetheanum in Dornach begegnete, steht einer Frau gegenüber, die einen klaren und gefestigten Eindruck erweckt: Jener Herr, dessen Gesicht vor mir steht wie eine Wiederkehr aus dem zerrissenen und fürchterlichen Italien des fünfzehnten Jahrhunderts und jene Frau, deren Antlitz klar und vornehm ist, sind Deutsche, fremd wie ich selbst.45

Die Entfremdungssymptome sind unübersehbar: Der moderne Deutsche ist auch sich selbst fremd. Die beiden Fremden verkörpern Extrempole menschlicher Existenz. Sie sind gleichermaßen repräsentativ für die spezifisch modernen Erfahrungen von Orientierungslosigkeit und der im engeren Sinne deutschen Selbstentfremdung. Diese problematischen und prekären Aspekte gerade des deutschen Selbstverständnisses durchziehen leitmotivisch den Text. Ein wesentliches Ziel der Reise ist es, diesen Zustand besser zu verstehen, um so Möglichkeiten zu seiner Überwindung aufzuzeigen. Dabei bleibt Paquets Blick keineswegs auf Deutschland beschränkt: Für seinen Reisebericht ist gerade die europäische Perspektive ausschlaggebend.46 Die Folgen des Krieges diskutiert er nicht nur als deutsche Problematik, sondern durchweg in größeren weltpolitischen Zusammenhängen, wobei Fragen nach der Verantwortung ausgeklammert werden. Der Krieg erscheint in dieser nachträglichen Sinnstiftung als schicksalhaftes Ereignis, das profane Deutungen unmöglich macht. Die meisten Reisenden der ersten Nachkriegsjahre machen die Beobachtung, dass Deutschland gemiedener Außenseiter unter den Nationen der Welt ist. Einzig Paquet deutet diesen Umstand in einem metaphysischen Bezugssystem. So gewinnt für ihn die Pariaexistenz seines Heimatlands geradezu biblische Größe: Auf dem Schiff ist die Menschheit vielgestaltig, in Parteien zerspalten, flüchtiges Sinnbild der Völker. Ich denke an Deutschland, das zerrissen und erstarrt ist in winterlicher Traurigkeit, mit schneebedeckten Furchen, in denen die Saat schläft, ernstes Land, das die Sünde der Welt trägt.47

Der Mikrokosmos der Schiffsreisenden verweist für Paquet auf die allgemeine Weltlage. Die Zerrissenheit der Völker findet sich wiederum in kleinerem Maßstab in Deutschland, das damit zugleich metonymisch für den 45 46

47

Ebd., S. 8. Er gehört damit in den Kontext der Europa-Essayistik, die Paul Michael Lützeler aufgearbeitet hat. Vgl. Lützeler, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München/Zürich 1992. Paquet, Delphische Wanderung, S. 223f.

Die Reise als Versuch nationaler Identitätsfindung

151

Zustand der Welt stehen kann – gerade die innere Uneinigkeit ist bezeichnend für Deutschland, das sich gleichsam im Winterschlaf befindet – und zugleich ein Ausgestoßener unter den Völkern ist, der stellvertretend alle »Sünde der Welt« auf sich nehmen muss. Diese Passagen lesen sich wie eine metaphysische Auslegung des Versailler Vertrags, der explizit Deutschland und den Mittelmächten die alleinige Schuld am Krieg gab. Gerade der sogenannte Kriegsschuldparagraph trug beträchtlich zu Gefühlen von Demütigung und Frustration bei. Indem Paquet diese Kontroverse derart umdeutet, weicht er realpolitischen Diskussionen aus. In der Logik des Textes ist es geradezu sinnlos, nach menschlicher Verantwortung für das geradezu biblische Ausmaß des Unglücks zu fragen – entscheidend hingegen ist die Zukunftsperspektive, die vergleichbares Leid verhindern soll. Eindeutig ist die pazifistische Grundausrichtung von Paquets Text, ja man kann den Reisebericht mit einiger Berechtigung als Plädoyer für Humanität und Menschheitsverbrüderung lesen, angereichert allerdings mit etlichen irrationalistischen spätexpressionistischen Zutaten. Ausgehend von dem Postulat, dass die Nationen mehr verbinde als trenne – »Die Völker sind einander viel ähnlicher als sie wissen«,48 – formuliert Alfons Paquet einen Aufruf zu internationaler Verbrüderung: Es gibt nur eine Kraft, die fähig wäre, das Verhängnis aufzuheben, das mit naturgesetzlicher Wucht auf immer neue Zusammenstöße hintreibt: den menschlichen Willen, der sich verbrüdert. Es scheint zuweilen als erwache in den Völkern jedesmal nach dem Erlebnis großer Kriege eine unklare Empfindung dafür, wie wichtig es wäre, nach den Grundlagen der Einigung zu suchen.49

Paquet mahnt zu gegenseitiger Rücksichtnahme und vor allem zu einer Abkehr von rassistischen Vereinnahmungen; seine Positionen wirken dabei wie eine bewusste Zurücknahme der martialischen Rhetorik der wilhelminischen Ära. So sei es sinnlos, große Figuren der europäischen Kulturgeschichte einseitig aus rassistischen Gründen für ein bestimmtes Volk zu reklamieren.50 Erklärtes Ziel ist es, mit Toleranz und Aufgeschlossenheit im scheinbar Fremden das Eigene zu erkennen. Auf diese Weise wird das Verbindende und eben nicht mehr wie bisher das Trennende hervorgehoben. So lässt sich nach Paquet auf der Basis gemeinsamer Identifikationsfiguren ein Beitrag zur Völkerverständigung schaffen. 48 49 50

Ebd., S. 58. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 17: »Hier ist zwischen den Völkern etwas Unausgewogenes, sehr Empfindliches, das sich erst lösen kann, wenn jedes Volk dem andern das Seine, das immer auch ein wenig vom eigenen ist, zuerkennt.«

152 2.1.2.

Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Verbrüderung im Leid. Deutschland und Griechenland

Paquets Reisebericht ist von einer doppelten Perspektive bestimmt, deren Bezugspunkte sich vielfach überschneiden und vermischen: Neben der Würdigung der Antike beschreibt er Griechenland als ein ebenfalls von Kriegsfolgen getroffenes, ja noch im Krieg befindliches Land, dessen hypertrophe Großmachtpläne an die des geschlagenen Deutschen Reichs erinnern; die Auseinandersetzung mit der griechischen Gegenwart deckt also Mechanismen auf, die auch für das wilhelminische Deutschland bestimmend waren und auch in der Weimarer Republik nahezu ungebrochen fortlebten. Herkömmlicherweise dient der emphatische Verweis auf Griechenland – und dabei vor allem auf das antike Hellas – dazu, den Verlusterfahrungen der Moderne eine vorbildhafte harmonische Einheit mit geradezu therapeutischer Funktion entgegenzustellen. Alfons Paquet geht einen völlig anderen Weg, indem er das moderne Griechenland nicht nur in seine Überlegungen mit einbezieht, sondern gleichberechtigt mit dem antiken Erbe behandelt. Dabei ist der Bezug zu den Ereignissen der Zeitgeschichte und der jüngsten Vergangenheit stets evident. So bietet bereits die Reise nach Griechenland vielfach die Gelegenheit zu Reminiszenzen an die jüngste Vergangenheit, deren nostalgischer Grundton unverkennbar ist. Das Reiseunternehmen kann sogar für einen Moment die politischen Umwälzungen vergessen lassen und den Eindruck erwecken, man befinde sich noch in dem wohlgeordneten Europa der Vorkriegszeit: Das Schiff liegt an derselben Stelle der Hafenmauer wie damals. Ich gehe an Bord, der Steward führt mich zur Kabine, einen Augenblick scheint es mir, als seien vergangene Jahre ein Traum gewesen.51

Doch bald weicht dieses Gefühl tiefer Ernüchterung.52 So erweckt Alfons Paquet in manchen Orten in Griechenland Verwunderung, ist er doch der erste Deutsche, der seit etlichen Jahren das Land bereist: »Ich stelle mich als Deutschen vor. Das Erstaunen ist groß, seit Jahren ist kein Deutscher hier gewesen.«53 Das Ausland bringt auch Begegnungen mit anderen Reisenden mit sich, die ebenfalls den Zerfall riesiger Staatengebilde versinnbildlichen, wenn etwa von einem Tschechen die Rede ist, den der Erzähler noch vor einigen 51 52

53

Ebd., S. 59f. Vgl. auch ebd., S. 61: »Der das Meer ein paar Jahre lang nicht gerochen hat, dem erweckt die Seeluft ein urweltliches Gefühl. Ein Krieg ist hinter uns, der Gedanke an die Freiheit der See lebt weiter, andere Völker werden ihn aufnehmen, und wer immer diesen Kampf führt, führt ihn im Namen aller anderen.« Ebd., S. 112.

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Jahren als Deutschen bezeichnet hätte.54 Diese Zersplitterung wird ebenso an der Herkunft von Eisenbahnwaggons wie auch von ehemals österreichischen Schiffen deutlich.55 Alfons Paquet präsentiert in melancholischem Gestus die Überreste des untergegangenen alten Europa, dessen Überreste auch in Griechenland überall anzutreffen sind. Bemerkenswerterweise artikuliert Paquet an keiner Stelle revanchistische Gedanken. Er strebt keine Restaurierung der alten Verhältnisse an, sondern schreibt aus dem Bewusstsein, dass hinter die Umwälzungen der Kriegsjahre nicht zurückgegangen werden kann. Paquet betont programmatisch, dass Griechenland Teil der modernen Welt sei und dass für dieses Land keine andere Betrachtungsweise angemessen sei als für andere Staaten. Griechenland ist für ihn unauflöslich in die politischen Wirren der Zeit verstrickt und ebenso von der »Weltwende«56 betroffen, deren Folgen gerade für den kleinen und instabilen Staat unabsehbar seien. So ist das arme und noch wenig industrialisierte Griechenland insbesondere von massenhafter Auswanderung, in den meisten Fällen nach Amerika, betroffen.57 Die zurückkehrenden Auswanderer wiederum bewirken eine gewisse Amerikanisierung des Landes,58 die sich etwa darin niederschlägt, dass ein Wasserverkäufer angeblich aus den Niagarafällen stammendes Wasser anbietet.59 Anders als viele zivilisationskritische Autoren äußert Paquet kein Bedauern über diese Tendenzen, sondern analysiert sie aus neutraler Perspektive als Symptom einer weltweiten Modernisierung, die Triebkräfte entfesselt habe, die die Widerstandskräfte des Individuums bei weitem überschritten.60 54 55 56

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Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 147; S. 180. Ebd., S. 106: »Das erste Anrucken einer Weltwende ist auch in dem kleinen und entlegenen Griechenland spürbar.« Vgl. ebd., S. 90, S. 78f. Vgl. ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 73: »Die Fäßchen des Wasserverkäufers sind blau bemalt und zeigen die Bilder dreier Wasserfälle, die einander sehr ähnlich sehen, nur die Bezeichnung ist verschieden: Chelmos, Alpheios und Niagara. […] Der Niagara ist den heutigen Griechen gleichwertig; er ist die amerikanische Erinnerung.« Die »Weltwende« (Paquet, Delphische Wanderung, S. 106) wird auch an den zahlreichen russischen Flüchtlingen deutlich, die an vielen Orten, insbesondere am Piräus, anzutreffen sind: »Russen stehen herum, versprengte Reste der Wrangelarmee, Leute mit starken Gliedern, bereit, als Erdarbeiter oder Gärtner einen Taglohn von fünf Drachmen anzunehmen.« (Ebd., S. 144) Diese Angehörigen der im Bürgerkrieg unterlegenen zaristischen Weißen Armee machen die unklare politi-

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Mehrfach finden die Eroberungspläne des griechischen Königs Konstantin Erwähnung. Hellsichtig warnt Paquet vor dem kleinasiatischen Abenteuer, ohne dass der Text Zweifel daran aufkommen ließe, wie isoliert diese Position im patriotischen Taumel bleiben muss.61 Der Mobilmachungsbefehl erreicht nicht nur die griechische Jugend,62 sondern insbesondere auch die politischen Gegner der Regierung, die zwangsweise an die Front nach Kleinasien geschickt werden. Paquet beschreibt eindrücklich die Begegnung mit einem deutschfreundlichen griechischen Offizier, der Oppositionelle zu diesem Zweck verhaftet: Auf den Stationen stieg er aus, um Bahnangestellte zu verhaften und mitzunehmen. Zuweilen dauerte es lange bis er fertig war, und der Zug mußte warten; es gab erregte Szenen auf dem Bahnsteig, aber während der Fahrt saß er mir immer wieder gegenüber, er hatte mich als Deutschen herausgefunden und erzählte mir in gebrochenem Deutsch, daß er zu jener griechischen Division gehörte, die eine Zeit des Krieges in Görlitz verbrachte[.]63

Paquets Sympathien sind auf der Seite der Gefangenen, die aus seiner Sicht zum Tode verurteilt sind: »Die Verhafteten kommen an die Front nach Smyrna, sagte er munter; ich dachte an 1917 und schwieg«.64 Diese Beobachtungen verleiten Alfons Paquet zu einer pessimistischen Prognose über die Zukunft Griechenlands: »Zuweilen erscheint diese Zukunft wie ein Traum einer Raubtierwelt, die Haß und Krieg brütet.«65 Die düstere Grundstimmung von Paquets Text wird durch dieses Eingeständnis der Aussichtslosigkeit noch verstärkt. Auch auf klassischem Boden kann man dem industrialisierten Töten nicht entkommen. Paquet reist durch ein Griechenland, das

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sche Weltlage sinnfällig. Sie zeigen zudem die verheerenden Auswirkungen des Krieges, die zahlreichen privaten Katastrophen jenseits der großen politischen Bühne. Auch auf diese Weise gelingt es Paquet, die pazifistische Botschaft seines Textes zu unterstreichen. Vgl. Paquet, Delphische Wanderung, S. 106; S. 179; S. 202f.: »Die Generale des neuen Griechenland würden am liebsten nach Konstantinopel marschieren und die neue schwarzgelbe Kaiserflagge hissen, wenn nicht schon andere Flaggen dawären. In Athen prangt der doppelköpfige Adler auf den Köpfen der Zeitungen. Es gibt nichts Erstaunlicheres als diesen Adler, der jetzt die Griechen toll macht. […] [D]ieses kaiserliche Zeichen peinigt die Völker, es treibt sie wie ein Dämon aus ihrer Geschichtslosigkeit in die Tage des Glanzes und des Unglücks.« Vgl. ebd., S. 67: »Korfu, wie fast alle ländlichen Bezirke des Königreichs, ist für Konstantin. […] Er soll Smyrna festhalten, er soll Kemal Pascha besiegen, er soll zuguterletzt in Konstantinopel einziehen.« Ebd., S. 167. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 176.

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auf dem Weg in die Katastrophe ist: Es erinnert in seiner Kriegsbegeisterung und seinem patriotischen Taumel an das Deutschland der Kriegsjahre. Als wolle er Walter Benjamins Forderung nach einer Reiseliteratur, die sich den zwischenmenschlichen Beziehungen widmen solle,66 umsetzen, stellt Paquet diesen deprimierenden Erfahrungen gelungene Momente der Kommunikation gegenüber. In halbprivatem Rahmen erfährt der Erzähler Momente der Empathie, die zumindest zeitweise die Zerrissenheit der Welt vergessen lassen, Augenblicke gleichsam archaischer Gastfreundschaft, in denen so etwas wie universelle Geborgenheit aufscheint: Nun sprechen wir von Deutschland. Es ist als wüßten sie alles, wir sprechen wie von einem fernen Menschen und von einem unbegreiflich großen Schicksal. Das zweite Glas schmeckt schon irdener; wir trinken auf das Wohl des griechischen Volkes und des deutschen. Die rauhe Gastfreundschaft dieser einfachen Männer erfüllt mich mit einem tiefen Dankgefühl, abermals empfange ich hier etwas von der heimlichen grenzenlosen Bewunderung, die draußen dem verrufenen Volk entgegenschlägt, sie hält sich an keinen Namen und an keine besondere Tat, sie weht nur über jene Abgründe des Schweigens hinweg, die zuweilen unsere Nächte schlaflos machten, sie kommt aus einem Volk, das den Weg des Leidens kennt.67

Die vielgepriesene griechische Gastfreundschaft gewinnt eine metaphysische Dimension, ist sie doch die Basis für eine gelingende Verständigung, die ohne Ansehen der Herkunft das allgemein Menschliche betont. Verbrüderung im Leid kann als ein erster Schritt gelten, die Isolation und Feindschaft der Völker zu überwinden; Empathie und Mitmenschlichkeit erwecken trotz allem das Vertrauen in eine weniger grausame und menschlichere Zukunft. Deutsche und Griechen verbindet die Erfahrung tiefen Leids. Vor diesem Hintergrund ist die echte Anteilnahme am Schicksal des fremden Volkes möglich. 2.1.3.

Ein neues Delphi. Die Funktion der Antike

Die griechische Vergangenheit hingegen zeichnet sich für Alfons Paquet eben dadurch aus, dass sie trotz vielerlei Gefährdungen diese gewaltsamen Kräfte zumindest zeitweise zu zähmen vermochte, wenn auch letztlich ohne Erfolg. Weit davon entfernt, ein geglättetes Griechenbild zu zeichnen, betont Paquet doch den Vorbildcharakter der griechischen Kultur, die als beispielhaft, wenn auch keineswegs perfekt gelten kann. Diese Funktion ist umso größer, weil auch Paquet von einer grundsätzlichen Affinität zwischen alten Griechen und modernen Deutschen ausgeht: 66 67

Vgl. Benjamin, »Spanien 1932«, S. 453. Paquet, Delphische Wanderung, S. 114.

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Es ist wohl im Schicksal der Deutschen irgendeine Verwandtschaft mit dem der alten Griechen. Der Zerfall ihres Staatszusammenhanges entband unzählige Einzelkräfte bis an die Grenze der damaligen Welt.68

Allerdings ist seine Vorstellung nicht rassistisch begründet: Stattdessen dominiert ein diffuser Schicksalsbegriff, der gerade die Ähnlichkeiten im Negativen sucht und behauptet. Paquet deutet die Ideologie einer Sonderbeziehung vor dem Hintergrund politischer und militärischer Katastrophen um. Die Ursachen dieser Verwandtschaft jedenfalls liegen in den politischen Verhältnissen. So entspricht die Zersplitterung des antiken Griechenlands für Paquet den gesellschaftlichen Prozessen der Gegenwart und nicht zuletzt der Zerstreuung deutschsprachiger Volksgruppen über verschiedene Staaten. Griechenland und Deutschland bilden also eine Leidensgemeinschaft – auch diese These steht in deutlichem Widerspruch zu dem emphatischen deutschen Griechenkult der Vorkriegsjahre. Die Antike dient Paquet als Legitimationshilfe für seine pazifistischen Positionen. So muss etwa Perikles als Bezugsgröße für den Kampf gegen Militarismus dienen,69 wie überhaupt der Athener Staatsmann als Pazifist mit geradezu christlichem Wertesystem erscheint.70 Paquet spricht sogar von der bewußten blitzartigen Aufnahme des Gedankens vom Nichtwiderstehen, die sich in der Friedensstrategie des Staatsmannes ausdrückt, des größten vielleicht, den die Erde bis jetzt hervorbrachte.71

Paquet erblickt also im Drang zu Frieden und Verständigung die große und bleibende Leistung der griechischen Kultur. Diese Eigenschaften werden für ihn insbesondere in Olympia und Delphi deutlich, den beiden rituellen Zentren des politisch gespaltenen Landes.72 Dabei vermengen sich kulturhistorische Betrachtungen mit dem in die Zukunft gerichteten Appell, sich an den Griechen zu orientieren. Während die Forderung nach einem neuen Olympia insbesondere die Deutschen betrifft, gilt die Vision eines neuen Delphi allen einstmals verfeindeten Völkern. 68 69 70

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Ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. Art. »Perikles«, in: Der neue Pauly, Bd. 9, Sp. 567–572, vgl. ebd., Sp. 570 zum verklärten Perikles-Bild in der Thukydides-Nachfolge. Paquet, Delphische Wanderung, S. 140. Vgl. die ähnliche Sichtweise bei Kasimir Edschmid, Zauber und Größe des Mittelmeers, Frankfurt am Main 1932, S. 85: »Und wenn es damals auch kein Pan-Hellas gab – wie es heute kein Pan-Europa gibt, so baute sich von Olympia und von Delphi doch ein ideologisches Dach über die griechische Nation, eine Kuppel, die alle Machtkämpfe der Staaten glänzend überstrahlte.«

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Gerade die Passage über Olympia verdeutlicht die pangermanische Perspektive des Textes:73 Unsere Welt hat keinen Sammelpunkt von dieser Bedeutung. […] Man müßte ein leeres schönes Tal in Thüringen mit einer neuen Stadt bevölkern, wo sich in regelmäßigen Zeitabständen die Jugend des gesamten deutschen Volkes versammelte zum Bündnis aller über die Welt verstreuten Deutschen, die aus den Landschaften des alten Vaterlandes und aus der Fremde dort zusammenströmen, aus Tirol und aus dem Banat, aus dem skandinavischen Norden, aus Rußland, aus Böhmen, aus der Schweiz und aus dem Elsaß, aus Palästina und aus den afrikanischen Kolonien, aus China, aus beiden Amerika.74

In der Gegenwart fehlt also, so Paquet, eine vergleichbare Stätte der nationalen Einigung. Zugleich erscheinen die Wettkämpfe hier als Sublimierung kriegerischer Gefühle. Paquets Forderung steht in keinerlei Beziehung zur olympischen Bewegung: Ihm geht es im Wesentlichen um nationale Festspiele, die das Zusammengehörigkeitsgefühls eines zersplitterten und in alle Welt verstreuten Volkes sichern und bestärken sollen.75 Offensichtlich fürchtet er mehr die kommende Selbstzerfleischung Deutschlands als eine Aggression nach außen. Der olympische Gedanke soll so der Prävention eines Bürgerkriegs dienen, ganz im Sinne der alten Griechen: Nichts vergißt sich leichter als vergossenes Blut, nichts wird leichter mißbraucht als die Frucht des blutigen Sieges. Höhere Ehre als einzelnen Siegern gebührt wohl dem namenlosen Volk, das als erstes den Kampf zu einer Sache des Friedens erhob und sich bei diesen Spielen immer aufs neue zur Einheit verband. Der Sinn von Olympia war der Waffenstillstand der Bruderstämme. Es war die Tragik des Griechentumes, daß es ihm nicht gelang, diesen Gedanken auf die Welt auszudehnen.76

Paquet wendet sich gegen die Mythisierung des Krieges als Opfergang, wie sie in der Literatur vielfach anzutreffen ist. Dieser Missbrauch führe dazu, dass vergangene Kriege als heroische Beispiele dargestellt würden und so nicht als Warnung dienen könnten. Dient die Bezugnahme auf Olympia hauptsächlich der Kriegsprävention und der geistigen Einigung der Deutschen, so soll Delphi weitergehende internationale geistige Orientierung geben. Paquet imaginiert einen Pilgerzug, der hilfesuchend den Weg nach Delphi zurücklegt: 73 74 75

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Vgl. Paquet, Delphische Wanderung, S. 92–96. Ebd., S. 95. Für Paquet sind zudem lediglich nordische Völker in der Lage, den Geist von Olympia adäquat umzusetzen. Vgl. ebd., S. 96: »In den germanischen Ländern kommt man dem, was hier geübt wurde, noch am nächsten; […]. Im Athletentum hat das Geschäft gesiegt, im Geistigen die Bildlosigkeit.« Ebd., S. 98.

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Es ist mir als stiegen von allen Seiten dunkle Gestalten den trüben Berg empor, Pilger, Abgesandte mit Wunden bedeckter Völker, Gesandtschaften, mit der geheimen Frage an das Schicksal beladen. Es sind Männer wie aus fernen Unterwelten, aus Gewittern und Feuerbränden emporgestiegen; die Feuer des Krieges in ihrem Herzen sind gelöscht, eine andere Flamme scheint sie emporzutragen.77

Wie die Autoren der Jahrhundertwende integriert Paquet hier eine visionshafte Wahrnehmung in seinen Reisebericht; allerdings gilt seine Vision eben nicht der Vergegenwärtigung der Antike, sondern ist vielmehr in appellativer Weise auf die Zukunft bezogen. Das Pathos der hymnischen Schilderung einer delphischen Versöhnung erscheint so als Ausdruck tiefer Verzweiflung. Diese Vorstellung ist weit von Paquets Realität entfernt und steht in denkbar scharfem Gegensatz zu der befangenen Atmosphäre, die unter den Reisenden verschiedener Nationalitäten herrscht.78 Paquet sieht allerdings diesen Zustand als überwindbar an; er erstrebt ein neues Delphi, das allen Völkern Orientierung zu geben vermag: Die magische Kraft des Wunsches und der Träume baut an einem neuen Delphi zu Füßen des unsichtbaren Berges der Zukunft; sie baut an einer fernen kultischen Möglichkeit des Beisammenseins, an einer Musik und Baukunst aus der wiedergefundenen pythagoreischen Einheit, an einer neuen Weisheit der Seele und des Leibes, an einem Priestertum, in dem sich altes Wissen, Tanz und Heilkunst, Wettkampf und Weissagung erneuert, an der Wiedergeburt jener Zeit, die durch das Tal von Delphi als eine Ahnung weht.79

Es besteht also noch Hoffnung auf die Erfüllung der utopischen Vorstellungen, wobei unklar bleibt, wie diese durchaus okkultistisch getönte »Wiedergeburt« vor sich gehen solle.80 Konkrete Ratschläge lassen sich aus Paquets Besinnung nicht ableiten: Gerade seine metaphernreiche Sprache verdeutlicht in ihrem Beschwörungsgestus den tiefen Ernst, der seine Argumentation bestimmt. Die Aporien des Textes lassen sich somit als Ausdruck einer 77 78

79 80

Ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 149: »Ich betrete hier das Land mit zwei Gefährten, es sind Archäologen. Der eine ist ein junger Franzose, der andere ein Tscheche, den ich sonst wohl überall als einen Deutschen angesprochen haben würde, der aber vorgibt, nur französisch zu verstehen. Nun gut, er genießt die Gastfreundschaft der französischen Schule, wir sprechen französisch.« Vgl. ebd., S. 162: »Der Augenblick, der jeden nötigt, in seiner Sprache Namen und Heimat in dieses Buch zu schreiben, ruft jene stille Entfremdung wieder hervor, die uns ohne Sorge und Bedauern, doch freundlich voneinander scheiden läßt.« Ebd., S. 162f. An anderer Stelle geht Paquet so weit, Wien als neues geistiges Zentrum vorzuschlagen, von dem aus eine geistige Erneuerung und Einigung Europas erfolgen könne, weil dort die Verständigung zwischen Deutschen und Slawen beginnen könne. Vgl. ebd., S. 235f.

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tiefen Ratlosigkeit auffassen. Zwar entfaltet Paquet am Beispiel der Antike Vorstellungen von Versöhnung und Völkerverständigung, etliche Signale deuten aber an, dass tiefer Pessimismus die angemessenere Haltung angesichts katastrophaler Zeitläufe wäre. Paquets Text weist disparate Züge auf: Utopische Konstrukte stehen in Kontrast zu seinen oftmals pessimistischen Äußerungen. Seine Gegenwartsanalyse führt zu gleichsam prophetischen Passagen, die das Schicksal Europas äußerst skeptisch beurteilen. Dagegen setzt er die Vorstellung der einenden Kraft des Rückbezugs auf die griechische Antike, den er allerdings nicht als museale Verehrung verwirklicht wissen möchte, sondern vielmehr als Auftrag, nun das zu realisieren, woran bereits die Griechen gescheitert seien, nämlich die Durchsetzung der Friedensidee. Alfons Paquets Stil changiert zwischen sachlicher Nüchternheit81 und spätexpressionistischem Pathos;82 sein Zeitund Reisebuch enthält journalistische, essayistische und hymnisch-prophetische Passagen. Auch wenn er sich auf Vorgänger wie Gerhart Hauptmann und Josef Ponten bezieht,83 setzt er doch den Reiseberichten der Vorkriegszeit etwas völlig Neues entgegen. Nicht mehr ästhetische Erfahrung steht im Vordergrund, nicht mehr Auslotung der eigenen Subjektivität und Kreativität, sondern das verzweifelte Ringen um Sinnstiftung angesichts der Katastrophenerfahrung des Ersten Weltkriegs. Die Delphische Wanderung enthält somit im Kern all die Merkmale, die für die Reiseberichte der Zwischenkriegszeit maßgeblich sind. Kein anderer Text über Griechenland hat die Verzweiflung über menschliches Leid in vergleichbarer Weise zum Ausdruck gebracht. 2.2. Satirische Distanzierung. Victor Auburtin: Nach Delphi (1924) (mit einem Seitenblick auf Wilhelm II.) Während Alfons Paquet in seiner Delphischen Wanderung in hoher Stillage und zum Teil bewusst pathetisch die Situation Europas und insbesondere das Leid der Völker beklagt, verzichtet Victor Auburtin in seinem kurzen Reisebericht Nach Delphi,84 vollständig erschienen 1924, bewusst auf jegliches Pa81

82 83 84

Vgl. Alfons Paquet 1881–1944, S. 25. Die Einordnung von Paquets Schreiben in den Kontext der Neuen Sachlichkeit geht zumindest für die Delphische Wanderung fehl. Vgl. Korn, »Alfons Paquet«, S. 128. Vgl. Paquet, Delphische Wanderung, S. 106, S. 109. Victor Auburtin, Nach Delphi, München 1924. – Vgl. Dorota Tomczuk, Das Paradigma des Lebens im feuilletonistischen Werk Victor Auburtins und Alfred Polgars, Lublin 2008; Christiane Zauner-Schneider, Die Kunst zu balancieren. Berlin – Paris. Victor Auburtins und Franz Hessels deutsch-französische Wahrnehmungen, Heidelberg 2006.

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thos. Er stellt der Tradition emphatischer Bedeutungszuschreibungen einen im Plauderton gehaltenen Text entgegen, der trotz dieser Leichtigkeit entschieden gegen Militarismus und Chauvinismus Position bezieht und dabei insbesondere Wilhelm II. der Lächerlichkeit preisgibt. Der kleine Band versammelt Reiseskizzen, die zunächst im Berliner Tageblatt publiziert wurden und die Eindrücke einer Reise vom Beginn des Jahres 1924 verarbeiten.85 Anders als die Ähnlichkeit der Titel vermuten ließe, geht es ihm nicht um eine umfassende Sinnsuche. Trotz zahlreicher inhaltlicher Entsprechungen zu Paquets Delphischer Wanderung unterscheidet er sich von dieser doch in bezeichnender Weise: Er ironisiert die Gegenwart, ohne diese dadurch zu verharmlosen. Vielmehr erscheint der Humor als ein Mittel zur Distanzierung von offenkundigen Missständen. Selbstironisch reflektiert Auburtin seine Verpflichtung, den daheim gebliebenen Zeitungslesern immer neue Eindrücke zu schildern. Seine Reise unterliegt dem Zwang, ständig neue Eindrücke zu sammeln und diese zu Papier zu bringen: Ginge es nach mir, so bliebe ich den ganzen Tag – die Essenszeiten natürlich ausgenommen – an meinem Fenster sitzen und betrachtete diese vier Dinge: den Berg, die Sonne, den Tempel und den Taubenschwarm, die meinem Tagesbedarf durchaus genügen würden. Aber es geht nicht nach mir, sondern nach dem Leser, der einen Artikel über Eleusis wünscht. Und unten wiehert schon das Automobil.86

Dieser humoristische Grundton wird insbesondere im Vergleich mit zeitgenössischen Autoren wie Alfons Paquet und Hans Börger deutlich.87 Wie sie 85

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Vgl. Tomczuk, Das Paradigma des Lebens im feuilletonistischen Werk Victor Auburtins und Alfred Polgars, S. 114. Auburtin beschreibt seine Reise von der Überquerung des Brenners bis zum Besuch Delphis; die Heimreise wird nicht thematisiert. Auburtin, Nach Delphi, S. 30f. Auch der Archäologe Hans Börger reflektiert in seinem Reisebericht Griechische Reisetage die besondere Situation des im Ausland reisenden Deutschen. Aus nationalkonservativer Perspektive genießt er jede erhebende Reminiszenz an die Heimat, wie sie etwa die Besichtigung von Mistra nahe legt: »Zum zweiten Male übermannt uns das wundersame Gefühl des geistigen Zu-Hause-Seins, das uns schon im Alpheiostal überkam, und mit Stolz empfinden wir, trotz Schmach und Niederlage, unser Deutschtum.« (Hans Börger, Griechische Reisetage, Hamburg 1925, S. 80) Die Beschäftigung mit der Antike wird für Börger zu einer Möglichkeit, die Gräben zwischen den Nationen zu überwinden, wobei er an keiner Stelle den Standpunkt eines nationalistisch gesinnten Deutschen aufgibt, für den die Niederlage vor allen Dingen schmachvoll und beschämend ist: »›Im Reiche des Gedankens gehen alle Schlagbäume billig in die Höhe‹, hat einmal Jakob Burckhardt gesagt, und so reichen wir uns denn in gemeinsamer Begeisterung für das grie-

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beschreibt Auburtin die isolierte Stellung des Deutschen im Ausland. Diese wird angesichts der Begegnung mit einer Gruppe von Engländern deutlich, die ganz offenkundig den allein reisenden Deutschen ausgrenzen. Anders aber als die genannten Zeitgenossen findet sich in Auburtins Schilderung keinerlei Bitterkeit, im Gegenteil, er zieht die Situation ins Komische: Während dieser Zeit kann ich einsamer Deutscher kennen lernen, wie es der Atmosphäre zumute zu sein pflegt. Ich bin Luft. Stickstoff, Sauerstoff, Argon und Kohlensäure; alle Blicke gehen durch mich hindurch.88

Alle Versuche, die Aufmerksamkeit der Engländer auf sich zu ziehen, sind zum Scheitern verurteilt. Allerdings hat diese Isolation auch etwas Positives an sich: »So ist man wenigstens sicher, angesichts des Berges Athos nicht in ein Gespräch über die Rentenmark verwickelt zu sein.«89 Anders als für Paquet ist für ihn die Reise auch eine Möglichkeit, sich von den deutschen Zuständen zu distanzieren und Abstand zu den Alltagsproblemen zu gewinnen. Indem er die Gesellschaft abweisender Engländer der aufdringlicher Deutscher vorzieht, verdeutlicht Auburtin, dass sein Text die Identitätssuche wesentlich distanzierter behandelt, als dies insbesondere bei Paquet der Fall war, der sich als Repräsentant eines leidenden Volks betrachtete. Für Victor Auburtin liegen die Ursache der Katastrophe auf der Hand: Militarismus und Nationalismus, personifiziert durch Kaiser Wilhelm II., sind für ihn die Gründe für die deutsche Misere. So gerät der Reisebericht unter der Hand zu einer bitteren Abrechnung mit dem Wilhelminismus und nationalistischen und völkischen Tendenzen, die Auburtin als dessen Fortsetzung begreift. Die Stoßrichtung gegen autoritäre und chauvinistische Strukturen führt an etlichen Stellen dazu, dass der plaudernde Gestus satirischen Überspitzungen weicht. Auburtin bemerkt auf Korfu, dass es mit dem Tourismus nicht zum Besten stehe, und erklärt dies durch die widrigen Zeitumstände, nicht zuletzt durch die Interventionen Mussolinis.90 Als ein An-

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chische Altertum versöhnlich die Hände, trotz Weltkrieg und Nordschleswig.« (Ebd., S. 83). Auburtin, Nach Delphi, S. 44. Ebd. – Vgl. auch die Beschreibung eines im Vergleich mit den Schiffen anderer Nationen kleinen deutschen Dampfers: Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 14: »Man kann es etwa so erklären: Korfu ist in diesen Jahrzehnten etwas mitgenommen worden. Erst die tragische Elisabeth; dann Wilhelm; der Krieg und seine Lazarette und Konzentrationslager; und jetzt fuhrwerkte Mussolini mit seinen Bersaglieri hinein … für das geplante Pokerkasino liegt Korfu vorläufig zu sehr mitten auf der Kegelbahn.« Vom 31. August bis zum 29. September 1923 war Korfu von Italien besetzt; die griechische Regierung zahlte 50 Millionen Lire an

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sichtskartenhändler an diesem ehemaligen Urlaubsort von Kaiser Wilhelm II. versucht, die patriotischen Gefühle des Erzählers zu wecken, ruft er eine ungeahnte Reaktion hervor: »Vielleicht kommt Ihr Kaiser wieder her«, sagt er. Er wollte mein Herz gewinnen; aber ich habe ihm nun erst recht keine Karte abgekauft; und Korfu kennt nun die Gesinnung des deutschen Volkes.91

Diese Abwehrreaktion verdeutlicht die Tendenz von Auburtins Text. Allerdings handelt es sich um Wunschdenken, wenn der Erzähler seine Ablehnung des abgedankten Kaisers als typisch für die »Gesinnung des deutschen Volkes«92 bezeichnet. Wilhelm II. erscheint bei Victor Auburtin als Prototyp des grobschlächtigen Teutonen, der sich vor allem durch Überheblichkeit und Instinktlosigkeit auszeichnet, etwa wenn er aus offensichtlicher Unkenntnis alle Griechen pauschal beleidigt, indem er sie als Kriminelle bezeichnet: Als Wilhelm II. – an dem, wie er selbst berichtet, alles groß war – als Wilhelm im Hafen des Piräus landete, sprach er mit tönender Stimme zu den Herren seines Stabes: »Meine Herren, halten Sie jetzt die Taschen fest zu, Sie gehen in das Land der Diebe.« Er sprach das mit tönender Stimme in Gegenwart der griechischen Minister, so daß diese es hören konnten. Denn unter seinen vielen großen Eigenschaften war das Zartgefühl besonders stark entwickelt.93

Taktlosigkeit geht einher mit der unreflektierten Verbreitung von Vorurteilen. Tatsächlich bemüht sich Auburtin im Folgenden, die negativen Beurteilungen der modernen Griechen entschieden zurückzuweisen und die deutsche, durch Wilhelm II. repräsentierte Großmannssucht zurechtzurücken.94 Es mag wie ein Kuriosum wirken, dass auch der hier gescholtene Wilhelm II. ein Buch über Griechenland publizierte. Seine 1924, im selben Jahr also wie Auburtins Reisebericht, erschienenen Erinnerungen an Korfu bilden eine aufschlussreiche Ergänzung zu der Polemik Auburtins.95 Wilhelms Er-

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Mussolini, um die Insel zurückzuerlangen. Vgl. Art. »Corfu Crisis«, in: Frank J. Coppa (Hrsg.), Dictionary of Modern Italian History, Westport 1985, S. 93. Auburtin, Nach Delphi, S. 14f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 40: »Diese Ermahnung [nicht auf Deutsch zu schimpfen] ist ganz ausgezeichnet. Sie ließe sich aber insofern ergänzen, daß weder auf deutsch, noch auf griechisch, noch in einer anderen Sprache geschimpft werden sollte. Erstens gibt es nichts zu schimpfen bei diesem geistreichen und gastlichen Volke. Zweitens sind wir Deutsche im Ausland nun allmählich beliebt genug.« Vgl. Kaiser Wilhelm II., Erinnerungen an Korfu, Berlin/Leipzig 1924.

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innerungsbuch bietet entlarvende Einblicke in die Innenwelt des Monarchen, der seine Zeit auf Korfu neben Holzhacken96 mit Ausflügen, Regierungsgeschäften und archäologischen Unternehmungen verbrachte. Er inszeniert sich als deutscher Patriarch. Bezeichnenderweise spricht er von sich zumeist in der dritten Person als »Schloßherr«97 des Achilleions. Der griechischen Bevölkerung gegenüber tritt Wilhelm mit kolonialistischem und didaktischem Gestus auf, wenn er etwa den einheimischen Frauen wertlosen Tand schenkt: Unterwegs kommt es oft vor, daß einzelne Frauen oder Mädchen oder auch Gruppen von Kindern kleine Blumensträuße überreichen. Dann greift der Schloßherr des Achilleions in die Tasche, und Filigranknöpfe oder eine Brosche, Ohrringe oder ein Kettlein werden zum Austausch geschenkt; nie aber Geld, um den Leuten nicht das Betteln anzugewöhnen, wie es einem so abstoßend in Italien entgegentritt.98

Die liebenswürdige und gastfreundliche Bevölkerung hat allerdings, so Wilhelm, ein großes Problem, nämlich mangelhafte Körperhygiene. Auch hier greift der Monarch tatkräftig ein, indem er ihnen deutsche Seife schenkt und versucht, sie zum regelmäßigen Gebrauch derselben zu animieren: Vor und um die Osterzeit wurde den Korfioten eine andere, sehr nötige und nützliche Gabe zuteil. Die Göttin des Waschens und der Sauberkeit wird von ihnen nicht sehr geehrt. Besonders die Kinder starren hin und wieder von Schmutz. Die Sonne, die große Bazillentöterin, muß für alles sorgen. Um dieser nun die Arbeit zu erleichtern und die Korfioten zur Mitwirkung anzuspornen, hatte ich aus Berlin einige tausend hölzerne Ostereier mitgebracht, die Eier aus Seife enthielten.99

Wilhelms Ostergeschenk an die Korfioten demonstriert seinen überheblichen und pädagogischen Gestus gegenüber den einheimischen Griechen, die ansonsten hauptsächlich als volkstümliche, malerische Staffage erwähnt werden, etwa wenn sie volkstümliche Tänze aufführen. Die Realitätsferne und der pedantische, selbstherrliche Gestus von Wilhelms Text und nicht zuletzt die deutlichen kolonialistischen Untertöne bestätigen in erschreckender Weise Auburtins reflexhafte Ablehnung des entthronten deutschen Kaisers. Dessen phrasengesättigte Erinnerungen an Korfu verdeutlichen im Kleinen all das, wogegen sich Auburtin wendet.

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Vgl. ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 35: »Jetzt hielt hier jeden Sonntag der Schloßherr für seine ganze Hausgemeinde, Herrschaften, Beamte, Diener und Hauspersonal, in alter deutscher patriarchalischer Weise den Gottesdienst ab.« Ebd., S. 55f. Ebd., S. 56.

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Auburtins Reflexionen über die Antike sind ohne den zeitgenössischen Rahmen in ihrem provokanten Gestus kaum zu verstehen.100 So wendet er sich entschieden gegen jegliche Art von unreflektierter Schwärmerei angesichts der griechischen Monumente. Vielmehr möchte er erkunden, was genau die Gefühle sind, die etwa der Parthenon hervorruft.101 Erstaunt, geradezu enttäuscht muss der Erzähler konstatieren, dass der begeisterte, hoffnungsvolle »Taumel«102 des Aufstiegs angesichts des Tempels rasch verfliegt: »Aber wie ich nun davor stand, wurde alles still und rein; fast kalt.«103 Diese Kälte allerdings wendet der Erzähler sofort ins Positive. An der Schönheit des Parthenon bestehe kein Zweifel, seine Wirkung auf den Betrachter sei beruhigend und ordnend, damit aber eben alles andere als ekstatisch: Man empfinde »das deutliche, fast körperliche Gefühl, daß sich da im Innern etwas legt und beruhigt und anders wird«.104 Diese Wirkung erklärt sich für Auburtin dadurch, dass der Parthenon Ausdruck reiner Vernunft sei. Er verbindet diesen Gedanken mit einer für seinen Stil symptomatischen Würdigung der Göttin Athene: Es ist nicht allein die Harmonie der Linie, es ist der Geist der Gottheit, die hier wohnte, und die der Künstler und das Volk durch diese klare geheimnislose Harmonie zu ehren gedachte: Athene, dieser Backfisch; die lanzentragende Göttin der Vernunft.105

Dieser Vernunftkult ist, so Auburtin, nützlich und sinnvoll, er vermag allerdings kaum, den Betrachter zu affizieren. Es sei »mehr eine kommunale Angelegenheit, als ein Objekt des Gemütes«.106 Mit dieser Sichtweise wendet sich Auburtin gegen die lange Reihe von quasi-religiöser Griechenverehrung, die insbesondere auf der Akropolis einen Kristallisationspunkt fand. Wenn er explizit Byron und Ernest Renan nennt,107 so wird deutlich, gegen welche Art von Literatur sich seine neoklassizistisch anmutenden, leicht 100

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Vgl. Wilhelms eklektisches Antikebild, ebd., S. 16: »Staunende Ausrufe, klassische Zitate werden laut, und helle, freudige Begeisterung leuchtet aus allen Blicken ob dieses Paradieses mit seiner Stille und seiner Farbensymphonie. Das ist Griechenland! Das ist die klassische Schönheit! Hier schreitet der mächtige Geist der ewig-jungen, nie zu übertreffenden edlen Antike unmittelbar neben uns her!« Vgl. Auburtin, Nach Delphi, S. 18: »Außerordentlich neugierig war ich nun darauf, welches das erste Gefühl beim Anblick dieses berühmten Parthenontempels sein würde.« Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd. Vgl. ebd., S. 19.

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überspitzten Ausführungen wenden. Anders aber als Hugo von Hofmannsthal, der in ähnlicher Weise die Fragwürdigkeit von identifikatorischer Traditionsaneignung offen legte,108 kompensiert Victor Auburtin diesen vermeintlichen Verlust nicht. Er erteilt Autosuggestionen jeglicher Art eine entschiedene Absage. Gerade die rationalistische Geheimnislosigkeit der griechischen Kultur macht diese attraktiv und zu einem geeigneten Anknüpfungspunkt für die Modernen. So ist auch sein Fazit nicht als bedauernde Absage an eine Tradition, sondern vielmehr als Hoffnung auf einen nicht unreflektiert emotional, sondern rational begründeten Neubeginn zu verstehen: »Wer sich hier in eine künstliche Ekstase hineinredet, der weiß nicht, wo er steht.«109 Überhaupt macht Auburtin den übertriebenen Projektionsgestus lächerlich, der viele Texte über Reisen bestimmt. Am Beispiel eines gebratenen Tintenfischs diskutiert er dieses Problem und kommt zu dem Ergebnis, dass das, was man während einer Reise als außergewöhnlich erlebe, zumeist nur Folge eigenen Wunschdenkens sei: Der Tintenfisch schmeckt nach gar nichts und liegt mir drei Stunden lang im Magen. Aber es kommt auf die Idee an; auf die Idee, einen Tintenfisch aus dem Ägäischen Meer im Magen zu haben.110

Auburtin richtet sich in ironischer Weise gegen den Versuch, die Realität idealistischen Schwärmereien anzupassen. Vor dem Hintergrund dieser ironischen Spitzen sind auch seine Ausführungen über den Besuch bedeutender klassischer Stätten zu lesen: Wer sich einmal dieses Mechanismus bewusst geworden ist, kann nicht mehr schwärmerisch genießen. So rät Auburtin von dem Besuch der Demeter-Kultstätte von Eleusis entschieden ab: Jedem, der hierher kommt, sei geraten, die Tour nach Eleusis, die leicht und bequem auszuführen ist, nicht zu machen. Er wird mir für meinen Rat dankbar sein und mit einer reineren Erinnerung nach Hause zurückkehren.111

Autopsie sei in diesem Fall sinnlose Zeitverschwendung, da es zum einen nichts zu sehen gebe112 und zum anderen die Umgebung außergewöhnlich hässlich sei.113 So sei der Daheimgebliebene im Vorteil, dessen Ideal nicht durch die Begegnung mit der Wirklichkeit beschädigt worden sei: »Der Oberlehrer, der im Gymnasium von Pirna seinen Obersekundanern in säch108 109 110 111 112 113

Vgl. Kapitel I dieser Arbeit. Auburtin, Nach Delphi, S. 20. Ebd., S. 25. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 32.

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sischer Sprache von Eleusis erzählt, ist dieser Stadt näher als der Tourist, der sich in ihr selbst befindet.«114 Den gescheiterten touristischen Ruinenbesichtigungen stellt Auburtin das Erlebnis erfüllter Augenblicke entgegen, die nicht unbedingt etwas mit der Antike zu tun haben müssen. Essen und Trinken, Kontakt mit den (positiv gezeichneten) Griechen wiegen falsche Ergriffenheit und gemachtes Pathos für ihn mühelos auf, wobei dennoch an einigen Bemerkungen deutlich wird, dass die griechische Antike keinesfalls bedeutungslos geworden ist. Dazu gehören eine knappe Würdigung der Leistungen Heinrich Schliemanns, der die griechische Archaik ins Bewusstsein der Gebildeten gerückt habe,115 und insbesondere eine ironische, bitterböse Diskussion der Rassenzugehörigkeit der alten Griechen. Auburtin persifliert hier die Geschichtsbetrachtung unter rassistischen Vorzeichen, die im 19. Jahrhundert einsetzte und im Dritten Reich ihren unrühmlichen Höhepunkt erleben sollte. In den 1920er Jahren befand sie sich auf dem Vormarsch, auch wenn sie im akademischen Bereich noch eine eher randständige Position einnahm.116 Auburtin nutzt die Reflexion über die Schlacht von Marathon zu einer satirischen Abrechnung mit diesen Auffassungen. Zunächst folgt er scheinbar den gängigen Mustern der Geschichtsbetrachtung, indem er konstatiert, dass selbst er, ein überzeugter Pazifist, sich enthusiastisch am Kampf gegen die Perser beteiligt hätte. Ihre Brisanz gewinnt diese Aussage dadurch, dass Auburtin die Perser mit preußischen Militaristen gleichsetzt: Weiß Gott, ich bin ein Pazifist von allen Graden, und wenn es nach mir ginge, würden alle Streitfragen der Völker feuilletonistisch erledigt, was sehr wohl möglich wäre. Aber bei Marathon hätte ich mitgefochten. Immer hineingehauen in die persischen Monokelvisagen!117

Die Perser erscheinen in Auburtins Perspektive als Verkörperungen des preußischen Junkertums.118 Ihre »Monokelvisagen« verweisen deutlich auf 114 115

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Ebd., S. 31. Vgl. Auburtin, Nach Delphi, S. 60: »Deshalb Heil dir, deutsches Sonntagskind Schliemann, das du, wie im Traum und allen neuesten Ergebnissen der Wissenschaft zum Trotz, uns das wahre Altertum gefunden hast; das wilde Altertum, das ganz und gar unklassische, das bunte und dämonische.« Vgl. Horst Seidler, »Einige Bemerkungen zur sogenannten Rassenkunde unter besonderer Berücksichtigung der deutschsprachigen Anthropologie«, in: Holger Preuschoft/Ulrich Kattmann (Hrsg.), Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, Oldenburg 1992, S. 75–102. Auburtin, Nach Delphi, S. 53. Dorota Tomczuk verkennt die Spitze gegen reaktionäre Tendenzen der Gegenwart. Vgl. Tomczuk, Das Paradigma des Lebens im feuilletonistischen Werk Victor

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deutschen Militarismus. Auburtin macht hier keineswegs halt. Die eigentliche Pointe liegt darin, dass er gerade die Affinität der neueren völkischen Forschung zu den Persern herausstellt: Besonders die völkischen Historiker, die mit der Rassentheorie und den Langschädeln, die haben für die Perser sehr viel übrig. Mit den Athenern, die schwarze Haare hatten, weiß man weniger etwas anzufangen.119

Zugleich macht Auburtin diese Methoden lächerlich, die etwa die pseudowissenschaftlichen Abhandlungen von Hans F. K. Günther kennzeichnen,120 indem er die vermeintlich undeutschen Eigenschaften der Athener – Rationalität, Intelligenz, künstlerische Neigungen, Vorliebe für Demokratie – als Indizien für deren mögliche jüdische Herkunft heranzieht: Die Athener gelten ja, bis auf weitere Forschungsergebnisse, ebenfalls für Arier; aber ihre verdächtige geistige Regsamkeit läßt vermuten, daß sie in der Rasse nicht ganz rein gewesen sind. Sie hatten eine dekadente Neigung für Kunst und für Literatur; und zwar für belletristische, nicht für fachwissenschaftliche Literatur. Sie waren Demokraten und Republikaner; sollten sie nicht etwa …?121

Diese Zweifel kulminieren in der Forderung, endlich solle jemand diesen Indizien nachgehen und diesen Verdacht erhärten. Auburtin persifliert die hauptsächlich assoziative Methodik der völkischen Historiker. Dass er ihre Methode mit Geschichtsphilosophie gleichsetzt, verdeutlicht wiederum, dass er ihr Vorgehen für rein spekulativ und zutiefst unwissenschaftlich hält: Wann endlich kommt ein Geschichtsphilosoph, um uns zu beweisen, daß die Athener Juden gewesen sind. Sie sind von den Phöniziern kolonisiert worden; ihre Schrift ist aus dem Hebräischen übernommen. Und sie hatten so komische Namen: Aristoteles, Sophokeles, Perikeles …122

Hier wendet sich Auburtin – insbesondere durch die falsche Namensschreibung – ironisch sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen rassistische Geschichtsbetrachtung. Zugleich stellt er die Fragwürdigkeit der deutschen Idee einer Sonderbeziehung zwischen griechischem und deutschem Geist

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Auburtins und Alfred Polgars, S. 121: »Die Atmosphäre dieses Ortes einerseits und andererseits die oft ausgedrückte Sympathie für die Griechen sind sogar imstande, den durchaus pazifistisch eingestellten Auburtin zur Änderung seiner Ansichten, die jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnen und den Verzicht auf Rüstung fordern, zu bringen«. Auburtin, Nach Delphi, S. 54. Vgl. zur völkischen Geschichtsbetrachtung Kapitel III dieser Arbeit. Auburtin, Nach Delphi, S. 54. Ebd.

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heraus, zeichnen sich die alten Griechen doch durch Tugenden aus, die im konservativen Diskurs schlechterdings als undeutsch gelten. Victor Auburtins Text ist skizzenhaft gehalten. Anders als Alfons Paquet geht es ihm nicht um die Lösung großer Probleme. Unter Verzicht auf jegliche Larmoyanz rechnet er in leichtem Ton mit dem deutschen Konservativismus ebenso ab wie mit philiströsen Touristen, die vorgeben, auf der Suche nach dem Ideal zu sein, aber tatsächlich rein materialistisch orientiert sind.123 Er wendet sich entschieden gegen Militarismus und Nationalismus; für ihn bemisst sich die Größe und Bedeutung eines Volkes an seiner Kunstproduktion: »Denn nicht die politische Tat, noch der wirtschaftliche Gewinn, sondern der Vers und die Bildsäule sind die gültige Leistung einer Epoche.«124 Gerade die Griechen könnten hierin vorbildhaft wirken. Die Reise selbst ermöglicht über die konkrete Auseinandersetzung mit dem antiken Griechenland hinaus eine Begegnung mit Neuem und Unbekanntem,125 anthropologisches Interesse ist stärker als Antikebegeisterung. Programmatischer Gegenwartsbezug und satirische Distanzierung kennzeichnen den Text, der gerade im Kontext der zahlreichen Reiseberichte über Griechenland, die in weihevollem Gestus Einheitsfantasien zelebrieren, als gezielte Provokation zu lesen ist. Es ist wenig ergiebig, Auburtins leichten Ton im Vergleich mit Paquets Text abzuwerten und ihm »platte[n] Feuilletonismus«126 zu unterstellen. Vielmehr liegt gerade in dieser Leichtigkeit die besondere Qualität von Auburtins Reisebericht, der auf diese Weise unter Anschluss an Traditionen der Vorkriegsjahre und Gattungskonventionen 123

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Vgl. ebd., S. 5f.: »Chor der Pilger im Speisewagen: ›Man muß es immer mit 198 dividieren.‹ ›Ober, wieviel österreichische Kronen geben Sie für zehn Rentenmark?‹ – ›Ein englisches Pfund ist 97 Lire, ein Dollar 22,50 Lire.‹ – ›Wieviel machen denn eigentlich 850 durch 7½?‹ – ›Aber, lieber Herr, um Gottes willen nur niemals im Restaurant wechseln.‹ – ›Wenn Sie wirklich ein Geschäft machen wollen, dann rate ich Ihnen …‹« Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 40: »Bemerkungen wie: ›Ist ja alles ganz schön, aber mir fehlt mein deutscher Hochwald‹, solche Bemerkungen, die der völkische Wanderer liebt, sind auf der Akropolis besser zu unterlassen. / Vielmehr die kurzen Tage sich ganz der Fremde anzuvertrauen, das wäre mein Rat. Und sich freuen, daß es noch etwas anderes gibt auf dieser Welt.« Pessentheiner, Die Reisebeschreibung im Expressionismus, S. 128: »Wirft man zum Vergleich einen Blick auf Victor Auburtins Reisebuch ›Nach Delphi‹ (1924), in dem in impressionistischer Manier belanglose Reiseeindrücke und überflüssige Reflexionen aneinandergereiht werden, so verblaßt dieser platte Feuilletonismus neben den mehrschichtigen, symbolträchtigen Dichtungen Däublers oder Paquets völlig.«

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des Feuilletons den Horizont auf eine entlastende Ironisierung hin weitet.127 Auburtins Texte stellen »trotz ihres Feuilleton-Plauderstils reflexive Beiträge zu wichtigen Fragen und Problemen der Zeit«128 dar. Dies wird insbesondere an seiner Abrechnung mit Wilhelminismus und Rassismus deutlich. Mit seinem bewussten Verzicht auf Pathos und der programmatischen ironischen Depotenzierung unterläuft Auburtin provokativ Konventionen des Schreibens über Griechenland: Sein Ziel ist die distanzierte Reflexion, nicht die emphatische Aneignung. 2.3. Nüchterne Analyse. Bernhard Guttmann: Tage in Hellas (1924) Auch Bernhard Guttmann richtet den Blick vor allem auf die griechische Gegenwart. Anders als Auburtin verzichtet er auf humoristische Zutaten; auch das Pathos Alfons Paquets ist ihm fremd. Kennzeichnend für seinen 1924 publizierten Reisebericht Tage in Hellas. Blätter von einer Reise129 – Teile erschienen vorab in der Frankfurter Zeitung, deren Berliner Redaktion Guttmann von 1920 bis 1930 leitete – ist größtmögliche Nüchternheit. Er bietet eine der Reportage angenäherte, soziologisch orientierte Betrachtung des 127

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Vgl. Ulrich Puschel, »Feuilleton«, in: Klaus Weimar u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin/New York 1997–2003, Bd. 1, S. 584–587. – Vgl. auch den Reisebericht von Ludwig Hevesi, der deutliche Ähnlichkeiten mit Auburtins Strategie der Komisierung aufweist, allerdings ohne die politische Stoßrichtung: Ludwig Hevesi, Sonne Homers. Heitere Fahrten durch Griechenland und Sizilien 1902–1904, Stuttgart 1905. Zauner-Schneider, Die Kunst zu balancieren, S. 11. Bernhard Guttmann, Tage in Hellas. Blätter von einer Reise, Frankfurt am Main 1924. – Bernhard Guttmann reiste im Spätsommer 1923 (kurz vor Victor Auburtin) über Italien nach Griechenland, einer Zeit, die von politischen Unruhen bestimmt war. Vgl. Vakalopoulos, Griechische Geschichte, S. 204f. Mussolini hatte am 31. August 1923 Korfu besetzt. Guttmann reist also unter erschwerten Bedingungen – so ist zunächst unklar, ob er überhaupt von Venedig nach Korfu gelangen kann (vgl. Guttmann, Tage in Hellas, S. 17). – Vgl. Robert Haerdter, »Bernhard Guttmann«, in: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Journalisten über Journalisten, München 1980, S. 150–160; Mark Siemons, »Bernhard Guttmann«, in: Walther Killy (Hrsg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, 15 Bde., Gütersloh/ München 1988–1993, Bd. 4, S. 436; Dolf Sternberger, »Bernhard Guttmann zum Gedächtnis«, in: Ders., Gang zwischen Meistern (Schriften; 8), Frankfurt am Main 1987, S. 327–338; Johannes Werner, »Bernhard Guttmann. Erinnerung an einen Vergessenen«, in: Aus dem Antiquariat 2/2003, S. 125–130. Der jüdische Historiker und Journalist Guttmann befasste sich hauptsächlich mit der Entwicklung des Liberalismus. In prägnanten Analysen skizzierte er etwa in der im Jahr seiner Griechenland-Reise erschienenen Darstellung England im Zeitalter der bürgerlichen Reform einen Weg der organischen Veränderung politischer Verhältnisse.

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modernen Griechenlands. Reisebeschreibungen im engeren Sinn wechseln sich mit soziologischen und historischen Exkursen ab. Ein Anhang fasst die jüngste Geschichte Griechenlands zusammen. Insbesondere beleuchtet der Historiker und Journalist äußerst kritisch die Rolle der europäischen Großmächte im Zusammenhang mit der kleinasiatischen Katastrophe. Sein starkes Interesse für die Zeitgeschichte und die griechische Gegenwart unterscheidet seinen Text von nahezu allen anderen in dieser Arbeit interpretierten Reiseberichten. Er bietet eine Bestandsaufnahme griechischer Zustände, die pessimistisch ausfällt: »Aus dem zertrümmerten Europa nach Hellas kommend, findet der Wanderer ein Land, das eine Ruine vernichteten großen Lebens ist.«130 Das hohe Reflexionsniveau des Textes wird daran deutlich, dass Guttmann eingehend die geistige Strömung des Philhellenismus analysiert und so sein eigenes Schreiben über Griechenland in einem genau umrissenen Kontext verortet. Guttmann setzt mit der historischen Analyse des Phänomens durchaus überzeugend bereits bei dem römischen Kaiser Hadrian ein, der »die Verkörperung des leidenschaftlichen, von seiner Autosuggestion beherrschten Philhellenentums«131 gewesen sei. Guttmann zeigt deutlich den Projektionsgestus dieser emphatischen Griechenland-Liebe, konstatiert aber auch, sie sei beinahe schon Vergangenheit.132 Zudem beschreibt er äußerst kritisch die zumeist negativen Folgen des Philhellenismus für die Griechen, obwohl diese der internationalen Begeisterung für den Freiheitskampf den Sieg über die türkischen Herrscher zu verdanken hätten: »Trotzdem ist es zweifelhaft, ob der Philhellenismus alles in allem ein Glück für das Volk war; ich habe Griechen gesprochen, die es nicht glauben.«133 Dies hänge damit zusammen, dass die modernen Griechen mit der Last ihrer großen Vergangenheit einerseits überfordert seien und andererseits übertriebene Ansprüche damit begründeten.134 Der Philhellenismus ist somit, so Guttmann, schädlich sowohl für die Griechen als auch für die Besucher Griechenlands, führt er doch bei beiden zu Realitätsverlust und illusorischen Vorstellungen. So sei gerade der permanente Bezug auf die Antike dafür verantwortlich, das eigentliche Geschichtsempfinden in Griechenland zu zerstören bzw. zu 130 131 132

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Guttmann, Tage in Hellas, S. 177. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 100f.: »Heute ist dieser Traum, der Europa in einer edelmütigen Wallung vereinte, fast vergessen. Vor hundert Jahren war in Deutschland, Frankreich und England beinahe jeder gebildete und liberale Mann ein feuriger Freund Griechenlands.« Ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 101f.

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korrumpieren, indem etwa das griechische Mittelalter und die Zeit der Türkenherrschaft aus dem Gedächtnis getilgt würden: Es ist die gleiche archäologische Tyrannei, die nach der Befreiung viele fränkische und türkische Bauten im Lande zerstört hat und noch jetzt Ortschaften ihre tausend Jahre alten Namen wegnimmt, um den Bewohnern dreitausend Jahre alte, niemals gehörte aufzuzwingen; das Mittelalter wird in Griechenland amtlich nicht geduldet.135

Diese Reduktion auf die eine große Vergangenheit wirkt allerdings fragwürdig, bedenkt man, dass – so Guttmann – die meisten Griechen dennoch kein besonderes Verhältnis zur Antike hätten, ja dieser Epoche ebenso wie dem Mittelalter fremd gegenüberstünden.136 Insgesamt lassen diese Beobachtungen den Schluss zu, dass gerade der Versuch, die nationale Geschichte zu vereinheitlichen und Traditionen zu stiften, im Falle Griechenlands den gegenteiligen Effekt nach sich zieht, indem er tatsächlich zu völliger Entwurzelung führt. Dieser Effekt lässt sich auch an dem ausschließlichen Rückbezug auf die Sprache der klassischen Antike beobachten, den Guttmann äußerst kritisch betrachtet und als »großes Hemmnis für die griechische Bildung«137 ansieht. Auch in diesem Fall ist der forcierte Bezug auf die Antike lebensfeindlich und unproduktiv. Die Energie, die von solchen Diskussionen freigesetzt wird, scheint anderswo zu fehlen. So zeichnet Bernhard Guttmann Griechenland als ein Land, das noch weit hinter den europäischen Staaten zurückbleibt. Ausführlich analysiert er die soziale Gliederung der griechischen Gesellschaft, widmet sich Landwirtschaft, Handwerk und Militär138 und beschreibt die orthodoxe Religion,139 beschäftigt sich aber auch mit dem griechischen Judentum.140 Die Grundaussage seines Textes legt er einem Griechen in den Mund, der konstatiert: »›Ach, es entwickelt sich bei uns eigentlich nichts. Was da ist, ist da und es geht so weiter. […] Was wollen Sie? So ist es immer in die-

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Ebd., S. 136f. Vgl. ebd., S. 53: »Nur der Gebildete ist in der Antike zu Hause, nicht das griechische Volk, es betrachtet sie zwar mit Respekt, denn man hat ihm beigebracht, daß diese Steine ein großer Ruhm für das Land sind, doch machen sie keinen Teil des Erlebnisses der heutigen Nation aus. Aber auch was nach der Antike kam, ist dem Fühlen des einfachen Menschen nicht vertraut. Die Griechen sind das Volk ohne Mittelalter.« Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 110–113. Vgl. ebd., S. 127–130. Vgl. ebd., S. 173–176.

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sem Lande.‹«141 Auch Guttmann räumt ein: »Ich war trotz allem, was ich davon gelesen hatte, überrascht, ein so wenig entwickeltes Land zu finden.«142 Griechenland ist ebenso wie Europa von den Folgen des Krieges gebeutelt und vermag nicht mehr, den Reisenden von der dürftigen Gegenwart abzulenken. Dabei bestünde durchaus die Möglichkeit, gerade über den Tourismus Geld zu verdienen, doch offenbar fehlt den politisch Handelnden die nötige Weitsicht.143 Dieser bittere Befund ist die Quintessenz von Guttmanns GriechenlandErlebnis. Geprägt von Krieg und Parteienhass sind für ihn die Griechen letztlich selbst für die politischen und sozialen Missstände verantwortlich. Anstatt einer unwiederbringlich verlorenen Antike nachzutrauern, die keinerlei echten Bezug zum modernen Griechenland aufweist, sollten die Griechen laut Guttmann realisieren, dass ihr Land nicht zu Europa, sondern vielmehr zum Orient gehöre.144 Die mangelnde Einsicht in diese Tatsache ist neben den Kriegsfolgen für Guttmann für die zahllosen Fehlentwicklungen verantwortlich: Wenn aber das Beste im griechischen Charakter Erbteil des Orients ist, so erinnert an ihn auch die Schlaffheit und Gleichgültigkeit. Darum und wegen der unglücklichen politischen Zustände ist Griechenland zurückgeblieben.145

Diese politischen Umstände lassen sich auf die falsche Selbsteinschätzung der Griechen zurückführen, die sich als erbitterte Gegner der Türken begreifen, gleichsam als Vorhut des Abendlandes – eine Sichtweise, die gerade durch die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf die Rückgewinnung Konstantinopels für die griechische Politik verderbliche Folgen hatte: Den Griechen würde wohler werden, wenn sie sich darauf besännen, daß sie Orientalen sind und mit den anderen Orientvölkern leben müssen, anstatt ihren vortrefflichen Verstand mit spekulativen Hoffnungen zu betäuben.146

Eine derartige Völkerpsychologie wirkt in ihren Prämissen höchst fragwürdig. Guttmanns Ansatz ist aber dennoch fruchtbar, korrigiert er doch aufgrund der Betrachtung der Gegenwart philhellenische Illusionen, ohne deshalb in die üblichen Beschimpfungen der modernen Griechen zu verfallen, 141 142 143

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Ebd., S. 33. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 60f.: »Wenn Hellas überhaupt das Land weitsichtiger Anstrengungen wäre, so würde sich der Fremdenverkehr zu einer Quelle immerhin erheblichen Gewinns machen lassen.« So etwa ebd., S. 34, S. 138. Ebd., S. 58. Ebd., S. 169f.

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die er im Gegenteil durchaus positiv wertet.147 Dabei warnt Guttmann vor einer Überbewertung der Thesen Fallmerayers, wie er sich überhaupt gegen jegliche Form von »Rassenwahnsinn«148 wehrt. Die ironische Distanzierung gilt weniger den Überlegungen Fallmerayers – »Es ist bekannt genug, daß die Griechen in den peinlichen Verdacht geraten sind, gar keine Griechen zu sein.«149 – als vielmehr der Überbewertung der Kriterien von Blut und Vererbung, insbesondere der negativen Wertung von Völkermischung, die Guttmann im Gegenteil gerade für die erschöpften Griechen der Spätantike als notwendig ansieht.150 Insgesamt unterscheidet sich Guttmanns Fazit deutlich von den zahlreichen Versuchen, die modernen Griechen wegen ihrer zweifelhaften Herkunft abzuwerten. Die Frage nach ihrer Herkunft ist für die Gegenwart unerheblich, ja geradezu hinderlich: »Die Neugriechen mögen sein, was sie wollen oder mögen auch nicht sein, was sie durchaus sein wollen, für das heutige Leben ist die Deszendenzfrage gleichgültig.«151 Diese rationale Grundausrichtung von Guttmanns Text wird auch daran deutlich, dass der nüchtern analysierende Wissenschaftler keinem emphatischen Antikekult anhängt. Die Überreste der griechischen Bauten wecken vor allem melancholische Gefühle: Guttmann erklärt, man werde angesichts der Ruinen vor allem der Vergänglichkeit menschlicher Größe gewahr.152 Er markiert deutlich den Abstand, der ihn vom deutschen Philhellenismus trennt, wenn er eine Passage aus Hölderlins Fragment von Hyperion skeptisch kommentiert: Aus den Gräbern und Trümmern Griechenlands gehen keine heroischen Phantasien auf, auch nicht den heutigen Nachkommen der alten Bewohner. Vielmehr lähmt der Gedanke, daß so viel Geist und Kraft sich so zunichte machen konnte, den Aufschwung der Seele und die Stimmungen, die den Reisenden unter den Ruinen von Hellas am häufigsten befallen, sind melancholische Betrachtungen über die Vergeblichkeit der menschlichen Werke.153 147

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Vgl. etwa ebd., S. 165: »Wenn auch viele [der Flüchtlinge aus Kleinasien] an Krankheit und Mangel zu Grunde gehen müssen, im ganzen hat Griechenland die für seine Kräfte ungeheure Aufgabe, dieses ganze vertriebene Brudervolk aufzunehmen, vorzüglich erfüllt. Die Leistung gleicht vieles andere aus, was minder schätzbar ist.« Ebd., S. 166. Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 62. Ebd., S. 45.

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Eine identifikatorische Evokation des genius loci ist also für Guttmann nicht möglich. Statt Begeisterung verursachen die Überreste der griechischen Kultur nur noch ein Gefühl von Lähmung. Für ihn besteht ohnehin kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Antike und Gegenwart, der derlei Spekulationen rechtfertigen könnte. Auch die westlichen Reisenden hätten im Grunde nichts mit dem griechischen Erbe zu tun: In unsere Existenz aber ragt die uralte Stadt am Aegäischen Meere nicht mehr wirklich hinein, wir erblicken von ihr nur die Spiegelbilder der Kunst und Philosophie. Wenn sich der heutige Mensch umsieht, woher er als politisches Wesen kam, so führen alle Wege nach Rom zurück. Aber vom Hellenentum haben wir nur einen geistigen Reflex übrig, nichts zuständlich Erdhaftes.154

Durchdringungsfantasien, wie sie in der Literatur über Griechenland zuhauf anzutreffen sind, erteilt Guttmann somit eine klare Absage. Vielmehr sei die griechische Antike für die Modernen unwiederbringlich verloren. Lediglich im Bereich von Kunst und Kultur sei ein gewisser Bezug zu den griechischen Ursprüngen vorhanden, der allerdings rein geistig und für sich wenig lebenskräftig sei und der zudem kaum eine konkrete Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit der Menschen habe. Dieses Bewusstsein unüberbrückbarer Distanz führt zu einer gewissen Trauer. Guttmanns Sicht auf das antike Griechenland entbehrt nicht eines sentimentalischen Grundzugs. So betrachtet auch er die Reise nach Athen als Pilgerfahrt, stellt aber zugleich heraus, dass diese Einstellung nur mühsam erlangt werden kann: Man muß zu solchen Orten die Stimmung eines Pilgers mitbringen, der nicht kommt, um etwas Unbekanntes zu sehen, sondern schon weiß, der nur der Schwachheit der menschlichen Vorstellungsgabe durch äußeres Vergewissern nachhelfen will.155

Diese Vergewisserung ist allerdings nur bei entsprechender Vorprägung und nicht zuletzt dem Willen möglich, tatsächlich die Nähe der griechischen Kultur zu erfahren. Dann tut auch die Zerstörung der quasi-religiösen Begeisterung keinen Abbruch, handelt es sich laut Guttmann doch etwa beim Parthenon um »die schönste Ruine der Welt«,156 die wiederum die notwendige Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen ermögliche. Guttmann bewegt sich innerhalb klassischer humanistischer Vorstellungen, wenn er in der Akropolis die Erhöhung des Menschen ausgedrückt sieht.

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Ebd., S. 103. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48.

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Ganz anders ist der Eindruck, den die Ruinen von Tiryns und Mykene hervorrufen. Dass die Atmosphäre Mykenes als bedrückend und furchterregend geschildert wird, ist nicht ungewöhnlich.157 Originell allerdings ist Guttmanns Deutung des griechischen Mythos als Reflex feudaler Unterdrückungsverhältnisse. Er sieht Mykene vor allem als Zeugnis despotischer Regierung: »Ein harter Despotismus muß geherrscht haben, darauf deutet der gewaltige Goldreichtum, den die Dynasten besaßen und von dem sie noch ihren Toten so viel mitgeben konnten.«158 Dieser Reichtum wiederum wurde »den hörigen Bauern abgepreßt«,159 wie überhaupt die Bauten an sich auf Verhältnisse hindeuteten, in denen das Individuum nichts wert gewesen sei. Eine »fürchterliche Massenknechtschaft«160 sei Kennzeichen der griechischen Frühzeit gewesen. Die Unterdrückungsverhältnisse spiegelten sich, so Guttmann, in den griechischen Mythen wider, die den verhassten Herren ein unrühmliches Denkmal setzten: »Aus diesen dunklen Urzeiten her kam dem Griechenvolke der Haß gegen die Herren, die auf den Burgen sitzen und mit Gewappneten hervorbrechen, um Gewalttat zu üben.«161 Gerade der Atridenmythos könne so als Abrechnung der Unterdrückten gelesen werden: »Kinderfresser, Blutschänder, Gattenmörder, Muttermörder: So sieht das gepeinigte Volk die finsteren Könige auf dem Felsen.«162 Diese sozialgeschichtlich fundierte, bewusst antiheroische Mythendeutung tut alles, um die homerischen Helden zu entmystifizieren. Indem Guttmann sie als abschreckende Beispiele einer überwundenen grausamen Frühzeit zeichnet, wertet er zugleich implizit das klassische Griechenland auf, das eben diese Mythen insbesondere in der Tragödie gestaltete. Gegen die dominierenden archaisierenden Tendenzen setzt Guttmann also eine Fortschrittsgeschichte, die tatsächlich das klassische Griechenland als überlegene Kultur begreift. Doch auch hierbei liegen Guttmann jegliche Idealisierungen fern. So lehnt er sich bei seiner Wertung Delphis eng an Jacob Burckhardt an und 157

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Vgl. ebd., S. 75: »Es fällt nicht schwer, in diese grimmigen Ruinen in der wilden Einöde die grausen Mären vom Hause des Tantalos und Atreus hineinzudenken. Der Phylax will der Stimmung nachhelfen. […] Der Mann spricht gutgläubig; vielleicht haben sich junge Archäologen den Spaß erlaubt, ihm diese Geschichten zur Erbauung von Reisenden aus Chicago zu erzählen. Und doch sieht man sich um, ob aus dem Schacht der engen steinernen Treppe nicht ein Mörder heraufkriecht.« Ebd., S. 77. Ebd. Ebd. Ebd., S. 77f. Ebd., S. 78.

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zitiert dessen Griechische Kulturgeschichte, in der es heißt, Delphi sei »›das große monumentale Museum des Hasses von Griechen gegen Griechen, mit höchster künstlerischer Verewigung des gegenseitig angetanen Herzeleids‹.«163 Gegen harmonisierende Tendenzen betont Guttmann zudem die Schattenseiten der attischen Demokratie164 ebenso wie die Freiheitsfeindlichkeit Spartas, das Guttmann als »rüde[n] Militärstaat«165 bezeichnet, der sich vor allem durch die Abwesenheit von Kultur auszeichnete. Seine Einschätzung Athens, die Idealisierungstendenzen fern steht, führt wiederum dazu, dass Guttmann aktualisierende, politisch tendenziöse Geschichtsdeutungen insbesondere aus dem konservativen Lager entschieden zurückweisen kann. Gerade die Behauptung, Athen sei an der Demokratie zugrunde gegangen, vermag er mit dem Verweis auf den nach modernen Maßstäben undemokratischen Charakter des attischen Staats zu verwerfen: Da mithin die proletarische Bevölkerung fast keinen Einfluß auf den Staat hatte, so ist nicht zu begreifen, warum die deutsche Altertumsgelehrsamkeit so häufig zu dem Schlusse gelangt ist, daß Athen an der Demokratie zu Grunde gegangen sei – woran der rüde Militärstaat Sparta zu Grunde ging, der eine aristokratisch-königliche Verfassung mit Großgrundbesitz, abgestufter Klassenherrschaft, grausamer Unterdrückung der fronenden Menge hatte, alles das aber ohne Parthenon, Dichtung und Philosophie, darüber spricht man weniger.166

So ergibt sich wiederum, dass bei allem historischen Interesse die griechische Antike für die Gegenwart nicht im engeren Sinn nutzbar zu machen ist. Gerade in der Erkenntnis dieser Distanz geht Bernhard Guttmann weiter als Paquet und Auburtin, negiert er doch vielfach den Vorbildcharakter, den diese der altgriechischen Kultur zuschreiben. In keinem anderen Reisetext wird hingegen die gegenwärtige Situation des bereisten Landes so detailliert beschrieben und vor allem analysiert wie in Guttmanns Reisebericht, der von Zeitgenossen auch als wissenschaftliche Quelle verwendet wurde.167 Sein Ziel ist es, den Leser über das moderne Griechenland zu informieren und zugleich durch politische und zeitgeschichtliche Exkurse die jüngste Vergan-

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167

Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 159. – Vgl. Näf, »Deutungen und Interpretationen der Griechischen Geschichte in den zwanziger Jahren«, S. 290: »Vor den Gefahren der radikalen Demokratie oder eines übersteigerten Individualismus hatten nebst vielen anderen im vorangegangenen Jahrzehnt z. B. besonders prominent Eduard Meyer und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf gewarnt.« Vgl. Angelos Hadzopoulos, Die Flüchtlingsfrage in Griechenland, Diss. Berlin 1927, Athen 1927, S. 63, S. 145.

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genheit, insbesondere Griechenlands Rolle im Weltkrieg, aufzuarbeiten.168 Seine Analyse der griechischen Wirren kann auch in Bezug zur deutschen Gegenwart gelesen werden. Mit Venizelos führt Guttmann einen Staatsmann vor, der trotz außerordentlicher Begabung an der Politik der Großmächte und der Rückständigkeit seines eigenen Volkes gescheitert sei169 – auch dies bedeutet eine eindrückliche Warnung an die deutsche Politik. Guttmanns programmatische Orientierung an der Gegenwart, sein nüchterner Stil sowie der Verzicht auf jegliches Pathos stehen in deutlichem Kontrast zu der Mehrzahl der deutschsprachigen Reiseberichte über Griechenland. Insbesondere sein Verzicht auf ideologische Vereinnahmung und sein Vertrauen in die Kräfte des Verstandes heben ihn sowohl von den Texten der Jahrhundertwende als auch von den obskurantistischen und völkischen Reiseberichten der 1920er und 1930er Jahre ab. 2.4. Protofaschistische Mythisierung. Josef Magnus Wehner: Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise (1930) Während Guttmann auf die Kräfte der Rationalität vertraut und aus demokratischer Perspektive die Situation Griechenlands analysiert, gehört Josef Magnus Wehners 1930 erschienener Reisebericht Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise170 in vielerlei Hinsicht in den völkisch-nationalen Griechenland-Diskurs. Die dezidiert antimoderne Stoßrichtung des Textes, seine regressiven, nationalistischen und rassistischen Tendenzen knüpfen nahtlos an das übrige Werk des Autors an, der 1930, im Erscheinungsjahr seines Reiseberichts, mit dem konservativen Kriegsroman Sieben vor Verdun seinen literarischen Durchbruch erlebte und im Dritten Reich das Regime propagandistisch unterstützte.171 Zentral für Wehners Denken ist die ins My168

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Vgl. insbesondere den Anhang »Ein Jahrzehnt neugriechischer Geschichte«, in: Guttmann, Tage in Hellas, S. 179–214, sowie die Kapitel »Politische Züge«, ebd., S. 145–162, »Die Flüchtlinge«, ebd., S. 163–170. Vgl. Guttmann, Tage in Hellas, S. 152–158; vgl. ebd., S. 125: »Die Vorstellung, daß andere als Parteigänger des Ministeriums keinen Anspruch darauf haben, vom Staate bezahlt zu werden, ist auf einer gewissen Kulturstufe natürlich.« Joseph Magnus Wehner, Das Land ohne Schatten. Tagebuch einer griechischen Reise, München 1930. Eine zweite unveränderte Auflage erschien 1943. Wehner schrieb seinen Vornamen gewöhnlich Josef, nicht Joseph. Hier wird die gebräuchlichere Namensform zugrunde gelegt. Vgl. zu Wehner Joachim S. Hohmann, »Pg. Wehner hat ein Interesse daran, als Nationalsozialist unbelastet dazustehen …« Leben und Werk des Kriegs- und Heimatdichters Josef Magnus Wehner, Fulda 1988 (Provinzporträts; 1); Jay W. Baird, Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich, Cambridge u. a. 2008, S. 66–95.

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thische überhöhte Reichsidee, in der sich katholische und völkische Vorstellungen vermischen. Im Mittelpunkt seines Reiseberichts, der die üblichen Sehenswürdigkeiten beschreibt und (anders als der Titel vermuten lässt) keinerlei tagebuchartige Elemente enthält,172 steht die Auseinandersetzung mit der Antike, die Wehner als Vorbild für seine antidemokratische Weltanschauung reklamiert. Die griechische Gegenwart dient lediglich als negativ gezeichnete Kontrastfolie. Insbesondere die modernen Griechen wertet Wehner aus rassistischer Perspektive ab. Diese Ausrichtung auf das quasi-religiöse Erlebnis einer als mustergültig angesehenen Vergangenheit trennt Wehner von den Texten Auburtins und Guttmanns, deren Rationalisierungstendenzen ihm denkbar fern stehen. Doch auch mit dem Pathos und der Orientierungssuche Alfons Paquets verbindet Wehner nur wenig, strotzt doch sein Text geradezu vor Selbstbewusstsein und der Gewissheit, definitiv die Wahrheit erfahren und beschrieben zu haben.173 Wehners Emphase schlägt öfters in unfreiwillige Komik um, etwa wenn er auf dem Schiff seine mitgebrachten Lebensmittel über Bord wirft, um sich von nun an nur noch mit griechischen Produkten zu ernähren:

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Wehner reiste im Frühjahr 1929 nach Griechenland. Seine Reiseroute führte über Italien und Korfu nach Athen, von wo aus er auch den Rückweg antrat. Die Reise hatte nicht zuletzt therapeutischen Charakter: »Wie im Jahre 1924 nach Sizilien, so trieb mich auch 1929 im Frühling meine besorgte liebe Frau über die Berge nach Süden. Mit einem kleinen Handkoffer, den ich notfalls im Rucksack verstauen konnte, fuhr ich mutterseelenallein über Bologna – Brindisi nach Griechenland, um dort ebenso wie in Italien die Spuren gemeinsamer Vergangenheit und gemeinsamen Wesens zu erfühlen. Zugleich hoffte ich, eine schleichende Nervenerkrankung loszuwerden.« (Josef Magnus Wehner, Mein Leben, Berlin 1934, S. 72) Es geht Wehner also darum, sich über den Weg des Gefühls der Verwandtschaft mit den alten Griechen zu vergewissern und zugleich seine psychische Erkrankung zu kurieren. Von dieser doppelten Stoßrichtung ist in dem publizierten Reisebericht nichts zu spüren: Dort steht die emphatische Aneignung der Antike aus völkisch-nationaler Perspektive im Vordergrund. Eine wichtige Inspirationsquelle für Wehner dürfte Hauptmanns Griechischer Frühling sein. Insbesondere die Grundausrichtung des Textes als Pilgerfahrt zu rational kaum fasslichen Tiefendimensionen der griechischen Kultur, die erfühlt werden sollen, verbindet die Texte von Hauptmann und Wehner. Auch die Naturschilderungen verweisen auf das Vorbild Hauptmanns. Vgl. Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 7–10, S. 52–58 (Eleusis-Darstellung mit Epiphanie der Göttin Demeter!).

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Das Schiff gleitet fast unbewegt über die stille Meerfläche, und nur der Mond sieht zu, wie ich jetzt alles, was ich noch von heimischen Speisen habe, noch unverdorben aus der Kabine hole und dem Meer übergebe. Ich will jetzt nur noch von Griechenland essen.174

Wehners angestrebtes emphatisches Erlebnis der altgriechischen Kultur ist allerdings nicht problemlos zu erreichen. Als wesentliches Hindernis entpuppen sich die modernen Griechen, die insbesondere in den Städten alles tun, um dem westlichen Reisenden den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. Dies kündigt sich bereits bei der Landung an, als »Räubergestalten«175 die »Plünderung«176 der Passagiere beginnen: »Wir alle opfern zunächst den Götzen der Vorstadt, der armen gärenden Hefe, aus der nie ein Trank wird.«177 Die Ernüchterung ist umso größer, ereignen sich die geschilderten Szenen doch keineswegs im prosaischen Deutschland, sondern in dem Sehnsuchtsland der Gebildeten. Auch die Straßenbahnfahrt ist mehr als abenteuerlich. Sie gibt Wehner zudem Gelegenheit, sich als Beschützer bedrohter nordischer Frauen zu bewähren: Ich hatte den Schutz einer dänischen Dame übernommen, die gänzlich fassungslos bei der Landung den Räubern ihre Geldscheine in die Hände schüttete. Sie zitterte heftig, ein Nervenschok [ ! ] drohte ihr, als sie sich dieser Masse gieriger Gesichter gegenübersah. Am Schlusse, beim Aussteigen am Homonoia-(Eintracht) Platz teilte ich Ohrfeigen aus, die tiefen Eindruck auf das neugeborene Volk der Athenienser machten. »Ein Lord«, riefen alle und machten ehrerbietig Platz.178

Einzig diese Behandlung, so scheint es, ist geeignet, die aufdringlichen Griechen abzuwehren, die aus Profitgier die westlichen Reisenden bedrängen. Auch bei Wehners sonstigen Beschreibungen der Griechen dominieren abschätzige, ja geradezu verächtliche Wertungen. Insbesondere das großstädtische Leben von Athen ist für ihn geprägt von Falschheit, Betrügereien, Lügen und nicht zuletzt durch eine verderbliche Völkervermischung: Um deine Verwirrung vollständig zu machen, siehst du plötzlich Leute im Fez – und weißt doch, daß Griechenland an die Türkei Kleinasien und viele Inseln verlor; du siehst watschelnde Neger mit Tigerfellmützen, Bauernmädchen in Lackschuhen und geschminkte Greisinnen, Schminke, Schminke auf allen Gesichtern, Straßen, die von nicht gerade nach Wasser riechenden Mädchen überquellen – und fühlst dich verloren in diesem Teufelstheater, in dem doch alles so ruhig und

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Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 19. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Ebd.

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gelassen durcheinander und aneinander vorbeigleitet, als lenke der große Herdenbesitzer selber seine Geschöpfe.179

Athen wird hier aus konservativer Perspektive zu einem Zerrbild der modernen Großstadt und all ihrer negativen Seiten stilisiert. Das Großstadtleben ist für Wehner von Schmutz, Unnatürlichkeit, Rassenmischung und moralischer Verderbtheit geprägt. Dass diese Merkmale modernen Lebens gerade in Griechenland anzutreffen sind, vergrößert den Kontrast zwischen Sehnsuchtsland und Realität in ungeahntem Maße. Wehner kann bei der Gestaltung des stereotypen Gegensatzes zwischen gesundem Landleben und der verderblichen, moralisch und physisch korrumpierenden Wirkung der Großstadt nahtlos an seine in Deutschland spielenden Heimatromane anschließen, die ebenfalls dieses Gedankengut transportieren. Die Unnatürlichkeit der Großstadt Athen allerdings ist für Wehner – und hierin unterscheidet er sich von etlichen anderen Reiseautoren – gerade kein Hindernis, das der Begegnung mit der Antike entgegensteht, eben weil die Gegenwart so völlig anders ist als die erhabene Welt des Altertums. Sie ist belanglos und kann mit elitaristischer Pose mühelos überwunden werden: Je belangloser die Alltäglichkeit wird, um so gewaltiger treten die großen Dinge der Antike aus dem Tartaros in den halben Tag. Nichts stört deine Welt mehr: keine Erinnerung, kein Vergleich noch Beispiel in dieser durchaus fremden Betriebsamkeit der Straße. Ja, sie scheint dir bald tot, diese öffentliche Straße, und nun erst werden die anderen Toten lebendig, die niemand mehr ahnt.180

Die Antike erscheint angesichts einer innerlich toten Gegenwart lebendig. Mit großer Distanz betrachtet Wehner die modernen Griechen. Dies erklärt sich zu einem guten Teil daraus, dass für Wehner die modernen, die »neugeborene[n]«181 Griechen nichts oder nur äußerst wenig mit den bewunderten Griechen der Antike gemein haben: »Griechenland ist der Vergewaltigung der anpulsenden Fremdvölker erlegen.«182 Diese rassistische Betrachtungsweise, die im Kern auf Fallmerayer zurückgeht, ist Gemeingut völkischer Geschichtsbetrachtung. Während Victor Auburtin dieses Vorgehen der Lächerlichkeit preisgibt, schließt sich Wehner offenkundig der These an, eine Vermischung der Völker sei schädlich. Deren Folgen führt er karikierend am Beispiel eines Hotelangestellten vor: »Der Hausbursche […] hatte strohgelbe Haare, blaue Augen, schwarze Brauen und einen kohlschwarzen Schnurr179 180 181 182

Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 21. Ebd., S. 46.

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bart.«183 Im Kontrast zu diesen bastardisierten städtischen Bewohnern Griechenlands stehen für Wehner Teile der Landbevölkerung, die sich sowohl ihr reines Blut als auch ihre urtümlichen Sitten bewahrt hätten.184 In Wehners Reisebericht vermischen sich rassistische Geschichtsbetrachtung und Zivilisations- und Urbanisierungskritik.185 Wehners Kulturbetrachtung folgt biologistischen Prinzipien, nach denen jede Hochkultur Zeugnis einer nordischen Rasse sei, von Ägypten über Phönizien nach Kreta und Mykene: »Und alles scheint eine gewaltige nordischatlantische Rasse, die sich nach neuen Forschungen bis 15 000 Jahre vor Christus zurückverfolgen läßt, geschaffen zu haben.«186 Diese Vorstellungen von nordischem Schöpfertum beziehen sich allerdings nicht nur auf kulturelle Leistungen, sondern ebenso auf militärische Stärke. Folgerichtig begreift Wehner die Spartaner als naturverbundene »Nordmänner«187 und reiht sich auch mit dieser Einschätzung in die völkische Geschichtsbetrachtung ein.188 Diese Wertschätzung Spartas deutet bereits an, worauf es Wehner bei seiner Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur besonders ankommt, nämlich auf das Heroische. Den Heroismus der Antike versteht er in Analogie zu den heroischen Taten der Soldaten des Weltkriegs, zu denen er selbst gehört: Dörfliches mischt sich mit Heroischem, wenn Vater und Mutter aus ihrem Leben, der eine Sohn und ich vom Kriege erzählen. Wir Deutsche sprechen viel von unserem Vaterland und seinen eitlen Moden, von der furchtbaren Naturfremdheit 183 184 185

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Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 58f. Auch die Bräuche des Volks wirken für den landfremden Reisenden komisch und würdelos: Vgl. ebd., S. 83f. Erotisches Interesse kann allerdings diese Geringschätzung der Einheimischen zumindest zeitweise in den Hintergrund rücken lassen. So schildert Wehner mit kaum verhohlener Selbstgefälligkeit die Anhänglichkeit einer jungen Griechin, die sogar vor seinem Hotelzimmer in Mykene übernachtete und die ihn, den blonden Deutschen, einem reisenden deutschen »Effendi« (ebd., S. 78) vorzieht, einem typischen Vertreter der Hochfinanz. Ebd., S. 71. Ebd., S. 95. Vgl. Wehner, Mein Leben, S. 73: »Die Tragik unserer Rasse, die der Welt die herrlichsten Männer und Frauen selbstlos schenkte, um vor aller Welt geschändet und geschmäht zu werden, wurde mir dort bei Sparta, in Mistra, wieder überaus deutlich. […] Und als ich den heute noch sichtbaren Einfluß türkischer Kultur auf Griechenland bemerkte, sah ich den abermaligen Einsatz germanischer Menschen – bayerischer Zug nach Griechenland gegen die Türken – als Schicksal aufleuchten, gleich als hätte jener Boden uralte Anziehungskraft für uns, und als seien wir dorthin gezogen, um unser Eigentum zu retten.«

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unseres öffentlichen Lebens und den unsäglichen Leiden aller wahrhaften Menschen in dieser Zeit.189

Nicht der Krieg erscheint hier aus dezidiert ländlicher Perspektive als Ort des Leidens; vielmehr ist es der gegenwärtige Zustand des Landes, der – fernab von jeglichem im Krieg gezeigten Heroismus – das aufrechte Individuum, die »wahrhaften Menschen«190 leiden lässt. Implizit ergibt sich daraus, dass die wahre menschliche Existenz lediglich im Krieg aufscheint, der somit in gewisser Weise dem Frieden vorzuziehen ist, zumindest einer Friedenszeit, die – so Wehners Einstellung – die Entfremdungstendenzen stetig vorantreibe, indem sie den Menschen von seiner wahren Bestimmung ablenke.191 Zu den Defiziten der Moderne zähle gerade auch die Demokratie, die der zersetzenden Vereinzelung Vorschub leiste. Diese schädlichen Wirkungen der Demokratie lassen sich für Wehner gerade am Theaterbetrieb ablesen, der verhindere, dass der griechischen Dramatik ebenbürtige Meisterwerke entstünden, bzw. klassische Werke so umdeute, dass sie dem »Pöbel«192 gefielen: Wir alle, die wir in dieser Zeit leben, wissen um den ungeheuerlichen Verfall unserer Bühne. Sie ist zur politischen Arena der Demokratie geworden. Unvorstellbar der Gedanke, daß ein Lustspieldichter wie Aristophanes es wagen dürfte, die Parteibonzen, die Hofräte aus Giesing und dem Scheunenviertel auf der Bühne in

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Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 81. Ebd. An anderem Ort legt Wehner dar, wie Technik verderblich wird, sobald sie verabsolutiert wird: »Die Maschine und mit ihr die Technik werden unwirklich, sobald sie das menschliche Maß überschreiten. Alle Wirklichkeit liegt im Maß, der Kern des Lebens in der Mitte.« (Josef Magnus Wehner, »Über die deutsche Wirklichkeit«, in: Ders., Das unsterbliche Reich, München 1933, S. 34–63, hier S. 44) Dieser schädliche Zustand gilt insbesondere für das geschlagene Deutschland, das seit Kriegsende ohne geistige Orientierung auskommen müsse, die diese Zersplitterung aufhalten könnte: »Mit dem Zusammenbruch am Kriegsende wurde unsere deutsche Welt fast völlig unwirklich und beziehungslos, ebenso wie die Welt eines Sterbenden.« (Ebd., S. 46) – Vgl. Baird, Hitler’s War Poets, S. 82: »Wehner’s passionate love for his majestic Reich had its counterpoint in his hatred of industrialism and technology […]. It was the rootlessness of modern life and the attendant rejection of the traditional organic union with the Germanic landscape that in great part caused the neurosis of the twentieth century. In his idealized view of the past, a grand balance between soil, village, and intellect had guaranteed harmony and order. But this old balance between farm and village had been destroyed, leaving widespread alienation and desperation. Within this milieu, the author saw himself as a prophet of national regeneration, warning his countrymen that rebirth was the only alternative to the death of their culture.« Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 92. – Wehner entwickelt diesen Gedanken angesichts des Theaters von Epidauros.

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ihrer liederlichen Nacktheit zu zeigen: er würde nicht gesteinigt, sondern sehr einfach nicht aufgeführt werden.193

Aristophanes ist für Wehner das Paradigma eines Dichters, der unerschrocken die Großen kritisiert und der Lächerlichkeit preisgibt. Dies sei in der demokratischen Gegenwart nicht mehr möglich. Allerdings nimmt Wehner nicht zur Kenntnis, dass die Komödien des Aristophanes gerade in den Kontext der attischen Demokratie gehören.194 Indem Wehner schlechterdings die Bezüge zwischen antiker und moderner Demokratie leugnet, kann er unbeirrt gegen die demokratischen Auswüchse der Gegenwart wettern und zugleich Aristophanes, der für ihn das Sprachrohr eines Volksganzen zu sein scheint, als Vorbild reklamieren. Im Gegensatz zu den Autoren der Antike sei, so Wehner, der moderne wahre Dichter zum Außenseitertum verdammt. Er stellt die vermeintliche Einheit der antiken Dichterexistenz der modernen Zersplitterung gegenüber. Wehner geht so weit, den modernen Autor mit dem Weltkriegssoldaten im Schützengraben zu vergleichen: So kämpfen die Dichter wie die Soldaten im Kriege unter der Erde; in den Theaterbüros aber sitzen die Leute, die sich untereinander verstehen, und da schlüpft keine Maus unter ihren Händen durch, die ihnen nicht ihr Männchen macht.195

Militaristische Vergleiche und Ausfälle gegen den zeitgenössischen Literaturbetrieb offenbaren eine Mischung aus geradezu anmaßendem Selbstverständnis – der Dichter als Seher – und deutlich wahrnehmbaren Minderwertigkeitsgefühlen. Nur wenige wahre Künstler wissen von »der dämonischen Herrlichkeit der Kunst«.196 Wer sich dieser tieferen Einsicht nicht verschließt, ist bewusst unzeitgemäß, was aber für Wehner nicht das Problem des Dichters, sondern der Gesellschaft ist. Für Wehner ist der Dichter untrennbar mit seinem Volk verbunden; er artikuliert dessen Regungen und ist zugleich sein Beschützer. In Wehners naiv-romantisches Dichterbild fließen auch militaristische Züge ein, dient doch gerade auch der volksverbundene Dichter der Reichsidee und trägt zu ihrer Verwirklichung bei.197 193 194

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Ebd. Vgl. Bernhard Zimmermann, Die griechische Komödie, Düsseldorf/Zürich 1998, S. 67. Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 92. – Diese Gegenüberstellung von Dichtern und Vertretern des Literaturbetriebs erinnert an Wehners Kontrastierung von heroischen Frontkämpfern mit der zögerlichen Heeresleitung in seinem Kriegsroman Sieben vor Verdun. Ebd. Vgl. Josef Magnus Wehner, »Der Dichter und sein Volk«, in: Ders., Das unsterbliche Reich, S. 75–82.

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Der Naturfremdheit der Weimarer Republik stellt Wehner in einer Art von rückwärtsgewandter Utopie das antike Griechenland gegenüber, das er (abgesehen von seiner Spätzeit) als heroisches Zeitalter auffasst. Bezeichnenderweise gilt dies eben nicht nur für die homerische Frühzeit, sondern gerade auch für das klassische Athen des Perikles. Diese Sichtweise untermauert Wehner nicht mit historischen Analysen, sondern exemplifiziert sie vielmehr vor allem durch seine Beschreibungen antiker Architektur. Der Besuch der Athener Akropolis wird so zu einer Initiation in den antiken Heroismus. Bereits der kleine Tempel der Siegesgöttin Nike verweist auf Heldentum und Kraft: »Der Triumph des Heldischen als erster Anblick, der sich den Pilgern auf dem Götterberge bot in Gestalt dieses Tempels der Athena Siegerin.«198 Lediglich das Erechtheion mit seinen Karyatiden bedeutet für Wehner einen (notwendigen) Kontrapunkt zu der kraftvollen Männlichkeit des Ruinenensembles: »Um so gewaltiger dröhnen die Diademe der Propyläen.«199 Die Sprache verdeutlicht den Grundgestus von Wehners Beschreibung: Das Adjektiv »gewaltig« verweist ebenso wie das Verb »dröhnen« auf eine Sphäre von Kraft und Überwältigung, die das Normalmaß überschreitet. Die ungewöhnliche Synästhesie (ein Gebäude dröhnt für gewöhnlich nicht) erweckt eine Totalität der Sinneseindrücke, der nur das starke Individuum gewachsen ist. Dies zeigt wiederum, wie zentral Vorstellungen von Heldentum und kriegerischer Bewährung für Wehners Kulturdeutung sind. Überwältigender Höhepunkt der Akropolis ist der Parthenon, der sogar den heroischen Reisenden einzuschüchtern vermag: »Man möchte zu den gebrechlichen Säulen des Niketempelchens zurückfliehen: so nackt, drohend und unerschüttert wächst der riesige Säulenwald des Parthenon dir entgegen.«200 Allerdings erschließt sich die tiefere Bedeutung des Tempels wiederum im Wechselspiel mit dem heiteren Stil des Erechtheions. Erst in der Komplementarität von Heiterkeit und Erhabenheit lässt sich das Wesen der griechischen Kultur verstehen, das die Akropolis beispielhaft erschließt: Die Seele voll lebendiger Heiterkeit wendet sich nun dem erhabenen Parthenon zu. Sie versteht nun besser den großen männlichen Ernst dieses höchsten Heiligtums, einen Ernst von ungeheurer Ordnung, die zum Schweigen zwingt. Hier ist Gesetz, hier richteten Könige, hier bauten Meister, von Göttern bestätigt.201

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Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 30f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33.

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Von attischer Demokratie ist hier keine Rede. Der Parthenon erscheint im Gegenteil als Manifestation eines autoritären Staates, der auf Ernst und Maß gerichtet ist. Gerade dass Wehner »Könige« erwähnt, verdeutlicht, inwieweit er totalitäre Denkweisen verinnerlicht hat und die Geschichte nach deren Maßgaben uminterpretiert. Auch die Wirkung des Parthenon, wie Wehner sie beschreibt, ist bezeichnend, »zwingt«202 das Gebäude doch den Betrachter »zum Schweigen«.203 Der Parthenon wird hier zum Monument eines totalitären Staates, der sich durch Erhabenheit, Männlichkeit, Ernst und Autorität auszeichnet, nicht zuletzt auch durch eine Nähe zu göttlichen Instanzen, die sich wohl dieser Organisationsform verdankt. Hier kontrastiert Wehner wiederum das griechische Ideal mit der deutschen Realität, die für ihn gerade durch die Auflösung dieser organischen Zusammenhänge bestimmt ist. Nicht zuletzt die demokratischen Tendenzen trügen Schuld am Verfall der ursprünglichen Einheit: Seit eine parlamentarische Opposition die Bindungen von Volk und Herrscher, von Heer und Heimat durch die sogenannte Revolution durchschnitten hatte, fiel die Nacht der Geschichtslosigkeit über das Volk, aus der wir jetzt erst wieder erwachen, indem die Not uns wie ein harter Vater in den Tag der Wahrheit und Wirklichkeit hineinführt.204 202 203 204

Ebd. Ebd. Wehner, »Über die deutsche Wirklichkeit«, S. 47. – Auch an anderer Stelle, nämlich im Zusammenhang mit den für sein Denken zentralen Reichs-Vorstellungen, setzt sich Wehner in seinem Reisebericht mit dem Parthenon auseinander. An seiner Architektur lasse sich zeigen, wie die Griechen das Chaos gebändigt hätten: »Der Parthenontempel auf der Akropolis in Athen ist mehr als ein Bethaus des griechischen Volkes. In der Ordnung seiner Säulen und der ewigen Zier seiner Giebelfelder hat der Grieche den Ausklang jener Kämpfe gestaltet, die er unbewußt gegen das Chaos führte. Dieser klare Sinn der griechischen Kunst also wurde zum Weltsinn: Überwindung des Chaos durch den geformten Kosmos. Hierfür ist das Parthenon ein Symbol, in dem die unendliche Gottheit Form geworden ist. So kann man sagen, im Parthenon sei die Ordnung der Welt aufbewahrt gewesen, die Ordnung der Welt durch die Kunst.« (Wehner, »Von der Innerlichkeit des Reiches«, in: Ders., Das unsterbliche Reich, S. 11–34, hier S. 18) – Wehner geht von einer metaphysischen Bedeutung des Reichs-Begriffs für die Deutschen aus. Vgl. Josef Magnus Wehner, Sieben vor Verdun. Ein Kriegsroman, München 1930, S. 307: »Sie wissen, was sie der Welt geschenkt haben, das Beispiel eines unerhörten Opfers die Jahrtausende hinauf. Sie wollen keinen Dank, sie sind unsterblich. So summen und sagen sie unhörbar vom unsichtbaren deutschen Reiche, das seine Wurzeln hat in ihren Wunden. Und sie wissen, daß dieses Reich unsterblich ist mitten unter sterbenden Völkern.« In seinem Essay Von der Innerlichkeit des Reiches führt Wehner diese Positionen aus: »Es [Reich] ist unser deutsches Urwort, das Gott bei der Weltschöpfung uns Deutschen mitgab, und

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Eben diese ordnende Funktion der Kunst, die Überwindung des Chaos durch den Kosmos, ist für Wehner im modernen Deutschland verloren gegangen. Wehners Beschreibung der Athener Akropolis und seine Würdigung der attischen Kultur und des attischen Staates entsprechen eher dem zeitgenössischen Sparta-Bild.205 Wehner unternimmt hier den Versuch, auch das antike Athen für einen konservativen und völkischen Griechenland-Diskurs zu vereinnahmen, wobei auch irrationalistische Elemente nicht fehlen. So werde am Parthenon sichtbar, wie die Athener ihre Angst vor der Unendlichkeit durch Maß bezwungen hätten: Und so spricht dieser Tempel von ernster männlicher Kraft, die ihrer Höhe sich bewußt ist und weiter – die schon den Untergang sieht. […] Wahrhaft verehrungswürdig sind sie [die Ruinen und ihre Skulpturen], weil sie das Kommende nicht verschleiern, sondern es zu tragen gewillt sind als Schicksal.206

Dieser Schicksalsbegriff verweist auf den irrationalistischen Kern von Wehners Weltanschauung, die sichtlich von Untergangsfantasien geprägt ist. Die Griechen stilisiert er so zu männlichen und kräftigen Weltweisen, die gerade ihre Vollkommenheit als Vorstufe zum Untergang verstehen. Für Wehners Geschichtsdenken ist selbstverständlich, »daß sich die griechische Welt, als sie vollkommen wurde, zu Tode gesiegt hatte«.207 Die griechische Antike bietet also das vollkommene Exempel von Heroismus und Untergang. Ihre Überreste sind deshalb vorbildhaft für eine Moderne, die eben diese zentralen Tugenden vergessen zu haben scheint und diese sich erst wieder aneignen muss. Zu den Tugenden der Alten gehört für den Autor auch ihr agonaler Zug, den er in nationalistischen Bezügen interpretiert. Dies zeigt sich exemplarisch bei Wehners Wertung der Olympischen Spiele, deren Niedergang für ihn zeigt, wie »die nationale Idee der Auslese zerstört«208 wurde.

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daher auch nur mit dem schöpferischen Organe des Menschen, dem Herzen, zu verstehen ist.« (Wehner, »Von der Innerlichkeit des Reiches«, S. 17) »Das Reich ist vielmehr ein Weltkörper, angefüllt mit allem Leben, dessen Himmel und Erde fähig sind. Es ist der ungeheure Raum, in dem unser deutsches Wesen zur Weltwerdung aufbewahrt wird.« (ebd.) – Vgl. Baird, Hitler’s War Poets, S. 81: »When discussing the nature of the Reich, Wehner stretches one’s credulity, so mystical is his vision. The Reich was the home of order and hierarchy and must be distinguished from the state, which represented a lesser creation. […] According to Wehner, it is the home of the archetypes of all that is good and beautiful, the abode of all German spiritual form, the life source of the German nature.« Vgl. Kapitel III dieser Arbeit. Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 34. Ebd., S. 34. Ebd., S. 113.

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Wehners Beschreibung gipfelt in einem Gebet an den Tempel, das sich nahtlos in den auch sonst geradezu religiösen Duktus des Textes einfügt. Wenn Wehner in einer der Lyrik angenäherten Sprache in hohem Stil den Parthenontempel adressiert, so reiht er sich in Traditionen der Ruinenanrede, die etwa Goethe in den Römischen Elegien gestaltete und die gerade im Fall der Akropolis einen besonders prominenten Vertreter in Ernest Renan besitzt. Wehner hält sich in seiner Anrede des Parthenon an das seit der Antike übliche Gebetsschema:209 Auf die Anrede des Tempels folgt eine Beschreibung, die sich auf den Berg ausweitet. Darauf folgen die zentralen Passagen, die noch einmal Wehners Verständnis der griechischen Kultur und ihrer Bedeutung für seine Gegenwart artikulieren: Meine Sprache sprichst du, Gott auf dem Berge, die Sprache der Ordnung und des Gesetzes. Immer wirst du vor meiner Stirn sein, wenn ich heimfahre, und nie sollen dich die Pforten der Unterwelt überwältigen. Wenn deine letzte Säule stürzt, kommt das Chaos; darum bauen die Völker der Welt an dir, hell im Gewissen. Deine Unsterblichkeit ruht im Sichtbaren; nur der zerspringende Erdball wird sie zerstören …210

Geistige Orientierung in schwieriger Zeit, Bannung des Chaos durch Zucht und Ordnung – auch Wehners Reisebericht reiht sich ein in die Dokumente einer Orientierungssuche. Dabei nimmt er einen dezidiert konservativen, ja protofaschistischen Standpunkt ein, der seinen Blick auf Griechenland verengt. Von Humanität ist kaum einmal die Rede; vielmehr geht es um die Selbstvergewisserung des nordischen Reisenden, der in Griechenland für seine heroischen Ideale Bestätigung sucht. Das moderne Griechenland, insbesondere die modernen Griechen, erweisen sich dabei als Störfaktor. Wie kaum ein Autor vor ihm leitet Wehner aus Überlegungen über Rasse und Vererbung die Geringschätzung der modernen Griechen ab. Wehner nutzt den Reisebericht als Medium der Kulturkritik. Aus konservativer, ja reaktionärer Perspektive stellt der Autor den seiner Ansicht nach chaotischen und degenerierten Verhältnissen ein Griechenideal entgegen, das all das verkörpert, was der Moderne zu fehlen scheint bzw. was in Deutschland seit dem Krieg verloren ging: Ernst, Männlichkeit, Naturnähe, Ordnung; im Bereich der Kunst die Einheit von Dichter und Volk. Im antiken Athen sieht er all die positiven Aspekte vorhanden, die dem durch Demokratie geschädigten Deutschland fehlten. Die Reise dient der Vergewisserung seiner ideologischen Positionen. Wehners Tagebuch einer griechischen Reise 209

210

Vgl. Andreas Kraß, »Gebet«, in: Klaus Weimar u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin/New York 1997–2003, Bd. 1, S. 662–664. Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 35.

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

ruft auf zu einer nationalen völkischen Wiedergeburt, die sich am Beispiel einer heroisierten Antike orientieren soll: Die Parallelen zum nationalsozialistischen Griechenland-Diskurs sind offensichtlich. 2.5. Tendenzen: Rationalisierung, Ironisierung und Ideologisierung Die Texte von Alfons Paquet, Victor Auburtin, Bernhard Guttmann und Josef Magnus Wehner verdeutlichen bei allen Unterschieden die Politisierung des Reiseberichts in den Jahren zwischen den Weltkriegen. Jeder dieser Reiseberichte versucht auf seine Weise, mit der deutschen Niederlage umzugehen. Dass dies aus der Perspektive von Reisenden nach Griechenland geschieht, demonstriert eindrücklich die Anziehungskraft des Mutterlandes der europäischen Zivilisation gerade unter widrigsten Zeitumständen. Die Außenperspektive und die Nähe zu den Monumenten der Vergangenheit sollen tiefere Einsichten und treffendere Analysen ermöglichen, als sie aus dem zerrütteten Deutschland möglich wären. So dient einerseits die griechische Vergangenheit als Projektionsfläche für unterschiedlichste Sinnzuschreibungen – für Härte und Männlichkeit bei Wehner, für Demokratie und Kunstblüte bei Auburtin, für den Versuch, bewaffnete Konflikte zu vermeiden, bei Paquet –, andererseits gewinnt erstmals in Texten über Griechenland die griechische Gegenwart eine Bedeutung, die über die Zurschaustellung von Unzufriedenheit mit hygienischen Verhältnissen und Infrastruktur hinausgeht. Auffällig sind die unterschiedlichen Arten, in denen dies geschieht: Josef Magnus Wehner orientiert sich deutlich am ichgesättigten Pathos der Jahrhundertwende; sein Text wird zu einer epigonalen Mischung von überkommenen Beschreibungsmustern und völkischen Theoremen. Victor Auburtin hingegen ironisiert das Genre; in programmatischer Leichtigkeit persifliert er die nebulösen Fantasien konservativer und völkischer Autoren. Sein Lob der rationalen Griechen geht einher mit einer bitteren Abrechnung des dumpfen wilhelminischen Nationalismus und Militarismus. In einer Art von satirischer Vergangenheitsbewältigung entlarvt er philhellenische Schwärmer ebenso wie Vergnügungstouristen. Auch Alfons Paquet und Bernhard Guttmann haben keinerlei Sympathien für die jüngere deutsche Vergangenheit. Während Guttmann in soziologischen und historischen Abhandlungen die Krise Griechenlands implizit mit der prekären Situation Deutschlands gleichsetzt und in äußerst differenzierter Weise die griechische Gegenwart darstellt und analysiert, ergeht sich Paquet in vagen utopischen Vorstellungen einer europäischen Völkerverständigung nach dem Vorbild der alten Griechen. Dabei verhehlt sein Text

Mythische Gegenwelten

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an keiner Stelle die tiefe Ratlosigkeit des Autors, der sich mit unterschiedlichsten Welterklärungssystemen konfrontiert sieht und oftmals unentschlossen zwischen Rationalisierung und Mythisierung schwankt. Alfons Paquets mythisierende und utopische Tendenzen weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit Wehners raunenden Beschwörungen der Reichsidee auf, auch wenn Paquet von dessen völkischer Zivilisationskritik denkbar weit entfernt ist. Dass aber sowohl Autoren aus dem liberalen wie aus dem völkischen Spektrum auf irrationalistische und mythisierende Systeme der Welterklärung zurückgreifen, demonstriert einmal mehr die tiefe Verunsicherung, die diese Reisetexte ausdrücken. Auch die stilistische Vielstimmigkeit spiegelt die unterschiedlichen Strömungen der Zwischenkriegsjahre. Von einer auch nur ansatzweise einheitlichen Art der Weltbewältigung kann keine Rede sein.

3.

Mythische Gegenwelten

Bereits an Alfons Paquets Delphischer Reise wurde deutlich, dass im Hintergrund der Reiseliteratur der 1920er Jahre vielfach irrationalistisches, ja okkultistisches Gedankengut steht. Die Flucht in mythisch-mystische Konstrukte, die zum Teil theoretisch verbrämt werden, ist ein wesentliches Kennzeichen vieler Reiseberichte über Griechenland. Die Nähe zu diesen Strömungen ist wenig überraschend: Schließlich trug der emphatische Bezug auf Griechenland von jeher Züge einer Ersatzreligion; die Argumentationsmuster in Essayistik und Reiseprosa weisen oft eine große Affinität zu mystischen Texten auf. Während in der Literatur der Jahrhundertwende diese Schreibweisen vor allem dazu dienten, spirituelle, aber immer höchst subjektive und kaum verallgemeinerbare Einheitserfahrungen narrativ zu bewältigen, liegen bei etlichen Autoren der Zwischenkriegsjahre umgekehrte Verhältnisse vor. So propagieren etwa die Reisefeuilletons von Theodor Däubler seine Privatmythologie, die der Autor als allgemeingültigen Weg zu einer höheren Wahrheit betrachtet. Franz Spunda und Franz Carl Endres wiederum sind in ihren Reiseberichten nicht nur deutlich von okkultistischen Theoremen geprägt, sondern nutzen das Medium, um für diese obskurantistischen Positionen zu werben. Sie gehören ebenso wie die politisch akzentuierten Reiseberichte in den Kontext der Orientierungssuche. Doch während die politisch akzentuierten Texte (trotz mancher irrationalistischer Überschüsse) versuchen, die politischen und weltanschaulichen Probleme aufzufächern und von je unter-

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

schiedlichem Standpunkt aus zu diskutieren, stellen die Reiseberichte, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen, Fluchtversuche aus einer als bedrohlich erfahrenen Gegenwart dar. Angesichts einer zunehmenden »Entzauberung der Welt«211 gewinnen obskurantistische Tendenzen vermehrt an Bedeutung, bieten sie doch eine Art von Geborgenheit, die traditionelle Religionen nicht mehr gewähren können.212 An diesen Konstrukten wird deutlich, dass Griechenland nach wie vor höchste Bedeutung als geistige Bezugsgröße besitzt. Dabei steht nicht mehr nur die Antike im Vordergrund, sondern ebenso das griechische Mittelalter oder die griechische Landschaft. In Griechenland manifestiert sich für die Autoren dieser irrationalistischen Manifeste etwas Übersinnliches, das den Gefährdungen und Zersplitterungen der Moderne als Heilmittel entgegengestellt werden kann. Durchaus regressiv entwerfen die Autoren mythische Gegenwelten, die sowohl das tiefe Unbehagen an der Moderne als auch das forcierte Vertrauen in das griechische Erbe bezeugen. 3.1.

Theodor Däublers kosmischer Weltentwurf

3.1.1.

Der Autor als Projektionsfläche

Eine berühmte Fotografie zeigt Theodor Däubler beim Baden: Sie stellt ihn dar, wie er bis zu den Hüften im Wasser steht.213 Däubler selbst war diese

211

212

213

Max Weber, »Wissenschaft als Beruf (1917/1919)«, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 17, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schluchter, Tübingen 1992, S. 49–111 (Text S. 71–111), hier S. 87. – Das Zitat lautet im Zusammenhang: Ebd., S. 86f.: »Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: Die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten, sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.« Vgl. auch Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989. Vgl. Friedhelm Kemp/Friedrich Pfäfflin (Hrsg.), Theodor Däubler. 1876–1934. Marbacher Magazin 30/1984, S. 39.

Mythische Gegenwelten

191

Aufnahme unangenehm,214 nicht zuletzt, weil die Ähnlichkeit mit dem Meergott Poseidon unverkennbar ist. Die Reaktionen verdeutlichen, dass Däubler von nicht wenigen Zeitgenossen als gleichsam mythische Figur aufgefasst wurde.215 Sein Ruhm zu Lebzeiten und sein insbesondere durch Peterichs Griechenland-Führer propagierter Nachruhm koppeln die malerische Persönlichkeit des Autors von seinem sperrigen, teilweise schlechterdings unverständlichen Werk ab216 und tragen dazu bei, eine Legende um Theodor Däubler zu etablieren. So sieht Rudolf Pannwitz Däubler als legitimen Nachfolger Nietzsches. Wie dieser werde er einen bestimmenden Einfluss auf das GriechenlandBild der Moderne ausüben. Daran könnten ihn auch seine unglücklichen Lebensumstände nicht hindern. Däubler sei durch ganz Griechenland gewandert, geritten, gesegelt, gejagt, an allen heiligen Stätten, bei allen Tempeln und Grüften, auf den Berggipfeln, in den Einöden, auf den Inseln gestanden – mit seinem umfassenden, unendlichen, Himmel und Welten schauenden Auge, hat gesehen, geahnt, gelesen, gedichtet, erzählt, gedeutet und geweissagt. Ist ihm das Unglück nicht weiter so hold, wie sein Leben lang, wächst in Deutschland Bewußtsein und Gewissen dafür, was Deutsche tun müssen und welche Deutschen das deutsche Werk zu vollbringen berufen sind: dann wird er in die Lage kommen, dies alles auszureifen, abzuschließen und zu vollenden.217

Für Pannwitz ist Däubler die Verkörperung des Seher-Dichters mit übersinnlichen Fähigkeiten. Abgesehen davon, dass Pannwitz auf nicht unproblematische Weise den Italiener Däubler für eine spezifisch deutsche Tradition zu reklamieren sucht, wird in seiner Würdigung des Freundes überdeutlich, welch geradezu messianische Hoffnungen er in ihn setzt.218 Däublers Werk 214

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218

Vgl. Dieter Werner, »Einleitung«, in: Ders. (Hrsg.), Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Die Vorträge des Berliner DäublerSymposions von 1996, Dillenburg 2000, S. 7–10, hier S. 7. Vgl. Ernst Barlach, »Diario Däubler [1912–1914]«, in: Ders., Die Prosa II, hrsg. v. Friedrich Droß, München 1959, S. 367–375, hier S. 367: »Sein Baden ist sein Bestes, er ersäuft seinen fetten Leib im salzigen Überall. Seine Zeit im Unbegrenzten, Reden, Beschwören, Prophezeien ist sein Bestes, gleichsam sein geistiges Baden; er erbricht sein Individuum im Absoluten.« Vgl. Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916, Tübingen 1994, S. 60–78. Rudolf Pannwitz, »Theodor Däubler der Neohellene«, in: Deutsche Rundschau 49 (1923), S. 197–199, hier S. 198. Kursivierung im Original gesperrt. So heißt es bei Pannwitz auch, Däublers Wesen wirke »wie ein Gestirn, ein Vulkan, ein Meer, eine Scholle, ein Stück Natur, ja ein ganzer Kosmos« (ebd., S. 199). Der Dichter wird so zum inkommensurablen kosmischen Ereignis stilisiert, zum übersinnlich legitimierten Wegweiser in eine Wiedererweckung der Kultur.

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

werde dasjenige Winckelmanns selbstverständlich übertreffen;219 es könne am Beginn einer neuen Klassik stehen, einer zugleich zukunftszugewandten Orientierung an dem mit dem deutschen Geist verwandten »neohellenische[n] Mysterium«,220 das allerdings nur einer Elite zugänglich sei.221 Diese Tendenzen der Überhöhung finden sich gesteigert in Eckart Peterichs Reiseführer, der dem Andenken Däublers gewidmet ist. Er stilisiert Däubler vollends zu einem naturhaften, inkommensurablen Wesen, das in Griechenland Erfüllung gefunden habe, ja das in Griechenland eigentlich zuhause sei: Sein gewaltiges Haupt mit dem halblangen, früh ergrauten Haar, dem wallenden Bart hat die Menschen immer wieder an das eines antiken Gottes erinnert: eines Poseidon oder eines Zeus. Einfache Leute in Griechenland küßten ihm oft die Hand, weil sie ihn für einen Papás, einen Geistlichen hielten.222

Einer sachlichen Würdigung Däublers steht von jeher diese Stilisierung seiner Person entgegen, sei es die Selbstdarstellung als Dichterprophet, sei es die gleichsam mythische Überhöhung durch einige seiner Zeitgenos219 220 221

222

Vgl. ebd., S. 199. Ebd. Nicht nur in der Essayistik, auch in der zeitgenössischen Reiseliteratur hinterlässt Däubler seine Spuren: In Franz Spundas Reisebericht Griechische Reise erscheint Däubler als Vaterfigur, die die jungen Reisenden anleitet und dem Besuch einer furchterregenden Räuberhöhle am Parnass seinen Gesang unterlegt: »Däubler bleibt draußen, sein leiser Gesang erdröhnt wie ein tiefer Psalm.« (Spunda, Griechische Reise, Berlin 1926, S. 131) Theodor Däubler ist in Spundas Reisebericht selbst Teil des beschriebenen Griechenlands, ein mythisches Relikt. Dass dabei die Stilisierung eben nicht von Däubler ausgeht, kann ein Vergleich von zwei Beschreibungen derselben Besteigung des Parnass belegen. Während Däubler recht sachlich die Bergtour beschreibt, von den bürokratischen Hürden, der Furcht vor Räubern, dem Besuch einer Räubergrotte, der Übernachtung im Freien und schließlich dem Sonnenaufgang berichtet (vgl. Theodor Däubler, »Eine Besteigung des Parnassos«, in: Ders., Griechenland. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Max Sidow, Berlin 1946, S. 79–82. Erstmals publiziert als: »Was man am Parnass erleben kann«, in: Das Inselschiff. Jubelschiff vom 20. 5. 1924, S. 44), tut Spunda sein Möglichstes, die Wanderung und insbesondere den mitwandernden Däubler zu überhöhen. Däubler etwa erwähnt lediglich die dionysischen Kulte, die am Parnass stattgefunden hätten; Spunda spinnt diese Vorstellung zu einer sexuell aufgeladenen Fantasie aus: »Die Mänaden trieben auf diese Weise grausame Sodomie, Lustmord und abscheuliche Unzucht; der Hintergrund des Griechentums war überall Verbrechen und Frevel.« (Spunda, Griechische Reise, S. 130) Die Räuberhöhle, deren Bewohner Däubler lediglich auflistet, ist für Spunda die »Unzuchtshöhle« (ebd., S. 130), deren Inneres einem »unheimlichen Dom« (ebd., S. 131) gleicht. Eckart Peterich/Josef Rast, Griechenland. Ein kleiner Führer, Olten 1956, S. 14.

Mythische Gegenwelten

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sen.223 Diese Überhöhung setzt bezeichnenderweise erst im Kontext seines ausgedehnten Griechenland-Aufenthalts ein. Theodor Däubler lebte von August 1921 bis Herbst 1925 in Griechenland224 – so lange am Stück wie vor ihm kein bedeutender deutschsprachiger Autor. Obwohl er die Reise mit dem Ziel begonnen hatte, ein neues großes Werk zu schaffen, eine umfassende kulturhistorische Darstellung,225 fiel der literarische Ertrag des Aufenthalts recht gering aus: Das geplante Griechenland-Buch wurde nie geschrieben.226 Gerade die ambitionierten Essays, in die Däubler große Hoffnung setzte (Sparta, Der heilige Berg Athos, Delos) stießen auf Unverständnis und Ablehnung, während die seit 1924 in zahlreichen Zeitschriften veröffentlichten journalistischen Reisebilder Däublers Ansprüchen nicht genügten und er sich dieser Brotarbeiten schämte.227 Allerdings machten diese Texte Däublers Namen einem breiteren Publikum bekannt und trugen wesentlich zu dem Interesse bei, das ihm nach seiner 223

224

225 226

227

Vgl. die Quellen bei Thomas Rietzschel, Theodor Däubler. Eine Collage seiner Biographie, Leipzig 1988, S. 7f. Vgl. die detaillierten Aufenthaltsangaben bei Kemp/Pfäfflin (Hrsg.), Theodor Däubler. 1876–1934, S. 30–38; sowie Thomas Rietzschel, Theodor Däubler, S. 200–265. Vgl. Rietzschel, Theodor Däubler, S. 203. Vgl. ebd., S. 244f.; S. 253f.: »Es steht ja genau vor meinen Augen, daß ich, ohne es recht zu merken, die Sache längst aufgegeben habe! Verloren ist verloren – es heißt sich damit abfinden. Für mein Werk konnte ich betteln, nun bin ich ja nur noch Journalist, schreibe bloß für den jämmerlichsten Erwerb.« (Brief vom 7. 9. 1924 an Toni Sussmann) – Der von Max Sidow herausgegebene Band Griechenland, Berlin 1946, enthält – leider ohne Quellenangaben – journalistische Arbeiten sowie Auszüge aus den umfangreicheren Essays der Griechenland-Jahre; ein Inhaltsverzeichnis, das Däubler kurz vor seinem Tod diktierte und eine Zusammenstellung verschiedener Texte unterschiedlicher Gattungen bedeutete, stellt ein neues Projekt dar und hat mit dem Anfang der 1920er Jahre geplanten Griechenland-Buch nichts zu tun. Vgl. Friedhelm Kemp, »Nachwort«, in: Theodor Däubler, Dichtungen und Schriften, hrsg. v. Friedhelm Kemp, München 1956, S. 865–892, hier S. 883f. Die nach wie vor beste bibliographische Übersicht bei Ernst Werner Hüllen, Mythos und Christentum bei Theodor Däubler, Diss. Köln 1952, S. 141–163. Am 8. September 1924 schrieb Däubler an Rudolf Pannwitz: »[D]as Griechenbuch bleibt Fragmente. Gesammelt können sie erst nach meinem Tod herauskommen. Ich verfalle ganz dem Journalismus, kann nun, um fortzubestehen, bloß Kitschen! 35 Jahre Arbeit für eine Deutsche Kosmogonie, Kampf ums Nordlicht, um Deutschlands Werte, Frankreichs Werte, Italiens Werte, Hellas Seele, 3 Jahre Ringen gegen Kälte, Hunger, Krankheit, Askese im schrecklichsten Sinn … banalster Abschluß: ein Fußtritt.« (nach Rietzschel, Theodor Däubler, S. 254).

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Rückkehr entgegenschlug.228 Der Autor manövrierte sich während seines Aufenthalts in Griechenland somit nicht zunehmend ins Abseits, konnte allerdings auch nicht seinen hohen Ansprüchen gerecht werden. Auch wenn Berichte über die eigene Pariaexistenz teilweise literarische Stilisierungen des ungehörten Propheten sein mögen, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Däubler finanziell und emotional schwere Krisen durchlebte, die den erhofften großen Wurf unmöglich machten. Anstatt neue Projekte in Angriff zu nehmen, überarbeitete er erneut sein erstmals 1910 publiziertes Epos Das Nordlicht. 3.1.2.

Zwischen Nordlicht und Delos. Däublers Weltsicht

Die leitenden Vorstellungen dieses Riesenwerks bleiben bis zuletzt die unveränderlichen Grundlagen von Däublers Weltverständnis und bilden die geistige Basis seines Gesamtwerks, das »immer wieder zur Nordlichtidee zurückkehrt«.229 Däubler geht im Nordlicht von einer Spaltung des gesamten irdischen Lebens vom Geist aus, die auf die Trennung von der ursprünglich mit der Erde vereinten Sonne zurückgeht. Ziel ist es, diese Spaltung zu überwinden und zum Ursprung im Licht der Sonne zurückzugelangen. Das Nordlicht – ein Phänomen, das um 1900 die Naturwissenschaften umtrieb230 – ist Symbol dieser irdischen Sehnsucht. Analog zu diesen kosmischen Phänomenen entspricht auf der menschlichen Ebene dem Licht der Geist; Vergeistigung ist höchstes Ziel menschlicher Entwicklung, und tatsächlich kann es der Menschheit aus eigener Kraft gelingen, diesen Weg zurück zur Einheit zurückzulegen.

228

229

230

Vgl. Dieter Werner, »Realität und Erwartung. Theodor Däublers ungeschriebenes Griechenlandbuch«, in: Kambas/Mitsou (Hrsg.), Hellas verstehen, S. 15–34, hier S. 26: »Wie schon zuvor seine Schriften über moderne Kunst mehr als das Nordlicht Interesse bei den Lesern gefunden hatten, so tragen nun seine feuilletonistischen Reisebilder stärker als seine literarischen Arbeiten über Griechenland zu seiner Bekanntheit bei. Daß er nach seiner Rückkehr in Deutschland mit einer gewissen Neugier empfangen wird, dürfte nicht zuletzt auf seine vielfältigen Zeitungsbeiträge […] zurückzuführen sein.« Theodor Däubler, »Gleichgewicht im Kosmos [1931]«, in: Ders., Dichtungen und Schriften, S. 673–687, hier S. 673. Vgl. Ders., »Die Idee des Nordlichts [1930]«, in: Ders., Das Nordlicht. Apparatband, hrsg. v. Stefan Nienhaus u. Dieter Werner (Kritische Ausgabe; 6.3), S. 91–99, hier S. 91: »Um die Idee des Nordlichts, über die ich Ihnen heute Auskunft geben soll, haben sich alle meine Gedankengänge, alle meine poetischen Einfälle kristallisiert. Ich bin der Idee verhaftet geblieben.« Vgl. Rietzschel, Theodor Däubler, S. 70.

Mythische Gegenwelten

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Im Nordlicht spielte Griechenland keine bedeutende Rolle.231 Diese Lücke schließen die Großessays, die teilweise in kürzester Zeit entstehen, Delos, Sparta und Der heilige Berg Athos. Auch für die Auseinandersetzung mit Däublers eher journalistischer Reiseprosa ist die Kenntnis dieser grundlegenden kosmosophischen Gedanken unabdingbar.232 Der Großessay Delos kann als Ergänzung zu diesen Überlegungen verstanden werden.233 Auf die dort entwickelten Positionen kommt Däubler in seinem Spätwerk immer wieder zurück. In diesem von Zeitgenossen zumeist abgelehnten Essay234 geht Däubler in verschlungenen Wegen dem Wirken Apolls in der Kulturgeschichte nach.235 Der Gott ist für Däubler »Sonne im Menschen«.236 Er steht für Vergeistigung und Reinigung, ja für die Freiheit des Menschen: In »der Gestalt Apollos erfaßte damals der Mensch eigenes Erwachen als Richter zur Sonne«.237 Apoll ist 231

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Vgl. Dieter Werner, »Delos und Athos. Kulturkritik und soziale Utopie im Werk Theodor Däublers«, in: Ders. (Hrsg.), Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst, S. 115–175, hier S. 161: »Das Ich der NordlichtDichtung durchläuft den Erlösungsweg einer Evolution des Geistes, der es im ersten Band durch Geschichte, Kultur- und Kunsthistorie der italienischen Städte Venedig, Rom, Neapel und Florenz führt. Nach einer Überleitung durch den antiken griechischen Orpheusmythos hat es im zweiten Band die Stationen aller Großkulturen der altweltlichen Geschichte und Mythologie zu durchlaufen, bis es schließlich über ›Die Auferstehung des Fleisches‹ im ›Geist‹ zu seinem End- und Erlösungspunkt kommt.« Vgl. ebd., S. 163: »Im Laufe des mehrjährigen Griechenlandaufenthalts erfährt Däublers Privatmythologie eine Transformation und Klärung durch intensive Beschäftigung mit der antiken Kunst und Mythologie.« Theodor Däubler, »Delos. Den Manen der Ahnen«, in: Deutsche Rundschau 202 (1925), S. 178–229; S. 310–351. Vgl. Rudolf Pechel, »Brief an Theodor Däubler, 17. 11. 1925«, in: Rietzschel, Theodor Däubler, S. 369: »Zweitens aber ist die Veröffentlichung von ›Delos‹, ganz wenige Ausnahmen abgesehen, auf ein derartiges Unverständnis gestoßen, daß sie der ›Deutschen Rundschau‹ direkte Feindseligkeiten eingetragen hat. Wenn ich nun auch der Überzeugung bin, daß die ganze Arbeit dem besten Leser gelten muß, kann ich bei der gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen Lage es dem Verlag gegenüber nicht verantworten, durch Veröffentlichung von weiteren Arbeiten von Ihnen in nächster Zeit neue Abonnementsverluste herbeizuführen.« Vgl. hingegen Rudolf Pannwitz, »Brief über Delos«, in: Deutsche Rundschau 51 (1925), S. 67–71. Vgl. Dieter Werner, »Delos und Athos«, S. 165: »Für Däubler wird Apollo zum paradigmatischen Schlüssel für das Verständnis der griechischen Antike. Durch die apollinischen Kulturideale Klarheit, Heiterkeit, Besonnenheit und Maßkundigkeit werden ihm die griechischen Stämme erstmals aus ihrer Naturverhaftung zur Geistigkeit befreit.« Däubler, »Delos«, S. 179. Ebd., S. 180.

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für Däubler untrennbar mit der europäischen Kulturentwicklung verbunden, er ist »Gott der Verbundenheit mit der gemeinschaftlichen europäischen Kultur«.238 Diese allumfassende Position, die gerade vor dem Hintergrund der ansonsten virulenten antieuropäischen Ideologie einer deutsch-griechischen Sonderbeziehung durchaus anziehend wirkt, versucht Däubler durch eine beeindruckende Beispielreihe zu stützen. Künstler der italienischen Renaissance wie Michelangelo und Raffael, Philosophen wie Giordano Bruno, Feldherren und Staatsführer wie Napoleon sind für ihn allesamt »[a]pollinische Menschen«.239 Von entscheidender Bedeutung ist die synkretistische Ineinanderziehung von Apoll und Christus. Jesus, der »Lichtgott aus dem verpönten Nazareth«240 ist die »Sonne unter uns«.241 Die Präsenz Apolls auch im christlichen Mittelalter und in der Neuzeit ist für Däubler selbstverständlich, ja sie widerspricht für ihn nicht gängigen Vorstellungen eines heidnisch-christlichen Gegensatzes:242 »Die Götter Griechenlands sind unsterblich; uns, für die sie zur Welt kamen, vielleicht etwas entrückt, doch vom künftigen Menschen nicht allzu gesondert, keinesfalls mehr in Verbannung!«243 Vor diesem Hintergrund fordert Däubler, der darin konservativen Kulturkritikern nahe steht, eine neue Klassik, die »von der Erfahrung ausgehen [solle], daß im Hellenentum das Christliche bereits verwurzelt« sei.244 Implizit stilisiert sich Däubler so zu einem neuen Klassiker. Seine intensive Auseinandersetzung mit Goethe wird insbesondere an dem Essay Sparta deutlich.245 Auf eine kulturhistorisch fundierte Verteidigung der Homosexualität246 folgt im zweiten Teil des Essays eine ausführliche Interpretation des Helena-Akts von Goethes Faust II. Für Däubler ist Goethe offenbar eine Verkörperung des poeta vates – eines Dichterbilds, das er auch im Delos-Essay entwickelt. Für Däubler entspricht der Dichter einem Seher, der für die übrige Menschheit undurchschaubare und dennoch beweisbare Zusammenhänge erfasst und in seinem Werk gestalten kann:247 »Die Klärung sämtlicher erhebenden Kräfte, 238 239 240 241 242

243 244 245 246 247

Ebd., S. 332. Ebd., S. 335. Ebd., S. 220. Ebd., S. 218. Däubler selbst verstand sich als gläubiger Protestant. Vgl. Kemp/Pfäfflin, Theodor Däubler. 1876–1934, S. 52. Däubler, »Delos«, S. 200. Ebd., S. 341. Vgl. Theodor Däubler, Sparta. Ein Versuch, Leipzig 1923. Vgl. Rietzschel, Theodor Däubler, S. 224–230. Vgl. Däubler, »Delos«, S. 211: »Wir schreiben hier keinen Versuch über die ehrwürdigen Weisen der Antike, sondern uns liegt daran, hervorzuholen, wie die

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die in der Natur Geheimnis bleiben, vollbringt der Dichter«.248 Als »Wahrsager eines kommenden Lichtgestirns«249 kommt ihm quasi-religiöse Bedeutung zu. Erstaunlich wirkt dabei die hohe Bedeutung, die Däubler seinem Weltentwurf zuschreibt: Würde sich die Menschheit an seinen Vorstellungen orientieren, werde sie den Weg zum Heil finden.250 Bei diesen Belegen eines hypertrophen Selbstverständnisses handelt es sich um mehr als bloße Spielerei. Dichtertum als Gottesdienst und Dichtung als Kulturkritik – diese beiden Pole bestimmen Däublers Schriften über Griechenland. Griechenland ist in Däublers Weltsicht als der Ort, an dem sich der Mensch zum ersten Mal zu geistiger Klarheit erheben konnte, von besonderer Bedeutung. 3.1.3.

Däublers Reiseessays zwischen Mythisierung und Selbstironie

Däublers Reisetexte entstehen im Spannungsfeld von mythischem Anspruchsdenken und der Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Wie kaum anders zu erwarten, sind die Ergebnisse äußerst disparat. Sie leiden oftmals unter der kaum motivierten mythologischen Überfrachtung und schwanken zwischen willkürlichen Alltagsschilderungen und Reihungen kulturhistorischer Fakten, die ohne eine tiefere Einsicht in Däublers Weltsicht kaum verständlich sind.251 Trotz der erdrückenden Last seiner Privatmythologie gelingen Däubler einige wenige Reisestücke, in denen er den oben skizzierten Anspruch mit den Anforderungen literarischen Schreibens über ein Reiseerlebnis verbinden kann und die den Balanceakt zwischen kulturhistorischer Mythopoetik und Darstellung des Reiseerlebnisses bewältigen.

248 249 250

251

Wahrhaftigkeit der Götter, daß ihr wirksames Bestehen in oft anderer Offenbarung – die Veränderung ist vorzüglich durch Wechsel unseres Wesens bedingt – sich eigentlich für einen verständig Prüfenden als beweisbar darstellen kann. Auch ist das Licht nicht bloß Gleichnis für hohe Gesinnung, der Gang zur Sonne bei uns niemals ein Vergleich [ ! ], sondern wir halten diese urbildliche Sprache, wo wir sie führen, als den Tatsachen gewachsen: Menschen sind bereits Sonne, die, selbstbestimmend auf feindlichen Schollen eingesetzt, den übrigen Gestirnen gegenübergestellt, doch aber erst für Gott, als der Ihm eingeborenste Stern, in Lebendigkeit dereinst zuhöchst errungen sei!« Ebd., S. 183. Ebd., S. 341. Vgl. Werner, »Realität und Erwartung«, S. 16: Däubler hege »die überzogene Erwartung, daß, wenn die Deutschen sich nur bereit fänden, das Nordlicht anzunehmen, sich daraus die Lösung aller politischen, ökonomischen und sozialen Probleme für sie ergeben würde.« Vgl. die Texte in Theodor Däubler, Griechenland; vgl. auch die Nachweise bei Hüllen, Mythos und Christentum bei Theodor Däubler.

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In dem 1922 entstandenen Prosastück Santorin nutzt Däubler das Medium der Reisebeschreibung, um seine Rolle als Autor zu problematisieren und zu ironisieren.252 Däubler schildert einen mehrtägigen Aufenthalt auf der Insel Thera. Das Prosastück ist vor allem deswegen bemerkenswert, da Däubler damit einen Mittelweg zwischen Reiseschilderung und Darstellung seiner Mythologie erprobt. Am Beispiel der Reaktionen auf seinen schweren Sturz in unwegsamem Gelände stellt er ironisch die Mythisierungstendenzen dar, denen er aufgrund etlicher Missverständnisse unterliegt. Zugleich bedeutet diese Ironie nicht den Verzicht auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit zentralen Komponenten seiner Weltsicht: Auf zwei getrennten Ebenen differenziert Däubler zwischen den naiven Zuschreibungen der Einheimischen und einer tieferen Wahrheit, die nur dem Seher-Dichter zugänglich ist. Bereits die Reisezeit – es ist Mitte August, kurz vor Mariä Himmelfahrt – und das Sternenbild des Perseus, das am Himmel sichtbar ist, betonen den Ausnahmecharakter der Reise. Die Vulkantätigkeit und die bizarre Lage der Insel tun ein Übriges, den Aufenthalt auf Thera zu einem besonderen Ereignis zu machen. Die kosmischen Ereignisse und der christliche Festkalender deuten gleichermaßen darauf hin, dass die Reise zu einem besonderen Zeitpunkt erfolgt. Als sei dies nicht genug, bringt ein Einheimischer die Nachricht, »vorgestern wäre ein Stern, größer als die Hochkirche zu Hermupolis auf Syra, bei Eponameria, drüben auf Thera, vom Himmel gestürzt«.253 Däubler und sein Reisegefährte – ein »etwas abergläubisch[er]«254 junger Dichter – gehen dieser Sensationsmeldung nach. In der bizarren Lavalandschaft kommt es zu einem folgenschweren Ereignis: Vor uns, hundert Meter weit, starrte ein Obelisk aus gestocktem Blut. Welches Wunder der Verwandlung: wer hätte es nicht angestaunt? Niemand sprach ein Wort, wir huschten, womöglich lautlos, von Lavablock zu Lavablock; hellgewandet jeder auf scharlachrotem, korallenrosa Gestein. Das Meer führte die Sprache. Es fiel mir ein: die lebendige Welt ist laubgrün, meerblau, hier oben ungewohntrot, die See durch Spieglung purpurn. Eigentlich heischt so eine Verändrung: sterben! Um zu fliegen! Darum bröckeln auch diese Felsen schnell ab. Sie sind zu ungewöhnlich. Auch überspannte Menschen, Rotforderer, Lilasichtige zerstäuben früh. War mir dieses Rot plötzlich Hölle, Hoffnung, Nordschein geworden? Obwohl ich da verbleiben wollte, hopste ich rascher, ganz unbedachtsam. Fast unterm Blutobelisk, tanzte, als ich draufsetzte, ein weinroter Lavatrümmer unter

252 253 254

Theodor Däubler, »Santorin«, in: Deutsche Rundschau 194 (1923), S. 160–180. Ebd., S. 164. Ebd., S. 167.

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meinem rechten Fuß in die Tiefe. Ich ihm nach. Kopfüber. Wie tief ? Nicht das war mein schnellstes Denken, wohl aber: in Gottes Hand!255

Däubler inszeniert hier ein lebensgefährliches Erlebnis inmitten einer bizarren Landschaft, die er in der Beschreibung symbolisch auflädt. Sie erscheint als eine Sphäre des Todes; ihre Atmosphäre wirkt zurück auf den reisenden Dichter: Der Effekt der Lavalandschaft ist offenkundig so stark, dass der von seinen Eindrücken überwältigte Däubler zu Fall kommt. Zuvor deutet er Gesteinsstrukturen als Sinnbild für Überspanntheiten und überspannte Menschen. Die Farbe Rot deutet auf die unbelebte Sphäre hin: Die Lavaformationen sind menschenfeindlich und potentiell gefährlich. Auch Däublers Sturz ist Ausdruck dieser Gefährdung. Er endet glimpflich; lediglich die Begleiter des Dichters sind erschrocken, als sie den stark blutenden Däubler bergen: Auf einmal sahn die Augen nichts, ich griff nach dem Hut: er war voll warmer Weichheit, so rot wie der Stein, auf dem ich mich befand. Blut hatte bloß die Wimpern beträuft, das Sehen verhängt. Nun tastete ich den Kopf ab: aus drei Wunden stürzte Blut. […] Auch zwei Risse in den Beinen bluteten; ich troff schon ganz rot übersprudelt, konnte aber die Glieder, mit etwas Hilfe, erheben, […].256

Das Rot – »Hölle, Hoffnung, Nordschein«257 – überzieht auch den Autor. Er wird so gleichsam Teil der bizarren Vulkanlandschaft. Diese Passage ist typisch für Däublers Prosastil: Ungewohnte gedankliche Verknüpfungen, abgerissene Sätze, rhetorische Fragen, zahlreiche Farbadjektive und ekstatische Ausrufe in der Lyrik angenäherter, nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Alliterationen und Assonanzen rhythmisierter Sprache verbinden sich zu einem eigentümlichen Gebilde. Der Rest des Textes ist – wenig überraschend – von Erinnerungen an diesen spektakulären Sturz durchzogen. Allerdings sind diese Verweise bemerkenswert ironisch. So schildert Däubler, wie ihm sein Ruhm auf der ganzen Insel vorauseilt.258 Das tatsächliche Ereignis wird von der Inselbevölkerung umgedeutet: Der Reisende ist von nun an »der Fremde, dem bei Epanomeria die Sternschnuppe auf den Kopf geflogen« ist.259 Dieses Ereignis rückt Däubler für die Inselbewohner in eine mythische Sphäre: In allen Dörfern steht er im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Beschreibungen der Versuche, dieses Thema zu vermeiden, tragen geradezu humoristische Züge: 255 256 257 258

259

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. das Foto Däublers mit der »Santorin-Narbe« in: Kemp/Pfäfflin, Theodor Däubler. 1876–1934, S. 33. Däubler, »Santorin«, S. 169.

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»Besonders schnuppenreich war der, nun fast vergangne, August!« hub er an. »Eine soll sogar …« Weiter kam er nicht. Was ich vermag, an Strenge, Entschiedenheit aus den Augen sternen zu lassen, schnuppte ich ihm sofort ins enttäuschte Gesicht … so daß er schwieg.260

Theodor Däubler ironisiert in diesen Passagen weniger sein eigenes Dichterverständnis als vielmehr mit ungewohnter Leichtigkeit die Zuschreibungen, denen er permanent ausgesetzt ist. Schließlich stehen diese bewusst leicht gehaltenen Textstellen unverbunden neben Passagen, in denen Däubler mit voller Überzeugung seinen kosmologischen Privatmythos entfaltet: Dem Aberglauben der Inselbewohner steht seine Visionskraft gegenüber, die intuitiv kosmische Zusammenhänge erkennt. Er habe »der Götter Wahrhaftigkeit, in klarster Nacht, geschaut«.261 Der hymnische Schluss des Essays verweist auf den Beginn des Textes; wiederum evoziert er apollinische Vorstellungen von der Sonne als Symbol der Reinigung, wie sie gerade in Griechenland zu erleben sei.262 In dem Reisestück Santorin versucht Däubler eine Verbindung zwischen weltanschaulicher Prosa und Reiseschilderung. Anekdotische Schilderungen wechseln sich mit quasi-religiösen Verkündigungen ab, deren hoher Ton den prophetischen Selbstanspruch des Autors verdeutlicht. Diese angestrebte Vereinigung allerdings ist durchaus problematisch, steht doch die Ergriffenheitsprosa des Schlusses seltsam unverbunden neben den Alltagsschilderungen. Fehlende Übergänge machen es nicht leicht, ja streckenweise sogar unmöglich, dem Gedankengang des Textes zu folgen. Gerade diese Mischform aber bedeutet eine Innovation: Indem Däubler seine mythopoetischen Überlegungen in die Form des Reisefeuilletons integriert, verbreitert er die Rezeptionsangebote seiner Texte, die – anders etwa als der Essay Delos – ein vergleichsweise großes Publikum erreichen können. Im Mittelpunkt des Textes steht die Figur des Autors, der sich zum weisen und abgeklärten Reisenden stilisiert, der über die empirisch erfahrbare Realität hinausschaut und den Zeichencharakter der Welt erfasst und literarisch gestaltet. Das Prosastück Santorin, das teilweise die Grenze zur Groteske streift, bedeutet einen Extrempunkt innerhalb von Däublers Reiseessays. Daneben existiert eine ganze Reihe von Reiseskizzen, in denen die Erfahrung einer 260 261 262

Ebd., S. 175. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180: »Die Sommernacht geht bald vorbei. So erprobe mich, Sonne, solange ich den Leib vertrage: segne und bescheine ihn. Für Thera steigst du, dreißigblättrige, im Winter über Rhodos, altasiatisch, Rose lodernder Vollkommenheit, empor. Nun, im Sommer aber, über Patmos, millionenblättrig, aus holdem Hoffnungsgold, bloß Osten. Rose, komm, uns gewogen: o Sonne.«

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idyllischen Natur dargestellt wird, die mit der Welt des Mythos verbunden ist. In den Texten Ithaka und Wie nahe sind uns Dinge versucht Däubler eine phänomenologische Annäherung an Griechenland, seine Natur und seine Bewohner. So schildert er in dem Essay Ithaka »einen der wunderreichsten Ausflüge des Lebens«.263 Däubler verbindet dort feinste Naturschilderung mit einem Liebesbekenntnis zu Griechenland, das tiefe Geheimnisse verkörpere.264 In dem Essay Wie nahe sind uns Dinge265 konzentriert sich Däubler auf die Wiedergabe von Alltagsimpressionen. Er reiht Beschreibungen unterschiedlichster Bereiche des Alltagslebens auf der Insel Poros aneinander. Dabei kommt es, wie bereits der Titel andeutet, darauf an, das Individuum in seiner Verbundenheit mit seiner Umwelt darzustellen: »Niemals jedoch merkte ich, wie in Poros, während einiger Sommertage, daß Dinge ganz nahe an mich herangelangen können!«266 Diese Empathie ist ausschlaggebend für ein tieferes Weltverständnis, das der Text demonstriert. Eine gewisse Tragik liegt darin, dass diese gelungenen Miniaturen von ihrem Autor als nicht vollwertig abqualifiziert wurden. Gerade in kleinepischen, scheinbar anspruchslosen Formen kann Däubler tatsächlich das von ihm angestrebte Alleinheitserlebnis gestalten, sei es in der geradezu pointillistischen Beschreibung der Außenwelt (Wie nahe sind uns Dinge) oder in der spielerischen Nachfolge des homerischen Epos (Ithaka), während die Sprachgewalt der großen Essays zu dem Eindruck der Selbstreferentialität beiträgt. 3.2. Klosterwelten. Neumystische Konstrukte bei Theodor Däubler und Franz Spunda Die Welt der orthodoxen Mönchsklöster blieb Reisenden lange fremd. Dies lag sicherlich an ihrer schweren Zugänglichkeit, vor allem aber daran, dass die Reisenden primär auf der Suche nach dem klassischen Griechenland waren. Bernhard Guttmann geht so weit, die Griechen als »das Volk ohne Mittelalter«267 zu bezeichnen: Seine Einschätzung ist durchaus typisch für die Attitüde der meisten Reisenden, die entweder die Überreste dieser Epoche ignorieren – wozu die offizielle Politik beiträgt, die mittelalterliche Überbauungen antiker Ruinen abtragen lässt und vielfach Orten ihren untergegan263 264 265

266 267

Theodor Däubler, »Ithaka«, in: Deutsche Rundschau 190 (1922), S. 39–47, hier S. 42. Vgl. ebd., S. 44. Theodor Däubler, »Wie nahe sind uns Dinge«, in: Das Inselschiff 5 (1924), S. 28–42. Ebd., S. 29. Guttmann, Tage in Hellas, S. 53.

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genen antiken Namen wiedergibt – oder aber das Wahrgenommene im Vergleich mit dem antiken Erbe abwerten. Die meisten Reisetexte über Griechenland konzentrieren sich auf das Erlebnis der Antike. Zwar kommt es um die Jahrhundertwende zu einer folgenreichen Akzentverschiebung weg von der klassischen und hin zur archaischen Periode, die Dominanz des AntikeIdeals jedoch wird davon nicht berührt. Die eigentlich absurde Situation, die jüngere Geschichte des bereisten Landes zugunsten einer weiter zurück liegenden Vergangenheit zu negieren, ist nicht nur für die westlichen Reisenden bezeichnend, sie prägt auch das Handeln politischer Institutionen in Griechenland, die alles daran setzen, sich als legitime Erben der alten Griechen darzustellen und auf diese Weise ihr Gewicht im Zusammenspiel der europäischen Mächte zu behaupten. Dies ändert sich in den 1920er Jahren signifikant. Zwar schilderten auch Autoren der Jahrhundertwende vereinzelte Eindrücke aus orthodoxen Klöstern,268 die Mönchsrepublik des Athos aber blieb (mit Ausnahme von C. Fredrichs Reisebericht Vor den Dardanellen, auf altgriechischen Inseln und auf dem Athos und Otto Kerns Nordgriechischen Skizzen) unberücksichtigt, wohl auch, da sie noch zum Osmanischen Reich gehörte. Die Mönchsrepublik im Nordosten Griechenlands war lange Zeit für Besucher nur schwer zugänglich. Zudem lag sie abseits der üblichen Reiserouten, was für die geringe Zahl von literarischen Zeugnissen ausschlaggebend sein dürfte. Wenn überhaupt die Welt der Orthodoxie gewürdigt wurde, standen zumeist andere Klöster im Fokus, die gleichsam auf der Durchreise besichtigt werden konnten, wie etwa Daphni bei Athen oder Hosios Loukas in der Nähe von Delphi. Die Athosklöster hingegen erfordern eine Art des Reisens, die für Griechenland erst in den Zwischenkriegsjahren häufiger wird. Die verstärkte Hinwendung zum orthodoxen Christentum und zu dem weltabgewandten Leben in den Klöstern kann – analog zu der Begeisterung für fernöstliche Kulte – als Symptom einer spirituellen Sinnsuche aufgefasst werden und ist nicht zuletzt im Kontext mit den immer stärker werden irrationalistischen Gedankenkonstrukten der Zeit zu sehen. Zwar hatte bereits Fallmerayer in seinen Fragmenten aus dem Orient die Klöster eingehend beschrieben.269 Bei aller Sympathie aber stellen sie letztlich das Leben in den 268

269

Vor diesem Hintergrund kann es als Aufwertung gelten, wenn Hugo von Hofmannsthal in seinen Augenblicken in Griechenland in dem Prosastück Das Kloster des heiligen Lukas die Welt des Mönchsklosters als Ausdruck einer uralten Frömmigkeit betrachtet, die der des benachbarten Delphi ähnelt. Vgl. Jakob Ph. Fallmerayer, Fragmente aus dem Orient, Bd. 2, Stuttgart/Tübingen 1845, S. 1–140 (»Hagion-Oros oder der heilige Berg Athos«, Teil 1 u. 2).

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Klöstern als primitiv und rückständig dar,270 während nun eine bewundernde Perspektive überwiegt. Dabei befinden sich die Athosklöster in den 1920er Jahren in einer prekären Situation: Zwar werden sie nicht mehr von Piraten und Osmanen bedroht, dafür aber ist ihre finanzielle Lage angespannt, da sie einerseits dem griechischen Staat Steuern zahlen müssen und andererseits die finanziellen Zuwendungen aus Russland ausbleiben. Die Reisenden erleben also eine gefährdete Idylle; die antimoderne Lebensform der Mönche ist vom Aussterben bedroht, hat aber gerade für die sinnsuchenden Westeuropäer ihre Anziehungskraft nicht verloren. Dabei sind viele der Klöster auf Einnahmen aus dem Fremdenverkehr angewiesen, so dass der vermeintliche Rückzugsort aus seiner Weltenthobenheit Gewinn ziehen muss. Die Öffnung für den Fremdenverkehr ist zugleich Anzeichen für die Gefährdung dieser Lebensform und treibt diese weiter voran. 3.2.1.

»Der Athos ragt in die Welt«. Theodor Däubler: Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III (1923)

Theodor Däubler hielt sich im Oktober 1921 drei Wochen lang auf dem Athos auf.271 Der Essay Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III,272 der im Dezember 1921 in Athen entstand, changiert zwischen Reisebeschreibung und weltanschaulichem Essay, der im Wesentlichen eine Kompilation von antiken Mythen und christlichen Heiligenlegenden darstellt. In diesem Essay deutet Däubler die Welt als Zeichenvorrat. Die Empirie spielt nur insofern eine Rolle, als sie auf metaphysische Zusammenhänge deutet, die der Autor in hohem Ton in seinem Werk beschreibt, ja geradezu beschwört. In Däublers Essay mischen sich konkrete Reisebeschreibung und neumythische Setzungen, die durch den hymnischen Gestus der Sprache in den Rang von Glaubenswahrheiten überführt werden. Bereits die Geographie verdeutlicht die herausgehobene Stellung des Athos: Er erscheint als Sonnenuhr, der eng mit der ihn umgebenden, stets

270

271 272

Vgl. Dieter Werner, »Realität und Erwartung«, S. 21: »Fallmerayers Sympathien liegen jedoch durchaus bei den Fortschrittsidealen des 19. Jahrhunderts; er polemisiert gegen die Erstarrungstendenzen der orthodoxen Kirche«. Vgl. auch Veronika Bernard, »Trapezunt und der Berg Athos. Die Natur als Zufluchtsort vor der Zivilisation«, in: Eugen Thurnher (Hrsg.), Jakob Philipp Fallmerayer. Wissenschaftler, Politiker, Schriftsteller, Innsbruck 1993 (Schlern-Schriften; 292), S. 39–45. Vgl. Kemp/Pfäfflin (Hrsg.), Theodor Däubler. 1876–1934, S. 32. Vgl. Theodor Däubler, Der heilige Berg Athos. Eine Symphonie III, Leipzig 1923. – Vgl. auch Ders., »Zwei Klöster«, in: Das Inselschiff, Weihnachten 1922, S. 23–30.

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mythisch gedeuteten Inselwelt zusammenhängt.273 Der Beginn von Däublers Essay verortet den Athos fest im Kontext der griechischen Welt: In einer Reihung, die Däublers synkretistische Mythosauffassung demonstriert, lässt er Dionysos auf Hermes folgen, erwähnt den Kabiren-Kult auf dem benachbarten Lemnos, reißt die kultische Verehrung von Heroen wie Herakles an und gelangt schließlich zu Pythagoras und Alexander dem Großen, der über seine Mutter mit dem Berg Athos verbunden gewesen sei.274 Von Bedeutung ist zudem die Nähe zu Thrakien, wo Orpheus von den Mänaden zerrissen wurde. Für Däubler ist der Athos »Orphisches Geländ, indischer Gipfel in herrlicher Christenheit des Ostens«.275 Auch der Kult des Pan ist mit dem Athos verbunden; in einer panischen Fantasie imaginiert Däubler die Anfechtungen, denen die Mönche unterliegen.276 Heidnisches ist auf dem Athos also noch immer präsent, es ist aber in den neuen Mythos des Christentums übergegangen. Neben den geographischen Aspekten beschreibt Däubler die zeitliche Entwicklung, die Übergänge von heidnischer zu christlicher Religion. Der »Augenblick innerirdischer Entscheidung für den Athos selbst«277 sei mit der Ankunft der Gottesmutter am Athos gekommen. Däubler folgt hier christlichen Heiligenlegenden, die er seiner privaten Lichtmystik anpasst: Kaum hatte der Mutter Maria, in reinster Durchsichtigkeit, Johannes, Christi heißgeliebtester Jünger, in weißem Gewand, an Land geholfen, als alle Grotten des Athos Zungen aus Urlicht bekamen und die Verheißung des Opferlammes kundtaten.278

Theodor Däubler steckt also zu Beginn seines Essays programmatisch den Bezugsrahmen seiner Athos-Deutung ab und nimmt in relativer Kürze die Grundgedanken seines Nordlichts wieder auf. So gelingt es ihm, die oftmals als zutiefst ungriechisch empfundene Welt des Athos in einen Zusammenhang mit der griechischen Antike zu bringen, deren geistiger Gehalt nicht etwa endet, sondern in veränderter, ja veredelter Form den Gang durch die Jahrhunderte antritt, um schließlich im Nordlicht aufzugehen. Die Athos-Beschreibung dient aber nicht nur der variierenden Bestätigung der im Jugendwerk entwickelten Ideen, sondern auch der Etablierung einer neuen Bezugsgröße: 273

274 275 276 277 278

Vgl. Däubler, Der heilige Berg Athos, S. 7: »Wie hoch der Athos, übers Meer, in die Sonne emporsteigt: er ist ihre Uhr!« Vgl. ebd., S. 7f. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 20f. Ebd., S. 10. Ebd.

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In seinem Buch Der heilige Berg Athos rückt, im Gegensatz zu der im Essay Delos betonten Einheitlichkeit der aus den apollinischen Wurzeln hervorgegangenen europäischen Kultur, das verborgene Mysterium des Christuswirkens selbst ins Zentrum der Betrachtung. Däubler vertritt darin die These, daß nur durch die selbstvergessene Kontemplation der Athosmönche dem rastlosen Getriebe des säkularisierten Europa die Balance gehalten würde.279

Däublers Essay über das Mönchsleben gehört in den Kontext der konservativen zivilisationskritischen Literatur. So verspricht die Reise auf den Athos Heilung von zivilisationsbedingten Symptomen, nicht zuletzt von spezifisch modernen Identitätskrisen: »Ich suchte nicht mehr, als mir hoffentlich gebührte: einige Atemzüge Freiheit und bloß etwas Rast für die eigne Zerspaltenheit.«280 Auch die Freude über die unberührte Natur, die noch der des alten Griechenlands entsprechen dürfte, bewegt sich im Rahmen üblicher Antike- und Ursprungsbegeisterung.281 In der bewaldeten Gebirgslandschaft erfährt der Erzähler zunächst die Präsenz antiker Mythen: Der Blick nach Kleinasien, nach Troja, evoziert die Welt der homerischen Epen.282 Dieser Antikebegeisterung steht allerdings die eindringliche Selbstermahnung des Erzählers entgegen, sich nicht in diesen antikisierenden Fantasien zu verlieren: Erebos und Hades, ihr seid unzertrennlich gesondert wie Brust und Atem. In das Verschluchtungsdunkel muß ich schweben: erlerne das, Seele, auf Felsen in Hellas. Erwalle den Hades, damit du die Stimme des Erebos findest: sei Stern seiner Finsternis. Allherz! Herbheit des Herzens: du bist im Kloster! Verweile nicht bei den Hellenen: vernimm dich zu Byzanz.283

Die Reise auf dem Athos wird somit zu einer Zeitreise ins Mittelalter. Anders als Hofmannsthal, der gerade den Frieden und die transparente Gelassenheit der Klosterwelt betonte, und Karl Otten, der den pathologischen Aspekt der mönchischen Lebensform hervorhob, unterstreicht Däubler die Abwendung von der Welt und Hinwendung zur Spiritualität, die kennzeichnend für die Welt der Mönche ist. Ausdruck dieser Spiritualität ist die Präsenz des Taborlichts auf dem Athos, also die unmittelbare Gegenwart des Göttlichen.284 279 280 281 282 283 284

Werner, »Delos und Athos«, S. 166. Däubler, Der heilige Berg Athos, S. 11f. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 14f. Vgl. ebd., S. 15. – Vgl. zum Taborlicht, das in der christlichen, insbesondere orthodoxen Mystik als die sichtbare Manifestation der Kraft Gottes begriffen wird, den Artikel von H. C. Graef, »Hesychasmus«, in: Joseph Höfer/Karl Rahner (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Auflage, Bd. 5, Freiburg i. Br. 1960, Sp. 307f.

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Dabei kommt für Däubler dem Athos zentrale Bedeutung für die westliche Welt zu: Der Athos wird gleichgesetzt mit den Heiligtümern der alten Griechen und ist einzigartig in der christlichen Welt.285 Diese Einzigartigkeit liegt auch in der Geschichte des Berges und der Halbinsel begründet, die – so Däubler – immer schon als Bollwerk gegen Asien gewirkt habe: »Noch jetzt ist der Athos die Urburg Europas: sie wandte asiatisches Unheil gar oft schon von Westländern ab.«286 Dass auf ihm die Frauen, ja auch weibliche Tiere, keinen Zugang haben, erklärt Däubler mit dem utopischen Charakter der christlichen Religion. Der menschliche Zeugungsvorgang ahme in lästerlicher Weise den göttlichen Schöpfungsvorgang nach; es bestünde aber Hoffnung auf Überwindung dieses Zustands: »Die Athoshoffnung fordert: Tod der Geburt!«287 Die Nähe zu den Positionen, die Däubler in seinem Sparta-Essay vertrat, liegt auf der Hand: In beiden Fällen geht es um Vergeistigung und die Sublimierung (hetero)sexueller Triebe. Die Mönche erscheinen ihm als Musterbeispiel für mystische Introspektion. In dieser Innenschau leisten sie Verzicht auf menschliche Beziehungen und setzen diesen die Suche nach dem inneren Licht entgegen. Auch sie befinden sich also auf der Suche nach dem Nordlicht, das sie in größtmöglicher Verinnerlichung zu finden hoffen: Der Mönche Antlitz, mit der Einfalt Tiefe, hab ich kaum erspäht: sie meiden auch den Menschenblick, der von der Sonne kommt; ihr Bruch mit unsrer Welt will Finsternis: durch gutes Dunkel suchen sie so stumm des Himmels Wunschgestirn im Wundersternenbild der Seele.288

Wenn Däubler in geraffter Form zahlreiche Legenden wiedergibt, die sich um die Athosklöster ranken, so dient dies dem Ziel, die Ausnahmestellung dieser Klosterlandschaft hervorzuheben. Bereits die Existenz des Athos ist ein Beleg für das Wunderbare.289 Die Welt der Mönche verdeutlicht die Erinnerung an die ursprüngliche – und wieder angestrebte – Einheit mit dem Göttlichen. Diese verlorengegangene Einheit ist auch Gegenstand von Däublers sprachmystischen Spekulationen, wonach sich bereits in der Silbe »Ur« das Göttliche manifestiere. So gewinnt der »Urkuß«290 eine besondere Bedeutung. Über eine Stufenleiter sei das Göttliche erreichbar.291 Däubler 285 286

287 288 289 290 291

Vgl. Däubler, Der heilige Berg Athos, S. 16. Ebd., S. 24. Däubler bezieht sich hier auf die Perserkriege und den vergeblichen Versuch des Xerxes, einen Kanal durch die Halbinsel zu ziehen. Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 46.

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aktualisiert hier biblische, mystische und theosophische Vorstellungen und macht wiederum den Berg Athos zu dem paradigmatischen Ort, an dem solch eine unio mystica möglich sei. Wie Delos für die Antike, ist der Berg Athos das Symbol der Präsenz des göttlichen Lichts in der Moderne: »Ursprünglich erglutet uns in dir Jerusalemlicht!«292 Der Athos gewährt somit dem modernen Menschen Zugang zu dem tiefsten Bereich der Religion. Er ist Kristallisationspunkt antiker und christlicher Mythologie, ein mystischer Ort, an dem sich die Nordlichtidee manifestiert. Diese Kraft solle sich, so Däublers utopische Vorstellung, gleichsam bündeln und weitergeben. Somit würde der Athos zu einer europäischen Größe, einer Kraft, die der modernen Zersplitterung entgegenstehen und den Weg zum Nordlicht weisen könne: Athos, gib durch dunkle Felsen, innerirdisch, untermeerisch, in von dir gewölbten Bögen, die zu dir, in tiefstem Bogen, hergelangte Glutenbrücke aus Jerusalem kühn weiter: nach Epirus und Illyrien, bis zur Donau, an den Dnjestr, und sogar hinauf zum Rhein, auch zur Rhône und bis zur Themse und so fort: fern zur Wolga und noch ferner!293

Däubler fordert in einer Gebetsformel den Athos auf, seinen segenspendenden Einfluss auf ganz Europa auszudehnen. Diese hymnische Anrufung des Athos verdeutlicht wiederum Däublers starke Bindung an seine privatreligiösen Vorstellungen. Er geht so weit, die Verwirklichung dieser Weltsendung zu imaginieren: »Ersprießt im Norden nun ein hellster Baum aus Traum? Sein guter Boden sei die Weltenwucht im Schlummer: Was nie gezeigt, noch unerreift, doch urereignet – sei erreicht.«294 Däubler gestaltet hier, wie die Vision Wirklichkeit wird. In einem an magische Beschwörungen erinnernden performativen Sprachakt stellt er die Erweckung auch des Nordens zu ewiger Vervollkommnung dar. Der Athos als »das gegenwärtige spirituelle Utopia Däublers«295 verkörpert religiöse Kraft. Däublers Athos-Buch ist so vor allem religiös-mystische Beschwörung und weniger die Beschreibung einer kulturhistorisch bedeutsamen Klosterlandschaft. 3.2.2.

Voyeurismus und Allerheiligstes. Franz Spunda: Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende (1928)

Bereits der Titel von Spundas Athos-Buch verdeutlicht, dass sich der österreichische Autor in hohem Maße an den Text Däublers anlehnt. Sein Reise292 293 294 295

Ebd., S. 48. Ebd., S. 52. Ebd. Werner, »Delos und Athos«, S. 168.

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bericht Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende (1928) stellt zum Teil den Versuch einer Popularisierung von Däublers Vorstellungen dar.296 Die Ähnlichkeit erstreckt sich bis hin zu wörtlichen Übernahmen.297 Insgesamt bedeutet Spundas Athos-Buch die Trivialisierung der kosmosophischen Denkmuster Däublers. Spunda nähert sich zudem protofaschistischen Positionen an, wenn er in einer dualistischen Gedankenfigur den reinen Asketen dem tierhaften Untermenschen entgegenstellt. Anders als Däubler räumt Franz Spunda in seinem Reisebericht dem Alltagsleben der Mönche breiten Raum ein. Obwohl auch für Spunda der Athos einer der Orte ist, an denen sich der Mythos kristallisiert und somit erlebbar wird, stellt er zugleich ein beschreibbares Reiseziel dar, das vielfach auf die gegenwärtige Welt verweist. So sind die Spuren der politischen Wirren der Nachkriegsjahre für Spunda auch auf dem Athos überall anzutreffen. Die Probleme der russisch-orthodoxen Klöster verweisen auf die russische Revolution und den Sieg des Kommunismus.298 Auch die griechisch-orthodoxen Klöster existieren unter erschwerten Rahmenbedingungen: Sowohl die Besteuerung durch die griechische Regierung als auch der zunehmende Raub von Kunstgegenständen und wertvollen Handschriften zeigen an, dass der Athos ein gefährdetes Paradies ist.299 Dies wiegt aber gering, verglichen mit der tiefen Religiosität, die in den Klöstern und bei den Eremiten erfahrbar wird. Spunda ist auf der Suche nach Spiritualität, nach mystischer Innenschau. Dabei schildert er die Religionsausübung der Mönche und vollzieht selbst deren mystische Aufschwünge nach. In den zurückgezogen und in völliger Einsamkeit lebenden 296

297 298

299

Vgl. Franz Spunda, Der heilige Berg Athos. Landschaft und Legende, Leipzig 1928. Vgl. Ders., Griechische Mönche, München 1928. – Vgl. zu dem Autor: Georg Hallmann, »Franz Spunda«, in: Die schöne Literatur 28 (1927), S. 433–437; Franz Rottensteiner, »Franz Spunda«, in: Joachim Körber (Hrsg.), Lexikon der utopisch-phantastischen Literatur, Loseblattsammlung, Ergänzungslieferung Meitingen 1987; Ludvík Václavek, »Wodurch hat Franz Spunda die deutschsprachige Literatur bereichert?« in: Germanistica Olomucensia I (1971), S. 25–46; Richard Zimprich, »Franz Spunda und sein Werk«, in: Ders. (Hrsg.), Franz Spunda. Daheim in Europa. Erlebtes und Erdachtes (Aus Mährischer Scholle; 1), Steinheim am Main 1955, S. 3–27; Ders., »Der Dichter Franz Spunda und sein Werk«, in: Sudetendeutscher Kulturalmanach 3 (1959), S. 57–60. – Die Wertungen der sudetendeutschen Beiträge sind kaum nachzuvollziehen: Sie versuchen, den NS-Autor Spunda zu einem Widerständler zu stilisieren. Vgl. Spunda, Der heilige Berg Athos, S. 5–8. Vgl. ebd., S. 131–160. Zugleich nimmt Spunda an den Mönchen eine erstaunliche Realitätsfremdheit wahr: So halten sie den Reisenden für einen Gesandten des Zaren. Vgl. ebd., S. 147f. Vgl. ebd., S. 33.

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Eremiten erblickt er die höchste Stufe der Religionsausübung. Für einen Reisenden ist ein Kontakt mit diesen Einsiedlern allerdings nicht möglich, meiden sie doch jeden Eindringling. Spunda gibt vor, diesen Drang nach Isolation zu verstehen und zu respektieren: Es wäre sträfliche Neugier, die Ruhe der Eremiten zu stören. Reportage mit dem Heiligsten zu treiben, ist taktlos und gemein. Wohl lockte es mich, ins Antlitz eines Verklärten zu schauen. Doch wie darf ich es wagen, vor ihm zu erscheinen, wie müßte ich schamrot werden vor ihm! […] Und: einen Heiligen, der sich interviewen läßt, überlasse ich anderen.300

Dabei handele es sich um »eine Entzauberung aller Athoswunder«,301 die eben dem angestrebten religiösen Erlebnis entgegensteht. Allerdings ist die Neugier Spundas so groß, dass er auf göttliche Fügung hofft, um so gleichsam zufällig mit einem Asketen zusammenzutreffen. Dieser Zufall stellt sich ein, als der Erzähler auf eine Ansammlung von Hütten trifft. Bedenkenlos dringt er in eine dieser Asketenunterkünfte ein und mustert interessiert die einfachen Habseligkeiten des Einsiedlers:302 Wie heilig und rein ist die Aura, die mich umgibt! Wer mag der Asket sein, der hier wohnt? Sein Schlaf ist rein und von Engeln behütet, seine Seele vom Göttlichen kindlich erfüllt. Fügte es der Zufall, daß mir der Fromme entgegenträte! Vielleicht lüde er mich ein, sein Lager zu teilen? Wie erhaben wäre es, Anteil an seinem Seelenfrieden zu erlangen – doch ich denke nicht weiter, ich glaube Schritte zu vernehmen.303

In dem Eremiten entwirft Spunda ein Bild völliger Reinheit und völligen Friedens: Seine Existenz ist von der Nähe Gottes bestimmt. Tatsächlich erscheint endlich der langersehnte Einsiedler, allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Erzähler im Halbschlaf neben der Hütte liegt. Um den Greis nicht zu verstören, stellt er sich weiterhin schlafend und wartet, bis er wieder allein ist.304 Von gewissen Skrupeln wegen seines unverschämten Eindringens geplagt, überlegt der Erzähler, wie er sein Vergehen wiedergutmachen kann: »Wie kann ich ihm trotzdem beweisen, daß ich ihn verehre? […] Geld darf er nicht annehmen, mit Schokolade und Zwieback ihn zu beschenken, das hieße, ihn zur Sünde verführen.«305 Schließlich erinnert er sich an eine Ansichtskarte des Wiener Stephansdoms, die er mit der Bitte um Nachsicht beschriftet und dem Einsiedler hinterlässt. 300 301 302 303 304 305

Ebd., S. 70. Ebd. Vgl. ebd., S. 90f. Ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 93. Ebd., S. 94.

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Diese Episode markiert in aller Deutlichkeit, dass Spunda zwar religiöse Ziele postuliert, letztlich aber von touristischer Neugier angetrieben wird. Er inszeniert einen günstigen Zufall, um sich so von den Vorwürfen übertriebener Aufdringlichkeit zu befreien – allein, diese Beschwörungen von Ernsthaftigkeit wirken angesichts von Spundas vorangegangener Indiskretion unglaubwürdig und formelhaft. Indem er den Leser zum Mitwisser macht, ihm den eigentlich verbotenen Blick in eine religiöse Lebensform gewährt, appelliert er nicht zuletzt an die voyeuristischen Triebe. Er treibt tatsächlich »Reportage mit dem Heiligsten«.306 Spunda schildert nicht nur die musterhaften Asketen, sondern stellt ihre Größe durch negative Gegenbilder deutlich heraus. Auch der scheinbar so weltentrückte Athos ist von drastischen Gegensätzen bestimmt. Insbesondere die nichtmönchische Bevölkerung vegetiert in einem dumpfen, ja geradezu vertierten Zustand dahin. Auch einigen Mönchen ist es nicht gelungen, ihren Seelenfrieden zu finden. So heißt es über einen Rumänen, der sich aus Buße auf den Athos zurückgezogen hat: Schon ist er zu sehr von Skepsis zerfressen; zum Heiligen ist er zu schwach und gnadenlos und zum Verworfenen wiederum zu ehrlich mit sich. Die Krankheit unserer Zeit hat ihn angefault.307

Selbst der Athos ist kein sicherer Zufluchtsort mehr vor den negativen Folgen der Moderne. Das Gegenteil dieses zu reflektierten Büßers machen die auf dem Athos ansässigen Laien aus, deren Spektrum von Geisteskranken bis hin zu triebgesteuerten und verwilderten Waldarbeitern reicht, denen vor allem der Geschlechtsverkehr mit Frauen und Alkohol fehlen. Dabei nimmt Spunda bei der Schilderung dieser Menschen die menschenverachtenden Tendenzen seines 1938 erschienenen Griechenland-Buchs vorweg. Wie dort die Juden, vergleicht er im Athos-Buch einen geistig Behinderten, der ihn von einem Kloster zu einem anderen führt, mit einem Tier: Apostoli ist ein richtiger Idiot, aus Thasos gebürtig, nun gut seit sechzig Jahren im Dienste des Klosters. Er kann nur bellen, nicht sprechen. Sein Mund speit Wortkatarakte aus, Sprechbrei, der ihm über den grauen Bart rinnt. Mit diesem Halbtier bin ich nun allein im unübersehbaren Gewirr von Felsen und Schluchten.308

Seine Brustbehaarung ist für Spunda ein »zottiges Gorillafell«, seine Sprachversuche sind ein »heiseres Gebell, das wie das Kläffen eines bösartigen wilden Tieres klingt«.309 In kaum zu überbietender Deutlichkeit spricht Spunda 306 307 308 309

Ebd., S. 70. Ebd., S. 76. Ebd., S. 64. Ebd.

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von diesem »Narren«310 als dem »Abschaum der Menschheit«,311 der »ja kein richtiger Mensch ist«312 und deshalb auch am Sonntag arbeiten muss: Für ihn ist die Teilhabe am Göttlichen nicht möglich. Diese von Ekel und Abscheu geprägte Schilderung entwickelt den Gegenpol, vor dem erst die hohe Stufe zu denken ist, die die asketischen Mönche auf dem Athos erreicht haben. Sie konnten sich von ihrer Triebnatur befreien, um nun in höchster Vergeistigung ihre Religion als Zwiesprache mit dem Göttlichen zu zelebrieren. An der Heiligkeit der Asketen besteht keinerlei Zweifel.313 Spunda vergleicht die orthodoxen Asketen mit denen Indiens – den »Heiligen mit ihren Yogaaugen«314 –, denen sie überlegen seien.315 Der Erzähler selbst strebt einen welt- und zeitenthobenen Zustand an, der dem der Asketen ähnlich ist. Wie dies in recht kurzer Zeit geschehen kann, lässt der Text offen, schließlich benötigen die heiligen Mönche etliche Jahre, um zu einer mystischen Weltaneignung zu gelangen. Spunda gelingt es in weit kürzerer Zeit, sich in einen solchen Zustand hineinzuversetzen. In deutlicher Anlehnung an die Ich-Erweiterungen der Jahrhundertwende stellt der Erzähler eine Totalitätserfahrung dar. In idyllischer Abendstimmung, die mit der Erfahrung einer unzerstörten Natur an einem Ort der Verinnerlichung, dem Kloster Dionysiu, einhergeht, erlebt der Erzähler einen »dritten Zustand«, der in einem Einheitsgefühl mit der Umgebung gipfelt: Mit zuckenden Kehlen jagen die Schwalben durch die erdämmernde Luft. Vom Meer her wogt ein schwacher Nebel heran wie Geisterahnung eines wehen Gefühls. In den nahen Maulbeerbäumen schluchzt eine verschwärmte Vogelstimme. Kassandra jenseits des ertrunkenen Meeres verblutet sein Rubinlicht in fiebrigen Bluttönen.

310 311 312 313 314 315

Ebd. Ebd., S. 65. Ebd. Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 69: »Man hat die Mysten des Athos auch christliche Jogin genannt. Sicher ist der mystische Akt der Versenkung der gleiche wie jener am Ganges: Körperstellung, Regulierung des Atems, Wiederholung bestimmter Formeln. Wer die verschleiernde Schreibweise der Philokalia zu deuten versteht, wird manches Geheimnis enträtseln können. Aber immer wieder wird beteuert, daß das Training des Körpers nur Beiwerk sei, der Hauptinhalt der Philokalia sei eine Schulung der Tugend. Eine Wirkung nach außen hin wird nicht beabsichtigt im Gegensatz zu den Methoden der Jogin. Der Asiate will durch seine Askese eine Verklärung erzwingen, der Christ aber weiß [ ! ], daß alles letzten Endes doch nur von der Gnade Gottes abhängt.«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Bewegt starre ich in den verzuckenden Brand. Sprachlos lehne ich den Kopf an das Geländer und höre auf zu fühlen und zu sein. Es ist nicht Wachen, nicht Träumen, sondern ein dritter Zustand, wo alles da ist, alles ganz nahe und alles mehr ist, als es im Wachen oder im Schlaf sein kann. Erst als der vertraute Mond heraufkam, fand ich mich wieder, mitten im Sausen des Nachtwinds, der vom Athos herab auf mich stürzte und mich aus meiner wehen Beklemmung herausriß.316

Diese stereotype Passage, deren auf Däublers Texte verweisendes expressionistisches Pathos nicht eben originell ist, erinnert an die mystischen Aufschwünge der Jahrhundertwende. Auch das Vokabular stützt diesen Befund: Der Erzähler schildert eine Transparenzerfahrung, die mit der Auflösung der Grenzen der Individualität einhergeht. In seinem Reisebericht zitiert Spunda die trivialisierte Variante dieses epochentypischen Einheitsstrebens: In der anthropomorphisierten Natur erfährt er einen mystischen Aufschwung. Wie in seinem Griechenland-Buch unterläuft die Lust am schaurigen Detail die weltanschauliche Fundierung. Anders als Däubler reduziert Franz Spunda die Heiligenlegenden, die er ausführlich wiedergibt, auf ein kolportagehaftes Niveau. Sowohl bei Däubler als auch bei Spunda wird die zivilisationsmüde Sehnsucht nach Erleichterung einerseits und Kompensation andererseits überdeutlich. Spundas Sensationsgier zeigt sich auch daran, dass er sein Athos-Buch mit einer Geistergeschichte beschließt und deren Wahrheit durch sein unheimliches Gefühl beglaubigt.317 Sein Athos-Buch demonstriert so die Präsenz einer übernatürlichen Sphäre, allerdings einer spukhaften Welt von Legenden und Geistergeschichten, nicht die einer göttlichen Offenbarung, wie dies Däublers hymnischer Text versuchte. Die Texte von Theodor Däubler und dem mit ihm befreundeten österreichischen Autor Franz Spunda sind symptomatisch für das neu erwachte Interesse an den Athosklöstern. Sie gestalten einen zumeist vernachlässigten Aspekt Griechenlands: Motivation für die Hinwendung zur Orthodoxie ist die Suche nach authentischen spirituellen Erfahrungen. Wie bereits Hofmannsthal begreift auch Däubler Antike und Christentum nicht als Gegensätze, sondern vielmehr als unterschiedliche Manifestationen derselben Kultur. Franz Spundas literarische Arbeiten über Griechenland können als Versuche einer Popularisierung, ja Übersetzung von Däublers oftmals an der Grenze der Unverständlichkeit angesiedelten Prosagedichten gelesen wer-

316 317

Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 252–263 (»Die Geisterschlacht von Stawronikita«). Vgl. zu Spundas okkultistischen Tendenzen das folgende Kapitel.

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den.318 Während aber Däubler vor allem eine geistige Perspektive entwickelt, beschreibt Spunda detailliert das Alltagsleben. Er ist von einer geradezu voyeuristischen Neugier getrieben: Däubler beschwört das Heilige, Spunda dringt in die Sphäre des Heiligen vor, um seine touristische Neugier zu befriedigen, und trägt so mit zu dessen Profanisierung bei. 3.3.

»Die Geister der Tantaliden umstreichen ihre alte Burg.« Der Reisebericht zwischen esoterischem Traktat und Schauerroman

3.3.1.

Okkultismus und Antike

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gewinnen okkultistische Strömungen vermehrt an Bedeutung. Auch wenn die eigentliche Blütezeit von Okkultismus und Spiritismus um die Jahrhundertwende anzusiedeln ist, so lässt sich gerade für die 1920er Jahre im Kontext einer allumfassenden Sinnsuche ein Wiederaufleben des Interesses an übernatürlichen Phänomenen konstatieren.319 Diese Mode schlägt sich in der Literatur nieder:320 Romane von Gustav Meyrink und anderen Autoren thematisieren in enger Verbindung zu den okkultistischen Gedankenkonstrukten von Helena Blavatsky und Rudolf Steiner übersinnliche Ereignisse. Dass Thomas Mann im Zauberberg spiritistische Experimente darstellt, verdeutlicht die hohe Akzeptanz derartiger Strömungen. Auch in der Reiseliteratur der Zwischenkriegsjahre lässt sich diese Ausrichtung auf esoterisches Gedankengut beobachten, nicht zuletzt in Reiseberichten über Griechenland. Die Auswirkungen dieser Positionen sind nicht nur in dezidiert okkultistischen Texten greifbar, sondern geradezu Grundbestand der literarischen 318

319

320

Symptomatisch für das Abhängigkeitsverhältnis ist Spundas Würdigung anlässlich Däublers 50. Geburtstag: Franz Spunda, »Theodor Däubler. Zum fünfzigsten Geburtstag des Dichters«, in: Das Inselschiff 7 (1926), S. 181–178, bes. S. 178: »Darum hat die Gegenwart die Pflicht, in Däubler einen großen Dichter einer gigantischen Weltidee zu verehren, wofern sie nicht in ihrem Kulturgewissen erschüttert werden will.« Vgl. Helmuth Kiesel, »Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik«, in: Jochen Schmidt (Hrsg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 497–521. Vgl. Marianne Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991, S. 70: »Der quantitative Höhepunkt der Fantastik-Produktion zwischen 1890 und 1930 liegt jedenfalls in der Zeit der Weimarer Republik und hier wiederum in den Jahren 1919–1926.« Vgl. zu den übergreifenden Kontexten Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele.

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Moderne.321 Auch die Texte der Jahrhundertwende über Griechenland, die spontanen vorrationalen Wissenserwerb beschreiben, weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit okkultistischen Vorstellungsweisen auf. Deutlicher ist der Bezug in den mythologischen Entwürfen Theodor Däublers,322 der selbst an spiritistischen Experimenten teilnahm.323 Während aber Däubler okkultistische Welt- und Geschichtsentwürfe in sein privatmythologisches System integriert und synkretistisch mit den unterschiedlichsten Mythen kombiniert,324 propagieren Autoren wie Franz Spunda oder Franz Carl Endres Positionen, die denen der okkultistischen Theoretiker äußerst nahe stehen. Im theoretischen okkultistischen Schrifttum spielt Griechenland eine durchaus bedeutende Rolle. So stellt Édouard Schuré in seinem weitverbreiteten Buch Die großen Eingeweihten325 unter anderem die griechischen Mysterienkulte dar, die den Eingeweihten Zugang zu einer hinter allen Religionen verborgenen Wahrheit geboten hätten. Dabei widmet sich Schuré insbesondere dem mythischen Sänger Orpheus (den er als historische Figur auffasst) sowie Pythagoras und Plato, die für ihn in die Reihe der in die geheimen Zusammenhänge eingeweihten Weltweisen gehören. Gerade in der Nachwirkung Orpheus’ liegt für Schuré die Ursache, dass in der naturfernen Moderne immerhin eine Erinnerung an Schönheit und Einheit vorhanden ist: Unsere Zeit glaubt nicht mehr an die Schönheit im Leben. Wenn sie trotzdem eine tiefe Erinnerung daran behalten hat, eine geheime und unbesiegbare Hoffnung, verdankt sie es diesem erhabenen Inspirierten. Begrüßen wir in ihm den großen Initiator Griechenlands, den Ahnherrn der Poesie und der Musik, indem diese aufgefaßt werden als Offenbarerinnen der ewigen Wahrheit.326

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Vgl. Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn u. a. 2005; Dies. (Hrsg.), Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare, Tübungen [ ! ]/Basel 2006 Vgl. Thomas Keller: Theodor Däublers gnostische Spekulation. Zwischen Mythenstapelei und Mythenreflexion, in: Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst, S. 95–136, bes. S. 120–123. Vgl. Pytlik (Hrsg.): Spiritismus und ästhetische Moderne, S. 547f., bes. Abb. 19 auf S. 548, die Däubler bei einer spiritistischen Sitzung mit einem Geist zeigt. Gerade in der Privatmythologie Theodor Däublers finden sich deutliche Anklänge an okkultistisches Gedankengut, ohne dass dieses seine Positionen dominieren würde. Allerdings kann sein zunehmender Verzicht auf semantische Kohärenz und die zunehmende Betonung der Materialität der Sprache als gleichsam magisches Verfahren beschrieben werden. Édouard Schuré, Die großen Eingeweihten. Skizze einer Geheimlehre der Religionen, übers. v. Marie Steiner, 3. Auflage, Leipzig 1918. Ebd., S. 195.

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Dabei zeichnet sich Schurés Darstellung durch zahlreiche sachliche Fehler aus – seine Schilderung des prähistorischen Griechenlands mitsamt des Koloss von Rhodos entspricht sicherlich nicht dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Jahrhundertwende.327 Er reichert seine Erzählung durch spannungssteigernde Elemente an, so dass seine Beschreibung etwa des eleusinischen Mysterienkults von höchster Evokationskraft ist und gleichsam zu literarischen Fortschreibungen einlädt.328 Es muss kaum betont werden, dass Schuré kaum einmal Quellen angibt: Intuition und Initiation sind entscheidend für seinen Zugang zur antiken Welt.329 Von zentraler Bedeutung für die okkultistischen Diskurse des 20. Jahrhunderts ist Helena Blavatsky. In ihrer monumentalen Geheimlehre erklärt sie aus der Perspektive einer angeblich in uralte Geheimlehren eingeweihten SeherSchriftstellerin, die sowohl pseudowissenschaftlich als auch okkultistisch-inspiratorisch argumentiert, die letzten Weltzusammenhänge. Dabei bietet sie keine zusammenhängende Darstellung der griechischen Kultur. Die entsprechenden Erwähnungen sind dennoch aufschlussreich, demonstrieren sie doch zum einen die Bedeutung der Griechen auch für obskurantistische Systeme und zeigen zum anderen die Funktionsweise und argumentativen Verfahren solcher Denkstrukturen in großer Deutlichkeit. So dient ihr beispielsweise die Weltalterlehre der griechischen Mythologie als Beweis für ihre Lehre von der Abfolge der Rassen:330 Da sich die vier Rassen bei den ältesten griechischen Dichtern erwähnt finden, wenn auch sehr verworren und anachronistisch, so sind unsere Lehren wieder einmal [ ! ] in den Klassikern bestätigt.331

Blavatskys Verfahren, synkretistisch nahezu sämtliche mythologische Bestände in ihr System einzupassen, tritt an dieser Äußerung deutlich zutage. Es verwundert somit auch nicht im geringsten, dass sie in ihrem Werk den Prometheus-Mythos ebenso wie Herodot und Homer als Bestätigung für 327 328

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331

Vgl. ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 364–385. – Vgl. auch Édouard Schuré, La genèse de la tragédie, Le théatre initiateur. Le drame d’Eleusis, Paris 1926. Schuré selbst bereiste den Orient und Griechenland: Sein Reisebericht legt den Schwerpunkt auf die Darstellung okkultistischer Geheimlehren. Vgl. Édouard Schuré, Sanctuaires d’Orient. Égypte – Grèce – Palestine, 2. Auflage, Paris 1907. Helena Blavatsky geht von einer Abfolge der Rassen aus, die bei einer rein geistigen ersten Rasse beginnt und bei der vierten Rasse, zu der der moderne Mensch gehört, vorläufig endet. Vgl. H. P. Blavatsky, Grundriß der Geheimlehre, zusammengestellt v. Franz Hartmann. Leipzig o. J., S. 73–76. Helena P. Blavatsky, Die Geheimlehre (The Secret Doctrine). Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie, Bd. 2: Anthropogenesis, Leipzig o. J. [1920], S. 283.

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

ihre Entwürfe hinzuzieht. Eben diese Tendenz des Umgangs mit der griechischen Antike findet sich in den beiden Reiseberichten, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen. Dabei nähert sich der Reisebericht entweder wie bei Franz Carl Endres der esoterischen Werbeschrift oder wie bei Franz Spunda dem fantastischen Roman an. 3.3.2.

Franz Carl Endres: Griechenland als Erlebnis (1929) und Franz Spunda: Griechische Reise (1926)

Franz Carl Endres, ein ehemaliger General, engagierter Freimaurer und Okkultist, lässt in seinem »Reise- und Erinnerungsbuch« Griechenland als Erlebnis keinen Zweifel daran,332 dass die Moderne von Verlusterscheinungen geprägt ist, die gerade im Kontrast mit der ewigen Schönheit der griechischen Antike deutlich werden: Unten das Heutige, das materialistisch Erwerbstüchtige, mit allen seinen Mitteln und Mittelchen, mit seiner aufgeschwollenen Wichtigkeit, und hier oben [auf der Akropolis] die Marmor gewordenen Schönheitsgedanken einer längst vergangenen Zeit.333

Die Reise nach Griechenland hat so gleichsam heilende Funktion, indem sie die Begegnung mit dem »gewaltige[n] Eindruck der Antike«334 ermöglicht, der zwar auch von modernen Begleiterscheinungen getrübt wird, über die der Reisende aber offenbar hinwegsehen soll. Der Kontrast der griechischen Gegenwart lässt die Kraft des Vergangenen noch deutlicher hervortreten: Das Gewühl der kleinen Gegenwartsmenschen! Wie sie wichtig waren! Wie sie in dieser Komödie [einer Militärparade] mitspielten, teils mit dem Lächeln der Wissenden, teils mit der Begeisterung der ewig Betrogenen. Und Musik! Jenseits aber, über dem Konstitutionsplatz, auf dem Kanonen und Maschinengewehre sich zur Parade versammelten, leuchtete in anderem Lichte die heilige »hohe Stadt«, nahe und in Einzelheiten gut erkennbar und doch so unendlich entfernt, so ganz fremd dem lächerlichen Treiben zu ihren Füßen.335

Die Antike ist das Sehnsuchtsziel der Reisenden. Um zu ihr vorzudringen, ist es unabdingbar, die profane Gegenwart zu überwinden. Die »Notwendigkeit eines persönlichen, seelischen Erlebnisses«336 hält Endres für essentiell, um

332

333 334 335 336

Vgl. Franz Carl Endres, Griechenland als Erlebnis. Ein Reise- und Erinnerungsbuch, 3. Auflage, Stuttgart 1929. Die Erstausgabe erschien wohl im selben Jahr. Ebd., S. 32. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 11.

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»griechisches Wesen und griechisches Schicksal«337 verstehen zu können, das im Gegensatz zu dem »Markt der Eintagsfliegen«338 unvergängliche Werte verkörpere. Endres macht kein Geheimnis aus dem ideologischen Hintergrund seiner Materialismuskritik. So erfährt der Leser, der Autor habe sein Leben der »Erforschung magischer Dinge«339 gewidmet. Und diese selbstgestellte Lebensaufgabe schlägt sich auch in dem Text über Griechenland deutlich nieder, insbesondere in der scharfen Abgrenzung von rationalistischem Denken: Und wer als Materialist durchs Leben taumelt, geblendet von dem Aberglauben, daß der menschliche Intellekt alle Rätsel löst, daß es kein ewig verschleiertes Bild zu Sais gibt, der soll sich gar nicht die Mühe machen, mit uns zu gehen. Vielleicht spielt gerade ein Jazz im Hotel Grande Bretagne! Dort findet er Passenderes für sein Bedürfnis.340

In einer polemischen Umkehr der gemeinhin als gültig angesehenen Verhältnisse erscheint der moderne Mensch als abergläubisch, eben weil er obskuren Mystizismus ablehnt.341 Zu dieser für Endres verderblichen Denkweise gehört gerade auch der »materialistische[ ] Aberglauben«,342 man könne Mythen als Märchen interpretieren. Für ihn hingegen sind Mythen »Erlebtes und Erinnerung an Erlebtes«.343 Gerade deshalb komme ihnen auch »naturwissenschaftlich allergrößte Bedeutung« zu.344 Dieser Gedanke entspricht genau den Positionen, die Blavatsky in der Geheimlehre entwickelt. Dort heißt es: »Alle ›Fabeln‹ Griechenlands würden sich auf geschichtlichen Tatsachen aufgebaut erweisen, wenn diese Geschichte nur rein von Mythen auf die Nachwelt gekommen wäre.«345 Die griechischen Mythen stehen für Endres in einem größeren Zusammenhang, sind Überbleibsel der untergegangenen atlantischen Kultur, von

337 338 339 340 341

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Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 39. Ebd., S. 87f. Vgl. Franz Carl Endres, Von den Grenzen unserer Erkenntnis, 4. unveränderte Auflage, Zürich u. a. 1935, S. 91 (Kursivierung im Original gesperrt): »Überall waltet das Geheimnis. […] Jede verantwortungsvolle Wissenschaft muss dieses Geheimnis anerkennen. […] Dieses grosse Geheimnis offenbart sich uns nun nur im Erleben, in Ahnungen, in Empfindungen, die oft der reinen Ratio widersprechen und doch sich als viel stärkere Realität erweisen, als Alles andere.« Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 19. Ebd. Ebd., S. 19, vgl. auch S. 21f. Blavatsky, Die Geheimlehre, S. 813.

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der alle Hochkulturen abstammten.346 Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung im esoterischen Schrifttum. Auch die Gedanken, der Mensch besitze eine Urerinnerung an Dinosaurier347 und sei einstmals mit einem dritten Auge ausgestattet gewesen,348 können ihre Herkunft aus dieser Richtung, insbesondere aus Blavatskys Geheimlehre,349 nicht verleugnen. Die Mythen vermitteln somit dem, der sie richtig zu lesen vermag, essentielle Wahrheiten und Einsichten. Allerdings rechnet Endres, wie er offen eingesteht, zumeist mit in die Geheimlehren uneingeweihten Lesern, die er allenfalls an die esoterische Wahrheit heranführen kann.350 346 347

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Vgl. Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 141f., S. 153f. Vgl. ebd., S. 122: »Man steht also direkt vor den gewaltig sich auftürmenden Bergwänden und braucht nicht viel Phantasie zu haben, um sich vorzustellen, wie diese Python, unzweifelhaft eine Erinnerung ältester menschlicher Geschlechter an die großen Saurier, hier aus der Schlucht sich auf die Beute, die am Berghang weidete, oder auf den Urmenschen, der hier hauste, in furchterregender Weise stürzte. Auf Grund der alten Mythen und Sagen, verglichen mit den Örtlichkeiten, an denen sie spielen, kommt man unweigerlich zu der heute auch in der Wissenschaft schon stark propagierten Ansicht, daß das Menschengeschlecht viel älter ist, als man bisher annahm, und zur Zeit der Saurier jedenfalls schon lebte.« Bei Blavatsky, Die Geheimlehre, S. 218, heißt es, »die Kenntnis solcher Tiere [sei] ein Beweis für das außerordentliche Alter des Menschengeschlechts«. Vgl. Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 145: »Ich habe hier leider nicht den Raum, um diese vielen wohl ketzerisch erscheinende Behauptung beweisen zu können. Jedenfalls darf ich meine Leser auf folgende Merkwürdigkeit aufmerksam machen. Die urältesten Idole des griechischen Gottvaters Zeus zeigen ihn mit einem Auge auf der Stirne. Der Zyklop Polyphemos des Homer hat ein Auge, und der altgermanische Gottvater Odin ist einäugig. Hierzu die wissenschaftliche Hypothese, die sehr viel für sich hat [!], daß in unendlich alten Zeiten die Menschen ein drittes Stirnauge besaßen, das sich im Laufe der biologischen Entwicklung in das Innere des Schädels zurückgezogen und zur Zirbeldrüse umgewandelt hat. Weitere Gedanken und Studien [!] zu diesem Thema muß ich meinen Lesern überlassen.« Vgl. Blavatsky, Die Geheimlehre, S. 302–329 (»Die Rassen mit dem ›dritten Auge‹«). Vgl. Blavatsky, Die Geheimlehre, S. 813: »Die ›einäugigen‹ Zyklopen, die Giganten, die der Fabel nach die Söhne des Coelus und der Terra waren – drei an Zahl, nach Hesiod – waren die letzten der drei Unterrassen der Lemurier, wobei das ›eine Auge‹ sich auf das Weisheitsauge bezog; denn die zwei Stirnaugen wurden als physische Organe vollständig erst am Anfange der Vierten Rasse entwickelt. Die Allegorie vom Ulysses, dessen Gefährten verschlungen wurden, während der König von Ithaka selbst dadurch gerettet wurde, daß er das Auge des Polyphem durch einen Feuerbrand austilgte, ist auf die psycho-physiologische Verkümmerung des ›dritten Auges‹ begründet. Ulysses gehört dem Kreise der Heroen der Vierten Rasse an und muß, obwohl ein ›Weiser‹ in den Augen der letzteren, doch nach der Ansicht der pastoralen Zyklopen ein Ruchloser gewesen sein.« Vgl. Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 99f.: »Auf Einzelheiten sind wir nicht eingegangen, denn diese Einzelheiten wären nur den Lesern verständlich, die in die

Mythische Gegenwelten

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Diese tiefere Wahrheit tritt für ihn zuallererst in der griechischen Kunst zutage, insbesondere in der Architektur: Von dem Aphaia-Tempel auf Ägina gehe »eine Wirkung […] aus, die unaussprechlich« sei.351 Die Aura des Tempels sei noch heute spürbar, eine »Atmosphäre des Zaubers«352 hindere die Einheimischen daran, allein oder bei Nacht den Tempel zu besuchen. Diese Wirkung des Tempels liegt für Endres darin begründet, dass er eben »nicht ganz symmetrisch«353 sei. Dies ist für Endres ein untrügliches Indiz dafür, dass der Tempel von Ägina im Altertum eine besondere Bedeutung gehabt habe: Es ist das Werk eines Eingeweihten, eines Magiers, ein Werk, das nicht im Dienste hieratischer oder staatlicher Repräsentation stand, sondern das im Dienste der reinen, unverfälschten Esoterik, Ahnungen und Empfindungen Ausdruck gab, die weit weg von allem den Sinnen Zugänglichen, weit weg von jeder Art von Materialismus sich befanden.354

Diese rational nicht erklärbare Wirkung ist laut Endres allen herausragenden Beispielen der griechischen Architektur zu eigen. Die von Eingeweihten konzipierten Bauwerke seien in der Lage, verborgene Seelenschichten des vom Materialismus deformierten Menschen zu berühren. Parthenon und Aphaia-Tempel »rufen das Geleugnete in uns«.355 Dem skeptischen Leser hält Endres entgegen, er solle eine Nacht in einem griechischen Tempel verbringen. Ein Äquivalent des Tempelschlafs werde auch das moderne Subjekt für Eindrücke von »Schatten von Wesen oder Wesen anderer Weltkontinua«356 empfänglich machen, die immer noch vor Ort seien.357 Esoterik ist für En-

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Geheimlehren eingeweiht sind, was doch nur von ganz wenigen angenommen werden darf.« Ebd., S. 41. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 42. Im Original kursiv. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 81f.: »Wir können so mancherlei lesen in sehr gescheiten Büchern über den Tempelschlaf im Altertum. Da wird uns erzählt, daß es sich hierbei um die Erregung von autosuggestiven Zuständen handelte, und es wird alles ganz genau erklärt. Aber hat auch nur ein einziger von denen, die alles wissen, ein einziges Mal allein in einem ägyptischen oder griechischen Tempel geschlafen? Wenn dann in der tiefen Stille der Nacht jahrtausendealter Marmor, der gesehen hat, wie unzählige Geschlechter wurden und vergingen, von unerkennbaren Lichtquellen geheimnisvollen Schimmer trinkt, und wenn die Einsamkeit zu flüstern beginnt! Wenn die Schatten von Wesen oder Wesen anderer Weltkontinua um uns wandeln, dem Auge nicht sichtbar, aber der geöffneten Seele fühlbar! Und dann, wenn der Mensch die dumme Angst überwunden hat, wenn er befreit und ruhig aufnahmefähig wird für Dinge, die sein grobes Sinneswerkzeug sonst nie be-

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

dres »die Herbeiführung eines Erlebens der Gottverbundenheit alles Lebendigen unter peinlicher Vermeidung jeder rationalen Präzisierung des Göttlichen«.358 Sie sei »die tragende Idee aller Geheimlehren aller Zeiten«.359 In nicht zu übersehender Nähe zu Édouard Schurés Bestseller Die großen Eingeweihten postuliert Endres eine esoterische und exoterische Religionsgeschichte; der wahre esoterische Kern jeglicher Religion sei nur den Eingeweihten zugänglich, zu denen Schuré unter anderem Hermes Trismegistos, Plato und Jesus von Nazareth zählt.360 Endres weist in seinem Reise- und Erinnerungsbuch also auf große geheimnisumwitterte Zusammenhänge hin, die er allerdings an keiner Stelle genauer ausführt. Mit missionarischem Eifer verquickt er in seinem Reisebuch Reisebericht, Reiseführer und okkultistischen Traktat.361 Welches Publikum er damit erreichen möchte, bleibt oftmals rätselhaft, empfiehlt Endres doch das von ihm als Hort moderner Unkultur und Lebenslust geschmähte Hotel Grande Bretagne ausdrücklich362 und gibt nicht zuletzt Hinweise auf das Programm von Kurzbesuchen. Diese reiseführerartigen Elemente stehen in scharfem Kontrast zu den zumeist penetrant-polemischen belehrenden Passagen, in denen Endres in pädagogischem Duktus auf für ihn unumstößliche Wahrheiten hinweist, die allerdings – einmal abgesehen von den haltlosen okkultistischen Spekulationen – einer historischen Überprüfung nicht immer standhalten. Wenn er etwa Perikles zum Pazifisten stilisiert und die angeblich friedliche attische der kriegerischen spartanischen Kultur gegenüberstellt,363 so wird deutlich, dass er unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs versucht, einen neuen Griechenmythos zu installieren, der zugleich pazifistisch und okkultistisch ist. Während Endres’ Text obskurantistische Behauptungen letztlich unverbunden neben Materialismuskritik, Reiseschilderungen und praktische Hinweise

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merkt, wenn er wie ein Kind im Torweg eines fremden Parkes mit großen Augen eine andere Welt erschaut!« Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. Schuré, Die großen Eingeweihten. Diese Affinität wird auch durch die Übernahme etlicher Passagen über Eleusis und den dortigen Mysterienkult aus dem Griechenland-Buch (S. 93–101) in Endres’ Schriften deutlich. Vgl. Franz Carl Endres, Alte Geheimnisse um Leben und Tod, Zürich/Leipzig 1938, S. 145–154. Vgl. Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 208: »In Athen ist das Hotel Grande Bretagne teuer, aber ausgezeichnet. Empfindlichen Reisenden empfehle ich, dort zu wohnen und zu essen.« Vgl. ebd., S. 25f.; S. 182–185.

Mythische Gegenwelten

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für Touristen stellt, führt im Fall von Franz Spunda diese Weltanschauung dazu, dass der Reisebericht dem okkultistischen Roman angenährt wird. Ein Vergleich der jeweiligen Schilderungen der Mykene-Besuche belegt diese Tendenzen. Endres erwähnt kurz die düstere Stimmung, ergeht sich aber dann in Spekulationen über die Herkunft der Erbauer der mykenischen Burgen. Die Zyklopenmauern seien ursprünglich von »Angehörige[n] einer atlantischen nordischen Rasse«364 errichtet worden, die »an Körpergröße viel gewaltiger war«365 als die späteren Bewohner Griechenlands – eine Vorstellung aus der theosophischen Lehre Helena Blavatskys, wo von etwa neun Meter großen Bewohnern des untergegangenen Kontinents Atlantis die Rede ist.366 Neben diesen theosophischen Exkursen tritt die Beschreibung Mykenes in den Hintergrund; stattdessen diskutiert Endres ausführlich die Herkunft des mykenischen Sagenkreises, der für den Autor »etwas Orientalisch-SadistischSchwüles«367 hat, ganz im Gegensatz zu den nordischen – atlantischen – Sagen, die immer auch Ausdruck einer »wundervollen, dahinter verborgenen Lichtreligion«368 seien. Die Atridensage ist vor diesem Hintergrund nurmehr eine Schwundstufe, eine östlich angereicherte Bearbeitung einer nordischen Ursage und eben deshalb grässlich und furchterregend. Dieser ausführliche mythologisch-theosophische Exkurs bildet die Grundlage einer denkbar knappen Sturmschilderung. In dem Unwetter sind gespenstische Wiedergänger plötzlich präsent: »Die Geister der Tantaliden umstreichen ihre alte Burg.«369 Ihre Präsenz ist für den Reisenden unmittelbar evident: »Urzeit spricht zu mir. Ahnungen huschen mich an. Ein Blitz zuckt Wahrheit. Aber der Intellekt kommt ihr nicht nach.«370 Unter diesen Eindrücken einer intuitiven Beglaubigung des Mythos verlässt der Reisende Mykene, ja flieht gera-

364 365 366

367 368 369 370

Ebd., S. 144. Ebd. Vgl. Blavatsky, Grundriß der Geheimlehre, S. 175: »Sie (die Atlantier) machten große Bildnisse, neun Jatis (Meter) hoch, der Größe ihrer Körper entsprechend.« Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 150. Ebd. Ebd., S. 150f. Ebd., S. 151. – Vgl. auch Endres, Von den Grenzen unserer Erkenntnis, S. 78: »Wie unser Finger auf der Kugeloberfläche für die Flächenwesen eine durchaus aus anderer Wirklichkeit kommende Erscheinung darstellt, die sich aber nur als Flächenerscheinung kundgeben kann, so können auch bei uns Wirkungen aus anderen Wirklichkeiten auftreten, die dann aber von uns nur in der Form unserer Wirklichkeit wahrgenommen werden können. Hier würde eine Wegleitung anheben zum Verständnis von sogenannten Spukerscheinungen.« (Kursivierung im Original gesperrt.)

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dezu nach Nauplia, »dessen Lieblichkeit die Geister des Atridengeschlechtes verscheucht«.371 Während Endres’ Darstellung weitestgehend von esoterischen Spekulationen bestimmt ist und das Grauen der abschließenden Sturmschilderung durch die zuvor memorierte Atridensage gleichsam herbeigeredet wird, liegen die Dinge in Spundas Reisebericht anders. Dort kommt der allein reisende Erzähler am Nachmittag in Mykene an. Bereits der Anblick der kargen Landschaft der Argolis in ihrer »grausige[n] Trostlosigkeit«372 hat ihn beeindruckt und zugleich befremdet, besitzt sie doch »etwas Titanisches an sich, etwas Wildes«,373 das in keiner Weise dem »Begriff des Griechentums«374 des Erzählers entspricht. Abends ergreift ihn das Verlangen, »die Ruinenstätte im gleißenden Mondlicht zu besuchen«.375 Mit diesem durchaus begreiflichen Wunsch, gespeist offenbar von romantischen Vorstellungen, stößt er allerdings auf Unverständnis, ja die Wirtin warnt gar »vor Phantasmata, vor Geistern«376. Und tatsächlich bricht der Reisende in eine wahrhaft gespenstische Umgebung auf. Kein Requisit der Schauerromantik fehlt: Fledermäuse umschwirren mich, die Totenstille wirkt lähmend wie ein Alptraum. Der Schauer der Nacht ist ungeheuer angesichts der kyklopischen Trümmer; es erscheint fast wie Frevel, diese tragische Stätte nächtlich zu beschleichen.377

Selbstverständlich ist dem Besucher die Geschichte des Atridenfluchs präsent. Dieser Mythos ist nicht mehr nur Bildungsgut. Für den Erzähler ist die mythische Blutschuld in jedem Augenblick zu spüren, ja dieses Gefühl verbürgt zugleich die Wahrheit des Mythos: Die Seele des Fremden spürt den geheimen Schauer, der noch jetzt wie ein dunstiger Schleier über dem Ort liegt, wo sich die ungeheuerste Tragödie menschlicher Leidenschaft erfüllte. Es muß Wirklichkeit gewesen sein, denn soviel Greuel kann ein irdisches Hirn nicht ersinnen!378

Spunda referiert also nicht wie Endres den Mythos, sondern stellt dessen Wirkung auf das moderne Individuum dar. In seiner eigentümlichen Logik dient die Intuition des Reisenden als Beglaubigung für die Bluttaten des Mythos, an deren Realität eben wegen ihrer Blutrünstigkeit kein Zweifel beste371 372 373 374 375 376 377 378

Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 151. Spunda, Griechische Reise, S. 42. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 43.

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hen kann. Die nächtliche Ruinenstätte wirkt beängstigend und faszinierend zugleich. Es scheint, als ob der Erzähler gerade auf der Suche nach solch einer emotionalen Bestätigung des Mythos sein Unternehmen begonnen habe. Er schwankt zwischen Furcht und Faszination, seine Sinne sind bis zur Überreizung gespannt, so dass sich seine Wahrnehmung – je nach Standpunkt der Beurteilung – ausweitet oder er Sinnestäuschungen unterliegt. Sein »Herz klopft zum Zerspringen«,379 er spürt »eine Geisterhand über [der] Stirn«.380 Immer wieder betont der Erzähler die Unheimlichkeit des Ortes, ja redet sie geradezu herbei. Diese Unheimlichkeit liegt letztlich in der Unbestimmtheit der Sinneseindrücke begründet: Noch ist nichts geschehen, was eine furchtsame Reaktion verständlich werden ließe. Vor einem schachtartigen Eingang angekommen, steigert sich die Beklemmung des Reisenden; allerdings überwiegen Neugier und Abenteuerlust, so dass er schließlich der Verlockung nachgibt und seine Angst überwindet.381 Er findet sich in einem unterirdischen Kuppelbau wieder. Um seine Beklemmung zu lindern, greift er zu bewährten Mitteln: Er summt ein Lied, das im Echo allerdings »wie Orgelgebraus erdröhnt«.382 Als er tiefer in die Dunkelheit vordringt, fällt sein Blick auf »menschliche Gebeine, ein Schulterblatt, eine halbe Wirbelsäule«.383 Von »namenlose[r] Angst«384 erfüllt, flieht der Reisende. In den Gasthof zurückgekehrt, muss der erstaunte Erzähler feststellen, dass sein Abenteuer weniger als eine Stunde gedauert habe; ein Blick in den Baedeker verschafft ihm schließlich die Gewissheit: Er »war um Mitternacht im Grabe des Atreus …«.385 Diese Pointe legt in der Logik des Textes nahe, dass der Erzähler tatsächlich etwas Übersinnliches erlebt hat, auch wenn wenig, ja eigentlich nichts passiert ist. Wenn man an Geister glaubt, gibt es tatsächlich keinen wahrscheinlicheren Ort für ihr Erscheinen als Mykene, den Spukort des antiken Griechenlands par excellence. Und auch in der Literatur der Moderne findet sich ein prominentes und breit rezipiertes Beispiel für die gleichsam gespenstische Aufladung dieses Ortes – allerdings unter Vorzeichen von Hysteriestudien und Psychoanalyse. 379 380 381

382 383 384 385

Ebd. Ebd. »Ein dumpfer, unbeschreiblicher Schauer weht mir entgegen, nicht kühl, aber von einer Unheimlichkeit geladen, die mich erzittern läßt. Ich will fliehen, aber das Abenteuer lockt mich in den schwarzen Schlund seines Geheimnisses.« (Ebd.). Ebd., S. 44. Ebd. Ebd. Ebd.

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Gabriele D’Annunzios Drama Die Tote Stadt (1898) wird in einer Vielzahl von Reiseberichten erwähnt und zum Teil kontrovers diskutiert.386 Offenbar traf die düstere Atmosphäre des von Inzest und Wahnsinn geprägten Stücks in nicht unbeträchtlichem Maße die Reiseeindrücke – bzw. wirkte von vornherein wahrnehmungsprägend. Dies gilt auch für Franz Spunda. Er geht so weit, den Standort des fiktiven Hauses aufzusuchen, in dem D’Annunzios Drama spielt, dessen Mykene-Bild offenbar teilweise mit seinen Eindrücken zusammenfällt: Hier am Ausgang der Schlucht muß das imaginierte Haus gestanden haben, in dem ein moderner Dichter die Tragödie der Toten Stadt in den Nerven der Gegenwart vibrieren läßt. Fast ist es so, als ob die Augen unzulänglich wären, die Tragik Mykenens in sich aufzunehmen, fast stört die Großartigkeit des Geschauten das innere Bild, und es ist, als ob die Außenwelt die Seele irgendwie vergewaltigt hätte. Man müßte blind wie die Heldin der erwähnten Tragödie sein, um der Unheimlichkeit Mykenens innerlich gewachsen zu sein. Aber dann käme man nicht lebend von diesem Ort.387

D’Annunzio sei es also gelungen, die antike Tragik, die dem Ort des Geschehens anhafte, in modernen Protagonisten wieder sichtbar werden zu lassen. Doch obwohl Spunda einige schlagwortartige Stichworte zur Verortung des italienischen Dichters anbringt, verdeutlichen doch die Grundtendenzen seines Reiseberichts, dass seine Positionen mit denen D’Annunzios nur schwer kompatibel sind. Die Protagonisten der Tragödie leiden nicht zuletzt unter ihren überreizten Nerven, sind für die Literatur des Fin de Siècle nahezu idealtypische Neurastheniker. Die Wirkung des Ortes tut ein Übriges, die bereits in der Personenkonstellation angelegten Konflikte ausbrechen zu lassen.388 Franz Spundas knappe Würdigung des Dramas beschränkt sich 386

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Vgl. Gabriele D’Annunzio, Die Tote Stadt, übers. v. Linda von Lützow, 4. Auflage, Berlin 1908. – Vgl. Berzeviczy, Griechische Reiseskizzen, S. 67f.: »Diese epochalen Entdeckungen Schliemanns wirkten in so befruchtender Weise auf die leidenschaftlich-bewegte Phantasie Gabriele d’Annunzios, daß der Schriftsteller den Hergang dieser Ausgrabungen zum Mittelpunkte seines erschütternden, obzwar ein perverses Leitmotiv behandelnden Schauspiels machte.« Vgl. auch die D’Annunzio-Parodie bei Ludwig Hevesi, Sonne Homers, S. 105f. Spunda, Griechische Reise, S. 50f. Gesättigt mit mythologischen Anspielungen führt die Tragödie D’Annunzios drei Protagonisten vor, die von ihren Illusionen und Trieben beherrscht werden. Allein die blinde Anna, eine gleichsam seherhafte Figur, durchschaut diese Zusammenhänge, vermag aber nicht, die finale Katastrophe zu verhindern. Wenn schließlich Leonardo im Wahn seine Schwester Bianca Maria in der Perseusquelle ertränkt, um sie einerseits der Liebe Alessandros zu entziehen und sich andererseits durch den Mord des Objekts seiner inzestuösen Versuchung zu entledigen, dann ähnelt dieses Geschehen zwar in manchen Aspekten der griechischen Tra-

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aber bezeichnenderweise auf die Figur der blinden Anna und deren seherhafte Qualitäten, die allerdings im Kontext des Dramas nicht als übernatürlich bewertet werden, sondern lediglich als Ausdruck der psychischen Extremsituation zu verstehen sind. Zudem macht das Drama gerade die Überreizung der Nerven durch Formen von Autosuggestion plausibel, ja die Protagonisten thematisieren in ihren lichteren Momenten selbst die negativen Folgen dieses Erregungszustandes. An Spundas knappem Verweis auf D’Annunzios Tote Stadt wird gerade in der positiven Würdigung die Trennlinie zwischen der »Nervenkunst«389 der Jahrhundertwende und der okkultistischen Literatur der 1920er deutlich, die die metaphorische Gestaltung psychischer Prozesse wörtlich nimmt. Das Vorgehen Franz Spundas, gleichsam sensorisch eine tiefere Wahrheit hinter den von ihm besuchten Orten aufzuspüren und diese literarisch zu gestalten, unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von dem Gestus, der etwa für Hauptmanns Griechischen Frühling bestimmend ist. Allerdings zeigen sich dann doch deutliche Unterschiede, die vor allem an dem Genre liegen, von dem Spunda seine wesentlichen Anregungen bezieht, dem Schauerroman.390 Spunda selbst verfasste zwischen 1923 und 1926 etliche fantastische Romane, die in großer Nähe zu den Positionen Helena Blavatskys und Rudolf Steiners391 das okkultistische Gedankengut eklektisch und synkretistisch anreichern und weiterspinnen.392 Dabei ist es Spunda mit den okkultistischen

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gödie. Die eigentliche Spannung des Dramas liegt aber in der Gegenüberstellung von überfeinerter Empfindlichkeit und einer archaischen Welt des Mythos, dessen Präsenz das moderne Individuum nicht gewachsen ist. Auch D’Annunzio thematisiert also das Verhältnis von Vorprägung und Erfahrung; angereichert mit epochentypischen archäologischen Subtexten stellt er moderne Individuen dar, die ihr Schicksal zwar ständig selbst nach mythologischen Vorgaben deuten, letztlich aber von der Welt der toten Stadt durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind. Vgl. zum Archäologiediskurs Zintzen, Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Vgl. Worbs, Nervenkunst. Vgl. zu den Kontexten Jens Malte Fischer, »Deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus«, in: Rein A. Zondergeld (Hrsg.), Phaïcon 3. Almanach der phantastischen Literatur, Frankfurt am Main 1978, S. 93–130; Michael Scheffel, »Was ist Phantastik? Überlegungen zur Bestimmung eines literarischen Genres«, in: Nicola Hömke/Manuel Baumbach (Hrsg.), Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur, Heidelberg 2006, S. 1–17. Vgl. Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, S. 166: Spunda habe »gründlich den Komplex des theosophisch-anthroposophischen Systems geplündert«. Ebd., S. 179: »Den Umgang der Literatur mit den okkultistischen Systemen ihrer Zeit charakterisiert also, was den Umgang dieser Systeme selbst mit den älteren

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Vorstellungen, die er in seinen Romanen zum Ausdruck bringt, offenbar absolut ernst.393 Diese Lesart wird auch durch Gustav Meyrinks Einführung in die Romane und Bücher der Magie nahegelegt, einer Reihe, in der auch etliche von Spundas Romanen erschienen. Für Meyrink, dem Spunda erkennbar nacheifert, sollen diese Unterhaltungsromane den Leser gleichsam an das Gebiet des Okkultismus heranführen. Die Romanlektüre wird so zu einem ersten Schritt in einem Initiationsprozess in das »Gebiet der Mystik, der Magie, des Okkultismus oder welche Namen immer man dafür wählen mag«.394 Wenn bereits die fantastischen Romane Spundas als Popularisierung okkultistischer Geheimlehren gelesen werden können, so gilt dies umso mehr für seine Reiseberichte, in denen er mit geradezu missionarischem Eifer die tatsächliche Erlebbarkeit der mythischen Vergangenheit in einem absolut konkreten und völlig unmetaphorischen Sinn postuliert. Spunda inszeniert in seinem Reisebericht die Reise nach Griechenland auch als eine Reise zu den Wurzeln seiner okkultistischen Weltanschauung, als Initiation in verborgene Zusammenhänge. Die Überreste der griechischen Kultur sind dabei keinesfalls lediglich historisch oder kunsthistorisch interessante Relikte, sondern ermöglichen dem entsprechend vorbereiteten Reisenden, insbesondere mit der religiösen Vorstellungswelt der Griechen in Kontakt zu treten. Ohnehin besteht für Spunda eine große Affinität zwischen der Gegenwart und der griechischen Antike, wie er bereits 1923 in dem Essay Die Rückkehr nach Eleusis postuliert: In der spiralenförmigen Entwicklung der Menschheit sind wir jetzt ungefähr in derselben Koordinate angelangt, in der Eleusis liegt. Mächtig induzierende geistige Strömungen fluten von dort auf uns herüber.395

Die Menschheitsentwicklung sei so verlaufen, dass nun nach dem Krieg die Nähe zu den esoterischen Wahrheiten der alten Griechen besonders groß

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Systemen aller Kulturen charakterisiert: Eklektizismus und Synkretismus.« Vgl. auch Clemens Ruthner, Unheimliche Wiederkehr. Interpretationen zu den gespenstischen Romanfiguren bei Ewers, Meyrink, Soyka, Spunda und Strobl, Meitingen 1993. Dies verdeutlicht unter anderem auch eine Reminiszenz an den 1923 erschienenen alchimistischen Roman Baphomet. Vgl. Spunda, Griechische Reise, S. 79f. Spundas ausdrückliche Bezugnahme auf seinen Roman Baphomet in seiner Griechischen Reise legt nahe, dass zumindest für ihn auch der Roman Medium der Verbreitung geheimen Gedankengutes ist. Gustav Meyrink, »Vorwort des Herausgebers zu den ›Romanen und Büchern der Magie‹ [unpaginiert]«, in: Franz Spunda, Der gelbe und der weiße Papst. Ein magischer Roman, Wien u. a. 1923. Franz Spunda, »Die Rückkehr nach Eleusis«, in: Ders., Der magische Dichter. Essays, Leipzig 1923, S. 31–41, hier S. 37.

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sei.396 Dieser Essay verdeutlicht die geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung, die Griechenland für Spunda besitzt. Als typisches Dokument der Orientierungssuche verquickt er die Darstellung einer leidvollen und zerrissenen Gegenwart, in der aber immerhin erste künstlerische Impulse spürbar sind, diesen Zustand von »Erdgebundenheit«397 zu überwinden und den »Aufschwung ins Licht zu wagen«,398 mit der Feier der griechischen Antike, die Maßstab für menschliches Streben nach Schönheit und Vergeistigung ist. Wie auch Däubler kündigt Spunda in prophetischem Ton eine vergeistigte Welt an, in der dem Dichter eine besondere Bedeutung zukommt: Der Dichter, ursprünglich nur Verdichter der göttlichen Strahlung, wird durch das Bewußtsein von seiner Beziehung zum Geist zum Demiurg einer neuen Welt. Sein Werk ist die sich aus Relationen täglich neugebärende Welt, seine Tat, die himmlische Liebe und Schönheit in Beziehung zur irdischen zu bringen.399

In diesem kruden Text kommt einiges der prekären Gemengelage der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck. Er demonstriert, welch grundlegende Bedeutung Griechenland für Spunda besitzt, und erlaubt zugleich Rückschlüsse über sein Selbstverständnis als Autor. Dieses Selbstverständnis eines okkultistisch angehauchten poeta vates wird auch daran deutlich, dass Franz Spunda so weit geht, den Einsatz okkultistischer Methoden als einen sinnvollen Weg zu propagieren, die Vergangenheit zu rekonstruieren: Der einzige Weg, über Delphi etwas zu erfahren, wäre ein magischer Versuch: man müßte mit einem hellsichtigen Medium an Ort und Stelle operieren, Anschluß an die Bewußtseinslagen der Sibyllen suchen, ganz in der Vorstellungswelt des apollinischen Reinigungsbegriffes aufgehen – und die Steine werden sprechen, der Schlund der Erde wird sich auftun, und ein Licht wird über Delphi wieder erstrahlen, ein Seelenlicht, herrlich wie der Gott selbst.400

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Vgl. ebd., S. 41: »Wir sind nach Eleusis zurückgekehrt. Über das Olympia eines irdischen Machtgefühls in den Kriegsjahren ging der blutige Weg tragischen Aufbäumens und klirrender Ohnmacht gegen die Moira nach Athen. Verzweiflung hat unsere Seelen verheert, die Massen in stumpfe Tierheit zurückgeworfen. Aber schon wenden sich viele zu den stillen Buchten Gottes und lassen Eleusis in ihren Herzen erstehen.« Ebd., S. 40. Ebd. – Am ehesten scheint dies für Spunda im Werk Paul Claudels und Franz Werfels gelungen zu sein: »Claudel glimmt sacht wie Weihrauchduft im unendlichen Dom katholischer Mystik und Jakob sieht im verzückten Traum die Seraphim auf flimmernden Leitern auf- und niedersteigen. Ganz nahe ist schon Werfel.« (Ebd., S. 41). Ebd., S. 34. Spunda, Griechische Reise, S. 122f.

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Hellsehen erscheint in diesem Kontext als ein vielversprechender Ansatz, einen unmittelbaren Zugang zur griechischen Kultur zu ermöglichen und darüber hinaus die Essenz der griechischen Religion zu vergegenwärtigen: Die mediumistische Praxis steht gleichberechtigt neben Archäologie und Geschichtswissenschaft. Spundas Reisebericht schildert sogar einen entsprechenden Versuch des Autors auf der Insel Ägina.401 Bei Neumond – offenbar der geeignete Zeitpunkt – soll im Aphaia-Tempel, derselbe, der laut Endres von Eingeweihten errichtet wurde, ein »magisches Experiment«402 durchgeführt werden. Voraussetzung für dessen Gelingen ist die innere Reinigung der Teilnehmer, die durch den Verzicht auf Fleisch und unreine Gedanken erreicht werden kann. Solchermaßen auf die »Strahlungen der Geisterwelt«403 vorbereitet, brechen der Autor und seine Begleiter – seine Ehefrau und Theodor Däubler – auf. Ihr Ziel ist klar definiert, wenn auch Spunda in einer für okkultistische Texte typischen Geheimnistuerei bedauerlicherweise den Leser im Unklaren über die tatsächliche Art des Experiments lässt:404 An dieser Stelle kann nur verraten werden, daß wir untersuchen wollten, ob noch eine Spur des aurischen Fluidums aus dem Altertum erhalten ist. Denn die Inbrunst der Gebete und die Kultmagie der Opfer haben die Steine und den Boden des Tempels sicherlich derartig mit Astralkraft durchtränkt, daß sich eine Spur von ihr wahrscheinlich doch noch irgendwie erhalten haben muß.405

Offensichtlich besteht für Franz Spunda kein Zweifel daran, dass es möglich ist, geistige Überbleibsel der Vergangenheit experimentell bzw. medial aufzuspüren.406 Bereits bei der oben zitierten Passage über die mediale Ver401

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Vgl. auch Theodor Däubler, Aigina, in: Das Inselschiff 3 (1922), S. 200–204. Gerade Theodor Däubler ist wesentlich von okkultistischen Vorstellungen beeinflusst. Im Gegensatz zu Franz Spunda aber schlagen sich diese Ideen in der Machart seiner Texte wieder, die zu hymnischen Beschwörungen des Übernatürlichen werden, nicht zu einer Mischung aus Schauerroman und okkultistischer Gebrauchsanweisung. Diese grundlegende Differenz wird an seinem Aigina-Essay deutlich. Während Spunda mit spannungssteigernder Absicht den Plan des magischen Experiments offen ausspricht, ergeht sich Däubler in für ihn typischer rhapsodischer Manier in ekstatischen mythologischen Fantasien, die in der Beschwörung, ja geradezu in der Erweckung des Aphaia-Tempels gipfeln. Spunda, Griechische Reise, S. 262. Ebd. Vgl. Wünsch, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne, S. 131: »Sowohl der (mindestens) relativen Wahrung des ›Geheimnisses‹ als auch der Immunisierung gegen rationalistische Kritik dienen sprachliche Strategien wie bloße Andeutung, Dunkelheit und Metaphorik.« Spunda, Griechische Reise, S. 265. Vgl. Manfred Kyber, Einführung in das Gesamtgebiet des Okkultismus vom Altertum bis zur Gegenwart [1923], Berlin 2006, S. 91: »Hier handelt es sich um ein Fluid, ein

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gegenwärtigung des Orakels von Delphi wurde der wissenschaftliche Anspruch der Okkultisten deutlich, der hier noch klarer zutage tritt. Die Erforschung übersinnlicher Phänomene wird somit nicht als Widerspruch, sondern als Ergänzung zur modernen Naturwissenschaft verstanden. Tatsächlich gilt zumindest für die Selbstwahrnehmung vieler Okkultisten Priska Pytliks Feststellung: Mit seinen Praktiken orientierte sich der Okkultismus an wissenschaftlichen Methoden und technischen Neuerungen und zeigte sich davon überzeugt, das Okkulte und Übersinnliche auf experimentellem Wege im Dienste der Aufklärung erklärbar zu machen und so gleichfalls einen Beitrag zur Bekämpfung des Aberglaubens leisten zu können.407

Allerdings klaffen Anspruch und Praxis in eklatanter Weise auseinander. Der quasi-aufklärerische Impetus ist oftmals lediglich eine Strategie okkultistischer Texte, um unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit ungehemmt den Verlockungen fantastischer Gegenwelten nachgeben zu können. Dieses eigentümliche Changieren zwischen Versuchen wissenschaftlicher Erklärung und dem Ausleben fantastischer Gespenstergeschichten kennzeichnet auch Spundas Reisebericht, der nicht zufällig selten argumentativ, häufig aber mystisch raunend unerklärliche Phänomene andeutet. Der große Aufwand, den Spunda sowohl als Erzähler als auch als okkultistischer Experimentator betreibt, schlägt leider fehl. Das magische Experiment wird abgebrochen, als die Reisenden eine Lichterscheinung wahrnehmen, hinter der sie die Lampe des Museumswärters vermuten. Dieser wenig befriedigende Ausgang findet durch Spunda nachträglich immerhin noch eine halbwegs tröstliche Erklärung: Letztlich sei ein Irrlicht für den hastigen Abbruch des okkultistischen Unternehmens verantwortlich zu machen, das die nicht näher spezifizierten übersinnlichen Elemente, die offenbar den Tempel bewohnten, den Eindringlingen als Mutprobe geschickt hätten.408

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Etwas, das den Dingen anhaftet wie einer photographischen Platte, ohne daß es im eigentlichen Sinne ein Spuk, ein Gespenst ist.« Pytlik, Okkultismus und Moderne, S. 12f. Dieses Irrlicht erscheint in Spundas Deutung als eine Versuchung der übersinnlichen Welt, die die Eindringlinge gleichsam auf ihre Standfestigkeit habe testen wollen: »Hat uns eine unbekannte Macht erproben wollen, ob wir auch stark genug sind, den gerufenen Mächten zu gebieten? Denn die Geisterwelt gibt nur dem ihr Geheimnis preis, der ihren Trugbildern und Versuchungen widersteht. Beschämt mußten wir uns gestehen, daß wir zu schwach und zu wenig standhaft waren. Was aber wäre geschehen, wenn wir ausgehalten hätten?« (Spunda, Griechische Reise, S. 266) Die Antwort auf diese Frage scheint für Spunda auf der Hand zu liegen – allein, er gibt sie nicht. Seine absurd scheinende Erklärung des nächtlichen Lichtscheins als ein von übersinnlichen Kräften zur Verwirrung der expe-

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Das Scheitern des Experiments kann in der Logik okkultistischer Texte gerade als Beleg für die Existenz übersinnlicher Kräfte gedeutet werden, die sich eben nicht beliebig herbeizitieren lassen, auch wenn sie in Griechenland omnipräsent seien, so etwa auch in Olympia, das »seit dem Frevel des Önomaos«409 gleichsam verflucht sei, so dass »das unentsühnte böse Karma dieser Orte auch noch in unserer Zeit«410 wirksam sei, ja sogar »Opfer fordern«411 könnte. Ob die panische Angst im Grab des Atreus auf Spukphänomene zurückzuführen ist, ob im Tempel von Ägina Kontakt mit den nichtmateriellen Überresten der Vergangenheit aufgenommen werden kann, was sich Grausiges im seit der Antike verfluchten Olympia zugetragen hat – all dies bleibt letztlich ungeklärt. Bemerkenswerterweise klammert Spunda naheliegende psychologische Erklärungsmodelle gänzlich aus. Über Schlüsselbegriffe wie Fluch oder Frevel, rhetorische Fragen, vage Andeutungen und die durchaus plakative Inszenierung typischer Versatzstücke der Schauerliteratur evoziert er eine Atmosphäre von Unbestimmtheit, die letztlich beunruhigend und verstörend wirkt. Dabei lehnt sich Spunda an das Muster des fantastischen Romans an, um das Okkulte auch für den Leser erlebbar zu machen. Anders aber als im fantastischen Roman erlaubt offenbar die Gattung des Reiseberichts keine Darstellung übernatürlicher Phänomene. Die verwendeten Textstrategien stehen somit in deutlichem Widerspruch zu den dargestellten Ereignissen; diese durchgängige Disproportionalität führt letztlich zu dem Eindruck, Spundas Text stehe unentschlossen zwischen magischem Roman und Reisebericht, während Franz Carl Endres gebetsmühlenhaft die Wahrheit okkulter Phänomene behauptet und so sein Reise- und Erinnerungsbuch zu einem pedantisch-belehrenden okkultistischen Traktat macht. Beide Möglichkeiten – die romanhafte Integration und die traktatartige Belehrung – bleiben letztlich unbefriedigend: die eine, da sie permanent in Andeutungen verharrt, die andere, da sie von vornherein die Leser in zwei Klassen teilt und auf eine Einweihung abzielt, wo doch praktische Hilfestellung für eine Reise nach Griechenland versprochen wird. Beide Autoren allerdings eint die Gewissheit, dass die Geister der Tantaliden immer noch ihre alte Burg umstreichen, dass gerade in Griechenland ein Zugang zu tiefen okkulten Wahrheiten möglich sei.

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rimentierfreudigen Okkultisten geschicktes Irrlicht liegt für Spunda umso näher, da er betont, ein Jahr zuvor sei ihm an derselben Stelle ein ähnliches Experiment geglückt (vgl. ebd., S. 265). Spunda, Griechische Reise, S. 99. Ebd. Ebd.

Auf der »kapitalistischen Lustbarke« oder zu Fuß. Spielarten des Reisens

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Auf der »kapitalistischen Lustbarke« oder zu Fuß. Spielarten des Reisens

Die Art des Reisens prägt die Wahrnehmung der Reisenden. So schlagen sich der Wandel in den Gewohnheiten und die Vielzahl unterschiedlichster Reisemöglichkeiten, die nebeneinander bestehen, deutlich auch in der Literatur nieder. Viele Texte stellen die Art des Reisens in den Vordergrund. Das Spektrum reicht dabei von der luxuriösen Kreuzfahrt bis hin zu der beschwerlichen und abenteuerlichen Fußwanderung. So markieren die Texte von Orrie Müller und Thomas Mann, die komfortable Schiffsreisen beschreiben, und die Reiseberichte von bündisch organisierten Jugendgruppen die Extrempole dieser Auffächerung. Sie stellen bewusste Gegenentwürfe dar. Zugleich reflektieren sie aus denkbar unterschiedlicher Perspektive dasselbe Problem: Wie kann das moderne Individuum angesichts moderner Distanz- und Entfremdungserfahrungen, aber auch angesichts spezifisch deutscher Frustrationserlebnisse einen Zugang zu einer als vorbildlich, ja geradezu heilsam empfundenen Kultur gewinnen? Nicht zuletzt reagieren sie gleichermaßen auf Beschleunigungserfahrungen, die konstitutiv für die moderne Weltwahrnehmung sind, kommen dabei aber zu unterschiedlichsten Ergebnissen. Während Thomas Mann und Orrie Müller auf je unterschiedliche Weise an der Modernisierung und Beschleunigung des Reisens teilhaben, verweigern sich die Angehörigen der Jugendbewegung programmatisch eben diesen Zeitströmungen und beharren auf Langsamkeit, Naturnähe und Einfachheit. 4.1. Beschleunigung und Antike. Orrie Müller: Wege nach Hellas (1928) und Thomas Mann: Unterwegs (1925) Zweifellos ist die Beschleunigung nahezu sämtlicher Lebensbereiche ein zentrales, wenn nicht gar das zentrale Merkmal der Moderne.412 Spätestens seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist sie für breite gesellschaftliche Schichten wahrnehmbar, betrifft sie doch die Wirtschaft ebenso wie soziale Systeme, Kommunikationswege gleichermaßen wie wissenschaftlichen 412

Vgl. dazu Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, bes. S. 71–88 (»Beschleunigung und die Kultur der Moderne«; dort auch weiterführende Literaturangaben). Einen historischen Überblick bietet Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main/New York 2004. Aufschlussreich insbesondere, was die Wirkung in Kunst und Literatur betrifft, ist die Studie von Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880–1918, London 1983.

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Fortschritt und nicht zuletzt künstlerische Entwicklungen. Die rasante Verbesserung der Verkehrsbedingungen ermöglicht nun Reisen, die zuvor für weite Teile der Bevölkerung undenkbar gewesen waren. Gerade auf dem Gebiet des Reisens wird also unmittelbar evident, wie Beschleunigungsprozesse wirksam werden und zugleich die menschliche Wahrnehmung und deren literarische Umsetzungen prägen. Besonders das Schreiben über die Reise nimmt sich dieser Prozesse an und reflektiert und diskutiert sie. Kaum ein Reisetext verzichtet auf eine Reflexion oder zumindest die Beschreibung der Reisemittel. Die Schiffsreise nimmt in diesem Kontext eine besondere Rolle ein: Einerseits hat sie teil an der allgemeinen Beschleunigung, weil der rasante Aufschwung der Dampfschifffahrt seit dem 19. Jahrhundert relativ schnelles Reisen zu entfernten Zielen erlaubt,413 andererseits geht die Erfahrung von Beschleunigung einher mit einer nahezu vollständigen Zeitenthobenheit. Dieses Gefühl, das durch die lange Reisedauer und die Eintönigkeit der Umgebung (besonders im Kontrast zu anderen Arten der Fortbewegung) verursacht wird, führt zu völlig gegensätzlichen Wahrnehmungsmustern. Gerade die kreuzfahrtähnliche Schiffsreise bringt Erfahrungen mit sich, die eigentümlich zwischen denen von Beschleunigung und extremer Verlangsamung stehen: Der Hauptteil der Reise wird in einer Art von statischem Mikrokosmos auf dem Schiff verbracht, während für die Landgänge nur vergleichsweise wenig, ja manchmal gar keine Zeit bleibt und die ständig wechselnden Eindrücke in der Retrospektive verschwimmen. Diese Entwicklung ist in den 1920er Jahren keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg thematisierte etwa Otto Dingeldein diese Problematik.414 Allerdings überwog zu dieser Zeit der Enthusiasmus, überhaupt Reisen über größere Distanzen unternehmen zu können, so dass die damit verbundenen Nebenerscheinungen (wenn überhaupt) als notwendige Übel betrachtet wurden. In den 20er Jahren hingegen rückt diese Thematik in etlichen Texten in den Vordergrund, auch im Zusammenhang mit einer deutlichen Zunahme des Kreuzfahrtwesens: Eine Eigenart des griechischen Fremdenverkehrs sind, besonders seit 1922, jene Reisegruppen, deren Aufenthalt im Lande sich auf den Besuch der touristisch interessanten Punkte tagsüber, mit Nächtigung an Bord der Schiffe, die sie führen, beschränken.415

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Vgl. Helmut Pemsel, Geschichte der zivilen Schiffahrt. Von 1800 bis 2002. Die Zeit der Dampf- und Motorschiffahrt (Weltgeschichte der Seefahrt; 2), Wien/Graz 2002. Vgl. etwa Dingeldein, Eine Ferienreise nach dem Goldenen Horn, S. 17. Ronart, Griechenland von heute, S. 249.

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Gerade im Fall der Beschreibung längerer Schiffsreisen, wie sie von Orrie Müller und Thomas Mann vorliegen, lässt sich beobachten, wie das Motiv der Beschleunigung strukturbestimmend wird und letztlich die Aussage des Textes bis hin zum Verhältnis des modernen Individuums zur griechischen Antike grundlegend beeinflusst. Dabei wird die Dialektik von Beschleunigung und Verlangsamung unterschiedlich gestaltet, ja gerade die Bewertungen moderner Beschleunigung und der damit verbundenen Zeiterfahrung differieren fundamental. Während Orrie Müller die Beschleunigungsphänomene zwar beschreibt, aber an keiner Stelle seines Reiseberichts reflektiert oder gar problematisiert, stellt Thomas Mann eben die unangenehmen Aspekte des Reisebetriebs heraus. Thomas Mann verarbeitet in dem kurzen Prosastück Unterwegs (1925)416 die Erfahrung einer Mittelmeerkreuzfahrt, die der Autor im selben Jahr unternahm, während Orrie Müller in seinem Buch Wege nach Hellas (1928)417 – angereichert mit Fotografien des Schiffsfotografen und einiger Reisender – die Griechenland-Fahrt des Norddeutschen Lloyd aus dem Jahr 1928 schildert, die von dem Archäologen Wilhelm Dörpfeld wissenschaftlich begleitet wurde.418 Die Texte verbinden ihre ähnlichen Entstehungsbedingungen, vor allem aber die Tatsache, dass sie die eigentümlichen Zeitwahrnehmungen der Reisenden thematisieren. Die eklatanten Parallelen gerade in Bezug auf das Verhältnis des Reisenden zu Zeit- und Beschleunigungserfahrungen erlauben aber eine Kontrastierung, die weniger die Beschreibungen Griechenlands als vielmehr den unterschiedlichen Umgang mit Zeitlichkeit betrifft. 416

417 418

Thomas Mann, »Unterwegs«, in: Ders., Essays II. 1914–1926, hrsg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 2002 (Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe; 15.1), S. 952–962. Orrie Müller, Wege nach Hellas, Bremen 1928. Über den Autor ist nichts bekannt. Ebd., S. 7: »Der Verfasser dieser Zeilen hat seine Hellasreise, unter Vermeidung aller eingangs erwähnten Schwierigkeiten, im April des Jahres 1928 mit dem Dampfer ›Lützow‹ des Norddeutschen Lloyd in Bremen durchgeführt. Die ›Hellasfahrt 1928‹, wie sie offiziell vom Norddeutschen Lloyd benannt wurde, war die erste ihrer Art nach dem Kriege. Sie wurde von einem Fahrtteilnehmer als ›Bildungsfahrt‹ außerordentlich treffend angesprochen, da sie unter der streng wissenschaftlichen Führung des bekannten deutschen Archäologen Professor Wilhelm Dörpfeld und infolgedessen unter einem besonders glücklichen Stern stand. Professor Dörpfelds erklärende Worte belebten die Steine, durch ihn fand eine längst versunkene Welt ihre wundersame Auferstehung, und nur er, dem es in ganz hervorragender und einzigartiger Weise gelang, ein durch Wissenschaft und Phantasie belebtes Bild von dem alten Hellas zu vermitteln, war wie kein anderer dazu berufen, sowohl im alten als auch im jungen Griechenland, einer deutschen Reisegesellschaft Führer zu sein.«

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Offensichtlich richtet sich Müllers Buch hauptsächlich an Teilnehmer dieser Fahrt. Zugleich dient es der Eigenwerbung der Schifffahrtsgesellschaft, betont doch Müller an exponierter Stelle, »in welch hohem Maße deutsche Schiffahrtsgesellschaften dazu berufen sein können, Kulturaufgaben zu erfüllen«.419 Müllers anspruchsloses und in Bezug auf das darin entwickelte Griechenland-Bild nicht sonderlich originelles Buch ist vor allem deshalb von Interesse, da es den Verlauf der Schiffsreise nachvollzieht und dabei – offenbar völlig unbeabsichtigt – das Gefühl von Eile, Gehetztheit und Vergänglichkeit transportiert, von Beschleunigungssymptomen also, die der in Griechenland gesuchten, ewig mustergültigen und vorbildhaften Kultur denkbar schroff gegenüberstehen. Bereits das Kapitel »Ausfahrt von Venedig« deutet an, dass die Erfahrung von Zeitlichkeit das eigentliche Leitmotiv des Textes ist: »Endlich, endlich … fährt unser Schiff! – Dies Wissen ist wie eine Erlösung von unablässig quälender Ungeduld.«420 Doch diese Ungeduld verwandelt sich in dem Augenblick, in dem das Schiff den Hafen verlässt, umgehend in Sehnsucht: Kaum »ist die gleitende Bewegung des großen Dampfers dem Denken fühlbar geworden, da will der Mund schon zu einem Schrei sich lösen und um Verweilen bitten«.421 Die angestrebte »Erlösung von […] Ungeduld«422 ist wenig befriedigend, schließlich liegt nur ein verschwindend kurzer Augenblick zwischen dem ersehnten Aufbruch und dem erneuten Einsetzen eines neuen unangenehmen Gefühls, diesmal der mit Verlusterfahrungen verbundenen Sehnsucht. Antizipation schlägt also unversehens in Sehnsucht um. Diese Kippfigur hat zwangsläufig zur Folge, dass der Augenblick der Wahrnehmung dem Reisenden völlig entgleitet. Die Bewältigung dieser Erfahrung äußert sich in banalen Vergleichen und Sentenzen. So entspricht für Orrie Müller die Schiffsreise der Lebensreise: »Wir grüßen dich, Ragusa, indem wir kommen und gehen. – So wie alles im Leben ein Kommen und Gehen ist. – Aber dein Bild tragen wir unvergessen in uns fort.«423 Die Reise ist für Müller Symbol für die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz, zu der die wehmütige Erinnerung an vergangene Augenblicke gehört. Müller stellt also bevorzugt transitorische Momente dar, Augenblicke der Beobachtung unter Zeitdruck, deren Zweck die Ansammlung schöner und 419 420 421 422 423

Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd. Ebd., S. 16.

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wertvoller Erinnerungen ist, die sich bereits unmittelbar im Anschluss an das Erlebte konstituieren: »Das Erlebnis von Santorin beginnt sich unauslöschlich unserem Gedächtnis einzuprägen.«424 In diesem Zusammenhang gewinnen offenkundig die Neuheit und die ständige Abwechslung der Eindrücke besondere Bedeutung, die die Reise erst interessant zu machen scheinen: Dann wendet sich der Blick zum Meer, das seinen kühlen Atem herübersendet. Neue Berge türmen sich, neue Gefühle weckend. Dort senkt sich der Paß nach Epidaurus und zum saronischen Golf. Ein neues Reiseziel ist nahe!425

In einer Art von Reiz-Reaktions-Schema postuliert Müller, dass der Reisende ständige Stimulation durch neue Eindrücke benötige, um so neue Erinnerungen zu produzieren. Dass es bei dieser Art des Reisens zu kaum einem Kontakt mit Einheimischen kommt, kann nicht verwundern. Rücken aber einmal Griechen in das Blickfeld des Schiffsreisenden, dann allenfalls als amorphe Masse, die den neugierigen Blick der Reisenden ähnlich neugierig erwidern, dadurch die Distanz aber eher markieren als überbrücken: »Und da – und dort! – Menschen sehen wir, die sich zusammenrotten, um das Schiff zu sehen – unser Schiff! – das langsam an dieser Fremdheit vorübergleitet.«426 Diese »Fremdheit« – in diesem Beispiel der Anblick der Einwohner von Santorin – wird lediglich konstatiert und erscheint somit als nur schwer zu überwinden. Bemerkenswerterweise sind in dieser Passage sowohl die Touristen als auch die Einheimischen zugleich Beobachter und Beobachtete, die sich gleichermaßen fremd gegenüberstehen. Wenn das Schiff »vorübergleitet«,427 demonstriert dies die Art der flüchtigen und wenig involvierten Betrachtung, die für Müllers Text symptomatisch ist. Dabei nimmt der Autor durchaus den stark zunehmenden Tourismus zur Kenntnis – so legen etwa immer »neue Schiffe mit neuen Fremden«428 in Kreta an, die ebenfalls unter nicht geringem Zeitdruck ihr Programm absolvieren müssen –, reflektiert allerdings an keiner Stelle die Folgen dieses Prozesses und auch nicht, dass die »Hellasfahrt des Norddeutschen Lloyd« an diesen Entwicklungen Anteil hat. Angesichts des gehetzten Gestus, den der Text vermittelt, wirkt die Beschwörung der stillstehenden Zeit auf der Akropolis wie Wunschdenken:

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426 427 428

Ebd., S. 39. Ebd., S. 59. Vgl. auch ebd., S. 60: »Vom Schlaf erquickt, sind wir bereit, ein neues großes Erlebnis, das Hellas zu bieten hat, entgegenzunehmen.« Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 46.

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Der beseelte Säulengarten der Akropolis löst eine Stimmung aus, die den menschlichen Geist beschwingen und ihn emporheben muß über alle Häßlichkeiten des nüchternen Alltags. Wenn zum feierlichen Empfang die Tore des Tempels der Schönheit geöffnet sind, muß jede Erinnerung an Gewohntes und Gewöhnliches entschwinden. Die Zeit muß stille stehen.429

Gerade das Modalverb »müssen«, das dreimal verwendet wird, verdeutlicht den forcierten Gestus dieser Überlegungen. Die gezwungene Feierlichkeit kontrastiert mit dem tatsächlichen Ablauf der Reise, der für derartige Meditationen keinen Raum lässt. Die große Zahl erhebender Eindrücke innerhalb kürzester Zeit erfordert eine permanent gehobene Stimmung, die das einzelne Erlebnis relativiert. Tatsächlich thematisiert der Erzähler bereits kurz darauf die Wirkung der Erinnerung an die Akropolis, die der »Wanderer«430 mit sich nehme. Es geht also in Müller Buch durchweg um die Produktion von Erinnerungen, um den beinahe zwanghaft wirkenden Versuch, das Erlebte festzuhalten und zu konservieren: »Wie ein Traum liegt hinter uns das Erlebnis. In bunter Folge steigen, von der Erinnerung unvergeßlich festgehalten, sonnige Bilder, von Farben trunken, vor dem Auge auf.«431 In Gesellschaft werde ich fortan meinen Mann stehen, das ist gewiß. Ich werde sprechen wie ein Buch, dem Anschauung zugrunde liegt, wenn auch nur eine hastige. Ich bin ungeduldig, diesen sozialen Vorteil zu genießen; ich wollte, es wäre so weit.432

Dies erklärt Thomas Mann in dem Prosastück Unterwegs, das wie ein skeptischer und zutiefst ironischer Kommentar zu Müllers Positionen wirkt.433 Die Texte von Orrie Müller und Thomas Mann unterscheiden sich vor allem in der Haltung der Erzähler und der Natur ihrer Reflexionen, weisen aber dennoch deutliche Ähnlichkeiten auf. Diese betreffen sogar in gewisser Weise die Textgattung, bekam doch Thomas Mann die Mittelmeerkreuzfahrt von der Reederei Stinnes geschenkt, so dass sein Text zugleich Werbung für die deutsche Schifffahrt macht.434 Bemerkenswerte Gemeinsamkeiten finden sich im 429 430 431 432 433

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Ebd., S. 65. Ebd., S. 68. Ebd., S. 93. Mann, »Unterwegs«, S. 962. Mann verarbeitet darin die Eindrücke einer Mittelmeerreise vom 2. bis zum 25. März 1925. Der kurze Text entstand dem Titel entsprechend unterwegs und erschien bereits am 12. April 1925 in der Unterhaltungsbeilage der Vossischen Zeitung. Vgl. Hermann Kurzke, »Kommentar«, in: Thomas Mann, Essays II. 1914–1926, S. 648–655, hier S. 648. Vgl. Kurzke, »Kommentar«, S. 648.

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patriotischen Gestus beider Texte. So hebt Thomas Mann bei seiner von Kontrasten bestimmten Beschreibung des Alltags auf dem Schiff durchaus unironisch hervor, es trage den Ruhm deutscher Technik und Höflichkeit wieder in die Welt,435 während Müller vom »stolzen deutschen Schiff«436 spricht. Allerdings dürfte die Aussage von Manns Text den Werbeeffekt unterlaufen, den sich die Reederei erhofft haben mag, schildert doch Thomas Mann gerade die ermüdenden und frustrierenden Aspekte solch einer Kreuzfahrt, die er zudem früher als geplant abbrach.437 So schlägt Manns Prosastück ungeachtet mancher freundlicher Konzessionen an die Organisatoren rasch in ironische Distanzierung von dem Reiseunternehmen um, das aus Sicht des Erzählers allein dazu dient, dem eiligen Reisenden den Anschein von Welterfahrung und Weltgewandtheit zu geben. Die Reise verschafft dem ohnehin sozial gut gestellten Reisenden weitere soziale Vorteile – eine schonungslose Darstellung, die sich wie eine ironische Paraphrase von Orrie Müllers schwärmerisch-philiströser Dampfschiffwerbung liest; »hastige«438 Anschauung verhilft zu gesellschaftlicher Gewandtheit, die wiederum einen nicht zu unterschätzenden »sozialen Vorteil«439 bedeutet. Wenn der Erzähler ausführlich die luxuriöse Ausstattung des Schiffes und die komfortablen Bedingungen beschreibt, empfindet er dabei bezeichnenderweise ein schlechtes Gewissen: Ich will das alles nicht ausmalen, es könnte als soziale Provokation wirken, als beifällige Schilderung einer Orgie des nachkriegerischen Kapitalismus mit Neureichen in den strahlenden Luxuskabinen. Es ist dergleichen. Es hat was davon.440

Er verweist in aller Deutlichkeit darauf, dass es sich bei einem derartigen Reiseunternehmen um Luxus handele. Angesichts der Zeitumstände möchte der Erzähler nicht provozieren und erklärt zugleich, seine Kabine sei vergleichsweise bescheiden.441 435

436 437 438 439 440 441

Vgl. Mann, »Unterwegs«, S. 953: »Aber es ist auch wieder ein deutsches Fahrzeug, das unsere Flagge auf hoher See und in den fremden Häfen zeigt, mit einem Kapitän, dem Ernst und Tüchtigkeit auf der Stirn geschrieben stehen, mit höflichen Offizieren, gutmütigem Schiffsvolk und einer Atmosphäre von Hamburger Nüchternheit und Sauberkeit, die sehr wohl tut nach den exotischen Bizarrerien, in die es einen getragen.« Müller, Wege nach Hellas, S. 16. Vgl. Kurzke, »Kommentar«, S. 648. Mann, »Unterwegs«, S. 962. Ebd. Ebd., S. 953. Gegenüber der Vorlage korrigiert, dort steht »beifälligechilderung«. Vgl. ebd.: »Ich bewohne kein Luxus-Appartement und bin es zufrieden. Man hat mir eine ehrenhafte Offizierskabine auf dem Bootsdeck angewiesen, die früher

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Auch die Ungeduld des Reisenden thematisiert Thomas Mann – allein, es ist die Ungeduld des Kreuzfahrenden, der sich nichts sehnlicher als das Ende seiner mit der Zeit zutiefst langweilig gewordenen Reise ersehnt. Der Reisende in Manns Prosastück lässt vor seinem inneren Auge den bisherigen Verlauf und die Stationen der Reise Revue passieren. Ihr Hauptzweck scheint das Ansammeln von Gesprächsstoff zu sein, schließlich ist mehr als genug Zeit, die Reiseerlebnisse mit den Mitreisenden zu besprechen. Und tatsächlich ist Thomas Manns Text im Wesentlichen eine Rückschau auf Erlebtes, eine Art von Meditation. Der Ich-Erzähler stilisiert sich ironisch zum Fliegenden Holländer, zu einem Verfluchten also, der dazu verdammt ist, in regelmäßigen Abständen an Land zu gehen, um dort Erlösung zu suchen – eine nahezu vergebliche Hoffnung, weiß man um die langen Jahre, ehe der Holländer der opferwilligen Senta begegnete. So heißt es bei Richard Wagner: »Das Heil, das auf dem Land ich suche, nimmer / werd’ ich es finden!«442 Dieser Vergleich stellt deutlich die Ironie von Thomas Manns Reisebeschreibung heraus, sehnt sich doch der fluchbeladene Holländer aus Wagner Musikdrama vor allem nach dem Ende seiner Reise. Wichtig für das Verständnis dieser Passage ist zudem der Aspekt der Fremdbestimmtheit, der hier unterstrichen wird. In gewisser Weise entmündigt die moderne Art des Reisens das Individuum, das sich ungeahnten Zwängen ausgesetzt sieht. Auch die Landausflüge, einzige Zwischenspiele der Mittelmeerkreuzfahrt, sind so organisiert, dass dem Reisenden nur wenig Zeit bleibt, die ungewohnte Umgebung auf sich wirken zu lassen: Zuweilen gehe ich an Land, um berühmte Baulichkeiten auf mich wirken zu lassen, die Sitten fremder Völker zu beobachten und so den engen Bezirk meiner Bildung zu erweitern. Doch bald heißt es wieder, wie für Sentas bleichen Liebhaber: Aufs Meer! Aufs Meer!443

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der Arzt innehatte, ein gedrängt praktisch eingerichtetes Gelaß mit einem Tisch zum Schreiben und vielen geräumigen Schubladen unter dem Bett und in der Kommode. Ich habe es gut, aber nicht zu gut, so ist es in Ordnung.« Vgl. hingegen die Handschrift, in: Kurzke, »Kommentar«, S. 653: »Die Falltreppe hinauf, Anweisung der Arztkabine auf dem Bootsdeck, Enttäuschung.« Richard Wagner, »Der fliegende Holländer (1841)«, in: Ders., Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, hrsg. v. Dieter Borchmeyer, Bd. 2, Frankfurt am Main 1983, S. 9–40, hier S. 13. Vgl. zu Thomas Manns Verhältnis zu Richard Wagner Walter Windisch-Laube, »Thomas Mann und die Musik«, in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, Frankfurt am Main 2005, S. 327–342. Mann, »Unterwegs«, S. 952.

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Diese Landausflüge sind offensichtlich nicht dazu geeignet, dem Reisenden mehr als nur flüchtige Eindrücke des bereisten Landes zu vermitteln, die sich zumeist auf typisch touristische Situationen beziehen. Wenn etwa der Erzähler betont, die Schiffsreisenden gewännen »die Weltkenntnis von Matrosen«,444 so zeigt dies die Enttäuschung angesichts der Eile und der standardisierten touristischen Umgebung. Eine solche Reise ermöglicht nur einen eingeschränkten Kontakt zu Einheimischen; die Reisenden verbringen die meiste Zeit in westlicher Umgebung. Brechen sie zu Ausflügen auf, sind diese so organisiert, dass nur ein minimaler Kontakt mit zumeist vom Tourismus lebenden Einheimischen stattfindet, der von vornherein von Ungleichheit bestimmt ist: Wir lunchten in einem englischen Hotel und tobten in Kraftwagen, begierig nach Land und Leuten blinzelnd, die Augen mit farbigen Brillen geschützt gegen den Staub und die Sonne Afrikas, hinaus nach den Pyramiden von Gizeh.445

Bei all diesen und ähnlichen Schilderungen überwiegt die Darstellung ironischer Distanz, einer Distanz zwischen reisenden Westeuropäern und exotischen Einheimischen, die per se unaufhebbar ist. Anekdoten wie die von dem ägyptischen Esel namens Bismarck, der für Reiter unterschiedlicher Nationalitäten jeweils anders heißt,446 ändern nichts am enttäuschten Fazit des Erzählers: »Ich habe nicht viel gesehen.«447 Auch die Behauptung, alle Reiseeindrücke aufgenommen zu haben, meint eigentlich das Gegenteil: »Das Morgenland … Doch, doch, ich habe es aufgenommen.«448 Sicherlich nicht zufällig endet diese Meditation des Erzählers über die disparaten Reiseeindrücke mit der knappen Beschreibung des Aufenthalts in Griechenland: Athen? Ich war dort. Ich glitt nach abermals stürmischer Nacht in den Piräus ein, ich ließ mich »ausbooten« und fuhr in einem Buik-Wagen die Akropolis hinan. Ich ging nicht so weit, mich vor den Karyatiden des Erechtheions photographieren zu lassen, wie viele meiner Genossen. Aber sonst trieb ich mich ebenso ordinär und verächtlich zwischen den edlen Resten herum wie sie.449

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Ebd., S. 954. Ebd., S. 955. Vgl. ebd., S. 956: »Mein Esel hatte drei Namen: Bismarck, Maurice und Dooly, je nachdem, wie der nebenhertrabende Besitzer mir offenherzig erklärte, während er mein Portemonnaie auf seinen Gehalt an englischem Silber untersuchte.« Ebd., S. 955. Ebd., S. 958. Ebd., S. 960.

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Die Fahrt auf die Akropolis entspricht den Ratschlägen in den gängigen Reiseführern.450 Manns Erzähler scheint allerdings die gewaltige Distanz zwischen dem modernen Reisenden und den Überresten der Antike bewusst zu sein. Offensichtlich sind seine Sitten an diesem Ort unangebracht. Das Ordinäre der Gegenwart wird gerade angesichts der »edlen«451 Überreste der Antike deutlich; dieser Kontrast führt zu Schamgefühlen des Erzählers, zu einer bestimmten Gruppe von Touristen zu zählen. Selbst Teil des modernen Tourismus, reflektiert der Erzähler doch dessen Gepflogenheiten und distanziert sich von ihnen, ohne sich deshalb aber anders zu verhalten. Dennoch scheint auch unter ungünstigen Bedingungen – zu denen insbesondere Formen des modernen Tourismus zählen – ein fruchtbares Verhältnis zur Antike möglich. Trotz des Gefühls der Distanz und des Kontrastes besteht kein Zweifel an der ungebrochenen Gültigkeit des griechischen Erbes, gerade im Gegensatz zu dem ebenfalls bereisten Orient: Zuletzt ist es unser aller Anfang, in Wahrheit unser heroisches Jugendland. Wir taten den schwülen Orient ab, unsere Seele ward licht und heiter, ein Bild des Menschen erstand, das oft versank und immer wieder zur Sonne stieg. Wo ich stand, empfindet man, daß wahrhaft nur der Europens Sohn ist, der sich in seinen besten Stunden auf Hellas im Herzen zurückzubeziehen weiß. Man wünscht dort inbrünstig, immer möchten die Perser, in welcher Gestalt sie auch kommen, wieder geschlagen werden.452

Griechenland erscheint hier als Ursprungsland Europas; der Bezug dient der Identitätsstiftung. Thomas Mann listet hier sämtliche Stereotype auf, die den Gegensatz zwischen Europa und Asien beschreiben sollen. So ist der Westen für Thomas Mann von Helligkeit, Heiterkeit und Humanität geprägt, während Asien Teil des »schwülen Orient[s]«453 ist, einer rückständigen und despotischen Sphäre. Zugleich ist Asien in dieser Denkfigur notwendig vorhanden als eine Größe, die immer wieder aufs Neue überwunden werden muss. So sind die Errungenschaften der griechischen Kultur vorbildhaft und zukunftsweisend zugleich. Die Erwähnung der Perserkriege, die auf Gegensätze hindeuten, die auch die Gegenwart bestimmen, zeigt an, in wie hohem 450

451 452 453

Vgl. Endres, Griechenland als Erlebnis, S. 207: »Ein halber Tag. (Dies ist der Fall bei Reisenden, die nach Konstantinopel weiterreisen und nur den Aufenthalt des Schiffes im Piräus benutzen wollen.) Fahrt mit Auto nach Athen und auf die Akropolis. Wenn nachmittags noch Zeit, Nationalmuseum. Womöglich am Schiff vorher essen, so daß in Athen nicht gegessen werden muß.« Mann, »Unterwegs«, S. 960. Ebd., S. 961. Ebd.

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Maß für Thomas Mann die westliche Kultur gefährdet ist, ohne dass der Ursprung dieser Bedrohung deutlich würde. Mit diesen Reflexionen endet der Rückblick des Erzählers. Auch die großzügige Reederei wird noch einmal gewürdigt, wobei ironische Untertöne unüberhörbar sind: »Stinnes in Ehren, – ich habe herrliche Dinge gesehen, ich bin, Bewunderung und Liebe und menschlichen Jugendstolz im Herzen, auf seine kapitalistische Lustbarke zurückgekehrt.«454 Vor dem Erzähler liegt eine Vielzahl weiterer Ziele, die er allerdings kaum noch zu genießen vermag. Die Frustration ist unüberhörbar, wenn er klagt: »In Genua endet die Lustbarkeit, aber das ist unabsehbar, und zuweilen wünschte ich, es wäre das weniger. Das gute Leben und all das bunte Obenhin fangen an mich zu langweilen.«455 Anders als Orrie Müller stellt Thomas Mann also die negativen Folgen der Reizüberflutung in den Mittelpunkt seines Textes. Der unnatürliche Mikrokosmos der Schiffsreisenden verbunden mit den ständigen Ortswechseln schaffen eine Atmosphäre von Zeitenthobenheit, ja das Gefühl stillstehender Zeit, das oftmals in Langeweile übergeht. Während Orrie Müller gerade das Gehetzte betont, aber zugleich alles versucht, diesen Eindruck durch hymnische Beschwörungen wieder wettzumachen, ironisiert und reflektiert Thomas Mann die von Müller völlig affirmativ dargestellte Situation. In den Texten von Orrie Müller und Thomas Mann stehen sich Fremdenverkehrswerbung und ironische Demaskierung moderner Reisegewohnheiten gegenüber. Dabei sind beide gleichermaßen – freiwillig und unfreiwillig – erheiternde Dokumente der Tourismusgeschichte, die bei allen Unterschieden in der Wertung dieser Phänomene doch wesentliche Aspekte modernen Reisens und spezifisch moderner Zeiterfahrung benennen. Dass dies im Kontext von Reisen nach Griechenland geschieht, entbehrt nicht der Ironie. Gerade im Kontrast zu den Überresten der griechischen Kultur, die die Erfahrung von Ewigkeit vermitteln, erscheint das moderne Individuum besonders hilflos. 4.2. Programmatische Verlangsamung: Jugendgruppen in Griechenland. ›Die Fischer‹: Hellas. Tagebuch einer Reise (1929) Völlig andere Arten des Reisens beschreiben die Texte, die aus der Jugendbewegung hervorgegangen sind.456 Während Thomas Mann und Orrie Mül454 455 456

Ebd. Ebd., S. 962. Neben dem Text der ›Fischer‹, der hier als repräsentatives Beispiel im Vordergrund steht, ist zu nennen: [Deutsche Freischar,] Griechenlandfahrt junger Deutscher, Heidelberg o. J. [1933]. Daneben dürfte eine nicht geringe Anzahl von unpublizierten Fahrtenbüchern existieren.

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ler beschleunigtes und damit explizit modernes Reisen thematisierten, legen die Autoren von Hellas. Tagebuch einer Reise (1929)457 besonderen Wert auf ihre nahezu religiös überhöhte Naturverbundenheit und einen gleichsam intuitiven Zugang zur Welt der Antike. Sie wandern in der Gruppe durch Griechenland. Die Reise dient neben der Begegnung mit der Natur und den klassischen Stätten des Landes in erster Linie der emphatischen Feier der Gruppe und ihrer Jugend. Auch wenn die Bedeutung der Antike für die Jugendbewegung nicht ausreichend erforscht ist,458 kann doch an einer nicht geringen Bedeutung des Antike-Ideals für die deutsche Jugendbewegung kein Zweifel bestehen. Selbst wenn insgesamt »die Wirkung der klassischen Antike in der bürgerlichen Jugendbewegung ein marginales Thema ist«,459 so lässt sich ihre Bedeutung nicht negieren, war doch eine große Zahl von Anhängern der Jugendbewegung humanistisch gebildet.460 Gerade die Wahl Griechenlands als Reiseziel stützt die These von einer Orientierung zumindest von Teilen der Jugendgruppen an der Antike. Auch spätere Selbstdeutungen prominenter Vertreter der Jugendbewegung vermitteln diesen Eindruck: So gestaltet etwa Werner Helwig,461 der unter anderem mit der vielgelesenen Hellas-Trilogie hervortrat,462 seine Erinnerungen nach dem Muster der platonischen Dialoge: »Dahinter liegt die Überzeugung, daß die Jugendbewegung in wesentlichen Punkten mit der klassischen Antike verbunden ist und ihre Geschichte analog verläuft.«463 Der Schweizer Alfred Schmid geht gar so weit, die Jugendbewegung als »Auferstehung im Geiste dorischer Jugend«464 zu deuten – eine Einschätzung, die aus der Rückschau die Verbindungslinien zwischen nationalsozialistischer Geschichtsdeutung und Denkmustern der

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Hellas. Tagebuch einer Reise. Im Auftrag der »Fischer« herausgegeben von Ernst und Herbert Lehmann, Potsdam 1929. Vgl. Hubert Cancik, »Jugendbewegung und klassische Antike (1901–1933)«, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2001, S. 114–135, hier S. 116. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. zu Werner Helwig die Dissertation von Richard Bersch, Pathos und Mythos. Studien zum Werk Werner Helwigs mit einem bio-bibliographischen Anhang, Frankfurt am Main u. a. 1992 (Trierer Studien zur Literatur; 22), bes. S. 185–211. Werner Helwigs Romanen liegen auch Erlebnisse eigener Griechenland-Reisen zugrunde. Vgl. Bersch, Pathos und Mythos, S. 208. Cancik, »Jugendbewegung und klassische Antike«, S. 131. Zitiert nach Cancik, »Jugendbewegung und klassische Antike«, S. 130.

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Jugendbewegung verdeutlicht und auf die martialische Seite der bündischen Organisationen verweist.465 Trotz der Auffächerung in zahlreiche, zum Teil konkurrierende Gruppierungen mit unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen, die kennzeichnend für die Jugendbewegung in den Jahren der Weimarer Republik ist, lassen sich doch deutliche Gemeinsamkeiten im Gedankengut der zumeist dem rechten Spektrum zuzuordnenden Gruppen ausmachen. Insbesondere die Zivilisationskritik wird auch an Planung und Durchführung der Reisen deutlich, deren Abenteuercharakter unverkennbar ist. Auch Griechenland kann (zumindest teilweise) in den 1920er und 1930er Jahren als abenteuerliches Reiseziel gelten. Hinzu kommt der emphatische Bezug auf die Antike. Reisen waren wesentlicher Bestandteil der Gruppenaktivitäten.466 Die Ziele reichten von Afrika bis Lappland. Oftmals mündeten die Reiseaufzeichnungen der Gruppenmitglieder in eine Publikation: Nach der Wiederkehr waren Berichte zu verfassen, für die man Zeichnungen, Malereien und Fotos gesammelt hatte. Wenn die Qualität des Materials es zuließ, wurden diese Berichte in Buchform veröffentlicht.467

Die publizierten Texte wie auch die nicht veröffentlichten Fahrtenbücher bündischer Reisen dienten in besonderem Maße der Identitätsstiftung. Diese Entstehungsbedingungen gelten auch für die von Ernst und Herbert Lehmann redigierten Aufzeichnungen der wohl aus Potsdam stammenden ›Fischer‹. Diese im Bund der Neupfadfinder468 organisierte Gruppe von wohl elf humanistisch gebildeten Männern469 reiste vom 27. September bis

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Walter Z. Laqueur, Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962, S. 258: »Den fahrenden Scholaren kann man als Leitbild der Wandervögel bezeichnen, dagegen war der Soldat das Leitbild der Bünde.« Vgl. ebd., S. 41: »Nach dem ersten Weltkrieg […] ging jede Gruppe, die etwas auf sich hielt, wenigstens einmal im Jahr ins Ausland«. Ebd. Vgl. zum Bund Deutscher Neupfadfinder die Quellen bei Werner Kindt (Hrsg.), Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit. Quellenschriften, Düsseldorf/Köln 1974 (Dokumentation der Jugendbewegung III), S. 389–438. Diese Zahl lässt sich aus einer Fotografie erschließen, die zehn junge Männer zeigt und offensichtlich nicht von einem Selbstauslöser aufgenommen wurde. Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, nach S. 2. Vgl. zum humanistischen Hintergrund: Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 7: »So mußte bei Abschluß der humanistischen Schulbildung in den längst eng Zusammengeschlossenen der Wunsch entstehen, den Boden dieser geistigen Macht selbst kennen zu lernen.«

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zum 20. Oktober eines ungenannten Jahres, das sich aufgrund textinterner Indizien mit einiger Wahrscheinlichkeit als 1925 bestimmen lässt.470 Immer wieder wird deutlich, dass die Gruppe ganz entschieden den Anspruch verfolgt, sich von herkömmlichen Touristen abzuheben. So campieren die Reisenden zumeist unter freiem Himmel, sie legen ihre Wege in der Regel zu Fuß zurück, wobei sie während des Marschs singen. Ihre Art des Reisens ermöglicht einen intensiveren Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, zumal einige Gruppenmitglieder Neugriechisch sprechen. Gerade aber weil sie sich von den übrigen Touristen abhebt, ruft die Gruppe bei den Griechen auch Befremden hervor: Unsere kleine Kolonne bereitet ihnen sichtlich Kopfzerbrechen, sie streiten sich über unsere Absichten. Wir reisen nicht wie verwöhnte »Lordis«, haben kein Billet von Cook und verhandeln mit ihnen in der Landessprache.471

Auch ihre derben Stiefel erregen Heiterkeit.472 In bewusster Abgrenzung von anderen westeuropäischen Touristen zelebrieren die ›Fischer‹ ihre Nähe zu Griechenland. Dabei verfallen sie allerdings in gängige Klischees. Zwar heißt es an einer Stelle, man solle die modernen Griechen gegenüber denen der Antike nicht abwerten,473 was aber nicht verhindert, dass der Blick der Gruppe auf die griechische Gegenwart von idyllisierenden Projektionen geprägt ist. Das Elend etwa, das ihnen durchaus auffällt – und das im Athen der 470

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Das Reisejahr lässt sich aus Angaben des Textes nur annähernd bestimmen. So belegt das Erscheinungsdatum des Buchs, dass die Reise 1928 oder früher erfolgt sein muss. Zudem erwähnt der Text französische Soldaten, die vom Kriegseinsatz in Syrien zurückkehren (vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 14f.); dafür kommen die Jahre 1920 bzw. 1925 bis 1927 in Frage (vgl. Philip S. Khoury, Syria and the French Mandate. The Politics of Arab Nationalism 1920–1945, Princeton 1987). Es muss sich um letzteren Zeitraum handeln, ist doch an anderer Stelle von den Behausungen kleinasiatischer Flüchtlinge in Griechenland die Rede, die in großer Zahl erst zu Beginn der 1920er Jahre nach Griechenland vertrieben wurden. Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 19. Somit muss die Reise der ›Fischer‹ zwischen 1925 und 1927 stattgefunden haben, wahrscheinlich 1925, da im November dieses Jahres der Bund Deutscher Neupfadfinder in dem Großdeutschen Pfadfinderbund aufging (vgl. Kindt, Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933, S. 353). Deshalb ist Hubert Canciks Annahme, der Text sei zwischen 1918 und 1928 entstanden, was das frühere Datum betrifft, nicht haltbar. Vgl. Cancik, »Jugendbewegung und klassische Antike«, S. 119. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 99. Vgl. ebd., S. 33f.: »Besonders unsere schweren, benagelten Wanderstiefel erregen unbegreifliche Heiterkeit, und heimlich streicht ein kleiner Bursche über das Kalbfell der abgelegten Tornister.« Vgl. ebd., S. 95.

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1920er Jahre auch unübersehbar ist –, wiegt unter südlicher Sonne angeblich leichter: Vorstadtarmut herrscht gewiß auch hier, sogar eine Dürftigkeit, wie sie für unser soziales Gewissen unvorstellbar ist, aber hier versagen bereits europäische Anschauungen, aus allem spricht die ergebene Bedürfnislosigkeit eines glücklichen Klimas, die Sonne macht alles vergessen.474

Unter Rekurs auf klimatheoretische Überlegungen ist es möglich, die störende Gegenwart so zu deuten, dass sie ihr befremdendes Potential verliert. So herrschen in Griechenland vollständig andere Bedingungen, so dass westeuropäische Maßstäbe versagen. Was zunächst wie eine Aufgabe europäischer Vorurteile wirkt, ist tatsächlich die Befestigung traditioneller Klischees über südliche Lebenswirklichkeit, die erlauben, den touristischen Blick auch angesichts eklatanten menschlichen Leidens beizubehalten. Wenn auch die griechische Gegenwart solchermaßen verklärt wird, spielen doch deutsche Verhältnisse eine wesentliche Rolle. So gipfelt der Besuch bei dem deutschen Archäologen Georg Karo in patriotischer Selbstvergewisserung:475 Und der Gelehrte mochte in uns mehr sehen als eine beliebige Reisegesellschaft. Wir sind ihm ein Stück der umsorgten, tausendfältig bedrohten Heimat, vielleicht ein Stück Hoffnung. Auf fremdem Boden begehen wir mit ihm unausgesprochen ein stilles Fest: Deutschland.476

Dieses Bedrohungsgefühl erklärt zumindest teilweise den martialischen Gestus des Textes, der eklatant dann zutage tritt, wenn die reisenden Deutschen griechischen Rekruten demonstrieren, wie man richtig exerzieren müsse: »Wir mustern mit einiger Sachkenntnis die dargereichten Gewehre. Deutsches Fabrikat. Und beginnen preußisch-korrekt zu exerzieren, daß die Schiffsplanken dröhnen.«477 Schon die kurzen Sätze, die in deutlichem Kontrast zu den lyrischen Naturbeschwörungen stehen, verdeutlichen die Doppelbödigkeit dieser bündischen Reise: So stehen jugendliche Gefühlsergüsse neben martialischer Selbstvergewisserung, die in quasi-militärischem Gebaren aufgeht. Es handelt es sich dabei um deutlich erkennbare Symptome der Verunsicherung; 474 475

476 477

Ebd., S. 19f. Vgl. Reinhard Lullies, »Georg Karo«, in: Reinhard Lullies/Wolfgang Schierung (Hrsg.), Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von klassischen Archäologen deutscher Sprache, Mainz 1988, S. 181f. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 66. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 12: »Die Sonne berührt den goldflüssigen Horizont und wir singen dem Vaterland sein Lied.«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

die gemeinsame Reise nach Griechenland soll zugleich Abenteuer sein und Orientierung geben. Nicht zuletzt dient sie – wie jede Reise – vor allem der Selbstfindung.478 Diese Selbstfindung betrifft vor allem das Verhältnis des Individuums zu der Gruppe. Dies wird bereits an der Widmung des Textes an den 1918 verstorbenen Friedrich Fischer deutlich, dem die Gruppe wesentliche Anregungen verdankte. Der Freundschaftskult geht so weit, dass der Verstorbene als gegenwärtig imaginiert wird. In einer an Hofmannsthals Prosastück Der Wanderer erinnernden Weise erscheinen den Feiernden, die eine Mahlzeit aus Brot und Wein einnehmen, die auf die Eucharistiefeier und nicht zuletzt auf Hölderlins Hymne Brot und Wein verweist,479 ihre abwesenden Freunde: Wir blicken auf, meerhinaus. Helligkeit lagert auf uns, Klarheit ist ins uns, wir empfinden die Nähe des Anderen, als wären wir Teile eines Körpers, als wären wir ein Stamm. Und die Lücken zwischen uns füllen sich: die Freunde, die wir zu Hause gelassen, rücken ein. In der Mitte liegt noch eine Traube, die schönste von allen, ihre Beeren sind länglich, grün und groß; als hätte einer vergessen seinen Anteil zu ergreifen, liegt sie da neben einem Stück Brot. Ich schließe die Augen: da kamst Du, den wir von allen Freunden am meisten vermißten, langsam über das Meer geschritten, in der Hand trugst Du die Laute und es war, als sängest Du den Wellen ein leises Lied im Rhythmus ihres Rauschens.480

Griechenland ist also der Ort einer Transzendenzerfahrung, die mit der Erfahrung einer mythisch überhöhten Freundschaft einhergeht. Der Text gestaltet hier einen Augenblick erhöhter bzw. erweiterter Wahrnehmungsfähigkeit. Im gemeinsamen Vollzug des Mahls wird all das, was die Individuen trennt, zumindest temporär aufgehoben. Diese Überwindung der Individuation hat nur wenig mit der rauschhaften Auflösung des principium individuationis in Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie gemein, im Gegenteil: Die Einswerdung der Gruppe vollzieht sich im Zeichen von Helligkeit und Klarheit. Die naturhaften Vergleiche unterstreichen, dass der hier geschilderte Vorgang ein organischer ist, der sich in größtmöglicher Transparenz vollzieht. Die Erfahrung der Nähe betrifft nicht nur die anwesenden Freunde und die in Deutschland Zurückgebliebenen, sondern auch den abwesenden Verstorbenen. Die Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen, wenn in einem gleichsam religiösen Opfervorgang der Tote am gemeinsamen Mahl partizi478

479

480

Vgl. ebd., S. 115: »Mögen andere nach Amerika reisen; auch sie finden dort, was wir gefunden: sich selbst.« Vgl. Friedrich Hölderlin, »Brot und Wein. An Heinze«, in: Ders., Sämtliche Gedichte, hrsg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt am Main 2005, S. 285–291. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 12.

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piert. Gerade auch an dem feierlichen Gestus der hymnischen Sprache wird deutlich, dass dieses Epiphanie-Erlebnis die übliche Erfahrungswelt transzendiert. Die zahlreichen Assonanzen und Alliterationen tragen dazu bei, dass sich die Sprache der Lyrik annähert. So verweist auch die sprachliche Gestaltung auf die Feierlichkeit der beschriebenen geradezu kultischen Handlung: Die Gruppe bringt dem Verstorbenen ein Opfer dar, der verstorbene Freund ist in diesem Augenblick gleichsam präsent. Ein zentrales Vorbild für einen derart hohen Ton ist sicherlich Friedrich Hölderlin, wie überhaupt dieser Dichter literarischer Gewährsmann der Gruppe ist. Seine Wirkung wird nicht nur am Stil etlicher Passagen deutlich, sondern auch an der Reiseroute der Gruppe, die einen Ausflug nach Kalauria, der Insel Hyperions, vorsieht, die keineswegs zum üblichen touristischen Programm gehört.481 Diese Bezugnahme ist durchaus typisch: »Abgesehen von den Bildungsinstitutionen ist Hölderlin, mit Nietzsche, Rilke und George, der wichtigste Vermittler von ›Antike‹ in die Jugendbewegung.«482 Dies verdeutlicht wieder einmal, in wie hohem Maße die deutsche Antikebegeisterung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von literarischen Autoritäten geprägt ist und wie problematisch dieses Verhältnis ist, formiert doch diese Vorprägung vielfach die Wahrnehmung. Gerade im Falle einer Gruppe, die bewusst unkonventionell eigene neue Zugänge zu Griechenland finden will, wirkt dieser ostentative Hölderlin-Kult ironisch, bewegen sich doch die ›Fischer‹ in den Spuren eines Dichters, der sein Wissen über Griechenland aus zeitgenössischen Reisebeschreibungen bezog.483 Der Text der ›Fischer‹ demonstriert die Wirksamkeit von Traditionen auch im Versuch des Traditionsbruchs. Die Feier von Freundschaft und Gemeinschaft ist ein wesentliches Element des Textes der ›Fischer‹. Sie äußert sich insbesondere in der Beschreibung gemeinschaftsstiftender Rituale, wie etwa des gemeinsamen Ge-

481

482 483

Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 30: »Da beschließen wir, andern Tags eine der Inseln aufzusuchen, Kalauria, Hyperions stille Insel.« Cancik, Jugendbewegung und klassische Antike, S. 115. Vgl. zu den Quellen von Hölderlins Hyperion Jochen Schmidt, »Kommentar«, in: Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Jochen Schmidt, Bd. 2: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen, Frankfurt am Main 1994, S. 933–940. – Die Angehörigen der Deutschen Freischar zitieren Gedichte von Rilke, Stefan George und Paul Alverdes. Vgl. Griechenlandfahrt junger Deutscher, S. 15 (Rainer Maria Rilke, »Archaischer Torso Apolls«), S. 21 (Rilke, »Lied vom Meer«), S. 9 (Stefan George, »Südlicher Strand: See«), S. 67f. (Paul Alverdes, »Die Nördlichen«). Daneben finden Hölderlin und Schiller Erwähnung. Vgl. ebd., S. 53 (Erwähnung von Hölderlins Hyperion), S. 66 (Anspielung auf Schillers Kraniche des Ibykus).

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

sangs,484 im gemeinsamen Nachtlager im Zelt485 oder unter freiem Himmel486 oder des Marschierens in der Kolonne: Der steile Pfad hätte uns nicht erlaubt, zusammenzubleiben; so aber schließt sich unwillkürlich die Kolonne zusammen. Hier drängt alles in uns auf engstes Zusammenleben. Und der Rhythmus einer marschierenden Kolonne ist ein Gesang des Lebens, in dem unendlich viel anklingt für den, der Ohren dafür hat.487

Die Gemeinschaft bewirkt also ein gesteigertes Gefühl des Lebens; in der Gruppe ist die Teilhabe an Weltzusammenhängen möglich.488 Die Bezüge zur zeitgenössischen Lebensphilosophie sind offensichtlich; von Bedeutung ist dabei vor allem, wie sich Vitalismus, Reisepraxis und Wahrnehmung der Antike zueinander verhalten. Die tiefe Erfahrung des Lebens ist erst in der Gemeinschaft möglich. So deuten die Autoren ihre Gegenwart nach antiken Vorgaben. Ein gemeinsames Trinkgelage etwa wird zu einer dionysischen Feier stilisiert, bei der es um Versinnlichung der griechischen Vergangenheit geht.489 Zu diesen gemeinschaftsstiftenden Ritualen gehört aber ebenso die gemeinsame HomerLektüre an antiker Stätte: »Wir liegen hoch in der Helle der klaren Landschaft, auf der Schwelle des Megaron [von Tiryns] und lesen aus der Odyssee.«490 Hier wird ein neuer unverstellter Zugang zu den antiken Autoritäten eingefordert und zelebriert, der seine Legitimität nicht zuletzt aus der Art des Reisens bezieht, die der Gruppe erst möglich macht, die antike Kultur im kollektiven Nachvollzug zu erleben und zu vergegenwärtigen – anders als die Reisenden der Jahrhundertwende, die zwar ebenfalls die Odyssee im Gepäck hatten, diese aber allein für sich lasen.491 484 485 486 487 488

489 490 491

Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 57f. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 91 (Nachtlager im Gebirge). Ebd., S. 42. Auch im Reisebericht der Deutschen Freischar finden sich ähnliche Tendenzen. Vgl. Griechenlandfahrt junger Deutscher, S. 51: »Ein Gefühl des Alleinseins überfällt mich. Trotz dieser Landschaft. Meine Augen suchen unbewußt den Zeltplatz. Zwischen den Bäumen entdecke ich das graue Zelt. Da jubelt etwas auf in mir. Unten, gleich unten sind die Freunde, und ich gleite, stürze und rutsche den Berg hinab zu ihnen.« Die Erfahrung der Gruppe macht möglich, die verstörenden Eindrücke der Fremde zu kompensieren, ja ihre pure Existenz führt zu seelischer Hochgestimmtheit. Offenkundig gibt das Kollektiv dem verstörten Jugendlichen ein Gefühl von Orientierung und Geborgenheit. Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 76–78. Ebd., S. 63. Vgl. etwa zu Gerhart Hauptmanns solipsistischem Homer-Bezug Kapitel I dieser Arbeit.

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Der Text unterstreicht programmatisch die Einheit von Humanismus und Christentum, die die Reise nach Griechenland erfahrbar machen solle, führt dieses Programm aber nicht aus. Vielmehr überwiegen schwärmerische Naturschilderungen, hymnische Beschwörungen des Gemeinschaftsgefühls und nicht zuletzt Versuche einer patriotischen Selbstvergewisserung. So liegt der Fokus weniger auf der Beschreibung historischer Monumente als vielmehr auf der emphatischen Selbstfeier der wandernden, singenden und campierenden Gruppe, die angesichts griechischer Landschaft das Wesen antiker Kultur erst vor Ort adäquat begreifen kann: Niemals löst sich der Geist ganz von seiner Erde. Niemals wird man griechisches Wesen begreifen ohne eine Vorstellung des Bodens, auf dem es erwachsen, des Himmels, unter dem es sich vollendet hat.492

Zu dieser Erfahrung der Antike und des Kerns der griechischen Kultur soll weniger die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, sondern im Gegenteil das Erlebnis der Natur und nicht zuletzt der eigenen Körperlichkeit verhelfen. So zelebriert der Text immer wieder das gemeinsame Bad im Meer,493 ja das Baden ist für die Verfasser dem Museumsbesuch vorzuziehen: »Heiße, süße Milch und Zwieback als Frühstück im Kaffenion, dann statt Museumsbesuch lieber ein langes, köstliches Bad im blauen Golf vom Felsenufer des Palamidi.«494 Dieser Körperkult verbindet sich mit einer regelrechten Naturfrömmigkeit. Die Reisenden bestaunen »mit glücklicher Andacht«495 die Flora und Fauna Griechenlands, ja sie stilisieren sich selbst zu einem Teil der südlichen Umgebung und lassen so den Gedanken von Fremdheit erst gar nicht aufkommen. Diese Aktivitäten stehen einer intensiven Beschäftigung mit der Antike nicht entgegen, vielmehr liegt auch ihnen der Gedanke zugrunde, dass eben die körperliche Betätigung einen Zugang zur antiken Weltaneignung gestatte, die einen philologischen Zugang überschreite. Sie ermöglicht teilweise auch erst ein tieferes Verständnis der antiken Kultur, wenn etwa das Bad im Meer die homerischen Epitheta besser begreifen lässt.496 Das An492 493 494 495 496

Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 60. Vgl. ebd., S. 36f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 37: »Odysseus kämpfte mit solchen Wogen, angesichts der Küste der Phaeaken, vor der schroffen Felswand, die ihm keine Rettung verhieß. Wie lebendig fühlt man das hier nach, wie wahr, wie unerhört wahr dichtet Homer. Bis ins Kleinste finden wir überall den Gegenstand seiner Schilderung, bei jedem neuen Bild könnte man sich einen Vers aus der Odyssee ins Gedächtnis zurückrufen. Und die ›schmückenden Beiworte‹, das spüren wir erst jetzt, treffen wahrhaft den Kern der Dinge.«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

tike-Ideal der Gruppe fußt folglich auch auf sinnlich-konkreten Vorstellungen: In der restlosen Klarheit der Formen vor der ungebrochenen Kraft dieser Sonne hat kein Nur-ahnen-lassen dämmrigen Zwielichtes Platz, keine Zwischengefühle, keine Mystik: Farbenrausch des Lichtes, Sieg der Körperlichkeit, irdische Manifestation vollendeter Schönheit.497

In dieser apollinischen Beschwörung von Kraft, Klarheit und Eindeutigkeit, die zudem nebenbei jegliche Spekulation für unnütz erklärt, wird die Idealvorstellung der Reisenden deutlich. Bemerkenswerterweise unterläuft dabei der Text die eigene Botschaft, zeigt doch bereits das Substantiv »Farbenrausch«,498 wie wenig rational diese Sichtweise tatsächlich ist. Vielmehr gipfelt die vermeintlich endgültige Interpretation der griechischen Kultur wiederum in eine neue Mystik, in einen religiös überhöhten Körper- und Naturkult, der zu einem Gutteil aus dem ideologischen Hintergrund der Gruppe zu verstehen ist. Dabei spielen offenkundig wiederum vitalistische Tendenzen eine bedeutende Rolle, Vorstellungen einer Alleinheit: »Natur ist Geist und Geist Natur.«499 Diese vitalistischen Vorstellungen sind für die Sicht auf die griechische Antike prägend, aber auch für die Art der Aneignung. So erschließt sich den Reisenden angesichts des Apollotempels von Korinth das Wesen der griechischen Kultur, das sich auf den Begriff des Lebens reduzieren lässt, der mit einem diffusen irrationalistischen Schicksalsbegriff verbunden wird: Und wir gestehen zwischen dem Marmor der Badeanlagen und den Säulen aus schlichtem Kalkstein uns in wortloser Uebereinkunft, daß Griechentum ein Schicksal ist mit Geburt, Vollendung und Tod, wie das unsere, daß es keine Formel dafür gibt, als die des Lebens.500

Auch hier geht es um Teilhabe. Die scheinbar banale Feststellung, dass auch die griechische Kultur endlich sei, betont tatsächlich die Dynamik, eine Dynamik des Lebens, die auch für die deutschen Reisenden gilt, deren Existenz sich somit nach den gleichen Maßstäben bemisst wie die der Griechen. Im allumfassenden Lebenszusammenhang verschwimmen so die Differenzen, erscheinen die Alten gleichsam als Zeitgenossen der Nachgeborenen. Dabei steht insbesondere die griechische Vorzeit im Mittelpunkt des Interesses. Anders aber als in den Texten der Jahrhundertwende, wo die Faszination für den Urgrund der griechischen Kultur ausschlaggebend für 497 498 499 500

Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 47. Ebd., S. 54.

Auf der »kapitalistischen Lustbarke« oder zu Fuß. Spielarten des Reisens

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diese Begeisterung gewesen sein dürfte, ist für die ›Fischer‹ das Verwandtschaftsgefühl von zentraler Bedeutung.501 Die griechische Archaik wird zum Heilmittel, zur hoffnungsstiftenden Richtschnur für eine verunsicherte und orientierungssuchende Jugend. So heißt es emphatisch: »Wir lieben dich, griechische Frühzeit. Denn das Werdende, es ist uns verwandt.«502 Hier klingt zugleich die jugendlich-vitalistische Selbststilisierung mit an, die den Text nahezu ungebrochen durchzieht. Die ›Fischer‹ greifen einerseits die Archaik-Rezeption der Jahrhundertwende auf und modifizieren andererseits diese Traditionslinie, geht es doch nicht mehr um die rauschhafte Vergegenwärtigung einer Vorvergangenheit, sondern um die von Maß und Klarheit bestimmte Parallelführung der deutschen Jugend mit der heroischen griechischen Frühzeit. Der Weg zu Benns Essay über die Dorische Welt, aber auch zu Positionen nationalsozialistischer Theoretiker ist nicht mehr weit.503 Diese Tendenz wird am deutlichsten bei der Beschreibung des Aufenthalts in Olympia, der am Ende des Buchs steht.504 Am Beispiel der Giebelskulpturen des Zeustempels von Olympia entwerfen die Autoren nicht nur eine Programmatik der archaischen Kunst, sondern deuten zugleich ihre eigene Existenz als permanenten Wettkampf.505 Diese Wildheit und Urwüchsigkeit werden wiederum mit den Eigenschaften der Gruppe gleichge501

502 503 504

505

In Tiryns etwa erleben die Reisenden ein »vertrautes, fast heimatliches Mittelalter« (ebd., S. 62), in dem »die urwüchsige Lebenskraft allein wirksam« (ebd.) zu sein scheint und dennoch so gebändigt ist, dass eine erfolgreiche Herrschaftsausübung möglich war. Die Verwandtschaftsvorstellungen erschöpfen sich nicht nur in der Beschwörung ähnlicher Verhältnisse, sondern sind gerade auch für die Gegenwart von höchster Bedeutung: »Jede Vollendung trägt schon den Keim des Todes in sich; vielleicht wirkt darum die frühe griechische Kunst mit ihrer noch unvollendeten Verheißung soviel stärker auf unsere hoffnungsbedürftige junge Generation, als die reife Kunst eines fünften Jahrhunderts.« (Ebd., S. 63). Ebd., S. 29. Vgl. Kapitel III dieser Arbeit. Allerdings findet sich dieses Kapitel nicht in allen Exemplaren; das Exemplar aus der Universitätsbibliothek Freiburg i. Br. endet mit der Beschreibung des Ritts nach Olympia; auf S. 111 befindet sich das Abbildungsverzeichnis. Im ansonsten seitenidentischen Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen, aus dem in dieser Arbeit zitiert wird, steht das Abbildungsverzeichnis auf S. 116, die Beschreibung Olympias auf den Seiten 110 bis 115. Diese Differenzen lassen sich wohl durch Fehler bei der Herstellung erklären; offenbar wurde die Satzvorlage nachträglich geändert. Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 112: »Sind nicht auch die olympischen Giebelskulpturen das hohe Lied des Kampfes und der Kraft? Gibt es Wilderes, Urwüchsigeres in der griechischen Kunst als diesen Kampf der Lapithen und Kentauren um die Frauen?«

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Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

setzt: Die archaische Kunst besitze die »tragisch-problematischen Züge des Jünglingsalters«.506 Die Affinität der Gruppe zu den archaischen Kunstwerken liegt also in der Ähnlichkeit des Lebensgefühls begründet. Als Ideal dieser Sichtweise dient für die ›Fischer‹ Apoll: Und über allem, ein Fels in der tosenden Brandung, ungerührt von dem grausigen Geschehen, mit heroisch ausgestrecktem Arm Befehle erteilend, Apoll, ein ungerechter, grausamer, aber ein schöner, starker, stolzer Gott!507

Kunstbeschreibung wird hier zu einer vitalistischen Programmschrift, die nebenbei traditionelle Vorstellungen suspendiert, an der griechischen Kunst würden ethische Qualitäten versinnlicht, wie sie auch in den 1920er Jahren vielfach anzutreffen sind. Schönheit erlaubt keinen Rückschluss auf Moral. Offenkundig haben die ›Fischer‹ den Agon als lebensnotwendige Tatsache akzeptiert, ja der Ort Olympia lädt geradezu zur Nachahmung antiker Wettkämpfe ein: Und am Alphaios [ ! ], am blanken Strand, flechten [ ! ] wir wie oft in früheren Jahren herbeigewünscht, einen letzten Agon aus mit Lauf, Sprung und Speerwurf, nicht die Geübtesten in der Heimat, aber geübt genug, uns dieses Wettkampfes in Olympia, an geheiligter Stätte, nicht zu schämen.508

Wie für Jacob Burckhardt, dessen Beschreibung des agonalen Menschen und des tragischen Zeitalters hier anklingt,509 ist der Wettkampf für die ›Fischer‹ nicht nur spielerisches Element, sondern Grundzug der griechischen Gesellschaft, ja sogar eine anthropologische Konstante. Wenn sich die Reisenden als Nachfolger der wettkämpfenden Griechen inszenieren und gegen klassizistische Humanisierungstendenzen gerade die Amoralität und die moralische Indifferenz der griechischen Götterwelt hervorheben, so knüpfen sie damit einerseits an Tendenzen der Vorkriegsjahre an und integrieren andererseits spezifische Elemente der Jugendbewegung – nicht zufällig ist ständig von der Jugendlichkeit des archaischen Zeitalters auf der einen und der deutschen Reisegruppe auf der anderen Seite die Rede. Beiden gemein sei »das schöpferische Erstmalige, das staunende, zögernde Greifen nach dem Höchsten«.510 Auf diese Weise erscheinen die jungen Deutschen prädestiniert, einen fruchtbaren Zugang zur Antike zu finden, der sich sowohl von akademischer Reflexion als auch von programmatischer künstlerischer Anverwandlung abhebt. So wirkt auch der Hermes des Praxiteles nurmehr ent506 507 508 509 510

Ebd., S. 113. Ebd. Ebd., S. 114. Vgl. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte; dazu Kapitel I dieser Arbeit. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 114.

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täuschend, lässt die Besucher gar »innerlich erkältet«511 zurück: »Der stolze Gott des Kentaurenkampfes steht uns näher, ist uns aus Urgründen vertraut.«512 Archaisierung und Enthumanisierung prägen also das Antikebild der Gruppe, das vor allem über ein diffuses Gefühl der Verwandtschaft junger Menschen zu einer angeblich jugendlichen Kunstepoche legitimiert wird.

511 512

Ebd. Ebd.

254

Orientierungssuche der Zwischenkriegsjahre

Voraussetzungen

III.

Griechenland-Reiseberichte 1933–1945

1.

Voraussetzungen

1.1.

Kontinuitäten und Umbrüche nach 1933

255

Selbstverständlich verlaufen literarische Entwicklungen nicht parallel zu politischen Entwicklungen; sie gehorchen eigenen Gesetzen und folgen länger anhaltenden Strömungen. Wenn hier die politische Zäsur des Jahres 1933 auch als bedeutsamer Einschnitt für die Reiseliteratur über Griechenland aufgefasst wird, so bedarf dies einer Erklärung. Schließlich existiert das, was im Nachhinein als völkische Literatur bezeichnet wurde, bereits in den 1920er Jahren, ja etliche Literaturwissenschaftler setzen den Höhepunkt dieser Literatur vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Mai 1933 an.1 In der Reiseliteratur sei hier auf die Reiseberichte von Josef Magnus Wehner und Franz Spunda verwiesen, die völkisches Gedankengut transportieren. Und doch lässt sich in der Reiseliteratur ein Wandel ausmachen, der deutlich auf den politischen Einschnitt des Jahres 1933 zurückzuführen ist. Dies liegt daran, dass Reiseliteratur unmittelbarer auf die Erfahrungen der Gegenwart rekurriert als rein fiktionale Gattungen. Zudem gewinnt der Bezug auf Griechenland für das nationalsozialistische Regime eine besondere Bedeutung. Die Vorstellung, der NS-Staat habe das Erbe der Alten angetreten und sei legitimer Nachfolger der Griechen, liegt auch der Inszenierung der Olympischen Spiele 1936 zugrunde, in deren Zusammenhang etliche Reiseberichte entstehen, bei denen es sich offenkundig um Propagandatexte handelt. Daneben bemühen sich einige Autoren aus eigener Initiative, das Gedankengut des Nationalsozialismus in ihre Texte über Griechenland zu integrieren. Den Gipfelpunkt dieser in antisemitische Hetze ausartenden Tendenzen bildet Franz Spundas Griechenland-Buch von 1938. Schließlich spielt bei den Vorstellungen von Nachfolgerschaft die Verbindung von Technik und Antike eine besondere Rolle. In der Tradition der abenteuerlichen Reiseberichte der 1920er Jahre, nun aber angereichert mit imperialistischen Untertönen, nimmt die Zahl der Texte über geradezu heroische Autoreisen nach Griechenland sprunghaft zu. Der Triumph deut1

Vgl. Uwe-K. Ketelsen, Literatur und Drittes Reich, 2., durchgesehene Auflage, Vierow bei Greifswald 1994; Ders., Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945, Stuttgart 1976 (Sammlung Metzler; 142).

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Griechenland-Reiseberichte 1933–1945

scher Technik auf klassischem Boden markiert den Machtanspruch, der – zunächst getarnt als Versuch der Völkerverständigung – spätestens nach Ausbruch des Krieges und der deutschen Besatzung Griechenlands ab 1941 virulent wird. Krieg und Besatzung bedeuten keinesfalls das Ende deutschsprachiger Reisetexte. Im Auftrag der Wehrmacht entsteht der Reisebericht Erhart Kästners, der auch auf dem zivilen Buchmarkt äußerst erfolgreich ist. Dieser Text verdeutlicht exemplarisch die Aporien, denen das Schreiben über Griechenland unterliegt: Einerseits handelt es sich um eindeutige Propaganda, andererseits versucht Kästner, die Kriegsgegenwart so weit wie möglich auszublenden und auf eine überzeitliche Sphäre von Natur und Mythos zu verweisen, die einen Ausweg aus den Verstrickungen der Gegenwart bieten kann. Neben diesen von nationalsozialistischem Gedankengut kontaminierten Texten existiert – wenig überraschend – eine ganze Reihe von Reiseberichten, die das Erlebnis Griechenlands und den Bezug auf das klassische Humanitätsideal als Ausweg aus bzw. als Gegenbild zu einer bedrückenden Gegenwart inszeniert. Hier wirken Traditionen des kulturkritischen Schreibens der 20er Jahre fort, die in einigen Fällen in dezidierte Kritik am NS-Regime münden. Allerdings handelt es sich keineswegs bei allen dieser Texte um politische Literatur. In jedem Einzelfall ist es daher unerlässlich, über intensive Textarbeit und minutiöse Kontextualisierung dem manchmal verborgenen Gehalt der zum Teil vielschichtigen Texte nahe zu kommen. 1.2. »Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen hinweisen.« Griechenland-Bilder im Dritten Reich Von einer einheitlichen Sichtweise auf die griechische Kultur in den Jahren von 1933 bis 1945 kann keine Rede sein. Lediglich einige wenige Elemente können als verbindlich gelten. So basieren nahezu alle Positionierungen im Griechenland-Diskurs auf rassistischen Vorannahmen. Dabei ist zwischen den verstreuten Äußerungen Hitlers, dem pseudophilosophischen Entwurf von Alfred Rosenberg und Stellungnahmen aus den Altertumswissenschaften zu unterscheiden, die sowohl auf die ideologischen Zuspitzungen reagieren als auch diese vorantreiben. Schließlich unterliegt auch das Verhältnis zum modernen griechischen Staat und seinen Bewohnern einschneidenden Veränderungen. Im Kontext der als Propaganda für das nationalsozialistische Deutschland inszenierten Olympischen Sommerspiele von 1936 überwiegen freundliche Töne, spätestens seit dem italienischen Überfall auf Griechenland und der sich anschließenden deutschen Besatzung kann davon

Voraussetzungen

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keine Rede mehr sein. Reiseliteratur, die zuvor der Beschwörung von Gemeinsamkeiten diente, wird nun zu einem gezielt eingesetzten Propagandainstrument, um die Kriegsrealität zu verharmlosen. Als Ausgangspunkt für eine Annäherung an die Mechanismen, die der Vereinnahmung des Bezugs auf Griechenland im Dritten Reich zugrunde liegen, können die entsprechenden Äußerungen Adolf Hitlers dienen. Hitler betont mit aller Entschiedenheit sowohl die arische Herkunft der alten Griechen als auch ihre Vorbildbedeutung für den nationalsozialistischen Staat. Gerade das Studium der antiken Geschichte habe für die Gegenwart unschätzbaren Wert. Hitler erklärt in Mein Kampf: Insbesondere soll man im Geschichtsunterricht sich nicht vom Studium der Antike abbringen lassen. Römische Geschichte, in ganz großen Linien richtig aufgefaßt, ist und bleibt die beste Lehrmeisterin nicht nur für heute, sondern wohl für alle Zeiten. Auch das hellenische Kulturideal soll uns in seiner vorbildlichen Schönheit erhalten bleiben. Man darf sich nicht durch Verschiedenheiten der einzelnen Völker die größere Rassegemeinschaft zerreißen lassen. Der Kampf, der heute tobt, geht um ganz große Ziele: eine Kultur kämpft um ihr Dasein, die Jahrtausende in sich verbindet und Griechen- und Germanentum gemeinsam umschließt.2

In der Politik sucht Hitler offenkundig Anschluss an die Römer, an deren Beispiel viel zu lernen sei. Daneben betont er die kulturellen Leistungen der Griechen, die für ihn selbstverständlich mit den Deutschen verwandt sind. Gerade die Verbindung von »Griechen- und Germanentum« gewinnt so herausragende Bedeutung. Die Parallele zwischen den beiden vermeintlich gefährdeten Völkern macht deutlich, welch hoher Stellenwert dem Beispiel der Griechen für die Gegenwart zukommt. 2

Adolf Hitler, Mein Kampf, 28. Auflage, München 1933, S. 469f. Vgl. Stefan Bittner, »Die Entwicklung des Althistorischen Unterrichts zur Zeit des Nationalsozialismus«, in: Beat Näf (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus. Kolloquium Universität Zürich 14.–17. Oktober 1998, Mandelbachtal/Cambridge 2001 (Texts and Studies in the History of Humanities; 1), S. 285–303; vgl. Apel/Bittner, Humanistische Schulbildung 1890–1945, S. 366: »Die Wirkung antiken Denkens im gymnasialen Bildungsprozeß während des Nationalsozialismus muß als äußerst gering angesehen werden. Schon in materialer Hinsicht waren die altertumskundlichen Unterrichtsgegenstände so stark eingeschränkt worden, daß jegliche Vergleichsmöglichkeiten mit anderen historischen Entwicklungen der europäischen Antike, die der parteiamtlich verordneten Rassengeschichte widersprachen, kaum mehr möglich waren. Der Weg einer emotionalisierten Geschichtsbetrachtung, der schon in der Kaiserzeit eingeschlagen worden war, wurde jedoch in harter Konsequenz fortgesetzt.«

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Auch an anderer Stelle unterstreicht Hitler auffallend oft die künstlerischen Leistungen der Griechen und stellt diese über die der Gegenwart: »Sehen wir auf die Griechen, die auch Germanen waren, so finden wir eine Schönheit, die doch über dem liegt, was wir heute aufzuweisen haben.«3 Dieser epigonale Verweis auf die zeitlose Maßstäblichkeit der griechischen Kunst findet seine Parallelen in der staatlich geförderten Architektur und Skulptur. Gerade der monumentale Klassizismus demonstriert den Versuch, auch auf künstlerischem Gebiet das Erbe der Alten anzutreten.4 Diese Vereinnahmung der Griechen für die eigene Geschichte zieht eine Abwertung der germanischen Vergangenheit nach sich, die deutlich macht, dass sich das nationalsozialistische Geschichtsbild nicht auf Germanenschwärmerei verengen lässt. Hitler geht sogar so weit, die Vergangenheit des Nordens herabzusetzen: Da wird irgendwo ein Schädel gefunden und alle Welt sagt: So haben unsere Vorfahren ausgesehen. Wer weiß, ob der Neandertaler nicht ein Affe war. Jedenfalls haben dort unsere Vorfahren nicht gesessen in jener Zeit! Unser Land war ein Sauland, durch das sie höchstens durchgezogen sind. Wenn man uns nach unseren Vorfahren fragt, müssen wir immer auf die Griechen hinweisen.5

Fern von aller Germanenbegeisterung erscheinen die Griechen hier ungebrochen als Vorbilder gerade auch der nationalsozialistischen Ideologie, eben weil sie herausragende kulturelle Leistungen vollbracht hätten.6 Diese Vereinnahmung ist allerdings nur aufgrund der rassistischen Vorstellung einer engen Verwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen möglich. 3

4

5 6

Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, hrsg. v. Percy Ernst Schramm, Stuttgart 1963, S. 166. Vgl. Gunnar Brands, »Zwischen Island und Athen. Griechische Kunst im Spiegel des Nationalsozialismus«, in: Bazon Brock/Achim Preiß (Hrsg.), Kunst auf Befehl? Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig, München 1990, S. 103–136; Hans-Ernst Mittig, »Antikebezüge nationalsozialistischer Propagandaarchitektur und -skulptur«, in: Näf (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, S. 245–265; Christian Welzbacher, »›Die geheiligten Bezirke unseres Volkes.‹ Antikenrezeption in der Architektur des Dritten Reiches als Beispiel für das Nationalsozialistische Historismuskonzept«, in: Baumbach (Hrsg.), Tradita et Inventa, S. 495–513. Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 159. Vgl. zu Hitlers Bevorzugung der Antike gegenüber einem Beharren auf der germanischen Vergangenheit die Studie von Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998, S. 72–77, bes. S. 72f.: »Ausdrücklich verworfen wurden von ihm dagegen alle Versuche völkischer Ideologen, die germanische Frühzeit zum idealen Bezugspunkt einer weltanschaulichen Haltung oder gar zum konkreten Vorbild aktueller staatlicher Planungen zu erheben.«

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Was zuvor lediglich die Privatideologie einer Bildungselite war, wird in den Jahren nach 1933 zu einer Grundlage des geistigen Selbstverständnisses des nationalsozialistischen Staats. Zwar prägen rassistische Argumentationsmuster spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Debatten über Griechenland. Kaum ein Reisetext kommt ohne die Diskussion der Sonderbeziehung zwischen Griechen und Deutschen und der Frage der Abstammung der modernen Griechen aus, allerdings fehlt diesen Stellungnahmen zumeist die Aggressivität der NS-Ideologie. Exemplarisch für die auf biologistische Annahmen gegründete Geschichtsbetrachtung ist Alfred Rosenbergs pseudo-philosophischer Entwurf Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenberg wertet in der Nachfolge von Joseph Arthur de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain Geschichte als eine Abfolge von Rassenkämpfen: Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und Seelenmystik zugleich; die Geschichte der Religion des Blutes aber ist, umgekehrt, die große Welterzählung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler.7

Dabei geht Rosenberg von einer kulturstiftenden nordischen arischen Rasse aus, deren Wanderbewegungen die Ursache für die Hochkulturen Indiens, Persiens, Griechenlands und Roms gewesen seien. Die arischen Führungsschichten seien aber jeweils durch Rassenmischung mit den unterworfenen Völkern degeneriert.8 Auch für die Blüte der griechischen Kultur ist laut Rosenberg das »schöpferische blonde Blut«9 ursächlich verantwortlich. Das alte Griechenland bedeutet einen Höhepunkt in der Geschichte der nordischen Rasse: »Am schönsten geträumt wurde der Traum des nordischen Menschentums in Hellas.«10 Dies lasse sich beispielsweise an dem nordischen Lichtkult ablesen, der die griechische Religion bestimme, ebenso an der Etablierung des Patriarchats.11 Vielfache Bezüge zu Homer verdeutlichen, dass die Heldenwelt der Ilias für Rosenberg den Höhepunkt der griechischen Kultur darstellt: »Nordisch bedingt wie die bildende Kunst Griechenlands ist auch Homer und seine Schöpfung.«12 Homer habe »als bewußter Herrenmensch«13 in seinen 7

8 9 10 11

12

Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 23.–24. Auflage, München 1934, S. 23. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34. Kursivierung im Original gesperrt. Ebd., S. 39f. Rosenberg bezieht sich hier ausdrücklich auf Bachofens Mutterrecht, korrigiert aber dessen Argumentation unter rassistischen Vorzeichen. Ebd., S. 283.

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Epen »seelisch-rassische Kunst geschaffen«,14 die zugleich einiges über die Rassenverhältnisse der Antike aussage. Für Rosenberg ist der Status der nordischen Griechen immer gefährdet. Dies werde etwa an der Auseinandersetzung mit chthonischen asiatischen Gottheiten zum Beispiel in der Orestie des Aischylos deutlich.15 Bereits der Hinweis auf den Traumcharakter der griechischen Kulturblüte zeigt, dass es sich nur um einen kurzen Moment der Erfüllung handelte. Doch obwohl sich nach Alfred Rosenberg die Griechen letztlich ihren Untergang selbst zuzuschreiben haben, besteht doch an ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung kein Zweifel: Und trotzdem: auch im Untergehen hatte der griechische Mensch den Vormarsch Asiens gehemmt, seine glänzenden Gaben über alle Welt zerstreut, die doch schon bei den nordischen Römern eine neue Kultur erzeugen halfen und später für das germanische Abendland zum lebendigsten Märchen wurden. Apollon heißt somit der erste große Sieg des nordischen Europas trotz Opferung der Griechen, weil hinter ihnen aus neuen hyperboräischen Tiefen Träger der gleichen Werte seelisch-geistiger Freiheit, organischer Lebensgestaltung, forschender Schöpferkraft erwuchsen.16

Ihre Vorbildhaftigkeit besteht also gerade darin, dass sie in ihrem heroischen Untergang nordische Tugenden beispielhaft demonstrieren konnten und zugleich in der Lage waren, ihr Erbe weiterzugeben. Als Konsequenz dieses ins Rassistische gewendeten Translatio-Gedankens erscheinen die Deutschen als legitime, weil blutsverwandte Erben der alten Griechen. Deutschlands Aufgabe sei es, den Kampf gegen niedere Rassen fortzuführen.17 Die Möglichkeit des heroischen Untergangs ist diesen Vorstellungen ebenso eingeschrieben wie die Gewissheit, dass gerade die Völker des Nordens als die neuen Verteidiger abendländischer Werte agieren. Rosenbergs mythische Überhöhung des Blutes und die damit verbundene Betonung der Zugehörigkeit der Griechen zu den arischen Völkern findet

13 14 15

16 17

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 43: »Am grandiosesten gestaltet ist der Kampf der Rassenseelen in der Orestie, mit hellstem Bewußtsein sind hier die alten und neuen Kräfte gegeneinander ausgespielt, was dieses Werk zu einem ewigen Gleichnis für alle Zeiten erhebt.« Ebd., S. 53f. Dabei bleibt zu betonen, dass Rosenberg anders als Hitler in Anlehnung an Chamberlain durchaus einem naiven, von keinerlei Skepsis beeinträchtigten Germanenkult anhängt. Vgl. ebd., S. 81f.

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ihr Echo auch in der Wissenschaft. Oftmals stellt sich dem Interpreten das Problem, zwischen anbiedernden, aber letztlich die Substanz der wissenschaftlichen Arbeit nicht berührenden Äußerungen und bekenntnishaften Neuorientierungen unterscheiden zu müssen. Die ideologischen Verlautbarungen finden ihre Entsprechungen in Äußerungen von Althistorikern, Archäologen und Altphilologen, die aus wissenschaftlicher Sicht dazu beitragen, das völkische Gedankengut zu unterfüttern und diesem den Anschein von Seriosität zu verleihen.18 Dass die Vertreter dieser Disziplinen auch zur Sicherung ihrer teilweise im Bestand bedrohten Fächer auf die Angebote des Regimes eingehen, kann nicht verwundern. Ob dies allerdings als lässliche Sünde zu bewerten ist,19 wirkt angesichts einer Vielzahl von Beiträgen von Altertumswissenschaftlern zur geistigen Aufrüstung und rassistischen Propaganda fragwürdig.20

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Vgl. dazu Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933–1945, Hamburg 1977; Karl Christ, Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999. So Alexander Demandt, »Hitler und die Antike«, in: Seidensticker/Vöhler (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne, S. 136–157, hier S. 139. In neuerer Zeit wurden die Auswirkungen des nationalsozialistischen Antikebildes auf die universitären Fächer Alte Geschichte und Archäologie eingehend untersucht; Ähnliches gilt für die Kunstgeschichte (vgl. etwa Esther Sophia Sünderhauf, Griechenlandsehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004, bes. S. 295–364), während es in der Literaturwissenschaft an ausführlichen und komplexen Arbeiten mangelt, die auf hohem Reflexionsniveau die Instrumentalisierung der Antike in der Literatur des Dritten Reichs herausarbeiten. In den Sammlungen zur NS-Literaturtheorie spielt bezeichnenderweise der Bezug zur Antike keine Rolle: Vgl. Sander L. Gilman, NSLiteraturtheorie. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1971; Klaus Vondung, Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literaturtheorie, München 1973; Sebastian Graeb-Könneker (Hrsg.), Literatur im Dritten Reich. Dokumente und Texte, Stuttgart 2001. Die Antikerezeption in der Literatur des Dritten Reichs ist zumindest ansatzweise aufgearbeitet. Erste Hinweise finden sich bei Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 298–317; detaillierter sind die Arbeiten von Daria Santini, Wohin verschlug uns der Traum? Die griechische Antike in der deutschsprachigen Literatur des Dritten Reichs und des Exils, Frankfurt am Main u. a. 2007, sowie von Horst Denkler, »Hellas als Spiegel deutscher Gegenwart in der Literatur des ›Dritten Reiches‹«, in: Ders., Was war und was bleibt? Zur deutschen Literatur im Dritten Reich. Neuere Aufsätze, Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 65–81. Wertvolle Hinweise bei Wilhelm Voßkamp, »›Deutscher Geist und Griechentum‹. Zur literaturwissenschaftlichen Interpretation der Weimarer Klassik in der Zeit des Nationalsozialismus«, in: Georg Bollenbeck/Werner Köster (Hrsg.), Kulturelle Enteignung – Die Moderne als Bedrohung, Wiesbaden 2003 (Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik I), S. 97–110.

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Der Althistoriker Joseph Vogt etwa unterstreicht in seiner Abhandlung Unsere Stellung zur Antike21 die Parallelen zwischen der Antike und dem faschistischen Deutschland: »In dieser Konstellation der geistigen Mächte ist heute ein Augenblick eingetreten, in dem wir Deutsche die Antike aus besonderer Nähe uns zugewandt zu sehen glauben.«22 Zustimmend zitiert er Hitlers einschlägige Äußerungen aus Mein Kampf und verdeutlicht so seine Orientierung an den Vorgaben des Regimes.23 Dabei spricht er den Deutschen eine Sonderstellung im Umgang mit den antiken Vorbildern zu, bestehe doch die Möglichkeit, dass die Deutschen aus sich heraus die Nähe zu den Vorbildern erführen. Diese Nähe lasse sich gerade an der nationalsozialistischen Ideologie belegen, die trotz fehlender akademischer Annäherung wesentliche Elemente der Antike aufgenommen habe, so dass man geradezu von einer wesensmäßigen Verwandtschaft des Nationalsozialismus mit der Antike sprechen könne: »Aus seiner eigenen Wesenheit heraus hat der Nationalsozialismus die Antike als maßgebenden Wert erkannt.«24 Eben deshalb sei eine instinktive Wiedergeburt denkbar: Diese Beziehung zum artverwandten historischen Vorbild ist so ansprechend, daß sie – und dies ist das ganz wesentlich Neue in unserer Stellung zur Antike – dem ganzen Volk greifbar werden könnte.25

Die Griechen sind für Vogt »die Erstgeborenen der arischen Völker«.26 Gerade das antike Erziehungsideal, die Unterordnung des Einzelnen unter den Staat, sieht Vogt im nationalsozialistischen Staat wieder erreicht: Im Aufbau der Erziehung, im Einsatz der marschierenden Formationen, in der Heerschau der nationalen Feiertage erscheint etwas von der politischen Lebensform der Antike in die höhere Stufe der Volkseinheit übertragen.27

Das nationalsozialistische Deutschland erscheint so aus der Perspektive des Althistorikers als überbietende Erfüllung des alten Griechenlands – diese Sichtweise gehört zu den Kernbeständen der nationalsozialistischen Ideologie. Während man Vogts Äußerungen mit viel Nachsicht und einiger Mühe für die temporären Verirrungen eines humanistisch gesinnten Wissenschaft21

22 23 24 25 26 27

J. Vogt, Unsere Stellung zur Antike, Breslau 1937. – Vgl. zu Joseph Vogt den Beitrag von Karl Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 63–124. Ebd., S. 3. Ebd., S. 10. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 13.

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lers halten kann,28 besteht an der Rolle von Helmut Berve kein Zweifel:29 Berve erreichte »als ›Kriegsbeauftragter der deutschen Altertumswissenschaft‹ […] während des II. Weltkriegs den Höhepunkt seines Einflusses im nationalsozialistischen Staat«.30 In dem Vorwort des ersten Bandes des von ihm herausgegebenen Sammelwerks Das neue Bild der Antike artikuliert er programmatisch seine Positionen. Er geht davon aus, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten einen tiefgreifenden Wandel in den Altertumswissenschaften bewirkt habe: Vor uns liegt im Morgenschimmer ein weites Feld. Als seien sie uns neu geschenkt, erfassen wir in einer Zeit, da alles von den Vätern Ererbte als Besitz erworben werden muß, mit Inbrunst die Werte des klassischen Altertums, die sich sieghaft in Sturm und Wandel behaupten oder gar erst jetzt recht zu offenbaren scheinen. Ursprünglicher, als ein Stück der eigenen leiblichen und geistigen Existenz, empfinden wir die aus der Antike in die Gegenwart fortwirkenden Kräfte. In aufregende Nähe rücken unter dem übermächtigen Erlebnis weltbewegender Politik der politische Instinkt der Römer, der Staatsgedanke der Hellenen, das historische Schicksal beider Völker. Der ungemeine Auftrieb, den Sport, Leibeskultur und überhaupt leiblicher Sinn mit der Verwirklichung nationalsozialistischer Grundgedanken erfahren, schafft ein natürlich enges Verhältnis nicht nur zu Sport und bildender Kunst der Alten, sondern allgemein zu dem sinnlichen Denken und Fühlen, das ihr Leben trug und ihre Werke erfüllt. Wie sich härtester Realismus und reinster Idealismus im griechischen Menschen treffen konnten, vermögen wir heute zu ahnen angesichts einer von beiden Kräften bewegten, in beiden Beziehungen gleich großen Gegenwart.31

Die neue Aneignung der Antike ist für Berve wegen grundlegender Parallelen möglich, die ihre Entsprechungen in einer biologischen Verwandtschaft finden. Diese Verbindung von biologischer und geistiger Verwandtschaft ist ausschlaggebend für das vertiefte Verständnis von Griechen und Römern. Der wach gewordene Rasseninstinkt unseres Volkes läßt die beiden Völker der Antike, jedes in seiner Weise, als unseres Blutes und unserer Art empfinden; er schließt sie 28

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So die Position von Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, S. 95: »Im Festhalten an einer idealistischen Reichskonzeption und in seinem Glauben an die ethischen Bindungen der Macht wurde er eines der vielen Opfer der nationalsozialistischen Propaganda. Er diente einer Sache, deren Unmenschlichkeit sich der Humanist alten Schlags überhaupt nicht vorstellen konnte.« Vgl. zu Berve Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, S. 125–187; Stefan Rebenich, »Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur: Der Fall Helmut Berve«, in: Chiron 31 (2001), S. 457–496. Christ, Neue Profile der Alten Geschichte, S. 174. Helmut Berve, »Vorwort«, in: Ders. (Hrsg.), Das neue Bild der Antike, Bd. 1: Hellas, Leipzig 1942, S. 4–12, hier S. 6.

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in den Kreis seiner Wesensverwandtschaft ein. Besseren Rechtes denn früher dürfen wir daher von ihnen als unseren geistigen Ahnen sprechen.32

Erst die Erkenntnisse der Rassenkunde legitimieren und stimulieren die Idee von Nachfolge und Überbietung. Berves Publikationen zeigen eindrucksvoll, in wie hohem Maße die Altertumswissenschaften an der Propagierung des völkischen Gedankenguts beteiligt waren. 1.3. »… das Volk der Hellenen ist für alle Zeiten gestorben.« Die Sicht auf die modernen Griechen Man könnte diese Vereinnahmung der alten Griechen für eine der vergleichsweise harmlosen Abstrusitäten der nationalsozialistischen Ideologie halten, hätte sie nicht konkrete Auswirkungen auf politisches und militärisches Handeln ausgeübt. Schließlich lässt die Vorstellung von Niedergang und Rassenvermischung keinen Platz für die Bewohner des modernen Griechenlands, deren Selbstverständnis seit dem 19. Jahrhundert wesentlich von der Idee der Nachfolge bestimmt ist. Während im nationalsozialistischen Antike-Diskurs Einigkeit über die große Bedeutung der Griechen für das moderne Deutschland besteht, das eine Wiedergeburt des griechischen Geistes auf höherem Niveau bedeute, sind die Sichtweisen auf die modernen Griechen und ihren Staat zunächst auffällig disparat.33 Wie bereits deutlich wurde, geht Alfred Rosenberg von einer Degeneration der Griechen durch Rassenvermischung schon in der Antike aus.34 Dieser Gedanke ist auch grundlegend für Hans F. K. Günthers Rassengeschichte des hellenischen und römischen Volkes,35 die zwar von der Fachwissenschaft wegen ihrer Methodik abgelehnt wurde, nicht aber wegen ihres grundsätzlichen rassekundlichen Ansatzes.36 Werner Kulz fasst diese Positionen prägnant zusammen: »Das griechische Volk […] ist uns gerade deshalb, weil wir es aus dem Altertum so genau kennen, das allerdeutlichste Bei32 33

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Ebd., S. 7. Vgl. Emmanouil Zacharioudakis, Die deutsch-griechischen Beziehungen 1933–1941. Interessengegensätze an der Peripherie Europas, Husum 2002 (Historische Studien; 471). Vgl. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 35: »Bis auch diese Stämme erschöpft waren und die vielfache Übermacht des Vorderasiatentums durch tausend Kanäle einsickerte, Hellas vergiftete und an Stelle des Griechen den späteren schwächlichen Levantiner zeugte, der mit dem Griechen nur den Namen gemeinsam hat.« Vgl. Hans F. K. Günther, Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes, München 1929. Vgl. Christ, Hellas, S. 245f.

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spiel einer völligen rassischen Wandlung.«37 Bereits zu dem Zeitpunkt, in dem Griechenland in das römische Reich integriert worden sei, habe es »nur noch eine Bevölkerung Griechenlands«38 gegeben, die nur wenig mit der ursprünglichen nordischen Führungsschicht zu tun gehabt habe. Für die Gegenwart verstärkt Kulz diesen Befund noch, wenn er unter dem Eindruck der slawischen Einwanderungen während des Mittelalters konstatiert, es bestehe keinerlei Kontinuität zwischen alten und modernen Griechen, auch wenn diese es anders sähen: Aber selbst dann, wenn etwa in einer Herberge für die die Trümmer der Burg Mykenä besuchenden Fremden ein »Agamemnon« die Schuhe putzt, »Eumäos« die Schweine hütet und »Sokrates« die Teller wäscht – das Volk der Hellenen ist für alle Zeiten gestorben.39

In nahezu wörtlicher Übernahme des Beginns von Fallmerayers Geschichte der Halbinsel Morea stellt Kulz lapidar die völlige Auslöschung der Griechen fest.40 Diesen aus nationalsozialistischer Perspektive vernichtenden Befunden, die sich allesamt auf Fallmerayers Griechenthese berufen, stehen überraschenderweise etliche Äußerungen gegenüber, die gerade die nahezu ungebrochene Verbindung zwischen der griechischen Bevölkerung der Antike und der Gegenwart unterstreichen. Auch diese konkurrierende Position lässt sich auf offizielle nationalsozialistische Verlautbarungen zurückführen. Das Verhältnis zu dem ebenfalls autoritär regierten Griechenland sollte offenbar nicht durch rassistische Beleidigungen getrübt werden. So heißt es etwa in dem aus dem Kontext der Olympischen Spiele 1936 hervorgegangenen deutsch-griechischen Propagandaband Unsterbliches Hellas an prominenter Stelle, die Fähigkeit der Griechen, fremde – gerade auch rassische – Einflüsse zu assimilieren, sei für die ungebrochene Kontinuität des griechischen Volkes trotz jahrhundertelanger Fremdherrschaft verantwortlich. In expliziter Wendung gegen die Thesen Fallmerayers und der NS-Rassenkunde betont Franz von Weyssenhoff, Regierungsrat im Propagandaministerium: »Blut ist eben dicker als Wasser. Niemals hat die Geschichte eines Volkes diesen Beweis größer, schöner und lehrreicher erbracht als die des grie37

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Werner Kulz, »Kurze Rassengeschichte des griechischen Volkes«, in: Rolf L. Fahrenkrog (Hrsg.), Europas Geschichte als Rassenschicksal. Vom Wesen und Wirken der Rassen im europäischen Schicksalsraum, Leipzig o. J. [1937], S. 17–57, hier S. 19. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Vgl. Fallmerayer, Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters, S. I: »Das Geschlecht der Hellenen ist in Europa ausgerottet.«

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chischen.«41 Gerade die Sitten und Gebräuche der modernen Griechen seien »Bestandteil ihres unbezwungenen, ihres unversiegbaren Volkstums«.42 Wenn Weyssenhoff die »schier unzerstörbar anmutende Rassenkraft der Griechen«43 hervorhebt, so wendet er sich damit unverkennbar gegen den Hauptstrom der nationalsozialistischen Rassenkunde, demonstriert aber damit zugleich, wie wenig wissenschaftlich und zugleich höchst ideologisiert diese Disziplin tatsächlich ist. Überhaupt sind die Beiträger des Bandes durchweg bemüht, die Parallelen sowohl zwischen den Germanen und den alten Griechen als auch zwischen dem modernen Griechenland und dem nationalsozialistischen Deutschen Reich herauszustellen.44 Alfred Baeumler unterstreicht in seinem Beitrag »Hellas und Germanien« die weltgeschichtliche, ja geradezu messianische Bedeutung des deutschen Philhellenismus, der in seiner Erfüllung den Anbruch eines neuen Zeitalters bedeute: »Die Entdeckung der hellenischen Welt bedeutet nichts weniger als die Vorahnung eines neuen Zeitalters, eines Zeitalters jenseits von Gotik und Aufklärung.«45 In martialischer Rhetorik verkündet er, die »Entscheidungsschlacht« des »Eroberungszug[s] zu vergessenen Küsten und Gipfeln der Vergangenheit, ein wahrer Alexanderzug im Reich der Seele und des Geistes«46 stehe kurz bevor. Die eigentliche Bedeutung Griechenlands liege darin, dass die Beschäftigung mit seiner Vergangenheit den Rassengedanken tiefer begreifen lehre. Griechenland und Deutschland sind für Baeumler die beiden Pole des Abendlands.47 Gerade die Illustrationen des Bandes verdeutlichen einmal mehr die Tendenz, altes und neues Griechenland in eins zu ziehen: »Das Gesicht des alten Griechenlands lebt im Antlitz der Gegenwart fort«48 – diese Bildunterschrift erinnert an bizarre Pläne des ansonsten der Antike eher fernstehenden Hein-

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Franz von Weyssenhoff, »Zur Einführung«, in: Charilaos Kriekoukis/Karl Bömer (Hrsg.), Unsterbliches Hellas, Berlin 1938, S. 12–16, hier S. 15. Ebd. Ebd., S. 14. Gerade die Bildunterschriften verdeutlichen diese Tendenz: »Unter südlichem Himmel die nordisch-strenge Geschlossenheit des Parthenon« (Kriekoukis/Bömer [Hrsg.], Unsterbliches Hellas, zu Abb. 11, nach S. 32); »Griechische Landschaft: Zerklüftete Gebirge, leuchtende Fjorde« (ebd., vor S. 161); »Griechische Landschaft: Weite Ebenen von nordischer Herbheit« (ebd., nach S. 172). Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 18. Ebd., nach S. 136.

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rich Himmler, ein SS-Regiment mit griechischen Nasen zu züchten.49 In der Parallelisierung von Fotografien griechischer Hirten und antiker Skulpturen folgt der Band gängigen rassekundlichen Verfahren – ironischerweise um Positionen zu stützen, die der etablierten nationalsozialistischen Rassenkunde diametral entgegengesetzt sind. So demonstriert gerade eine eindeutig propagandistische Publikation in aller Deutlichkeit die Arbitrarität rassistischer Argumentationsmuster. 1.4. Diktatur und Reiseliteratur Lange wurde in der germanistischen Forschung angenommen, es existiere keine nennenswerte Reiseliteratur aus dem nationalsozialistischen Deutschland.50 Für diese pauschale und durch keinerlei Textkenntnis getrübte Annahme ist die Abwehrhaltung verantwortlich, die nach wie vor viele literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit ästhetischen Produkten aus dem Dritten Reich prägt.51 Demgegenüber ist zu betonen, dass die Reiseliteratur im Dritten Reich zu den beliebtesten Gattungen zählt und entsprechende Texte in großer Zahl produziert und fruchtbar rezipiert werden. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass in den Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Reisetätigkeit gefördert wurde: »Gerade in den dreißiger Jahren erreichte das Reisen im Bewußtsein der Zeitgenossen eine neue qualitative und quantitative Stufe.«52 Neben den KdF-Reisen bestand weiterhin die Möglichkeit zu Individualreisen, so dass

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Vgl. Losemann, Nationalsozialismus und Antike, S. 122: »Andere Projekte […], die gleichfalls die unverwechselbare Handschrift des Reichsführers tragen und z. T. in das Ressort der altertumswissenschaftlichen Abteilung [des Ahnenerbes] fielen, wurden bis zum Kriegsende zurückgestellt. Dazu gehörte eine sprachwissenschaftliche Untersuchung über die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den alten Hellenen und den Norwegern, um die sich Himmler ebenso kümmerte wie um die ›Sitte des Bades‹ bei den Griechen. Wiederholt äußerte er schließlich den Wunsch, ihn ›auf SS-Angehörige und ihre Bräute bzw. Frauen aufmerksam zu machen, die griechische Nasen aufweisen.‹ Im Hintergrund stand der Plan, und darin kommt ein lebendiges ›züchterisches‹ Interesse an der Antike zum Ausdruck, eine SS-Einheit mit griechischem Profil aufzubauen.« Vgl. Herbert Jost, »Selbst-Verwirklichung und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus«, in: Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht, S. 490–507, bes. S. 497–499. Vgl. auch Wolfgang Reif, »Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts«, ebd., S. 434–462, bes. S. 459. Vgl. Johannes Graf, »Die notwendige Reise«. Reisen und Reiseliteratur junger Autoren während des Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 20. Ebd., S. 12f.

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gegenüber der Weimarer Republik zunächst von keinerlei Einschränkungen gesprochen werden kann: Ebenso wie man das Gesamtaufkommen von ›KdF‹ am gesamten Reiseaufkommen als eher gering einschätzen muß, darf auch der Einfluß der nationalsozialistischen Reiseorganisation auf das traditionelle Verhalten der Individualreisenden keineswegs überschätzt werden. Die angestammten Ferienquartiere des Mittelund Großbürgertums blieben von den Aktivitäten der NS-Reise weitgehend unberührt.53

Allerdings erschwerten ab 1935 staatliche Einschnitte im Devisenhandel die Reisetätigkeit, so dass Privatreisen auch nach Griechenland nicht mehr möglich waren.54 Diese Schwierigkeiten werden in den Reiseberichten reflektiert.55 Staatliche Lenkung, die sich zwischen autoritärer Reglementierung und der Tolerierung von Freiräumen bewegt, steht im Hintergrund vieler Texte. Der großen Bedeutung des Reisens entspricht die Beliebtheit des Reiseberichts, der zu den populärsten literarischen Gattungen des Dritten Reichs gehört:56 In einer Zeit, in der das Reisen eine außerordentliche Förderung und Popularität erfuhr, erlebte die damit verbundene Literatur einen bedeutenden Aufstieg. Die Vorliebe der jungen Generation für die Kleinteiligkeit führte zu einer Wiederbelebung des Reisebildes, das im Laufe der dreißiger Jahre durch Tagebuchformen zusätzlich mit Wirklichkeitsnähe angereichert wurde.57

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Ebd., S. 119f. Vgl. ebd., S. 122: »Der Austausch von Valuta war damals aufgrund bilateraler Vereinbarungen geregelt. Durch die ›Neuregelung der Devisenbewirtschaftung‹ vom 1. Oktober 1935 konnten deshalb Privatreisen ins Ausland unterbunden werden, ohne die Ausreise prinzipiell zu verbieten, indem einfach kein Geld zur Verfügung gestellt wurde. […] Eine Ausnahme von dieser Regelung bildeten lediglich diejenigen Länder, mit denen ein gegenseitiges Reiseverkehrsabkommen bestand. Neben der Schweiz waren dies Italien, Südslawien, Tschechoslowakei, Danzig, Norwegen, die Sowjetunion und Ungarn.« Vgl. etwa Carl T. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt [1936], 2. Auflage, München 1941, S. 7: »Aber immer wieder wurde die Frage der Fragen gestellt: ›Devisen?‹ Und da allerdings mußte ich die Antwort schuldig bleiben. Pengö, Dinare, Lewa und Drachmen für Ferienreisen! Sie gab es während der letzten Jahre nicht!« Hans Dieter Schäfer, »Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich«, in: Ders., Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945, 3. Auflage, München 1983, S. 7–54, hier S. 35f. Ebd., S. 35.

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Im nationalsozialistischen Deutschland entstehen weiterhin zahlreiche Reisetexte über Griechenland. Dabei ist zwischen Berichten von Privatleuten und propagandistischen Reiseberichten zu differenzieren, die besonders im Kontext der Olympischen Spiele 1936 emphatisch die Brücke von der Antike in die Gegenwart schlagen. Die ungebrochene Bedeutung der griechischen Antike sowohl für das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des Regimes als auch für humanistisch gebildete, dem Nationalsozialismus fernstehende Gruppen führt geradezu zu einer – zumindest quantitativen – Blüte der Literatur über Griechenland und unzähligen Bearbeitungen von Themen aus griechischer Mythologie und Geschichte. Die Bandbreite reicht dabei von Benns Essay Der dorische Staat über Gerhart Hauptmanns Atridentetralogie bis hin zu Gedichten von Friedrich Georg Jünger und anderen.58 Auch wenn Privatreisen nach 1935 und erst recht nach Ausbruch des Kriegs gegen Griechenland nicht mehr möglich waren, führten doch Krieg und Besatzung zur Entstehung einer Vielzahl propagandistischer Texte, die der Reiseliteratur zuzurechnen sind, auch wenn diese Zuordnung zunächst zynisch wirken mag.59 »Der Höhepunkt des Genres fällt in den Zweiten Weltkrieg. Kriegsbericht und Reisetagebuch vermischen sich.«60 In den Jahren zwischen 1933 und 1945 entsteht Literatur über Griechenland, die zwischen den Polen Eskapismus und Propaganda schwankt, wobei eine klare Zuordnung nicht immer klar getroffen werden kann. Allesamt aber sind sie von politischen und militärischen Ereignissen unmittelbar beeinflusst. Die Indienstnahme und Umdeutung humanistischer Bestände ist ein Aspekt der Reiseberichte nach 1933. Nicht zuletzt gewinnen sie ihre Brisanz vor dem offiziell propagierten Bild von Griechenland. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis von ideologischer Vereinnahmung, bildungsbürgerlichen Traditionen und Kulturkritik. Die oftmals ambivalenten Texte demonstrieren, wie der deutsche Philhellenismus seine Ansprüche selbst ad absurdum führt.

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Vgl. Santini, Wohin verschlug uns der Traum? Vgl. Peter J. Brenner, »Schwierige Reisen. Wandlungen des Reiseberichts in Deutschland 1918–1945«, in: Ders. (Hrsg.), Reisekultur in Deutschland, S. 127–176, bes. S. 143f. Schäfer, »Die nichtnationalsozialistische Literatur«, S. 35.

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2.

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Reiseberichte über Griechenland vor Kriegsausbruch

2.1. Nachfolgerschaft. Die Olympischen Spiele 1936 im Spiegel der Reiseliteratur (Carl Diem) Die Olympischen Sommerspiele 1936 boten dem NS-Staat die Gelegenheit, der Welt ein friedliebendes und modernes Deutschland zu zeigen.61 Dabei hatte die nationalsozialistische Führungselite den Olympischen Spielen zunächst indifferent bis ablehnend gegenüber gestanden.62 Dass die negative Haltung unter der Einsicht in den enormen propagandistischen Nutzen allmählich einer breiten Zustimmung wich, ist nicht zuletzt auf das Wirken des Sportfunktionärs Carl Diem zurückzuführen.63 Zentral für die Gestaltung der Sommerspiele wurde bald die Ausrichtung an den Spielen der Antike.64 Massiv wurde der Bezug auf das antike Griechenland als Mittel der Selbstdarstellung genutzt. Das faschistische Deutschland sollte als legitimer Erbe der alten Griechen erscheinen. In der Propagandaschrift Olympia 1936. Eine nationale Aufgabe wird diese Botschaft ausdrücklich unterstrichen: Die Aktualisierung der antiken Wettkämpfe im nationalsozialistischen Deutschland sei gerade auch aus rassischen Gründen sinnvoll, sei doch die Agonalität eine Eigenschaft, die »das Wesen überhaupt aller arischen Völker entscheidend bestimmt«.65 Auch die Architektur der olympischen Bauten und das Rahmenprogramm weisen antikisierende Züge auf.66 Um die propagandistische Wirkung zu verstärken, wurden öffentlichkeitswirksam die 1881 eingestellten deutschen Ausgrabungen in Olympia 61

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Vgl. Hilmar Hoffmann, Mythos Olympia. Autonomie und Unterwerfung von Sport und Kultur, Berlin/Weimar 1993. – Vgl. zu den Olympischen Spielen in der Neuzeit den Überblick von Michael Biddiss, »The invention of modern Olympic tradition«, in: Maria Wyke/Michael Biddiss (Hrsg.), The Uses and Abuses of Antiquitiy, Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 125–143. Vgl. David Clay Large, Nazi Games, The Olympics of 1936, New York/London 2007, S. 57f. Der nationenübergreifende völkerverbindende Gedanke wurde gerade von Turnerschaften entschieden abgelehnt. Vgl. zu Carl Diem Achim Laude/Wolfgang Bausch, Der Sport-Führer. Die Legende um Carl Diem, Göttingen 2000. Vgl. Ingomar Weiler, »Zur Rezeption des griechischen Sports im Nationalsozialismus: Kontinuität oder Diskontinuität in der deutschen Ideengeschichte?« in: Näf (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, S. 267–284. Gerhard Krause/Erich Mindt, Olympia 1936. Eine nationale Aufgabe, Berlin 1935, S. 38. Vgl. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 30–46.

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wiederaufgenommen, finanziert aus Hitlers Dispositionsfonds.67 Diese Unternehmung sollte die enge Verbindung zwischen dem antiken Griechenland und dem modernen Deutschen Reich versinnbildlichen.68 Gerade die bis heute nicht rückgängig gemachte Einführung des Olympischen Fackellaufs, angestoßen höchstwahrscheinlich von Carl Diem, diente in prägnanter Weise der Demonstration des nationalsozialistischen Translatio-Gedankens, den auch der Beginn von Leni Riefenstahls Propagandafilm Fest der Völker versinnbildlicht.69 Die Übergabe der olympischen Flamme, bei deren Entzündung bezeichnenderweise das Horst-Wessel-Lied abgesungen wurde,70 stellt zugleich den Transfer von Kultur und Führungsanspruch in das nationalsozialistische Deutschland dar.71 Zwei Reiseberichte verdanken den Olympischen Spielen von 1936 ihre Entstehung. Während Carl Diems Olympische Reise einen Griechenland-Besuch des Sportfunktionärs nach den Olympischen Spielen, also gleichsam die Nachbereitung des Großereignisses zum Thema hat, ist der Reisebericht von Carl T. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, mit dem Olympischen Fackellauf verbunden. 2.1.1.

Staatstotalität, Sport und Wehrertüchtigung. Carl Diems Olympische Reise (1937) im Kontext des zeitgenössischen Sparta-Diskurses

Ein Standbild aus Leni Riefenstahls Olympia-Film ziert den Schutzumschlag von Carl Diems Reisebericht Olympische Reise. Unter der Sonne Homers – dazu 67 68

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Vgl. Laude/Bausch, Der Sport-Führer, S. 113–115. Vgl. Large, Nazi Games, S. 11; Marchand, Down from Olympus, S. 352; Phädra Koutsoukou, »Die NS-Kulturpolitik gegenüber Griechenland in der Vorkriegszeit: Olympia 1936, Förderprogramme Geisteswissenschaften, Abwerbung griechischer Künstler«, in: Kambas/Mitsou (Hrsg.), Hellas verstehen, S. 139–155. Vgl. Guido Rings, »Leni Riefenstahls Olympia. A Documentary Film as Instrument of Propaganda?« In: Walter Delabar u. a. (Hrsg.), Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Berlin 1999 (JUNI. Magazin für Literatur und Politik), S. 151–168. Vgl. Laude/Bausch, Der Sport-Führer, S. 85. Ausführlicher bei Large, Nazi Games, S. 4. Im Zusammenhang mit den Spielen geriet auch die griechische Gegenwart in den Blick. Die offizielle Propaganda betonte insbesondere die Parallelen zwischen dem autoritären Regime des General Metaxas und dem nationalsozialistischen Deutschland. Vgl. Kriekoukis/Bömer (Hrsg.), Unsterbliches Hellas, Abb. 1 nach S. 16. So heißt es, der Wehrdienst sei die »[h]öchste Ehre der griechischen Jugend« (ebd., vor S. 97), über »Griechisches Jungvolk« ist zu lesen: »Braungebrannt und gesund, wächst unter griechischem Himmel eine zukunftsfrohe, lebensstarke neue Generation heran« (ebd., nach S. 48).

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ein Körnlein attischen Salzes (1937).72 Es zeigt den Fackelläufer, die Verkörperung athletischer Schönheit, in voller Bewegung. Diese Wahl der Illustration ist kein Zufall: Verantwortlich für diesen Fackellauf war in erster Linie der Sportfunktionär Carl Diem, Generalsekretär der Olympischen Spiele. Bereits 1906 hatte Diem erstmals Griechenland bereist.73 Im Zusammenhang mit der Olympia-Planung und der Wiederaufnahme der archäologischen Grabungen folgten ab 1935 weitere Besuche,74 die auch durch den Kriegsausbruch nicht gestoppt wurden. So hielt Diem 1942 Vorträge in Athen;75 noch im Mai 1944 sprach er auf Kreta vor Soldaten der Wehrmacht.76 Diems Olympischer Reise liegt ein Griechenland-Besuch aus dem Erscheinungsjahr zugrunde. Bezeichnend für den bereits erwähnten Translatio-Gedanken ist die Reiseroute, die der Text beschreibt. So reist der Sportfunktionär vom »Öresund zum Olymp«77 und vollzieht so zugleich die für die völkische Ideologie zentrale Wanderbewegung der nach Griechenland ziehenden Hyperboreer nach.78 Diem schildert also eine Reise von Hesperien nach Hellas, konkret: von Skandinavien nach Griechenland, und tatsächlich interessiert ihn Griechenland hauptsächlich vor der Folie des Nordens. Wie nicht anders zu erwarten, stehen die Sportstätten des antiken und modernen Griechenlands im Mittelpunkt des Reiseberichts. In seinen Beschreibungen vergleicht Diem sie zumeist mit den Berliner Anlagen des Jahres 1936: Die deutschen Stadien sind viel weniger Bauten als ein Stück gestalteter Natur, und damit genau das, was die antiken waren, wirklich Festplätze, in denen von selbst das Herz höher schlägt und das in ihnen Gezeigte seine Weihe erhält.79

Die idealen Anlagen sind für Diem organisch in die Natur eingepasst. Dies verbindet für ihn Griechenland mit Deutschland, wo das Erbe der Antike auch in dieser Hinsicht in Vollendung wieder zum Leben erweckt worden sei. Diese Verbindung zwischen Griechenland und Deutschland durchzieht

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Carl Diem, Olympische Reise. Unter der Sonne Homers – dazu ein Körnlein attischen Salzes, Berlin 1937. Vgl. Laude/Bausch, Der Sport-Führer, S. 21f. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 178. Vgl. ebd., S. 180. Diem, Olympische Reise, S. 7. Vgl. Arn Strohmeyer, Von Hyperborea nach Auschwitz. Wege eines antiken Mythos, Köln 2005. Diem, Olympische Reise, S. 23.

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leitmotivisch den Text,80 insbesondere dann, wenn Diem immer wieder den feierlichen, ja geradezu weihevollen Charakter von Sportveranstaltungen betont, die zugleich auch – wie im Falle Deutschlands – legitimer Teil nationaler Selbstdarstellung sein sollten.81 Sport ist für Diem in erster Linie Wehrertüchtigung mit kultischem Beigeschmack. Am Beispiel der alten Griechen stellt er dar, wie »starke Zucht«82 für die Blüte des Staates verantwortlich gewesen sei: »Es wurde Sport getrieben, und es wurden militärische Übungen gemacht, Marschieren im Gleichschritt, Kriegsspiele mit und ohne Waffen. Zum Schluß raufen mit bloßer Hand oder Stockgefechte.«83 Diese Verbindung von Sport und Kampfbereitschaft wird auch an dem »Weihespiel« Olympische Jugend augenfällig: Das von Diem verfasste (und von Carl Orff und Werner Egk vertonte) Spektakel endet mit einem Zweikampf, dem beide Teilnehmer zum Opfer fallen, wie überhaupt die Vorstellung vom Opfertod zentral für Diems Festspiel ist.84 Sport entspricht für Diem einer Lebenshaltung: Die sportliche Leistung ist nicht nur auf den Moment des Wettkampfs zu reduzieren, vielmehr soll über den Sport ein Gefühl ständiger Hochgespanntheit und Kampfbereitschaft vermittelt werden.85 Er hat dabei vor allem das Training für künftige militärische Leistungen im Auge: Ziele seien eine »brauchbare Jugend und kampfbereite Bürger«.86 Bereits das Adjektiv »brauchbar« signalisiert, dass Diem die Jugend hauptsächlich nach ihrer Kampfkraft bewertet. Ähnliche Positionen entwickelt Diem 1941 in seiner Rede Der olympische Gedanke im neuen Europa. Dort erklärt er, der olympische Gedanke sei aus dem Geist einer kriegerischen Gesellschaft entstanden,87 die Wettkämpfer seien zugleich und vor allem Soldaten gewesen.88 80

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Vgl. ebd., S. 37: »Am Schatzhaus der Athener in Delphi fand sich die Musik und der Text der Hymne an Apoll. Sie erklang auch in Berlin bei der Feststunde vor dem Pergamon-Altar.« Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 17. Ebd. Vgl. Hoffmann, Mythos Olympia, S. 39: »Damit wurde die olympische Idee, den Agon, den Zweikampf, zu pazifizieren und nach friedlichen Regeln auszutragen, wiederum zur allgemeinmenschlichen Kriegsnorm pervertiert.« Vgl. Diem, Olympische Reise, S. 33: »Das Leben erfordert Bereitschaft im Augenblick. Der Sport stellt dies unter Übung und prüft dies. Darin liegt der Sinn der Meisterschaft und der olympischen Spiele.« Ebd., S. 33. Vgl. Carl Diem, Der olympische Gedanke im neuen Europa, Berlin 1942, S. 6f. Vgl. ebd., S. 13f.: »So stehen die Wettkämpfer der Olympischen Spiele des Altertums als Soldaten vor unseren Augen. Es waren die Stadionläufer, die Waffenläu-

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Als bevorzugte historische Bezugsgröße dient Carl Diem das antike Sparta, das für ihn »ein Sportstaat erster Ordnung«89 war. Dabei unterstreicht Diem allerdings, dass die einseitige Bevorzugung des Militärischen zum Untergang Spartas mit beigetragen habe;90 es sei eine ganzheitliche Ausrichtung des Staates notwendig, allerdings immer »mit Soldatentum richtig vereint«.91 Diese sei im nationalsozialistischen Deutschland gegeben, das also die Überbietung und Erfüllung des spartanischen Gedankens lebe: »Unsere neue Zeit ist erfüllt von einem Geiste, der der besten Zeit Spartas entspricht, auch bei uns Zucht, Unterordnung, Erziehung auf Gemeinschaft und Härte. Staatstotalität hier wie dort!«92 Mit dieser emphatischen Würdigung Spartas folgt Diem wesentlichen Vorgaben des NS-Geschichtsbilds.93 Wenn Hitler betont, besonders die Verfassung Lykurgs habe dazu beigetragen,94 in Sparta den »klarste[n] Rassenstaat der Geschichte«95 zu verwirklichen, so entspricht diese Sichtweise den Positionen des bereits erwähnten Althistorikers Helmut Berve, die als repräsentativ für die Beurteilung Spartas im NS-Staat gelten können.96 Wie Carl Diem stellt Berve die Parallelen des spartanischen Staats zum nationalsozialistischen Deutsch-

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fer des Stadions, die unter Führung des Miltiades in der Schlacht von Marathon den Hügel hinab auf die zehnfache Übermacht der Perser einstürmten und diese durch die Wucht des Laufes überraschten und zusammenhieben. Und wer denkt dabei nicht an die Soldaten von heute, die hinter den Tanks hereilen, um das Gelände, das diese erobern, festzuhalten.« Diem, Olympische Reise, S. 40. Vgl. ebd., S. 41. Ebd. Ebd. – Vgl. auch ebd., S. 42: »Lassen wir es also dabei, daß es im Bauplan der Welt einer Auslese dieses Volkes der Dorier beschieden war, für die Vaterlandstreue und das Soldatentum eine ähnliche Rolle des Beispiels zu geben wie später den Preußen, und daß dies spartanische Volk, seiner Sendung getreu, sich dabei verzehrt hat.« Vgl. auch Diem, Der olympische Gedanke im neuen Europa, S. 7: »Wieviel von dem, das heute deutsche Weltanschauung und deutsche Kraft ausmacht, ist ein Erbgut des alten Sparta!« Vgl. zur Sparta-Rezeption Elizabeth Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, Oxford 1969; Karl Christ, »Spartaforschung und Spartabild. Eine Einleitung (1983)«, in: Ders. (Hrsg.), Sparta, Darmstadt 1986 (Wege der Forschung; Bd. 622), S. 1–72. Vgl. Art. »Lykurgos«, in: Der neue Pauly, Bd. 7, Sp. 579f. Adolf Hitler in Franken. Reden aus der Kampfzeit, Nürnberg 1939, S. 115 (Rede vom 4. 8. 1929). Vgl. Helmut Berve, Sparta, Leipzig 1937. Vgl. Christ, »Spartaforschung und Spartabild«, S. 56: »Sparta und Helmut Berve waren in der nationalsozialistischen Ära geradezu zu Synonymen geworden.«

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land heraus.97 Gemeinschaftssinn, Härte und Rassenbewusstsein und nicht zuletzt »Sinn für autoritäre Führung«98 machen laut Berve die Essenz und das Beispielhafte Spartas aus. Gerade die bewusste Auslese, die das Aussetzen schwacher Kinder mit einschloss, führte zu einer beispielhaften Spannkraft der Elite: Alte Stammessitte einer natürlichen Zuchtwahl erscheint hier bewußt aufgegriffen und zu gesetzlicher Ordnung erhoben: Körperliche Untadelhaftigkeit jedes einzelnen ist die Voraussetzung, daß eine wahre Elite gebildet werde.99

Dabei betonen in den 1930er Jahren nicht nur die offizielle Propaganda und ideologisierte Vertreter der Fachdisziplinen, sondern ebenso Stimmen aus Kultur und Literatur die Parallelen zwischen dem faschistischen Staat und Sparta.100 Hier ist insbesondere Gottfried Benn zu nennen, der während seiner kurzen und heftigen Anbiederung an die neuen Machthaber bevorzugt den Züchtungs-Aspekt in den Blick nahm. In dem Essay Dorische Welt (1934) geht Benn dem Verhältnis von Kunst und Macht nach.101 Als Beispiel dient ihm der dorische Staat. Sparta erscheint als vorbildhaft gerade wegen der 97

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Vgl. Berve, Sparta, S. 7: »Wenige Erscheinungen der antiken Welt begegnen heute so allgemeinem und lebendigem Interesse wie der spartanische Staat. Jugenderziehung, Gemeinschaftsgeist, soldatische Lebensform, Einordnung und heldische Bewährung des einzelnen, Aufgaben und Werte also, die uns selbst neu erstanden sind, scheinen hier in einer Klarheit gestaltet, mit einer Unbedingtheit verwirklicht, die geradezu aufruft, sich in diese einzigartige Staatsschöpfung zu vertiefen.« Ebd., S. 49. Ebd., S. 39. Natürlich lassen sich positive Wertungen des antiken Sparta nicht auf faschistische Ideologisierung reduzieren; zu erinnern wäre etwa an Theodor Däubler, der in seinem Essay Sparta die homosexuelle Liebe als Ausdruck von Zucht und Vergeistigung feiert. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit. Auch die Betonung der Züchtung findet sich bereits in Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling, wo die Verfassung Lykurgs positiv beurteilt wird, weil durch sie Grundsätze der Hirtenwelt verwirklicht worden seien. Dabei gehen Interpreten fehl, die Hauptmann deshalb zum geistigen Vorläufer des Nationalsozialismus erklären. (So Arn Strohmeyer, Dichter im Waffenrock. Erhart Kästner in Griechenland und auf Kreta 1941–1945, Mähringen 2006, S. 81–95). Vielmehr lässt sich an solchen Passagen Hauptmanns Nähe zu naturalistischen Milieu- und Vererbungstheorien ablesen. Dass diese Theorien wiederum ihren Ursprung in einem ähnlichen Umfeld wie die »Rassenkunde« der Nationalsozialisten haben, ist unstrittig; allerdings trennt Hauptmann an keiner Stelle seines Werks zwischen nieder- und höherwertigen Rassen. Vgl. Gottfried Benn, »Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht«, in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 2, Frankfurt am Main 2003, S. 824–856.

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dort verwirklichten gegenseitigen Durchdringung beider Sphären.102 Aus Benns Perspektive ist die Blüte der griechischen Kultur nur aufgrund des starken spartanischen Staats und seiner Rassenpolitik denkbar: Man ging wie in Gestüten vor, man vernichtete die schlechtgelungene Frucht. Der Körper zum Krieg, der Körper zum Fest, der Körper zum Laster und der Körper endlich dann zur Kunst, das war die dorische Saat und die hellenische Geschichte.103

Dabei sieht Benn bei der Beurteilung der griechischen Gesellschaft bewusst von »moralischen, sentimentalen, geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten«104 ab; er rechtfertigt so die blutige Unterdrückung als Grundlage des Staates. In Umbruchszeiten, so Benn, seien menschliche Opfer gerechtfertigt. Mit dieser Position nähert sich Benn bedenklich der Vorstellung vom Rassenkampf an, wie sie Hitler und Rosenberg vertreten. Benns menschenverachtender Elitarismus reiht sich ohne weiteres in die Phalanx der nationalsozialistischen Sparta-Interpretationen etwa von Richard Walther Darré und Hans F. K. Günther ein.105 Seine auch in anderen Essays wie etwa Züchtung106 und der Rede Der neue Staat und die Intellektuellen107 artikulierte Faszination für den Führergedanken und politischen Totalitarismus übersteigt bei weitem Carl Diems eher biedere Sparta-Würdigung und zeigt 102

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Vgl. zu Benns Essay die Darstellung von Friedrich Wilhelm Wodtke, Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1963, S. 108–125. Wodtke hebt besonders den Kompilationscharakter von Benns Essay hervor, der an vielen Stellen wörtlich aus Schriften von Jacob Burckhardt und Hippolyte Taine zitiert. Benn, »Dorische Welt«, S. 840. Ähnlich wie Diem betont Benn den Wert der Leibeserziehung: »Das Sinken der Turnzucht – mit ihr sank die dorische Welt, Olympia, die graue Säule ohne Fuß und die der Herrenschicht günstigen Orakel.« (Ebd., S. 841). Ebd., S. 851. Vgl. R. Walther Darré, Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, München 1929. Darré betont, dass der »spartanische Militärstaat von dorischen ›Bauern‹ errichtet« worden sei (ebd., S. 157), und hebt das »schwertbejahende Bauerntum der Hellenen« hervor (ebd., S. 157); Günther, Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes, S. 37–42. Günther erklärt: »Die Lykurgische Verfassung versuchte unbewußt, die Rassenschichtung zu erhalten, bewußt, die Erbgesundheit zu befördern.« (Ebd., S. 38) Diese Verfassung sei allerdings durch verderbliche »aufklärerische Lehren« (ebd., S. 39) zersetzt worden. – Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, S. 338f., liest Benns Essay als Dokument der Opposition, da er die Autonomie der Kunst verteidige. Sie übersieht allerdings völlig Benns rassistische Argumentationsstruktur. Vgl. Gottfried Benn, »Züchtung I«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 776–784. Vgl. Gottfried Benn, »Der neue Staat und die Intellektuellen«, in: Ders., Gesammelte Werke, S. 1004–1013.

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die größeren Zusammenhänge der nationalsozialistischen Sparta-Verherrlichung. In diese Kontexte gehört auch Diems Auseinandersetzung mit Sparta, die den üblichen Vorgaben entspricht, aber keineswegs darüber hinausgeht. Bemerkenswerterweise sieht Carl Diem die Ursache für den Untergang Spartas in der einseitigen Überbetonung des militärischen Elements, und nicht, wie in der NS-Ideologie üblich, in der Rassenmischung begründet. Überhaupt verzichtet Diem (von der Betonung des nordischen Schönheitsideals einmal abgesehen) auf rassistische Diskussionen und Wertungen.108 2.1.2.

»Wir werden ihrem Vermächtnis gerecht, wenn wir so deutsch sind, wie wir nur können.« Archäologie und Führungsanspruch

Diems Reisebericht gipfelt in der Beschreibung seines Olympia-Besuchs, den er als Huldigung an Hitler inszeniert.109 Wie oben erwähnt, gehörte die Wiederaufnahme der Grabungen in Olympia zu den zentralen propagandistischen Maßnahmen des Regimes. Der führende Anspruch Deutschlands gerade auch als Wissenschaftsnation wird bei Diem daran deutlich,110 dass niemand Geringeres als der Archäologe Wilhelm Dörpfeld den Gast herumführt. Diem zeichnet den bejahrten Wissenschaftler in martialischem Duktus als Führergestalt ganz im Sinne der NS-Ideologie: Aufrecht, gebietend, mit scharf geschnittenem, gebräunten Gesicht, mit schlohweißem Haar und buschigen Augenbrauen, mit kurzem Schnurrbart und dem beweglichen Mund des Redners, glich er einem kommandierenden General, der die Truppen zum Angriff aufmarschieren läßt.111

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An seiner Sparta-Beschreibung wird so auch die ambivalente Haltung des Sportfunktionärs, der nie der NSDAP beitrat, zum Regime deutlich. Vgl. Laude/ Bausch, Der Sport-Führer, S. 126–128. Anzuführen ist hier allerdings auch eine Rede aus dem Jahr 1945, in der Diem unter dem Verweis auf Sparta Volkssturmangehörige zum Heldentod für das Vaterland aufrief. Vgl. ebd., S. 182–188. Vgl. Diem, Olympische Reise, S. 53: »An der Vorbereitung dieses Beschlusses hatte ich mitwirken dürfen, und nun war es mir eine glückliche Genugtuung, in den Tagen des Beginns dieser Arbeit dabei zu sein.« Vgl. Diem, Der olympische Gedanke, S. 46–49, bes. S.: 48: »Wenn man heute nach dem Muster der bekannten Herodotschen Anekdote fragen würde, wie damals die erstaunten persischen Generäle erfahren wollten, was die Griechen nach dem Kampf bei den Thermopylen angesichts der heranrollenden persischen Heeresmasse eigentlich täten – ›sie feiern Olympische Spiele‹, war die Antwort – so müßte die Antwort auf ›was tun die Deutschen während ihres Existenzkampfes um eine neue europäische Ordnung?‹ lauten: ›Sie graben Olympia aus.‹« Diem, Olympische Reise, S. 56.

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Als wolle er das Diktum von der Archäologie als Eroberungswissenschaft aufnehmen,112 zeichnet Carl Diem den Archäologen als militärischen Heros, der herrisch über die Überreste der Antike gebietet. Er entlarvt zugleich unfreiwillig die propagandistischen Intentionen, die hinter den Grabungsunternehmungen stehen. Das Schlusskapitel von Diems Reisebericht bündelt im Rückblick auf die Reise seine zentralen Anliegen, die wiederum sportpädagogisch akzentuiert sind. Dabei betont er keineswegs, wie in Texten der NS-Literatur üblich, die angebliche biologische Verwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen. Vielmehr akzentuiert er die Vorbildhaftigkeit der alten Griechen, weil sie überzeitliche Gesetzmäßigkeiten erkannt und anerkannt hätten. Diese »ewigen Gesetze[ ]« entsprechen für ihn Kernbeständen der NS-Ideologie: Keine Vergriechung des Deutschen! Vielmehr: die Griechen der Antike unsere großen geistigen Gegenspieler! Wir werden ihrem Vermächtnis gerecht, wenn wir so deutsch sind, wie wir nur können. Zu ewigen Gesetzen haben sie aufgeblickt, auch wir werden diese für uns erfüllen. Mittler ist dabei eine gute Zucht des Körpers und eine zielbewußte Schule des Willens.113

Obwohl ein Text mit eindeutig propagandistischer Absicht, ist Diems Olympische Reise vergleichsweise zurückhaltend. Dies lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Zunächst verbot der Kontext der Olympischen Spiele, die als Mittel der Selbstdarstellung vor allem dem Ausland gegenüber gedacht waren, aggressive Invektiven und eine zu penetrante Ideologisierung. Zudem war Diems Haltung gegenüber dem Dritten Reich ambivalent, so dass der Verzicht auf rassistische Angriffe – die Beurteilung der modernen Griechen ist durchweg freundlich114 – auch auf eine gewisse Distanz zu etlichen Aspekten der NS-Ideologie zurückzuführen sein mag. Etliche unfreiwillig groteske, humoristische Passagen – so ist für Diem der Gott Hermes »eine Art himmlischer Reichssportführer«,115 er imaginiert einen Dialog mit Zeus, der sich erkundigt, wie viel Überschuss die Olympischen Spiele abgeworfen hätten und schließlich der Frauenstaffel Grüße ausrichtet116 – passen kaum zu den ernsthaften Beschwörungen des griechischen Geistes. Diese Heterogenität verdeutlicht, dass es sich bei Carl Diems Olympischer Reise um das Ne112

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Vgl. Franz Georg Maier, Von Winckelmann zu Schliemann – Archäologie als Eroberungswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Opladen 1992 (Gerda-Henkel-Vorlesung). Diem, Olympische Reise, S. 80. Vgl. ebd., S. 74: »Man sieht die Bauern schlank und elastisch mit unendlich geflickten Kleidern, aber sauber ihres Weges gehen und ihr freundliches Wesen ist Beweis ihrer inneren Sicherheit.« Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 80.

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benprodukt eines Sportfunktionärs handelt, das primär im Kontext der Instrumentalisierung der Antike von Interesse ist. Der Text demonstriert, wie der olympische Gedanke für propagandistische Zwecke instrumentalisiert und auf diese Weise pervertiert wird: Er vereinnahmt einen Bestandteil des antiken Erbes, der für die Moderne von wesentlicher Bedeutung ist, für den NS-Staat. 2.2. Technikkult und Antike. Im Auto nach Griechenland Die neuere Forschung hat verstärkt das Verhältnis von Nationalsozialismus und Modernisierung in den Blick genommen.117 Tatsächlich ist ein wesentliches Kennzeichen der Literatur der 1930er Jahre der Versuch, diese immer deutlicher werdenden und von staatlicher Seite forcierten Modernisierungstendenzen mit völkischem Gedankengut in Einklang zu bringen.118 Auch die Reiseliteratur hat daran wesentlichen Anteil, ja sie nimmt in gewisser Weise sogar eine Vorreiterrolle ein: Die Vorstellung, die globalisierende Wirkung des Modernisierungsprozesses lasse sich in verschiedene national-spezifische Überformungen der Technik verwandeln, begründete das besondere Interesse und schlug sich ganz direkt in der Auswahl der Reiseziele nieder.119

So herrschte eine besondere Affinität zu sogenannten jungen Völkern, zu Nationen, die in Analogie zum nationalsozialistischen Deutschland begriffen wurden. Wie der NS-Staat seien insbesondere die Nationen des Balkans noch im Werden. Zu diesen Staaten gehört auch Griechenland. Der auf Technik und Modernisierung verengte Blick führt dazu, dass die griechische Antike, die ja in den meisten Fällen der ausschlaggebende Grund für eine Reise nach Griechenland war, in den Texten marginalisiert wird. Sie ist (wie auch die den Texten beigegebenen Fotografien zeigen) vor allem im Verhält117

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Vgl. zu den sozialhistorischen Kontexten Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 1991; Jeffrey Herf, Reactionary modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, New York 1984; Ders., »Der nationalsozialistische Technikdiskurs: Die deutschen Eigenheiten des reaktionären Modernismus«, in: Wolfgang Emmerich/Carl Wege (Hrsg.), Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära, Stuttgart/Weimar 1995, S. 72–93; Anson Rabinbach, »Nationalsozialismus und Moderne. Zur TechnikInterpretation im Dritten Reich«, ebd., S. 94–113. Vgl. Gregor Streim, »Junge Völker und neue Technik. Zur Reisereportage im ›Dritten Reich‹, am Beispiel von Friedrich Sieburg, Heinrich Hauser und Margret Boveri«, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge IX – 2/1999, S. 344–359. Ebd., S. 347.

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nis zum Zustand des modernen Landes von Interesse: »Das äußere Erscheinungsbild wird so zum Indikator gelungener oder mißlungener Modernisierung und zum Maßstab für den Vergleich der verschiedenen Länder untereinander.«120 Gerade auch die Art des Reisens steht in engem Zusammenhang mit der Technik: »Neben dem Ländervergleich gab es noch einen zweiten Grund, der die Reiseliteratur als Medium des Modernisierungsdiskurses prädestinierte. Dies war die technische Form des Reisens selbst.«121 Insbesondere die Reise im Auto wird so zu einer technikbasierten Erkundungsfahrt auf der Suche nach den Schnittstellen von Vergangenheit und Gegenwart. Dabei dient die Reiseliteratur der Propagierung dieser Unternehmungen, die in den meisten Fällen dezidiert in Hinblick auf eine publizistische Verwertung durchgeführt wurden. Auch Griechenland hat teil an dieser Entwicklung – zu nennen sind die Reiseberichte von Carl T. Wiskott, Heinrich Hauser, Lutz Koch und Fred von Bohlen-Hegewald –, wobei die bereits erwähnte Weitung des Blicks auf die jungen Völker des Balkans nach sich zieht, dass in den Texten Griechenland nicht mehr alleiniger Gegenstand der Beschreibungen und Reflexionen ist. Selbstverständlich kommt kaum einer dieser Texte ohne eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit der Antike aus, im Vordergrund stehen aber andere Aspekte. So gehören alle der oben erwähnten Texte in den Zusammenhang von journalistischen oder filmischen Projekten. Carl Wiskott reist mit dem Filmteam, das den Olympischen Fackellauf begleitet,122 Lutz Koch befindet sich auf »einer journalistischen Reise, die gleichzeitig der Durchführung von Rundfunksendungen in allen Hauptstädten des Balkans«123 dient, Fred von Bohlen-Hegewald möchte erstmals in orthodoxen Klöstern und bei den türkischen Derwischen filmen. Er betont zugleich, dass er seine »Auto-Film-Expedition ohne jegliche Unterstützung hoher und höchster Stellen oder gar zu Reklamezwecken durchgeführt«124 habe. Damit macht er auf einen wesentlichen Antriebsgrund für derartige Autoreisen aufmerksam: die Werbung für deutsche Technik und damit verbunden für den deutschen Staat. So ist die abenteuerliche Fahrt von Heinrich Hauser letztlich eine Testfahrt für Opel. Im Gegenzug für die Bereitstellung 120 121 122 123

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Ebd., S. 354. Ebd., S. 347. Vgl. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, S. 5. Lutz Koch, Reise durch den Balkan. 20 000 Kilometer Autofahrt durch Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Griechenland, Albanien und Jugoslawien, Berlin 1941, S. 9. Fred von Bohlen-Hegewald, Schleier, Fez und Turban. Mit Auto, Kamera und mir allein 20 000 Kilometer quer durch den Balkan und quer durch Iran, Berlin 1939, S. 5.

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des Automobils erfolgt das emphatische Lob deutscher Ingenieurskunst: »Den Wagen stellten mir die Opelwerke in Rüsselsheim zur Verfügung, großzügig und ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen.«125 Diese Erklärung dient erkennbar dazu, die Großzügigkeit des Unternehmens herauszustellen. Gerade durch die Behauptung, es handele sich nicht um implizite Werbung, wird das Gegenteil deutlich. Somit dienen diese Texte propagandistischen Zwecken: Der Lobpreis deutscher Technik verbindet sich mit der Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen. Deutschland wird zur Führungsmacht stilisiert, die ein gutes Verhältnis zu den Balkanstaaten anstrebt.126 Daneben steht die Schilderung abenteuerlicher Fahrten und individueller Leistungen, die immer mit der Beherrschung der Technik verbunden sind. Diese Texte bedeuten also einen dezidierten Gegenentwurf zu kultur- und zivilisationskritischen Positionen: Technik ist Diener des Menschen, Ziel ist der technische Fortschritt im Dienste der Menschheitsentwicklung. Die Ästhetisierung der Technik geht nicht so weit wie in futuristischen Texten; sie tritt aber an die Stelle des überkommenen Lobpreises von Natur und historischen Denkmälern. Der Nationalsozialismus wird als Motor dieser fortschrittlichen Entwicklung dargestellt. 2.2.1.

Abenteuerliche Propagandafahrt. Carl T. Wiskott: Griechenland im Auto erlebt (1936)

Wie der Reisebericht von Carl Diem gehört Carl Wiskotts Buch in den Kontext der Olympischen Spiele. In seinem mit zahlreichen Fotografien versehenen Reisebericht Griechenland im Auto erlebt steht das Abenteuer der Fahrt im Vordergrund. Der Autor beschreibt eine Autoreise nach Griechenland, die in die Vorbereitungsphase der Olympischen Spiele fällt: Vier Freunde – Photographen, Filmoperateure und Presseberichterstatter – fuhren mit drei Automobilen nach Griechenland, um den Olympia-Fackelstaffellauf vom Stadion des alten Olympia nach dem Berliner Reichssportfeld zu begleiten, und ich konnte mich ihnen als Ferienreisender, als Schlachtenbummler anschließen.127

Wiskotts Buch gebührt schon deshalb einiges Interesse, da es sich dabei um eine der ersten Beschreibungen einer Autofahrt nach Griechenland handelt. Diese Tatsache hängt eng mit dem propagandistischen Gehalt des Textes zu125

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Heinrich Hauser, Süd-Ost-Europa ist erwacht. Im Auto durch acht Balkanländer, Berlin 1938, S. 8. Vgl. die ähnlichen Tendenzen bei Josef März, Gestaltwandel des Südostens, Berlin 1942. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, S. 5.

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sammen. Er schildert den Triumph deutscher Technik über die widrigsten äußeren Umstände und den Wagemut der Reisenden, die sämtliche Herausforderungen souverän meistern. Die politischen Implikationen des Reiseberichts sind deutlich. Dies beginnt bei dem Lobpreis des deutschen Automobils, das die Strapazen der Fahrt ohne weiteres überstehe – »Unglaublich, was die Motoren hier leisten müssen, und wie glänzend sie sich bewährt haben!«128 –, reicht über die Diskussion der Rassenfrage – das entsprechende Kapitel ist überschrieben »Gibt es noch Nachkommen der alten Griechen?«129 – und gipfelt gerade in den Bildunterschriften in rassistischen Wertungen. Wiskott argumentiert vorsichtig, wie es der Kontext der Olympischen Spiele verlangt. Er scheut offenbar vor einer eindeutigen Stellungnahme gegenüber diesem problematischen Komplex zurück und fragt stattdessen, weshalb es zumindest im griechischen Bergland keine direkten Nachfahren der antiken Bewohner Griechenlands mehr geben solle.130 Darüber hinaus vermittelt der Text ein äußerst günstiges Bild der Außenpolitik des Dritten Reichs. Indem Wiskott die Anziehungskraft der nationalsozialistischen Ideologie für die Bevölkerung des Balkans herausstellt, reklamiert er zugleich für das Deutsche Reich einen politischen Führungsanspruch. Der Ton von Wiskotts Buch ist programmatisch völkerversöhnend. Dies reicht von der Betonung gegenseitigen Respekts bis hin zu der Akzentuierung der Tatsache, dass alle in Griechenland anzutreffenden Missstände auf die Türkenherrschaft zurückgeführt werden. Glaubt man dem Text, werden die deutschen Autofahrer überall begeistert empfangen. Die Ausstellung von Modernität ist offensichtlich auch eine Ursache für die durchweg positiven Reaktionen auf das faschistische Deutschland. Das Interesse der Einheimischen gilt zum einen der faszinierenden Technik, zum anderen der nationalsozialistischen Ideologie, die von den Reisenden und ihrer technischen Ausstattung verkörpert werden. In Griechenland etwa werde man oft freudig begrüßt: »Erkennen sie allerdings, daß man Deutscher ist, werden sie fast immer ›’eil ‹itler› rufen.«131 Besonders die Jugend des Balkans ist von den Deutschen mehr als angetan: Der Motor springt schon an, da stürzt atemlos ein Junge mit hocherhobenem Arm auf uns zu. Wir trauen unseren Augen nicht: ein Hakenkreuz ist auf den Arm tätowiert! Er deutet auf das Hakenkreuz in unseren DDAC-Wimpeln und stam128 129 130 131

Vgl. ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 138f. Vgl. ebd., S. 139. Ebd., S. 176.

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melt – anscheinend ist er ein Gymnasiast – in gebrochenem Schulfranzösisch: »Tricolore allemande?« – Nein, »Hakenkreuz« erklären wir ihm. Er strahlt, und jetzt erst verstehen wir ihn: auch den Namen des Zeichens will er sich eintätowieren lassen. Nun ist er glücklich, weil er ihn kennt.132

Die Reisenden erscheinen hier als kinderliebe Vertreter eines weltoffenen Deutschlands, das überall gerade in der Jugend begeisterte Zustimmung erfährt. Dieser Umstand impliziert einen politischen Führungsanspruch, der in Publizistik und Reiseliteratur der Zeit auch offen artikuliert wird.133 Besondere Beachtung verdient die programmatische Verbindung von Technikbegeisterung und Antikeverehrung, die den Text durchzieht. Beide Aspekte zählen zu den Kernbeständen der nationalsozialistischen Ideologie.134 So spricht Sebastian Graeb-Könneker sogar von einer Rüsselsheimer Moderne, von Texten, die die Leistungen des Autoherstellers Opel verherrlichen.135 Man mag diese Begriffsprägung für plakativ halten – jedenfalls spiegelt Wiskotts Buch eben diesen enthusiastischen Lobpreis deutscher Technik wider: Unglaublich, was die Motoren hier leisten müssen, und wie glänzend sie sich bewährt haben! Nicht ein einziges Mal[,] weder hier noch sonst auf der 7000 Kilometer langen Strecke, haben sie gestreikt. Nicht einen Schraubenschlüssel brauchten wir in die Hand zu nehmen. Dabei sind wir ein wenig besorgt gewesen, als wir vor 4 Wochen bei der Abfahrt in Rüsselsheim hörten, Griechenland leide zur Zeit unter einer beispiellosen Hitzewelle. Man hatte uns zwar erklärt, die Wagen seien ja nicht nur für Deutschland gebaut, und die größte europäische Automobilfabrik mache ihre Automobile, die doch in aller Herren Länder gefahren werden, absolut »tropenfest«. Hätten wir aber damals gewußt, wie erbarmungslos die griechische Sonne brennen kann, hätten wir gewußt, daß wir bei dieser Glut Stunden um Stunden im ersten und zweiten Gang Tausende von Metern hinaufklettern mußten –, wir wären vielleicht nicht so zuversichtlich abgefahren.136 132 133

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Ebd., S. 23. Kursivierung im Original gesperrt. Vgl. Koch, Reise durch den Balkan, S. 159: »Wer die gestaltende Kraft nationalsozialistischen Denkens außerhalb seines Volkes einmal verspüren will, der fahre hinaus in die Länder des Balkans, wo sich heute Großdeutschland als eine geschichtsbildende Kraft ohnegleichen offenbart. Nicht aber ist, wie es früher durch andere Großmächte oft genug geschah, Macht und Beherrschung um jeden Preis das Ziel, sondern Einordnung eines Raumes mit überlagerten Rassen und bunter Geschichte in ein friedvolles Europa, das die Wohlfahrt aller Völker seines Bodens zum Ziele hat.« Vgl. zum für die 1930er Jahre typischen Technikkult Hans Dieter Schäfer, »Das gespaltene Bewußtsein. Über die Lebenswirklichkeit in Deutschland 1933–1945«, in: Ders., Das gespaltene Bewußtsein, S. 114–162, bes. S. 118–120. Vgl. Sebastian Graeb-Könneker, Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur, Opladen 1996, S. 179–201. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, S. 124.

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In dieser Betonung der technischen Leistungsfähigkeit schließt sich Wiskott an den »Autokult der dreißiger Jahre«137 an. Diese indirekte Propaganda ist zuweilen weitaus wirksamer als parteipolitisch geprägte Indoktrinierung, die ohne weiteres als solche zu erkennen war. Die Reise gerade nach Griechenland verleiht der Selbststilisierung zusätzliches Gewicht. So tragen besonders die Fotografien dazu bei, die Verbindung von moderner Technik und antikem Erbe zu demonstrieren. Diese Fotografien sind essentieller Bestandteil des Bandes, ja sie unterstreichen und versinnlichen die propagandistische Aussage. Wenn etwa der mit Hakenkreuzwimpeln geschmückte Opel direkt vor dem Eingang des sogenannten Schatzhauses des Atreus in Mykene parkt,138 so wird in diesem Bild die angestrebte Verbindung von Antike und Moderne augenfällig. Bereits zu Beginn des Textes verweist Wiskott auf die Antike: Er parallelisiert die Autofahrt nach Griechenland mit der Wanderung der Dorer und Ionier auf ihrem Eroberungszug nach Süden.139 Dabei bleibt allerdings ein Widerspruch unaufgelöst, nämlich der zwischen der Rolle der modernen Griechen und dem Anspruch der deutschen Reisenden auf die legitime Nachfolge der alten Griechen. Das daraus abzuleitende Konkurrenzverhältnis zu thematisieren, hätte allerdings kaum in den Charakter der Werbetour gepasst, so dass sich die Widersprüchlichkeiten des Texts auch auf die Diskrepanz zwischen wesentlichen Bestandteilen der NS-Ideologie und der Notwendigkeit einer positiven Außendarstellung im Kontext der Olympischen Spiele zurückführen lassen. 2.2.2.

Technikrausch. Heinrich Hauser: Süd-Ost-Europa ist erwacht (1938)

Auch Heinrich Hausers Reisebericht Süd-Ost-Europa ist erwacht (1938) gehört in den Kontext der sogenannten Rüsselsheimer Moderne. Sein Reisebericht weist keinerlei Bezug zu den Olympischen Spielen auf, sondern versucht, die politischen und ökonomischen Tendenzen des Balkanraums nachzuvollziehen. Anders als Wiskott nimmt er keine Rücksicht auf eventuelle Empfindlichkeiten und scheut nicht vor zum Teil deutlichen Abwertungen der Balkanvölker zurück. 137 138 139

Schäfer, »Das gespaltene Bewußtsein«, S. 119. Vgl. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, S. 121. Vgl. ebd., S. 11: »Seit Jahrtausenden ist er [der Balkan] geschichtlich bedeutungsvoll – dieser zu allen Zeiten heißumkämpfte Südostzipfel Europas. Hier zog einst das nordische Volk der Dorer und Ionier hinab, der Sonne entgegen, um auf griechischem Boden eine Kultur, eine Kunst zu schaffen, die wir Heutigen bewundernd verehren.«

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Erst in den letzten Jahren erschienen einige wissenschaftliche Arbeiten zu Heinrich Hauser, einer schillernden und zugleich schwer einzuordnenden Figur der Literaturszene der 1920er bis 1950er Jahre.140 Neben Romanen (Brackwasser erhielt 1929 den Gerhart-Hauptmann-Preis) verfasste Hauser vor allem Industriereportagen (Im Kraftfeld von Rüsselsheim) und Reiseberichte über Australien und Kanada.141 Süd-Ost-Europa ist erwacht (1938) geht auf eine im Herbst 1937 unternommene Fahrt zurück,142 die von der Adam Opel AG (Hauser war von 1936 bis 1938/39 »Leiter der literarischen Abteilung«143 des Unternehmens) und der Frankfurter Zeitung, in der auch Teile des Textes erschienen,144 unterstützt wurde. Hausers Text entspricht den oben skizzierten Tendenzen: »Die Frage nach der Kongruenz oder Differenz von technischer Modernisierung und völkischem Wesen ist das leitende Prinzip seines Reiseberichts.«145 Dabei »verbinden sich Technikfaszination und Nationalismus hier im Zeichen einer rassistischen Missionsidee«.146 Umso überraschender ist es, dass gerade dieser Reisebericht von offizieller Seite abgelehnt wurde.147 Wahrscheinlich lag dies weniger am Text als an der Persönlichkeit Hausers, der, obwohl gegenüber etlichen Aspekten des Nationalsozialismus positiv eingestellt,148 doch auf seiner Unabhängigkeit beharrte und schließlich in die USA zog, ohne dass man ihn jedoch deswegen der Emigration zuordnen könnte.149 140

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Vgl. zu Heinrich Hauser insbesondere Grith Graebner, »Dem Leben unter die Haut kriechen …«. Heinrich Hauser – Leben und Werk. Eine kritisch-biographische Werk-Bibliographie, Diss. Köln 2001; Gregor Streim, »Als nationaler Pionier inner- und außerhalb des Dritten Reichs. Heinrich Hauser 1933–45«, in: Delabar u. a. (Hrsg.), Spielräume des einzelnen, S. 105–120; Ders., »Flucht nach vorn zurück. Heinrich Hauser – Portrait eines Schriftstellers zwischen Neuer Sachlichkeit und ›reaktionärem Modernismus‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 377–402. Vgl. zu Hausers USA-Reportage aus den 1920er Jahren Erhard Schütz, Kritik der literarischen Reportage. Reportagen und Reiseberichte aus der Weimarer Republik über die USA und die Sowjetunion, München 1977, S. 46–87. Vgl. Graebner, »Dem Leben unter die Haut kriechen …«. Heinrich Hauser – Leben und Werk, S. 53. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 425. In der Frankfurter Zeitung erschienen zwischen dem 10. 1. 1938 und dem 6. 3. 1938 insgesamt fünf Auszüge aus Süd-Ost-Europa ist erwacht. Streim, »Junge Völker und neue Technik«, S. 354. Ebd., S. 357. Vgl. Streim, »Als nationaler Pionier inner- und außerhalb des Dritten Reichs«, S. 113: Es »findet sich nur der kommentarlose Hinweis, das Buch werde vom Amt Schrifttum abgelehnt«. Vgl. ebd., S. 105: Die Rede ist von Hausers »ideologische[r] Ambivalenz gegenüber dem Nationalsozialismus«. Vgl. Graebner, »Dem Leben unter die Haut kriechen …«. Heinrich Hauser – Leben und Werk, S. 316–330.

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Während sich Carl T. Wiskott auf die Beschreibung Griechenlands konzentriert, das den Zielpunkt der Reise bildet, und dabei durchaus den gängigen Traditionen verhaftet ist, liegt in Heinrich Hausers Text der Schwerpunkt auf der Beschreibung der abenteuerlichen Reise durch acht Länder, unter denen Griechenland keine herausgehobene Rolle einnimmt. Im Unterschied zu Wiskott, der in der Gruppe reist, legt Hauser die Fahrt allein zurück. Dies verstärkt den Eindruck des Abenteuerlichen, zumal sich der Alleinreisende etlichen Gefahren ausgesetzt sieht.150 Im Kontext dieser Arbeit ist Hausers Bericht vor allem deshalb von Interesse, da er in größtmöglicher Deutlichkeit die Aneignung der Welt durch die Technik affirmativ darstellt. Sein affektives Verhältnis zum Automobil – er entscheidet sich überhaupt erst aus »Liebe zum Auto«151 dafür, den Balkan nicht mit der Eisenbahn zu bereisen – wird bereits daran deutlich, dass er seinem Fahrzeug den Text widmet: »Der kleinen Maudi – obwohl sie es nicht lesen kann.«152 Durchgängig wird das Auto wie ein Lebewesen beschrieben: Daß es »Maudi« heißen würde, wurde mir augenblicklich klar, als ich den Wagen zwischen hundert anderen über die Prüfstrecke der Fabrik fuhr. Er hatte Witz, er war leicht, flink, wendig, er schlängelte sich wie ein Zeitungsradler durch das Verkehrsgewühl.153

Mit dieser Gefährtin Maudi, der »heimliche[n] Heldin des Reisebuches«154 (benannt nach einem Elefantenbaby aus dem Zirkus Sarrasani, für den Hauser 1927/28 gearbeitet hatte155), überwindet der Reisende alle Gefahren. Ausgangspunkt der Reise ist ein modernes, ja geradezu futuristisches Deutschland, dessen Autobahnen nicht nur komfortables Reisen, sondern auch ein Gefühl der Weltbeherrschung durch technische Hilfsmittel garantieren: Sobald als möglich benutzte ich die Autobahn, diesen im höchsten Maße technisierten Zementstreifen, der mit so herrlicher Kühnheit durchs Gelände schwingt. Ich genoß diese Fahrt als einen Abschied. Wenn ich tankte, so geschah das in

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Vgl. die Schilderung der Krankheit: Hauser, Süd-Ost-Europa ist erwacht, S. 245–247, bes. S. 245: »Ich beschließe, mir einen möglichst stillen Flecken zu suchen, das Zelt aufzuschlagen und das Fieber darin abzuwettern. […] Wirr im Kopf, wie ich nun schon bin, verfehle ich dreimal die richtige Ausfahrt aus Nauplia. Nach einem Dutzend Kilometern löst die Straße sich auf, wird zu einer Kette wüster Buckel mit drohenden Gebissen von Felszähnen rechts und links.« Ebd., S. 8. Ebd., S. 5. Ebd., S. 10f. Streim, »Junge Völker und neue Technik«, S. 353. Vgl. Graebner, »Dem Leben unter die Haut kriechen …«. Heinrich Hauser – Leben und Werk, S. 47.

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einer Halle, die den Aufbauten eines Ozeandampfers glich. Von einer elektrischen Pumpe gefördert stieg das Benzin in die Zapfsäule, ein geschliffener Stahlzylinder glitt in einem Glasrohr auf und ab, präzise wie eine Injektionsspritze. Der dahinschießende Strom der Automobile, die Flugähnlichkeit der Fahrt, der Donner der Motore vereinten sich zu einem Eindruck von Macht, von Zielbewußtsein, von beherrschter Kraft. Die Autobahnen wirken auf mich immer noch wie ein Zukunftstraum, der Wirklichkeit geworden ist.156

Im Gegensatz dazu wird die Rückständigkeit Südosteuropas umso deutlicher. Folglich ist ein Großteil der Beschreibungen den Straßenverhältnissen gewidmet, wobei Griechenland relativ positiv bewertet wird. Dennoch stellen etliche Etappen tatsächliche Abenteuer dar. Auf schlechten Straßen und unter miserabelsten Sichtbedingungen wird die Reise zu einer Bewährungsprobe für den Autofahrer.157 Diese Umstände führen dazu, dass die Art der Reise zum eigentlichen Thema des Textes wird, das die touristischen Aspekte völlig zur Seite drängt: »Als Theben näher kam, begeisterte mich nicht der Klang des Namens, sondern nur der Umstand, daß die Straße besser wurde, weil sie als hoher Damm über die Ebene sich erhob.«158 Die Autofahrt gerade nach Griechenland hat etwas Unwirkliches: »Es war doch ein wunderliches Gefühl zum erstenmal auf klassischem Boden zu fahren, all den Schauplätzen der Antike entgegen.«159 Offensichtlich steht diese Art der Fortbewegung in gewissem Widerspruch zu dem klassischen Bildungserlebnis, das die meisten Reisenden in Griechenland suchen. Bei der Beschreibung der Einfahrt nach Athen überwiegt bezeichnenderweise die Freude, dass es dort Tankstellen mit Benzinpumpen gibt.160 Plötzlich befindet sich der Autofahrer vor der Akropolis, zu der ihn das Auto gleichsam ohne sein Zutun geführt hat: 156 157

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Hauser, Süd-Ost-Europa ist erwacht, S. 14. Vgl. ebd., S. 227: »Das Land war verschleiert. Aus überschwemmten Feldern retteten Bauern ihre Pflüge, vorn auf den Sattelknauf der Pferde gebunden. Hochgeschwollene Flüsse, erdbraun, führten ganze Wälder entwurzelt durch die ertrunkenen Täler. Die sonst recht gute Straße war an vielen Stellen von Wildbächen weggerissen. Maudi mußte furten; um die Wassertiefe zu erkunden, watete ich als Lotse voraus, eisiges Wasser. Die Bäche kamen so häufig, daß es sich nicht mehr lohnte, zwischendurch Schuhe und Strümpfe anzuziehen; ich fuhr mit hochgekrempelten Hosen, die nackten Zehen auf Gashebel und Bremse. Jetzt begriff ich, wie ungeheuer schwer es ist, in Griechenland gute Straßen zu unterhalten.« Ebd. Ebd., S. 203. Vgl. ebd., S. 228: »Es nahte die Stadt: Wochenendhäuschen wie am Rand Berlins, Gartenrestaurants mit Lauben aus verwelkten Kiefernzweigen. Zum erstenmal seit Saloniki hielt ich an einer Tankstelle mit regelrechter Benzinpumpe.«

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Vor mir breitete sich das weiße Häusermeer Athens, die breite Ausfallstraße, von Agaven umsäumt, sog mich ein, tiefer und tiefer inmitten eines mächtigen Autoverkehrs, der mich nicht rechts noch links sehen ließ. Wie aus einem blanken Flintenlauf heraus, schoß Maudi im Stadtzentrum auf einen großen Platz. Voraus ragte, über einem Hügel, ein phantastisches Bauwerk, wie eine Fata Morgana tauchte es auf über dem Verkehrsgewühl. Ich preßte hart die Bremse: Maudi hielt – angesichts der Akropolis.161

Auch wenn Hauser einige stereotype Aspekte des Griechenland-Tourismus beschreibt, wie etwa den Blick von der Akropolis, angesichts dessen das moderne Leben klein und unbedeutend wirkt,162 liegt doch sein eigentlicher Schwerpunkt auf dem modernen Griechenland und seinen Bewohnern. So beschreibt Hauser Athen als moderne Stadt, bevölkert von Flaneuren und schönen Frauen.163 Einzig Mykene – und damit die griechische Frühzeit – ist für ihn (aus ähnlichen Gründen wie für die Jugendgruppe der ›Fischer‹) von besonderem Interesse: In den Trümmern von Mykene steht keine Säule, kein frei gegen den Himmel gestellter Baum, und es findet sich kaum ein Ornament. Trotzdem hat diese Felsenstadt mich stärker bewegt als die Akropolis. Vielleicht, weil sie so einsam war. Vielleicht auch, weil uns Deutschen, die wir selber so sehr Werdende sind, die Vorstufen zu einer vollendeten Kunst näher stehen als die Vollendung.164

Die Anziehungskraft liegt also weniger in der mythischen Aufgeladenheit des Ortes begründet als vielmehr in den vermeintlichen Parallelen der mykenischen Epoche zu dem jungen NS-Staat. Während in den Texten der Jahrhundertwende das archaische und mykenische Griechenland vor allem von Interesse war, weil man sich durch den Rückbezug auf die Frühzeit von klassizistischen Tendenzen absetzen konnte, besitzt der gleiche Bezug bei Heinrich Hauser eine politische Bedeutung, ebenso wie seine Auseinandersetzung mit den modernen Griechen. Insgesamt ist sein Urteil über die modernen Griechen zwiespältig: Einzig die Bergbewohner sind für ihn Nachkommen der alten Griechen,165 wäh161 162

163 164 165

Ebd. Vgl. ebd., S. 230: »Von der Akropolis aus gesehen, wird umgekehrt das heutige Athen zum Traum, unwirklich genug, und, wenn man hinabsteigt, beinahe zum Alp. Die modernen Griechen, die großen Ladenstraßen, die Hotels, die Autohorden, Asphalt und Lichtreklamen, das alles erscheint mit einemmal total unwesentlich, gleichgültig, seelenlos.« Vgl. ebd., S. 232–235. Ebd., S. 243. Vgl. ebd., S. 215: »Er war der erste Grieche von klassischem Gesichtsschnitt und rein nordischem Typ, den ich sozusagen aus der Nähe sah. In seinem Heimatdorf

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rend der überwiegende Teil des Volkes keinerlei Bezug mehr zur Antike besitzt und stets darauf bedacht ist, den Reisenden zu übervorteilen.166 Das Verhalten der griechischen Jugendlichen erinnert Hauser sogar an unzivilisierte Gesellschaften: »Bei keinem Negerstamm bin ich mir so sehr als lebendes Panoptikum vorgekommen.«167 Die griechische Gesellschaft sei, so Hauser, von scharfen Gegensätzen bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch die besondere Leistung des autokratisch regierenden Generals Metaxas zu verstehen, der an einem längst überfälligen gesellschaftlichen Ausgleich arbeite.168 Lediglich ein autoritäres Regime könne die Probleme des Balkanlandes lösen. Im Mittelpunkt von Hausers Reisebericht steht die Technik, die ein nützliches und unverzichtbares Hilfsmittel des Menschen ist. Anders als in den unzähligen kulturkritischen Texten, die eine zunehmende Uniformierung und Vermassung beklagen, steht Hauser der Technisierung positiv gegenüber. Er gestaltet die Versöhnung von Natur und Technik. Deutschland nimmt für ihn dabei einen herausragenden, ja beispielhaften Platz ein, eben weil es die Verbindung scheinbar gegensätzlicher Sphären bewältigen und vorantreiben könne. Griechenland wiederum ist teilweise auf dem richtigen Weg, bedarf aber (wie der übrige Balkan auch) des Vorbilds Deutschland. Rassistische Invektiven gegen Juden und Rassenmischung169 und die entschiedene Wendung gegen deutsche Emigranten im Ausland170 verdeutlichen die Systemkonformität von Hausers Text, der die Feier des heroischen männlichen Individuums mit dem Lobpreis anthropomorphisierter Technik verbindet.

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in den Bergen des Olympmassivs, so erzählte er, sähen sie alle so aus wie er. Dorthin sei kein Eroberer gekommen und daher sei dort die griechische Rasse unverfälscht.« Vgl. ebd., S. 240: »Der herrschende Gott der Griechen ist eben Hermes und nicht mehr Zeus. Weder der Bauer in der Ebene noch der Kleinbürger in den Städten besitzt etwas von der heldischen und kriegerischen Haltung, die wir an der Überlieferung bewundern.« Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 213–222. Vgl. ebd., S. 60, S. 101, S. 206. Vgl. ebd., S. 215f.: »Der Mediziner, er stand dicht vor dem Staatsexamen, sprach von den großen Krankenhäusern in New York und meinte lächelnd: ›So viel Personal hat die ganze Berliner Charité nicht, wie da deutsche Emigranten herumlaufen, die alle Assistenten oder Assistentinnen bei Professor Sauerbruch gewesen sein wollen.‹«

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2.3. Konservative Kultur- und Zivilisationskritik: Stefan Andres, Ernst Wilhelm Eschmann, Friedrich Georg Jünger Neben diesen Apotheosen des Fortschritts entstehen in großer Zahl Texte, deren Autoren aus kulturkonservativer Perspektive an ältere Traditionen des Schreibens über Griechenland anschließen. Doch auch diese Reiseberichte müssen vor dem Hintergrund von Totalitarismus und zunehmender Technisierung gelesen werden. Die drei Autoren, deren Reiseberichte in diesem Kapitel analysiert werden, nehmen trotz der gewissen Ähnlichkeit ihrer Texte unterschiedliche Positionen gegenüber dem NS-Staat ein. Während Ernst Wilhelm Eschmann zu den Vordenkern des Faschismus gehört, wenden sich Friedrich Georg Jünger und Stefan Andres aus elitaristischer bzw. christlicher Perspektive gegen das nationalsozialistische Totalitarismusdenken. Ernst Wilhelm Eschmann und Friedrich Georg Jünger entstammen beide dem rechtskonservativen Spektrum. Während aber Eschmann im Dritten Reich als Diplomat Karriere machte,171 geriet Jünger ab 1933 zunehmend ins Abseits. Sie alle entwerfen Griechenland als Rückzugsraum. In ihren Texten kommt der Natur eine herausgehobene Bedeutung zu. Während aber Eschmann die Versöhnung der scheinbar entgegengesetzten Sphären von Natur und Technik darstellt, entwickeln die Texte von Andres und Jünger ein elegisch getöntes Gegenbild zu Vermassung und gesellschaftlicher Mobilisierung; Bildung ist ein Refugium unter widrigen Zeitumständen. Auch diese Reiseberichte, die ein Spektrum antimoderner Zivilisationskritik demonstrieren, das bei allem offenkundigen Anschluss an zivilisationskritische Texte der 1920er Jahre doch wesentlich radikalisiert erscheint, gehören in den Rahmen eines Technikdiskurses. Griechenland erscheint als ein Rückzugsraum aus einer Moderne, die zunehmend als menschenfeindlich und zumindest in ihrer Radikalisierung als schädlich betrachtet wird. Während Andres und Jünger kaum einen Ausweg sehen, argumentiert Eschmann optimistisch: Die Zeit sei gekommen, um die verderbliche Trennung von Geist und Seele zu überwinden und so die Beschädigungen durch die Moderne zu heilen. Die Reise gewinnt in unterschiedlicher Weise therapeutische Funktion.

171

Vgl. zu Ernst Wilhelm Eschmann die grundlegende, wissenschaftshistorisch akzentuierte Studie von M. Frederik Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904–1987), Berlin 2007 (Beiträge zur Geschichte der Soziologie; 13).

Reiseberichte über Griechenland vor Kriegsausbruch

2.3.1.

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Konservative Zivilisationskritik. Ernst Wilhelm Eschmann: Griechisches Tagebuch (1936)

Ernst Wilhelm Eschmanns Griechisches Tagebuch172 steht auf den ersten Blick in deutlichem Gegensatz zu den Technikbeschwörungen von Heinrich Hauser oder Carl T. Wiskott. Es thematisiert den Transzendenzverlust der Moderne und stellt die Orientierungsfunktion von antiker Kultur und griechischer Landschaft heraus. Allerdings geht es Eschmann nicht um eine pauschale Verdammung der Moderne. Er entwickelt am Beispiel Griechenlands eine Gegenperspektive, die gewisse Affinitäten zu theoretischen Konstrukten des Nationalsozialismus aufweist. Eschmanns Text ist gerade in seiner doppelten Stoßrichtung von Interesse, zeigt er doch auf, wie auch die scheinbar eskapistische und apolitische Beschäftigung mit Natur und Mythos ideologisch instrumentalisiert werden kann, wie sich Zivilisationskritik zum Entwurf einer faschistischen Moderne wandelt. Das Griechische Tagebuch befindet sich damit in deutlicher Nähe zu den oben interpretierten Reisereportagen, allerdings mit einem folgenreichen Unterschied in der Perspektive: Für Eschmann stehen nicht die Moderne, nicht Technik und Fortschritt im Vordergrund, sondern die griechische Landschaft und die historischen Monumente. Von der Geschichtsdeutung und Mytheninterpretation ausgehend, entwirft Eschmann von kulturkonservativer Warte eine Utopie der Versöhnung von Technik und Menschheit, die zugleich eine Utopie des modernen Staates darstellt. Zentrales Thema von Eschmanns Text ist die Frage, ob und wie eine Versöhnung von Geist und Seele möglich ist. Er erfährt die Moderne sichtlich als Verlustgeschichte, wobei sich für ihn die Entwicklung der Menschheit an einem kritischen Punkt befindet: Die nötige Wende scheint eingeleitet, ohne dass die Bewegung sich von selbst vollziehen würde. Die Reise nach Griechenland führt einerseits zurück in die beispielhafte Antike, andererseits gilt sie einem Land, dessen Landschaft eine noch ungetrübte Naturerfahrung mit sich bringen kann. Tatsächlich stehen ähnliche Fragen im Zentrum von Eschmanns Werk, das wissenschaftliche und literarische Arbeiten umfasst. Eschmann hatte 1930 über den faschistischen Staat in Italien promoviert. Von 1936 an lehrte er Soziologie in Berlin. Seine Nähe zum rechtskonservativen Tatkreis – er war 1933 kurzzeitig Herausgeber der Zeitschrift Die Tat – manifestiert sich auch in seinen literarischen Texten. Im Falle seines Reiseberichts überdecken vielfach die detaillierten stimmungsvollen Naturbeschreibungen den politi172

Ernst Wilhelm Eschmann, Griechisches Tagebuch, Jena 1936. Vgl. zu Eschmanns Griechischem Tagebuch Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten, S. 234–236.

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schen Gehalt, der eine dem Nationalsozialismus nahestehende Konzeption der Ganzheitlichkeit, der Versöhnung von Geist und Seele entwirft und dabei die Kritik an den Auswüchsen der Moderne mit dem Postulat einer vorbildlichen Antike verbindet. Anders als der Titel vermuten lässt, weist Eschmanns Reisebericht nur wenig Ähnlichkeit mit einem Tagebuch auf. Er schildert die üblichen Sehenswürdigkeiten Griechenlands und darüber hinaus Landschaften, die vergleichsweise wenig Beachtung finden, wie etwa Thessalien. Er beschreibt Athen, Delphi, Mykene, Sparta, Epidaurus und die Insel Ägina. Oftmals überwiegen die Reflexion und der essayistische Gestus die eigentliche Reisebeschreibung. Ausgedehnte historisch-philosophische Exkurse über Sparta und Olympia, über das perikleische Athen und die Frage nach dem Verhältnis von antiker Religion und Christentum bestimmen den Charakter des Textes. Dass Ernst Wilhelm Eschmanns Griechisches Tagebuch im Jahr der Olympischen Spiele in Berlin erschien, wurde vom Diederichs-Verlag als absatzfördernd erachtet – bis hin zu dem Hinweis an Buchhändler, das Werk entsprechend auszustellen.173 Etliche Teile des Buchs waren zuvor in der Zeitschrift Die Tat erschienen.174 Den Texten liegen zusammen mit dem Kunsthistoriker Werner Hager unternommene Wanderungen durch Griechenland zugrunde. Auch wenn Eschmanns Text weniger eindeutige ideologische Elemente enthält als die vieler seiner Zeitgenossen, so lässt sich sein Reisebericht nicht als Dokument eines apolitischen Rückzugs in den Sehnsuchtsraum Griechenland auffassen. Gerade die nahezu kalligraphischen Naturschilderungen könnten einen solchen Eindruck hervorrufen. Doch weist Eschmanns Auseinandersetzung mit dem antiken Griechenland deutliche Affinitäten zu den dominierenden Strömungen des Griechenland-Diskurses der 1930er Jahre auf. Im Gewand der Antike entwirft er ein Staatsideal, das deutlich faschistische Züge trägt. So ist seine Auseinandersetzung mit Sparta zwar frei von der hymnischen Idealisierung, wie sie auch Teile des Wissenschaftsdiskurses bestimmte; auf der anderen Seite aber ist Sparta für ihn eben deshalb vorbildlich, da seine eigentümliche Verfassung aus einer ähnlichen Situation wie die der Gegenwart entstand. Gerade der spartanische Staat dient ihm dabei als positives Beispiel, da er als »bewußte Gründung«175 gegen die Vermassung asiatischer 173 174 175

Vgl. Plöger, Soziologie in totalitären Zeiten, S. 235 (Fußnote). Vgl. die entsprechenden Nachweise ebd., S. 234–236. Eschmann, Griechisches Tagebuch, S. 103.

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Staaten gerichtet sei.176 Das »gerechte Sein«177 sei das Staatsziel Spartas gewesen, des Staates, der auch für die Moderne eine besondere Bedeutung besitze: Auf Strenge und Entsagung ruhend und doch unvergleichlich erfüllt und dicht, geht das zweckfreie Sein Spartas uns eigentümlich an. Freilich fern ist der Staat am Eurotas und jedes politische und gesellschaftliche Vergleichen unerlaubt. Und doch entsteht in unserer Mitte die gleiche menschliche Aufgabe, die einst von Sparta bejaht und verwirklicht wurde. Während die Völker sich noch bemühen, die Folgen des letzten Rausches von Wirtschaft und Technik einzudämmen, zu retten und wiederherzustellen, sind schon neue Geräte und Kräfte geschaffen, welche den Anteil der Arbeit, der bisher unbezweifelten Herrscherin und Formerin, am menschlichen Leben noch weiter einschränken. Ein freier Raum öffnet sich, der vorläufig mehr Angst als anderes erweckt …178

Zwar wendet sich Eschmann gegen simplifizierende Vereinnahmungen des spartanischen Staates und betont die Fremdheit, die ihn von der Moderne trennt, allerdings besitzt Sparta dennoch Vorbildcharakter. Dieser liegt weniger in politischen oder sozialen Analogien begründet als vielmehr darin, dass der spartanische Staat für Eschmann eine Reaktion auf ähnliche Herausforderungen darstellt, wie sie in der Gegenwart existieren. Eben die demonstrative Genügsamkeit des spartanischen Ideals und die damit verbundene geistig erfüllte Existenz seiner Bewohner gewinnen in einer Zeit erneut an Bedeutung, in der Wirtschaft und Technik furchteinflößende, ja zerstörerische Kräfte gewonnen haben. Für Eschmann besteht ein wesentliches Problem der Moderne darin, dass technischer Fortschritt und Rationalisierung die Rolle der Arbeit, die für Eschmann das menschliche Leben strukturiert, in hohem Maße zurückdrängen und so leere, unerfüllte Zeit freisetzen.179 Die große geistige Errungenschaft Spartas sieht Eschmann darin, dass im spartanischen Staat diese Aufgabe gemeistert wurde. Indem er technik- und zivilisationskritische Positionen zurück auf die spartanische Zivilisation pro176

177 178 179

Vgl. ebd.: »In Ägypten war der Staat gefangen in den erstarrten heiligen Formen eines maßlosen Jenseitsglaubens, dem gegenüber auch das frühe Christentum geradezu erdenlustig erscheint. In Babylon sah Lykurg einen reich gewordenen Eroberungs- und Wirtschaftsstaat, mit kapitalistisch ausgebeutetem Ackerbau, Großbanken, deren Scheck- und Wechselverkehr bis Indien reichte, hochentwickelter Wissenschaft und Technik, Betrieb und Geschäft. In der städtischen Massenzivilisation Babyloniens war der Mensch noch stärker gefesselt und geleugnet als im Priesterstaat längs des Nils.« Ebd., S. 114. Ebd., S. 119f. Hier berühren sich Eschmanns Positionen mit denen F. G. Jüngers. Vgl. dazu das folgende Kapitel.

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jiziert, erscheint diese als ein Beispiel für eine gelungene Gegenreaktion auf vermeintlich schädliche Modernisierungstendenzen. Die Erfülltheit des spartanischen Lebens, das sich durch Einheit aller Lebensbereiche ebenso wie durch straffe Organisation auszeichnet, ist so Vorbild für den idealen Staat der Gegenwart. Auch die Reise in das moderne Griechenland dient der Beantwortung dieser drängenden Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Modernisierung. Besonders auffällig ist Eschmanns positive Wertung der modernen Griechen. Ohne jegliche herablassende Attitüde schildert er in manchmal geradezu pointillistischer Prosa das Alltagsleben.180 Insbesondere die Hirten gewinnen seinen höchsten Respekt. In ihnen ist für Eschmann die Essenz der griechischen Kultur greifbar: Zum Abschied ergreift die kleine Tochter meine Rechte und haucht einen sanften Kuß darauf. Und ich spüre in diesem fast unmerkbar zarten Gruß des Kindes den tausendjährigen Adel eines ganzen Stammes.181

Doch auch die Bewohner Griechenlands sind Modernisierungstendenzen ausgesetzt. Diese werden etwa an den griechischen Bauern deutlich, die einige Jahre in den USA gelebt haben und nun in ihr verlassenes Tal zurückgekehrt sind: Sie verkörpern in ihrer Existenz den denkbar größten Gegensatz. Zugleich ist ihre Rückkehr in die Heimat Signal für die unzerstörbare Bindungskraft der heimatlichen Natur, für eine bewusste Absage an Modernisierung und Urbanisierung.182 Sie haben den entscheidenden Schritt zurück gemacht. Die modernen Griechen scheinen in besonderer Weise geeignet, die verderblichen Auswirkungen der Moderne abzuwehren, gerade weil sie in der Lage sind, Zeit ohne Arbeit auszuhalten: Vielleicht ist das regelmäßige Geklapper der Kränze [der Ketten der griechischen Männer] noch mehr: vielleicht das Mittel, mit dem ein Volk, dem unsere Selbstbetäubung durch Arbeit fremd ist, sich die größten Räume der Zeit durch rhythmisches Messen unbedrohlich macht.183 180 181 182

183

Vgl. Eschmann: Griechisches Tagebuch, S. 226. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 77f.: »Das Gespräch wird in amerikanischem Englisch geführt. Alle diese Bauern sind jahrelang in den Vereinigten Staaten gewesen, als Arbeiter, Fruchthändler, Schuhmacher. Sie waren schon ganz amerikanisiert und sind dann doch zurückgekehrt, vom Radio, Eisschrank und Konfektionsanzug in die Kargheit des arkadischen Dorfes. Nun ist ihr Weltbild merkwürdig geformt. Es umfaßt nur die Talschaft, in der sie zu Hause sind, und ein bestimmtes Viertel von Chikago oder Detroit.« Ebd., S. 65.

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Eschmann reproduziert hier überkommene Vorstellungen von dem vermeintlich naturnahen Leben in südlichen Landschaften und wendet zugleich das Stereotyp von den arbeitsscheuen Griechen ins Positive. Interessant wird diese Überlegung durch die darin enthaltene Aussage über die Lebensumstände in den westlichen Industrienationen. Eschmann geht davon aus, dass die Lebenswelt des modernen Individuums von Transzendenzverlust geprägt sei.184 Die einseitige Verherrlichung des Geistes habe den Menschen zu einem Mängelwesen gemacht, sei für seine Deformation verantwortlich.185 Er betäube sich so sehr durch Arbeit, dass er nie zu einer vollen Entfaltung seiner selbst gelangen könne, anders als dies im naturnahen Griechenland der Fall sei. Die Entfremdung von Geist und Seele ist eine Epochenkrankheit, deren Überwindung allerdings im Gange sei.186 Erst vor diesem Hintergrund wird die ganze Tragweite von Eschmanns ausführlichen Naturschilderungen deutlich. Dort entwirft er eine mythische Gegenwelt zu den Gefährdungen der Moderne, einen urtümlichen Raum, der für das Individuum eine heilende Funktion ausüben kann. Dies verdeutlicht bereits das ausführliche Kapitel über Thessalien, mit dem Eschmann seine Beschreibung des griechischen Festlands einleitet. Der Sonnenaufgang über dem Strand beleuchtet eine zeitlose Szenerie: 184

185

186

Vgl. ebd., S. 31: »Geschäftig summt sie im leeren Bienenkorb des Glaubens, wo die wächsernen Waben noch stehen, der Honig Gottes aber verloren ist.« Vgl. ebd., S. 57f.: »Zu der aus Delphi sprechenden Wirklichkeit des Geistes bildet seine gegenwärtige Auffassung den äußersten Gegensatz. Nicht mehr ist er der Mittler zwischen oben und unten, der gastlich beides umfaßt und führt: als Feind der Seele, als Lebenszerstörer, als Gegner der großen Mächte des Blutes und der Erde ist er verdächtig oder schon gar verurteilt, in wunderbarem Widerspruch zur Fülle der Werke und Tage, die ihm heute zu gestalten sind. […] Man sieht diese Art vor sich, wie sie die Intellektfabrik in planvoller Einseitigkeit ausstieß: die Gesichtszüge wie von einem Dämonendaumen nach vorn gedrückt, die blicklosen Augen mit den vorgewachsenen Brillen, auch wenn sie in Wahrheit keine tragen. Hier hat der Mißbrauch des Geistes, einer Gabe, die so wesenhaft zum Menschen gehört, die Mißbrauchenden ausdrucksmäßig ins Tierische zurückgleiten lassen.« Allerdings warnt Eschmann davor, wegen dieser Extreme den Geist und die rationalen Fähigkeiten des Menschen zu verdammen. – Vgl. ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 283: »Leib und Seele waren für die Priesterärzte des Asklepios [in Epidauros] ungetrennt. Und dieses Ungetrenntsein war stärker, als wir uns, eben aus der Trennung heraustretend, schon zu denken vermögen. Wenn wir von Leib-Seele-Einheit reden, so fügen wir zwei Begriffe zusammen, die noch von jahrtausendlanger Gegnerschaft gestempelt sind. Allmählich erst wächst aus dieser Notvorstellung das Wissen um den Rang und die innere Tätigkeit jeder Stelle des Leibes.«

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Die Sonne ist noch unter dem Horizont. Ein schwacher Schimmer aus der Richtung, wo Kleinasien liegen muß, vermag die feucht beklemmende Dunstbank nicht zu durchdringen. Endlich zerreißen die Nebel wie mit einem Schwert durchhauen und das Meer wird sichtbar. Ein glühendes Rot erhebt sich über dem unbewegten Silber in der eisig klaren Luft, mit einer Schnelligkeit, die man zu hören vermeint. Auch die letzten Nebelschwaden vergehen.187

Insbesondere die Synästhesien und die zahlreichen Nomina, die Farbwahrnehmungen nuanciert in Sprache fassen, bewirken, dass Eschmanns Darstellung zugleich zart, lebendig und kraftvoll erscheint. Auch im Folgenden setzt sich diese Tendenz fort: Die Hörner der Stiere haben zugleich etwas Musikalisches und etwas Kriegerisches.188 Über die bloße Beschreibung hinaus, versteht Eschmann die Landschaft als Ursache für geistige Betätigung. Er begreift die Ebene als idealen Ort, um die Gedanken in Bewegung zu versetzen: »Wie die Gedanken über die unermeßliche Ebene wandern!«189 Die griechische Landschaft erscheint so als ein Ort, der auf das Individuum zurückwirkt, seine Geisteskräfte aktiviert. Diese Tendenz der Naturbetrachtung verstärkt sich bei Eschmanns Beschreibung des Peneios-Tals. In dieser fruchtbaren Landschaft wird sich der Mensch erst seiner eigenen Vermögen bewusst; er muss sich »sammeln und steigern, um zu bestehen. Ungegliedert und ablenkungslos, befreit sie ihm die Mächte des Traumes und des Glaubens.«190 Die Landschaft bewirkt eine Transparenzerfahrung; Leben und Tod sind gleichermaßen präsent: In dieser Landschaft erscheinen die Toten nicht weniger seiend als die Lebendigen. Die Grenzen der Reiche verwischen sich. Es gibt keine Gesetze, nur Wirkungen. Ihrer kann sich der Wissende bemächtigen. Thessalien wurde zum Sitz der Magie, zum Wohnort gefürchteter Gespensterbanner und zauberkundiger Frauen.191

Dort sind die unheimliche Hekate und der mythische Sänger Orpheus gleichermaßen anwesend. In beiden mythischen Figuren verkörpern sich für Eschmann Formen der Weltbewältigung, die konkret mit der Erfahrung der Landschaft verbunden sind. Es geht nur zum Teil darum, am entsprechenden Ort die kultischen Vorstellungen der Antike nachzuvollziehen, sondern vielmehr um das sinnliche Erlebnis einer – bei aller Unheimlichkeit – transzendentalen Einheitserfahrung von Mensch und gleichsam gotterfüllter Natur. Das enge Verhältnis zwischen Mensch und Natur muss aber nicht 187 188 189 190 191

Ebd., S. 9. Vgl. ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14. – Vgl. auch die »Klassische Walpurgisnacht« in Goethes Faust II. Ebd.

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zwangläufig Geborgenheit bedeuten, auch wenn die unheimliche Naturerfahrung der Selbstvergewisserung und Selbstpositionierung des Individuums dienen kann. Die Natur ist vor allem Herausforderung. Die harmonische Variante der Naturerfahrung, die von Nähe und Geborgenheit geprägt ist, gestaltet Eschmann bei der Beschreibung des Aufenthalts auf der Insel Ägina. Der dortige Tempel steht für ein ideales Verhältnis zwischen Menschen, dem Göttlichen und der Natur: Der Boden selbst wirkt hier heilende Kraft. Sein Ausströmen setzt die Verworrenen in Richtigkeit, löst die Gespannten, läßt die Lauten verstummen und bringt die unsicher Schweigenden zum Klang, Wirken der Erde und Tun des Menschen, im Maß des Tempels erfüllt, bedingen und bestätigen sich. Immer lebt dieses lebenspendende Bündnis, mag auch der Bau in Trümmern und sein Schmuck in ferne fahle Säle versprengt sein. […] Es steht über uns, als wir mit ungewohnter Festlichkeit unser Mahl aus Trauben, Orangen, Mandeln, Brot und gelblich-bitterem Wein von der grauen Säulentrommel nehmen.192

Die Erfahrung des Tempels, der harmonisch in die Natur eingebettet ist, bewirkt eine Versöhnung der Sphären, die in der Moderne miteinander in Konflikt geraten sind. Die Architektur wird zum Symbol für die Aussöhnung von natürlichem und menschlichem Wirken, so dass die Mahlzeit an diesem Ort einen festlichen, nahezu religiösen Charakter bekommt. Die Reise nach Griechenland wird zu einem Schritt auf dem Weg zur Versöhnung der scheinbaren Gegensätze. Sie hat nach wie vor den Status einer Pilgerfahrt: Die unzerstörbare Richtigkeit des Heiligtums, geschaffen aus dem Bündnis von Erde Gott Mensch, besänftigt zur Dankbarkeit und reizt mit Hoffnung. Welche Erkenntnis – die selbst schon zur Heilung gehört – daß die Jahrhunderte fleißiger Wissenschaft und genauester Betrachtung, durch die wir gingen, nur den Sinn haben, dieser Richtigkeit in langsamen Schritten wieder nahe zu kommen. Wir besaßen sie einst und verloren sie, aus frevelndem Abfall oder leichtsinniger Verschmähung.193

Insbesondere die Orientierung an dem richtigen Maß, das den sinnvollen Ausgleich zwischen Leib und Seele bezeichnet, macht die Welt der Griechen so vorbildlich. Eschmann ist sich sicher, dass ein dialektischer Umschlag von der exzessiven Technisierung hin zur Natur unmittelbar bevorsteht. Diese Überlegung sieht die negativen Begleitumstände der Moderne letztlich als notwendige Übel an, die bereits auf deren Überwindung hindeuten. Dieser für Eschmann zentrale Ausgleich von Leib und Seele kann insbesondere in der Natur aufgespürt werden, wie der Schluss des Reiseberichts bestätigt. Er fasst die Grundtendenzen des Textes in einem allegorischen 192 193

Ebd., S. 303. Ebd., S. 303f.

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Bild zusammen. Auf der Insel Ägina, in unmittelbarer Nähe des AphaiaTempels, erinnert sich der Erzähler an einen »Traum von schmerzender Eindringlichkeit«,194 der »in einem südlichen Bahnhof voll Ammoniakgeruch und grellen Plakaten«195 spielt. Der Zug fährt ein. Die Lokomotive ist so gewaltig, daß sie die Halle zu sprengen droht. Da erhebt sich aus dem Schornstein ein schönes, heiteres Gesicht. Aus den Flanken der Maschine greifen Arme. Sie beginnt sich selbst abzumontieren. Zuerst fällt der Ring des Schornsteins. Ein Hals wird frei, reckt und dehnt sich, als müsse die neue Freiheit geprüft werden. Schon ist es wie jemand, der unpassende Kleidung mit einer gewissen Hast ablegt. Metallplatten, Kolbenringe, Röhren, Pleuelstangen fallen wie abgeblättert. Scheppernd gleitet der letzte Metallring zu Boden und ein Mensch schreitet lächelnd aus der Halle.196

Bereits die Ausgangssituation des Traums ist von Kontrasten geprägt: Eschmann befindet sich in der Nähe des Aphaia-Tempels von Ägina, einer der bedeutendsten Kunststätten Griechenlands. Sein Traum hingegen führt ihn in einen paradigmatischen Ort der Technik, einen Bahnhof. Zunächst wird die Einfahrt des Zuges als gewaltsames und gefährliches Ereignis beschrieben. Es droht die Zerstörung des Bahnhofs durch das entfesselte technische Objekt. Doch die Selbstdemontage der Lokomotive lässt den in ihr verborgenen Menschen hervortreten, der schließlich seine »neue Freiheit« wiedergewinnt, indem er sich der Einkleidung durch die Technik entledigt. Was Eschmann hier inszeniert, ist nichts weniger als die Überwindung der Technik durch den Menschen. Wenn aus der Maschine heraus ein Mensch das Produkt der Technik gewissermaßen zurückbaut und abmontiert, so entspricht dieser Vorgang der Stoßrichtung von Eschmanns Text, der am Ende sogar Appellcharakter gewinnt. Dass der allegorische Traum gerade auf Ägina geträumt wird, ist sicherlich nicht zufällig: Die heilige Atmosphäre des oft gerühmten Tempels kann eine Art von modernem Tempelschlaf bewirken, eine Art von Inspiration, die Eschmanns Text hier bereitwillig inszeniert.197 Der Reisebericht ist für Ernst Wilhelm Eschmann vor allem Medium für eine zivilisationskritische Auseinandersetzung mit der Moderne. Griechenland ist dabei in zweierlei Hinsicht vorbildhaft: Erstens, da die Kultur der alten Griechen von Einheit geprägt gewesen sei, zweitens, da die griechische Natur nach wie vor heilende Qualitäten besitze. Zugleich zeigt Eschmann 194 195 196 197

Ebd., S. 310. Ebd. Ebd. Vgl. auch die okkultistischen Experimente Spundas in der Nähe dieses Tempels. Siehe Kapitel II dieser Arbeit.

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in der Traumschilderung einen Ausweg aus der Entfremdungserfahrung der modernen Menschen, lässt allerdings bewusst offen, wie erfolgversprechend dieser Ausweg ist. Der optimistische Schluss deutet an, dass Eschmann an die Möglichkeit eines Ausgleichs glaubt: Die Versöhnung von Mensch und Technik hat begonnen. Ob diese gerade im faschistischen Deutschland möglich ist, das sich in vielerlei Hinsicht auf die Griechen bezieht, lässt Eschmann offen. Man kann Eschmanns Text in den Kontext eines Modernediskurses verorten, der versucht, Fortschritt und nationalsozialistische Weltanschauung zu verbinden, und der davon ausgeht, die Beschädigungen der Moderne in einer totalitären staatlichen Organisationsform auffangen zu können. 2.3.2.

»… im Unglück eine Zufluchtsstätte«. Kulturkritik mit regimekritischen Untertönen. Stefan Andres: Sprache des Temenos (1935)

Während es Ernst Wilhelm Eschmann in seinem Griechischen Tagebuch wesentlich um die Versöhnung des Individuums mit sich selbst und der Technik geht, betrachtet Stefan Andres in seinen 1935 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Reiseskizzen Sprache des Temenos die griechische Kultur, den griechischen Mythos und die griechische Landschaft als Rückzugsraum.198 Der Text verarbeitet Eindrücke einer Mittelmeerreise, die Andres im Frühjahr 1934 unternommen hatte.199 In den Skizzen beschreibt Andres Besuche in Mykene, Sparta, Athen und Delphi und abschließend einen Flug über Griechenland. Von der Vielzahl der in dieser Arbeit untersuchten Texte äu198

199

Stefan Andres, »Sprache des Temenos. Aus meinem griechischen Reisebuch«, in: Die neue Rundschau 1935, S. 68–84. Jetzt auch in: Stefan Andres, Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933–1945, hrsg. v. Erwin Rotermund u. Heidrun Ehrke-Rotermund, Göttingen 2010, S. 93–98. – Daneben publizierte Andres weitere Texte über seine Griechenland-Reise. Vgl. Stefan Andres, »Das Tal des Widerhalls. Station aus meinem griechischen Reisebuch«, in: Frankfurter Zeitung, 8. 4. 1937, auch in: Völkischer Beobachter (Wiener Ausgabe), 26. 2. 1943; Völkischer Beobachter (Münchner Ausgabe), 14. 3. 1943; Ders., »Der Berg Athos«, in: Kölnische Zeitung, Nr. 220 ( ? ), 1939; Ders., »Die Fahrt zur schönen Helena«, in: Volk und Welt, Mai 1939, S. 107–132. Der Titel verweist auf einen heiligen Bezirk – auch dies ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass Andres Griechenland als religiös überhöhten Raum betrachtet, als Sphäre, die den Profanisierungstendenzen widerstanden hat. Vgl. zu Andres’ Weltanschauung die Monographie von John Klapper, Stefan Andres. The Christian Humanist as a Critic of his Times (Britische und Irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur; 10), Frankfurt am Main u. a. 1995. Vgl. Michael Braun, Stefan Andres. Leben und Werk. Herausgegeben von der Stefan-Andres-Gesellschaft, Bonn 1997, S. 49f.

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ßert Stefan Andres’ Reisebericht die deutlichste Kritik an Totalitarismus und Militarismus. Selbstverständlich ist diese Kritik so formuliert, dass sie notfalls auch anders gelesen werden kann. An Andres’ Text wird so ein interpretatorisches Problem deutlich, das sich »mit dem Zwischen-den-Zeilen-Schreiben und -Lesen«200 stellt. Im Fall von Stefan Andres’ Reisetext unterstreicht bereits das Motto die grundlegende Tendenz. Andres zitiert ein Fragment des vorsokratischen Philosophen Demokrit,201 das die Bedeutung von Bildung in existentiellen Notsituationen unterstreicht: »›Die Bildung ist im Glück ein Schmuck, / im Unglück eine Zufluchtsstätte.‹«202 Erst im Unglück zeigt sich der wahre Wert der Bildung, die so als Kraftquelle und Rückzugsort zugleich dienen kann. In schwierigen Zeiten soll der Rekurs auf Bildungsgüter eine Zufluchtsstätte bieten. Die Reise nach Griechenland ist so in aller Deutlichkeit als Flucht erkennbar, und dies in mehrfacher Hinsicht: Zunächst als Rückzug aus der technisierten Welt, die von Transzendenzverlust geprägt ist. Der abschließende Flug über Griechenland gipfelt nicht zufällig in einer Reminiszenz an Hölderlin, der zu einer Seherfigur stilisiert wird. Außerdem gilt die Flucht den politischen Zeitumständen. Dieser Sachverhalt wird insbesondere durch Andres’ Auseinandersetzung mit der griechischen Antike deutlich: Er nutzt den Raum von Geschichte und Mythos, um aus christlich-konservativer Perspektive gegen den Nationalsozialismus anzuschreiben.203 Kennzeichnend für Andres’ Text ist der wehmütige Gestus des Verlusts. In Delphi etwa beklagt er den Transzendenzverlust der Moderne: Mein Gott, wir müssen das Wallfahren wieder lernen, in irgendeiner Form, es gibt Ziele, die man nicht auf dem bequemsten Wege erreichen darf, es gibt Wege, die nicht im Postauto zurückgelegt werden dürfen, wie sehr der Kluge darüber lächeln mag.204

Die Wallfahrt ist für Andres das Gegenbild zum modernen Tourismus, der gerade durch die Beseitigung aller äußeren Schwierigkeiten den geistigen Gehalt 200

201 202 203

204

Erwin Rotermund, »Probleme der ›Verdeckten Schreibweise‹ in der literarischen ›Inneren Emigration‹ 1933–1945: Fritz Reck-Malleczewen, Stefan Andres und Rudolf Pechel«, in: Michael Braun/Georg Guntermann (Hrsg.), Gerettet und zugleich von Scham verschlungen. Neue Annäherungen an die Literatur der ›Inneren Emigration‹, Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 17–38, hier S. 21. Vgl. Art. »Demokritos«, in: Der neue Pauly, Bd. 3, Sp. 455–458. Andres, »Sprache des Temenos«, S. 68. Vgl. zu Andres’ Auseinandersetzung mit der Antike die Studie von Sieghild von Blumenthal, Christentum und Antike im Werk von Stefan Andres, Diss. Marburg 1997. Andres, »Sprache des Temenos«, S. 81.

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des Reisens nahezu beseitigt habe. Gerade die bewusst schwierige Reise kann auch zu geistigem, ja in Andres’ Fall wohl auch religiösem Gewinn führen. Besonders in Delphi wirken die modernen Fortbewegungsmittel fehl am Platz. Offenkundiges Ziel ist es, etwas von der alten Frömmigkeit wiederzuerlangen. Dabei wird deutlich, dass dieser Versuch eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Sinnbild für diese Sehnsucht ist Friedrich Hölderlin. Die letzten beiden von insgesamt drei Distichen aus dessen Elegie Die Entschlafenen205 stehen am Ende von Andres’ Text. In dieser Totenklage betont der Sprecher, die Verstorbenen seien in der Seele des Überlebenden anwesend. Andres setzt die Toten aus Hölderlins Gedicht mit dem alten Griechenland und seinen herausragenden Protagonisten gleich: Und da waren die Orte alle und in ihnen die Männer, die, lange schon entschlafen, in unsrer Liebe zeitlose Gestalt empfangen haben. Im Summen der Motore sprach ich die priesterlichen Worte des Sängers, der nie dieses Land sah und doch seine Wirklichkeit erlebte, in einer geistigen Kommunion der Sehnsucht: »Doch, ihr Schlafenden, wacht am Herzen mir, in verwandter Seele ruhet von euch mir das entfliehende Bild, Und lebendiger lebt ihr dort, wo des göttlichen Geistes Freude die Alternden all, alle die Toten verjüngt.«206

Der Verweis auf Hölderlin zeigt, worauf es Andres ankommt: Zentral ist der Gedanke der Verinnerlichung des kulturellen Erbes, das in dem anteilnehmenden Subjekt präsent und lebendig ist. Nicht nur die tatsächliche Reise, sondern ebenso auch der einfühlende Rekurs auf die Werte der Antike kann die Erfahrung von Nähe und Trost nach sich ziehen. In dieser »geistigen Kommunion der Sehnsucht« ist es dem Individuum möglich, sich auf ein inneres Griechenland zurückzuziehen und auf diese Weise den Anfechtungen einer entgötterten Gegenwart zu widerstehen. Zu diesen zivilisationskritischen Aussagen tritt eine Wertung der griechischen Antike, die zumindest teilweise Stefan Andres’ deutlichen Abstand zur nationalsozialistischen Ideologie markiert. Er entwirft ein Bild des antiken Griechenland, das auf die Probleme der Gegenwart verweist. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Sparta gerät ihm zu einer Abrechnung mit Engstirnigkeit und Dummheit, aber auch zur Demaskierung des nationalsozialistischen Spartakults.207 Andres destruiert nahezu sämtliche positiven 205

206 207

Friedrich Hölderlin, »Die Entschlafenen«, in: Ders., Sämtliche Gedichte, hrsg. v. Jochen Schmidt, S. 279. Andres, »Sprache des Temenos«, S. 84. In dem Roman Der Mann von Asteri (1939) artikuliert Andres eine ähnliche Kritik am spartanischen Staat, die bezeichnenderweise von der Zensur gestrichen wurde. Vgl. Braun, Stefan Andres. Leben und Werk, S. 101f.

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Sparta-Stereotype. So ist für ihn Sparta keineswegs ein Vorkämpfer Griechenlands: Zum großen Tage der Griechen auf dem Schlachtfeld bei Marathon waren seine Hopliten nicht erschienen. Man sah keine Gefahr für Sparta, und daß es leichter sei, Hellas in Ionien als auf dem Peloponnes zu verteidigen, überschritt vollends den politischen Horizont dieser ewigen Junker, die stolz waren auf ihr kurzes Schwert, ihre mauernlose Stadt und die von der Wiege her für den Hoplitenberuf gezüchteten Jünglinge.208

Ihre Engstirnigkeit hindert die Spartaner an der Teilnahme an der ruhmreichen griechischen Geschichte. Die ansonsten positiv gewertete Beschränkung auf den eigenen Staat und das eigene Wesen erscheint hier als Mangel an strategischer Einsicht. Die »ewigen Junker« sind die Verkörperung eines letztlich lächerlichen Militarismus und Rassenstolzes. So dient Sparta als historisches Exempel für die völlige Sinnlosigkeit von Abschottung und Selbstvergötterung: Wenn Geschichte belehren könnte, genügte ein Gang durch das heutige Sparta, um überwältigend zu beweisen, daß ein Volk nicht weiterwirkt, indem es sich selbst verewigen will, sondern indem es sich in die Zeit als Erfüllung hineingibt. Nein, der Taygetos ist nicht allein schuld, sondern die Hybris aus völkischer Selbstgefälligkeit. Sparta wollte sich bewahren und verlor sich. Athen aber verlor sich in die Welt, und seine sichtbare und unsichtbare Akropolis ragt bis in unsere Tage.209

Vor diesem Hintergrund kann Sparta lediglich als Beispiel dafür dienen, »wie ein imposantes Volk schier unnütz seine geschichtliche Zeit vertat«.210 Ein größerer Gegensatz zu den hymnischen Sparta-Würdigungen der Zeit lässt sich kaum denken. Für Andres ist Sparta nicht ein überzeitlich gültiges Vorbild, sondern vielmehr ein mahnendes Exempel, eine Warnung vor den verderblichen Folgen eines übertriebenen Nationalismus. Anders als für Eschmann, der die geistigen Errungenschaften Spartas würdigte, entdeckt Andres an Sparta nichts Lobenswertes. Selbstverständlich greift auch er auf Traditionen der Sparta-Abwertung zurück, die aber in der wissenschaftlichen Diskussion des Dritten Reichs keine Rolle spielten.211 Die bewusste Ambivalenz von Andres’ Griechenland-Darstellung wird an seiner Beschreibung Mykenes deutlich. Andres zeichnet das antike Mykene als straff organisierten Führerstaat, dessen sämtliche Lebensbereiche auf den vergötterten Herrscher bezogen sind: 208 209 210 211

Andres, Sprache des Temenos, S. 72. Ebd., S. 73. Ebd. Vgl. zu den widersprüchlichen Sparta-Wertungen Christ, »Spartaforschung und Spartabild«.

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Wer durch das Löwentor schreitet, wird sich dessen bewußt, daß er wie durch ein Joch eintritt, daß ihm die Kraft des Königs entgegendroht, kyklopisch und unbedingt. Dieses Ruinenmykene verkündet heute noch, wie der Palast Kern und alles andre Zubehör im Kreise ist. Der König ist alles. Seine privaten Konflikte reißen nicht nur sein Volk mit ins Verderben, das Volk sieht sogar seine Erfüllung und seinen Sinn in der Aufopferung für den Ersten.212

Die einzige Aufgabe habe in Mykene darin bestanden, dem Alleinherrscher zuzustimmen. Selbst die Anordnung der Gräber demonstriert für Andres die unbedingte Macht des mykenischen Herrschers über Leben und Tod: Wir stehen auf dem Platze, wo der Volksrat zusammenkam. Sein Rat bestand darin, dem König sein Ja zu geben. Im Kreise ziehen sich die Schachtgräber um den Platz, wachsen in einer Steinbrüstung aus der Erde, in der die Toten dem Rate beiwohnten. Und auch sie sprachen Ja, denn sie waren im Dienste des Herrschers gestorben.213

Stefan Andres’ Darstellung des mykenischen Staates lässt sich als verdeckte Beschreibung des nationalsozialistischen Führerstaats lesen, dessen Elemente er in das mykenische Griechenland rückprojiziert. Weitestgehend deckt sich das Vokabular mit den affirmativen Würdigungen des Führerprinzips, doch etliche Wendungen zeigen, dass Andres dieser Staatsform kritisch gegenübersteht. So ist der Herrscher für das Leid seiner Untertanen verantwortlich; die Konflikte, die er austrägt, sind privater Natur und haben nichts mit dem Wohl des Volkes zu tun. Dieses wiederum ist so verblendet, dass es sich bereitwillig für die Bedürfnisse des Königs aufopfert. Diese deutliche und scharfe Abrechnung mit den Mechanismen totalitärer Herrschaft mildert Andres dadurch ab, dass er (wenig überzeugend) die attische Demokratie als Stufe des Niedergangs bezeichnet. Anders als in der »von den Toten behüteten Ratsmitte«214 in Mykene sei die Pöbelherrschaft in Athen für das Volk schädlich. Am Ende des kurzen Kapitels imaginiert Andres die Behausungen des einfachen Volks. Sein Entwurf liest sich wie eine bitter-ironische Abrechnung mit totalitärer Herrschaft, die das Individuum deformiert: Der Blick schweift hinunter in das schon mittägliche Licht, und wo überall die Steinbrocken im zaghaften Gras flimmern, entstehen noch einmal die armseligen Häuser dieses Volkes, wie Lämmer um den Berg geschmiegt, um die Wohnung des großen Hirten, ihres sichtbaren Gottes.215

212 213 214 215

Andres, »Sprache des Temenos«, S. 70. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der mykenische Herrscher erscheint letztlich als die Perversion des guten Hirten. Andres’ Text widerspricht sich also selbst. Einerseits wertet er das diktatorisch regierte Mykene ab, andererseits stellt er (wenn auch äußerst knapp) die attische Demokratie als schädliche Perversion des mykenischen Einheitsgedankens dar. Diese Ambivalenz kann man sowohl als Schwäche des Textes wie auch als Indiz für den letztlich subversiven Gehalt des darin entwickelten Antikebilds lesen.216 Stefan Andres verbindet in seinen Reiseskizzen Sprache des Temenos kulturund technikkritische Positionen mit zum Teil erstaunlich offener Kritik an der Diktatur, die aber durch bewusst ambivalente Zusätze und logische Brüche ihrer Eindeutigkeit beraubt wird. Andres entwirft eine religiös getönte Vorstellung der Teilhabe an klassischem Bildungsgut, das internalisiert einen Rückzugsraum bieten kann. Das Vorbild Hölderlin zeigt an, dass sich Andres auf wirkmächtige Traditionen des Philhellenismus beruft und zugleich deren Missbrauch im Nationalsozialismus eine programmatische Verinnerlichung entgegensetzt. Kurzzeitig wird Andres erwägen, nach Griechenland zu emigrieren217 – auch das ist ein Indiz für die Bedeutung des griechischen Erbes, aber auch der griechischen Gegenwart für den Autor. 2.3.3.

Flucht in die Idylle? Friedrich Georg Jünger: Wanderungen auf Rhodos (1943)

Auch Friedrich Georg Jüngers Wanderungen auf Rhodos inszenieren wie der Reisebericht von Ernst Wilhelm Eschmann den Gegensatz von modernen Entfremdungserfahrungen und heilender Natur, allerdings in deutlich verschiedenem Rahmen und unter anderen Vorzeichen. Denn während Eschmann in seinem Reisebericht die wesentlichen antiken Stätten Griechenlands beschreibt, liegt der Fokus der erst 1943 in Buchform erschienenen Wanderungen auf Rhodos218 von Friedrich Georg Jünger auf der Beschreibung der damals italienischen Insel Rhodos. Der Autor besuchte sie im Frühjahr 1938 auf einer Mittelmeerreise, die er gemeinsam mit seinem Bru-

216 217 218

Vgl. Rotermund, »Probleme der ›Verdeckten Schreibweise‹«. Vgl. Braun, Stefan Andres. Leben und Werk, S. 51. Friedrich Georg Jünger, Wanderungen auf Rhodos, Hamburg 1943. Teile waren bereits 1939 unter dem Titel Streifzüge auf Rhodos in der Frankfurter Zeitung und in der Zweimonatsschrift Corona erschienen. Vgl. Ulrich Fröschle, Friedrich Georg Jünger (1898–1977). Kommentiertes Verzeichnis seiner Schriften, Marbach am Neckar 1998, S. 56, S. 127.

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der Ernst Jünger unternahm.219 Seinen Reisebegleiter erwähnt Jünger kaum einmal. Ihm kommt es offensichtlich auf die Gegenüberstellung zweier konträrer Sphären an. Der Natur steht die menschliche Zivilisation gegenüber, die von zwei letztlich komplementären Bewegungen geprägt ist, nämlich der absoluten Vergänglichkeit auf der einen, der zunehmenden Technisierung auf der anderen Seite. So zeigt bereits das erste Kapitel, das den Besuch im türkischen Izmir beschreibt – dem ehemals von kleinasiatischen Griechen bewohnten Smyrna –, wie die Welt der Vergangenheit angesichts katastrophaler Geschichtserfahrungen220 und durch »amerikanisch anmutende Geschäftigkeit«221 unzugänglich gemacht wurde. Dies ist auf Rhodos in dieser Form nicht der Fall. Im Gegenteil, in der mittelalterlichen Altstadt spielt sich ein Leben ab, das weitgehend von Modernisierungserfahrungen abgekoppelt zu sein scheint. Zudem hat innerhalb der Stadtmauern auch die Natur in geradezu berauschender Weise ihren Platz gefunden: Alle diese Pflanzen aber traten zurück vor einem Mohn, dessen Blüte von dunklerem, leuchtenderem Rot war als unsere Mohnblüte. Er stach so zahlreich und kräftig aus dem Grün der Gärten und Wiesen hervor, daß er das Auge fast blendete. Der Wehrgraben der Ritterburg und die Friedhöfe waren erfüllt von ihm. Er umgab hart leuchtend die schneeweiß gekalkten Gräber, und wenn man sich zur Erde neigte, empfing man mit dem Winde den narkotisch bitteren Geruch, den er ausströmte. Ein so reines, mächtiges Rot erheitert das Auge vor allem dann, wenn es zerstreut aus grünen, größeren Flächen hervorgeht. Hier überwog es manchmal bis zum Beunruhigenden; die ganze Kraft des kurzen und wilden Inselfrühlings schien sich in dieser Blüte zu sammeln, die wie das Feuer aus der Erde hervorbrach.222

Der Mohn sticht nicht nur durch seine kräftige Farbe hervor. Gerade dass er auch berauschende Wirkung ausübt, macht einen Teil der Faszination aus, die von dieser Pflanze ausgeht. Sie ist Ausdruck einer ungebändigten Na219

220

221 222

Vgl. Andreas Geyer, Friedrich Georg Jünger. Werk und Leben, Wien/Leipzig 2007, S. 114. Vgl. Jünger, Wanderungen auf Rhodos, S. 5f.: »Die Verwüstungen, die durch Krieg, Brand, Erdbeben und den Abtransport von über hunderttausend Griechen, die der Vertrag von Sèvres austrieb, entstanden sind, können dem Auge nicht entgehen. Der Brandschutt und die Trümmer sind zwar weggeräumt, aber die klaffenden Lücken blieben, es entstanden leere Räume. […] Das türkische Izmir hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem alten Smyrna, das nördlich davon an der Bucht von Burnova lag, und durch seine Lage allein ähnelt es dem Smyrna des Pagos, an dessen Stelle es jetzt liegt.« Ebd., S. 6. Ebd., S. 12f.

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turkraft, die in ihrer Wildheit und Ursprünglichkeit beunruhigend wirkt. Rauschhafte Naturerfahrung geht so einher mit einer Wahrnehmung ungezähmter Wildheit, die innerhalb der Stadt hervorbricht.223 Die menschliche Geschichte ist ebenso wenig rational zu fassen und kann zudem keineswegs sinnlich erfahren werden. Der Anblick der Stadt Rhodos führt zu der Gewissheit, dass »kein Verstand des Menschen hinreicht, den Zeitraum zu durchdringen, den ein Jahrtausend umschließt«.224 Allerdings ist dieses Bewusstsein zunächst wenig verstörend. Dass die historischen Überreste in naturhafte Kontexte aufgehen, scheint ein Vorgang zu sein, der sich rationalen Wertungen entzieht. Problematisch wird allein der obsessive Versuch, diesen Vorgang aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Er verdeutlicht menschliche Hybris. Die Arbeit der Archäologen, die auf der Akropolis von Lindos arbeiten, hat für Jünger »etwas Maulwurfartiges«.225 Die Wissenschaftler graben nicht nur, sie bauen auch wieder auf: Einige Säulen reckten sich schon wieder in die Luft, andere entstanden mit Hilfe künstlicher Bindemittel. Das freie Spiel der Einbildungskraft kann bei solchen Unternehmen nicht ganz ausgeschaltet werden, und oft waltet es, wenn man den Zweck betrachtet, in bedenklicher Weise vor.226

Bedenklich ist diese moderne Selbsttäuschung wohl vor allem deshalb, da sie die Illusion von Kontinuität erweckt, einer Kontinuität, die doch von vornherein Illusion und Konstruktion bleiben muss. Diese Kritik betrifft nicht nur die antiken Tempel von Lindos, sondern auch die mittelalterliche Kathedrale der Stadt Rhodos. Den Bau, eine museale Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts, zudem an anderer Stelle als die abgebrannte Kirche errichtet, wertet Jünger gar als sinnentleerte Fälschung: Das Bedenkliche eines solchen Unternehmens ist nicht zu verkennen, denn was hat dieser Neubau mit jener alten, dem Geiste der Ritterschaft entsprungenen Kirche zu schaffen? Es gibt kein großes Gebäude ohne große Bestimmung, und diese Bestimmung läßt sich nicht wiederholen, kein Steinbaukasten der Welt kann sie wieder herbeischaffen.227

Was also unmöglich wiedergewonnen werden kann, ist der geistige Gehalt dieser Bauten. Indem sie renoviert oder neu aufgebaut werden, verlieren sie sowohl ihren Sitz im Leben als auch ihre Aura als Kunstwerk. Wenn, wie es 223

224 225 226 227

Vgl. auch Friedrich Georg Jünger, »Der Mohn« [1934], in: Ders., Sämtliche Gedichte I, Stuttgart 1985, S. 44f. Jünger, Wanderungen auf Rhodos, S. 14. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 38.

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auf Rhodos geschieht, Renovierung und Rekonstruktion der Förderung des Tourismus dienen, ist dies für Friedrich Georg Jünger besonders zu verurteilen, bedeutet dies doch eine Preisgabe der Tradition an modernen Materialismus. Die Renovierung bedeutet zudem immer auch einen Verlust der Authentizität, indem sie Alterungsspuren verschwinden lässt und so letztlich die Illusion von Zeitlosigkeit schafft. Die Renovierungsmaßnahmen löschen »Schritt um Schritt einen Hauch jener Größe aus, der dieses im Licht atmende Gemäuer umschwebt«.228 Gerade indem auf der Insel Rhodos die Überreste der Vergangenheit konserviert werden, verlieren sie ihren Sinn und bleiben Requisite in einer modernen, sinnentleerten Gesellschaft: Die Säuberung und Herrichtung der Insel zielt darauf ab, ein Schmuck- und Schaustück aus ihr zu machen, ein Panorama, innerhalb dessen das Vergangene als Kulisse verwertet wird. Jener Geist eines unerbittlichen, mechanisch gewordenen Ordnungsbedürfnisses, welcher der Technik eigentümlich ist, bemächtigt sich auch dieses still gewordenen Eilands und weist ihm den Platz an, den es noch auszufüllen vermag, den Platz eines Unternehmens innerhalb der gewinnbringenden Fremdenindustrie.229

So ist auch das vermeintlich friedliche und urtümliche Rhodos wie das amerikanisierte Izmir von den menschenfeindlichen Auswirkungen der Moderne betroffen. Zu diesen gehört auch der Tourismus, dessen Anforderungen das Ursprüngliche mehr und mehr verschwinden lassen. Diese hellsichtige Passage gehört in den Kontext von Friedrich Georg Jüngers umfassender Technikkritik,230 die gerade seit den 1940er Jahren das Werk des Autors zunehmend bestimmt. Wie er in dem Essay Die tote Zeit (1940) hervorhebt, überwiegen die negativen Folgen des technischen Fortschritts:231 Sie [die Macht, die der Mensch durch die Technik erhält] wird bezahlt durch die Verödung des geistigen Lebens, die überall um sich greift, wo die Mechanik erweitert wird. Es ist gut, wenn man alle Illusionen über die Segnungen der Technik fahren läßt, vor allem aber die Illusionen des ruhigen Glücks, die man mit ihr verbindet. Sie verfügt über kein Füllhorn.232 228 229 230

231

232

Ebd., S. 39. Ebd. Vgl. dazu Anton H. Richter, A Thematic Approach to the Works of F. G. Jünger, Frankfurt am Main u. a. 1982, S. 58–87; Geyer, Friedrich Georg Jünger, S. 105–107. Vgl. Friedrich Georg Jünger, »Die tote Zeit«, in: Corona 10 (1940), H. 1, S. 29–48, hier S. 41: »Die elementare Natur und der Mechanismus, der von der Geistigkeit und dem Willen des Menschen gesteuert wird, stoßen aufeinander, und das Ergebnis ist ein Akt der Unterwerfung, durch den elementare Kräfte in Dienst gestellt werden. Ihrem freien Spiel wird auf eine gewaltsame Weise ein Ende gemacht.« Ebd., S. 48.

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Als Refugium angesichts zunehmender Technisierung, Vermassung und Verflachung bleibt zumindest in Jüngers Reisebericht die Natur, deren Erlebnis eine Erfahrung von Ewigkeit ermöglicht, eine vorzivilisatorische mythische Sphäre, in der sich »ein früher Märchenduft«233 erhalten hat. Gerade um die Mittagszeit ist die Landschaft der Insel Rhodos besonders eindrücklich und lebendig: »Der hohe Mittag ist von einer tiefen, lauschenden Stille. Sie ist nicht leer, denn wenn man sich ihrer bewußt wird, dann spürt man ein verborgenes, mächtiges Leben.«234 Nicht zufällig beschreibt Jünger hier die Mittagsstunde, die Stunde des panischen Schreckens. In seinem Essay Griechische Götter (1943) widmet sich der Autor besonders dem Hirtengott.235 Mit dem Ziel, die mittlerweile stereotype dualistische Sichtweise auf Dionysos und Apoll aufzubrechen,236 unterstreicht Jünger dort die Bedeutung Pans, dem eine vermittelnde Rolle zukommt. Sein Herrschaftsgebiet ist die Wildnis, die in Jüngers Sicht heilig ist.237 Wenn also der Autor in seinem Reisebericht die panische Natur darstellt, verweist dies auf ihre Heiligkeit; angesichts der von ihm beschworenen Technisierung wird allerdings auch klar, wie bedroht sie tatsächlich ist, kann doch die »Mißachtung dieser Heiligkeit«238 als »Signum der modernen Zeit«239 gelten. Friedrich Georg Jüngers Wanderungen auf Rhodos sind somit Kritik an einer fehlgeleiteten Moderne, die von ihren geistigen Ursprüngen unumkehrbar entfremdet ist und geradezu groteske Anstrengungen unternimmt, sich dieser wieder zu vergewissern. Für Jünger bleibt nur eine Möglichkeit der Kompensation, nämlich das Erlebnis der sakralisierten Natur, die allerdings auch 233 234 235

236

237

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Jünger, Wanderungen auf Rhodos, S. 31. Ebd., S. 43. Vgl. Friedrich Georg Jünger, Griechische Götter. Apollon – Pan – Dionysos, Frankfurt am Main 1943. – Vgl. zu Jüngers Essay Geyer, Friedrich Georg Jünger, S. 108–111. Siehe zur Bedeutung der Wildnis Richter, A Thematic Approach to the Works of F. G. Jünger, S. 17–20. Vgl. Jünger, Griechische Götter, S. 5: »Die Abgrenzung des Apollinischen und Dionysischen, wie sie heute geläufig ist, erweckt leicht eine schiefe Vorstellung; es entsteht mit ihr ein Dualismus, von dem die Mythe nichts weiß.« Vgl. ebd.: »Wenn wir das Ohr an die Erde legen, werden wir manches hören, vielleicht gar jene panische Stimme der Natur, die den meisten fremd und unverständlich klingt. Pan ist einer der Götter, denen wir eine erneuerte Verehrung schulden, denn er ist der Gott, der an den Grenzen sichtbar wird, die gegenüber der Wildnis gezogen sind. Wildnis! Auch über ihren Bereich wird uns die Mythe Auskunft erteilen.« Geyer, Friedrich Georg Jünger, S. 109. Ebd., S. 109f.

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der Bedrohung durch die Moderne unterliegt. Dabei findet sich in diesem radikal fortschrittsfeindlichen Text – anders als in anderen Werken des Autors – kaum ein Verweis auf aktuelle politische Geschehnisse, er ist »weitgehend frei von politischen Inhalten. Die Bedrohungen durch die nationalsozialistische Diktatur und den Zweiten Weltkrieg […] sind hier gänzlich ausgespart.«240 Darin unterscheidet sich sein Text von dem Reisebericht seines Bruders über dieselbe Reise, der freilich erst 1948 publiziert wurde. Ernst Jünger schildert in dem Essay Inselfrühling die Mittelmeerreise explizit als Flucht aus dem bedrückenden geistigen Klima des nationalsozialistischen Deutschlands. So heißt es gleich zu Beginn des Textes bei der Schilderung des Grenzübertritts in die Schweiz: »Man steigt in die alte, demokratische Welt wie in ein laues und angenehmes Bad.«241 Solche direkten Anspielungen finden sich in den während des Krieges veröffentlichten Wanderungen auf Rhodos selbstverständlich nicht. Sie können als programmatisches Dokument der Innerlichkeit gelesen werden, als ein pessimistischer Versuch ihres Autors, sich angesichts widrigster Zeitumstände völlig auf sich selbst zurückzuziehen. Die griechische Antike ist hierbei von scheinbar untergeordneter Bedeutung, schließlich akzentuiert Jünger vor allem die Bedeutung der Natur. Dabei ist festzuhalten, dass sich für Friedrich Georg Jünger gerade die antike Kultur durch ihre beispielhafte Nähe zur Natur auszeichnete und vor diesem Hintergrund als mahnendes Korrektiv für eine von Verlusterfahrungen geprägte Moderne gelten kann.242 Diese Technikkritik wird auch in etlichen Reiseberichten der Nachkriegszeit eine wesentliche Rolle spielen; Erhart Kästner und insbesondere 240

241

242

Ebd., S. 115. Eine andere Position vertritt Ralf Schnell, Literarische Innere Emigration 1933–1945, Stuttgart 1976, S. 90–94. Schnell sieht in Jüngers Essay nicht nur eskapistische Züge, sondern auch einen Protest gegen den faschistischen Staat: »Jüngers Bild einer faschisierten, bürokratisch beherrschten Gesellschaft ist im Protest des Essays Griechische Götter gegen die Erscheinungsformen einer durchrationalisierten, verplanten, technokratischen Welt und ihre politischen Konsequenzen der Expansion, der Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung präformiert.« (Ebd., S. 94). Ernst Jünger, Ein Inselfrühling. Ein Tagebuch aus Rhodos. Mit den sizilianischen Tagebuchblättern »Aus der goldenen Muschel«, Zürich 1948, S. 7. Vgl. Ders., Drei Mal Rhodos. Die Reisen 1938, 1964 und 1981, hrsg. v. Lutz Hagestedt u. Luise Michaelsen, Marbach am Neckar 2010 (Aus dem Archiv; 2). Vgl. auch Lutz Hagestedt, »Zweimal Rhodos. Die Reisezeugnisse Ernst und Friedrich Georg Jüngers«, in: Günter Figal/Georg Knapp (Hrsg.), Autorschaft – Zeit, Tübingen 2010 (Jünger-Studien; 4), S. 73–97. Vgl. Richter, A Thematic Approach to the Works of F. G. Jünger, S. 9: »F. G. Jünger sees the essence of Greek and Roman antiquity in the closeness to nature, in the glorification of the elemental, and in the creation of an eternally valid view of man.«

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Martin Heidegger entwickeln Positionen, die von ähnlichen Prämissen und Beobachtungen ausgehen, wie sie Friedrich Georg Jünger in seinen Wanderungen auf Rhodos artikuliert.243 2.3.4.

Fazit

Die Reiseberichte von Ernst Wilhelm Eschmann und Friedrich Georg Jünger demonstrieren verschiedene Ausprägungen konservativen Schreibens über Griechenland. Im Gegensatz zu der Affirmation nationalsozialistischen Gedankenguts, die die Texte von Wiskott und Hauser bestimmt, bieten sie ein komplexeres Bild. So kann die Kritik an Zivilisation, Vermassung und Technisierung bei Eschmann einerseits als implizite Faschismus-Kritik gelesen werden, andererseits aber ebenso als Darstellung dessen, was der Faschismus zu überwinden habe. Der Vergleich mit Jünger, einem Autor, an dessen Ablehnung des Regimes kein Zweifel besteht, macht deutlich, wie wenig aussagekräftig diese Texte der Innerlichkeit für sich betrachtet sind, in wie hohem Maße unterschiedliche Rezeptionshaltungen des Lesers hier unterschiedlichste Deutungen ermöglichen, die der Text allesamt zulässt. Stefan Andres wiederum verwischt bewusst den Aussagegehalt seiner regimekritischen Reiseskizzen, um eindeutigen Festlegungen zu entgehen. Dass alle drei Autoren Griechenland als Bezugsgröße wählen, verdeutlicht wieder einmal die ungebrochene Attraktivität des klassischen Bildungsguts, das hier als Refugium für den zivilisationsgeschädigten modernen Menschen dargestellt wird. Die phänomenologische Annäherung an Natur und Überreste der Antike vermag zumindest zeitweise die Gespenster einer als bedrohlich empfundenen Moderne zu bannen. 2.4. Der Reisebericht als Medium rassistischer Agitation. Franz Spunda Auch Franz Spundas Reisebericht Griechenland. Fahrten zu den alten Göttern (1938) ist Ausdruck eines Krisenbewusstseins. In seinem Text manifestiert es sich vor allem in rassistischen Abwertungen. Er demonstriert beispielhaft, was an rassistischen Ausfällen auch in der Reiseliteratur üblich und möglich war.244 Der Österreicher Spunda gehörte in den Jahren vor dem sogenannten 243

244

Vgl. Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920–1960 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen; 24), Göttingen 2007. Seine früheren Griechenland-Bücher wurden bereits an anderer Stelle behandelt. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit.

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Anschluss Österreichs nationalsozialistischen Gruppierungen an, deren erklärtes Ziel es war, die österreichische Literaturszene systematisch zu unterwandern und so ihre Gleichschaltung vorzubereiten.245 Spunda war an diesen Aktionen an führender Stelle beteiligt,246 so im Bund deutscher Schriftsteller Österreichs,247 auch wenn apologetische Stellungnahmen der Nachkriegszeit seine angeblich antifaschistische Haltung behaupten.248 Seine Texte jedoch bieten ein anderes Bild.249 Bereits in der 1926 erschienenen Griechischen Reise finden sich Vorstellungen, die nicht nur rassistisch sind, sondern darüber hinaus mit Vernichtungsfantasien verbunden werden: Ich liebe die Bewohner Griechenlands, in denen ein Funke von Hellas doch noch weiterlebt: hier aber hasse ich sie. Man sollte das Schmutznest Thiwä niederbrennen, um den heiligen Namen Theben zu entsühnen.250

Bemerkenswert ist die Einschränkung in Bezug auf die modernen Griechen, die lediglich partiell als Nachfahren der Griechen des Altertums gelten können. Dabei ist Spundas Haltung den modernen Griechen gegenüber ambivalent. Bei aller behaupteten Liebe zu ihnen steht doch das Erlebnis der Antike für den Reisenden im Vordergrund. Dieses Erlebnis wird von den Spuren moderner Zivilisation und Urbanisierung nur behindert. Zudem geht Spunda von der weitgehenden Ausrottung des griechischen Blutes aus; Ausnahmen scheinen die Regel zu bestätigen: »Hier [auf Kreta] glückte es den Osmanen nicht, das arische Blut auszurotten.«251 Völlig ins Völkisch-Rassistische gewendet ist die 1938 im Insel-Verlag unter dem Titel Griechenland. Fahrten zu den alten Göttern veröffentlichte, wesentlich erweiterte Neuauflage von Spundas Griechenland-Buch.252 Sie bildet die Summe von Spundas Griechenland-Erfahrung. An etlichen Stellen ist die Chronologie der Ereignisse kaum auszumachen. Spunda verbindet mehrere 245

246 247

248 249

250 251 252

Vgl. dazu grundlegend Klaus Amann, Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte, Frankfurt am Main 1988. Vgl. ebd., S. 61. Vgl. Spundas Beitrag in der vom Bund deutscher Schriftsteller Österreichs anlässlich des Anschluss Österreichs herausgegebenen Schrift. Ders., »Sudetenland«, in: Bekenntnisbuch österreichischer Dichter, hrsg. vom Bund deutscher Schriftsteller Österreichs, Wien 1938, S. 96f. Vgl. Zimprich, »Franz Spunda und sein Werk«, S. 22. Auch seine fantastischen Romane sind von einem protofaschistischen und rassistischen Gedankengut geprägt. Vgl. Ruthner, Unheimliche Wiederkehr, S. 126. Spunda, Griechische Reise, S. 157. Ebd., S. 166. Vgl. Franz Spunda, Griechenland. Fahrten zu den alten Göttern, Leipzig 1938.

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Zeitebenen: Er schildert die beginnende Metaxas-Diktatur ebenso wie Begegnungen mit Theodor Däubler in den 1920er Jahren.253 In Spundas Griechenland erscheinen nicht mehr die modernen Griechen als störende Elemente, die das Reiseerlebnis beeinträchtigen, sondern die griechischen Juden. Aggressiv und verächtlich wendet sich der Autor gegen die jüdischen Bewohner Griechenlands und gebraucht dabei sämtliche antisemitischen Stereotype. So beschreibt Spunda das Ghetto des nordgriechischen Werria in einer Sprache, die ihre Parallele in der nationalsozialistischen Hetzpresse, in Stürmer und Völkischem Beobachter findet: In den Haustüren kauern verwahrloste Judenkinder. Aus den Höhlungen riecht es nach Knoblauch und Zwiebeln. Die Juden von Werria sind Spaniolen, ihren Gesichtern fehlt der typische Ausdruck der Ostjuden, die bekannte Mischung von Unterwürfigkeit und Anmaßung. Ihre Bewegungen haben etwas Ausgeglichenes im Gegensatz zur nervösen Unrast ihrer Rassegenossen bei uns.254

Diese Ghettoszene reiht ein Stereotyp an das nächste: Die Juden leben wie die Tiere in stinkenden »Höhlungen«, sie sind schmutzig und vernachlässigt. Die Schilderung von Schmutz und Gestank geht in eine rassekundliche Betrachtung über, die mit einer Beschwörung der potentiellen Gefahren des Judentums verbunden ist: Im Gettozustand macht das Judentum einen harmlosen Eindruck. Doch wer kann erraten, was in Wirklichkeit in ihnen vorgeht? Eine alte Großmutter, die ihr Enkelkind entlaust, hat an unseren Worten erkannt, daß wir Deutsche sind, wirft uns einen gehässigen Blick zu und schließt die Tür vor uns.255

Dieser jüdische Deutschenhass ist angesichts der deutschen Repressionen gegen jüdische Bürger mehr als verständlich. Wahrscheinlich aber spielt Spunda hier auf den faschistischen Mythos von dem angeblich eingeborenen Hass der Juden auf alles Deutsche an. Hitler etwa formuliert in Mein Kampf, »der Jude [sei] heute der große Hetzer zur restlosen Zerstörung Deutschlands«.256 Bei der Darstellung des verfallenden Ghettos greift Spunda auf Muster vor allem aus der fantastischen Literatur zurück: Das Bethaus ist gesperrt. Der Blick vom oberen Tor, das durch einen Balken geschlossen werden kann, ist gespenstig. Alle die vertrackten Häuser in ihrem Auf253

254 255 256

Vgl. ebd., S. 184, S. 245 (Erwähnung von Theodor Däubler); ebd., S. 342: »[D]ie neue Militärdiktatur Metaxas hat den Auftrag gegeben, sofort alle Ausländer zu verhören, um alle kommunistischen Agenten fassen zu können. Nun, der Professor konnte bestätigen, daß wir gerade das Gegenteil von Bolschewiken sind.« Ebd., S. 340. Ebd. Hitler, Mein Kampf, S. 702, im Original gesperrt.

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lösungsprozeß wirken wie ein expressionistisches Bild. Jeden Augenblick kann ein Golem auftauchen.257

Das Adjektiv »gespenstig« verweist auf die Schauerliteratur. Auch die Beschreibung der Häuser, die in ihrem Verfall ein bizarres Bild geben, deutet auf vorgeprägte Muster, in diesem Fall auf expressionistische Gemälde. Der Weg zu den Dekorationen der Literaturverfilmungen der 1920er Jahre ist nicht weit. Assoziationen zu den verzerrten Häuserzeilen in der CaligariVerfilmung drängen sich geradezu auf. Überdeutlich wird Spunda, wenn er die Möglichkeit ins Auge fasst, es könne jederzeit »ein Golem auftauchen«. Der Text verweist hier auf den Roman von Gustav Meyrink, Spundas Förderer, aber auch auf dessen Verfilmung durch Paul Wegener, die eindrücklich in expressionistischen Bildern das Prager Ghetto inszenierte. Spunda zeichnet also das Ghetto als Kulisse eines Gruselfilms, einen unwirklichen Ort des Schreckens und des Verfalls. Dabei ist trotz aller weltanschaulichen Deutlichkeit die Faszination angesichts dieses Tableaus greifbar. Trotz dieses Gebrauchs von Stereotypen überwiegt aber der politische Impetus. Von rein ästhetischem Interesse kann keine Rede sein: Die stereotypen Beschreibungsmuster dienen vielmehr dazu, die Botschaft des Textes zu untermauern, der die Juden als geheimnisvolle Bedrohung von gleichsam übernatürlicher Kraft begreift. Zugleich wird die Beschreibung der verlassenen Synagoge zu einer Vorausdeutung auf das endgültige Verschwinden der Juden, die in Werria »als letzte Reste wie in einem Museum«258 wohnten. Diese Hoffnung teilt Spunda mit einem Einheimischen, der die antisemitischen Ansichten des Reisenden teilt und sich als begeisterter Anhänger des nationalsozialistischen Deutschlands zu erkennen gibt. Die deutschen Reisenden werden zu willkommenen Botschaftern einer neuen und wirkmächtigen Weltanschauung stilisiert, deren agitatorische Tätigkeit von vielen Einheimischen begrüßt wird. So schildert Spunda die Verbrüderung mit dem griechischen Faschisten, einem Professor, der viel von der Hitler-Jugend gehört hat und etwas Ähnliches in Werria einführen möchte. Er hat schon eine Musikkapelle aus Schülern beisammen und will SA.-Märsche spielen lassen. Leider hat er keine Noten. Dem Manne kann geholfen werden. Wir notieren seine Anschrift und versprechen, ihm das Gewünschte zu schicken.259

Selbstverständlich erklären sich die deutschen Reisenden sofort bereit, den Gesinnungsgenossen mit entsprechendem Material zu versorgen. Bald ent257 258 259

Spunda, Griechenland, S. 340. Ebd. Ebd., S. 340f.

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spinnt sich ein politisches Gespräch: »Wir erzählen vom Getto und kommen auf die Judenfrage zu sprechen, wobei es sich herausstellt, daß er im Selbstunterricht Deutsch lernt, um die Bücher des neuen Deutschlands lesen zu können.«260 Der griechische Gymnasiallehrer warnt vor den Aktivitäten der jüdischen Advokaten, die allesamt »kommunistische Hetzer«261 seien, ja er geht so weit, sie namentlich zu denunzieren.262 Ganz im Einklang mit der nationalsozialistischen Ideologie steht die Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus. Hitler erklärt in Mein Kampf, der russische Bolschewismus sei der »im zwanzigsten Jahrhundert unternommene Versuch des Judentums […], sich die Weltherrschaft anzueignen«.263 Indem Spunda die nationalsozialistische Botschaft einem gebildeten Griechen in den Mund legt, verdeutlicht er die vermeintlich große Nachfrage nach ideologischer Unterstützung. Zugleich erscheint der Kampf gegen Judentum und Bolschewismus als ein internationales Anliegen. Deutschland hat darin die Vorreiterrolle übernommen, kann sich aber der Unterstützung in aller Welt sicher sein. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu ironisch, dass die deutschen Reisenden als angebliche Kommunisten festgenommen werden – mit der schlagenden Erklärung, sie hätten »die Juden nicht belästigt«.264 Deshalb sei eindeutig, dass sie »nur Bolschewiken sein [könnten], die mit den Juden sympathisieren«.265 Spundas antisemitische Äußerungen dienen der Legitimation der NSRassenpolitik. Sie widerlegen eindrucksvoll Ludvík Václaveks Diktum, man finde »bei Spunda nie antisemitische Ausfälle«266. Auch an anderer Stelle in seinem Griechenland-Buch bringt Spunda sein Unbehagen zum Ausdruck, das ihn in der Gegenwart von Juden überkommt: In Thessaloniki beherrscht die »zweifelhafte Eleganz«267 sephardischer Juden das Stadtbild der modernen Viertel – vor deren in »grellen Plakaten«268 angepriesenen Attraktionen schützt nur die Flucht in alte, unberührte Teile der Stadt. Hier wird Judentum mit Modernisierung gleichgesetzt, mit den nach Spundas Ansicht verderblichen Auswirkungen der Zivilisation. 260 261 262 263 264 265 266

267 268

Ebd., S. 341. Ebd. Ebd. Hitler, Mein Kampf, S. 751, im Original gesperrt. Spunda, Griechenland, S. 342. Ebd. Václavek, »Wodurch hat Franz Spunda die deutschsprachige Literatur bereichert?«, S. 27. Spunda, Griechenland, S. 358. Ebd.

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Ein Blick auf einen anderen, ebenfalls nationalsozialistisch geprägten Reisebericht verdeutlicht, dass Spundas antisemitische Hetze offensichtlich ureigenes Anliegen des Autors ist. So erwähnt Franz Kuypers in seinem Buch Griechenland (1935) ebenso wie Spunda die zahlreiche jüdische Bevölkerung von Thessaloniki. Doch während Spunda sie für die zersetzende Modernität der Großstadt verantwortlich macht, sind sie für Kuypers im Gegenteil die Bewahrer eines Geschichtsbewusstseins, das der »neuzeitlichen Handelsmetropole«269 sonst abgehe: »Hier sind es Menschen, die eine geschichtliche Epoche lebendig erhalten: Juden.«270 Die jüdische Bevölkerung, die Kuypers als Träger von Handel, Medizin und Kultur darstellt, habe »die türkisch gewordene Stadt zu einem Klein-Jerusalem gemacht«.271 Diese bewusst zurückhaltenden Passagen machen deutlich, dass Spundas Agitation im Rahmen der Reiseliteratur ein Höchstmaß an Ideologisierung darstellt. Spunda zeigt ein zerrissenes Griechenland, das am Rande des Bürgerkriegs steht und einer permanenten kommunistischen und jüdischen Bedrohung ausgesetzt scheint. Nicht zufällig verweist er auf das Beispiel Spaniens und unterstreicht die Parallelen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem von General Metaxas diktatorisch beherrschten Griechenland.272 Diese Parallelführung entspricht der offiziellen Linie der 1930er Jahre; auch in dem Sammelband Unsterbliches Hellas werden die Affinitäten zwischen den Systemen herausgestellt, wenn etwa eine Bildunterschrift Metaxas attestiert, er leite »die politischen Geschicke Griechenlands autoritär und mit bewundernswertem Erfolg«.273

269 270 271 272

273

Franz Kuypers, Griechenland, München 1935, S. 181. Ebd. Ebd., S. 181f. Vgl. zur autoritären Herrschaft Metaxas’ in Griechenland Jon V. Kofas, Authoritarianism in Greece. The Metaxas Regime, New York 1983; P. J. Vatikiotis, Popular Autocracy in Greece 1936–41. A Political Biography of General Ioannis Metaxas, London/Portland 1998. Bei aller Ähnlichkeit mit den faschistischen Regierungen in Deutschland und Italien – Metaxas proklamierte eine dritte griechische Zivilisation, regierte autoritär und verfolgte Kommunisten und Andersdenkende (vgl. Kofas, Authoritarianism in Greece, bes. S. 42–97) –, lassen sich doch auch die Unterschiede nicht leugnen (vgl. Vatikiotis, Popular Autocracy in Greece, S. 185–195); so verfolgte Metaxas keine rassistische Politik, ja er sprach offiziell den griechischen Juden seine Wertschätzung aus. Vgl. dazu Hagen Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941–1944 (Okkupation – Resistance – Kollaboration), 2 Bde., Frankfurt am Main u. a. 1986 (Studien zur Geschichte Südosteuropas, Bd. 2), Bd. 1, S. 364. Kriekoukis/Bömer (Hrsg.), Unsterbliches Hellas, nach S. 16 (Unterschrift zu Abb. 1).

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So kommt aus der Perspektive Spundas dem nationalsozialistischen Reisenden eine politische Aufgabe zu, nämlich die des Propagandisten und Vorbilds, aber auch des tröstenden Freundes, der auf die künftige Überwindung des Bolschewismus durch das wiedererstarkte Deutschland deuten kann. Diese Konstellation beschreibt Spunda anhand eines Besuchs in einem russisch-orthodoxen Mönchskloster auf dem Berg Athos: Nur einer von ihnen, ein rotblonder Hüne, fragt mich aus, ob der Antichrist, der Bolschewismus, in Deutschland wirklich ausgerottet ist. Ich erzähle ihm von Hitler. Wie seine Augen dabei glänzen! »Wann endlich bricht das geeinigte christliche Europa auf, um den roten Unhold zu vertilgen?« Sein Ingrimm ist verständlich, denn seine ganze Familie wurde von Rotgardisten ermordet, er selbst trägt die Narbe eines Schusses am Arm.274

Durch diese Integration in religiöse Beschreibungsmuster erklärt Spunda den Kampf gegen den Kommunismus zu einer gemeineuropäischen Angelegenheit; wenn sogar die asketisch und zurückgezogen lebenden Mönche den Kampf gegen den Kommunismus aufnehmen wollen, so wird dadurch Hitlers Politik zu einem letztlich auf christlichen Werten basierenden Kreuzzug verherrlicht. Als metaphysisch überhöhter Heilsbringer kann allein er das christliche Abendland gegen die kommunistische Bedrohung vereinen. Auch Spundas Bild der Antike steht nicht im Gegensatz zu seinen rassistischen und faschistischen Positionen. Es ist ohne weiteres mit der nationalsozialistischen Ideologie vereinbar. Für den Autor offenbart sich das Wesen des Griechischen auf Kreta,275 gerade weil dort der Ursprung der griechischen und damit der gesamten europäischen Kultur liege. Der Kampf von Theseus gegen den Minotaurus steht sinnbildlich für diesen Umstand: Alles, was Europa ist, hat hier seinen Ursprung genommen. Eine neue Ordnung der Welt hob an, die sich aber noch lange in Kämpfen durchsetzen mußte, bis Tier und Mensch vollständig voneinander geschieden waren, bis der Heiland Theseus das Menschentier Minotaurus endgültig niederrang.276

Auch hier entwickelt Spunda messianische Vorstellungen. Es geht um nichts weniger als die Etablierung einer neuen Weltordnung durch einen »Heiland«, der erst dem eigentlich Menschlichen zum Sieg verhilft. Die minoische Kultur ist für Spunda von »asiatischer Zügellosigkeit«277 bestimmt, ihre Kunst

274 275 276 277

Spunda, Griechenland, S. 344f. Ebd., S. 256. Ebd., S. 260. Ebd., S. 269.

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zumindest teilweise von »moderner Verderbtheit«.278 Angesichts der rätselhaften Überreste dieser Kultur überkommt den Reisenden ein übermächtiges Angstgefühl, das aber, wie Spunda behauptet, der Angst der Griechen vor der kretischen Zivilisation gleiche: Und mir wird plötzlich bewußt: die Schimäre. Der erste Grieche, der die minoische Welt erblickte, war durch diesen Anblick ebenso erschreckt, wie ich es bin. Wir alle können gar nicht anders als mit griechischen Augen sehen, das ist die lebendigste Erbschaft Griechenlands an uns; und dies erklärt sich aus der gleichen arischen Wurzel von Germanien und Hellas. Der Blick auf den grünübersponnenen Kupferschild war ein Blick in die vorarische, chaotische Welt. Die Griechen als höhere Rasse hatten die Welt von den Schrecken der halbtierischen Stierzeit gereinigt, ihre Weltgeltung beruht in ihrem unerbittlichen Kampf gegen jeden Asiatismus, in welcher Form auch immer. Da gab es keine Schonung: Theseus mußte den Stiergott erschlagen. Und jetzt begann erst wirkliches Menschentum.279

Einzig eine höherwertige arische Rasse ist für Spunda in der Lage, das Chaos zu überwinden und Ordnung zu etablieren. Diese Überwindung bedeutet zugleich einen Kampf gegen asiatische Untermenschen. Spundas Kulturbetrachtung ähnelt deutlich den ideologischen Entwürfen von Alfred Rosenberg. Bezeichnenderweise erschließt sich Spunda die Gewissheit intuitiv und vorrational – ganz wie in den okkultistischen Schauerromanen. Diese Offenbarung der Bedeutung der arischen Rasse scheidet zwischen höheren und niederen Rassen, denen in letzter Konsequenz ihr »Menschentum«280 abgesprochen wird. Ähnliche Schemata der Kulturentwicklung von einer irdischen Gebundenheit hin zur Veredelung und Vergeistigung finden sich in der Literatur über Griechenland besonders bei Theodor Däubler, von dem Spunda deutlich beeinflusst wurde. Doch während Däubler in seinem mythischen Weltentwurf, besonders im Essay Delos, diesen Prozess der Vergeistigung nicht an rassische Vorbedingungen knüpft, ist für Spunda klar, dass lediglich eine bevorzugte arische Rasse diesen Prozess initiieren und vollziehen kann. Indem er auf die Positionen Däublers zurückgreift und diese ideologisch vereinnahmt und simplifiziert, gewinnen diese einen politischen Gehalt, der den Entwürfen Däublers völlig fern steht. 278

279 280

Ebd., S. 275: »Dort wieder ein Frauenprofil mit geschminkten Lippen und rasierten Augenbrauen, im Ausdruck von moderner Verderbtheit, die verblüfft.« In Spundas Griechischer Reise von 1926 ist die Rede von einem »Frauenprofil von einer raffinierten Modernität, die verblüfft.« (Spunda, Griechische Reise, S. 192). Ebd., S. 276. Ebd.

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Der Gedanke einer Überwindung des Chaos durch die Ordnung ist zentral für Spundas teleologische Betrachtung der Kulturentwicklung. Der nationalsozialistische Kampf gegen Judentum und Bolschewismus entspricht so dem mythischen Kampf des griechischen Nationalhelden Theseus, den Spunda auch in dem Roman Minos (1931) entsprechend darstellt.281 Dort gestaltet Spunda eben dieses Rassenkampfmodell literarisch – ein deutliches Anzeichen dafür, dass es für Spundas Denken zentrale Bedeutung besitzt. Hinzu kommen deutliche Anklänge an Nietzsches Vorstellung vom dionysischen Urgrund der griechischen Kultur: Wie für den Philosophen ist für Spunda die Erfahrung eines tiefen Erschreckens die Basis für die Leistungen der Griechen. Doch während bei Nietzsche dieser dionysische Urgrund letztlich eine anthropologische Konstante ist, lebt bei Spunda die griechische Kultur von ihrer Überwindung des »Asiatismus«,282 also einer rassistischen Kategorie. Statt Domestizierung geht es um Unterwerfung, einen endgültigen Sieg, dessen Opfer für Spunda vernachlässigbar sind. Die Reise nach Griechenland wird somit zu einer Offenbarung ewiger Wahrheiten, zu einer geistigen Aufrüstung für ein im kontinuierlichen Kampf um die »Reinigung«283 des Individuums verbrachtes Leben: »So ist das Ergebnis jeder Hellasfahrt für uns zwiefach: die Gewinnung eines naturhaften Weltgefühls und der Mut, die errungene Weisheit in einem heldischen Leben durchzusetzen.«284 Spundas Reisebericht enthält in großer Prägnanz völkische Diskurse. Die Antike dient dabei als Legitimation der nationalsozialistischen Ideologie. Vor ihrem Hintergrund erscheint der faschistische Staat als religiös überhöhte Erfüllung eines arischen Vervollkommnungsprozesses. Auch die griechische Gegenwart bezieht Spunda auf deutsche Zustände, wobei der Reisebericht teilweise zur antisemitischen Hetzschrift wird. Überhaupt enthält sein Griechenland-Buch ein in der Reiseliteratur über Griechenland nicht mehr erreichtes Maß an aggressiver antisemitischer Propaganda, die auf keinerlei Systemzwänge zurückzuführen ist. Spunda ist sicherlich Überzeugungstäter; gerade das Schreiben über Griechenland hätte (wie die Texte von Friedrich Georg Jünger oder Stefan Andres zeigen) die Möglichkeit geboten, sich den Anforderungen der nationalsozialistischen Literaturpolitik zumindest teilweise zu entziehen. 281

282 283 284

Vgl. Franz Spunda, Minos oder die Geburt Europas [1931], Berlin u. a. 1944. Vgl. zur Rezeption der minoischen Kultur Theodore Ziolkowski, Minos and the Moderns. Cretan Myth in Twentieth-Century Literature and Art, New York u. a. 2008. Spunda, Griechenland, S. 276. Ebd., S. 410. Ebd.

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3.

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In den Kriegsjahren entsteht eine Vielzahl von Texten über Griechenland. Gerade die deutsche Besatzung des Landes bringt ein vermehrtes Interesse an Literatur über Griechenland mit sich. Zudem schaffen Krieg und Besatzungsherrschaft für die Entstehung solcher Texte scheinbar ideale Bedingungen. Die Bandbreite der im Auftrag der Wehrmacht entstandenen Publikationen reicht dabei von Zeitungsartikeln und historischen Abhandlungen bis hin zur Reiseliteratur im engeren Sinn. Neben diesen sind ältere Texte noch bzw. wieder auf dem Buchmarkt präsent. Immer greifbar sind Hauptmanns Griechischer Frühling und Isolde Kurz’ Wandertage in Hellas. Wiskotts Olympia-Buch erlebt eine neue Auflage, die gerade mit dem wegen des deutschen Angriffs auf Griechenland wieder gewachsenen Interesse gerechtfertigt wird.285 Diese Reiseberichte stehen denjenigen gegenüber, die tatsächlich unter Bedingungen des Krieges verfasst wurden, eines Krieges, der gerade auch für Griechenland verheerende Auswirkungen hatte. Zumeist werden diese Texte von Wehrmachtsangehörigen verfasst. Sie entstehen mit klar umrissenem Propagandaauftrag. Dies bezeugen die zahlreichen Soldatenzeitungen wie Raubadler von Hellas oder Veste Kreta, die im Wehrmachtsauftrag entstandenen Monographien wie der Sammelband Der Peloponnes,286 aber auch Reiseberichte wie Erhart Kästners Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege 287 oder G. J. Grafs Wir marschieren gegen Griechenland.288 Diese Texte sind systematischer Teil der deutschen Propaganda. Erklärtes Ziel ist es, durch sie einerseits die Besatzungssoldaten zu unterhalten und sie dabei über das besetzte Land zu informieren,289 andererseits die deutsche Zivilbevölkerung an den Eroberungszügen der Wehrmacht teilhaben zu las-

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Vgl. Wiskott, Griechenland im Auto erlebt, S. 7. Die Neuauflage sei auch deshalb zustande gekommen, »weil durch die jüngsten Kämpfe Griechenland erneut in unser Blickfeld gerückt ist«. Der Peloponnes. Landschaft – Geschichte – Kunststätten. Von Soldaten für Soldaten. Herausgegeben von einem Generalkommando, Athen 1944. Vgl. Erhart Kästner, Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege, Berlin 1943. Vgl. G. J. Graf, Wir marschieren gegen Griechenland. Erlebnisse eines Infanterie-Geschützzuges vor und während des Einsatzes in Griechenland, Saarlautern [ ! ] 1942. Vgl. das Geleitwort von General Felmy in: Der Peloponnes, S. 5: »Euer Soldatenleben spielt sich ab auf wahrhaft historischem Boden! […] Wer erblickt in diesem Spiegel der Geschichte nicht das Schicksal der eigenen Nation?«

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sen. Dass diese Texte auch außerhalb der Wehrmacht gefragt waren, verdeutlicht ihre doppelte Rezeption als identitätsstiftendes Erinnerungsbuch und traditioneller Reisebericht, der die Daheimgebliebenen über einen fremden Landstrich informiert. 3.1. Griechenland im Zweiten Weltkrieg Als am 28. Oktober 1940 Italien Griechenland den Krieg erklärte, wurde allgemein von einem raschen italienischen Sieg ausgegangen.290 Allerdings konnten die Griechen den Angriff der italienischen Truppen erfolgreich abwehren, ja diese sogar nach Albanien zurückdrängen. Das militärische Scheitern Mussolinis veranlasste Deutschland, in den Krieg gegen Griechenland einzutreten. Nach monatelangen Vorbereitungen griff das Deutsche Reich am 6. April 1941 Griechenland und Jugoslawien an; bereits am 30. April war die Einnahme des Festlands und der Peloponnes abgeschlossen. Am 1. Juni war auch das heftig umkämpfte Kreta unter deutscher Kontrolle. In Athen hatte sich eine Kollaborationsregierung gebildet;291 der griechische König ging nach Kairo ins Exil. Der Großteil des besetzten Landes stand zunächst unter italienischer Besatzung, während sich die Wehrmacht etliche Punkte von strategischer Bedeutung vorbehielt. Dies änderte sich mit der italienischen Kapitulation. Seit dem Spätsommer 1943 kontrollierten deutsche Truppen alle Besatzungszonen. Mit zunehmender Verschlechterung der militärischen Lage, insbesondere provoziert durch den Abfall Rumäniens am 23. August 1944, wurde ein Rückzug aus Griechenland unausweichlich, der ab September 1944 durchgeführt wurde und am 2. November abgeschlossen war. Auf den Inseln der Ägäis blieben sogenannte Restbesatzungen zurück, die allerdings keinerlei militärischen Handlungsspielraum mehr besaßen. An den Abzug

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Vgl. für den folgenden Überblick insbesondere Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte; Heinz A. Richter, Griechenland im Zweiten Weltkrieg, Mannheim 1997 (Peleus; 2); Kaspar Dreidoppel, Der griechische Dämon. Widerstand und Bürgerkrieg im besetzten Griechenland 1941–1944, Wiesbaden 2009 (Balkanologische Veröffentlichungen; 46); Mark Mazower, Inside Hitler’s Greece. The Experience of Occupation, 1941–44, New Haven/London 1993. Vgl. Konstantin Loulos, »Politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte der Kollaboration in Griechenland 1941–1944«, in: Werner Röhr (Hrsg.), Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration (1938–1945). Beiträge zu Konzeption und Praxis der Kollaboration in der deutschen Okkupationspolitik, Berlin/Heidelberg 1994, S. 396–414.

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der Besatzungsmächte schloss sich der blutige Bürgerkrieg an, der erst 1949 beendet wurde und das Land folgenreich spaltete.292 Auch wenn zunächst dem griechischen Volk die Wertschätzung der Besatzer versichert wurde,293 so bot doch die Lage im besetzten Griechenland ein völlig anderes Bild. Im Winter 1941 auf 1942 forderte eine insbesondere in Athen spürbare Hungerkatastrophe wohl an die 100 000 Menschenleben;294 Untergrundbewegungen – zu nennen sind hier insbesondere die kommunistische ELAS (Ellinikos Laikos Apeleftherotikos Stratos, Griechische Volksbefreiungsarmee) und die bürgerliche EDES (Ethnikos Dimokratikos Ellinikos Syndesmos, Nationale Republikanische Griechische Liga) – führten mit Unterstützung der Alliierten einen erfolgreichen Partisanenkrieg gegen die Besatzer: So kontrollierten im Winter 1943/44 Partisanen fast vier Fünftel des Landes. Von deutscher Seite wurde der griechische Befreiungskampf durch heftige Repressionen erwidert.295 Bereits seit August 1941 sind erste Erschie292

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Vgl. zum griechischen Bürgerkrieg Philip Carabott/Thanasis D. Sfikas (Hrsg.), The Greek Civil War. Essays on a Conflict of Exceptionalism and Silences, Aldershot u. a. 2004 (Centre for Hellenic Studies, King’s College London; 6). Vgl. Adolf Hitler, »Der Führer vor dem Reichstag. Berlin, 4. Mai 1941«, in: Ders., Der großdeutsche Freiheitskampf, Bd. 3. Reden Adolf Hitlers vom 16. März 1941 bis 15. März 1942, München 1942, S. 21–48, bes. S. 29: »Es war für mich als Deutschen, der schon durch die Erziehung in seiner Jugend sowohl, als durch seinen späteren Lebensberuf eine tiefste Verehrung für die Kultur und Kunst eines Landes besaß, von dem einst das erste Licht menschlicher Schönheit und Würde ausging, sehr schwer und bitter, diese Entwicklung zu sehen und nichts dagegen unternehmen zu können.« Vgl. ebd., S. 44: »Dem besiegten, unglücklichen griechischen Volk gegenüber erfüllt uns aufrichtiges Mitleid. Es ist das Opfer seines Königs und einer kleinen verblendeten Führungsschicht. Es hat jedoch so tapfer gekämpft, daß ihm auch die Anerkennung seiner Feinde nicht versagt werden kann.« Die Angaben über die Anzahl der Toten variieren beträchtlich. Vgl. Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte, S. 117f. Vgl. Mazower, Inside Hitler’s Greece, S. 23–52, hier S. 41: »The BBC’s figure of 500,000 deaths in the winter of 1941–42 was clearly too high. But the final death toll from hunger throughout the occupation may not have been far short of that number. The Red Cross, which commissioned its own study, estimated that about 250,000 people had died directly or indirectly as a result of the famine between 1941 and 1943. Taking into account the shortfall in the number of births over the same period, it reckoned that the total population of Greece was at least 300,000 less by the end of the war than it would otherwise have been, as a result of food scarcity.« Vgl. Mark Mazower, »Militärische Gewalt und nationalsozialistische Werte. Die Wehrmacht in Griechenland 1941 bis 1944«, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944, Hamburg 1995, S. 157–190.

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ßungen von Zivilisten belegt, zahlreiche sogenannte Sühnemaßnahmen folgten. Bis Ende Juni 1944 wurden wohl 1339 Orte völlig oder zum Teil zerstört; andere Quellen berichten von 460 komplett vernichteten Ortschaften und etwa 30 000 Todesopfern der deutschen und italienischen Vergeltungsmaßnahmen,296 die nicht selten mit bestialischer Brutalität durchgeführt wurden.297 Während die italienischen Besatzer sich aktiv an der Rettung der griechischen Juden beteiligt hatten,298 wurde aus den vom Deutschen Reich besetzten Teilen Griechenlands ab März 1943 die jüdische Bevölkerung deportiert. Die bald darauf einsetzende deutsche Alleinherrschaft bedeutete den Tod von etwa 58 000 (von ungefähr 70 000) griechischen Juden.299 Die Politik der deutschen Besatzer zielte darauf ab, die Normalität vieler Lebensbereiche zu suggerieren. So wurden bald nach Einstellung der Kampfhandlungen die archäologischen Grabungen des DAI wieder aufgenommen.300 Auch die Betreuung der Soldaten sollte den Eindruck eines friedlichen Alltags erwecken. Zu nennen wäre hier die Organisation von so296

297 298 299 300

Vgl. Eberhard Rondholz, »›Schärfste Maßnahmen gegen die Banden sind notwendig …‹ Partisanenbekämpfung und Kriegsverbrechen in Griechenland. Aspekte der deutschen Okkupationspolitik 1941–1944«, in: Repression und Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung von Widerstands- und Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik; 14), Berlin/Göttingen 1997, S. 130–170, hier S. 161f. Vgl. ebd. Vgl. Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte, S. 364–368. Vgl. ebd., S. 368, sowie Mazower, Inside Hitler’s Greece, S. 235–261. Vgl. Julia Freifrau Hiller von Gaertringen, »Deutsche archäologische Unternehmungen im besetzten Griechenland 1941–1944«, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Athen 110 (1995), S. 461–490, hier S. 462f.: »Die Besetzung Griechenlands durch die Deutsche Wehrmacht im April/Mai 1941 eröffnete der deutschen Wissenschaft erweiterte Möglichkeiten für eine Forschungstätigkeit in Griechenland, zum einen, da unter der Besatzungsherrschaft keine Probleme mit einer Genehmigungspflicht seitens griechischer Behörden zu erwarten waren, zum anderen, da die Wehrmacht bereitwillig Personal und technisches Gerät für Forschungszwecke zur Verfügung stellte. Die Gelegenheit, unter derart vorteilhaften Umständen in einem fremden Land zu forschen, wurden [ ! ] von verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen bedenkenlos ausgenutzt. Zudem waren solche Forschungsunternehmungen, jedenfalls in den ersten Kriegsjahren, politisch geradezu erwünscht, erhoffte sich doch die nationalsozialistische Führung einen besonderen inneren wie äußeren Prestigegewinn, wenn sie auf diese Weise demonstrierte, daß das Dritte Reich auch und gerade im Krieg als Förderer der Wissenschaften aufzutreten vermochte. Politisch instrumentalisiert war solche Forschung somit allemal, auch wenn sie sich selbst als rein wissenschaftlich verstehen mochte.«

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genannten Dichterfahrten in Kriegsgebiete,301 aber auch eine Besatzungspolitik, die touristische Unternehmungen der Besatzungstruppen förderte und logistisch unterstützte. In Griechenland etwa organisierte die Ortskommandantur Athen Stadtführungen und Besichtigungen archäologischer Stätten,302 in Athen fanden Vorträge, Konzerte und Autorenlesungen statt, so dass ein Anschein von touristischer Normalität zumindest partiell gegeben war und von der Wehrmacht propagandistisch gefördert wurde.303 Mark Mazower hat in seiner wichtigen Studie über die Besatzungszeit darauf hingewiesen, dass Griechenland bei den Angehörigen der Wehrmacht ein beliebter Einsatzort war.304 Dies merkt man auch den Publikationen an, die teilweise den Eindruck von abenteuerlichen Urlaubsaufenthalten vermitteln. Wenn es zunächst befremdlich wirkt, bei diesen Texten von Reiseliteratur zu sprechen, so muss betont werden, dass die »Formen erzwungener Mobilität«,305 zu denen auch die Teilnahme am Krieg zählt, nicht per se als Reisen bezeichnet werden können, da ihnen die »Komponente der Freiwilligkeit«306 fehlt. Allerdings kommt es zu Grenzverschiebungen, die insbesondere die Wahrnehmung der Kriegsteilnehmer betreffen:307 Daß die erzwungenen und freiwilligen Reisen sich der gleichen technischen Mitteln [ ! ] bedienen, kann im Einzelfall in der Selbstwahrnehmung der Teilnehmer eine Verzerrung der Erfahrungskategorien hervorrufen. Speziell der Krieg wird gelegentlich als eine touristische Veranstaltung mißverstanden.308

Und tatsächlich folgen die Texte den Konventionen der Gattung des Reiseberichts, ohne dass sich dadurch etwas an der grundsätzlichen Fragwürdigkeit solcher Etappen- und Eroberungsliteratur ändern würde.309

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Brenner, »Schwierige Reisen«, S. 145. Julia Freifrau Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.« Studien zum literarischen Werk Erhart Kästners, Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Forschungen; 58), S. 129f. Vgl. hierzu ebd., S. 129–167. Vgl. Mazower, Inside Hitler’s Greece, S. 201. Brenner, »Schwierige Reisen«, S. 143. Ebd. Vgl. hierzu Klaus Latzel, »Tourismus und Gewalt. Kriegswahrnehmungen in Feldpostbriefen«, in: Heer/Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg, S. 447–459. Brenner, »Schwierige Reisen«, S. 144. Vgl. zum Zusammenhang von Krieg und Reisen ebd., S. 143–150.

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3.2. Krieg als Tourismus. Reiseberichte von Soldaten (G. J. Graf: Wir marschieren gegen Griechenland [1942]) Als Beispiel für die Verbindung von Krieg und touristischer Wahrnehmung kann das kleine Buch Wir marschieren gegen Griechenland des Oberleutnants G. J. Graf dienen, der den deutschen Feldzug als heroisches Abenteuer beschreibt. Nach der ausführlichen Schilderung von Schlachten, in denen sich die deutschen Soldaten heldenhaft bewähren – folgerichtig ist ein Höhepunkt des Buchs die Beschreibung einer Ordensverleihung310 –, steht die Darstellung der durchquerten und besetzten Landstriche, die aus touristischer Perspektive erfolgt: Der erste Anblick des Golfs von Saloniki und der an einem Berg gelegenen Stadt ist überwältigend. Man möchte sich stundenlang dort an das Ufer setzen und auf das blaue Meer hinausschauen. Kähne und kleine Fischerboote liegen im Hafen.311

Graf inszeniert hier eine Landschaftsbeschreibung, die so in jedem Reisebericht stehen könnte. Der schöne Anblick weckt den Wunsch zu verweilen und die idyllische Szenerie zu genießen. Die Gegend wirkt friedlich und einladend. Auch an anderer Stelle schildert Graf das Landschaftserlebnis der Soldaten. Dabei deutet kaum etwas darauf hin, dass es sich um Kriegsteilnehmer handelt. Der Eindruck ist der eines Badeurlaubs: Von unserem Dorfe genießt man einen herrlichen Ausblick auf Saloniki und den Olymp. Ich reite über die mit saftigem Grün bewachsenen Dünen an den Strand. Über mir wölbt sich der strahlende blaue Himmel, und vor mir liegt das große, weite Meer. Meine braven Männer tummeln sich im Sand oder baden. Sie suchen nach Muscheln, nach Quallen, nach verschiedenfarbigen Seerosen oder sonstigem Meeresgetier.312

Auch einige der von Kriegsteilnehmern angefertigten Fotografien, die dem Buch beigegeben sind, erwecken den Anschein einer Urlaubreise. So zeigen sie etwa Soldaten in Badehose am Strand313 oder den Gipfel des Olymp.314 Grafs Buch wird so zu einem Dokument der Erinnerung an einen Kriegszug, der sowohl abenteuerliche als auch vergnügliche Züge aufweist. Graf versucht, die Auswirkungen des Krieges so weit wie möglich zu marginalisieren. So schildert er ein Alltagsleben, das dem in Friedenszeiten nahe kommt: »In den Geschäften gibt es zu kaufen, was das Herz begehrt.«315 Die 310 311 312 313 314 315

Vgl. Graf, Wir marschieren gegen Griechenland, S. 114f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 115. Vgl. ebd., nach S. 104. Vgl. ebd., nach S. 112. Ebd., S. 103.

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Besatzungssoldaten bevölkern wie Touristen die Stadt, frequentieren gerne ihre Lokale und nehmen bereitwillig die Dienstleistungen der einheimischen Bevölkerung in Anspruch, wobei Graf keinen Zweifel daran aufkommen lässt, welche Beschäftigungen den Griechen angemessen sind: Mit Vergnügen beobachte ich einen blonden Soldaten, der in einem Korbsessel vor einem Kaffee an einem schön gedeckten Tischchen Platz genommen hat. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee, er zieht schmunzelnd und behaglich an einer Zigarette. Dabei schaut er dem regen Verkehr auf der Straße zu, während ein Junge ihm die Stiefel putzt.316

Der Soldat ist hier zu einem Konsumenten touristischer Güter geworden, der sich von den Strapazen der Eroberung erholt. An dem hierarchischen Gefälle, das ihn von den Einheimischen trennt, kann keinerlei Zweifel bestehen, auch wenn Graf mehrfach betont, die Griechen seien Opfer ihrer politischen Führung und nicht die eigentlichen Gegner des Deutschen Reichs.317 Zahlreiche Verweise auf klassisches Bildungsgut dienen außerdem dazu, durch den Rückgriff auf die Tradition die Eroberung Griechenlands zu legitimieren: Die Besten des Regiments sind für ihr großdeutsches Vaterland gefallen. Die stolzen Worte am Grabmal des Leonidas und seiner dreihundert Spartaner im Engpaß von Thermopylä passen mit geringer Änderung unvergleichlich schön als Inschrift über den Eingang dieser beiden Friedhöfe hier unten im fernen Griechenland: »Kamerad, kommst du nach Deutschland, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl!«318

Diese Gleichsetzung der deutschen Soldaten mit den im Krieg gegen die Perser gefallenen Spartanern dient zum einen der Heroisierung der Gefallenen, zum anderen der Legitimierung des deutschen Eroberungsfeldzugs als Akt der Landesverteidigung, was angesichts der tatsächlichen Verhältnisse absurd wirkt. Graf befindet sich hier im Einklang mit dem nationalsozialistischen Geschichtsbild. Helmut Berve etwa deutet die Schlacht bei den Ther316 317

318

Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 112: »Vor uns in südwestlicher Richtung liegt der schneebedeckte Olymp, auf dessen Spitze jetzt die deutsche Fahne weht. Zur Glanzzeit des alten Griechenlands wohnte droben auf dem Olymp der Göttervater Zeus mit seinen Göttern und Göttinnen. Was würden die alten griechischen Helden wohl sagen, wenn sie sehen könnten, wie australische und neuseeländische Truppen in Englands Diensten auf griechischem Boden kämpfen und soviel kostbares griechisches Blut für Englands Interessen nutzlos vergossen wird!« Ebd., S. 101.

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mopylen als Ereignis von geradezu metaphysischer Bedeutung, da das Opfer das spartanische Wesen verkläre.319 Bezeichnend für die touristische Ausrichtung von Grafs Buch ist das Bedauern, nicht mehr von den Sehenswürdigkeiten des Landes besuchen zu können, da das Regiment bald zurückbeordert werde: Unser Regiment wird nicht weiter nach Süden marschieren, obwohl wir alle die Stadt Larissa, die Mönchsrepublik auf dem Berge Athos, die Stadt Athen mit der Akropolis und den vielen Kunstdenkmälern aus der Geschichte des alten Hellas, den Hafen Piräus, die Thermopylen, die antike Stätte der olympischen Spiele und vieles andere gerne gesehen hätten.320

So tritt an Grafs propagandistischem Kriegsbuch in aller Deutlichkeit zutage, wie Merkmale der Reise- und Abenteuerliteratur ideologisch nutzbar gemacht werden können, wie schließlich der Krieg selbst als quasi-touristisches Ereignis kommensurabel gemacht werden kann. Der erholsame, aber leider zu kurze Aufenthalt in dem eroberten Land, der an einen Urlaub erinnert, erscheint auch als verdiente Belohnung für übermenschliche Anstrengungen, die denen der antiken Heroen entsprechen. 3.3. Propaganda und Flucht in die Idylle. Erhart Kästner: Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege (1942) Während Graf die Erholung in Griechenland als Krönung der Kriegsstrapazen darstellt und ein wesentlicher Schwerpunkt seines Textes auf der Schilderung der Kampfhandlungen liegt, beschreibt Erhart Kästner in Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege – ein Text, der allen Konventionen der Reiseliteratur entspricht – ausgedehnte Fahrten und Wanderungen durch das besetzte Land. Anders als die überwiegende Mehrzahl seiner Kameraden befand sich Kästner freiwillig in Griechenland: Der promovierte Germanist, Bibliothekar und zeitweilige Privatsekretär von Gerhart Hauptmann wurde als Unteroffizier 1941 nach Griechenland abkommandiert, offenbar weil er Grie319

320

Vgl. Berve, Sparta, S. 79: »Auch nicht nur um Freiheit ging es, es ging um das eigene Sein. Der hellenische Mensch war zu behaupten gegen die unmenschliche Gestaltlosigkeit des Orients: Wenn er sein Gesetz erfüllte, vor der ungeheueren Gefahr nicht verzagte, sondern im Angesicht des Barbaren sich selbst und dem in seine Seele gelegten Ideal der Mannheit treu blieb bis zum letzten Hauch, dann verklärte sich der schier aussichtslose Kampf gegen den fremden Koloß, noch ehe er entschieden war.« Von dort ist der Weg zu Görings Vergleich von Stalingrad mit Sparta nicht weit. Vgl. Christ, »Spartaforschung und Spartabild«, S. 51. Graf, Wir marschieren gegen Griechenland, S. 113f.

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chischkenntnisse vorgetäuscht hatte, die er jedoch nicht besaß.321 Es scheint, als habe Kästner eine gewisse Virtuosität im Umgang mit Wehrmachtsstellen entwickelt, die ihm erlaubte, seine touristischen Neigungen auszuleben. So ging die Initiative für das Buch auch nicht von Wehrmachtsstellen, sondern von Kästner und dem mit ihm befreundeten Maler Helmut Kaulbach aus. Gemeinsam entwickelten sie den Plan, ein illustriertes Buch zu verfassen, das den »Offizieren und Mannschaften, die im Kriege längere Zeit in Griechenland verbringen, ein kleines Buch der Erinnerungen und Einführung in die Denkwürdigkeiten und Schönheiten des Landes in die Hand«322 geben sollte. Der Vorschlag wurde von dem zuständigen Offizier, General Wilhelm Mayer, genehmigt. In Folge dieses Auftrags bereisten Kästner und Kaulbach in den nächsten Monaten das Land. Das Manuskript war im Sommer 1942 abgeschlossen und erschien im Herbst in einer nichtöffentlichen Auflage für Wehrmachtsangehörige; im Sommer 1943 wurden von einer zweiten Auflage auch etliche Exemplare für den Buchhandel gedruckt. Die Nachfrage sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wehrmacht war groß, so dass die geplanten Nachfolgeprojekte durchaus mit ähnlich guter Resonanz rechnen konnten. Dabei handelt es sich um ein Buch über Kreta und eines über die griechischen Inseln. Das Kretabuch erschien erst 1946; die übrigen Texte über die Inseln wurden postum 1975 publiziert.323 Während die Mehrzahl der im Dritten Reich verfassten Reiseberichte im kulturellen Gedächtnis keine Rolle spielt, waren die Griechenland-Bücher Erhart Kästners stets präsent und sind in entschärfter Form bis heute im Buchhandel erhältlich; die Neufassung von Griechenland trägt den Titel Ölberge, Weinberge. Was offensichtlich in den 1950er Jahren als unproblematisch empfunden wurde, rückte in den letzten Jahren Kästners Bücher in die Kritik. Dabei wurde sowohl die teilweise deutlich greifbare Verklärung der deutschen Besatzer als skandalös empfunden als auch die Tatsache, dass Kästner nach dem Krieg offenbar ohne jegliche Bedenken seine Bücher in purifizierter Form abermals erfolgreich publizierte und sein Verhalten im Krieg im Nachhinein als Akt der inneren Emigration beschrieb.

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Vgl. Erhart Kästner, Ölberge, Weinberge. Ein Griechenland-Buch, Frankfurt am Main 1974 u. ö., S. 15. Vgl. zu den folgenden, stark gerafften Ausführungen Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 61–128. Zitiert nach Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 96 (Plan für ein Griechenlandbuch, 12. 1. 1942). Vgl. die Angaben bei Anita u. Reingart Kästner (Hrsg.), Erhart Kästner. Leben und Werk in Daten und Bildern, Frankfurt am Main 1980, S. 197–211.

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Der substantiellste Beitrag zu Kästners Griechenland-Büchern stammt von Julia Hiller von Gaertringen, die in ihrer materialreichen Dissertation sowohl die Kontexte als auch die Mechanismen von Kästners Büchern eingehend analysiert hat. Kritik an ihrem Vorgehen wurde aus entgegengesetzten Gründen geäußert. Während Arn Strohmeyer in seinem Buch über Kästners Verhalten im Krieg ihre Haltung als zu zurückhaltend und potentiell apologetisch geißelt,324 verteidigt Julia M. Nauhaus Kästner gegen Hillers Vorwürfe mit dem Verweis auf seine persönliche Integrität.325 Die Argumente sind in beiden Fällen nicht ausreichend: Während Nauhaus von der Persönlichkeit Kästners her argumentiert und so die Aussagen der Texte implizit als vernachlässigbar abwertet, nimmt Strohmeyer die propagandistischen Passagen als Ausgangspunkt, um Kästner persönlich und moralisch zu diskreditieren.326 Beide Herangehensweisen sind in dieser extremen Werk- bzw. Autorzentrierung problematisch, insbesondere da sie als Basis für moralische Wertungen dienen.327 Selbstverständlich kann und soll es 324

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In seinem schmalen Buch Dichter im Waffenrock setzt Strohmeyer alles daran, Kästner zum geistigen Erfüllungsgehilfen der nationalsozialistischen Verbrechen zu machen. Seine Arbeit scheitert an den oftmals plumpen Gegenüberstellungen von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und offensichtlich falschen Einschätzungen; dennoch stellt sie einen wichtigen und erhellenden Beitrag dar, gerade weil sie die auch in der Fachliteratur zu Kästner immer noch fortwirkenden elitaristischen und eskapistischen Tendenzen in all ihrer Fragwürdigkeit beleuchtet. Vgl. Julia M. Nauhaus, Erhart Kästners Phantasiekabinett. Variationen über Kunst und Künstler, Freiburg i. Br. 2003, S. 98: »Zwar ist das Buch im Auftrag der Wehrmacht geschrieben, aber kann man deshalb Kästner – gewissermaßen in Bausch und Bogen – nationalsozialistische Propaganda vorwerfen? Das Buch ist nicht völlig frei von Anklängen an diese, was auch mit den Bedingungen der Zensur, so wie Kästner sie einschätzte, zusammenhängen mag, so daß sich der Autor gezwungen sah, Abschnitte einzufügen, von denen er wußte, er würde sie nach dem Krieg sofort eliminieren.« Überdeutlich wird Nauhaus’ identifikatorische Perspektive, wenn sie gegen Hiller von Gaertringen betont: »EK wäre entsetzt gewesen, sich als ›Wehrmachtschriftsteller‹ bezeichnet zu sehen!« (ebd., S. 99, Fußnote). Symptomatisch ist etwa Strohmeyers Behauptung: »Aus all dem geht nicht hervor, dass Kästner in irgendeiner Weise sein Soldatsein verleugnet hat oder dass es ihm irgendwie unangenehm war. Auf Fotos aus dieser Zeit wirkt er in seiner Uniform sehr forsch, zackig und stramm. Auch sonst hat ihn die Uniform wohl wenig gestört. Immer wieder hielt er als ›Dichter im Waffenrock‹ Lesungen ab – eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschnitten war.« (Strohmeyer, Dichter im Waffenrock, S. 42). Briefliche Äußerungen lassen keinen Zweifel an Kästners Aversion gegenüber dem Nationalsozialismus bestehen (vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 41–47), einer Aversion, die allerdings aus einem letztlich antidemokratischen Elitarismus gespeist wird (ebd.).

»Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg

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nicht darum gehen, Propagandaliteratur durch den Verweis auf ästhetische Autonomie zu verharmlosen. Um aber die Mechanismen der Texte von Kästner zu verstehen, ist es erforderlich, diese in den Vordergrund zu stellen. Moralische Entrüstung ist ein schlechter Ratgeber für Textanalysen, so ungeheuerlich im Einzelnen auch die Aussage sein mag. Eine notwendige Differenzierung zwischen Autor und Werk ist die Grundlage für eine Analyse, die den Text in seiner Gesamtheit ernst nimmt. Die übliche Trennung zwischen propagandistischen und eskapistischen Passagen führt eben dazu, dass entweder der Flüchtling aus einer feindlichen Realität (so auch die Selbststilisierung Kästners) oder aber der Propagandaautor einseitig betont wurde. Während es offensichtlich wenig Sinn ergibt, einzelne Textstellen isoliert zu betrachten und willkürlich Zitate von Nazi-Größen daneben zu stellen, ja gleichzeitig den deutschen Philhellenismus insgesamt als protofaschistisch zu brandmarken, kann es ebenso wenig darum gehen, die anstößigen Passagen zu letztlich problemlos eliminierbaren »Konzessionen an die früheren Entstehungsumstände«328 zu erklären und so Kästners höchst problematisches Verfahren aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu legitimieren. Stattdessen ist es erforderlich, das Griechenland-Bild, das Kästner in seinem Text entfaltet, zu kontextualisieren und zu historisieren. Dabei kommt der Frage zentrale Bedeutung zu, wie Kästner Muster der Reiseliteratur aufgreift, variiert und aktualisiert. 3.3.1.

»Es wehte homerische Luft«. Die Stilisierung der Besatzer

Bereits die Gliederung von Kästners Griechenland-Buch verdeutlicht, dass es ihm wesentlich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen alten Griechen und modernen Deutschen geht. Die Rahmenkapitel schildern eine Fahrt nach Griechenland bzw. den Flug von Griechenland nach Deutschland. In diesem letzten Kapitel »Flug über Griechenland« beschreibt der Erzähler aus der Vogelperspektive die griechische Landschaft und vergegenwärtigt die historischen und mythologischen Ereignisse, die sich dort zutrugen. Hinzu kommt die Evokation spezifisch deutscher Traditionen, etwa von Goethes Faust oder Gerhart Hauptmanns Eulenspiegel-Epos. Für Kästner ist die Ähnlichkeit von Deutschland und Griechenland unmittelbar evident, auch aus Gründen einer tiefen Geistesverwandtschaft: »Der Deutsche wohnt ohnehin halb in Hellas, solang er in Deutschland ist; kommt er aber nach Griechenland, so ist ihm Deutsches überall um den Weg.«329 328 329

Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 13. Kästner, Griechenland, S. 268.

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Diese Äußerung, die kaum über die in Hauptmanns Griechischem Frühling artikulierten Positionen hinausgeht, verdeutlicht bereits einen Grundzug von Kästners Griechenland-Bild, nämlich den Gedanken der Affinität von alten Griechen und modernen Deutschen, die sich deshalb in Griechenland heimisch fühlten. Griechenland sei »Nördliches im Süden«,330 die Heimat eines eigentlich nordischen Volkes: Die beiden heiligsten Stätten der Griechen, Delphi und der Olymp, muten am nördlichsten an. Delphi: ein Hochalpental. Der Olymp: ein Nordberg. Es ist, als ob dabei ferne Erinnerungen nachklängen, Erinnerungen eines in den Süden verschlagenen, im Süden glücklich gewordenen Volkes, das dennoch im tiefen Grunde seines Herzens ein Heimweh nach Norden nicht verlor.331

Es gehört zum Grundbestand deutschen Schreibens über Griechenland, diese Affinität von Griechen und Deutschen herauszustellen, die hier durch den offensichtlichen Rekurs auf den Hyperboreer-Mythos unterfüttert wird.332 Wenn die NS-Ideologie ebenso wie Kästner diesen nördlichen Ursprung der Griechen hervorhebt, so bedeutet dies im Umkehrschluss nicht automatisch, dass Kästner hier in besonderem Maße auf nationalsozialistisches Gedankengut rekurriert. Vielmehr bezieht er sich auf eine Traditionslinie, die in der deutschen Kulturgeschichte geradezu Allgemeingut ist. Für sich betrachtet hat der Gedanke einer Verwandtschaft zwischen Griechen und Deutschen nichts Bedrohliches. Man könnte ihn zu den Verschrobenheiten einer nach Legitimation und Vorbildern suchenden Geistestradition rechnen, wären nicht die aggressiven Konsequenzen dieser Vorstellung ebenso virulent. Diese werden auch in Kästners Text deutlich, insbesondere wenn der Autor der nationalsozialistischen Vorstellung von kurzer – auch rassischer – Blüte und anschließendem Untergang folgt und ebenso wie Alfred Rosenberg die Griechen als Eroberer aus dem Norden auffasst. Kästner betont, »daß die Griechen gleichsam Fremde waren in diesem Land, Wanderer, die kamen, erblühten und starben, nachdem sie der Welt das Köstlichste gegeben«.333 Dies verdeutlicht exemplarisch das Eingangskapitel von Kästners Reisebericht, überschrieben mit dem Titel »Fahrt nach Griechenland«. Käst330 331 332

333

Ebd., S. 269. Ebd. Vgl. dazu – polemisch überspitzt – Strohmeyer, Von Hyperborea nach Auschwitz. Bei Kästner, Griechenland, heißt es auf S. 173f.: »Da ist die Sage, die ihn, den immer kommenden Gott, immer wieder in das Land der Hyperboreer entrückt. Dort ist sein Reich, seine Herrlichkeit, dort ist sein tiefstes Geheimnis. […] Wo liegt es? Im Norden irgendwo.« Kästner, Griechenland, S. 162.

»Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg

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ner schildert hier eine frühmorgendliche Eisenbahnfahrt nach Athen. Zunächst liegt der Fokus auf mythologisch grundierten Landschaftsschilderungen. Als allerdings Kästners Zug einem entgegenkommenden Zug begegnet und beide nebeneinander halten müssen, kommen erstmals die Umstände von Kästners Reise zur Sprache: An dieser Stelle unserer Fahrt begegneten wir einem Zug, der nordwärts fuhr und auf einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke unser wartete. Es waren Männer von Kreta, die von dort kamen und nun einem neuen Ziel und einem neuen Kampf entgegengingen. Unser Zug schob sich langsam an der nachbarlichen Wagenreihe entlang. Auf den offenen flachen Eisenbahnwagen standen fest vertäut die Geschütze, die Kraftwagen und die Räder, von Staub überpudert und deutlicher von den überstandenen Strapazen redend als die Männer. Darauf und dazwischen saßen, standen und lagen gleichmütig die Helden des Kampfes, prachtvolle Gestalten. Sie trugen alle nur die kurze Hose, manche den Tropenhelm, und blinzelten durch ihre Sonnenbrillen in den hellen Morgen. Ihre Körper waren von der griechischen Sonne kupferbraun gebrannt, ihre Haare weißblond.334

Die Begegnung der beiden Züge wird zu einer Konfrontation mit aus dem Kampf heimkehrenden Frontsoldaten und ihrer Ausrüstung. An dem Kriegsgerät, das Kästner mit einer an futuristische Texte erinnernden Faszination beschreibt und entsprechend ästhetisiert,335 wird die Härte der vergangenen Kämpfe deutlich – nicht aber an den »Helden«, die Kästner enthusiastisch als »prachtvolle Gestalten« bezeichnet, die ihr Heldentum gelassen tragen.336 Nicht zufällig ist diese Szenerie an einem Morgen angesiedelt; so evoziert Kästner eine mit den deutschen Soldaten verbundene Aufbruchsstimmung. Ihre Erscheinung verweist für Kästner aber auch und vor allem auf die griechische Antike: Da waren sie, die »blonden Achaier« Homers, die Helden der Ilias. Wie jene stammten sie aus dem Norden, wie jene waren sie groß, hell, jung, ein Geschlecht, strahlend in der Pracht seiner Glieder. Alle waren sie da, der junge Antenor, der massige Ajax, der geschmeidige Diomedes, selbst der strahlende, blondlockige Achill.337

In den Besatzungssoldaten sind die homerischen Helden präsent. Dabei greift Kästner auf gängige Topoi der Homer-Deutung zurück, die insbeson334 335

336

337

Ebd., S. 9. Vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hrsg.), Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 2009. Vgl. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 291: »Die Heldenvorstellung des gesamten Europa ist gleichzustellen mit einer hohen schlanken Gestalt, mit blitzenden hellen Augen, hoher Stirn, mit kraftvoller, aber nicht übermäßiger Muskulatur.« Kästner, Griechenland, S. 9.

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dere dessen Darstellung blonder Helden hervorhebt.338 Sie verkörpern denselben heroischen Typus wie die Gestalten der griechischen Epen, allerdings mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass der Krieg des 20. Jahrhunderts größere Heldentaten erfordere als der Kampf um Troja: Wie anders denn sollten jene ausgesehen haben als diese hier, die gelassen ihr Heldentum trugen und ruhig und kameradschaftlich, als wäre es weiter nichts gewesen, von den Kämpfen auf Kreta erzählten, die wohl viel heldenhafter, viel kühner und viel bitterer waren als alle Kämpfe um Troja. Wer auf Erden hätte jemals mehr Recht gehabt, sich mit jenen zu vergleichen als die hier – die nicht daran dachten? Sie kamen vom schwersten Siege, und neuen, unbekannten Taten fuhren sie entgegen. Keiner von ihnen, der nicht den Kameraden, den Freund da drunten gelassen hätte. Um jeden von ihnen schwebte der Flügelschlag des Schicksals. Es wehte homerische Luft.339

Rhetorische Fragen dienen dazu, die Selbstverständlichkeit des Vergleichs herauszustellen. Das Heldentum der deutschen Soldaten wird gerade an ihrer Ruhe manifest. Sie üben soldatische Tugenden wie Kameradschaft selbstverständlich aus. Weniger der Einzelne steht hier im Vordergrund als vielmehr das soldatische Kollektiv. Dessen Kämpfe um Kreta überbieten sogar den Trojanischen Krieg. In denkbar großer Schicksalsergebenheit fahren die deutschen Soldaten neuen Kämpfen entgegen. Kästner integriert in die Feier des heldischen Kollektivs das Totengedenken, wobei er wiederum das Schicksal bemüht, das für den Tod im Krieg verantwortlich sei. Die dargestellten Soldaten zeichnen sich aus Kästners Perspektive neben ihrer Kampftauglichkeit vor allem durch ihre Unwissenheit und Unbekümmertheit aus: Sie wissen anscheinend nichts vom Trojanischen Krieg, sind also (so Kästners Projektion) von klassischer Bildung denkbar unbeleckt; zudem scheint auch die Zukunft für sie rätselhaft. Möglicherweise sind es gerade diese selbstzufriedene Geschichtslosigkeit und die Erfahrung purer Gegenwart, die die heldischen Qualitäten erst ermöglichen. Da die modernen Helden, die mit antiken Topoi gerühmt werden, nichts von der Antike wissen, ist es offenbar Aufgabe des Autors Kästner, dieses mythologische Wissen einzubringen. Nachträglich rückt er die militärischen Aktionen in mythische Raster und deutet sie so um, dass sie mit dem NS-Geschichtskonzept kompatibel sind. Die Überbietung Homers gipfelt in eine antikisierende Nacktbadeszene mit homoerotischem Beigeschmack:340 338

339 340

Vgl. Wilhelm Sieglin, Die blonden Haare der indogermanischen Völker des Altertums. Eine Sammlung der antiken Zeugnisse als Beitrag zur Indogermanenfrage, München 1935. Kästner, Griechenland, S. 9f. Vgl. die Fotografie bei Graf, Wir marschieren gegen Griechenland, nach S. 104.

»Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg

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Unversehens ergab sich ein völlig klassisches Bild. Sprühend im Licht dieses Morgens und im Glanz ihrer jungen Nacktheit tummelte sich die Schar dieser Eroberer am fremden Meer, und es schien so, als sei ein verloren geglaubtes, unsterbliches Geschlecht wiedergekehrt und habe mit Selbstverständlichkeit Besitz genommen von diesem Ufer, oder als seien sie immer dagewesen und der Götterberg habe nie auf andere niedergeblickt als auf sie.341

Diese emphatische, vitalistische Darstellung der jungen und schönen Eroberer dient wiederum der Legitimation des Griechenland-Feldzugs, der so als gleichsam mythische Wiederkehr der ursprünglichen, rechtmäßigen Beherrscher Griechenlands erscheint, die ebenso wie die deutschen Eroberer aus dem Norden gekommen seien. Zugleich beschwört Kästner hier die Verwandtschaft zwischen den Deutschen des 20. Jahrhunderts und den alten Griechen: Ihre wahren Nachkommen stammen für ihn zweifellos aus dem Norden. Ähnlich martialisch wird Kästners Text bei der Beschreibung der Ruinenstadt Mistra bei Sparta. Während Sparta selbst vergleichsweise knapp behandelt wird,342 nimmt Kästner die mittelalterlichen Ruinen zum Anlass, abermals einen nordischen Eroberungszug nach Griechenland zu feiern: Die dunkle Romantik, die darin liegt, daß wieder einmal Nordmänner das südliche Land überzogen und hier als Herren eine märchenhafte Macht und Pracht errichteten, die zwar nur kurz, aber glanzvoll aufschäumte, hat die Phantasie der griechenlandsehnsüchtigen Deutschen seit langem erregt.343

Kästner zielt hier natürlich besonders auf Goethes Faust II ab. Der HelenaAkt aus Goethes Alterswerk wird unweigerlich bei nahezu jeder Beschreibung der Ruinenstätte zumindest erwähnt,344 so auch in Kästners Griechenland. Kästner zitiert sogar aus dem Drama, nicht ohne die Bedeutung der Goethe’schen Verse für die Kriegsgegenwart zu akzentuieren. Ein »neuer Sinn« werde in ihnen manifest. Die deutsche Eroberung Griechenlands erscheint als Wiederholung ruhmreicher Ereignisse der griechischen Geschichte: In Stahl gehüllt, vom Strahl umwittert, die Schar, die Reich um Reich zerbrach, sie treten auf, die Erde zittert, sie schreiten fort, es donnert nach. 341 342

343 344

Kästner, Griechenland, S. 10. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 201–203. Kästner, Griechenland, S. 252f. Vgl. etwa Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 146–148; Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 96; Spunda, Griechenland, S. 121–123.

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Hinter den Glanz dieser Fauststrophe schiebt sich uns heute noch einmal ein neuer Sinn, der sie gleichsam aufs neue durchscheint. Als ob sie den Frühlingstagen des Jahres 1941 gälte, in denen das Schicksal ans Erz der Namen Thermopylen, Olymp, Isthmus, Korinth wiederum mit mächtigem Hammer schlug.345

Kästner, der über Literatur der Goethezeit promovierte,346 macht dessen Faust ebenso wie zuvor Homers Ilias der ideologischen Aufrüstung dienstbar. Er bewegt sich hier auf dem Boden der völkischen Faust-Deutung: So betont etwa der Germanist Hermann Pongs die Affinität zwischen Goethes Faust und Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts;347 der philosophische Gehalt beider Werke weise engste Entsprechungen auf. Diese bildungsbürgerliche Unterfütterung der NS-Ideologie durch den Goetheforscher Kästner ist symptomatisch für seine Tendenz, die klassischen Bildungsbestände für propagandistische Zwecke zu instrumentalisieren. 3.3.2.

»Natürlich ist blutmäßig von den alten Griechen verdammt wenig oder nichts übrig geblieben«. Kästners Sicht auf die modernen Griechen

Die Eroberung Griechenlands durch das nationalsozialistische Deutschland erscheint bei Kästner als die dritte nordische Landnahme in Hellas. Angesichts dieser ideologischen Konstruktion stellt sich unweigerlich die Frage, welche Rolle den modernen Griechen in Kästners Text zukommt. Anders als in den im vorigen Kapitel zitierten positiven Einschätzungen der Griechen in den Jahren vor Kriegsausbruch, die allesamt von politischen Motiven bestimmt waren und den Positionen prominenter NS-Rassenkundler diametral entgegengesetzt waren, wurden in den Jahren nach Kriegsausbruch wiederum negative Wertungen dominierend, die nicht erst von den Nationalsozialisten in Umlauf gebracht werden, sondern zum Kernbestand enttäuschter Philhellenen zählen. Insbesondere Fallmerayers Geschichte der Halbinsel Morea ist von großer Wirkung auf diese theoretischen Konstrukte, wie überhaupt Fallmerayer von den Nationalsozialisten als geistiger Vorläufer reklamiert wurde.348 345 346

347

348

Kästner, Griechenland, S. 253. Vgl. Erhart Kästner, Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit. Eine dichtungsgeschichtliche Studie über die Formen der Wirklichkeitserfassung, Leipzig 1929 (Von deutscher Poeterey; 4). Vgl. Hermann Pongs, »Faust und die Ehre«, in: Dichtung und Volkstum. N. F. des Euphorion 44 (1944), S. 78–105, bes. S. 81. Vgl. die Würdigung Fallmerayers bei Kulz, »Kurze Rassengeschichte des griechischen Volkes«, S. 19.

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Erhart Kästner folgt in seinem Griechenland-Buch diesen Vorstellungen: »Vernünftigerweise ist nicht zu verlangen, daß sich in Griechenland dasselbe Blut dreitausend Jahre lang erhalten haben soll.«349 Als Beispiel dient der Niedergang Spartas, wie er ähnlich auch bei Rosenberg geschildert wird: Natürlich ist blutmäßig von den alten Griechen verdammt wenig oder nichts übrig geblieben im heutigen Hellas. Es ist eine Sentimentalität, wenn man dies nicht wahrhaben will. Denn schon im Altertum wurde das griechische Blut selten, man weiß ja, wie zum Beispiel in Sparta schon in den Spätzeiten des Griechentums das gute Blut zu versickern begann[.]350

Wenn Julia Hiller von Gaertringen erklärt, eine Interpretation solcher Passagen sei eigentlich nicht möglich, da Selbstaussagen Kästners dazu nicht vorlägen,351 verkennt sie völlig, wie klar die Botschaft dieser Textstellen zutage tritt. Selbstverständlich handelt es sich um rassistische Argumentationen, die von einer Höherwertigkeit der nordischen Rasse ausgehen. Die Verklärung des Bluts (»das gute Blut«) entspricht uneingeschränkt der NS-Ideologie. Diese Affinität wird gerade daran deutlich, wie Kästner Menschen nordischer Abstammung mit den nichtnordischen Menschen ihrer Umgebung kontrastiert. So weckt ein blondes Kind mit Augen »grau […] wie die Nordsee«352 die Neugier der Soldaten, gerade im Kontrast zu den anderen »kleinen Lemuren und Affengesichtern«353. Bald klärt sich der Sachverhalt auf; der Vater des Mädchens war Däne, so dass ihr helles Äußeres nordischem Einfluss zu verdanken ist. Den Reisenden erscheint sie auch deshalb als Verkörperung der alten Griechen: Man soll sich nicht irremachen lassen. Woher auch die alten Griechen gekommen sein mögen: dies war ihr Blut. Mit beiden Beinen fest auf der Erde und ums Haupt ein höheres Geleucht. Rein, sauber und klar: die weißen Götter.354

Diese »weißen Götter« heben sich von den Menschen ihrer Umgebung ab, die Kästner mit Tiermetaphern beschreibt und so deutlich abwertet. Hier bewegt sich Kästner in einer langen Tradition der Abwertung der modernen Griechen, die von Verachtung und Ekel, bestenfalls von väterlichem Wohlwollen geprägt ist. Insbesondere Tiervergleiche dienen immer wieder dazu, 349 350 351

352 353 354

Kästner, Griechenland, S. 43. Ebd., S. 45. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 199: »Die Einschätzung dieser Textstellen ist sehr schwierig, da keine Äußerungen Kästners über die damit verbundenen Absichten, weder aus der Entstehungszeit noch aus späteren Jahren, überliefert sind.« Kästner, Griechenland, S. 83f. Ebd., S. 84. Ebd. – Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 114f.

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die Griechen als minderwertig zu klassifizieren. So spricht Theodor Birt von »Griechlein«, die sich »treu und langbeinig wie Hausspinnen« auf der Akropolis tummelten,355 Josef Magnus Wehner betont seinen Ekel vor den schmierigen Bewohnern Griechenlands.356 Trotz dieser Geringschätzung aus rassistischen Motiven mahnt Kästner zum Respekt gegenüber den modernen Griechen, allerdings aus befremdlichen Gründen. Neben ihren guten Charakterzügen – Kästner hebt insbesondere die Gastfreundschaft und die urtümlichen Sitten der Landbevölkerung hervor – ist besonders bemerkenswert, dass sie immerhin eine Sprache sprechen, die derjenigen der alten Griechen sehr nahe steht, auch wenn die direkte Abstammung der Sprecher mehr als fraglich scheint.357 In solchen Passagen merkt man Kästners Buch deutlich an, dass es auch als Benimmratgeber für Besatzungssoldaten gedacht war; aus ähnlicher Intention finden sich etwa auf landeskundlichen Merkblättern Hinweise, man solle seinen Namen nicht in antike Überreste kratzen.358 Angesichts der tatsächlichen Repressionen wirken derartige Aufforderungen aber zynisch; sie dienen primär der Konstruktion eines Bildes von dankbaren Besetzten und zufriedenen Besatzern. Und in der Tat nahmen klassische Stätten in Griechenland während der Besatzung kaum Schaden, führte das Deutsche Archäologische Institut seine Arbeit fort359 – während Tausende von Zivilisten im Zuge von sogenannten Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht ihr Leben ließen.360 So gewinnt Kästners Hinweis auf das Bild der Griechen in der Spätantike einen unangenehmen Beigeschmack: Selbst die Römer, weniger ehrfurchtsvoll in Kulturdingen, als wir zu sein es verpflichtet sind, ließen Athen unzerstört. Sie taten es mit einer Begründung, an die man sich heute in einer Stunde des Unmuts gegen Neugriechenland erinnern soll. Sie beschlossen nämlich, »gegen die Lebendigen Nachsicht zu üben um der Toten willen«.361

Wenn Kästner »Nachsicht« gegenüber den Griechen fordert, so kehrt diese Forderung in offensichtlich unfreiwillig zynischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse um: Den Besatzern ist es auferlegt, aus Pietät gegenüber den vorherigen Bewohnern eines Landstrichs von kulturell überragender Bedeu355 356 357 358

359 360 361

Birt, Griechische Erinnerungen eines Reisenden, S. 72f. Vgl. Wehner, Das Land ohne Schatten, S. 21. Vgl. Kästner, Griechenland, S. 46. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 136. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Deutsche archäologische Unternehmungen«. Vgl. Rondholz: »›Schärfste Maßnahmen gegen die Banden sind notwendig …‹«. Kästner, Griechenland, S. 46f.

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tung seine momentanen Bewohner zu ertragen. Dies fällt nicht immer leicht, zeichnen sich doch die modernen Griechen durch mangelnde Sauberkeit und Unordnung aus – und sind damit wiederum das genaue Gegenteil der Helden der homerischen Epen. Während bei Homer »alles ansehnlich, sauber und festgefügt«362 ist, liegen im modernen Griechenland völlig konträre Verhältnisse vor: Und warum, fragt man sich, nun gerade hier in diesem selben Lande so viel Schmutz, so viel Verwahrlosung, so viel Gleichgültigkeit und Treibenlassen! Was sind das für Dörfer, was für Häuser, die nicht wissen, ob sie schon diesen Herbst einfallen sollen oder in Gottes Namen erst im nächsten Frühjahr?363

Die modernen Griechen sind für Kästner offenbar nicht in der Lage, sich selbst um ihr Land zu kümmern. Kästner entwickelt sogar utopische Vorstellungen, wie denn ein schöneres, für den Besatzungssoldaten angenehmeres Griechenland aussehen müsse: Da ertappt man sich denn bei dem Gedanken, wie herrlich dieses Land sein würde, wenn etwa am Meer drunten bei Phaleron, in dieser Landschaft, in diesem Licht, Häuserzeilen stehen würden wie in Holland, in Südschweden oder an den bayrischen Seen, wenn es sorgliche Gärten gäbe, behütete Wälder und treulich verwaltetes Ackerland!364

Wie unfreiwillige Selbstentlarvungen des deutschen Spießbürgers wirken Kästners Beschwörungen von Ordnung und Sauberkeit: »Drei, vier Segelboote liegen in Reih und Glied [ ! ] am Strand. Wie schön ist es in Griechenland, denkt man, wenn es einmal hübsch reinlich zugeht!«365 Griechenland, so kann man wohl zusammenfassen, wäre schöner ohne die derzeitigen Bewohner Griechenlands, deren Anzahl zudem für Kästner zu groß ist. Bei einem Besuch in Kolonos beklagt Kästner die »Barbarei auf heiligem Boden«,366 das heißt die Zersiedelung des Athener Umlands: Es »gibt viel zuviel Menschen, denkt man«.367 Diese altbekannten zivilisations- und modernisierungskritischen Topoi finden sich zuhauf in der Literatur über das moderne Griechenland. Angesichts einer Situation, in der tatsächlich unter tatkräftiger Mitwirkung der deutschen Besatzungstruppen die Bevölkerung Griechenlands deutlich abnimmt, wirken sie nurmehr zynisch und kaum zu rechtfertigen, es sei denn, man ließe sich auf die Logik des Textes ein, der im362 363 364 365 366 367

Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37.

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plizit postuliert, eine Beschwörung von mythischer Zeitlosigkeit genüge, um ihn aus seinen Entstehungskontexten zu lösen. 3.3.3.

»… eine kleine verspätete Nachwehe zum Griechischen Frühling«. Erhart Kästner und Gerhart Hauptmann

Sogar die zum Teil apologetisch argumentierende Hiller von Gaertringen gesteht ein, dass Kästners Griechenland-Buch sich selbst diskreditiere.368 Allerdings stellt sie heraus, dass Kästner in den Landschaftsschilderungen Ausweichräume schaffe und ein originelles Griechenland-Bild entwerfe. Dem ist mit aller Entschiedenheit entgegenzuhalten, dass zum einen auch diese Landschaftsschilderungen in den Kontext eines Propagandawerks gehören und es nicht angehen kann, beide Aspekte als vollkommen getrennt zu betrachten. Zudem sind ausführliche Naturschilderungen selbstverständlich nicht per se Indizien für eine subversive Bedeutungsebene des Textes. Zum anderen hängt Erhart Kästners Griechenland-Bild hier hauptsächlich von Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling ab und rekurriert inhaltlich auf Diskurse der Jahrhundertwende. So betont Kästner, ganz in der Nachfolge Nietzsches und Hermann Bahrs, den dionysischen Untergrund der griechischen Zivilisation, die erst als Bändigung dieser wilden Ursprünge adäquat zu verstehen sei. Die Säulen des Parthenon etwa sind für Kästner eine »Festung […] gegen eine Welt der Dämonen«;369 auch Athene verlangte »hundertfache Blutopfer […], auch hier in Athen, im hellsten, leichtesten attischen Licht«.370 Seine Betonung der apollinischen Oberfläche leugnet nicht den dionysischen Untergrund der griechischen Kultur, auch wenn in seinem Reisebericht die hellen Elemente sehr viel deutlicher hervorgehoben werden. Wenn er das Opfer als wesentlichen Bestandteil der griechischen Kultur akzentuiert, folgt Erhart Kästner unübersehbar dem Vorbild Gerhart Hauptmanns, dessen Auseinandersetzung mit dem Iphigenie-Mythos sein ehemaliger Sekretär begeistert aufgenommen hatte.371 So darf in Kästners Reisebericht die Würdigung des Vorbilds nicht fehlen, bezeichnenderweise durch eine Opfervision am Altar in Delphi, der »wie warm durchblutet [ist], 368

369 370 371

Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 252. Kästner, Griechenland, S. 71. Ebd. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 93: »Er hatte in Berlin am 15. November [1941] die Uraufführung von Hauptmanns Iphigenie in Delphi im Staatlichen Schauspielhaus erlebt«.

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als ob er noch immer genährt würde von dem tausendfachen Opferblut, das hier Morgen um Morgen, Jahr um Jahr, jahrhundertelang zu Ehren Apollons geflossen ist«.372 Die Schilderung des Besuchs in Delphi wird insgesamt zur Huldigung des »väterlich gewogenen, allgeliebten Dichter[s]«,373 dessen Werk Kästner an mythisch aufgeladenem Ort evoziert. Nicht mehr die Dichter der griechischen Tragödie sind für Kästner präsent, wenn er die klassischen Stätten besucht, sondern der Dichter der Iphigenie in Delphi, den Kästner so zum legitimen Statthalter der antiken Tragiker stilisiert. Hauptmanns Deutung des Atridenmythos bewahrheitet sich angesichts der Ruinen von Delphi.374 Zirkuläre Gedankenfiguren sind typisch für die Literatur über Griechenland; kaum einmal aber treten sie so deutlich zutage wie in Kästners Griechenland-Buch. Dessen Autor erklärt, bereits in seiner Kindheit durch Hauptmanns Griechischen Frühling Griechenland erlebt zu haben, und tatsächlich ist Kästners Prägung durch Hauptmanns Reisebericht so deutlich, dass Griechenland letztlich als epigonale Fortschreibung des Vorbilds gelten kann. Wie Hauptmann sieht Kästner die Griechen als »Bergvolk«,375 betont entgegen der klassizistischen Tradition gerade die Bedeutung des Hirtenlebens für die griechische Kultur,376 wertet volkstümliche Kulte auf377 und sucht nicht zuletzt in der Darstellung des Naturerlebnisses einen unverstellten Zugang zu der Welt des griechischen Altertums.378 Hiller von Gaertringen er372 373 374

375 376 377 378

Kästner, Griechenland, S. 167f. Ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 169f.: »Und nun hat mich ein Stern hierher geführt mitten im Krieg, und ich kann mit der Hand diesen Altar begreifen, auf den Elektra das Beil niederlegt, das fürchterliche, mit dem die Atridenmorde geschehen sind. Hier sieht es Orest liegen, wenn er nach Delphi kommt, der vom Wahnsinn gehetzte, halb ein Knabe noch und doch von Gram schon weiß geworden, zerrüttet von den Qualen der Rachegeister, ein Gefäß, zu fein für das schreckliche Schicksal, von dem es erfüllt ist. Es ist derselbe Altar, auf dem Iphigenie ihr letztes Opfer bringt, während ein Schwan, heiliges Tier Apolls, heranflattert und sich an einen Säulenknauf klammert. Und drüben klafft der Felsenspalt der Phaidriaden, in dessen Abgrund sich Iphigenie, die ins Göttliche Hineingestorbene, die unter Sterblichen nicht wieder leben will, stürzt, während der Bruder, von der Lichtgewalt Apolls gereinigt und aus seiner Nacht befreit, in lautlosem Zug den Tempelweg heransteigt zu neuem Anbeginn und neuem Leben.« Ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 105f. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 126.

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blickt gerade darin die Besonderheit von Kästners Griechenland-Bild,379 verkennt dabei aber völlig, dass alle diese vermeintlich originellen Züge sich bereits bei Hauptmann finden.380 So schreibt Kästner an Hauptmann: Es steckt ja in dem, was ich da für unsern Luftgau kritzele, sowieso nichts wie der heißgeliebte »Griechische Frühling«. Ich brachte das auch direkt zum Ausdruck. Ich treffe wohl etwa das Rechte, wenn ich meine Bemühung als eine kleine verspätete Nachwehe zum Griechischen Frühling bezeichne.381

Dieses Eingeständnis der Abhängigkeit von der Vaterfigur darf allerdings nicht überbewertet werden, schließlich finden sich bei allen Gemeinsamkeiten doch auch einige Unterschiede. Inhaltlich wäre insbesondere die unterschiedliche ideologische Ausrichtung zu nennen. Bei allen rassistischen Gedankenfiguren in Gerhart Hauptmanns Text geht es doch eindeutig zu weit, diese Passagen als »völkische[n] NS-Jargon«382 zu bezeichnen, zum einen, da 1908 von Nationalsozialismus noch keine Rede sein kann, zum anderen, da Hauptmanns Vorstellungen eher auf seine Prägung durch den von den Naturalisten stark rezipierten Hippolyte Taine zurückzuführen ist.383 Kästner modifiziert zudem gegenüber seinem Vorbild die Gestaltung der Übergänge. Während Hauptmann oftmals in harten Brüchen, manchmal geradezu abrupt von der Darstellung des Naturerlebens in die Vorstellungswelt des Mythos wechselt, legt Kästner offenkundig großen Wert darauf, die Übergänge in seinem Reisebericht so sanft und fließend wie möglich zu gestalten und so den Eindruck vitalistischer Subjektivität zu dämpfen, der für Hauptmanns Griechischen Frühling bestimmend ist. So kann man den Stil von 379

380 381

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Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 223f.: »So ist Kästners Naturerlebnis in Griechenland zweierlei: die Erfahrung von Schönheit und Idealität im Spiegel der Landschaft – die lebendige Anschauung von Maß und Harmonie, von Einfachheit und Klarheit – und die Erfahrung des Klassischen an der eigenen Person: das gesteigerte Daseinsgefühl, die Empfindung der Erhobenheit und Entrückung aus dem Irdisch-Materiellen, die sich bis zur Katharsis steigern kann.« Diese Gestaltung eines erhöhten Augenblicks verweist wiederum auf die Literatur der Jahrhundertwende, auf Hauptmann, aber auch auf Hofmannsthal. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit. Nauhaus, Erhart Kästners Phantasiekabinett, S. 521 (Erhart Kästner an Gerhart Hauptmann, 22. 9. 1942). Strohmeyer, Dichter im Waffenrock, S. 94. Er hebt mahnend den Zeigefinger, wann immer Hauptmann das Wort »Rasse« oder »Artung« gebraucht. Dass selbstverständlich die rassistischen völkischen Ideologien in ähnlichen Kontexten entstehen, ist unzweifelhaft, allerdings wären dann in der Logik Strohmeyers Darwin und Haeckel ebenso Protofaschisten wie Zola oder Arno Holz.

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Kästners Griechenland als modifizierende Rücknahme der Emphase Hauptmanns beschreiben – und tatsächlich liegt in der »Kalligraphie«384 die eigentliche Qualität von Kästners Buch. 3.3.4.

»Welt über der Welt«. Kästners literarische Kalligraphie

Zum Kern von Kästners Verständnis Griechenlands führt das Kapitel »In Arkadien«, das bereits durch seine Länge hervorsticht. Obwohl es erklärtes Ziel des Buchprojekts war, in kurzen Abschnitten den Soldaten Griechenland nahezubringen, umfasst dieses Kapitel 19 Seiten, deutliches Indiz dafür, dass Kästner hier ohne Rücksicht auf propagandistische Anforderungen für ihn wesentliche Aspekte nicht nur Griechenlands, sondern auch seines Weltverständnisses darstellt. Während etliche Autoren hervorheben, das griechische Arkadien habe nur wenig mit dem Arkadien der europäischen Vorstellungswelt gemein,385 gestaltet Kästner eine arkadische Hirtenidylle unter Vorzeichen des Krieges. Sein Prosastück weist deutliche naturreligiöse Züge auf. Es vollzieht einen Initiationsweg nach, der ebenso zu den Wurzeln der griechischen Kultur wie zum Kern der Subjektivität des Autors führt. Erste Station Kästners ist das Kloster Megaspileon, Ort einer humoristischen Episode um eine nächtliche Wanzenplage.386 Von diesem Kloster führt der Weg bergauf in die Einsamkeit. Kästner verabschiedet sogar seinen Führer, um die majestätische Landschaft allein genießen zu können. Dabei beschwört er enthusiastisch die Reinheit und Klarheit der Landschaft, die sich – so die implizite Aussage – im Individuum spiegele: Welt im Licht der arkadischen Berge! Welt über der Welt, Vortraum der ewigen Seligkeit! Wenn ich zurückdenke an die Zeit, die ich dort oben war, so weiß ich nicht, ob mich die Erde noch trug, oder ob es Fluren aus Licht waren, auf denen ich schritt. Ich begriff, was es heißt: wandeln im Licht. Glück der Reinheit, Glück der Freiheit, Segen und Neugeburt der Einsamkeit!387

Von zentraler Bedeutung ist die Betonung der Einsamkeit. Fernab von allen menschlichen (und militärischen) Bindungen inszeniert Kästner eine emphatische Erfahrung der Subjektivität. 384 385 386

387

Schnell, Literarische Innere Emigration, S. 94. Vgl. etwa Franz Spunda, Griechenland, S. 156f. Kästners empathische Darstellung gewinnt einen bitteren Beigeschmack, da die Mönche des Klosters wenige Wochen nach dem Aufenthalt des Autors von Wehrmachtssoldaten massakriert wurden. Vgl. Strohmeyer, Dichter im Waffenrock, S. 105f. Kästner: Griechenland, S. 178f.

342

Griechenland-Reiseberichte 1933–1945

Diese kathartische Erfahrung in der Natur geschieht in einer Umgebung, die auch ohne greifbare Überreste des alten Griechenlands voll von mythischen Konnotationen ist, von den drei Frauen mit Spinnrocken, die auf die Moiren verweisen,388 bis hin zu den gastfreundlichen Hirten, deren Leben so scheint, »als ob Jahrtausende hier nichts verändert hätten«.389 In seiner positiven Darstellung des Hirtenlebens, die deutlich von Hauptmanns Griechischem Frühling wie auch von zivilisationskritischen Diskursen geprägt ist, unterscheidet sich Kästner beträchtlich von der oben dargestellten Abwertung der modernen Griechen. Wie Hauptmann sieht er in ihnen die wieder lebendig gewordene Welt der Antike.390 In mythisch konnotierter Landschaft erlebt Kästner die Epiphanie des Gottes Pan. In expliziter Wendung gegen den von Plutarch überlieferten Tod des großen Pan beschwört Kästner mythische Kontinuität. Diese Plutarch-Korrektur – ein in der Literatur der Moderne oftmals anzutreffender Topos391 – verbindet Kästner wiederum mit Gerhart Hauptmann, in dessen Griechischem Frühling ebenfalls von der ungebrochenen Vitalität des Hirten die Rede ist, aber auch mit Isolde Kurz. Auch der schwärmerische Gestus Kästners, das Land auf dem Bauch liegend zu umarmen, findet sich im Griechischen Frühling vorgezeichnet.392 Am Beispiel der armen Hirten beschwört Erhart Kästner ein genügsames und zivilisationsfernes Leben, in dem auch die Armut nicht bedrückend werde, da die grandiose Landschaft gleichsam kompensatorische Funktion besitze. Die Hirten, die Kästner in religiösen Termini beschreibt, leben für ihn in einer gottnahen Welt; und eben diese Gottnähe kompensiert in der Logik des Textes die materielle Not. Wenn Kästner seine Arkadien-Schilderung mit der Darstellung eines Bades im Styx beschließt, so bedeutet dies nicht zuletzt eine Form von Initiation. Und tatsächlich steht am Ende für Kästner der Durchbruch zu einer allumfassenden Klarheit. 388 389 390

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392

Ebd., S. 183f. Ebd., S. 182. Wenn er einen alten Hirten mit Zeusstatuen vergleicht, erinnert sein Verfahren an das des Propagandabands Unsterbliches Hellas: »Sein Bart war gekräuselt, wie man es auf alten Zeusbildern sieht.« (Ebd., S. 186). Vgl. Adami, Der große Pan ist tot!? Studien zur Pan-Rezeption in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Vgl. Kästner, Griechenland, S. 186: »Ich schlug mich auf die Erde hin und umarmte so viel ich ergreifen konnte.« Siehe Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 73f.: »Ich liege auf olympischer Erde ausgestreckt. […] Und ich strecke die Arme weit von mir aus und drücke mein Gesicht antaioszärtlich zwischen die Blumen in diese geliebte Erde hinein. Um mich beben die zarten Grashalme. Über mir atmen die niedrigen Wipfel der Kiefern weich und geheimnisvoll.«

»Dichter im Waffenrock«. Deutsche Reiseliteratur im Zweiten Weltkrieg

343

Dennoch ist Kästners Idylle immer gefährdet. Dies wird besonders an den Reaktionen deutlich, die der bewaffnete Soldat hervorruft: Die Frauen und Töchter der gastfreundlichen Hirten etwa »kamen aus Angst und Zittern und scheuen Blicken«393 auf Kästners Waffe nicht heraus; ein kleiner Junge betrachtet das Gespräch mit dem Soldaten offenbar als Mutprobe394 – Verhaltensweisen, die angesichts des oftmals blutigen Vorgehens der deutschen Besatzer gerade in der Partisanenbekämpfung durchaus verständlich sind. Kästner integriert also Elemente des Kriegsalltags in seine mythisierende Schilderung: Er zeigt beispielhaft, wie Verständigung trotz des Kriegsalltags möglich ist. Allerdings verharmlost er das nicht zu leugnende Elend dadurch, dass er es von gleichsam schicksalhaften Zusammenhängen bestimmt sieht. Auch der Wunsch, in Zukunft möchten die Hirten Brot zu ihrem Käse haben,395 wirkt zwar ernstgemeint, aber dennoch fehl am Platz: Die Schreibsituation von Kästners Reisebericht vergiftet auch an für sich humanistische Passagen. Kästner gestaltet in seinem Kapitel über Arkadien also eine solipsistische Flucht in die Welt von Natur und Mythos. Auch wenn er die Folgen des Krieges nicht völlig ignoriert, so wiegt doch für ihn die Erfahrung der Natur die menschlichen Leiden mehr als auf. Das Ideal der Transparenz versucht Kästner sowohl inhaltlich als auch stilistisch zu gestalten. Dieser Versuch der perspicuitas allerdings schlägt oftmals um in eine überwiegend kitschige Besinnungsprosa: Vögel kamen herzu und jagten durch das Geweb von Licht und eisiger Feuchte in seligem Spiel. Ich zog mich aus und ließ die heilige Flut mich überrinnen. War hier ein Vorgefühl von Unterwelt, Nacht und Grauen? Nein. Wohl der Schauer felsiger Kälte, aber voll Klarheit und Licht. Wohl der Erdenferne, aber mehr der Entrückung. Der Ferne eines seligen Gottgerufenseins.396

Dass Kästners stilistische Bemühungen noch oftmals unbeholfen zwischen detailversessener Beschreibung und hymnischem Lobpreis schwanken, wird sowohl an seiner Beschreibung der deutschen Soldaten als auch der griechischen Hirten- und Bergwelt deutlich. Offensichtlich zielen sie durchweg auf Verklärung ab, eine Verklärung allerdings, die nicht nur stilistisch defi-

393 394 395

396

Kästner, Griechenland, S. 186. Ebd., S. 181f. Kästner deutet das allerdings als typisch kindliche Schüchternheit. Vgl. ebd., S. 193: »Gott schenke euch bald zu eurer Milch und eurem Schafkäse das Stück trocken Brot!« Ebd., S. 193.

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Griechenland-Reiseberichte 1933–1945

zitär, sondern auch weltanschaulich höchst problematisch ist. Ralf Schnell beschreibt Kästners Verfahren als Möglichkeit der Flucht in die Innerlichkeit: Die Verklärung der Realität durch die Antike, die Verklärung der Antike durch die Gegenwart hebt beide in eine mythische Gleichzeitigkeit, die dem Autor erlaubt, sich den realen Entwicklungen des Krieges in Griechenland zu entziehen und sich kalligraphischen Schilderungen der Landschaft, der Tempel, des Klimas hinzugeben[.]397

Man kann darin wie Ralf Schnell eine eskapistische Subversion der propagandistischen Botschaft sehen; allerdings läuft solch eine Deutung Gefahr, die propagandistische Wirksamkeit des legitimierenden mythologischen und historischen Vergleichs zu ignorieren. Denn schließlich bedeutet die Mythisierung der Gegenwart ihre Überhöhung, zumal es ja nicht um eine wechselseitige Verklärung, sondern um die gleichsam typologische Überbietung der Antike geht. Indem nämlich Kästner dieses Verfahren unterschiedslos auf alle Themenbereiche anwendet, auf die Beschreibung griechischer Landschaft und Altertümer ebenso wie auf die Darstellung von Flüchtlingselend398 bis hin zu dem oben ausführlicher interpretierten ästhetisierenden Lobpreis der deutschen Besatzer, disqualifiziert er es völlig. Dass auf der Autorebene eskapistische Tendenzen vorherrschen, sei hier nicht bestritten. Allerdings kann dies nicht das alleinige Kriterium für die Verortung des Textes in systemkritische Kontexte sein. Dass gerade die ideologisch aufgeladenen Passagen des Buches bereits vor dem Auftrag, ein Buch über Griechenland zu verfassen, auf eigene Initiative Kästners publiziert wurden,399 widerlegt deutlich die These von den widerwilligen Konzessionen an den Zeitgeist. Arn Strohmeyer ist zuzustimmen, wenn er betont, Kästner sei ein »politischer und literarischer Opportunist«400 gewesen, wohingegen Hagen Fleischers Diktum vom »Arno Breker der Feder«401 sicherlich zu weit geht. 397 398 399

400 401

Schnell, Literarische Innere Emigration, S. 96. Vgl. Kästner, Griechenland, S. 74–77. Vgl. die Nachweise bei Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 508. So erschien das oben eingehend analysierte Eingangskapitel unter dem Titel »Fahrt nach Griechenland« am 6. 8. 1941 in der Beilage der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Strohmeyer, Dichter im Waffenrock, S. 110. Hagen Fleischer, »Siegfried in Hellas. Das nationalsozialistische Griechenlandbild und die Behandlung der griechischen Zivilbevölkerung seitens der deutschen Besatzungsbehörden, 1941–1944«, in: Armin Kerker (Hrsg.), Griechenland – Entfernungen in die Wirklichkeit. Ein Lesebuch, Hamburg 1988, S. 26–48, hier S. 35.

Die Selbstüberwindung des Philhellenismus

345

Erhart Kästners Text setzt wesentliche Bestände der NS-Ideologie um. Keineswegs herrscht in seinem Buch eine innere Spannung zwischen Propaganda und Eskapismus, vielmehr ästhetisiert Kästner gleichermaßen die Gegenwart des Krieges wie auch die griechische Natur und die Antike. Ästhetisierung bedeutet hier aber nicht Eskapismus, sondern im Gegenteil Feier und Verherrlichung, die emphatische Übersteigung des Normalmaßes. Dass Kästner diese Texte verfasste, um in der Wehrmacht eine Nische für sich zu finden, ändert eben nicht das Geringste an ihrem propagandistischen Gehalt, ja sie sind weitaus wirksamere, weil intelligentere Propaganda, die auch das Bildungsbürgertum erreichen kann. Schließlich zeigt sich auch daran, dass Kästners Text als dichterische Umsetzung des nationalsozialistischen Geschichtsbilds begriffen werden kann. Gerade der diffuse Schicksalsbegriff, den Kästner entfaltet, hat bei aller nicht zu leugnenden Entlastungsfunktion deutliche Affinitäten zu der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus. In der Gegenüberstellung überlegener arischer Eroberer und rassisch minderwertiger Neugriechen setzt Kästner die Rassenkampfideologie um; versöhnliche Mahnungen zur Toleranz lassen die Ungeheuerlichkeiten letztlich nur noch eklatanter zutage treten. Die Naturschilderungen schaffen zwar Entlastung, sind aber nicht als Wendung gegen die Grundtendenz des Reiseberichts zu verstehen.

4.

Die Selbstüberwindung des Philhellenismus

Erhart Kästners Kriegsbuch Griechenland zieht gleichsam die Summe des nationalsozialistischen Griechenland-Diskurses. In unübersehbarer Weise richtet er es nach ideologischen Vorgaben aus: So lassen sich sowohl sein Lobpreis der deutschen Besatzer als homerischer Helden wie auch seine Abwertung der modernen Griechen aus rassistischen Gründen auf die theoretischen Konstrukte der Rassenkunde und der nationalsozialistischen Geschichtsbetrachtung zurückführen. Daneben finden sich in Kästners Griechenland auch Versatzstücke der Technikfaszination, die an den Reiseberichten von Wiskott und Hauser deutlich wurde. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Naturschilderungen, die sich mit der elitaristischen Feier von Subjektivität und Innerlichkeit verbinden. Die Ähnlichkeiten mit Positionen der Jahrhundertwende, aber auch mit Reiseberichten der 1930er Jahre liegen auf der Hand. So steht Kästners Text deutlich erkennbar am Endpunkt einer Entwicklung. Auf eklektische Weise verbindet er Traditionen kulturkritischen Schreibens und der Innerlichkeit mit Elementen des Technikkults des Dritten Reichs und vor allem mit Positionen der NS-Ideologie.

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Griechenland-Reiseberichte 1933–1945

Durch die ideologische Vereinnahmung ist der Bezug auf die griechische Antike fragwürdig geworden. Die deutsche Besatzung Griechenlands und die mit ihr verbundenen Kriegsgreuel verbieten, das Land ohne weiteres als Rückzugsraum zu inszenieren. An Kästners Reisebericht wird deutlich, wie die ungebrochene Fortschreibung philhellenischer Stereotype und zugleich deren bedenkenlose ideologische Aktualisierung dazu führen, dass eine Strömung der deutschen Geistesgeschichte ihre Glaubwürdigkeit und nicht zuletzt ihren immer wieder geäußerten moralischen Anspruch verliert. Kästners Griechenland zeigt, wie sich der Philhellenismus selbst ad absurdum führt. Paradoxerweise bedeutet dieses Jugendwerk den Beginn einer erfolgreichen literarischen Auseinandersetzung mit Griechenland. Nach 1945 wurden die eigentümlichen Entstehungsbedingungen von Kästners Schriften über Griechenland offenkundig nicht als anstößig empfunden. So enthielt die 1953 unter dem Titel Ölberge, Weinberge publizierte Neufassung einige Zeilen, in denen Erhart Kästner seine erste Begegnung mit Griechenland im Krieg darstellt und von den Entstehungsbedingungen des Buches berichtet. Angesichts von dessen propagandistischer Funktion wirkt das Bekenntnis des Autors geradezu zynisch: »Hätte ich damals erfahren, mir seien volle vier Jahre in diesem Lande beschieden, ich glaube, mich hätte die Freude zersprengt.«402 Im Kontext neuhumanistischer Strömungen der Nachkriegsjahre gewinnen Kästners nun mit christlichem Gedankengut angereicherte Griechenland-Bücher eine ungeahnte Popularität. Dies demonstriert, wie unter Ausblendung der jüngsten Geschichte Griechenland wiederum kurzzeitig zu einem Projektionsraum stilisiert wird, zu einem Bezugspunkt, der aufs Neue Orientierung geben soll. Die in einem Höchstmaß ideologisierte Gattung des Reiseberichts wird retrospektiv als Medium des Rückzugs in eine unpolitische Innerlichkeit begriffen.

402

Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 16.

Kontexte

347

IV.

Kontinuitäten, Brüche, Versuche des Neubeginns. Reiseberichte über Griechenland nach 1945

1.

Kontexte

1.1.

Rückkehr nach Hellas

Wir haben keine Neigungen mehr, nach so vielen neuen, blutgetränkten, verpesteten Ruinen die Trümmer zu romantisieren. Wie viele Jahre mußten vergehen, bis wir in einer Landschaft vergaßen, von wo aus sie mit einer Kanone zu beherrschen, ein Tal mit einem Maschinengewehr zu bestreichen war.1

Rolf Bongs begreift in seinem 1963 publizierten Reisebericht Die großen Augen Griechenlands die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs als deutliche Zäsur, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Der Krieg hat zur Folge, dass romantische Ruinenschwärmerei unglaubwürdig wird und einen unangenehmen Beigeschmack bekommt. Eine rein ästhetische Wahrnehmung von Trümmern ist für Bongs nicht mehr möglich. Als einer der wenigen Autoren, die die Folgen des Krieges gerade auch für Griechenland und die Wahrnehmung des Landes thematisieren und problematisieren, befindet sich Bongs in nahezu isolierter Position. Betrachtet man die Mehrzahl der Texte, so drängt sich der Eindruck auf, es habe Krieg und Besatzung nie gegeben, als sei Griechenland nach wie vor ein weltentrückter Sehnsuchtsort, der von der modernen Geschichte isoliert sei, ein zeitloses Land der klassischen Stätten. Das in der Reiseliteratur immer schon wahrnehmbare Spannungsverhältnis zwischen Realität und Stilisierung ist in der Nachkriegszeit besonders deutlich zu spüren. Letztlich trägt es mit zum Bedeutungsverlust der Gattung Reisebericht bei, der spätestens ab 1960 nicht mehr zu übersehen ist. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 erscheinen wieder Reiseberichte über Griechenland, wobei die vergleichsweise hohe Zahl in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Reisen steht. In Deutschland ist erst in den Jahren nach der Währungsreform wieder von einer nennenswerten Reisetätigkeit zu sprechen, die dann aber in rasanter Geschwindigkeit zunimmt und von Besatzungsmächten und Regierung gefördert wird:2 Es »etablieren sich […] er1 2

Rolf Bongs, Die großen Augen Griechenlands, Berlin u. a. 1963, S. 72f. Vgl. Hans-Werner Prahl, »Entwicklungsstadien des deutschen Tourismus seit 1945«, in: Spode (Hrsg.), Zur Sonne, zur Freiheit!, S. 95–108. – Vgl. auch Ulla Biernat,

348

Reiseberichte über Griechenland nach 1945

staunlich schnell wieder touristische Urlaubs- und Erholungsreisen«.3 Von Massentourismus kann in den 1950er Jahren noch nicht die Rede sein, es werden aber erste Voraussetzungen dafür geschaffen.4 Erstmals deutet sich an, dass sich die Reisegewohnheiten einschneidend ändern: In den kommenden Jahrzehnten werden auch breitere Schichten die Möglichkeit zu Urlaubsreisen ins Ausland haben. Griechenland ist einer der Staaten, die von dieser Touristenwelle betroffen sind.5 Statistiken zeigen eine rasche Zunahme der Kapazitäten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an; zudem ist es Ziel der griechischen Regierung, den Tourismus zu fördern, der zum Wiederaufbau des Landes beitragen soll.6 Wie in nahezu allen europäischen Staaten werden deutsche Touristen auch in Griechenland mit den Spuren von Krieg und Besatzung konfrontiert (der griechische Bürgerkrieg dauerte bis 1949),7 ein Umstand, der zumindest teilweise die Reiseplanung und auch die Präferenzen geprägt haben mag.

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5

6

7

»Ich bin nicht der erste Fremde hier«. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Würzburg 2004, S. 35: »Die Prosperität im Zuge des Wirtschaftswunders und die stetige Erhöhung der Zahl der Urlaubstage führen dazu, daß bereits Ende der fünfziger Jahre ein Aufschwung im Tourismus einsetzt. Ziel der westdeutschen Touristikverbände ist die quantitative und qualitative Anknüpfung an die Standards vor dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Ziel wird von den Besatzungsmächten unterstützt, da sie im Tourismus einen wichtigen sozioökonomischen Faktor im Wiederaufbau sehen.« Ebd. Vgl. ebd., S. 35f.: »Von Massentourismus läßt sich in diesem Jahrzehnt noch nicht sprechen, auch wenn das Reisen in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht zunehmend organisiert und institutionalisiert wird.« An erster Stelle der Auslandsziele liegt Italien, was neben der günstigen Erreichbarkeit an der gemeinsamen faschistischen Vergangenheit liegen kann. Vgl. ebd., S. 36: »Ende der fünfziger Jahre setzt der erste Italienreiseboom ein. Die gemeinsame faschistische Vergangenheit sowie die Tradition der KdF-Touren und der privaten Italien-Reisen im Dritten Reich erleichtern den deutschen Reisenden die Reiseentscheidung für Italien, während sie sich im übrigen europäischen Ausland weniger willkommen fühlen.« Vgl. Zacharatos, Tourismus und Wirtschaftsstruktur, S. 73f.: »Nach dem Krieg und dem Bürgerkrieg wurde [im Jahr 1950, C. M.] im Hinblick auf die Forderungen des Marshall-Plans für den Wiederaufbau des Landes die ›NTOG-National Tourism Organisation‹ in der bis heute weiterbestehenden Organisationsform […] gegründet«. Vgl. Vakalopoulos, Griechische Geschichte, S. 236–238; Carabott/Sfikas (Hrsg.), The Greek Civil War; Richard Clogg (Hrsg.), Greece 1940–1949: Occupation, Resistance, Civil War. A Documentary History, New York 2002.

Kontexte

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Vor allem aus wirtschaftlichen Interessen verbessern sich die Beziehungen zwischen der BRD und Griechenland.8 Um 1960 ist Griechenland zwar noch nicht vom Massentourismus erfasst,9 aber die verbesserte Infrastruktur weist darauf hin, dass die Schwelle bald überschritten sein wird. Die traditionelle Bildungsreise rückt immer mehr in den Hintergrund. Neue Reiseziele wie etwa Mykonos treten neben die klassischen Stätten: Ferienlager an der Küste verdeutlichen, dass der Badeurlaub den Bildungstourismus quantitativ zu überholen beginnt.10 Auch die rasch ansteigende Zahl von Reiseführern und landeskundlichen Darstellungen zeigt ein ständig wachsendes Interesse an Griechenland. 1954 erscheint Kurt Schroeders Reiseführer Griechenland,11 1956 der Autoreiseführer Jugoslawien und Griechenland,12 1962 Nagels Reiseführer Griechenland. An ihnen lässt sich ein Wandel der Reisegewohnheiten ablesen. So steht nun oftmals die Beschreibung von schönen Stränden im Vordergrund, während historisches und kulturelles Wissen in Spezialführer wie etwa die Griechenlandkunde (1955) von Kirsten und Kraiker ausgelagert wird.13 Trotz dieser Tendenzen werden die Texte über Reisen in dieses Land jedoch weiterhin zumeist von solchen Reisenden verfasst, für die das Erlebnis der Antike im Vordergrund steht.

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Vgl. Olga Lazaridou, Von der Krise zur Normalität. Die deutsch-griechischen Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung der politischen und wirtschaftlichen Grundlagen (1949–1958), Diss. Bonn 1992; Hagen Fleischer, »Der lange Schatten des Krieges und die griechischen Kalenden der deutschen Diplomatie«, in: Kambas/Mitsou (Hrsg.), Hellas verstehen, S. 205–240. Vgl. Nagels Reiseführer Griechenland, Genf u. a. 1962, S. VIIf.: »Zunächst einmal ist Griechenland noch nicht zum Massenreiseland geworden, und eine Griechenlandfahrt bleibt in gewisser Hinsicht immer noch eine Art Entdeckungsreise.« Vgl. Bongs, Die großen Augen Griechenlands, S. 113: »Beide fuhren in ein Sommercamp an der Ägäis. Sie machten kaum ein Hehl daraus, was sie dort finden wollten. Tanz, Schwimmen im Meer, Sonnenbaden und eine Schar von Männern, neugierigen, unabhängigen, unter denen sie sich einen aussuchen würden, um ihn für drei Wochen zu lieben und sich lieben zu lassen[.]« Vgl. Kurt Schroeders Reiseführer Griechenland [1954], 3. durchgesehene und ergänzte Auflage, Bonn 1957. Vgl. Baedekers Autoreiseführer Jugoslawien und Griechenland mit europäischer Türkei, Stuttgart 1956. Vgl. Georg Hensel, Griechenland für Anfänger. Eine Bildungsreise für Ungebildete, Zürich 1960. Das kleine Buch enthält etwa ein Kapitel »Muß ich in Museen?« (Ebd., S. 50).

350

Reiseberichte über Griechenland nach 1945

1.2. Antike und Nachkriegszeit In den Reiseberichten über Griechenland, die nach 1945 entstehen, dient Griechenland nach wie vor als Projektionsraum. Insbesondere der Bezug auf die Antike ist für die Autoren von Bedeutung, wohingegen die griechische Gegenwart kaum eine Motivation für die Reise darstellt. Wie zuvor wird der Erfahrung des Ursprungslandes heilende Funktion zugeschrieben. Vor allem aber geht es um eine erneute Vergewisserung, ja um eine Rettung des klassischen Erbes. Allerdings werden die Aporien dieser Rückbesinnung rasch deutlich, handelt es sich doch um eine erneute Instrumentalisierung der Antike, nicht selten mit apologetischen Untertönen. Trotz dieses Anschlusses an spezifisch deutsche Traditionen lässt sich geradezu von einer Krise des Philhellenismus nach 1945 sprechen. Nicht zufällig erscheint 1948 eine gekürzte und mit einem erläuternden Vorwort versehene deutsche Übersetzung von E. M. Butlers The Tyranny of Greece over Germany14 – die deutsche philhellenische Tradition wird hier als Ideologie bloßgestellt. Auch der emphatische Bezug auf die Antike ist nach den Vereinnahmungen im Nationalsozialismus problematisch geworden, zeigte sich doch die Manipulierbarkeit und Verfügbarkeit vieler Traditionsbestände.15 Während im Dritten Reich die vermeintliche Verwandtschaft mit dem antiken Griechenland deutlich herausgestellt wurde, fehlen in der jungen Bundesrepublik aus gutem Grund ähnlich lautende Behauptungen: Thanks, too, to the Nazis’ unscrupulous exploitation of Romantic-era linkages between aesthetic normativity, disinterested science, and state power, it is unlikely that the Bundesrepublik would now wish to claim that its citizens possess some sort of special access to the Geist of the ancient Greeks.16

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Vgl. E. M. Butler, Deutsche im Banne Griechenlands. Deutsche verkürzte Ausgabe bearbeitet und mit einer Einführung versehen von Erich Rätsch, Berlin 1948. Rätschs Einführung (ebd., S. 7–57) ist der völkerpsychologisch grundierte Versuch einer »Selbstkritik des deutschen Geistes« (ebd., S. 10). Vgl. Manfred Fuhrmann, »Die Deutschen, die Griechen der Neuzeit. Über die Entstehung eines denkwürdigen Versuchs deutscher Selbstdarstellung [1982]«, in: Ders., Europas fremd gewordene Fundamente. Aktuelles zu Themen aus der Antike, Zürich 1995, S. 167–177, bes. S. 167: »Die Lehre ist erst seit knapp zwanzig Jahren verpönt, bis dahin wurde sie jedem deutschen Schüler eingeimpft: daß die deutsche Klassik, die Goethezeit, indem sie ein griechisches Reich deutscher Nation, ein inneres Reich des Griechentums gründete, die entscheidende Phase deutscher Selbstfindung vollzogen habe.« Marchand, Down from Olympus, S. XXIV.

Kontexte

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In der DDR wurde hingegen die emphatische Aneignung des kulturellen Erbes gefördert.17 Dies zeigt sich auch in der Literatur. Reiseberichte über Griechenland entstehen aufgrund der Reisebeschränkungen aber so gut wie nicht.18 Diese Krise des Philhellenismus betrifft die Altertumswissenschaften in weitaus höherem Maße als die Literatur. Als Auswege können die Versuche gelten, nicht mehr nur die griechisch-römische Antike in den Blick zu nehmen, sondern die Perspektive zu weiten.19 Die problematisch gewordene Vorstellung einer Sonderbeziehung soll auf diese Weise umgangen werden: Vor diesem Hintergrund gewinnt insbesondere die Konzeption einer Universalgeschichte vermehrt an Bedeutung. Diese Hinwendung zu übergreifenden Konstellationen hängt unmittelbar mit der Vereinnahmung der griechischen und römischen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus zusammen. So plädiert der Althistoriker Joseph Vogt für eine Universalgeschichte,20 denn es ist schließlich das Verlangen unserer Generation nach einem historischen Kompaß, der entschiedene Wille, nach den politischen Katastrophen und den geistigen Zusammenbrüchen uns in einer die ganze Menschheit umfassenden geschichtlichen Welt neu zu orientieren. In dieser Situation erheben sich die Berührungen der antiken Kultur mit den benachbarten Kulturreichen als universalhistorische Probleme ersten Rangs.21 17 18

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Ebd., S. 354. Vgl. Jean Mortier, »Reiseliteratur«, in: Michael Opitz/Michael Hofmann (Hrsg.), Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten, Stuttgart/Weimar 2009, S. 270–272, hier S. 270: »Von 1955 bis 1962 erschienen in der Kategorie Reiseliteratur etwa 33 Buchtitel, meistens Berichte über Bruderländer (u. a. China) und Reportagen über ›Dritte-Welt-Länder‹. Die westlichen Länder waren nur mit 8 Titeln vertreten.« – Zu nennen wäre noch der Reisebericht von Ludwig Renn, Zu Fuß zum Orient, Berlin 1966, der allerdings auf eine Reise aus dem Jahr 1925 zurückgeht. Vgl. Marchand, Down from Olympus, S. 354–368 (Kapitel »Universalism and Neohumanism in the Postwar Period«). Vogt sieht allerdings durchaus den Anreiz, sich vor allem mit Griechenland und Rom zu befassen. Vgl. Joseph Vogt, Geschichte des Altertums und Universalgeschichte (Institut für europäische Geschichte Mainz, Vorträge; Nr. 24), Wiesbaden 1957, S. 19f.: »Trotz eines weitgehenden Einverständnisses im Prinzipiellen sind die Althistoriker in ihrer praktischen Arbeit immer wieder versucht, sich auf die griechisch-römische Antike zu beschränken. Dahin führt schon die Überzeugung, daß wir in der Antike einen historischen Ablauf von solcher Einzigartigkeit und Vollendung vor uns sehen, daß sich der Wertbegriff des Klassischen einstellt, einen Ablauf zudem, in dem wir einen Quellstrom der eigenen, der westlichen Kultur erkennen.« Ebd., S. 21. – Vgl. auch Berve, »Vorwort«, S. 7: »Und wenn in vergangener Zeit die Altertumswissenschaft gelegentlich mit gleicher Neigung sich den Völkern jedweder Rasse und Art zuwandte, so erhalten nun Hellas und Rom wieder den bevor-

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Reiseberichte über Griechenland nach 1945

Implizit kommt den Altertumswissenschaften so auch eine Funktion in der Abwehr nationalistischer und partikularistischer Tendenzen zu. Da »die Idee der Welteinheit die Menschen aller Völker und Zonen so tief ergriffen«22 habe, sei es notwendig, auch geschichtliche Vorgänge in übernationalen Zusammenhängen zu betrachten. Mit erheblichem Pathos bezeichnet Vogt »die Universalgeschichte als den Schicksalsgang des Individuums Menschheit«.23 Allerdings werden diese Äußerungen durch Vogts Engagement im Dritten Reich teilweise desavouiert, wie überhaupt bedenkliche personelle Kontinuitäten in den Altertumswissenschaften einem substantiellen Neuanfang entgegenstehen.24 Schließlich zeigt die Hinwendung zu neuen Paradigmen, die auf außerwissenschaftliche Faktoren zurückzuführen sind, dass die Wissenschaft nach wie vor instrumentalisierbar ist. Daneben sind Versuche erkennbar, gerade durch den Rückzug auf den antiken Mythos das kulturelle Erbe zu reinigen und sich angesichts der Dehumanisierung des Dritten Reichs aufs Neue menschlicher Werte zu vergewissern, deren Ursprung traditionell im antiken Griechenland verortet wird. Diese Versuche zielen allerdings zumeist auf eine Verbindung von Christentum und Antike ab: So betont etwa Werner Jaeger die protochristlichen Aspekte griechischer Philosophie.25 In der Reiseliteratur lassen sich ähnliche Tendenzen ausmachen, so bei Erhart Kästner oder Peter Bamm, die das verbindende Element herausstellen und so die Distanz zur Antike verkleinern. Die Reiseliteratur über Griechenland gehört in den Kontext der Antikerezeption der Nachkriegszeit. In der Literatur wird versucht, über den Anschluss an den antiken Mythos die Schrecken der jüngsten Vergangenheit und die daraus resultierende tiefe Unsicherheit zu bewältigen.26 Auch die Rezeption von Hauptmanns Atridentetralogie als subversives Dokument des Widerstands durch Erwin Piscator zeigt die Bedeutung einer aktualisierenden Beschäftigung mit dem antiken Mythos.27 Daneben ist auf deutschen Büh-

22 23 24 25 26

27

zugten Platz, der ihnen gebührt. Die rassische Selbstbesinnung hat sie uns neu erschlossen und tiefer zu eigen gegeben.« Vogt, Geschichte des Altertums und Universalgeschichte, S. 4. Ebd., S. 4f. Vgl. exemplarisch zu Berve den Beitrag von Christ, »Neue Profile«, S. 186f. Vgl. Marchand, Down from Olympus, S. 358. Vgl. Wilfried Barner (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, München 2006, S. 188–190 (Barner, »Gegenwart des Mythos«). Vgl. Erwin Piscator, »Gerhart Hauptmanns ›Atriden-Tetralogie‹ [1962]«, in: Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.), Gerhart Hauptmann, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung; CCVII), S. 319–327.

Kontexte

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nen die griechische Tragödie sehr präsent: Antike Literatur und ihre Rezeptionsstufen dienen der Vergangenheitsbewältigung wie auch dem distanzierenden Rückzug in eine vermeintlich überzeitliche Sphäre.28 Die Reiseberichte werden von widerstreitenden Strömungen bestimmt, die sich zum Teil in ein und demselben Text finden. Nach wie vor dominieren Projektionen eines Sehnsuchtslandes. Die Mehrzahl der Texte schreibt ungebrochen überkommene Muster fort, orientiert sich an einem christlich getönten Neuhumanismus. Doch auch die Reiseberichte über Griechenland kommen nicht umhin, die jüngste Vergangenheit in irgendeiner Weise zu reflektieren, auch wenn vielfach aufschlussreiche Abwehrreaktionen dominieren. Nach 1960 schließlich kommt die Produktion von Reiseberichten nahezu zum Erliegen. Weder quantitativ noch qualitativ sind die entstehenden Texte nennenswert, wohingegen die Zahl von Reiseführern stetig zunimmt – auch dies ist ein Indiz dafür, dass radikal verbesserte Reisemöglichkeiten für einen Großteil der Bevölkerung sich deutlich auf die Nachfrage nach Reiseberichten auswirken; zugleich scheint das Bedürfnis, die eigene Reise narrativ zu bewältigen, stetig nachzulassen.29 Die Reiseberichte über Griechenland, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen, sind von all diesen knapp skizzierten Tendenzen geprägt. Dabei sind die Kontinuitäten zur Literatur des Dritten Reichs offensichtlich: So werden etliche Texte, die in den Jahren des Nationalsozialismus entstanden, neu aufgelegt – neben Kästners Griechenland-Buch30 sind etwa Ernst Wilhelm 28 29

30

Vgl. Flashar, Inszenierung der Antike, S. 181–198. Vgl. Jost, »Selbst-Verwirklichung und Seelensuche«, S. 490: »Die Steigerung der Reisetätigkeit bringt eine Neubewertung des Reisens an sich, eine Verschiebung in Motivation und Erleben der Reisenden mit sich. Ein Vorgang, der eng verknüpft ist mit (massen-)medialen Angeboten, ohne die moderner Tourismus nicht denkbar wäre.« – Ulla Biernats Annahmen über die Entwicklung der Gattung Reisebericht sind falsch und gehen erkennbar auf eine geringe Textkenntnis zurück: »Der daraus entstandene Funktionsverlust der Gattung kann im weitesten Sinne als Funktionswandel gedeutet werden. Viele Gegenwartsautoren nutzen die Gattung als Medium der poetologischen Selbstvergewisserung über die erzählerischen Möglichkeiten, die Wirklichkeit literarisch zu inszenieren.« (Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«, S. 30) Diese Behauptung gilt eben nicht nur für die Gegenwartsliteratur, sondern in ungleich höherem Maße bereits für die Reiseberichte der Jahrhundertwende, so dass die hier angedeutete Entwicklung lediglich postuliert wird und durch Textarbeit ohne weiteres zu widerlegen ist. – Welche Folgen die Konkurrenz neuer Medien (Fernsehen!) auf die literarische Gattung hat, wäre zu prüfen. Auch Kästners älteres Griechenlandbuch bleibt im Gedächtnis; als 1953 die überarbeitete Fassung unter dem Titel Ölberge, Weinberge erscheint, wird in der Litera-

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Reiseberichte über Griechenland nach 1945

Eschmanns Griechisches Tagebuch und Friedrich Georg Jüngers Wanderungen auf Rhodos zu nennen. Auch Sachtexte wie die beliebte und erfolgreiche Griechenlandkunde von Kirsten und Kraiker basiert auf Merkblättern für Besatzungssoldaten.31 Kästners Texte demonstrieren, wie antike Geschichte und Mythos nach wie vor als Deutungsmodelle herangezogen werden. Durch ihre metaphysische Ausrichtung schreiben sie überlieferte Traditionen fort, deren Wirkungslosigkeit aber demonstriert wurde. Zudem reflektieren die Texte mehr als zuvor den modernen Tourismus: Griechenland erscheint als eine gefährdete Idylle. Daneben entsteht eine Vielzahl weiterer Texte, die von ähnlichen Tendenzen – dem Versuch einer neuen, zumeist christlich getönten Sinnstiftung – bestimmt sind. Insbesondere die äußerst erfolgreichen Bücher von Peter Bamm – An den Küsten des Lichts, Frühe Stätten der Christenheit – können als repräsentativ hierfür gelten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass vermehrt Reiseberichte aus der angloamerikanischen Literatur übersetzt werden, wie etwa die Bücher von Lawrence Durrell oder Patrick Leigh Fermor. Vor allem Henry Millers Colossus of Maroussi, der 1958 in deutscher Übersetzung erscheint, findet viele Leser und wirkt prägend auf etliche deutsche Autoren. Auch dies zeigt, dass der Versuch, das griechische Erbe für den deutschen Kulturraum zu reklamieren, nur noch wenig Anziehungskraft besitzt. Auch reflektieren etliche Texte entweder inhaltlich oder durch ihre Machart die Problematik einer ungebrochenen Aneignung von Traditionen. Als Beispiele für diese Moderne auf zweiter Stufe können die Reiseberichte von Walter Jens und insbesondere von Wolfgang Koeppen gelten. Diese Texte hinterfragen auf jeweils eigenständige Weise Traditionen und distanzieren sich von der schwärmerischen Emphase des Griechenland-Diskurses. Sie schreiben die Tradition gleichermaßen fort und strapazieren sie so weit, bis sie an ein Ende kommt.

31

turkritik wie selbstverständlich die ältere mit der neueren Fassung verglichen, aber nur unter stilistischen Aspekten (vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 404f.). Ernst Kirsten/Wilhelm Kraiker, Griechenlandkunde. Ein Führer zu klassischen Stätten, Heidelberg 1955. Vgl. ebd., S. 453.

Philosophische und religiöse Meditationen

2.

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Philosophische und religiöse Meditationen

Auch nach 1945 dient Griechenland oftmals als emotional aufgeladener Sehnsuchtsraum: Die Reise gewinnt vielfach entlastende Funktion. Zivilisationskritische Topoi fehlen ebensowenig wie mythisierende Beschwörungen der Vergangenheit. Anders aber als in den Texten der 1920er Jahre finden sich keine explizit politischen Inhalte. Während damals die Griechenland-Reise als Mittel nationaler Selbstpositionierung verstanden wurde, dominieren nun diffuse geschichtsphilosophische Betrachtungen, die den expliziten Bezug auf Deutschland vermissen lassen. Und dennoch sind sie deutlich als Reaktion auf die Zeitläufe erkennbar: Nicht zufällig steht im Zentrum von Erhart Kästners Reisebericht Ölberge, Weinberge der Gedanke des Ausstiegs aus der Zeit. Und auch Martin Heideggers zu Lebzeiten nicht publizierter Reisebericht Aufenthalte reiht sich in die Traditionen von Technik- und Kulturkritik ein. Die bei aller subjektiven Spekulation unverkennbare Traditionsgebundenheit der Texte von Erhart Kästner und Martin Heidegger wird bereits daran deutlich, dass für beide Autoren an der Bedeutung Griechenlands kein Zweifel besteht. Für das moderne Individuum ist das klassische Hellas nach wie vor eine essentielle Größe. Problematisiert wird dieses an sich höchst fragwürdige Konstrukt an keiner Stelle. So sind die Reiseberichte von Kästner und Heidegger Dokumente eines Konservativismus, der versucht, Griechenland als Rückzugsraum zu reklamieren.

2.1. Mythisierung der Geschichte. Erhart Kästners Griechenland-Buch Ölberge, Weinberge (1953) Erhart Kästners Buch Ölberge, Weinberge ist nach wie vor der populärste Reisebericht über Griechenland. Der Text ist von zwei grundlegenden Tendenzen geprägt: Zum einen beschreibt Kästner detailliert und stilistisch geschliffen die griechische Natur, zum anderen sind diese Schilderungen eingebettet in ein übergreifendes, religiös akzentuiertes Geschichtskonzept, das auch der Aufarbeitung der eigenen Kriegsvergangenheit dient. Dieses letztlich harmonisierende Konstrukt integriert menschliches Leid in einen metaphysisch überhöhten Zusammenhang der Sinnstiftung. Mit seinem Beharren auf einem verinnerlichten Zugang zu einem stilisierten Griechenland steht Kästner in unübersehbarer Weise in der Traditionslinie, die von Gerhart Hauptmann ausgeht. Seine gerade in ihrer inszenierten Einfachheit höchst artifiziellen Texte markieren den Endpunkt und die Aporien dieser Art der

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Reisebeschreibung, die Griechenland vor allem als Projektionsraum begreift und instrumentalisiert. Bereits in britischer Gefangenschaft begann Kästner unmittelbar nach Ende des Krieges mit der Überarbeitung seiner Texte über Griechenland.32 1946 erschien Kreta, nachdem Kästner sichergestellt hatte, dass es keine inkriminierenden Passagen enthielt,33 1953 folgte Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch, die stark überarbeitete Fassung von Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege. Der Text verarbeitet Eindrücke von zwei Aufenthalten in Griechenland: Zum einen enthält er viele von Kästners Schilderungen aus dem Buch von 1943 und weitere Texte, die während des Krieges entstanden, zum anderen schildert er Erlebnisse der ersten Griechenland-Reise, die Kästner nach dem Krieg im Jahr 1952 unternahm.34 Daraus ergibt sich, dass die Beschreibungen keiner festen Reisechronologie folgen: Oftmals lässt sich nicht feststellen, welche Griechenland-Reise einem Kapitel zugrunde liegt. Wie wegen der komplizierten Textgenese kaum anders zu erwarten, bietet Ölberge, Weinberge inhaltlich Disparates. Bernhard Zimmermann bestimmt Ölberge, Weinberge als autobiographische Selbsterkundung, die über die üblichen Verfahren der Reiseliteratur hinausgeht: »Das tragende Substrat ist autobiographisches Schreiben vor dem Hintergrund oder eingebettet in die griechische Landschaft.«35 Dies ist nur eine, wenngleich zentrale Schicht des Textes: Daneben treten geschichtsphilosophisch akzentuierte Überlegungen, die explizit das Leid der jüngsten Vergangenheit und die deutsche Besatzung Griechenlands mit einbeziehen. Es ist erkennbar Kästners Ziel, diese Gedanken in sein übergreifendes heilsgeschichtliches Konzept zu in32

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35

Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 270–292. Vgl. ebd., S. 120. Diese Reise nach Griechenland war als Arbeitsreise geplant, auf der Kästner neues Material für das geplante Buch sammeln wollte. Als Hindernis stellte sich dabei heraus, dass ehemalige Besatzungssoldaten kein Visum für Griechenland erhielten. Um ein solches zu bekommen, wurde ein entsprechender Schwur verlangt. Ob Kästner diesen ableistete, ist nicht bekannt; die Tatsache aber, dass er ein Visum bekam, macht dies wahrscheinlich. Kästner schrieb am 3. 3. 1952 an seine Mutter und seine Schwester: »Ich weiß noch nicht, wie ich da herauskomme, es ist wie immer bei den Fragebogen, auch wenn man das beste Gewissen hat: sagt man ja, gibt es heillose Umstände, sagt man nein, hat man den Gewissensdruck.« (Zitiert nach Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 321.) Am 23. April 1952 kam Kästner in Griechenland an, er reiste am 28. Juni ab. Während der zweiten Hälfte seines Aufenthaltes wurde er von seinem Freund Roderich Graf Thun begleitet. Vgl. ebd., S. 320–325. Zimmermann, »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«, S. 20.

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tegrieren. Der Text thematisiert nicht nur die Erfahrung Griechenlands, sondern ebenso sehr die Suche nach der eigenen Vergangenheit. Er ist von inhaltlichen Spannungen geprägt, die dem harmonisierenden Sprachduktus deutlich widersprechen.36 Demgegenüber steht der stilistische Gestaltungswille des Autors, der sich unter dem Einfluss der Lektüre der Werke von Ernst Jünger vor allem in Glättung und Homogenisierung manifestiert.37 Die Aussage des Texts ist von der Tendenz geprägt, die Verbindungslinien von Antike und Christentum herauszustellen. In diesen Kontext gehören auch Kästners Meditationen über Zeit und Zeitlichkeit sowie seine intensiven Beschreibungen der Landschaft. Mehr noch als in anderen Reisetexten ist für Kästners Verfahren die Ekphrasis von Bedeutung,38 wobei die Schilderungen von Natur und Landschaft immer im Rahmen des übergreifenden Erzählprogramms zu lesen sind. Als Ölberge, Weinberge 1953 erschien, war die Resonanz durchweg positiv.39 Auch die Verkaufszahlen belegen die Popularität von Kästners Griechenland-Buch, das noch im Erscheinungsjahr eine zweite Auflage erlebte. Kästners Blick auf Griechenland hat den Zugang jüngerer Generationen zu diesem Land mindestens ebenso stark geprägt wie Hauptmanns Griechischer Frühling die Leser aus Kästners Generation. Eben deshalb stellt sich bei dieser Neubearbeitung eines Propagandabuchs die Frage nach dem weltanschaulichen Gehalt in besonderem Maß. Zudem ist zu fragen, wie der Entstehungshintergrund thematisiert wird, zumal zum Zeitpunkt des Erscheinens von Ölberge, Weinberge die Erinnerung an Kästners ersten Bucherfolg noch frisch war.40 36

37 38 39

40

Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 340: »Kästners Bild von Griechenland ist kein realistisches und war auch nie so beabsichtigt. Griechenland ist eine geistige Landschaft, die Impulse gibt für die Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz.« Vgl. ebd., S. 313. Vgl. Zimmermann, »Das Land der Griechen mit der Seele suchend«, S. 14. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 403–405. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass es Kästner für nötig hielt, auf der Anmerkung zu bestehen, Griechenland sei als Skizze für Ölberge, Weinberge zu verstehen. Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge. Ein Griechenlandbuch. Mit Federzeichnungen von Helmut Kaulbach, Wiesbaden 1953, S. 3: »Neue Fassung des Buches ›Griechenland‹, welches man als eine Skizze zum vorliegenden Band auffassen möge«. – Vgl. Hiller von Gaertringen: »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 336. Auch dass in der Kritik Kästners Fortschritt als Stilist seit Griechenland gerühmt wurde, verdeutlicht die Wirkmächtigkeit der Erstfassung. Vgl. ebd., S. 404f.

358 2.1.1.

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»Ausstieg aus der Zeit«. Kontemplative Hinwendung zu den Dingen

In dem Eingangskapitel »Rhamnus« verdeutlicht Kästner seine Zielsetzungen: Er behauptet zunächst, Griechenland sei nur dem wirklich zugänglich, der es durchwandere. Implizit bedeutet dies nichts weniger als eine Absage an jegliches touristische Reisen, wie es sich zu Beginn der 1950er Jahre zögerlich entwickelte. Ausdrücklich wendet sich Kästner gegen das Sammeln von unzusammenhängenden Eindrücken, wie sie jede Art des beschleunigten Reisens nach sich ziehe: »Ja, Impressionen kann man vielleicht vom Auto aus haben; aber was sind Impressionen? Des Nichts, des Teufels Kulissen.«41 Eben weil sie vom Kern der Dinge, vom angestrebten Wesentlichen entfernt sei, ist diese Art des Reisens letztlich verderblich. Die Fußwanderung hingegen ermöglicht neben intensiver Erfahrung der Landschaft insbesondere den Kontakt zu den Einheimischen, die Kästner als äußerst zugänglich und gastfreundlich schildert. Diese Kontakte mit Natur und Bewohnern (wobei Kästner die Griechen auch als unverbildeten Teil der Natur versteht) sind wichtiger als die eingehende Erkundung antiker Stätten. Kästner geht es nicht um detaillierte Beschreibungen historischer Monumente. Historische und kunsthistorische Referate sucht man in seinem Buch vergebens. An ihre Stelle treten ausgedehnte Reflexionen über Religion und Zeitlichkeit. Für Erhart Kästner sind die antiken Ruinen primär in ihrer Einheit mit der Landschaft, die sie umgibt, von Interesse. Er begrüßt sogar, dass die Natur die Anstrengungen moderner Ausgräber wieder rückgängig macht. So überwiegt angesichts des Anblicks einstmals belebter Stätten kein Gefühl von Verlust oder Trauer. Kästner sieht die natürlichen Zusammenhänge, denen auch die Überreste des antiken Griechenlands ausgesetzt sind, völlig anders als etwa Hugo von Hofmannsthal. Während sich bei Hofmannsthal durchaus Restbestände romantischer elegischer Ruinenklagen ausmachen ließen, nimmt Kästner das Wirken der Zeit zwar zur Kenntnis, bewertet es aber nicht: Man sieht Marmormauern, die einen bewehrten Zugang abgaben und vertrocknete Brunnen, den Hals einer Amphore, und einmal war ein marmorner Pferdeleib da. Wohnungen, in denen gelebt und geliebt worden ist. Alles überwuchert, überwachsen, versunken – überblüht, überblüht: Mohn, Skabiosen, Akonit, Königskerzen, Kamillen und Zistusrosen auch hier.42

41 42

Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 7. Ebd., S. 9f.

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Zwar ist Rhamnus längst nicht mehr von Menschen bewohnt, die belebte Natur aber verhindert, dass sich ein Gefühl der Trauer einstellt. Das wiederholt gebrauchte Adjektiv »überblüht« deutet darauf hin, dass es sich in gewisser Weise sogar um einen Zugewinn handelt. Für Kästner ist Rhamnus ein Ort des Lebens, weil die Ruinen von belebter Natur erfüllt sind. Das Erlebnis der Nähe stellt sich auch deshalb ein, weil dort das Alltagsleben erfahrbar wird: Es handelt sich nicht um ein mythenumwittertes Denkmal, das oft beschrieben wurde. Das in der Reiseliteratur sonst kaum einmal erwähnte Rhamnus erscheint als ein Ort intensiver Erfahrung, der die für Kästners Gedankenkonstrukte essentiellen Reflexionen auslöst. So wendet er sich entschieden gegen Versuche, die Vergangenheit auf künstlichem Wege zurückzuholen: Nur nicht zuviel Archäologie. Es hat mich immer gewundert, daß ihre Anhänger die Phrase, man müsse etwas der Vergessenheit entreißen, ganz ernsthaft verwenden. Entreißen? Etwas aus dem Erdengrab nehmen, um es sogleich in ein Papiergrab zu tun? Archäologie – das heißt, sich der Gefahr aussetzen, Zeit zu verlieren mit einer Zeit, die man schon einmal verlor.43

Für Kästner widersprechen archäologische Verfahren – zumindest in ihrer Verabsolutierung – dem natürlichen Lauf der Dinge, weil sie letztlich sinnlose Versuche darstellen, den Kreislauf der Zeit zu durchbrechen. Er geht von zirkulären Zusammenhängen aus. Als literarische Bezugsgröße dient Kästner die Sage von dem Philosophen Epimenides, der über fünfzig Jahre geschlafen haben soll.44 Ähnlich wie Washington Irvings Rip van Winkle, den Max Frisch in seinen Roman Stiller integriert, gelang Epimenides der Ausstieg aus der Zeit durch den Schlaf. Rückblickend stellt Kästner fest, dass ihm während des Krieges dieser Zustand als etwas Erstrebenswertes erschienen sei: »Seinerzeit versann ich mich geradezu in diese Geschichte; es kam mir höchst wünschenswert vor, Zeit zu verschlafen und erst im Frieden wieder zu mir zu kommen.«45 Nach dem Krieg sind nun nicht mehr der bewusstlose Schlaf und die damit verbundene bewusstlose Überwindung unangenehmer Zeiten das Ziel, sondern der bewusst erfahrene Ausstieg aus diesem Kreislauf der Zeit, der in bestimmten erfüllten Augenblicken möglich ist. Dabei kann es sich ebenso um die Erfüllung elementarer körperlicher Bedürfnisse handeln wie um meditative Selbsterfahrungen in Einsamkeit oder um die Liebeserfahrung:

43 44 45

Ebd., S. 10. Vgl. Art. »Epimenides«, in: Der neue Pauly, Bd. 3, Sp. 1144. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 12.

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Jede Versenkung ist Ausstieg aus Zeit; Traum, Rausch und Lied löschen Zeit. Das Gespräch entmachtet die Zeit. Sturz in die Landschaft: reine Entzückung, Verlöschen der Zeit. Dann ist es, als ob das verhaßte Zahnrad nicht griffe. Wir sind abgelöst, Zeit muß sich drehen, ohne Macht an uns auslassen zu können.46

Die an sich leere Zeit kann zu bestimmten Augenblicken mit einer über sie hinausweisenden Bedeutung erfüllt und damit zugleich überwunden werden. Eben diese Momente seien, so Kästner, die wahre Essenz der menschlichen Existenz: Jeder rechne »sein Leben doch nur nach den Momenten, in denen ihm die echte Zeitüberwindung gelang, seien es nun die Liebesstunden oder die Katastrophen seines Lebens gewesen«.47 Mysterium und Transparenzerfahrung – diese inhaltlichen Tendenzen von Kästners Text bestimmen auch dessen sprachliche Gestaltung. So dient nun seine »literarische Kalligraphie«48 primär dazu, die weltanschaulichen Grundannahmen des Autors im Medium der Sprache zu gestalten. Dies erfolgt zum einen durch die Tendenz, selbst in Bildern und Gleichnissen zu sprechen, zum anderen durch die Verwendung bestimmter Verben und Adjektive aus den Bildbereichen von Helligkeit, Farbe und Transparenz. Auf diese Weise versucht der deutlich am klassizistischen Stilideal der perspicuitas orientierte Kästner, in seinem Reisebericht mystische Einheits- und Allerfahrungserlebnisse nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich sinnlich erfahrbar zu machen.49 Gerade das griechische Licht ermöglicht für Kästner diese einzigartigen Transparenzerfahrungen: »Diese Helle schenkt einen Rausch, der aber ein Rausch voller Klarheit ist, voller Gesundheit auf wirklicher Erde.«50 Auf den ersten Blick erinnern diese Vorstellungen deutlich an die Reiseliteratur der Jahrhundertwende, von der Kästner sichtlich geprägt ist. Auch dort ging es vielfach um das Transzendieren von Zeitlichkeitserfahrungen, um den Versuch mystisch geprägter Einheitserfahrungen.51 Kästners Technik der Kontemplation hat dort zumindest teilweise ihre Wurzeln, allerdings unterscheidet er sich von diesen Vorgängertexten durch den dezidiert religiösen, zutiefst christlichen Standpunkt, der dazu beiträgt, dass sich Ölberge, 46 47 48 49

50 51

Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Vgl. Schnell, Literarische Innere Emigration 1933–1945, S. 90. Dabei stehen wie erwähnt nicht die antiken Monumente im Vordergrund, sondern vielmehr die Natur: »Dafür ergriff mich mehr und mehr Neigung, das griechische Land in seiner blühenden Wildnis zu sehen. Sie ist es, die nachlebt, sie ist es allein.« (Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 93). Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 96. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit.

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Weinberge auch als beschaulicher religiöser Traktat lesen lässt. Seine Ausführungen gewinnen ihre volle Bedeutung erst vor dem Hintergrund eines Systems, das versucht, Antike und Christentum zu integrieren. 2.1.2.

Christentum und Antike. Kästners theologische Überlegungen

Die christliche Grundausrichtung von Kästners Reisebericht wird schon am Titel sinnfällig, der auf den biblischen Ölberg bei Jerusalem verweist.52 Auch wenn sich Kästner gegen eine eindeutige Festlegung wehrte,53 so ist doch offenkundig, dass er im Vergleich zu seinem Griechenland-Buch von 1943 eine Kehrtwende vollzogen hat. Stand damals der völkische Blut-Mythos in der Nachfolge von Alfred Rosenberg im Vordergrund der weltanschaulichen Überlegungen,54 so geht es Kästner 1953 um eine Auslotung des Verhältnisses von Christentum und Antike. Wie Julia Hiller von Gaertringen gezeigt hat, gestaltet er in Ölberge, Weinberge die Präsenz des Christlichen in der Antike und des Antiken im Christlichen.55 Es geht um die Synthese beider Sphären unter dezidiert christlichen Vorzeichen: »So sind wir getaufte Hellenen.«56 Nicht zufällig mündet Ölberge, Weinberge in ein Kapitel über Maria Magdalena, und auch die intensive Auseinandersetzung mit Gerhart Hauptmanns Griechischem Frühling dient vor allem der Untermauerung des eigenen christlichen Standpunkts. »Als Christ geboren: den Weg geht nun einmal keiner zurück; nur nach vorn, nur nach vorn kann man gehen.«57 Insbesondere die intertextuellen Verweise auf Gerhart Hauptmanns Griechischen Frühling erlauben es, den Wandel in Kästners Griechenland-Bild nachzuvollziehen. In Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege bezog sich Kästner explizit auf Hauptmanns antikisierende Altersdramen. In Delphi erinnerte er an Hauptmanns Bearbeitung des Iphigenie-Stoffs, ein Drama, das von christlicher Gesinnung denkbar weit entfernt ist.58 In der Neubearbeitung fehlt diese Stelle, wie überhaupt die Kapitel über Delphi den Kern von Kästners christlicher Aussage formulieren. Doch auch dafür nimmt er Hauptmanns Griechischen Frühling zu Hilfe, in dem Hauptmann eine Christus-Vision 52

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Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 239. Vgl. ebd., S. 239. Vgl. Kapitel III dieser Arbeit. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 343–402. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 53. Ebd., S. 228. Vgl. Kästner, Griechenland, S. 167–170. Vgl. auch Kapitel III dieser Arbeit.

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auf dem Weg nach Delphi beschreibt.59 Kästner wiederum rühmt gerade die Intuition seines ehemaligen Arbeitgebers, der auf die einzig sinnvolle Weise die religiöse Sphäre Delphis habe erleben können: Er wußte, daß für einen, der in Delphoi anlangt, nichts oder Christus anwesend sein muß. Ist man einmal als Christ geboren, sagt er, so mag man den Blick, wohin man will, richten: immer wird Christus, und sei es im peripherischen Sehen, im Augenfeld sein. Das ist gut, mit so einem Wort kann man leben.60

Kästner betrachtet dies aber nicht als Projektion: Für ihn scheint tatsächlich kein Zweifel an der tieferen Wahrheit der christlichen Lehre zu bestehen. Diese Grundüberzeugung führt wiederum dazu, dass er den eklektischen und synkretistischen Grundzug von Hauptmanns Reisebericht nicht zur Kenntnis nimmt. Seine harmonisierende Deutung von Hauptmanns Griechischem Frühling verfehlt jedenfalls den Kern des Textes, der Griechenland als das Land einer Mythologie zeigt, die zwar auch christliche Aspekte aufweist, insgesamt aber eher heidnisch-vitalistisch konnotiert ist. Kästners Fehlinterpretationen sagen mehr über sein eigenes Griechenland-Bild aus als über Gerhart Hauptmanns Vorstellungen.61 Kästners Beschreibung der griechischen Orakelstätte folgt dem zitierten Programm, überall Christliches sehen zu wollen. Dies gelingt scheinbar ohne Mühe. In der Antike sei das mit kultischen Kunstwerken angefüllte Delphi ein »wandernder Wald aus Marmor und Gold und Bronze« gewesen, »der

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Vgl. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 91f. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 228. So schildert Hauptmann eigentlich nichts anderes als die Beeinflussung durch die Bilderwelt der eigenen Kultur, die theologische Inhalte nicht berührt. Interessanterweise befindet sich Kästner mit dieser christianisierenden Hauptmann-Deutung im Mainstream der Forschung: Bereits 1922 hatte Heinrich Eduard Jacob formuliert, Hauptmann sei zu sehr Christ, um einen wahren Zugang zu den Griechen zu finden. Vgl. Heinrich Eduard Jacob, »Hauptmann und die Antike«, in: Ludwig Marcuse (Hrsg.), Gerhart Hauptmann und sein Werk, Berlin/Leipzig o. J. [1922], S. 47–55, hier S. 53: »So ist Hauptmann seit langer Zeit ein erster repräsentativer Dichter, der, solche ganz peripherischen Berührungen ausgenommen, keine schöpferische Beziehung zur Antike besitzt. Aber selbst in diesem Mangel ist Konsequenz. Hauptmann ist im tiefsten zu sehr Christ, um Vor-Christliches gestalten zu können. […] Nur aus der Weltanschauung des Christianismus kann Hauptmann verstanden werden. Sie ist es, die immer in ihm wirkt; sie vermag sogar eine Reise nach Griechenland zur Reise nach Jerusalem umzubiegen.« Kästner kehrt diesen Gedanken um: Gerade die christliche Vorprägung Hauptmanns habe ihm erlaubt, die verbindenden Elemente aufzuspüren. Dass allerdings die weiteren Ausführungen Hauptmanns über Delphi nur wenig Christliches haben, lässt Kästner unerwähnt.

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hinauf zum Heiligtum wie eine Brandung der Gottbegeisterung schlug«.62 Die Plastik, die apollinische Kunstform schlechthin,63 ist für Kästner Ausdruck einer religiösen Ekstase, die die Atmosphäre des Ortes bestimmt habe. Das antike Delphi sei »die Hochburg des Bildes«64 gewesen. Eben diese Feststellung führt dazu, Delphi gedanklich mit Jerusalem zu verbinden, mit dem Ort, der »im genauen Gegenteile davon im Bildlosen schwebt«65. Allerdings ist für Kästner die religiöse Anbetung ohne Bilder kaum vorstellbar, da für ihn kein Zweifel am zeichenhaften Charakter der Welt besteht. Gerade auf sprachlicher Ebene seien Bilder unverzichtbar: »Denn in Bildern hat Christus gesprochen: Lamm, Hirte, Säemann, Licht.«66 Deshalb entbehre die Bilderfeindlichkeit jeglicher theologischer Grundlage: »Wo das Reich der Bilder aufhört, beginnt der Mysterienverrat.«67 Abgesehen von der fragwürdigen ideologischen Grundlage und der irrationalistischen Argumentationsstruktur, ist diese Textpassage höchst aufschlussreich für das Verständnis von Kästners Denken.68 Nicht zufällig beschreibt Kästner in Ölberge, Weinberge auch wichtige Stätten des orthodoxen Christentums (in der Stundentrommel vom Berg Athos wird er sich intensiv mit der Orthodoxie befassen); längere Exkurse über griechische Sagen fehlen nahezu völlig, während die Darstellung und Interpretation christlicher Mythen breiten Raum einnimmt. So endet das Buch mit Kapiteln über das Kloster Hosios Loukas und die heilige Maria Magdalena, nicht etwa (wie genretypisch zu erwarten wäre), mit der Beschreibung der Abfahrt, einem letzten Gruß an die Akropolis oder Ähnlichem. Für Erhart Kästner personifiziert gerade die biblische Gestalt der Maria Magdalena die

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Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 229. Vgl. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 25: Die apollinische Kunst sei die »Kunst des Bildners«. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 229. Ebd., S. 230. Ebd., S. 231. Ebd. Er macht deutlich, dass für ihn das Christentum sowohl griechisches als auch jüdisches Erbe enthält, wobei von diesen Elementen der griechische Bilderkult höher gewertet wird als die jüdische Bildfeindlichkeit. Das Christentum schließlich erscheint in teleologischer Perspektive als überlegene Synthese von Judentum und antiken Vorstellungen. Eben diese Sichtweise erklärt auch, weshalb Kästner neuheidnische Strömungen vehement ablehnt. So wendet er sich am 4. 11. 1952 in einem Brief an Friedrich Michael »gegen die pseudoheidnische Griechensehnsucht«, die von falschen Voraussetzungen ausgehe (zitiert nach Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 345).

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tiefsten Mysterien des Christentums, weil sie von keinerlei Rationalismus beschränkt wird, anders als etwa der ungläubige Thomas: So ist es, das Denken: mit dem Finger auf das Unberührbare greifen, auf das Unerhörte mit dem Allerungehörigsten deuten, und, wenn es schlimm ist, zu langen. Der Maria aus Magdala aber, die nicht denkt, wird die Gnade des Anrufs zuteil. Zu ihr sagt Christus: »Noli me tangere, me mu haptu. Begreife mich nicht.«69

Damit endet Kästners Griechenland-Bericht. Die Botschaft eines weiblichen naiven Gottvertrauens wird mit einer männlichen Skepsis kontrastiert, die dem Mysterium des Glaubens gegenüber letztlich defizitär bleiben muss. Wie viele Texte über Griechenland ist also auch Erhart Kästners Ölberge, Weinberge Dokument eines diffusen, letztlich aufklärungsresistenten Antirationalismus. Ebenso wie die neumythischen Texte der Zwischenkriegsjahre nimmt er das Reiseerlebnis zum Anlass für weltanschauliche Meditationen. Deren Sicherheit aber wird niemals rational begründbar, sondern lässt sich auf die subjektive Aneignung einer abendländischen Traditionsreihe zurückführen. 2.1.3.

Mythos und Geschichte. Kästners harmonisierende Vergangenheitsbewältigung

Diese Überlegungen sind auch grundlegend für Kästners Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und den Entstehungsbedingungen seines Griechenland-Buchs. Den zum Teil polemischen Angriffen gegen Kästner ist entgegenzuhalten, dass der Autor in Ölberge, Weinberge sehr deutlich die Entstehungsbedingungen des Griechenland-Buchs behandelt und aus seiner Vergangenheit als Besatzungssoldat keineswegs ein Geheimnis macht.70 Allerdings führt gerade Kästners religiös getönte Geschichtsdeutung dazu, dass diese Vergangenheit relativiert, ja durch Verweise auf ein diffuses Schicksal entschuldigt wird. So dienen auch die deutlichen Passagen über deutsche Verbrechen nicht einer Aufarbeitung, sondern vielmehr als Beispiele für das Walten undurchschaubarer Zusammenhänge.

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Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 254f. Vgl. hingegen Ewa Matkowska, »›Insel verleugneter Zeit‹ oder verdrängte Geschichte. Erhart Kästners Griechenland-Bücher«, in: Adrian Hummel/Sigrid Nieberle (Hrsg.), weiter schreiben. wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre, Festschrift für Günter Häntzschel, München 2004, S. 143–156, hier S. 147: »Das Erstaunlichste ist aber, daß der Leser auch in Ölberge, Weinberge von 1953 so gut wie nichts von der blutigen Besatzung Griechenlands durch die deutschen Truppen erfährt.«

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Im dritten Kapitel von Ölberge, Weinberge, »Wiedersehen«, inszeniert Kästner die Begegnung mit seiner militärischen Vergangenheit: 1952 trifft er bei seiner ehemaligen Fremdenführerin einen Stuhl aus Wehrmachtsbeständen und eine Schuhbürste an.71 »Ja, es stand eine Feldpostnummer darauf, die mir wie der Schattenwurf eines anderen Lebens vorkam.«72 Kästner betont vor allem das Gefühl der Fremdheit, das auch die eigene Identität betrifft.73 Der Krieg erscheint hier als Element eines anderen Lebens, mit dem Kästner nur noch wenig zu tun hat. An anderer Stelle beschreibt Kästner sehr deutlich die äußeren Umstände seiner Abkommandierung nach Griechenland und die Arbeit an dem Griechenland-Buch für die Wehrmacht. Das Kapitel »Auf den ersten Blick« ist weniger wegen des Inhalts von Interesse, der, wie Wehrmachtsdokumente zeigen, den Tatsachen entspricht,74 sondern wegen der Selbststilisierung Kästners. Er inszeniert seine Aktivitäten als eine Art Eulenspiegelei, die ihm ermöglichte, langgehegte Träume zu verwirklichen. Die Versetzung nach Griechenland ist in der Retrospektive ein Ausweg aus der unangenehmen Realität, ein Ausweg, der sogar magische Züge besitzt: »Mich wundert noch jetzt, wie man so viel Glück auf eine so dreiste Lüge aufbauen kann. Aber es war, als hätte ich eine Zauberformel gefunden. Vorher war nichts gegangen, jetzt ging alles märchenhaft gut.«75 Die Reise nach Griechenland wird so zu einer eigentlich irrealen Flucht in eine Märchenwelt. An anderer Stelle verweist Kästner explizit auf das bedrückende Klima Deutschlands, das er bewusst hinter sich gelassen habe.76 Deutlich ist der Versuch erkennbar, in enger Verbindung mit den Vorstellungen von einem Ausstieg aus der Zeit den 71

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Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 33: »Ich ließ mich auf einen Stuhl nieder, der mir auf unbestimmte Weise bekannt vorkam; man konnte ihm zutrauen, ein Geschenk der abziehenden deutschen Wehrmacht zu sein, doch vermied ich, danach zu fragen.« Ebd. Auch die Begegnung mit einer jüdischen Familie führt dazu, dass implizit die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ins Gedächtnis gerufen werden: »Die liebenswürdigen Juden hatten ihr Kindchen in Marikas Haus bekommen; es war nun acht Monate alt und die Mutter unendlich glücklich. Sie sprach so gut deutsch wie ich auch, deutsch lesen und schreiben aber konnte sie nicht, denn sie war schon mit sieben Jahren aus Berlin weggekommen.« (Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 35f.). Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 63–72. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 15. Ebd., S. 19: »Deutschland war ein trüber Kerker geworden und wir waren ihm auf irgendeine Weise entflohen. Ein kurzer Krieg war zu Ende gegangen, die Straßen voll Jugend, die nicht in Uniform war.«

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Aufenthalt als Besatzungssoldat nachträglich als Akt der inneren Emigration zu interpretieren, der es ermöglichte, sich, so gut es ging, den widrigen Zeitumständen zu entziehen. Zugleich ist die Reise für den jungen Kästner ein »Abenteuer«,77 das neue Selbsterfahrungen verspricht. Diese privilegierte Form von Einsamkeit verhindert eine Korrumpierung durch die Zeitumstände. Dabei wirkt es ironisch, dass gerade die Vertreter des »verhaßten Regimes«78 dem Soldaten diese Auswege gewährten. Zwar betont Kästner die Gefahren der Reise,79 insgesamt aber entsteht der Eindruck, als sei es ein besonderes Erlebnis, die bedeutenden Stätten ungestört besuchen zu können: Wer so reist, entgeht wenigstens der Gefahr, ein Land im Zeichen des Reisebetriebes kennenzulernen. Das wenigstens bleibt ihm erspart, dieses stumpfe Befördertwerden, dieses Kostenlose des Reisens, dieses apathische Kommen und Starren, Fotografieren und wieder Gehen, diese schlechte Angewohnheit, sich durch Trümmerfelder treiben zu lassen und eine archäologische Trompete zu hören, dieses hastige Konsumieren von Orten, das gerade genügt, um hundert Plätzen für immer die Unschuld der ersten Begegnung zu rauben. Damals brauchten wir nicht einmal Mykenai, Epidauros und Delphoi zu scheuen, an denen man in Friedenszeiten schwerlich den Fremden-Autobussen entgeht. Sie waren verlassen, wie es die Wildnis der griechischen Berge und Küsten ohnehin jederzeit ist.80

Aus der Perspektive dieser elitären Tourismuskritik erscheint der Krieg als ein besonderer Glücksfall, der auch die ansonsten überlaufenen Ziele wieder in ihren natürlichen Zustand versetzt habe.81 Julia Hiller von Gaertringen benennt deutlich das Hauptproblem, das Kästners Art der Realitätsschilderung mit sich bringt: Das Dilemma des Buches besteht also darin, daß einerseits die Entstehungsumstände klargestellt sind und deutlich ist, daß das präsentierte Griechenlandbild im 77 78 79

80 81

Ebd., S. 16. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 24f. »Es war damals kein reines Vergnügen, in Griechenland auf Reisen zu sein. Das Land sah sich in technischer Hinsicht in den Stand der Unschuld versetzt; es hatte ihn ohnehin nie recht verlassen. Nun komme aber einer ohne Motore im feindlich verschlossenen, bergigen, hungernden, mißtrauischen Lande zurecht! […] Mehr und mehr wuchs die Partisanengefahr; zwei oder gar ein einzelner Deutscher allein, das mußte verdächtig erscheinen. Trat dann, wie häufig, echte Gastfreundschaft auf, so spürte man ihren kultischen Grund.« Ebd., S. 25. In diesem Kontext ist auch Kästners Beschreibung seines Aufenthaltes im Gebirge von Bedeutung: Er übernimmt sie aus dem Kriegsbuch und fügt lediglich eine damals gestrichene Episode ein, in der die Italiener als schlechte Besatzer erscheinen, während Kästner selbst im Einklang mit den Hirten lebt. Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 176–191 (Kapitel »In Arkadien und an den Quellen der Styx«).

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Krieg gewonnen wurde, andererseits aber die Kriegsrealität fast völlig ausgespart und implizit als harmlos ausgegeben wird – ohne daß irgendetwas tatsächlich geleugnet oder beschönigt würde – und folglich beim unbedarften Leser ein viel zu friedliches Bild entsteht.82

Kästner ästhetisiert nicht nur die griechische Landschaft, sondern auch nach wie vor die deutschen Besatzer. Paradoxerweise integriert Kästner in dieses programmatische Kapitel die Schilderung der badenden deutschen Soldaten aus dem Buch von 1943. Zwar verzichtet er auf die Benennung der »blonden Achaier«,83 belässt es allerdings bei der »homerische[n] Luft«84 ebenso wie bei der ästhetisierenden Schilderung von Geschützen und Soldaten.85 Dies ist ein deutliches Indiz für den zwiespältigen Umgang Kästners mit den Propagandabeständen seines Griechenland-Buchs von 1943. Die Behauptung Hiller von Gaertringens, er habe diese Schilderung »natürlich bar aller in der Erstfassung enthaltenen Mythisierung und Idealisierung«86 übernommen, ist vollkommen unverständlich. Zweifelsohne idealisiert und mythisiert Kästner weiterhin, wenn er sich nach wie vor auf die Epen Homers bezieht, lediglich die deutlichsten Elemente der nationalsozialistischen Ideologie sind gestrichen. Wohl aus ästhetischen Erwägungen belässt er in der Fassung von 1953 den Schönheitspreis, der unmittelbar der Evokation von »Verheißung und Glück«87 angesichts der Ankunft in Athen vorausgeht. Solche Übernahmen sind deshalb möglich, da Kästner im Nachhinein die Arbeit an dem Propagandabuch als Maßnahme darstellt, deren Ziel es gewesen sei, humanisierend auf die deutschen Besatzungssoldaten zu wirken.88 Kästner artikuliert in Ölberge, Weinberge deutlich seine Empörung über deren herablassenden Umgang mit der Zivilbevölkerung: 82 83 84 85

86 87 88

Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 338. Kästner, Griechenland, S. 9. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 17. Vgl. Kästner, ebd., S. 16f.: »Frühjahr 41. Von der Fahrt nach Athen wird mir ein Morgenbild immer in Erinnerung sein. […] An einer Ausweichstelle der eingleisigen Strecke wartete ein entgegenkommender Zug. Unsere Wagenreihe schob sich langsam an der anderen entlang. Es waren Fallschirmspringer von Kreta und eine Flakbatterie; auf den flachen Eisenbahnwagen standen vertäut die Geschütze, überpudert von Staub, darauf und dazwischen standen und saßen die Kämpfer, kurze Hose, Sonnenbrille und Tropenhelm. Ihre Körper waren in den wenigen Tagen kupfern gebrannt, ihre Haare weißblond. […] In junger Nacktheit tummelte sich am Fuß des Olympos die landfremde Schar und unversehens wehte homerische Luft. Mit Ahnungslosen malte die Landschaft sich ein Erinnerungsbild.« Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 334. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 17. Vgl. ebd., S. 23.

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[I]n der Tat war es widerwärtig, anhören zu müssen, wie sich, einer damals oder immer herrschenden Geistesverfassung gemäß, jeder dieser hergelaufenen Tüchtigen überhob und sich in Beschimpfungen des faulenzenden und betrügenden Südvolks erging, ohne zu ahnen, daß jeder einzelne Grieche so viel uralte Erfahrung im Blute besitzt, daß es sich sehr wohl empfahl, etwas davon zur Kenntnis zu nehmen.89

Allerdings war gerade Kästners Griechenland-Buch von 1943 an dieser Stereotypisierung alles andere als unbeteiligt.90 Auch befanden sich die meisten der »hergelaufenen Tüchtigen« anders als Kästner nicht freiwillig in Griechenland, so dass sein bildungsbürgerlicher Abwehrreflex, der zudem bedenklich an die entsprechenden Muster der Reiseliteratur erinnert, die allerdings sonst Touristen gelten, als hohle und unbegründete Geste erscheint. Zudem bleibt bemerkenswert, in wie hohem Maße Kästner auch 1953 rassistische Formeln verwendet (Sitz der Erfahrung ist nach wie vor das Blut) – sicherlich nicht, um bewusst an die Vorstellungen des Dritten Reichs anzuknüpfen, sondern eher aus einer Form von Gedankenlosigkeit und Reflexionsarmut, die typisch für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist. Wenn nämlich Kästner noch 1953 die Griechen deshalb aufwertet, da sie einer alten Rasse angehörten, so wendet er sich damit zum einen gegen Fallmerayers Griechenthese, die ja gerade im Dritten Reich zustimmend rezipiert wurde, zum anderen aber schreibt er ungebrochen die rassistischen Wertungsmuster fort. Ohnehin bleibt fragwürdig, weshalb ein altes Volk, das auf große Kulturleistungen verweisen kann, von einer Besatzungsmacht besser behandelt werden sollte als eines, dem dies nicht möglich ist. So erweist sich Kästners Rechtfertigung letztlich als unfreiwillige Fortsetzung von Argumentationsstrukturen, die bereits seinen Propagandatext bestimmten. Der Versuch, die alten Positionen zu korrigieren, entlarvt tatsächlich die problematischen Gedankenkonstrukte, die in Ölberge, Weinberge dominieren. Gleichzeitig ist deutlich der Wille erkennbar, die Not der Kriegsjahre nicht zu beschönigen. So beschreibt Kästner explizit die Folgen des Hungerwinters 1941/42 für die griechische Zivilbevölkerung: Ich gelangte an den Rand eines Grabs, das so lang und so breit wie ein Schulzimmer war. Beiderseits häuften sich Wälle. Von der Seite führten die Gleise eines Karrens heran. Offenbar hatte man tagsüber Tote herzugefahren und sie vom Karren sofort in die Grube gelegt, ohne Särge, wie es im Krieg und in Pestzeiten ist. Diesmal, im Winter 41 auf 42, war es der Hunger; allein im Piräus verhungerten Tag für Tag fünfzig; manchmal fielen nur vierzig an, dann wieder sechzig. In Athen war es 89 90

Ebd. Vgl. Fleischer, »Siegfried in Hellas«, bes. S. 35–37.

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schlimmer; wer am frühen Tag durch die Straßen ging, konnte vom Schloß bis zum Eintrachtsplatz auf dem Asphalt zwölf oder fünfzehn Verhungerte sehen; allein über den Rosten der Untergrundbahn, wo ein bißchen Wärme aufstieg, lagen gewöhnlich vier, fünf.91

In die Neufassung seines Griechenland-Buchs integriert Kästner nun auch diese Beobachtungen, die er während des Krieges unmöglich hätte publizieren können. Im Folgenden beschreibt er detailliert die Phasen des Hungertods, ausgezehrte Kinderleichen und die Massengräber.92 Indem er die Kriegsfolgen für die leidende Zivilbevölkerung ausdrücklich in seine Darstellung Griechenlands integriert, verleiht er seinem Reisebericht auf den ersten Blick eine dokumentarische Dimension. Allerdings erwähnt Kästner nicht die Ursachen für diese Hungerkatastrophe. Vielmehr reiht er die Beobachtungen in ein religiös getöntes geschichtsphilosophisches Schema, das unter Zuhilfenahme überkommener NordSüd-Klischees das Elend in Griechenland als Ausdruck einer welthistorischen Notwendigkeit versteht. Dadurch wird das subjektive Leid des Einzelnen zumindest teilweise bedeutungslos, wie auch Kategorien wie Schuld oder Verantwortung suspendiert werden. Kästner zieht gar den Ödipus-Mythos heran, um das Elend sinnfällig zu machen: Zehntausend Ödipusenkel, zehntausend Schwellfüße; jetzt aber Ödeme nicht mehr von durchstochenen Fersen, sondern Hungerödeme. Solche Ausbrüche des Elends, solche Wuchten des Leidens gehören zum Bilde des Südens. Hier sind sie immer als Möglichkeit da. Das exemplarische Leiden der Bettler, Krüppel und Blinden auf den Straßen bewirkt, daß Leiden immer anwesend ist, während man bei uns dergleichen versteckt.93

Durch diesen Vergleich wird das durch politisches und militärisches Handeln verursachte Leid mit dem metaphysisch begründeten Leid des Ödipus gleichgesetzt. Der antike Mythos demonstriert nicht zuletzt die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einer von Determinationsstrukturen geprägten Welt, deren schicksalhafte Mechanismen ihm bis zur Katastrophe undurchschaubar bleiben müssen. Bezeichnenderweise entspricht für Kästner das Leid der Kriegsjahre dem im Süden immer anzutreffenden Leid: Diese Argumentationsstruktur bewirkt, dass die Hungerkatastrophe nunmehr als Ausdruck einer speziell südlichen Disposition (wodurch auch immer diese begründbar wäre) und nicht mehr lediglich als Kriegsfolge interpretiert werden kann. 91 92 93

Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 73f. Vgl. ebd., S. 74f. Ebd., S. 76.

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Diese Art der Distanzierung von Leid ist selbstverständlich nicht auf Kästners Reisetexte beschränkt;94 in seinem Fall aber steigert sich die Wirkung eines ohnehin zynischen Topos noch, da er aus der Perspektive des ehemaligen Besatzungssoldaten gebraucht wird, der – wenn auch nicht persönlich verantwortlich – die Ursache des Leidens verkörpert, das er beschreibt. Kästner geht noch einen Schritt über andere Autoren hinaus, indem er die Erfahrung südlichen Elends als geschichtsphilosophische Lektion verstanden wissen will. Dazu gehört für ihn zunächst, das Leid bewusst zur Kenntnis zu nehmen. Die Suche nach dem Leid kann sogar ausschlaggebend für die Wahl des Reiseziels sein: »Dies Allgemeine, diese Ohnmacht des Leidens (sie ist ansteckend) ist einer der Gründe, weshalb man Länder wie dieses Hellas bereist.«95 Die Reise nach Griechenland stellt auch eine Grenzerfahrung dar. Was sich in südlichen Ländern beobachten lässt, ist, so Kästner, die Auflösung fester Strukturen, ja die Auflösung der Geschichte selbst: Jetzt reist man, um zu erfahren: wie das ist, wenn die Völker noch vollends ins Geschichtslose glitten. Denn das ist es doch, daß sie dort keine Geschichte mehr haben; es sind bloß noch Nachwehen, bloß noch Geschichten. Wo geordnete Macht mit ihren Säulen, Wölbungen, Spannungen, Stockwerken niederbrach, ist bloß noch Eingeebnetes, Schutt. Bloß noch Preisgabe. Bloß noch Masse und Glauben.96

Dieser Verfall ist aber wichtig als erste Stufe auf dem Weg zu einem Glauben, der nur in Notzeiten tatsächliche Kraft entfalten kann. Das Elend ist also die Bedingung einer religiösen Stimmung, es wird auf diese Weise erklärt und erfüllt eine sinnvolle Funktion im Weltzusammenhang.97 Für Kästner ist Griechenland also nicht nur in Kriegszeiten ein Ort paradigmatischen Elends. Auch das Flüchtlingsleid rückt Kästner in übergreifende, nahezu mythische Zusammenhänge. So folgt auf ein Kapitel über

94

95 96 97

So ist es ein stereotypes Verfahren der Reiseliteratur, das Elend in südlichen Ländern als malerisch und weniger schrecklich als im Norden zu betrachten. Vgl. etwa Goethe, Italienische Reise, S. 336–338. Ähnlich verfährt Hauptmann bei seiner mythisierenden Beschreibung der korfiotischen Bettler. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 76. Ebd., S. 76f. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 339: »Eine solche heilsgeschichtliche Deutung gegenwärtigen Unheils ist natürlich ein gewagtes Unterfangen, und besonders problematisch ist dabei die nachträgliche Verknüpfung mit den voranstehenden Elendskapiteln: die geschichtstheologische These wird auf das Griechenland der Hungersnot und des Flüchtlingselends im Hungerwinter 1941/42 angewendet.«

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griechische Flüchtlinge aus Kleinasien98 eines über das Leid und die heroische Haltung ostpreußischer Heimatvertriebener. Dabei wird deutlich, dass Kästner in der Retrospektive die kleinasiatische Katastrophe als Menetekel für die Vertreibung der Deutschen am Ende des Weltkriegs ansieht: Nach dem Krieg, als mir Fräulein v. V. die Geschichte ihrer Flucht vor den Russen erzählte, fiel mir Napoléon ein. Die Weltgeschichte scheint manchmal auf Ordnung zu halten. So eröffnete sie das Zeitalter, das man vielleicht einmal das Flüchtlingszeitalter nennen wird, ganz pedantisch mit der Austreibung der allerfrühesten Siedler, diesem Urbestand, den das Abendland aus den Tagen seines Erwachens besaß. Damit jeder sehen könne, daß dies nur ein erster Akt sei; die anderen folgten.99

Die personifizierte Weltgeschichte ist also verantwortlich für menschliches Leid.100 Die Aufgabe des Menschen kann es nur sein, dieses Leid auszuhalten. Kästner stellt hier zwei unterschiedliche Arten der Bewältigung dar. Während der Grieche Napoléon und sein alter Vater nicht von der Vergangenheit lassen können und von Verfall umgeben sind,101 haben das bereits erwähnte Fräulein v. V. und ihre Familie in einem geradezu ästhetischen Akt Abschied von ihrem Heim genommen und dort auch sämtliche Erinnerungsstücke zurückgelassen: Nie, nie war unser Haus so schön, so erfüllt. Es war der Moment, wo es sein eigener Inbegriff war. Jede Wegnahme hätte das Ganze geschwächt, jeder Eingriff hätte sein Ende, für das es alle Kraft brauchte, erschwert. […] In der letzen Stunde legten wir die Platten der Unvollendeten auf und hörten sie an bis zum Schluß. Wir waren weit von Tränen entfernt. Dann fuhren wir ab.102

Diese kontemplative (und elitaristische) Haltung scheint der einzige Weg zu sein, den Gefahren der Geschichte zu widerstehen. Der Kunst kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Schuberts Musik bannt die Schrecken der anrückenden Roten Armee. Kästner entwirft auch hier die Möglichkeit des Aus-der-Zeit-Tretens selbst angesichts größter Gefährdungen. Er thematisiert historische Ereignisse unter eskapistischen und harmonisierenden Vorzeichen. 98 99 100

101 102

Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 63–67 (Kapitel »Napoléon«). Ebd., S. 67. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 340: »Ein merkwürdiges Geschichtsbild offenbart Kästner darüber hinaus auch, wenn er die jüngste Vergangenheit überhaupt nur nach ihren Folgen, nicht aber nach ihren Ursachen beurteilt.« Vgl. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 63–67. Ebd., S. 68.

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Am problematischsten jedoch wird Kästners Text, wenn er sich mit den Kriegsverbrechen der deutschen Besatzer auseinandersetzt. Dabei ist sein Text von bemerkenswerten Leerstellen geprägt. So schildert er zwar humorvoll die wanzengeplagte Übernachtung im Kloster Megaspileon bei dem Ort Kalavryta,103 erwähnt aber an keiner Stelle, dass die Mönche wenig später allesamt von den Besatzern umgebracht wurden, was Kästner natürlich bekannt war.104 Hiller von Gaertringen fasst diese Leerstelle durchaus plausibel als Versuch auf, die Erinnerung an erfüllte Augenblicke nicht durch Reminiszenzen an den Krieg zu kontaminieren: »Dahinter steckt nicht die Absicht, das Verbrechen von Kalavryta zu unterschlagen, aber die Intention, sein davon unberührtes persönliches Erleben auch weiterhin als vom Krieg unbeeinträchtigt zu bewahren.«105 Diese These wird dadurch gestützt, dass Kästner an anderer Stelle mit großer Offenheit die Greueltaten der Wehrmacht benennt. In dem Kapitel »Dorffest«106 beschreibt Kästner zunächst eine Wanderung durch das Tal von Chaironea, einer ländlichen Idylle, die mythologische Assoziationen weckt.107 Dieses Tal führt zu dem mythischen Dreiweg, an dem Ödipus seinen Vater Laios erschlug.108 Die Reminiszenz an den Ödipus-Mythos führt zu einer völligen Veränderung der Atmosphäre. Bald darauf erfährt der Leser, dass sich in der Nähe auch im 20. Jahrhundert ein Verbrechen ereignete, das allerdings in seinen Ausmaßen und der Brutalität nicht mit der Tat des Ödipus zu vergleichen ist: Wenn ich so ging, konnte ich das Dorf Distomo meiden, das vor acht Jahren, im Krieg, der Schauplatz eines ungeheuerlichen Blutbades war: der Pappas des Dorfes, mit oder ohne Willen, hatte zwei Lastwagen voller Soldaten in den Hinterhalt der Partisanen bei Steiri geschickt, darauf folgte eine planvolle Rache, sinnloses Morden an Frauen, Kindern und Bauern, wie es ein Land noch nach hundert Jahren im Gedächtnis behält.109

Im Juni 1944 massakrierten Angehörige der Waffen-SS in einer sogenannten Vergeltungsaktion nahezu alle Bewohner des Dorfes Distomo. Sogar deut103 104

105 106 107

108 109

Vgl. ebd., S. 174–176. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 336. Ebd. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 243–247. Vgl. ebd., S. 243: »Das Tal von Chaironea ins Gebirg von Phokis hinauf ist ein Reich, in dem Demeter herrscht; hier zeigt sie ihr großes und bäuerlich klares Gesicht. Pan, oberhalb, spendet die Quellen; aber bei Demeter werden die Wasser verteilt und genutzt.« Vgl. ebd., S. 244. Ebd.

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sche Quellen belegen eindeutig, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelte.110 Auch Kästner lässt keinerlei Zweifel an der verbrecherischen Natur des Racheakts. Das Entsetzen über das Verbrechen tritt zurück hinter der Scham. Sie bewirkt, dass der reisende Deutsche den Spuren der Vergangenheit ausweichen möchte. Doch es hat den Anschein, als solle ihm das nicht gelingen: Durch einen geradezu gespenstischen Zufall ist just an diesem Tag Dorffest in Distomo. Von Überlebenden des Massakers, die auf einem Feld nahe der Straße arbeiten, wird Kästner (der nicht als Deutscher erkannt wird) gedrängt, an der Feier teilzunehmen. Erst im letzten Moment gelingt es ihm, dem »seltsame[n] Ansinnen, auf dem Dorfplatz des Blutortes eine Trinkstunde zu halten«,111 zu widerstehen. Dennoch ist der Reisende gezwungen zu feiern: Im Nachbarort Steiri muss er an einem geradezu bacchantischen Trinkgelage teilnehmen. Dabei entsteht ein Eindruck von überschäumender Lebensfülle, so dass man meinen könnte, die unauslöschliche Kraft des Lebens triumphiere über Ereignisse wie Massaker oder andere Kriegsgreuel. Die fröhliche Umgebung und allgemeine Ausgelassenheit bringen Kästner dazu, »dem Leben eine Ovation darzubringen, dem Überleben, das die Schrecken der Geschichte verzehrt«.112 In einer Art von kathartischem Erlebnis distanziert Kästner die Schrecken der Vergangenheit; der allgemeine, allumfassende Lebenszusammenhang rückt so letztlich die Greueltaten der deutschen Besatzer in einen größeren Rahmen. Die »Schrecken der Geschichte« sind Symptome eines übergreifenden Zusammenhangs. Ihre Beschwörung ist geeignet, die Frage nach Schuld und Verantwortung in den Hintergrund treten zu lassen. Schließlich stilisiert Kästner seine Festteilnahme zu einer Art von Sühneleistung, einem Trankopfer. Auch die groteske Situation ist Ausdruck einer schicksalhaften Fügung, der sich Kästner nicht widersetzen kann: »Aber es schien mir nun einmal bestimmt, in dieser bedrückenden Gegend zu feiern.«113 Auch seine in Ansätzen durchaus mutige Auseinandersetzung mit deutschen Kriegsverbrechen findet so in mythischem Rahmen statt. Von vornherein ist die Schilderung in Verweisungszusammenhänge eingebettet, die letztlich enthistorisierend wirken. Ödipus-Mythos und Kriegsverbrechen werden gleichermaßen als Ausdruck einer abstrakten, wenig menschlichen Geschichte betrachtet; daneben evoziert Kästner ewige kreislaufartige Naturzusammenhänge und zieht sich so selbst aus der Geschichte zurück. 110 111 112 113

Vgl. Mazower, Inside Hitler’s Greece, S. 212–214. Kästner, Ölberge, Weinberge, S. 246. Ebd., S. 247. Ebd., S. 246.

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Erhart Kästner versteht Geschichte als Leidensprozess. Diese in den Nachkriegsjahren durchaus verbreitete Sichtweise rückt die deutschen Verbrechen in einen übergreifenden mythischen Zusammenhang. Es geht ihm also eher um eine Bannung des Schreckens, der in einem christlich akzentuierten Horizont aufgefangen, ja geborgen wird, als um eine rationale Aufarbeitung der Vergangenheit. Dabei entsteht ein zwiespältiger Endruck: Einerseits benennt Kästner mit großer Deutlichkeit deutsche Verbrechen, andererseits entschuldigt er diese implizit durch den Verweis auf ein diffuses Schicksal.114 Ölberge, Weinberge dient also sowohl der Aufarbeitung als auch der metaphysischen Entschuldigung deutscher Kriegsverbrechen. Dieser metaphysische Gehalt allerdings ist für die regressiven und antimodernen Züge des Reiseberichts verantwortlich. Geschichte erscheint als diffuses Schicksal, dem das Individuum unterworfen ist. In geradezu zynischer Weise entwirft Kästner ein Griechenland, das trotz aller Schrecken des Krieges nach wie vor ein idyllischer Rückzugsraum sein kann, ein Ort von religiös konnotierten Transzendenzerfahrungen. Kästners Reisebericht Ölberge, Weinberge gehört in die Kontexte bundesrepublikanischer Selbstfindung. Indem Kästner das von Krieg und Bürgerkrieg verheerte Land wiederum als Sehnsuchtsziel verankert, festigt er – entgegen den eigenen Intentionen115 – deutsche Traditionen, deren Ideologisierung ursächlich für menschliches Leid verantwortlich war. Es bleibt höchst fragwürdig, ob es angesichts des eklatanten Missbrauchs philhellenischer Traditionen im Dritten Reich genügen kann, Griechenland abermals zum Rückzugsort vor Beschleunigung und Moderne zu stilisieren. So steht Kästner erkennbar am Ende einer philhellenischen Tradition. Zwar versucht er, dieser Strömung neue Impulse zu verleihen, sie am Leben zu halten – dieser Versuch der Revitalisierung aber kann unmöglich glücken. 2.2. »Zwar lebe ich in den denkend-dichtenden Zwiesprachen immer dort«. Martin Heideggers Aufenthalte (1962) Martin Heidegger stellt in seinem zu Lebzeiten nicht publizierten Reisebericht Aufenthalte einerseits die Auswüchse des beginnenden Massentouris114

115

So ist Julia Hiller von Gaertringens These von der geringen Bedeutung der Realität für Kästner zu kurz gegriffen. Vgl. Hiller von Gaertringen, »Meine Liebe zu Griechenland stammt aus dem Krieg.«, S. 336: »In Kästners Bild von Griechenland bleibt die historische Realität eine Größe, die man vernachlässigen kann.« Vielmehr kommt es darauf an, wie Kästner diese Realität seinem weltanschaulichen Programm unterwirft. Vgl. ebd., S. 341.

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mus in den Vordergrund, andererseits entwirft er Griechenland als Sehnsuchtsort, der vor allem durch die Dichtung Friedrich Hölderlins geprägt ist. So verbinden sich in seinem Text kultur- und technikkritische Elemente mit philhellenischen Stereotypen: Wichtiger als das bereisbare Griechenland ist auch für Heidegger das geistige Hellas, das als Bezugspunkt für seine Philosophie von zentraler Bedeutung ist. Heideggers späte Reisen nach Griechenland gehen letztendlich auf Anregungen Erhart Kästners zurück.116 Bereits 1954 plante Kästner eine gemeinsame Reise mit Heidegger,117 die in letzter Sekunde jedoch an Einwänden des Philosophen scheiterte.118 Kästner, ein geradezu devoter Verehrer Heideggers,119 signalisierte auch in den folgenden Jahren seine Bereitschaft: Ich bin in diesem Jahr nicht in Griechenland und es fehlt mir. Im vorigen war ich auf Kreta, es war unglaublich schön, da muß ich auch wieder hin. Und Sie waren immer noch nicht dorthin unterwegs? Ja, soll es denn werden oder Traum bleiben? Ich stehe schon zur Verfügung.120

Kästner blieb hartnäckig. Als Heidegger seine hohe Arbeitsbelastung und eine Erkrankung seiner Frau als Ablehnungsgrund anführte,121 reagierte Kästner mit dem Vorschlag, er wolle als Stellvertreter Heideggers die Reise unternehmen und dem Philosophen seine Eindrücke berichten: 116

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Vgl. zum Verhältnis der beiden Autoren Hans-Helmuth Gander, »Martin Heidegger und Erhart Kästner. Anmerkungen zu einem Gespräch im Wegfeld von Dichten und Denken«, in: Heidegger Studies 3/4 (1987/1988), S. 75–88. Vgl. Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 1. 1. 1954«, in: Martin Heidegger/Erhart Kästner, Briefwechsel 1953–1974, hrsg. v. Heinrich W. Petzet, Frankfurt am Main 1986, S. 22: »Mit Ihnen in Griechenland zu sein (und dem liebenswerten Grafen Thun), das ist die einzige wahre Wahl. Zwar lebe ich in den denkend-dichtenden Zwiesprachen immer dort, dennoch wird es der Vorbereitung bedürfen, nicht so sehr der gelehrten, sondern derjenigen, die Ihr herrliches Buch vermittelt. Darum ist mir die Wartezeit bis Frühjahr 1955 gut gelegen, zumal ich für geplante Veröffentlichungen ohnehin während dieser Zeit bei Heraklit und Parmenides zu Gast bin – gesprächsweise.« Vgl. Elfride Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 31. 3. 1955«, ebd., S. 26: »Es kommt ein Schlag: mein Mann will nun doch nicht. Was ich immer gefürchtet habe, ist eingetreten, seine Hemmungen sind zu gross und es hat keinen Sinn, ihn umstimmen zu wollen. Man muss ihn anders beurteilen als durchschnittliche Menschen. […] Lieber Herr Kästner – ich bin sehr betrübt; aber nichts ist zu ändern – tragen Sie’s uns nicht nach – ach, es ist nicht leicht, mit Philosophen verheiratet zu sein!« Vgl. auch den handschriftlichen Zusatz von Martin Heidegger: Ebd., S. 27. Vgl. Erhart Kästner, »Brief an Martin Heidegger, 26. 6. 1961«, ebd., S. 49: »Wir lieben Sie so sehr, wie wir Sie verehren.« Erhart Kästner, »Brief an Martin Heidegger, Ende Juli 1957«, ebd., S. 36f. Vgl. Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 21. 2. 1960«, ebd., S. 43f.

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Reiseberichte über Griechenland nach 1945

Heute nacht überlegte ich, daß es gut wäre, wenigstens ich würde für Sie die Reise, so wie wir sie im Falken geplant haben (das Planen war köstlich) ausführen, so als wenn Sie dabeiwären, und es Ihnen dann genau schildern. Ich glaube, Goethe sagte so etwas von Botschaftern und verlängerten Organen, die man zu Recht habe, wenn man jüngere Freunde besitze.122

Offenkundig ist Kästner begierig, den Philosophen bei dessen erster Kontaktaufnahme mit dem realen Griechenland zu begleiten, ja zu führen. Dabei wirbt er geradezu um die Gunst Martin Heideggers, wenn er sich ihm als Dienstleister anträgt. Zugleich unterschätzt er in bezeichnender Weise die Differenzen, so dass sich ausgehend von dieser Beobachtung die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Griechenland-Darstellungen Kästners und Heideggers aufdrängt. Als Heidegger schließlich im Frühjahr 1962 nach Griechenland reiste, tat er dies in Begleitung seiner Frau, die ihm die Reise geschenkt hatte. »Von Venedig ging es zu Schiff nach der Peloponnes, Kreta und Rhodos; zurück durch die Ägäis über Delos nach Athen, weiter nach Ägina, Delphi und wieder nach Venedig.«123 Seiner Frau Elfride sind auch die Aufzeichnungen gewidmet, die Heidegger über die Reise machte.124 Dieser kurze, handschriftlich überlieferte Reisebericht wurde zu Heideggers Lebzeiten nicht publiziert. Erstmals erschien er 1989.125 Heideggers erkennbare Scheu vor der Reise mag zum einen damit zu tun haben, dass er nicht ohne seine Frau und zudem nicht unbedingt in Begleitung Kästners reisen wollte. Die erste Vermutung legt ein Brief Elfride Hei-

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Erhart Kästner, »Brief an Martin Heidegger, 26. 2. 1960«, ebd., S. 45f. Curd Ochwadt, »Nachwort des Herausgebers«, in: Martin Heidegger, Zu Hölderlin. Griechenlandreisen (Gesamtausgabe; Bd. 76), Frankfurt am Main 2000, S. 393–407, hier S. 394. Martin Heidegger, »Aufenthalte«, in: Ders., Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, S. 213–245. Vgl. die Widmung an Elfride Heidegger: »Aufenthalte«, S. 213. Aus dieser Ausgabe wird hier zitiert. Martin Heidegger, Aufenthalte, Frankfurt am Main 1989. Enthält Faksimile der Handschrift. – Heidegger und seine Frau reisten in den folgenden Jahren noch dreimal nach Griechenland. Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994, S. 464. Die Reisejahre sind 1964, 1966 und 1967. Kästner spielte in den Planungen keine Rolle mehr. Die Distanzierung von Kästner wird auch an Heideggers Briefen deutlich. Vgl. Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 23. 8. 1962«, in: BW Heidegger/Kästner, S. 51f., hier S. 51: »Eigentlich hätte der erste Gruß nach der Griechenlandfahrt, die für meine Frau und mich zu einem Geschenk wurde, zu Ihnen gehen sollen. Er ging auch, wenngleich ungeschrieben.«

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deggers an Kästner nahe,126 die zweite wird durch die Tatsache erhärtet, dass Kästners Ansinnen, zu dritt zu reisen,127 nicht weiterverfolgt wurde. Zum anderen wird diese Scheu dadurch begreiflich, dass der Bezug auf Griechenland in Heideggers Denken von jeher eine bedeutende Rolle eingenommen hatte und gerade deshalb die Furcht vor einer enttäuschenden Erfahrung umso größer werden musste, je näher die Reise rückte. Eben dieses Zurückschrecken vor dem tatsächlichen Erlebnis schwingt in einem Brief Heideggers an Erhart Kästner aus dem Februar 1960 mit, in dem er wieder einmal das Drängen des Wolfenbütteler Bibliothekars abwehrt: Es wird dabei bleiben, daß ich Einiges von »Griechenland« denken darf, ohne es zu schauen. Ich muß jetzt darauf denken, das, was vor dem inneren Blick steht, noch in einem gemäßen Sagen festzuhalten. Die Sammlung dazu bietet am ehesten der heimische Ort.128

Die gedankliche Auseinandersetzung ist der Erfahrung des Landes vorzuziehen. Auch Heideggers Reisebericht wird die Frage diskutieren, was die Erfahrung des Ortes zu leisten vermag, welchen Zugewinn sie gegenüber der reinen Reflexion bedeuten kann. Griechenland stellt für Heidegger einen besonderen Ort dar: »Bei keinem anderen Philosophen ist die Vergegenwärtigung der Antike so eng mit dem eigenen Denken verwoben wie bei Martin Heidegger.«129 Griechenland ist für den Philosophen in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Zunächst setzt er sich intensiv mit der griechischen Philosophie, insbesondere den Vorsokratikern, auseinander. Besonders die Beschäftigung mit der Technik in der Nachkriegszeit bringt eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Kultur des antiken Griechenlands mit sich. Hieran wird deutlich, wie selbstverständlich Heidegger philhellenische Klischees aufnimmt und in seine Philosophie integriert: Am Beginn des abendländischen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und menschlichen Geschickes zum Leuchten.130

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Vgl. Elfride Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 31. 3. 1955«, in: BW Heidegger/ Kästner, S. 26. Vgl. Erhart Kästner, »Brief an Elfride und Martin Heidegger, 2. 4. 1955«, ebd., S. 29: »Ja, warum wollten Sie dann eigentlich nicht mitfahren?« Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner«, 21. 2. 1960, ebd., S. 43. Michael Theunissen, »Heideggers Antike«, in: Vöhler/Seidensticker (Hrsg.), Urgeschichten der Moderne, S. 83–97, hier S. 83. Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13–44, hier S. 42.

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Griechenland ist für Heidegger also Ort der Göttergegenwart und – damit zusammenhängend – einer unwiederholbaren Blüte der Kunst und somit ein positiv besetztes Gegenbild zu einer von Transzendenzverlust und Technisierung geprägten Moderne.131 Schließlich wäre auch seine Deutung der Dichtung Hölderlins ohne eine intensive Beschäftigung mit dem Erbe Griechenlands nicht denkbar. In Heideggers Reisebericht kreuzen sich so mehrere für sein Denken zentrale Linien: Die griechische Philosophie, die Würdigung des antiken Griechenlands als eines von Harmonie geprägten Gemeinwesens und die Interpretation der Werke Hölderlins bilden den Hintergrund von Heideggers Begegnung mit dem realen Griechenland. Dabei ist von vornherein deutlich, dass die griechische Gegenwart für Heidegger völlig uninteressant ist. Zwar nimmt er die Auswüchse des Tourismus wahr und beschäftigt sich intensiv mit ihnen, kümmert sich aber nicht um die Folgen für das Reiseland, sondern nur um die Auswirkungen auf die Reisenden. Es kommt ihm, wie der Mehrzahl der Reisenden nach Griechenland, lediglich auf die negativen Effekte auf die Mitreisenden an. So ist Heideggers Reisebericht ein insbesondere in der ersten Texthälfte wenig homogenes Konglomerat aus Tourismuskritik, Hölderlindeutung und philosophischem Traktat. Gerade diese Unentschlossenheit verdeutlicht die Aporien in Heideggers Griechenland-Wahrnehmung: Einerseits diskutiert er die Schwierigkeiten des Fremdverstehens und den Einfluss von Vorurteilen, auf der anderen Seite reist er mit keinem anderen Ziel, als seine Philosophie am Ursprungsort der westlichen Kultur und Philosophie bestätigt zu sehen. 2.2.1.

Modernekritik auf den Spuren Hölderlins

Es gehört zu den Paradoxa des deutschen Schreibens über Griechenland, dass vielfach Hölderlin als literarischer Gewährsmann der Reisenden dient. Hölderlin, der bekanntlich nie selbst in Griechenland war und sein Wissen aus zeitgenössischen Reisebeschreibungen schöpfte,132 entwarf mit Griechenland einen Sehnsuchtsraum, der im 20. Jahrhundert auf unterschied131

132

Vgl. ebd., S. 36: »Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft des Ge-stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprüngliches Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren.« Gestell oder Ge-stell ist bei Heidegger der »Name für das Wesen der modernen Technik« (ebd., S. 28). Vgl. zu den Quellen von Hölderlins Hyperion Schmidt, »Kommentar«.

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lichste, immer aber enthusiastische Reaktionen stieß. Im Kontext dieser Arbeit ist an Isolde Kurz’ lokalpatriotischen Lobpreis des Schwaben Hölderlin zu erinnern,133 an Gerhart Hauptmanns »hyperionsehnsüchtig[e]«134 Neigung zu Griechenland oder an die Angehörigen der Jugendbewegung, die auch die Insel Hyperions besuchen wollen.135 Für Martin Heidegger besitzt Hölderlin seit den 1930er Jahren paradigmatische Bedeutung.136 Er sieht in ihm die Verkörperung des poeta vates, aber auch den an seiner Zeit leidenden Menschen, der im antiken Griechenland Heilung von den Fährnissen der Moderne sucht. Heideggers Hölderlin-Rezeption ist also auch Zeichen eines Krisenbewusstseins, einer Sinnsuche. Dies verdeutlicht bereits die vierte Strophe aus Hölderlins Elegie Brod und Wein, die Heidegger seinem Reisebericht voranstellt: Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße, Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang? Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche? Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?137

Von dieser Strophe ausgehend, die laut Heidegger die »Flucht der Götter und mit ihr die Verödung des Wohnens der Menschen, das Leere ihrer Werke, das Vergebliche ihrer Taten«138 zum Inhalt hat, entwickelt er das Programm seiner Reise. Hölderlin ist für Heidegger eine paradigmatische Gestalt der Moderne-Erfahrung, einer Moderne, die geprägt ist von Transzendenzverlust und Zersplitterung. Vor diesem Hintergrund entwirft Friedrich Hölderlin Griechenland als geistigen Zufluchtsort. Hölderlins Sehnsuchtsgestus ist auch bestimmend für Heideggers Fahrt nach Griechenland. Allerdings sind die Voraussetzungen verschieden: Im Vergleich mit der Gegenwart Hölderlins hat sich die Lage noch verschlechtert, die Menschheit befindet sich nun »am Rand der Selbstzerstörung«.139 Hölderlin war in der Lage, die Verlusterfahrungen der Moderne im Medium der Literatur auszugleichen; er bedurfte nicht der Erfahrung Griechenlands, um sich seiner 133 134 135 136

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Vgl. Kurz, Wandertage in Hellas, S. 156, S. 214, S. 247f. Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 13. Vgl. Hellas. Tagebuch einer Reise, S. 30. Vgl. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 328f. – Vgl. zu Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlin die Beiträge in dem Sammelband von Peter Trawny (Hrsg.), »Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.« Heidegger und Hölderlin, Frankfurt am Main 2000 (Martin Heidegger Gesellschaft, Schriftenreihe; 6). Zitiert nach Heidegger, »Aufenthalte«, S. 215. Ebd., S. 215. Ebd.

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Werte gewiss zu sein. Anders verhält es sich für die Nachgeborenen, die eine bekräftigende Erfahrung des Ortes, die eigene Anschauung benötigen.140 Dabei ist keineswegs sicher, ob diese Suche von Erfolg gekrönt sein wird. Wie der Sprecher in Hölderlins Elegie formuliert Heidegger seine Hoffnung als Fragen: Ob wir den Bereich finden, den wir suchen? Ob uns der Fund gewährt ist, wenn wir das noch bestehende Land der Griechen be-suchen, indem wir seine Erde, seinen Himmel, sein Meer und seine Inseln, die verlassenen Tempel und heiligen Theater begrüßen?141

Heidegger strebt an keiner Stelle eine Auseinandersetzung mit der griechischen Gegenwart an. Sie ist für ihn (anders als der Tourismus) völlig ohne Belang. Auch für die zu Beginn überwiegenden Enttäuschungssignale ist die moderne Realität nicht verantwortlich, eher liegt es an der Landschaft, die den Vorstellungen des Reisenden nicht entspricht: »Das Geahnte und Erwartete erschien nicht.«142 Dieses Eingeständnis der Enttäuschung führt zu grundlegenden Reflexionen, ob denn überhaupt so etwas wie die Erfüllung der Erwartungen möglich sei: Die Zweifel blieben, ob uns je noch eine Erfahrung des anfänglich Griechischen gewährt sei; ob nicht, was schon allbekannt ist, jede solche Erfahrung durch den jeweils heutigen Horizont der Erfahrenden vorbestimmt und demgemäß begrenzt werde; Zweifel, ob dadurch nicht alle Bemühung um ein Wiedergewinnen des Anfangs vergeblich und unwirksam bleibe, selbst wenn sie auf irgendeine beschränkte Weise gelänge; Zweifel, ob solches Nachsinnen nicht das unmittelbare Erfahren auf der Fahrt verderbe. Warum nicht geradehin das Erblickte in einem einfach beschreibenden Erzählen festhalten?143

Hier wird deutlich, dass Heidegger, wie vor ihm viele Reisende des 20. Jahrhunderts, gerade das Ursprüngliche, die griechische Frühzeit sucht.144 Ausgehend von diesen Aussagen über die eigene Vorstellung von der Antike ent140

141 142 143 144

Vgl. ebd., S. 216: »Wir Bedürftigeren, Ärmeren an dichtenden Gedanken brauchen vielleicht den Besuch der Insel der Inseln, sei es auch nur, um ein lang gehegtes Ahnen jenes Bereiches zu seinem Weg zu ermuntern.« Ebd. Ebd., S. 218 (in Bezug auf Korfu). Ebd., S. 219. Diese Vorliebe gehört in den Kontext seiner Beschäftigung mit den frühen griechischen Philosophen und ist bei ihm verbunden mit durchaus nationalistischen Untertönen: »Heidegger traut allein uns Deutschen die Fähigkeit zu, die zukunftsträchtigen Griechen der neueren Zeit zu sein, das heißt des näheren: das archaische Griechentum wiederzuholen.« (Theunissen, »Heideggers Antike«, S. 95).

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wickelt Heidegger eine Art Poetik der Reisebeschreibung. Zwar deutet er an, dass die pure Beschreibung eine durchaus legitime Möglichkeit sei. Diese bleibe aber wegen ihrer Oberflächlichkeit notwendig defizitär; ohnehin gebe es genügend Texte dieser Sorte.145 Heidegger möchte sich also mit seinen Aufenthalten von der Masse der Reisetexte absetzen. Allerdings ist er sich der Gefahr bewusst, dass die übermäßige Reflexion das Reiseerlebnis verderben könne. Ohnehin sei weniger die forcierte Subjektivität denn Griechenland an sich von Belang: »Aber nie wich mir auch der Gedanke aus dem Sinn, daß es nicht nur auf uns und unsere Griechenlanderlebnisse ankomme – sondern auf das Griechenland selbst.«146 Für Heidegger ist also das erlebende Subjekt zweitrangig; in erster Linie ist das Wesen des bereisten Landes wichtig. Diese Vorstellung von Objektivität bleibt höchst problematisch und kann (wenn überhaupt) nur in einem eingeschränkten Maßstab gelten: Objektiv ist, was Heideggers Vorstellungen von Griechenland entspricht. Dieser Denkfigur liegt die problematische Annahme zugrunde, dass intensive Anschauung so etwas wie Objektivität entwickeln kann. So kommt es zu paradoxen Wertungen der griechischen Landschaft: Olympia ist für Heidegger nicht griechisch genug.147 Auch die Archäologie kann nicht die Enttäuschung kompensieren. Allerdings sieht Heidegger ein Mittel, das die ungenügende Realität verklären konnte und kann: Über das Medium der Kunst ist es möglich, dem eigentlichen griechischen Wesen nahezukommen. So besitzt etwa die Lyrik Pindars eine doppelte Bedeutung: Einerseits verklärte sie bereits in der Antike die Sieger der Wettkämpfe, auf der anderen Seite kann der Gedanke an Pindars Siegeslieder die Welt des alten Griechenlands und seiner Einheit von Leben und Kunst wieder prä145

146 147

Vgl. Heidegger, »Aufenthalte«, S. 219: »Als ob ›Griechenland‹ nicht schon oft genug und vielfach treffend und kenntnisreich beschrieben wäre. Lassen wir es doch bei dem genügen, daß die mit uns reisenden echtbemühten Schiffsgäste, ausruhend auf Deck, die gut unterrichtenden Reiseführer und flott geschriebenen Bücher über Griechenland lesen und sich bilden. Nie kam mir während der ganzen Fahrt in den Sinn, das Rechte und Erfreuliche solcher Griechenlandreisen zu bestreiten.« Ebd. Vgl. ebd., S. 221: »Wie einst der Schlamm und das Geröll dieses Flusses den heiligen Tempelbezirk der Altis überschwemmen und so überdecken konnte, daß er sogar den Namen des Ortes auslöschte, an dem sich das ganze Griechenvolk versammelte, ist schwer zu denken. Noch schwerer freilich, daß gerade in dieser Landschaft, die auch in Italien zu finden wäre, der Festort des Griechentums gestiftet wurde und mit ihm sogar die Maßgabe für die Zeitrechnung nach Olympiaden.«

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sent machen.148 Ähnliches gilt für die bildende Kunst: Erst der Anblick der Kunstwerke im Museum kann ein Gefühl der Nähe zu den Griechen des Altertums bewirken.149 Gerade auf dem Gebiet der Kunst (im folgenden Beispiel anhand der Giebelskulpturen des Zeustempels von Olympia) werden für Heidegger die fundamentalen Unterschiede zwischen antiker Einheit und moderner Zersplitterung deutlich: Für Augenblicke riß die Kluft auf zwischen dem hier Dargebrachten und dem vom heutigen Kunstwollen Gestellten und zugleich Standlosen, das, in sich selbst verstrickt, der Machenschaft des Industriezeitalters ausgeliefert, unvermögend bleibt, das Eigene auch nur dieser Welt zu zeigen, geschweige denn auf Wege ihrer Verwandlung zu weisen.150

Im alten Griechenland war die Kunst als geistige Opfergabe eng mit der Religion verbunden,151 während moderne Kunst keinerlei Transzendenzbezug mehr besitzt und nurmehr um sich selbst kreist. Die Erfahrung der griechischen Kunst zieht also für den modernen Betrachter zunächst eine Verlusterfahrung nach sich. Die Reise nach Griechenland gewährt keine erfüllten Augenblicke, sondern stellt im Kontrast die Mängel der Moderne heraus, ohne dass die Begegnung mit den griechischen Altertümern kompensatorischen Charakter gewinnen könnte. Die Erfahrung des authentisch Griechischen stellt sich noch nicht ein: »Das Griechische blieb ein Erwartetes, aus der Dichtung der Alten Geahntes, durch Hölderlins Elegien und Hymnen Genahtes, auf langen eigenen Denkwegen Gedachtes.«152 Heidegger demonstriert, dass er sich in einer Tradition von Projektionen befindet, die für ihn aber (zumindest im Falle Hölderlins) die Bedeutung von Wahrheiten besitzen. Auch die Begegnung mit den idyllischeren Seiten des modernen Griechenlands kann keine Abhilfe schaffen. Schließlich handelt es sich um eine grundlegende Erfahrung, einen Verlust von Einheit und Geborgenheit, der nicht durch die einfache Verklärung der Realität aufzuwiegen ist: Wir Heutigen scheinen wie ausgestoßen aus solchem Wohnen, verloren in die Fesseln des rechnenden Planens. Auch das heiter-stille Dorf, das wir auf einem Seitenweg bei der Rückkehr nach Athen langsam durchfuhren, vermochte die trüben 148 149 150 151

152

Vgl. ebd., S. 222. Vgl. ebd., S. 222f. Ebd., S. 223. Vgl. Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, S. 42: »Die Künste entstammten nicht dem Artistischen. Die Kunstwerke wurden nicht ästhetisch genossen. Die Kunst war nicht Sektor eines Kulturschaffens.« Heidegger, »Aufenthalte«, S. 224.

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Gedanken nicht ganz zu verscheuchen, die sich dem Eingeständnis der zunehmenden Verödung des modernen Daseins aufdrängten.153

Die Existenz des modernen Menschen – seine Bestimmung durch die Technik, die grundlegende Erfahrung des Transzendenzverlusts – verhindert, dass in der Moderne vergleichbare künstlerische Leistungen wie in der Antike gelingen können. In dem für das Verständnis seiner Aufenthalte zentralen Vortrag Die Frage nach der Technik (gehalten 1953) stellt Heidegger dar, wie der moderne Mensch durch die Technik von seinen Ursprüngen entfremdet ist. Einzig die Kunst bleibt als Ausweg,154 doch angesichts der Zeugnisse der Antike bleibt ihnen gegenüber nur das Gefühl von Scham und Ohnmacht: Warum? Kaum vermögen wir noch die Frage aufzunehmen und auszuhalten –, um zu erkennen, wie armselig ratlos der heutige Mensch mit seinem Fortschritt vor solchen festlichen Bauten steht, die vor Zeiten Heilendes verschenkt haben.155

So wirkt die Begegnung mit der Antike verstörend: »Immer neu regt sich die Frage: wo sollen wir dies Eigenste [des Griechentums] suchen? Jeder Besuch jeder Stätte seines Wohnens, Werkens und Feierns macht uns ratloser.«156 Trotz dieser negativen Erfahrungen hält Heidegger aber zu jedem Zeitpunkt an der Bedeutung des Griechischen fest. Es ist lediglich ein Defizit des modernen Reisenden, wenn er den Zugang zum eigentlich Griechischen zunächst nicht finden kann. Gerade in der Moderne sei der Bezug auf Griechenland und damit auf die eigenen Ursprünge essentiell. Es gehe um nichts weniger als die Frage, inwieweit die Wurzeln die Spätzeit mitbestimmen. So ist für Heidegger gerade die Reflexion über den eigenen Standpunkt wichtiger, ja notwendiger Bestandteil einer Reise nach Griechenland:157 Er [der heimische Aufenthalt des Griechentums] bleibt unwiederholbar. Gleichwohl ist er nicht vergangen. Er bleibt als der Anfang, der nach vielfältigen Wandlungen die technische, wissenschaftlich-industrialisierte Welt des gegenwärtigen Zeitalters bestimmt. Dessen Geschichtsgang wird dadurch mitentschieden, ob das Verhältnis zum Anfang ein vergessendes bleibt oder ein andenkendes wird. Die Griechenlandfahrt muß den Kurs solcher Besinnung einhalten, wenn sie anderes sein soll als eine Vergnügungs- und Bildungsreise.158 153 154

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Ebd., S. 238. Vgl. Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, S. 43: »Ein solcher Bereich ist die Kunst. Freilich nur dann, wenn die künstlerische Besinnung ihrerseits sich der Konstellation der Wahrheit nicht verschließt, nach der wir fragen.« Heidegger, »Aufenthalte«, S. 226. Ebd. Vgl. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 461. Heidegger, »Aufenthalte«, S. 235.

384 2.2.2.

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Aufenthalt und Tourismus

Die ersehnte Erfüllung gelingt Heidegger erst auf Delos. Heidegger erlebt auf der Insel einen geradezu epiphanischen Moment, der allerdings im Text äußerst nüchtern konstatiert und nicht etwa genauer beschrieben wird.159 Hier wird die Vorprägung besonders deutlich, die Heideggers GriechenlandErlebnis wesentlich bestimmt. So schrieb Heidegger bereits 1955 im Kontext der schließlich gescheiterten Reiseplanungen an Erhart Kästner, er fühle sich besonders zu dieser Insel des Apoll-Kultes hingezogen: »Delos ist – ohne daß ich es genau ergründen könnte – schon lange mein Traum.«160 Delos ist deshalb so bedeutsam für Heidegger, da an diesem Ort seine Vorstellung vom Entbergen greifbar wird und sich bestätigt: »« heißt die Insel: die Offenbare, die Scheinende, die alles in ihr Offenes versammelt, alles durch ihr Scheinen in eine Gegenwart birgt.«161 Ein Präsenz- und Transzendenzeffekt vollzieht sich am mythisch aufgeladenen Ort. Die Erfahrung der Wahrheit steht im Mittelpunkt des Besuchs.162 Der Besuch dieser Insel dient der Selbstvergewisserung, der lebensweltlichen Bestätigung eigener philosophischer Positionen. Er führt dazu, dass nun erst von einem Gelingen der Reise nach Griechenland die Rede sein kann: Durch die Erfahrung von Delos erst wurde die Griechenlandfahrt zum Aufenthalt, zum gelichteten Verweilen bei dem, was die #A ist. Sie ist nämlich selber der Bereich des entbergenden Bergens, der Aufenthalt gewährt[.]163

Diese Passage erklärt auch die Titelwahl Heideggers: Ein Aufenthalt unterscheidet sich für ihn von einer Reise dadurch, dass er von Reflexion begleitet ist und vielleicht sogar die Erfahrung einer philosophischen Wahrheit sicherstellt. Unter Bedingungen des modernen Tourismus ist ein solcher Aufent159

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Vgl. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 463: »Warum ausgerechnet Delos? Aus den Beschreibungen läßt sich nur erahnen, was dieser Ort den anderen voraus hat. Ist es vielleicht doch nur die Magie des Namens, oder kann Heidegger nicht deutlichere Auskunft geben?« Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 1. 1. 1954«, in: BW Heidegger/Kästner, S. 22. Heidegger, »Aufenthalte«, S. 231. Den griechischen Begriff Aletheia gebraucht Heidegger im Sinne von Wahrheit. Vgl. Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, S. 19f.: »Das Her-vor-bringen bringt aus dem Verborgenen her in die Unverborgenheit vor. Her-vor-bringen ereignet sich nur, insofern Verborgenes ins Unverborgene kommt. Dieses Kommen beruht und schwingt in dem, was wir das Entbergen nennen. Die Griechen haben dafür das Wort #A . Die Römer übersetzen es durch ›veritas‹. Wir sagen ›Wahrheit‹ und verstehen sie gewöhnlich als Richtigkeit des Vorstellens.« Heidegger, »Aufenthalte«, S. 233.

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halt hingegen nur schwer zu erreichen.164 Delos und Ägina sind Orte mit vergleichsweise wenigen Touristen; auch dies mag dazu beitragen, dass Heidegger gerade an diesen Orten erfüllte Augenblicke verbringt. Anders verhält es sich auf der Athener Akropolis, wo Heidegger die negativen Folgen des modernen Tourismus erlebt: Inzwischen – unversehens war die frühe Morgenstunde zerronnnen – mehrte sich und häufte sich die Menge der Besucher. Der kaum erlangte Aufenthalt wurde durch das Veranstalten von Besichtigungen abgelöst. Diese selbst wurden durch das Funktionieren der Photo- und Filmapparate ersetzt.165

Die fotografierenden Reisenden auf der Akropolis sind nicht nur störend, sie stehen für eine Moderne, die das eigenständige Schauen und die Reflexion über das Geschaute verloren hat. Ähnliches beobachtet Heidegger in Delphi, wo ihn lediglich die grandiose Landschaft begeistert:166 Während der Stunden, da wir uns im Heiligen Bezirk aufhielten, hatte sich die Menge der Besucher erheblich vermehrt – überall photographierende Leute. Sie werfen ihr Gedächtnis weg in das technisch hergestellte Bild. Sie verzichten ahnungslos auf das ungekannte Fest des Denkens.167

Aus Heideggers Sicht hat der moderne Tourismus überwiegend negative Auswirkungen, insbesondere da er das Heilige säkularisiert und profanisiert. Der Tourismus gehört in den Bereich der Technik, die dem Menschen wesentliche menschliche Fertigkeiten, insbesondere das Denken, gründlich austreibt. Dies wird paradigmatisch am Beispiel Delphis klar. Gerade der zentrale Kultort des antiken Griechenlands ist zu einer Sehenswürdigkeit geworden, einem Ort der Massen, die in naiver Ahnungslosigkeit Besitz von dem heiligen Boden genommen haben: Auf der mit Autobussen und Privatwagen übersäten Fahrstraße erschien die heilige Gegend nur noch als eine vom Reisebetrieb in Besitz genommene Landschaft. Wir verzichteten auch hier wie in Athen darauf, in das von Besuchern vollgestopfte Museum Einlaß zu finden. Der Aufenthalt in Delphi endete mit einer Abfütterung, zu der die Fahrgäste unseres Schiffes mit anderen Reisegruppen in einem Hotelsaal zusammengedrängt wurden. Auf der Rückfahrt zum Hafen klärte sich die Einsicht, daß mit dem rücksichtslosen Ansturm des Tourismus eine fremde Macht ihre Bestellbarkeiten und Ein164

165 166

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Vgl. auch ebd., S. 240: »Wiederum zeigte bei dem Tempel [von Ägina], was den Griechen ihren Weltaufenthalt und innerhalb seiner die Bezüge zum Anwesenden bestimmte: die #A , das entbergende Verbergen.« Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 242: Die »Großheit der Gegend« kann den Anblick der tristen Hotels vergessen lassen und einen »Schimmer des Weihevollen« ausstrahlen. Ebd., S. 244.

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richtungen über das alte Griechenland lege, daß es aber auch ein Ausweichen wäre vor dem, was ist, wollte man den wahllosen Reisebetrieb außer Acht lassen, statt die Kluft zwischen dem Einst und Jetzt zu bedenken und das darin waltende Geschick anzuerkennen. Die moderne Technik und mit ihr die wissenschaftliche Industrialisierung der Welt schicken sich an durch ihr Unaufhaltsames, jede Möglichkeit von Aufenthalten auszulöschen.168

Dabei ist sich Heidegger durchaus bewusst, dass der moderne Tourismus adäquater Ausdruck der Zeitumstände ist. Ein Zurück kann es nicht geben, wohl aber ist die kritische Reflexion der Zeitumstände unabdingbar für ein tieferes Verständnis geschichtlicher Abläufe. Zugleich wird deutlich, wie schädlich die Moderne auf das Individuum wirkt. Heideggers Reise findet in einer Phase des Übergangs statt: Noch sind Aufenthalte im heideggerschen Sinn möglich, allerdings sind sie so gefährdet, dass klar wird, dass diese Möglichkeit nicht mehr lange bestehen wird. Der Tourismus erscheint in diesem Kontext als verzweifelter und unbewusster Versuch, angesichts der modernen, von Entfremdung geprägten Verhältnisse so etwas wie Heimat wiederzugewinnen: Wie aber, wenn dieses bodenlose, nur technisch-informatorisch gesicherte Zuhause jeden Anspruch auf Heimat preisgegeben hätte und sich mit der Öde eines schrankenlosen Reisebetriebes begnügte? In der Folge könnte jedoch auch diese Frage nicht mehr verfangen, weil jedes Sichbegnügen schon ausgelöscht wäre durch das bestellbare Angebot eines ständig Neuesten.169

Als Ausdruck allgemeiner Unbehaustheit demonstriert der Tourismus letztlich aber nur, dass angesichts permanenter Reizüberflutung und einer immer dynamischeren Beschleunigung aller Lebensbereiche diese Sehnsucht nach Heimat vergeblich ist, zumindest insofern, als die gewählten Mittel keine Abhilfe schaffen können, sondern vielmehr den Prozess noch beschleunigen. Heidegger entwickelt in seinem Reisebericht eine Diagnose der Mechanismen des Massentourismus, die sich überraschenderweise in manchen Aspekten mit der Analyse von Hans Magnus Enzensberger berührt. Enzensberger stellt in seinem Essay Eine Theorie des Tourismus (1958) dar, wie selbst die vermeintlichen Fluchten aus einer regulierten und technisierten Alltagswelt von deren Mechanismen bestimmt werden: »Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.«170 Allerdings ist Enzensbergers 168 169 170

Ebd. Ebd., S. 234f. Hans Magnus Enzensberger, »Eine Theorie des Tourismus«, in: Ders., Einzelheiten, Frankfurt am Main 1962, S. 147–168, hier S. 160f.

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Kritik vor allem politisch akzentuiert; so sei der Tourismus eine Form der Auflehnung, die allerdings selbst in den politischen Mechanismen gefangen sei und an sich selbst scheitere.171 Heidegger verbindet hingegen seine Beobachtungen mit seiner Philosophie; nicht zuletzt hebt er sich in einem zwar nachvollziehbaren, letztlich aber elitären Gestus von den übrigen Reisenden ab. Das konkrete Griechenland ist für ihn eher Denkanstoß als sinnliche Erfahrung. Dass der Philosoph auf den Besuch etlicher Stätten verzichtete, mag auf sein vorgerücktes Alter zurückzuführen sein. Er konstatiert die ungebrochene Bedeutung Griechenlands, die sich allerdings erst in der permanenten geistigen Auseinandersetzung manifestieren kann. Als »der letzte Philosoph des 20. Jahrhunderts, der seine Denkkraft aus den Quellen der griechischen Antike schöpfen wollte«,172 entfaltet er eine bittere Gegenwartsdiagnose, die keinen Ausweg offen lässt. Zugleich treibt Heidegger etliche Stereotype des Schreibens über Griechenland auf die Spitze: Das bereiste Land ist nahezu bedeutungslos geworden; es handelt sich bei seinem Unternehmen eher um eine geistige Reise als um den Versuch, dem bereisten Land nahezukommen. Anders als Kästner, dessen Anliegen es war, in einen möglichst unverstellten Kontakt mit der griechischen Natur zu treten, spielt diese für Heidegger keine Rolle. Geht man von seinen Aufenthalten aus und vergleicht diese mit Kästners Griechenland-Büchern, kann man sich kaum vorstellen, wie eine gemeinsame Reise hätte gelingen können. Kästner und Heidegger sind sich allerdings in der Verständigung über Griechenland nahe – wohl auch, weil beide die Inkompatibilität ihrer Ansätze nicht zur Kenntnis nehmen. So schreibt Heidegger begeistert an Kästner: »Daß Sie auf Delos waren – / Ich ›bin‹ oft auf der Insel und denke das ganze Griechenland von dorther.«173 Kästners sinnlichen

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Vgl. ebd., S. 167: »Gewaltig aber ist die Kraft, welche heute überall auf der Welt die Massen an den Strand ihres kleinen Urlaubsglückes wirft. Es ist die Kraft einer blinden, unartikulierten Auflehnung, die in der Brandung ihrer eigenen Dialektik immerfort scheitert. Es stellt der politischen Verfassung, in der wir uns befinden, ein vernichtendes Zeugnis aus, daß allein Omnibusunternehmer und Bettenhändler sie ernst nehmen. Die Flut des Tourismus ist eine einzige Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaftsverfassung uns umstellt. Jede Flucht aber, wie töricht, wie ohnmächtig sie sein mag, kritisiert das, wovon sie sich abwendet.« Theunissen, »Heideggers Antike«, S. 96. Martin Heidegger, »Brief an Erhart Kästner, 23. 8. 1962«, in: BW Heidegger/Kästner, S. 51f. Auch in dem Bericht über eine spätere Griechenland-Reise wird Heidegger die Tendenzen der philosophischen Vergewisserung und Selbstbestäti-

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Beschreibungen, die auf eine minutiöse Erfassung der Realität abzielen, steht hier das Beharren auf Griechenland als geistigem Ort entgegen. Die Reise kann zwar Denkanstöße geben – von Bedeutung für Heidegger ist Griechenland aber in erster Linie als geistiger Ort, als Topos. So steht bei Heidegger das Denken über dem Erleben. Auch wenn die dezidiert philosophische Akzentuierung seines Reiseberichts einen Sonderfall im Rahmen der hier behandelten Texte darstellen mag, so ähnelt seine Darstellung des Reiseerlebnisses in vielfacher Hinsicht den Texten anderer Autoren. Seine Diagnose einer entzauberten Moderne gehört selbstverständlich in größere Kontexte. In der Reiseliteratur über Griechenland diskutieren insbesondere Friedrich Georg Jünger und Ernst Wilhelm Eschmann diese Themen.174 Doch auch die esoterischen Experimente von Franz Spunda oder Franz Carl Endres sind Ausdruck einer Verlusterfahrung und zugleich Versuche, das vermeintlich Verlorene zurückzuholen und im Medium der Literatur zu gestalten. Heideggers Text formuliert keinen konkreten Ausweg aus den bedrückenden Konstellationen, die er entwickelt. In seinem zuweilen raunenden Gestus fügt er sich, ebenso wie die Griechenland-Bücher von Erhart Kästner oder Peter Bamm, in kulturkonservative Strömungen der jungen Bundesrepublik.

3.

Rationalisierung und Skepsis

Die Reiseberichte von Martin Heidegger und Erhart Kästner stehen für eine wirkmächtige Tradition des Schreibens über Griechenland, die von der metaphysischen Überhöhung des bereisten Landes geprägt ist. Während Kästner in den Naturschilderungen Ausweichräume schafft, setzt sich Heidegger in einem Gestus des Verlusts mit den Auswüchsen des Tourismus auseinander. Griechenland erscheint bei beiden Autoren als Rückzugsraum, der zwar vom beginnenden Massentourismus gefährdet ist, darüber hinaus dem gebildeten Reisenden aber nach wie vor erfüllte Augenblicke gewähren kann. Demgegenüber schlagen Walter Jens und besonders Wolfgang Koeppen andere Wege ein. Sie versuchen, Moderne und Antike in Einklang zu bringen und sich nicht zuletzt von der museal gewordenen Griechentümelei abzusetzen, die gerade durch den Missbrauch philhellenischer Traditionen im Dritten Reich fragwürdig geworden ist. Während Erhart Kästner und Martin

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gung fortsetzen; wiederum ist Hölderlin Gewährsmann. Vgl. Martin Heidegger, »Zu den Inseln der Ägäis«, in: Ders., Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, S. 247–273. Vgl. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit.

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Heidegger trotz aller Umdeutungen unbeirrt am Paradigma Griechenlands festhalten, zeichnet sich bei Walter Jens und vollends bei Wolfgang Koeppen eine Wende ab. Jens versucht, die Bedeutung des Mythos für die Moderne durch Variation und Korrektur aufrechtzuerhalten, Koeppen hingegen steht am Ende einer Traditionslinie: Für ihn ist Griechenland nicht mehr der Bezugspunkt schlechthin, sondern ein Reiseziel unter vielen. 3.1. Forcierte Traditionsstiftung. Walter Jens’ Reisebericht Die Götter sind sterblich (1959) Auch Walter Jens geht es in seinem Reisebericht Die Götter sind sterblich175 weniger um die Beschreibung Griechenlands als vielmehr darum, die ungebrochene Wirkung der griechischen Kultur auf die gesamte (nicht nur westliche) Welt zu demonstrieren. Sein Text ist das Kompendium eines sich als progressiv verstehenden Bildungsbürgertums: Aus der Perspektive des Altertumswissenschaftlers aktualisiert und variiert er die Bestände des Mythos, um auf diese Weise die Aktualität des klassischen Erbes zu unterstreichen. Dabei strebt er eben keine Zeitenthobenheit an, sondern forciert die Zeitbezüge in einer Art, die teilweise zu einer Uminterpretation der antiken Mythen führt. Walter Jens’ Reisebericht – laut Walter Hinck »einer der individuellsten und facettenreichsten Prosatexte von Jens«176 – erschien erstmals 1959. Die Reise nach Griechenland hatte Jens im Jahr zuvor unternommen. Formal unterscheidet sich sein Reisebericht in mehrfacher Hinsicht von den üblichen Mustern. So verbindet Jens Essays und Parabeln mit der eigentlichen Reisebeschreibung; dazu kommen ein Totengespräch, in dem Bertolt Brecht auftritt, und novellistische Einlagen. Durch diese höchst artifizielle Machart des Textes wird die eigentliche Reisebeschreibung in den Hintergrund gedrängt. Auf die Beschreibung der Reise nach Griechenland folgt die Darstellung einer Reise in die DDR, wobei sich gerade dort die große Bedeutung der griechischen Antike beweist. Walter Jens stilisiert sich zum poeta doctus, dem sämtliche Traditionsbestände mühelos zur Verfügung stehen. So akkumuliert er verschiedenste Muster und Prätexte; die variierende Nacherzählung antiker Mythen findet sich ebenso wie (insbesondere bei der Beschreibung des Venedig-Aufenthalts) Reminiszenzen an Thomas Mann, August von Pla-

175 176

Walter Jens, Die Götter sind sterblich, Pfullingen 1959. Walter Hinck, Walter Jens. Un homme de lettres. Zum 70. Geburtstag, München 1993, S. 23.

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ten, Friedrich Nietzsche177 und Hugo von Hofmannsthal.178 In einer dramatischen Szene, die sowohl an die Frösche des Aristophanes, antike Totengespräche, Brechts theoretische Schriften und nicht zuletzt an dessen Verhör vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe angelehnt ist, setzt sich Jens mit dem epischen Theater auseinander. Überhaupt unterscheidet sich Walter Jens’ Rezeption der Antike grundlegend von der seiner Zeitgenossen. Der Aspekt der Bildung und der damit verbundene didaktische Gestus des Textes sind kaum zu übersehen: Die jahrzehntelange wissenschaftliche Vermittlung der Antike und ihrer Wirkungsgeschichte ist aber nicht nur bedeutsam für die Selbstverständlichkeit des Zugriffs auf die Antike und für die Souveränität im Umgang mit allen ihren Aspekten; sie hat zweitens zur Folge, daß Jens’ Antikerezeption nicht auf die schriftstellerische Arbeit mit antiken Stoffen und Themen eingeschränkt werden kann, sondern auch bedeutsamer Teil seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Kritiker ist.179

Jens reist als intimer Kenner der antiken Kultur und Literatur, aber auch als Wissenschaftler, der sich mit der Rezeption der griechischen Antike beschäftigt hat, wie etwa mit Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland.180 Wenn Jens nun seine Griechenland-Reise literarisch reflektiert, so deutet dies an, dass er sich nicht mehr in einem ungebrochenen Verhältnis zu dieser Tradition befindet. Sein Reisebericht ist nicht zuletzt ein Plädoyer für einen freien und bewussten Umgang mit dem Erbe der griechischen Antike, sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht. An der Bedeutung des klassischen Erbes und an seiner gesellschaftlichen Relevanz besteht für den Altertumswissenschaftler Jens indes keinerlei Zweifel. 177

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Vgl. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 11: »Die Gondeln aber glichen schwarzen Särgen, geschnäbelten Boten des Todes, die ein uralter, zahnloser Hermes aufs Meer hinausgleiten ließ. / Wir sahen ihn an: der dunkle, bis zu den Brauen hinabgezogene Hut, ein Schutz gegen die Sonne, die hinter den rauchigen Türmen von Mestre versank, warf einen bösen Schatten über sein Gesicht … eine tintige Beule, war es ein Zeichen der Pest? Hatte er einst vor Jahren – ein Charon ohne Lizenz! – Gustav Aschenbach hinüber zum Lido gefahren und sich später, bei der morgendlichen Entenjagd als Staker über Oberst Cantwell belustigt? Hatte er Platen gesehen, Nietzsche und den sterbenden Wagner, drüben, im Palazzo Vendramin?« Vgl. ebd., S. 13: »Theaterwelt, Lockung und Leichtsinn: ein maskierter Herr erwartet – Hofmannsthals ›Andreas‹ – den verwirrten Fremdling … unter dem Mantel nur das Hemd, und selbst die Schnallen von den Schuhen versetzt!« Bernd Seidensticker, »›Die Götter sind sterblich‹. Walter Jens und die Antike«, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.), Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart, Berlin/New York 2002, S. 186–207, hier S. 186f. Vgl. Jens, Hofmannsthal und die Griechen, S. 136–145.

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Diese eigentümliche Sicherheit unterscheidet seinen Text von vielen Vorgängern und Zeitgenossen; zugleich ermöglicht sie einen selbstverständlichen und eigenständigen Umgang mit der Überlieferung, der allerdings von Zeitströmungen nicht unabhängig ist. Insbesondere der Existentialismus Albert Camus’ dürfte stark auf Walter Jens’ Konzeption eingewirkt haben. 3.1.1.

»Fahrt in die Tiefe der Zeit«. Walter Jens’ Griechenland-Wahrnehmung zwischen Mythisierung und Zeitgeschichte

Walter Jens’ Reisebericht akkumuliert tradierte Muster, er ist in hohem Maße von intertextuellen Verfahren bestimmt. Antike und moderne Literatur bilden den Rahmen für die literarische Verarbeitung der Reise. Zunächst scheint Jens mit der Tradition konform zu gehen, wenn er die griechische Inselwelt aus homerischer Perspektive betrachtet und die Natürlichkeit der modernen Griechen hervorhebt: Ihr Tun hatte den Freimut des Natürlichen und die Grazie eines selbstverständlichen Vorgangs. Diese Frau hatte nichts zu verbergen, sie gab sich, wie sie war; und so wie sie waren alle Griechen, die wir an diesem Tag auf unserer Wanderung in Korfu trafen: das kleine Mädchen mit den Blumen in der Hand, die Frauen vor den offenen Türen, am Spinnrad wie zu homerischer Zeit, die Männer beim Bau eines Bootes, […].181

Die Griechen, die Jens beschreibt, befinden sich im Einklang mit sich selbst. Die Selbstverständlichkeit ihres Daseins steht im Gegensatz zu den Entfremdungserfahrungen der entzauberten westlichen Welt. In Anschluss an stereotype Wertungen des mittelmeerischen Lebens betont Jens vor allem die Kontinuitäten: In den modernen Griechen ist die Welt der homerischen Epen präsent. An anderer Stelle beschreibt und bewertet Jens in stereotyper Weise die unangenehmen Begleitumstände des Massentourismus. Dort bewegt sich Jens im Mainstream des Schreibens über Griechenland. Er geißelt die Auswüchse des modernen Tourismus und rekurriert implizit auf Vorstellungen von der natürlichen Würde der Griechen, die den unwissenden und spießbürgerlichen Touristen aus Westeuropa deutlich überlegen seien. Seine abwertende Beschreibung der europäischen Touristen auf Mykonos ist von vorgefassten Meinungen geprägt. Zum einen stellt sie die Vorurteile der Reisenden über die Griechen dar, zum anderen aber entspricht sie in bemerkenswerter Deutlichkeit den Mechanismen der Tourismusschelte, die Hans 181

Jens, Die Götter sind sterblich, S. 16.

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Magnus Enzensberger in dem Essay Eine Theorie des Tourismus entlarvt hat. Jens stellt eine typische Szenerie dar: Französische Kleinbürger, Baskenmützen, Rotweingesichter, Puder auf kalkiger Haut und blutige Nägel, feilschen, mäkelnd und verwöhnt (zu Hause essen sie in der Küche), mit einem bärtigen Patriarchen um hölzerne Kästchen, made in Mykonos; skandinavische Studenten mit weißen Schülermützen untersuchen eine Spieluhr, made in Mykonos, und ein Deutscher in sorgfältig gebügelten shorts, made in Mykonos, erzählt von einem Gastwirt, der ihn mit gepanschtem Wein übervorteilen wollte.182

Dies unterscheidet sich nicht von den üblichen elitaristischen Abwertungen der übrigen Reisenden; man fühlt sich an Heidegger und Kästner erinnert, wobei Heidegger immerhin den Tourismus in größeren Kontexten verortete und sein Gestus weniger aggressiv denn resignativ wirkt. Zu deren Bildungsdünkel tritt bei Jens noch der soziale Aspekt, wenn er die unkultivierten »Kleinbürger« gegen den griechischen würdevollen »Patriarchen« stellt. Stereotype über die Natürlichkeit und Würde der Griechen dienen zur impliziten Abwertung der potentiell lächerlichen Touristen. Allerdings liegt das grundlegende Problem solcher Passagen in der Tatsache, dass ihr Urheber ebenfalls am Tourismus teilhat, auch wenn er sich sichtlich von diesem abgrenzen möchte.183 So entlarvt sich hier der reisende Humanist als Verfechter eines elitaristischen Ideals. Die Spießersatire fällt auf ihren Urheber zurück. Für Jens ist die griechische Antike von großer Bedeutung. Im Zentrum stehen hierbei Homer und die Tragiker.184 Die Reise nach Griechenland ist auch für Walter Jens die Fahrt zu den Ursprüngen der abendländischen Literatur: Die homerische Welt – die Moderne; der erste Erzähler – die Enkel: es gilt alles zusammenzusehen. Wer sich sucht, kehrt zurück. Nicht nach New York, nicht nach Moskau: altmodische Leute lieben nun einmal die Fahrt in die Tiefe der Zeit, nach Korfu und Kreta, nach Oran und Alexandrien, nach Delphi und Rom … dorthin zurück, wo es begann, die Sphinx über das Meer schritt, der Stiergott die schöne Europa entführte, Athene in die Kammer Nausikaas flog.185

Walter Jens erklärt, Selbstfindung sei notwendig mit dem Eintauchen in die Vergangenheit verbunden. Er kokettiert mit dem vermeintlich Altmodischem dieses Gestus: Der Reisebericht soll demonstrieren, dass dieser Bezug eben nicht antiquiert ist. 182 183 184

185

Ebd., S. 58f. Vgl. dazu Enzensberger, »Eine Theorie des Tourismus«, bes. S. 152. Darauf weist Bernd Seidensticker hin: »›Die Götter sind sterblich‹«, S. 192: »Jens reduziert die bunte Vielfalt der antiken Literatur auf Homer, die frühgriechische Lyrik und die klassische Tragödie des 5. Jh.« Jens, Die Götter sind sterblich, S. 26.

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Homer ist für Jens der unerreichte Gipfelpunkt epischer Literatur. Jeder moderne Dichter sei letztlich ein Homer-Epigone: »Ihn zu erreichen, ja nur in seine Nähe zu kommen, scheint unmöglich. Auch das gewaltigste Werk bleibt eine Schnitte von seinem Mahl.«186 Gerade die Suche nach der eigenen dichterischen Identität führt, so Jens, unweigerlich zu Homer zurück. Der Mittelmeerraum ist nach wie vor das Zentrum der kulturellen Identität nicht nur des Westens, sondern der ganzen Welt. Jens kommt es insbesondere auf Traditionsstiftung an: Er artikuliert an keiner Stelle Enttäuschung. In einem beinahe forcierten Gestus betont Jens die Verbindungslinien: Griechenland ist nicht fremd, es herrscht eine ungebrochene Verbindung zwischen Antike und Moderne. Das Land ist reich, der Boden fruchtbar wie zur Zeit der Phäaken. Homer, Durrell und Miller: Chronos rührt sich nicht, Alkinoos regiert in Lorbeerwäldern und Olivenhainen, und der Pfad von Kanoni zur Altstadt wird von Zypressen umsäumt.187

Jens betont gerade die Kontinuität, die besonders in Griechenland sichtbar ist. Die Reihung, die Homer mit modernen Autoren verbindet, die über Griechenland schreiben, zeigt wiederum, dass Jens die Autoren der Moderne als Nachfolger der Antike sieht. Und doch ist sein Griechenland keineswegs ein ungefährdeter Sehnsuchtsort, sondern vielmehr ein Ort, an dem Leid überall sichtbar ist. So ist die homerische Idylle nur ein Aspekt von Walter Jens’ Griechenland-Wahrnehmung. Vor dem Hintergrund des Krieges wird deutlich, dass es sich dabei vor allem um Projektionen handelte, um den mythologisch unterfütterten Ausdruck eines Wunsches nach dem Rückzug in eine heile Welt, der aber der Realität nicht standhalten kann. Anders als Erhart Kästner, der versucht, menschliches Leid über ein religiöses Geschichtsmodell zu begründen, sieht Walter Jens insbesondere die deutsche Verantwortung. Auf Kreta erinnert er an den deutschen Angriffskrieg und lässt keinen Zweifel daran, wer für das sinnlose Sterben verantwortlich war.188 Für den deutschen Reisenden ist es deshalb unangenehm, mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs konfrontiert zu werden: 186

187 188

Ebd., S. 35. Vgl. Hinck, Walter Jens. Un homme de lettres, S. 26f.: »Und es ist nun doch überraschend, mit welcher Vehemenz Jens, als Schriftsteller nach Kafka, das Bild Homers als des ›großen Vaters‹ und ›Vorbilds‹ beschwört. Offensichtlich schreibt hier der – bei aller Sachlichkeit – von seinem Gegenstand hingerissene klassische Philologe dem Erzähler das Maß vor.« Jens, Die Götter sind sterblich, S. 17. Vgl. Marlen von Xylander, Die deutsche Besatzungsherrschaft auf Kreta 1941–1945, Freiburg i. Br. 1989.

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Wir hatten Angst vor dieser Stadt; wir wußten, was geschehen war, als sich die Fallschirme spannten. Die schwarzen Puppen brachten den Tod. Der Himmel verdüsterte sich; ein schwaches Echo, Schreie und Flammengeprassel, folgte den sich entfernenden Bombern. Was kümmert den Schnitter die aschene Ernte? Ja, wir fürchteten uns vor den Blicken der Menschen: Waisengesichter, Witwengesichter, klagende Münder, Augen, die sich erinnern. Ein Gerücht flog voran – noch am Abend zuvor, so erzählte man uns, hätten Scharen von Kindern die Gräber deutscher Soldaten mit Steinen beworfen und das Gefallenen-Mal mit den Worten bedeckt: Dies taten griechische Kinder, Söhne der friedlichen Stadt Hiraklion, deren Väter man erschoß, weil sie die Freiheit liebten.189

Zwar erweist sich dieses Gerücht als falsch. Dennoch sind das Unbehagen und die Schuldgefühle unübersehbar. Der Krieg erscheint hier nicht wie bei Kästner als Schicksal, sondern als menschlich verursachte Grausamkeit, die in der Erinnerung noch immer dominiert. Bezeichnenderweise nimmt Jens die Perspektive der griechischen Jugend ein, die ihre Sicht des Krieges artikuliert. Die apokalyptische Szenerie vergegenwärtigt das Kriegsgeschehen, von dem etwa bei Kästner an keiner Stelle die Rede war.190 Jens’ Reisebericht nimmt durch diese Drastik eine Sonderstellung ein. Deutlicher als die anderen Texte, in denen vor allem aus deutscher Perspektive von den Schrecken des Krieges oder von einer allgemeinen Friedenssehnsucht die Rede ist, thematisiert er deutsche Schuld. Die in der deutschen Nachkriegsgesellschaft oftmals heroisierte Schlacht um Kreta erscheint hier als ein durch nichts zu rechtfertigender blutiger Überfall auf einen friedliebenden freien Landstrich. 3.1.2.

Walter Jens’ didaktische Mythenvariation

Walter Jens’ Umgang mit der Mythologie unterscheidet sich prägnant von den ansonsten in der Reiseliteratur üblichen Vorgehensweisen. Im Gegensatz zu den reinen Wiedergaben variiert Jens bewusst die Mythen, die er erzählt, und greift an einigen Stellen in ihren Kern ein, so dass man dort sogar von Mythenkorrekturen sprechen kann.191 Dieser von Martin Vöhler und 189 190 191

Jens, Die Götter sind sterblich, S. 51f. Vgl. auch die Ausblendung der Gegenwart in Kästners Kreta. Insbesondere Jens’ Version des Perseus-Mythos lässt sich als Korrektur bezeichnen. Vgl. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 19–23. Vgl. dazu Seidensticker, »›Die Götter sind sterblich‹«, S. 191: »Nach seinem Tode muß Perseus im Hades erfahren, daß das angebliche scheußliche Ungeheuer, das er enthauptet hat, in Wahrheit eine schöne junge Frau war, die sehnsüchtig auf ihn gewartet hat. Der Mörder ist das Opfer einer Ideologie geworden, die das Andere, das Fremde, den Gegner dämonisiert und entstellt hat und immer aufs neue entstellt: ›Krieg folgt auf Krieg‹.«

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Bernd Seidensticker eingeführte Begiff grenzt sich deutlich von dem der Variation ab. Während diese (der Normalfall der Mythosbearbeitung) zwar Änderungen vornimmt, bleibt doch der Kern unverändert, wohingegen der Begriff der Mythenkorrektur intertextuelle Verfahren bezeichnet, die den Kern des Mythos transformieren.192 Diese Unterscheidung ist auch für unseren Untersuchungsgegenstand wichtig, weil sie ermöglicht, den spezifischen Standpunkt von Walter Jens’ Schreiben im Rahmen einer mythosgesättigten Gattung präzise zu bestimmen. Gerade in dem Prinzip der die Korrektur streifenden Mythenvariation markiert sich Jens’ Abstand zu Schreibweisen der Jahrhundertwende, die bei aller Freiheit und Umakzentuierung doch stets den Kern der Mythen unverändert ließen. Zudem diente dort der Bezug auf den Mythos je nach Autor mehreren Zwecken: Zunächst kann es sich um pure Wissensdemonstration und damit den Versuch der Belehrung des Lesers handeln. Andere Evokationen verweisen auf die Subjektivität des Autors; Mythos und Psyche werden enggeführt, so dass oftmals die Beschäftigung mit dem Mythos unter der Hand zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich wird. Walter Jens hingegen setzt sich deutlich von diesen Traditionen der Verinnerlichung ab. Er gebraucht den Mythos zuallererst als politische Parabel. Durch die Differenz von der Überlieferung markiert er die Aktualität und die Sprengkraft der Götter- und Heldengeschichten für die Moderne. Zunächst beschäftigt sich Walter Jens intensiv mit der Odyssee Homers. Odysseus ist für Jens eine moderne Figur. Seiner Zeichnung des homerischen Helden merkt man den Einfluss der existentialistischen Philosophie an: Noch einmal: ertrug er Lüge und Traum? Vergaß er die Toten? Oder kehrte er um und brach ein zweites Mal auf: leidbegierig, dem Abenteuer verfallen, ein Ahasver der Danteschen Hölle, geflohen aus den sibirischen Lagern, totgeglaubt und wiedergeschenkt, in Korea verschollen, in Schottland gesehen, verwundet, dem Irrsinn verfallen, entmannt und geschändet, aufgefahren zum Himmel, unter die Sterne versetzt … Odysseus, Kragler, Stiller, Edward Allison: die Geschichte ist niemals zu Ende erzählt.193

Die Reihe von Fragen weitet die Perspektive auf die Rezeptionsstufen der Odysseus-Figur.194 Jens stellt zunächst die psychischen Folgen von Krieg und leidvoller Heimkehr in den Vordergrund, um dann in Anlehnung an 192

193 194

Vgl. zur Mythenkorrektur Martin Vöhler/Bernd Seidensticker/Wolfgang Emmerich, »Zum Begriff der Mythenkorrektur«, in: Dies. (Hrsg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption, Berlin/New York 2005, S. 1–18. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 38. Vgl. Zimmermann, »Odysseus – ein Held mit vielen Gesichtern«.

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Dantes Göttliche Komödie Odysseus als rastlosen Menschen zu zeichnen, der geradezu süchtig nach neuen Abenteuern ist. Die Odysseus-Figur steht symbolisch für Flüchtlinge und Heimatlose aus allen Zeiten. Auf engstem Raum akkumuliert Jens Mythos und Deutungsansätze. Das homerische Griechenland und das Europa des Zeiten Weltkriegs, das umkämpfte Korea werden ineinandergezogen, so dass die Identität desjenigen, von dem hier die Rede ist, unklar wird. Auch der Fragegestus, in dem mehrere Möglichkeiten aufgezählt werden, verweist auf die prinzipielle Offenheit des Mythos für variierende Fortschreibungen. Hier schließt sich Jens an überkommene Diskurse an, die Korrektur bleibt eher eine Möglichkeit. Odysseus ist eine archetypische Figur, die in der Moderne vielfach Entsprechungen findet, die bis zu dem seine Identität suchenden Stiller aus dem gleichnamigen Roman von Max Frisch, zu Edward Allison, dem versehrten Protagonisten aus Alfred Döblins letztem Roman Hamlet,195 und dem Kriegsheimkehrer Andreas Kragler aus Brechts Drama Trommeln in der Nacht reichen.196 Von diesen Variationen ist es nur ein kurzer Weg zu korrigierenden Eingriffen. Walter Jens nutzt den Pentheus-Mythos, um eine Parabel über Irrationalismus und Macht zu entwerfen. Dabei ist zunächst die Erzählsituation aufschlussreich: Jens besichtigt das Athener Dionysostheater und imaginiert dort eine Dramenaufführung. Diese Technik ist typisch für die Reiseliteratur über Griechenland; Ähnliches findet sich bei Hauptmann oder Kästner. Doch während diese vor allem rauschhaft-assoziativ ihre Eindrücke gestalteten und versuchten, Präsenzeffekte plausibel zu machen, entwirft Walter Jens in deutlich erkennbarer aufklärerischer Absicht am Ort des Dionysoskults eine Deutung der Bakchen des Euripides, die das Dionysische geradezu denunziert. In den Bakchen, der letzten Tragödie des Euripides, trägt Dionysos den Sieg über den thebanischen König Pentheus davon.197 Noch als bereits die ganze Stadt dem kommenden Gott huldigt, stellt sich der hartnäckige Pentheus der göttlichen Gewalt entgegen, ja er geht so weit, den Gott Dionysos festnehmen zu lassen. Bei der voyeuristischen Beobachtung der rasenden Bakchen wird er ertappt; die wütende Meute, darunter seine Mutter Agaue, zerreißt den König. Bereits Nietzsche stellte den paradoxen Sachverhalt 195

196

197

Vgl. Alfred Döblin, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende [1945/46], Olten 1966. Vgl. Bertolt Brecht, »Trommeln in der Nacht. Drama« [1922], in: Ders., Stücke I (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe; 1), Darmstadt 1998, S. 175–239. Vgl. Euripides, Die Bakchen. Tragödie. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Oskar Werner, Stuttgart 1995.

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heraus, dass gerade der skeptische Euripides in seiner letzten Tragödie den Triumph des Gottes gestaltete.198 In der Logik des Dramas ist Pentheus’ Tod die gerechte Strafe für seine Hybris, hätte er doch oft Gelegenheit gehabt, die Macht des Dionysos anzuerkennen. Walter Jens ändert in seiner vergegenwärtigenden Darstellung die Ausgangssituation der Handlung folgenreich ab. Zunächst entwirft er ein Bild elfjähriger glücklicher Herrschaft des Pentheus. Erst als die Pest ausbricht – dies ist eine deutliche Parallele zum Ödipus-Mythos –, ändert sich die Situation grundlegend. Wanderprediger des Dionysos nutzen die allgemeine Verstörung, um für ihren Gott zu werben. Pentheus wiederum, der im Namen Apolls, des Gottes »des Kalkuls und der Vernunft«,199 regiert, verbietet die neuen Kulte. Dem Volk erscheint nun die Seuche als Strafe des »thrakischen Unhold[s] Dionysos«.200 Zwar ebbt die Krankheit ab, dennoch hat der neue Kult unter Leitung des Sehers Teiresias Wurzeln geschlagen. Der tolerante Pentheus hofft vergeblich, der Taumel werde mit der Zeit vergehen. Als der Kult auch im Königspalast Einzug gehalten hat, fordert Teiresias den König auf, sich dem Dionysos zu unterwerfen: »Klägliche Opfer«, sagte der Priester verächtlich, »Lippengebete, Gemurmel, das die Unsterblichen beleidigt hat. Jetzt aber herrscht der gewaltigste Gott, der Meister des Schreckens und der Furcht, der die Inbrunst verlangt, die Verzückung der Gläubigen und den nächtlichen Tanz. Frömmigkeit gibt es allein im Zeichen des Dionysos! Er ist der Herr der Nacht, des Todes und der Pest.« »Ich hasse ihn«, sagte Pentheus. »Ich liebe den Frieden, das Licht und die Vernunft.«201

Doch der Aufklärer Pentheus hat keine Aussicht auf Erfolg. Bald schon weiß er, dass er dem Untergang geweiht ist. Sein Tod ist eine Art Selbstmord: Von Apoll verlassen, geht er mit seinem Pflegesohn in den Tod, wobei Jens im Unklaren lässt, wie genau der König stirbt. Schließlich verweist Teiresias die Frauen des Landes; Pentheus’ grausamer älterer Bruder Akribios übernimmt die Herrschaft und richtet Theben zugrunde: »Teiresias hatte erreicht, was er wollte: die Menschen lernten wieder zu beten, die Not zwang die Thebaner zurück in die Tempel.«202 Schließlich wird klar, dass auch die Pest absichtlich im Auftrag des Teiresias eingeschleppt wurde, der die Krankheit nutzen wollte, um seine Ziele zu erreichen. 198

199 200 201 202

Vgl. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 82. – Vgl. einführend zu den Bakchen des Euripides Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, S. 484–499. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 102. Ebd., S. 107.

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Was bei Euripides als Triumph eines unaufhaltsamen Gottes gepriesen wird, stellt Walter Jens als Folgen einer politischen Intrige dar, deren Ziel der Machterhalt des Klerus ist. Während Pentheus in den Bakchen den Gott Dionysos ins Gefängnis werfen lässt, spielt dieser als Widersacher in Jens’ Version des Mythos keine Rolle. In geradezu penetranter Deutlichkeit wertet er die Figur des Pentheus auf und erweitert den Mythos zu einer Parabel über Irrationalismus und Faschismus. Angst wird zum Mittel der Herrschaftsbefestigung; von legitimer religiöser Ehrfurcht ist keine Rede mehr. Der Dionysoskult weist Züge einer Krankheit auf, einer gefährlichen Massenhysterie, die selbst die sicher geglaubten Errungenschaften der Aufklärung zu zersetzen vermag. Walter Jens’ imaginiertes Pentheus-Drama ist somit auch eine Mahnung, eine Warnung vor den stets wirkenden Kräften des Irrationalismus und der Grausamkeit. Mit dem Gehalt von Euripides’ Drama allerdings hat Jens’ Version nur noch wenig gemein, betont er doch einseitig die grausamen Seiten des Dionysos-Kults. Walter Jens deutet das antike Drama vor der Folie des 20. Jahrhunderts. Umgekehrt geht er vor, wenn er das epische Theater Bertolt Brechts als legitime Fortsetzung der antiken Tragödie erscheinen lässt. Dem Totengespräch »B. in der Unterwelt«203 geht der Besuch an Brechts Grab in Berlin voraus. Vor dem Hintergrund dieser Pilgerfahrt ist der Text zu lesen. Er schildert ein Verhör des eben verstorbenen Brecht, der sich vor fünf maskierten Richtern verantworten muss. B. erkennt diese sofort als Griechen; sie wollen herausfinden, was der moderne Dramatiker von ihnen gelernt hat.204 Dies ist der Ausgangspunkt für ein Gespräch, in dessen Verlauf die Maskierten B. mit suggestiven Fragen dazu bewegen, den epischen Charakter des antiken Theaters einzugestehen, eben da die Handlung den Zuschauern bereits vor der Aufführung bekannt gewesen sei und deshalb niemand gespannt auf den Ausgang gewartet habe:205 »Wie war also die Form unseres Schauspiels? Etwa dramatisch?« »Nein«, sagte B., »sie war episch. Ich habe mich geirrt.« »Du bist ein guter Verlierer«, sagte der Lehrer. »Unser Schauspiel war episch und dramatisch zugleich. Deine Lehre ist falsch.«206

Der wissbegierige B. erfährt nun auch, dass auf der antiken Bühne wenig geschah, dass Handlung über den Botenbericht eingebracht wurde, wohingegen im Zentrum des Dramas die dialektische Auseinandersetzung gestanden habe: 203 204 205 206

Vgl. ebd., S. 135–142. Vgl. ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 136. Ebd.

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»Auf der Bühne herrschte allein dialektisches Spiel: Diskussion und Erklärung, die Analyse und das Argument.« »Ich lerne«, sagte B. »Das Argument gehört zur epischen Form des Theaters. Ihr habt mich überzeugt. Ich erkläre mich ein zweites Mal für besiegt.«207

Am Ende des tiefernsten Totengesprächs muss sich B. von dem fünften Maskierten, einem Bauern, der die Volksverbundenheit der attischen Tragödie symbolisiert, über die erkenntnisbringende Funktion der attischen Tragödie belehren lassen. Als Beispiele dienen der König Ödipus und die Antigone des Sophokles.208 Schließlich wird B. über die erkenntnisstiftende Funktion des deus ex machina bei Euripides belehrt; beim Drama handele es sich um einen Prozess.209 Die Einlage gipfelt darin, dass B. bis in alle Ewigkeit neben Euripides wohnen wird,210 dem großen Vorbild aller skeptischen und aufklärerischen Dramatiker: »Willkommen«, sagte der Schatten. »Seit hundert Jahren bist Du der erste, den ich voll Sehnsucht erwarte. Wie freue ich mich, daß Du hier bist! Komm, ich geleite Dich zu dem Platz, an dem Du wohnen wirst bis zum Ende der Tage.« »An Deiner Seite?« fragte der Stückeschreiber erschrocken. »Zu meiner Rechten«, sagte der Tote. »Du hast mich nicht enttäuscht.«211

Diese überdeutlichen Passagen bedürfen kaum einer Kommentierung. Offenkundig geht es darum, Bertolt Brecht in eine große abendländische Tradition zu integrieren. Dies geschieht auch durch die Form des Totengesprächs212 und durch die intertextuellen Verweise auf die Frösche des Aristophanes.213 Dabei schwächt der Altphilologe Jens in einer wissenschaftlich sicher nicht zu rechtfertigenden Radikalität die Unterschiede zwischen der kultischen Tragödie der Antike und dem epischen Theater Brechts ab, auf dessen Anmerkungen zur Oper Mahagonny er sich explizit beruft.214 Indem Walter Jens den kommunistischen Dramatiker Brecht für das abendländische Erbe reklamiert, ja dessen Werk als Gipfelpunkt der modernen Dramatik heraus207 208 209 210 211 212

213

214

Ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 140f. Vgl. ebd., S. 142. Ebd., S. 142. Vgl. Herbert Jaumann, »Totengespräch«, in: Klaus Weimar u. a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Berlin/New York 1997–2003, Bd. 3, S. 652–655. Auch in den Fröschen geht es um die Frage, wer der bedeutendste Dramatiker sei; die Unterweltfahrt endet allerdings mit einem Lobpreis des Sophokles. Vgl. Zimmermann, Die griechische Komödie, S. 166–172. Vgl. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 135.

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stellt, untermauert er zugleich sein Programm von der allumfassenden Integrationskraft des griechischen Erbes. Allerdings stellt sich angesichts dieser Nivellierung die Frage, ob die Bedeutung der griechischen Vorbilder tatsächlich noch besteht. Wenn nämlich eine wenig komplexe Einebnung grundlegender Unterschiede und historischer Kontexte nötig sein sollte, um Anschlussfähigkeit zu gewährleisten, so scheint dies eher darauf hinzudeuten, dass die Werke der Griechen eigentlich eher ungeeignet sind, um nach wie vor ihre Wirkung zu entfalten. Walter Jens’ entschiedene Enthistorisierung reduziert letztlich die griechische Kultur auf Plattitüden und ist in einem so hohen Maße simplifizierend, dass von der Faszination der Antike nichts bleibt. Vor diesem Hintergrund wirkt die an anderer Stelle in Anlehnung an Brecht geäußerte Forderung unglücklich. Jens hält es für nötig, die klassischen Texte ihrer Klassizität zu berauben, ihnen ihre Geschichtlichkeit und mit ihrer Geschichtlichkeit jene Kraft des Widerspruchs zurückzugeben, die sich der Domestizierung verweigert und so, als antagonistische Potenz, in einer Welt der totalen Funktionalität auf einen Gegenbezirk verweist, dessen Wesen es ist, nicht verfügbar zu sein.215

Allerdings macht gerade Jens’ Versuch, den Klassizismus zu überwinden, den antiken Mythos seiner (und Brechts) Dramentheorie nutzbar. Nicht zufällig erscheint Brecht als legitimer Nachfolger gerade des Euripides, den Walter Jens an anderer Stelle als den modernsten der griechischen Tragiker rühmt: So betrachtet steht Euripides genau an jenem Punkt, wo das Zeitalter der Dichtung in einen von Denken und Wissenschaftlichkeit bestimmten Aeon übergeht. Ihm, dem letzten Tragiker gelingt zwar nicht, wie Sophokles und Platon, die große Synthese, aber doch noch einmal, in kühner Antithetik, die Repräsentanz des Erbes unter dem Zeichen von morgen.216

Während Euripides etwa bei Nietzsche als Symptom eines verderblichen Niedergangs erscheint,217 würdigt ihn Jens als den Dramatiker, der in der 215 216

217

Walter Jens, Antiquierte Antike?, Münsterdorf o. J. [1971], S. 35f. (Sylter Beiträge; 1). Walter Jens, »Euripides«, in: Ders., Euripides. Büchner, Pfullingen 1964, S. 5–34, hier S. 7. Vgl. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 74f.: »Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste [ ! ] zu zwingen suchtest? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. […] Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für die Reden dei-

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Lage gewesen sei, das Tradierte weiterzugeben. Eben dies gesteht Jens auch Bertolt Brecht zu, der damit zu einem paradigmatischen Beispiel dafür wird, wie auch im 20. Jahrhundert Traditionen weitergegeben werden können, ohne museal zu werden. Die Entsprechung über die Jahrtausende zeigt zudem, dass grundlegende anthropologische Konstanten gleich bleiben, dass auch die Funktion der Kunst als einer kritischen und dialektischen Instanz überzeitliche Bedeutung besitzt. Brecht wird durch den emphatischen Bezug auf die Antike aufgewertet. Zugleich demonstriert diese Gedankenfigur, dass auch für Jens die maßstäblichen Werke der Literatur aus der Antike stammen: So laufen die Passagen über Brecht implizit auf die Behauptung hinaus, die vermeintlich originellen Aspekte seiner Dramen seien in den Texten der Alten präfiguriert. 3.1.3.

»… die einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können«. Die Bedeutung des Mythos für die Moderne

An seiner Auslegung des Pentheus-Mythos und ebenso an seiner Würdigung Bertolt Brechts wird deutlich, worauf es Walter Jens ankommt: Für ihn ist die Bedeutung des Mythos ungebrochen, eben weil er Aktualisierungen ermöglicht. Darüber hinaus ist die Beschäftigung mit dem griechischen Erbe einer der wenigen Bereiche, der weltweit von Bedeutung ist und trennende politische Gräben zu überwinden vermag. Wenn am Ende des Reiseberichts beschrieben wird, wie in Leipzig Walter Jens, der Philosoph Ernst Bloch, der Literaturwissenschaftler Hans Mayer und der Lyriker Peter Huchel gemeinsam mit Studenten aus aller Welt über griechische Mythen diskutieren, so unterstreicht dies die Allgemeingültigkeit des antiken Erbes gerade in der immer neuen verlebendigenden Aneignung.218 Zunächst scheint es, als sei das sozialistische Leipzig ein denkbar ungeeigneter Ort, sich der Antike zu vergewissern. Jens artikuliert deutlich seine Skepsis: »Du warst in Athen und Mykene, in Epidauros und Korfu: was hast du heimgebracht?«219 Doch schon bald muss Jens sich eingestehen, dass

218

219

ner Helden eine sophistische Dialektik zurecht – auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Rede.« Zugleich verweist die Inszenierung dieser Männerrunde als Hüter des europäischen Erbes ebenso wie die Würdigung Brechts und die Bevorzugung männlicher Mythen auf einen latenten Chauvinismus, der eine wesentliche Schicht von Jens’ Text bildet. Jens, Die Götter sind sterblich, S. 147.

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seine Vorurteile falsch waren: »Hier, jenseits der Elbe, glaubte ich, beginnt eine Welt, die von der Antike nichts mehr weiß. / Doch ich hatte mich geirrt, die alten Götter waren mitgereist.«220 Dies wird im internationalen intellektuellen Gespräch deutlich. Die griechischen Götter sind gleichsam anwesend: »In meinem Kolleg saßen Chinesen, Malaien und Russen. Als ich von Hermes sprach, lächelten sie; und beim Disput im Hause der Wissenschaft wurde wieder und wieder der Name Homers beschworen.«221 Die Kindheitserinnerungen an die Sagenwelt Homers sind offenkundig in allen Weltgegenden präsent. Das Wiedererkennen führt zu einem Gemeinschaftserlebnis, das die Grenzen von Rassen und Nationen ebenso wie die von politischen Systemen scheinbar problemlos überwinden kann.222 In diesem Beharren auf der internationalen völkerverständigenden Kraft der Überlieferung distanziert sich Jens in aller Deutlichkeit von der Ideologie einer deutsch-griechischen Sonderbeziehung. Auch wenn die politische Lage alles andere als beruhigend ist, kann doch die griechische Kultur als Basis der Verständigung dienen: Am Nachmittag saßen wir dann, noch mit den gleichen Problemen, den Fragen des alternden Stalin beschäftigt – welche Konstanten gibt es in einer sich wandelnden Welt? – im Arbeitszimmer des witzig-klugen Hans Mayer und sprachen zu viert, der Hausherr, Peter Huchel, der an einem Hymnus auf Persephone schrieb, Ernst Bloch und ich, über Artemis und Apollon. Draußen, in der Düsternis einer wilhelminischen Straße, gingen die Menschen vorbei, Karren rollten über das Pflaster, Minister Strauß sprach von Krieg, Ulbricht hielt eine drohende Rede, zwei Jungen jagten einem Reifen nach. Im Zimmer aber, unter den Bildern von Karl Valentin und Bertolt Brecht, beschwor man die griechischen Sagen, und noch einmal zeigte es sich, daß die Chiffre des Mythos, Apollon und Eros, Aletheia und Dike – Zeichen und Bild, Formelspruch und Schlüsselwort zugleich –, exakter als alle Beschreibung und plastischer als jede Begrifflichkeit ist.223

Das Gespräch über griechische Götter dient der Selbstbehauptung der Gelehrten. Die Nennung von Franz Josef Strauß und Walther Ulbricht markiert den historischen Standort des Ost-West-Konflikts. Walter Jens’ Reisebericht flüchtet sich nicht in eine mythische Vergangenheit; die Antike ist kein Rückzugsraum, sondern ist nur in ihrer Verbindung mit der Gegenwart von Bedeutung. Im gebildeten Gespräch, in der produktiven literarischen Anverwandlung ist eine Arbeit an der Antike möglich, die zugleich zukunfts220 221 222 223

Ebd., S. 148. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 148f.

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weisenden Charakter besitzt. Karl Valentin und Persephone, Bertolt Brecht und die göttlichen Geschwister Artemis und Apoll sind gleichermaßen Teil einer Kultur, die sich ihrer Wurzeln sehr bewusst ist. Dabei ist der Mythos für Walter Jens nach wie vor ein adäquates Mittel der Welterfassung. Seine Universalität ermöglicht gelingende Kommunikation ebenso wie den Rekurs auf ein gemeinsames Wertesystem oder künstlerische Produktivität. Eben weil er nicht kanonisiert ist und sich seine Variationsfähigkeit bewahrt hat, ist er ein wichtiger Anknüpfungspunkt: Der griechische Mythos, dachte ich wie vor Jahren, in einem Gespräch mit Albert Camus … das ist vielleicht die einzige, die letzte und unverlierbare Sprache, in der wir uns noch verständigen können. Auch in Chicago ist Apollon zu Hause, und über den Reisfeldern Chinas weht das grüne Mäntelchen des diebischen Gotts.224

Die Internationalität des Mythos scheint so etwas wie Ewigkeit zu verbürgen. So ist der Optimismus von Walter Jens ungebrochen. Am Ende der Reise reflektiert Jens über die Wirkmächtigkeit der Überlieferung. Auffällig ist, dass seine Überlegungen von keinerlei Zweifeln begleitet werden. Ernst Blochs Aussage, die Jens zitiert, resümiert die vorhergehenden Überlegungen und bildet zugleich den Schlusspunkt von Walter Jens’ Reisebericht: »Die griechischen Götter, die Bescheidenen«, sagte die Stimme, »sind unsere treuesten Freunde, denn sie allein sind bereit, mit jedem Geschlecht, das vergeht, aufs neue verworfen zu werden. Sie, die so vielfältig sind, schillernd in der Erscheinung, widerspruchsvoll wie die Wirklichkeit selbst, teilen unseren Tod. Sie verlassen uns nicht, und wenn sie wieder auferstehn, geschieht es in neuer, verwandelter, menschlicher Gestalt. Nur weil die Götter auch zu sterben vermögen, hat die Zeit keine Macht über sie und das Vergessen rührt sie nicht an. Ihr Tod läßt sie alterslos sein.«225

Der Titel des Reiseberichts, der zunächst auf eine Distanzierung von der griechischen Antike hinzudeuten schien, verweist also tatsächlich auf die Lebenskraft der Überlieferung. Tradition ist hier nichts Starres, sondern im Gegenteil ein Begriff für variierende Wiederholung, die immer wieder zu kraftvoller Erneuerung führt. In eigentümlicher Distanzlosigkeit und beinahe schon überdeutlich stellt Jens’ Reisebericht seine Botschaft heraus. Damit einher geht eine nahezu wieder mythisch anmutende Überhöhung des Mythos, ein Vertrauen in seine Kräfte, das vielleicht allzu sehr als Wunschbild eines klassischen Philologen erkennbar ist. Bereits im Erscheinungsjahr wurden Bedenken wegen dieser Emphase laut: »Bei diesen konfessorischen Partien wird manchem Leser un224 225

Ebd., S. 149. Ebd., S. 150.

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behaglich zumute; sie trüben den Genuß eines Buches, das durch den Glanz seiner Prosa und durch die Präzision der Beobachtung besticht.«226 Durch die Hintertür wird Walter Jens’ bildungssatter und weitestgehend geheimnisloser Text wiederum zur Darstellung einer Art von Pilgerfahrt,227 eben da er aus zum Teil doktrinärer Perspektive die Macht von Tradition reklamiert. Innerhalb dieser Ausprägung allerdings nimmt er eine vergleichsweise fortschrittliche Position ein, da er eben die Pluralität möglicher Deutungen des griechischen Erbes zulässt. Auch das abschließende Gespräch in Leipzig ist Dokument einer ungebrochenen Hoffnung in die Kraft der Kultur. Der Text ist dabei von zwei scheinbar gegenläufigen Bewegungen bestimmt: An der Bedeutung des Erbes besteht kein Zweifel, sie erschließt sich aber erst in der Abarbeitung, in der zum Teil radikalen Variation. Jens’ Text enthält kaum noch Elemente der traditionellen Reisebeschreibung. Getrieben von bildungsbürgerlichem Sendungsbewusstsein und einem wegen der penetranten Nüchternheit umso quälenderem Pathos postuliert Jens neuhumanistische Ideale, die aber gerade wegen der extremen Gemachtheit des Textes in ihrer Thesenhaftigkeit wenig lebendig wirken. Was zu einer Feier der ungebrochenen Kraft des Mythos werden sollte, ist unter der Hand zu einem Abgesang auf derartige Beschwörungen geworden.

226

227

Hans-Jürgen Baden, »Die Götter sind sterblich«, in: Walter Jens. Eine Einführung, München 1965, S. 70–72 [erstmals in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25. Juli 1959], hier S. 70. Die Wirkungslosigkeit dieses Konstruktes behauptet Herbert Kraft, Das literarische Werk von Walter Jens, Tübingen 1975, S. 68f.: »Vielleicht erreicht die Perspektive der Jahrtausende die historisch richtige Einordnung der gegenwärtigen Zeit – die angeregte Reflexion in der vom Buch vorgezeichneten Richtung wird das jedenfalls als möglich oder gar sicher erkennen; aber die künstlerische Konstruktion verliert doch über dem Graben zwischen Kunst und Wirklichkeit ihre Überzeugungskraft und bleibt ohne Auswirkung auf die Wirklichkeit als Gegenwart. So wird das Werk die reale Qualität der Vorzeichnung nicht erhalten und damit einer im Sinne der Veränderung von Wirklichkeit denkenden oder wirkenden Rezeption entbehren.« Vgl. Manfred Lauffs, Walter Jens, München 1980 (Autorenbücher; 20), S. 65f.: »Die Esoterik des Buches beweist, daß Jens am Ende der 50er Jahre zu sehr auf ein entsprechend vorgebildetes Publikum hin schreibt und damit nur in eingeschränktem Maß den Anspruch verwirklichen kann, den er später programmatisch erheben wird, nämlich ›klassisches Bildungsgut zur Förderung republikanischer Bewußtwerdung‹ nutzbar zu machen.«

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3.2. Skeptischer Abgesang. Wolfgang Koeppen: Die Erben von Salamis (1962) Wolfgang Koeppens Reisebericht Die Erben von Salamis oder Die ernsten Griechen 228 markiert den Endpunkt einer Tradition. Anders als Jens propagiert Koeppen an keiner Stelle die übergreifende Bedeutung der griechischen Kultur. Zwar integriert er nahezu sämtliche Stereotype des philhellenischen Diskurses – er spricht von Pilgern, besucht die üblichen Sehenswürdigkeiten, spielt auf Mythen an –, setzt aber sein eigenes Schreiben zugleich davon ab und distanziert sich ebenso von emphatischen Aneignungs- oder Vereinigungsfantasien wie von dem rationalistischen und didaktischen Gestus Walter Jens’. Er schildert als Außenstehender eine Reise, die nicht mehr eine Suche nach Traditionsbeständen ist und ebensowenig den Versuch darstellt, diese Traditionen zu erleben. Sein Text ist von vornherein frei von emphatischen Bedeutungszuschreibungen. Zugleich stellt Koeppens Reisebericht einen Neubeginn dar, verabschiedet er doch endgültig die spätestens seit der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten unglaubwürdig gewordenen Stereotype über Griechenland. Koeppen, der von seinen Reisetexten lebt, schreibt über Griechenland so wie über andere Länder. Von einer Sonderstellung Griechenlands oder gar von der Konstruktion einer Sonderbeziehung zwischen Griechen und Deutschen kann keine Rede mehr sein. Koeppen schreibt trotz aller mythischen Versatzstücke dezidiert von einem entideologisierten Standpunkt. Dabei geht er nicht etwa aggressiv gegen eine fragwürdige Traditionslinie an; eher handelt es sich bei seinem Essay um einen auch wehmütigen Abgesang, um das Eingeständnis, dass die Erfahrung von Nähe nicht möglich ist. Aus dieser Perspektive verliert das klassische Erbe zwangsläufig an Bedeutung. Anders als Erhart Kästner oder Peter Bamm distanziert sich Koeppen von der quasi-religiösen Überhöhung Griechenlands und der philhellenischen Ersatzreligion. Und doch spielt Mythologie in Koeppens Reisebericht eine zentrale Rolle. Wie auch in seinen anderen Reisetexten gestaltet Koeppen eine zweite Ebene, die von mythischen Verweisen geprägt ist. Anders aber als bei den pseudomystischen Innerlichkeitsaufschwüngen der Jahrhundertwende handelt es sich im Fall von Koeppens Text um montierte Versatzstücke, die nichts mit der Innerlichkeit der Erzählerfigur zu tun haben. Überhaupt geht 228

Wolfgang Koeppen, »Die Erben von Salamis oder Die ernsten Griechen«, in: Ders., Reisen nach Frankreich und andere Reisen. Hrsg. v. Walter Erhart unter Mitarbeit v. Anja Ebner u. Arne Grafe, Frankfurt am Main 2008 (= Wolfgang Koeppen, Werke, hrsg. v. Hans-Ulrich Treichel; 10), S. 241–263.

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es in Koeppens Text nicht primär um Innerlichkeit im Sinne einer höchst subjektiven Anverwandlung eines von vornherein klar umrissenen Zusammenhangs, sondern um eine Art der Realitätsaneignung und -darstellung, die wesentlich auf den Gestus des Flanierens gründet. So besteht seine Nähe zu Traditionen gerade darin, dass er sich variierend in Traditionslinien einschreibt und von Zitaten zehrt, nicht von emphatisch überhöhten Wahrheiten. Wie die Mehrzahl von Koeppens längeren Reisetexten entstand auch der Essay Die Erben von Salamis im Auftrag des Rundfunks.229 Dabei handelt es sich um den vorerst letzten dieser Texte. Finanziert vom Süddeutschen Rundfunk bereisten Koeppen und seine Frau Marion, die allerdings erst einige Tage nach Koeppen in Athen eintraf, von Ende August bis Anfang September 1961 Griechenland. Er besuchte die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten auf dem griechischen Festland, zudem einige der Inseln, nicht aber Kreta.230 Koeppen besaß mehrere Reiseführer über Griechenland; ausdrücklich erwähnt er den Band von Peterich und Rast.231 Zudem hatte er einige Jahre zuvor Henry Millers Koloß von Maroussi positiv rezensiert.232 Dies verdeutlicht, 229

230

231

232

Vgl. zu Koeppens Tätigkeit für den Rundfunk Martin Hielscher, Wolfgang Koeppen, München 1988, S. 107–119; Almut Todorow, »Publizistische Reiseprosa als Kunstform: Wolfgang Koeppen«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986), S. 136–165. Vgl. auch Hartmut Buchholz, »Die Kapitalen des Gedankens. Über Wolfgang Koeppens ›Empfindsame Reisen‹«, in: Eckart Oehlenschläger (Hrsg.), Wolfgang Koeppen (suhrkamp taschenbuch materialien), Frankfurt am Main 1987, S. 141–157, hier S. 144: »Koeppen ist nicht als eine Art Baedeker für den Rundfunk durch die Lande gezogen, sondern als empfindsamer Reisender, der das private Sensorium, den subjektiven Eindruck, die intime Beobachtung des Augenzeugen zum entscheidenden Medium der Welt-Erfahrung erklärt.« Vgl. Walter Erhart, »Kommentar«, in: Koeppen, Reisen nach Frankreich und andere Reisen, S. 528–630, hier S. 596: »Sie [die Reise] führte ihn nach Athen, Piräus, Mykene, Epidaurus, Sparta, Delphi, Rhodos, Kreta, Delos, Mykonos, Eleusis und Daphni.« Vgl. ebd., S. 599: »Zu Griechenland finden sich im WKA folgende Reiseführer: Griechenland. Ein kleiner Führer. Text: Eckart Peterich. Fotos: Josef Rast. Olten; Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1956 (W. Koe. 1673; mit Anstreichungen); Kurt Schroeders: Reiseführer Griechenland. Bonn: Kurt Schroeder 1955. (W. Koe. 1735, mit eingeklebtem Zeitungsartikel im Deckel ›Neue griechische Hotels‹ und Anstreichungen); Reiseführer Griechenland. Köln-Marienburg: Polyglott-Verlag 1960. (W. Koe. 1437, mit eingeklebtem Zeitungsartikel ›Griechische Insel – Feriennachsaison!‹ und der Annonce eines Familienhotels).« Vgl. Wolfgang Koeppen, »Henry Miller, der Koloß«, in: Ders., Gesammelte Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von

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dass Koeppen gerade auch an angloamerikanische Autoren anschließt und weniger an die deutsche Tradition des Schreibens über Griechenland. Erstmals gesendet wurde sein aus Reisenotizen hervorgegangener Essay233 am 13. 2. 1962 im Abendprogramm des SDR unter dem Titel Die Erben von Salamis. Die ernsten Griechen. Ein Bericht von Wolfgang Koeppen.234 Die Druckfassung, die in der Zeitschrift Jahresringe erschien, ist gegenüber dem Manuskript für die Rundfunksendung deutlich gekürzt: Es fehlen die Beschreibungen der griechischen Inseln und die Schilderung des Weinfests von Daphni. Offensichtlich protestierte Koeppen nicht dagegen, wie ihn überhaupt der Text vergleichsweise wenig interessierte. Aus diesem Grund wird hier der gekürzte Text, der sämtlichen Ausgaben zugrunde liegt, als Basis der Textinterpretation verwendet. Allerdings ergänzen die gestrichenen Stellen in bemerkenswerter Weise Koeppens Griechenland-Darstellung, weshalb sie in einem zweiten Schritt mit in die Interpretation einbezogen werden. 3.2.1.

»Der Augenblick ist seltsam glanzlos.« Griechenland als Ort der Abwesenheit

Koeppens Text setzt mit der Beschreibung des Flugs von München nach Athen ein. Diese Art von Beginn ist typisch für die Reiseliteratur. Gemeinhin dient die Beschreibung der Anreise dazu, die Erwartungen des Reisenden zu formulieren und seine Art des Reisens von anderen abzugrenzen, etwa indem die Reise zur Pilgerfahrt stilisiert oder aber die Bedeutung Griechenlands für die eigene Entwicklung emphatisch herausgestellt wird. Auch Wolfgang Koeppens Text beginnt mit mythologischen Anspielungen, die zunächst vermuten lassen, er folge den üblichen Mustern:

233 234

Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band 6: Essays und Rezensionen, Frankfurt am Main 1986, S. 250–252 (Rezension der deutschen Ausgabe von Der Koloß von Maroussi von Henry Miller, Hamburg 1956; erstmals in Süddeutsche Zeitung Nr. 294, 8./9. 12. 1956 unter dem Titel: »An der Kastalischen Quelle gelabt«). Koeppen hebt besonders hervor, dass Miller einen lebendigen, unverstellten Zugang zur griechischen Antike gefunden habe. Vgl. ebd., S. 251: »Doch ist Millers Reisebericht ein gänzlich unphilologisches Buch, weder ein geschichtliches noch ein kunsthistorisches Kompendium, es ist erlebte Welt, erlebter Tag, erlebte lebendige Antike, heute gefundene Freude, uns zugängliches Entzücken und ein herrlicher Beweis, daß die Götter nicht tot und die Griechen Griechen geblieben sind.« Vgl. zu den Bearbeitungsstufen Erhart, »Kommentar«, S. 600f. Vgl. ebd., S. 601. Ein Mitschnitt der Ursendung ist zugänglich in der bei cpo erschienenen CD-Box Wolfgang Koeppen, Nach Russland und anderswohin. Neun originale Radio-Essays, Georgsmarienhütte 2008.

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So sind die Götter gereist, mit den Winden, von den Lüften getragen im Licht. Die Sonne verglitzert das Metall der Flügel, flammt durch die Fenster in die Kajüte der Maschine. Dädalus’ Triumph, Ikarus’ Traum, Merkurs Gewinn.235

Die Flugreise entspricht also der Fortbewegungsart der antiken Götter; nur ausgewählte Menschen wie der Erfinder Dädalus und sein von Hybris geleiteter Sohn Ikarus konnten es ihnen gleichtun, wenn auch mit bekanntlich zweifelhaftem Erfolg. Doch schon das letzte Element in der mythologischen Reihung verweist darauf, dass es keineswegs um eine Reise in mythischer Geborgenheit geht, sondern dass nun wirtschaftliche Faktoren dieses göttergleiche Reisen bestimmen. »Merkurs Gewinn«, das heißt finanzieller Ertrag ist wesentliches Ziel der Flugreisenden und der Fluggesellschaft. Bereits die ersten Sätze von Koeppens Essay unterstreichen, dass der Mythos bei ihm oftmals nurmehr als gebrochenes Zitat erscheint, als Kontrastfolie, die den modernen Verhältnissen entgegengesetzt wird. Dies verdeutlicht auch die Beschreibung der Mitreisenden: »Geschäftsleute, Touristen. Langeweile der Blasierten. Das Standardmenü: Kalbsschnitzel in Tomatensauce. Vier Stunden von München und dreitausend Meter hoch. Keine Wolke.«236 Wie jedes andere Reiseziel ist Griechenland in der Moderne bequem mit dem Flugzeug zu erreichen. Dieser Zugewinn an Bequemlichkeit verstärkt aber in eklatanter Weise die Standardisierung und Uniformierung des Reisens. Auch in Bezug auf das bereiste Land bleibt dies nicht folgenlos, wird das Reiseziel doch in zunehmendem Maß austauschbar. Ohnehin besitzen philhellenische Traditionen kaum noch Geltung, auch wenn Koeppen das Klischee von der Heimreise in das geistige Urland anführt: »Griechenland, Sagenland, die Heimat der Götter, die Wiege des Denkens, der Hybris und der Tragödie, der Garten des Mythos. Wer kehrt nicht heim, wenn er nach Griechenland fliegt?«237 Doch bereits die Frageform deutet an, dass eine vorbehaltlos bejahende Antwort nicht ohne weiteres selbstverständlich ist. Koeppens subtile Distanzierung von der Tradition wird auch daran deutlich, dass er den Philhellenismus in Form von sowohl ironischen als auch wehmütigen Reminiszenzen an seine Schulzeit abhandelt: Mein Lehrer in der Sexta, verlachter Mann im Gehrock, mit abstülpbaren Manschetten, steifem Kragen, schwarzem Plastron, schaukelndem Zwicker am Band betete mit erhobenen Armen »Polla ta deina – vieles Gewaltige lebt …«238

235 236 237 238

Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 241. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der Verweis auf den quasi-religiösen Gestus, in dem der alte Sonderling die bekanntesten Verse aus Sophokles’ Antigone betet, unterstreicht die Antiquiertheit dieses Bezugs zur griechischen Antike. Indem Koeppen herausstellt, dass der emphatische Philhellenismus ein Element der Vergangenheit ist, wirft er implizit die Frage auf, wodurch sein eigenes Verhältnis zu Griechenland geprägt ist. Eine Antwort darauf bleibt aus. Die programmatischen Enttäuschungssignale überwiegen, so dass der Eindruck entsteht, als lehne Koeppen von vornherein jegliche Vereinnahmung ab. Dennoch bewirken die mythologischen Zitate, dass die Welt der Sagen und Götter zumindest im Hintergrund präsent ist, wenn auch ausdrücklich als Zitat gekennzeichnet. Diese Distanzierung von der Welt des Mythos wird auch dadurch offenkundig, dass der Olymp durch den Flugkapitän präsentiert wird: Der Lautsprecher ruft: »Rechts sehen Sie jetzt den Olymp!« Die Kuppe ist leer. Eine Handvoll Schnee. Weißer Raum gegen einen schweigenden Himmel. Die Titanen arbeiten als Physiker in Göttingen, in Princeton und in Moskau. Die Götter haben Studienratsstellen angenommen.239

Von den Göttern ist gerade auf dem Olymp keine Spur zu sehen. Diese Passage verdeutlicht nicht nur den Transzendenzverlust in der Moderne (ein denkbar unorigineller Befund), sondern ebenso eine der grundlegenden Techniken von Koeppens Essay, die der Entzauberung. An Stelle eines geheimnisvollen Götterhimmels ist eine Welt getreten, die von Technisierung, Rationalisierung und Uniformierung geprägt ist. Dies ist der Hintergrund, vor dem das erste Mal Athen erwähnt wird. Die griechische Hauptstadt erscheint nahezu als Wüste, als öder und lebensfeindlicher Ort: Athen ein Häusermeer in einer Mulde zwischen sonnenzerfressenen Bergen. Geröll. Steine, flache Dächer, vegetationslos. Die Akropolis verliert sich in einem graugelben Gewirr. Die Maschine setzt auf. Man ist da. Der Augenblick ist seltsam glanzlos.240

Selbst die Akropolis, das Sehnsuchtsziel der meisten Griechenland-Reisenden, ist Teil der kaum einladenden und durchweg unästhetischen Metropole. Die Ankunft in Griechenland ist ein wenig erhebender Augenblick. Indem Koeppen konstatiert, diesem Moment fehle der Glanz, betont er, dass gemeinhin der Ankunft in Griechenland ein besonderer Wert beigemessen wird. Traditionell gilt diese Ankunft als erhöhter Augenblick, in dem der Reisende, der trotz aller widrigen Umstände seine Hochstimmung bewahrt hat, 239 240

Ebd. Ebd.

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den Boden des Sehnsuchtslands betreten kann. Zwar wird in der Reiseliteratur vielfach die Enttäuschung der Reisenden angesichts des modernen Athen artikuliert, doch handelt es sich dabei um ein Gefühl, das im Laufe der Reise überwunden wird. In Koeppens Reisebericht geschieht nichts dergleichen. Von Beginn an dominiert das Bewusstsein eines Traditionsbruchs, das Gefühl von Leere und Verlust. Allerdings ist diese Denkfigur nur eine Möglichkeit in Koeppens Griechenland-Aneignung: Wenn er zu Beginn die Erwartungen so klein wie möglich hält, so bleibt doch noch die Möglichkeit, andersartige, gelungene Erfahrungen zu machen. 3.2.2.

»Venus könnte aus dem Meer steigen.« Der Mythos als Möglichkeit in der Großstadt

Bereits zu Beginn seiner Athen-Schilderung deutet Koeppen an, dass er sich an einem mythisch konnotierten Ort befindet. Allerdings ist er skeptisch, was die konkrete Erfahrung dieser mythischen Schicht anbelangt, die sich jedenfalls nicht ohne weiteres oder von selbst zutragen wird: »Venus könnte aus dem Meer steigen.«241 Der Konjunktiv markiert sowohl Skepsis und Distanz als auch die vage Hoffnung auf Präsenzerfahrungen: Die Erfahrung des Mythos stellt sich auch in Griechenland nicht von selbst ein, sie bleibt aber eine Möglichkeit. Im Zentrum der Druckfassung von Koeppens Reisebericht steht Athen. Dass Koeppen diesen Schwerpunkt setzt, überrascht nicht, wenn man sich die generelle Affinität des Autors zu Großstädten vergegenwärtigt: »Koeppen ist ein ausgesprochener Großstadtbewohner. Für Natur und bloße Landschaft entwickelt er wenig Empfänglichkeit, sein Interesse gilt den Großstädten.«242 Die ausführlichen Passagen über Athen lassen sich so auch im Kontext einer Großstadtliteratur lesen, deren Wurzeln zu Dos Passos, Joyce und Döblin reichen und zu der Koeppen selbst Wesentliches beitrug.243 Koeppens Großstadtschilderungen evozieren durchweg eine Tiefenschicht: Die Metropolen werden mythisiert und literarisiert. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass trotz anderslautender Signale zu Beginn des 241 242

243

Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 242. Gunter E. Grimm, »Flanieren im Geiste. Großstadt-Bilder in Wolfgang Koeppens Reiseberichten«, in: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang Koeppen Gesellschaft 2 (2003), S. 169–184, hier S. 170. Vgl. dazu Christl Brink-Friederici, Wolfgang Koeppen: Die Stadt als Pandämonium, Frankfurt am Main u. a. 1990.

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Textes Koeppens Athen ein Ort des Mythos bleibt – genauer: ein Ort, an dem Mythisches möglich ist. Dieser Mythos im Konjunktiv signalisiert zugleich Distanz und Hoffnung, markiert eine Zwischenstellung zwischen den hymnischen Evokationen und den rationalistischen Distanzierungen. Koeppens Art der Wirklichkeitsbeschreibung ist offen für mythisierende Tendenzen, allerdings ist in seinem Reisebericht der Mythos lediglich eine unter mehreren Möglichkeiten der Realitätstranszendierung. Dabei geht es nicht um die Darstellung intensiver Erfahrungen, sondern um eine Art der Wirklichkeitsbewältigung durch mythologische Versatzstücke. Auch ist dies keineswegs nur auf griechischem Boden möglich; im Gegenteil: Auch Koeppens sonstige Großstadtschilderungen in den Reiseessays und Romanen besitzen eine entsprechende Tiefenschicht. So spielt in der Nachkriegstrilogie gerade der griechische Mythos eine bedeutende Rolle, wobei auch hier eine gewisse Arbitrarität der Bezüge vorherrscht,244 nicht anders als in den Reiseessays. Mythologische Gesamtdeutungen, die systematische, nahezu allegorische Konzeptionen voraussetzen, sind im Fall Koeppens von vornherein zum Scheitern verurteilt. Koeppens Reiseprosa ist mehr noch als die Texte der Jahrhundertwende Dokument einer Literatur auf zweiter Stufe, weil durch den Montagecharakter der Essays der hohe Grad von Intertextualität hervorgehoben wird: Die bereisten Orte sind nicht allein durch Wissen und Lektüre vorgeprägt, sie werden auch während des Reisens kontinuierlich, fast obsessiv eingebunden in ein Netz geographischer, mythologischer und historischer Verweisungen.245

244

245

Vgl. Hans-Ulrich Treichel, Fragment ohne Ende. Eine Studie über Wolfgang Koeppen, Heidelberg 1984, S. 105: »Das Auftauchen des Mythos in den Romanen Koeppens ähnelt an vielen Stellen diesem Einsatz der ›absoluten Metapher‹, d. h. dem Einsatz einer dem Kontext völlig fremden mythologischen Beziehung. Die ›Verwandlung‹ der Odysseus-Figur beispielsweise in den schwarzen Amerikaner Odysseus Cotton, der mit dem Kofferradio in der Hand durch München spaziert, hat sich so weit von ihrem Original entfernt, daß von einer Verwandlung im eigentlichen Sinne schon gar nicht mehr die Rede sein kann. Der Name Odysseus löst das, was er repräsentiert, an keiner Stelle mehr ein. […] Die erzählerische Marginalisierung der Odysseus-Figur kann zugleich als Indiz einer veränderten Beziehung des Autors zum Mythos und zum Modell literarisch-mythischer Universalität verstanden werden. Denn im Unterschied zu Joyces ›Systementwurf‹, dessen ›naive Modernität‹ in der epischen Totalität des homerischen Epos noch einen verbindlichen Bezugspunkt zur Organisierung seines Werkes finden konnte, ist der Koeppensche Bezug auf den Mythos eher arbiträr.« Walter Erhart, »›Fremdsein, ganz und kraß.‹ Reisen, Alterität und Geschlecht in Wolfgang Koeppens Romanen und Reiseessays«, in: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang Koeppen Gesellschaft 2 (2003), S. 151–167, hier S. 161.

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Anders als die Autoren der Jahrhundertwende versucht Koeppen nicht, die unterschiedlichen Bestandteile zu glätten. Vielmehr stellen seine Texte ihre heterogenen Elemente klar heraus. Auch daran wird der Verzicht auf einheitsstiftende Konstrukte deutlich, der auch den Inhalt der Texte bestimmt. Bei seinem Versuch, sich Athen als Flaneur anzueignen,246 zeigt sich bald, dass die griechische Hauptstadt im Vergleich mit anderen Metropolen abfällt. Die eigentümliche Reizlosigkeit der modernen Viertel macht Athen zu einem eher unangenehmen Aufenthaltsort: Auf dem Fahrdamm zaubern die Automobile noch das Bild der großen Boulevards. Aber schon die Gehsteige sind provinziell. Bieder die Cafés, unelegant das öffentliche Leben, glanzlos die Auslagen der Geschäfte.247

Allerdings ist für Koeppen selbst in dieser wenig einladenden Atmosphäre – vielleicht aber auch nur, weil sie so uneinladend ist – der griechische Mythos präsent. Athen befindet sich »immer und ewig im Angesicht der alten Götter«,248 sogar der öffentliche Nahverkehr weckt mythologische Assoziationen: »Die Autobusse schienen mir geradewegs in die Sage, wenn nicht in die Unterwelt zu fahren. Jede Frau war Ariadne, jeder Passagier Theseus, und Minos saß am Steuer.«249 Mit ironischem Unterton transponiert Koeppen hier die Figuren des antiken Mythos in die Gegenwart. In der Herabstufung des kretischen Königs Minos zu einem Busfahrer wird deutlich, wie spielerisch Koeppen mit den griechischen Mythen umgeht. Ausgehend von der nicht nur wegen der griechischen Schrift verwirrenden Beschriftung der Busse stilisiert Koeppen die Großstadt zu einem Labyrinth.250 Von besonderer Bedeutung ist für Koeppen der Bereich des Essens. Alltagsszenen aus den Garküchen werden aus Koeppens Perspektive zu Dramen mit mythischem Inhalt. So beobachtet er einen Wirt und dessen zwei Söhne, von denen der eine an Achilles erinnert, ja für einen Moment zu Achilles wird. Die Szene ist von latenter Gewalt bestimmt: Der Wirt ist ein rüder Kerl, ein energischer Geschäftsmann, sein Kopf mit den kurz geschorenen Haaren erinnert erstaunlicherweise an einen deutschen Feldwebel. Er brüllt mit Stentors Stimme, hält brüllend seinen Betrieb in Schwung. Seine Kellner hasten wie Verdammte durch die Hölle.251

246 247 248 249 250

251

Vgl. dazu grundsätzlich Grimm, »Flanieren im Geiste«. Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 244. Ebd., S. 242. Ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 243f.: »Die städtischen Autobusse rasen überfüllt. Ihre Fahrtziele bleiben auch für den, der griechisch buchstabieren kann, ein Rätsel.« Ebd., S. 246f.

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In der Garküche herrscht Unterweltatmosphäre. Die Küchenhelfer arbeiten in extremer Hitze »wie Sklaven«252, die »Köche schwitzen wie Knechte des Hephaistos«.253 Vor diesem Hintergrund erscheint auch der energische Wirt als eine Figur von mythischer Größe, zumal auch einer seiner Söhne als der griechische Heros schlechthin beschrieben wird: Er sitzt an der Kasse und wirkt an seinem Arbeitsplatz »wie angeschmiedet«.254 Verweist dies noch auf den Bildbereich des Hephaistos-Mythos, so wechselt bald die mythologische Bezugsgröße: Des Sohnes Hemd ist blauweiß, ist griechisch gestreift, die Ärmel sind hochgekrempelt, die nackten Arme sind muskulös und behaart. Der junge Mann ähnelt Achilleus. Er ist Achilleus. Wenn der strenge Vater ihn frei läßt, selten, fährt er einen roten, donnernden Sportwagen, ist Playboy am Strand von Glyphada. Bläuliche Schatten auf den frisch rasierten Wangen. Cäsarenfrisur.255

Am Beispiel des Wirtssohnes inszeniert Koeppen ein mythologisches Bild, das allerdings mehrfach gebrochen ist. Zunächst erscheint der junge Mann als Inbegriff von Männlichkeit. Er verkörpert Stärke und Schönheit, was zunächst den Vergleich mit Achill nicht abwegig erscheinen lässt. Allerdings passt bereits seine Tätigkeit als Kassierer nicht in die heroische Sphäre, die durch den Vergleich evoziert wird. Schließlich ist auch der junge Grieche ein Gefangener seines Vaters, ist eingebunden in patriarchalische Machtverhältnisse. Einziger Ausweg daraus sind seltene Eskapaden, von denen der Erzähler natürlich nichts wissen kann. Das Urbild von Männlichkeit hat nur Spielzeuge zu seiner Verfügung und zeichnet sich gerade durch seine Passivität und Tatenlosigkeit aus. Somit steht der neugriechische Achill in denkbar großem Kontrast zu seinem mythischen Vorgänger. Der mythologische Vergleich erschöpft sich aber nicht darin, den jungen Mann über diesen Kontrast herabzuwürdigen: Aus der Perspektive der Athener Garküche des 20. Jahrhunderts erscheint nun auch die Figur des Mythos in einem anderen Licht, als trotzig aufbegehrendes, letztlich unfreies Opfer von Determinationszusammenhängen. Das Gegenbild zeichnet Koeppen in dem ungeliebten »Bruder des Achilleus«,256 der gemeinsam mit dem Vater die Kellner beaufsichtigt:

252 253 254 255 256

Ebd., S. 246. Ebd. Ebd., S. 247. Ebd. Ebd.

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Er ist der ungeliebte Sohn. Er geht gebückt wie unter das Last der Gedanken oder der Enterbung. Er ist gänzlich unsportlich. Er versucht, Späße zu machen, über die keiner lacht. Vielleicht wird er ein Drama schreiben: »Vatermord«.257

Koeppen schildert den Bruder wie eine Figur aus einem expressionistischen Drama. Nicht zufällig spielt Koeppen auf Arnolt Bronnens Stück Vatermord an. Seine Außenseiterexistenz sublimiert er durch künstlerische Tätigkeit. Während der kraftstrotzende Achilleus in seiner spärlichen Freizeit seine Männlichkeit mit Symbolen von Macht und Kraft inszeniert (und dabei gleichsam den Vater imitiert), scheint sich der ungeliebte Bruder der Situation bewusst zu sein. Aus seiner Perspektive erscheint der ohnehin wenig sympathische Vater als Verkörperung eines grausamen Tyrannen: Über der Flamme erstarrt für einen Moment sein Gesicht: kalter Geschäftsmann, ungerührter Tyrann. Hurer mit der Besitzsicherheit des Paschas. Sein Bauch fällt prall, nicht schlaff über den Gürtel, das Hemd öffnet sich über grauen Borsten, die kurzgeschorenen Kopfhaare sind schwarz gefärbt, im Scheitel angeklebt.258

Er wirkt nicht nur auf seine Söhne einschüchternd, sondern beherrscht das ganze Lokal: »Die Gäste schlemmen enggedrängt, im Rauch, im Dunst, verschüchtert in der Gewalt des Patriarchats. Keine lauten Stimmen. Kein fröhliches Lachen.«259 Koeppen verbindet in der Beschreibung der griechischen Gastwirtfamilie antike Mythen und moderne Literatur. Dabei ist sein Umgang mit den antiken Stoffen eher assoziativ, ja arbiträr: Die äußere Erscheinung genügt als Auslöser für eine mythologische Fantasie, die aber mit dem eigentlichen Mythos nichts mehr gemein hat. Es geht Koeppen nicht darum, die mythische Figur des Achill umzudeuten. Die Mythenvariation erfolgt anders als bei Walter Jens ohne didaktische Absicht. In einer Art von Familienhölle scheinen schlaglichtartig menschliche Dramen auf, die aber ebenso gut Konstruktion des Erzählers sein können. Die mythologische Erzählung hat in diesem Fall auch eine Entlastungsfunktion angesichts einer bedrohlichen Atmosphäre. So geht es auch hier um ein besseres Verständnis realer Mechanismen durch mythische Verweise, nicht um die Mythisierung der Realität, nicht um Realitätstranszendierung.

257 258 259

Ebd. Ebd. Ebd.

Rationalisierung und Skepsis

3.2.3.

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»… allenfalls hundert Jahre Gnade und Glück und Genie«. Die Bedeutung des antiken Athen

Koeppens freier Umgang mit der griechischen Mythologie, seine willkürliche Vermengung moderner und antiker Motive, könnte darauf hindeuten, dass für ihn die Bedeutung Griechenlands eher gering ist. Tatsächlich erfolgen viele seiner narrativen Mythisierungen eher schematisch. Auch Vergleiche mit anderen Reiseberichten oder Romanen des Autors deuten darauf hin, dass die Mythisierung als durchgehend verwendetes literarisches Verfahren die Bedeutung des einzelnen Mythos marginalisiert. Allerdings sind diese beinahe schon stereotyp gebrauchten Verweise von den Passagen zu trennen, an denen sich Koeppen konkret mit der griechischen Kultur auseinandersetzt. Dort wird in bemerkenswerter Weise deutlich, dass auch Koeppens scheinbar so distanzierter Text nicht frei von philhellenischen Restbeständen ist. Er schreibt in dem Bewusstsein einer Tradition, die (wenn auch in abgeschwächter Form) ihre Bedeutung noch nicht vollständig verloren hat. Zugleich ist das Bewusstsein unverkennbar, als Spätgeborener an diesen Zusammenhängen nicht mehr partizipieren zu können. Wie in nahezu allen Texten über Griechenland bezeichnet Koeppen die Reisenden als Pilger. Dass diese Bezeichnung auch um 1960 noch gängig ist, demonstriert das Reisehandbuch des Altphilologen Ernst Buschor, das den Titel Winke für Akropolispilger trägt.260 Zwar schwingt bei Koeppens Verwendung des Begriffs Ironie mit, da er undifferenziert auf alle Arten von Besuchern der Akropolis angewandt wird. Allerdings unterscheidet Koeppen zwischen zwei Kategorien. Während für die einen, die modernen Touristen, die Akropolis nur ein Ziel unter vielen ist, ist sie für die anderen, die altmodischen Philhellenen, ein zentraler Sehnsuchtsort:261

260 261

Vgl. Ernst Buschor, Winke für Akropolispilger, München 1960. Ähnlich argumentiert Buschor. Vgl. ebd., S. 5: »Ich habe sehr bewußt in den Titel dieser Betrachtung das Wort ›Pilger‹ aufgenommen. Die Akropolisbesucher, die ich in hundert Begehungen des Burgfelsens angetroffen habe, lassen sich leicht in zwei Gruppen, Pilger und Nichtpilger, aufteilen. Da ist auf der einen Seite das arme Völkchen, das, vom Reiseführer oder von Reisebüros erfaßt, der Unrast des Lebens noch rasch ein weiteres kleines Stück Unrast hinzufügt. Diese Besucher scheiden mit dem Gefühl, daß sie dagewesen sind, daß sie die Akropolis gesehen haben, ja sie können es sogar beweisen durch selbstgefertigte Bilddokumente farbiger oder unfarbiger Art, die ihnen die Kamera so authentisch zu liefern scheint.« Vgl. ebd., S. 7: »Die wahren Akropolispilger sind Wallfahrer zu einem Heiligtum, an dem Götter einst unmittelbar zu bestimmten Menschen gesprochen und Spuren ihrer Anwesenheit, ihrer Taten, hinterlassen haben.«

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Die Akropolis ist der Pilger Ziel. Es kommen die Scharen, die überall gewesen sein müssen, es kommen auch die anderen, die ein ganzes Leben lang nur von diesem Felsen geträumt haben. Im allgemeinen fährt man mit den Fremdenverkehrsbussen hinauf. Das Unternehmen heißt »Hermes in Griechenland«, Führungen in allen Weltsprachen.262

Von diesen Ausprägungen des beginnenden Massentourismus setzt sich Koeppen bewusst ab, indem er den Hügel zu Fuß besteigt. Der Fußweg ermöglicht einen Kontakt mit dem wahren Griechenland, mit der Hitze, den Gerüchen und dem Wind.263 Wie auch für die überwiegende Zahl von Griechenland-Reisenden vor ihm erschließt sich für Koeppen auf der Akropolis das Wesen der griechischen Kultur: Dieser Felsen erklärt alles; er offenbart die Größe Griechenlands, aber er zeigt auch den Ursprung der Tragödie. Laßt sie wimmeln, laßt sie in Gruppen stehen und dem Fremdenführer lauschen, der sein Tonband mit dem Munde spricht, laßt sie auf die gestürzten Säulen klettern und einander photographieren, sie sind wie ein Insektenflug, die Koren, die steinernen Mädchen des Erechtheion blicken aus toten Augen durch sie hindurch.264

Angesichts der Monumente wirken die modernen Touristen bedeutungslos. Hier folgt Koeppen scheinbar überkommenen Mustern: Die Abwertung der übrigen Reisenden ist ein Stereotyp, das für Reiseliteratur geradezu konstitutiv ist.265 Aus der Perspektive der Karyatiden des Erechtheions sind die Massen unbedeutend. Auch die Tiermetaphorik ist wenig originell. Koeppen inszeniert eine Akropolis-Beschreibung, die sämtliche Klischees der Gattung akkumuliert. Von ironischer Distanzierung kann an dieser Stelle keine Rede sein; vielmehr handelt es sich um ein zwar im Gestus zurückgenommenes, dadurch aber nicht weniger ernsthaftes Bekenntnis zu bestimmten Aspekten der griechischen Kultur. 262 263

264 265

Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 248. Vgl. ebd.: »Wer aber zu Fuß geht, wird belohnt. Er kommt erschöpft zum Tor, seine Füße spürten den Sand, die Steine, den Fels, er roch den Saft des harzschwitzenden dürren Gestrüpps, er fühlt sich von Helios geschlagen, gezeichnet, ausgezeichnet, und dann spürt er auf der Höhe plötzlich die frischen Winde. Das ist Hellas! Der hohe, der blaue, der wolkenlose Himmel, ein nie vorhergesehenes, ein wahrhaft beglückendes Licht, in einen weiten Horizont leuchtend, föhnig, aber nicht weich, nicht erschöpfend, eher herb und dazu der erregende, der unruhig machende Wind.« Koeppen wählt bewusst den schwierigen Weg, den Ernst Buschor mit dem des wahren Pilgers gleichsetzt. Vgl. Buschor, Winke für Akropolispilger, S. 16: »Jeder Wallfahrer weiß, wie wichtig die Erschwerung des Anmarsches ist.« Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 248f. Vgl. Enzensberger, »Eine Theorie des Tourismus«, S. 152.

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Dabei geht es nicht um die belehrende Beschreibung von Monumenten oder die Vergegenwärtigung griechischer Mythen. Für Koeppen ist die Akropolis deshalb so wichtig, weil sie einen glücklichen Moment der griechischen Geschichte verkörpert: Es ist des Perikles Welt, es sind fünfzig, es sind allenfalls hundert Jahre Gnade und Glück und Genie. Es ist die Zeit nach dem Sieg von Salamis. Dieser Sieg war ein Wunder. Er gebar das heute so viel zitierte Abendland, das es ohne Salamis als Begriff gar nicht gegeben hätte, denn alles war schon verloren, Athen und die Akropolis, als die Athener die Perser in der Bucht von Salamis ertränkten und sich vom Orient und für einen weltentscheidenden Augenblick von der Tyrannis distanzierten.266

Die Reise nach Athen bedeutet die Fahrt zu den Wurzeln des Abendlandes, das sich gerade durch die Abwesenheit von Tyrannei, durch das Beharren auf Freiheit, definiert. Koeppen schließt hier an die bekannten Stereotype von orientalischer Despotie und abendländischer Freiheitsliebe an. Allerdings ist diese Freiheit immer gefährdet; darauf verweist in aller Deutlichkeit, dass die Akropolis nurmehr als Ruine zugänglich ist. Aus diesem Grund lehnt Koeppen auch jegliche romantische Schwärmerei angesichts der antiken Überreste ab. Die Athener Akropolis ist ein Ort der Trauer und der Wehmut, da sie zeigt, was hätte sein können: Ein Hauch von Ewigkeit und um so klarer das Bewußtsein der Vergänglichkeit. Freude und Trauer. Ein gestrandetes Schiff, aber ein Schiff des Zeus. Diese Ruinen sind gänzlich unromantisch. Sie sind tragisch.267

In ihrer Tragik stehen die Ruinen für ein rasch gescheitertes historisches Unternehmen, den Versuch, Freiheit dauerhaft zu etablieren. So besitzt Koeppens Akropolis-Beschreibung trotz aller Ähnlichkeiten mit anderen Texten einen deutlichen politischen Gehalt. Für ihn sind die Griechen nicht als Künstler, Philosophen oder Literaten von größter Bedeutung, sondern als Vertreter von Freiheit. Diese Freiheit stellt keine Selbstverständlichkeit dar: Sie muss immer mühsam errungen und behauptet werden. So entmystifiziert Koeppen das Athen der Blütezeit und reduziert es zugleich auf einen glücklichen Moment von welthistorischer Bedeutung. Es ist für ihn vor allem Ort des Rationalismus und der Skepsis. Dies macht seine maßstäbliche Bedeutung für die Moderne aus: Man glaubte nicht an den Schutz der Steine und nicht an die Dauer der Macht. Was blieb, war der Abglanz eines sehr klaren, eines kühlen und sehr skeptischen Traumes. Man könnte ihn Freiheit nennen.268 266 267 268

Koeppen, »Die Erben von Salamis«, S. 249. Ebd. Ebd., S. 250.

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In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Koeppen den Ernst der Griechen hervorhebt. Im Gegensatz zu den stereotypen Vorstellungen von fröhlichen und leichtlebigen Südländern betont Koeppen die düsteren, potentiell tragischen Aspekte des griechischen Lebens in Antike und Neuzeit.269 Als »Erben von Salamis« wissen die Griechen um die permanente Gefährdung der Freiheit, um die Verlusterfahrungen der Geschichte, aber auch um die Abgründe der menschlichen Existenz. Unweigerlich stellt sich die Frage, wie sich die Enttäuschungssignale, die der Beginn des Textes nahezu plakativ ausstellt, zu Koeppens Bekenntnis zu bestimmten Aspekten der griechischen Kultur verhalten. Dabei ist von Bedeutung, dass Koeppens betont rationaler Zugang eben nicht auf eine identifikatorische Aneignung setzt.270 Dies bewirkt, dass die äußeren Faktoren, die traditionell als Hindernisse solch einer Anverwandlung verstanden werden, an Bedeutung verlieren. Wenn aber die Erfahrungen der Reise kaum noch eine Rolle für die Aneignung bestimmter Aspekte des bereisten Landes spielen, wird die Funktion der Reise selbst in Frage gestellt. 3.2.4.

»Es war aber kein Mond zu sehen.« Tourismus und Entzauberung

Auch wenn der Schwerpunkt von Koeppens Reisebericht auf der Darstellung Athens liegt, so verzichtet er doch keineswegs auf die Beschreibung anderer Landesteile, wobei der Eindruck entsteht, als handele Koeppen manchmal eher lustlos die üblichen Sehenswürdigkeiten ab.271 Koeppens Er269

270

271

Vgl. ebd., S. 243: »Ein ernstes, ein geschäftiges Volk.« Ebd., S. 244: »Kein Flirt. Eher ernste Verhältnisse.« Anders als für Erhart Kästner oder Peter Bamm spielt für Koeppen auch das Christentum keine Rolle. Im Gegenteil, er sieht in ihm einen wichtigen Schritt gegen die Errungenschaften Griechenlands. Insbesondere der Antirationalismus des Apostels Paulus habe den Leistungen Griechenlands den Todesstoß versetzt. Vgl. ebd., S. 250: »Von dieser Höhe hat der Apostel Paulus zu den Athenern gesprochen: ›Ihr Männer von Athen, ich sehe euch, daß ihr in allen Stücken allzu abergläubisch seid.‹ Paulus glaubte an den Glauben. Eine Epoche endete. Paulus wandte sich zur Agora, dem Markt, zum Volk. Dies war das alte Revier des Sokrates. Aber Sokrates war hingerichtet.« So schildert er seine Fahrten durch die Peloponnes auf wenigen Seiten und fasst das Gesehene geradezu katalogartig zusammen: »Ich stand vorm Löwentor in Mykenä, vor Agamemnons Grab, ich sah die Burg in Argos, ich hörte meine Stimme im Theater von Epidaurus, aber ich glaubte es nicht. Es war ein mächtiger, ein unwirklicher Augenblick. Ich war aus der Zeit gehoben.« (Ebd., S. 261) Koeppen folgt bei der Beschreibung seiner Ausflüge weitgehend traditionellen Vorstellungen: In Mykene schildert er (wie nahezu alle Reisenden vor ihm) eine bedrückende Atmosphäre, legt aber offen, weshalb dem so ist: »Weil man die

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kundung des griechischen Festlandes verläuft offenbar halbwegs zufriedenstellend, auch weil die Fahrt im Linienbus einen sonst kaum möglichen Kontakt mit der gastfreundlichen Landbevölkerung bedeutet. Nach Delphi allerdings reist Koeppen mit dem Bus der Firma Hermes. Die Beschreibung dieser Fahrt bildet den Abschluss der Druckfassung von Koeppens Radioessay. Hier bündelt er auf einer knappen halben Seite noch einmal die Enttäuschungssignale, mit denen der Text begonnen hatte. Die Beschreibung von Koeppens Griechenland-Erfahrung wird also eingerahmt von geradezu deprimierenden Szenarien, die fraglich scheinen lassen, ob das spezifisch Griechische unter Bedingungen des modernen Tourismus überhaupt noch auffindbar ist: Nach Delphi fuhr ich mit »Hermes« und seinem Komfort, bekam dafür alles in drei Sprachen dreimal erklärt, und ich weiß noch immer nicht, warum die Reiseführer sich verpflichtet fühlen, das Schulbuch aufzusagen und witzig zu sein. Genügte es nicht, wenn sie verkünden würden: wir sind in Delphi, habet Ehrfurcht, hier ist die Heilige Straße, dort der Felsen der Sibylle, hinter ihm der ApollonTempel, nutzet die Stunde, um vier Uhr geht’s weiter. So zürnt Apollon mit den Besuchern, und kein Orakelspruch wird ihnen auf den Weg gegeben. Ich trank mit amerikanischen Damen, französischen Lehrern und deutschen Geschäftsleuten aus dem kastilischen [ ! ] Quell. Eine Holländerin fand alles einmalig. Der Parnaß hüllte sein Haupt in Wolken. Im Museum blickte der große Wagenlenker auf eine leere Bahn. Wünschen Sie Musik, fragte auf der Heimfahrt der Reiseleiter, und die Lautsprecher sangen »La Luna«, italienisch, deutsch, englisch. Es war aber kein Mond zu sehen.272

Koeppen inszeniert hier Abwesenheit. Wie auch bei der Beschreibung des Fluges von München nach Athen und seiner Streifzüge durch Athen ist die griechische Götterwelt potentiell anwesend. Allerdings ist ironischerweise gerade in Delphi, dem zentralen Kultort Griechenlands, die Vergangenheit

272

mörderische Geschichte des Ortes kennt, bildet man sich ein, daß hier alles zum Ersticken sei. Wo der Wind nicht weht, wittert man Blutgeruch.« (Ebd.) Für Koeppen erklärt sich der Atridenmythos daraus, dass die Bewohner von Mykene die ersten Kulturträger gewesen seien, die sich gegen die umgebenden Bedrohungen befestigt hätten, was wiederum zu einer bedrückenden Atmosphäre geführt hätte. Die Mykener »schmorten allmählich in einer wahrhaft Sartreschen Hölle, ein jeder des anderen Teufel.« (Ebd., S. 262) Wie in Sartres Drama Geschlossene Gesellschaft führt die Enge zu Hass und Gewalt. Bezeichnenderweise deutet Koeppen den Mythos nach modernen Vorgaben; die existentialistische Literatur ist wirkmächtiger als die klassische Tradition. Unmittelbar im Anschluss stellt Koeppen seine Eindrücke im Theater von Epidaurus dar, wo das schreckliche Geschehen des Mythos bereits ästhetisiert und somit kommensurabel gemacht wurde (vgl. ebd.). Ebd., S. 263.

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fremd und unzugänglich. Dafür macht Koeppen die Reisebedingungen verantwortlich, die für einen Ort wie Delphi sichtlich unangemessen sind. Allerdings ist auch Koeppens Ratschlag an den Reiseführer ironisch zu verstehen. In dem parodistisch überzogenen, altertümelnden Gestus, den Koeppen imaginiert (»habet Ehrfurcht«), schwingt zugleich die ersatzreligiöse Tradition des Philhellenismus mit, der, wie an anderer Stelle in Koeppens Text deutlich wird, abgewirtschaftet hat und in die Phase seiner touristischen Vermarktung übergegangen ist. Der Musenberg ist halb verhüllt; die Musik aus der Konserve steht in eigentümlichem Kontrast zur Realität. Selbst der Mond scheint nicht für die modernen Touristen, die glauben, sich in kürzester Zeit das antike Erbe aneignen zu können. Diese Art des Reisens bedeutet von vornherein den Verzicht auf Autopsie. Die Führung durch die Fremdenindustrie verhindert, dass der Reisende einen subjektiven Zugang zu den Objekten der Besichtigung gewinnen kann. Auch die Art der Wahrnehmung wird normiert, so dass die Reise mit »Hermes« gerade nicht zu einer intensiven Begegnung mit Griechenland führen kann. Vor dem Hintergrund dieser Passage wirkt der Mittelteil von Koeppens Essay, der durchaus gelingende Momente zum Thema hatte, wiederum gebrochen. Es wird deutlich, dass dieses Gelingen eher die Ausnahme als die Regel darstellt. Auch Griechenland ist weitgehend entzaubert: Der Mythos ist dort für Wolfgang Koeppen weit weniger präsent als in den Metropolen Westeuropas.273 3.2.5.

Auf der Suche nach Dionysos. Versöhnliche Zurücknahme im zweiten Teil des Radioessays

Die Enttäuschungssignale markieren nicht den Schluss der ursprünglichen Radiofassung.274 Weshalb Koeppen den gekürzten Abdruck genehmigte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen.275 Neben einem gewissen Desinteresse 273

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275

Vgl. beispielhaft für Koeppens Verfahren der mythisierenden Realitätstranszendierung seine London-Schilderung: Wolfgang Koeppen, »Zauberwald der roten Autobusse«, in: Ders., Nach Rußland und anderswohin, hrsg. v. Walter Erhart, Frankfurt am Main 2007 (Werke, hrsg. v. Hans-Ulrich Treichel, Bd. 8), S. 212–240. »Die Erben von Salamis. Die ernsten Griechen. Ein Bericht von Wolfgang Koeppen«, in: Ders., Reisen nach Frankreich, S. 398–426. Im Folgenden als »Typoskript« bezeichnet. Der Kommentar begründet dies damit, dass sich Koeppen nicht mehr für seine Reisetexte interessierte. Das scheint mir zumindest fragwürdig. Vgl. Erhart, »Kommentar«, S. 568: »Erstaunlicherweise scheint Koeppen trotz sorgfältiger Korrekturen für die Druckfassung gegen die Verkürzung (und Verstümmelung) seines Reiseberichts nicht protestiert zu haben – ein Zeichen für seine Nachläs-

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an dem Text scheinen vor allem Fragen der Proportion und Struktur ausschlaggebend gewesen zu sein. Tatsächlich wirkt die kürzere Druckfassung geschlossener und kompakter. Die entfallenen Beschreibungen der griechischen Inseln sind zudem wenig originell und wirken zumindest stellenweise lustlos. Von Interesse sind sie allerdings deshalb, da Koeppen in den Schlusspassagen die zuvor deutlich ausgestellten Enttäuschungssignale wiederum zurücknimmt und zudem zu einer modifizierenden Deutung des Dionysischen gelangt. So liegen von Koeppen zwei gleichwertige Texte über seine Griechenland-Reise vor, die sich ergänzen und gerade in ihrer Gegensätzlichkeit zeigen, dass Koeppens Griechenland-Bild alles andere als gefestigt ist. Die letzten Abschnitte des Radioessays bilden einen zweiten Anlauf, den erneuten Versuch, mit Griechenland in Kontakt zu treten. Dabei entsprechen sie überwiegend den üblichen Griechenland-Stereotypen. Höchst originell ist hingegen die Schilderung des Weinfests von Daphni, die den Text für den Rundfunk beschließt. Dort entwickelt Koeppen in größtmöglicher Verknappung ein Bild des Dionysischen, das mit den überkommenen Vorstellungen von Rausch und Auflösung nichts mehr gemein hat, ja in erkennbarer Weise gegen diese für die klassische Moderne äußerst bedeutsame und folgenreiche Traditionslinie gerichtet ist. Wie bereits bei seinen Beschreibungen der Reisen auf dem griechischen Festland deutlich wurde, kontrastiert Koeppen zwei Arten der Griechenland-Erfahrung. Die touristische, gruppengebundene Erfahrung bleibt zwangsläufig defizitär, wohingegen das Reisen unter Einheimischen mit landestypischen Verkehrsmitteln einen intensiveren Zugang zu dem bereisten Land gewährt. Als Substitut kann zuweilen die Literatur dienen. So schließt unmittelbar an die ausführlich zitierte Beschreibung der Fahrt nach Delphi im Typoskript ein Satz an, der das vernichtende Urteil relativiert: »Im Hotel in Athen las ich die schöne Geschichte von Delphi in Eckart Peterichs liebendem Griechenland-Buch. Erst da wanderte ich entzückt durch den Heiligen Hain!«276 In der lesenden Nachbereitung erschließt sich also der Zauber des Ortes. Dieser Befund macht allerdings zugleich deutlich, dass der Nutzen der touristischen Reise selbst höchst fragwürdig ist.277

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sigkeit im Umgang mit Manuskripten und Fahnen, vielleicht aber auch für das Bewußtsein des Autors, von den großen Rundfunkreisen bereits Abschied genommen zu haben.« Koeppen, »Typoskript«, S. 420. Koeppens Tourismuskritik stellt auch hier heraus, dass die Reisebedingungen verhinderten, dass der Reisende seinen distanzierten Standpunkt aufgeben könne. Auch die Eile, der strikt eingehaltene Zeitplan, trügen dazu bei, dass gerade die

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Auf die griechischen Inseln reist Koeppen deshalb mit den Fähren, die auch die Einheimischen benutzen. Von vornherein plant Koeppen seinen Besuch griechischer Inseln als eine Fahrt in die Welt des griechischen Mythos, in einen literarisch konnotierten Bereich, der zugleich Jugenderinnerungen birgt: All die Eilande sind ausgezeichnet durch ein trockenes Licht. Es ist, und hier jedem Reisenden zugänglich, das Leuchten, das ein Knabe schaut, wenn er zum ersten Mal die Geschichte der alten Götter, die Lebensbeschreibungen der Heroen liest. Ich kann mir nicht helfen, ich muß ein viel mißbrauchtes Wort sagen, hier ist Unschuld, es ist die Welt vor dem Sündenfall, obwohl sich an diesen Ufern andauernd und bis heute Dinge ereignet haben, die jeden Kriminalroman in den Schatten stellen.278

Die Inselwelt ist ein Rückzugsraum, eine Art von Paradies, in dem die mythische Vergangenheit noch anwesend ist. So etwa in der neugriechischen Sprache, die der Homers entspreche,279 so in der Landschaft, in der Pan und Apoll noch präsent seien.280 Dabei verklärt Koeppen keineswegs die Realität: In Rhodos und auf Kreta bemängelt er die übermäßige Restaurierung der Relikte aus Mittelalter und Altertum,281 auf Mykonos begegnet er Vertretern des Jet Set ebenso wie existentialistischen Bohèmiens.282 Gerade dort wiegt die

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touristische Reise ihr eigentliches Ziel zwangsläufig verfehle. In besonderem Maß gilt das für organisierte Touren zu den griechischen Inseln: »Das Verhängnis ist, daß man mit den Mitteln der modernen Touristik die Antike, die sich hier für uns bewahrt hat, nicht erreicht. Wir betreten einen Bezirk der Einsamkeit, und diese Einsamkeit ist und wird immer mehr gestört. Man müßte sich Poseidon und dem Gott der Winde anvertrauen, in einem Nachen segeln; aber wer tut, wer kann das schon, wer hat die Zeit, die Muße, die hier der Schlüssel zum Geheimnis ist.« (Ebd., S. 421). Ebd. Vgl. ebd.: »Könnte der Reisende neugriechisch – würden ihm alle die alten Mythen neu erzählt werden. Die Sprache Homers ist nicht tot; gerade das Inselvolk spricht bildhaft aus einer tiefen Schau.« Vgl. ebd., S. 420: »Die wahren Kenner Griechenlands behaupten, daß sich Pan und Apollon auf die Inseln zurückgezogen haben, und tatsächlich sind die Inseln eine Welt für sich, ein in sich geschlossener Kosmos[.]« Vgl. ebd., S. 422: »Aber die Straße der Kreuzritter ist nur noch die altmodische Inszenierung eines uninteressant gewordenen Schauspiels.« Ebd.: »In Kreta Knossos, die in Gußeisen restaurierten weißen und roten Säulen vom Palast des Minos[.]« Vgl. ebd., S. 423: »Mykonos ist sehr schön. Man nennt es das griechische Capri, was Unsinn ist, aber leider ist es betriebsam und ahmt den Auftrieb von Capri und selbst von Saint Tropez nach. Mykonos hat einen mondänen Strand und eine Bohème. Die Mondänen entblößen den Bauch, die Bohème hüllt sich in schwere wollene Sweater. Wenn man nicht zum Clan gehört oder nicht von einem Reisebüro betreut wird, bekommt man kein Zimmer.«

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Uniformierung durch den Tourismus umso schwerer, handelt es sich doch um die Nachbarinsel von Delos, der Insel Apolls: »Nicht Pans Flöte, Jazz. Nicht Orpheus Gesang. Die Schlager der überall verkäuflichen Sentimentalität. Doch Pans Flöte? Doch Orpheus’ Gesang? Bärte von Schwabing.«283 Diese sowohl resignierte als auch bittere Diagnose entspricht etlichen Passagen der ersten Texthälfte. Allerdings ist der Erzähler nun gewillt, die Enttäuschung zu überwinden. Der Tourismus lässt sich nicht ignorieren: Sehr wohl aber ist es möglich, sich von ihm frei zu machen, sich von seinen Auswüchsen zu distanzieren. Und gerade diese Bereitschaft, dieser erst im Verlauf des Textes erkennbare Wille, Griechenland nicht wie jedes andere Land zu erfahren, führt dazu, dass trotz aller Zerstörungen auf Delos so etwas wie ein Moment mythischer Präsenz möglich wird: Mauerstümpfe, Säulen, hell wie Verkörperungen des reinen Lichts: die Zeichen des Apollon. Zerstückelt ruht der Gott, von Venezianern zersägt, eine Hand im Museum, ein Fuß in London. Der steinerne archaische Löwe an der Heiligen Straße ist ein schönes Gespenst der triumphierenden Niederlage, ein beliebter, etwas unheimlicher, Hintergrundstatist der Ferienphotographien, und sein aufgerissenes zahnloses Maul heult oder lacht. Doch Apollon lebt, strahlt, singt im Sonnenschein; liebt seine Insel; und Artemis, die Keusche, die Tierhüterin, flieht mit dem herben Wind unsichtbar sichtbar durch das verbrannte, verdorrte Gras. – Auf der Rückfahrt umspielten Delphine das Boot.284

Aus der Beschreibung einer öden und wenig einladenden Ruinenlandschaft, die nichts Malerisches an sich hat, wird eine Evokation des göttlichen Geschwisterpaares Apoll und Artemis. Diese Behauptung der Präsenz ist durch nichts in der Realität vorbereitet, vielmehr inszeniert Koeppen einen Kontrast zwischen den in der Natur anwesenden Gottheiten und der tristen Ruinenlandschaft. Auch die Delphine sind mythisches Requisit: Als Tiere Apolls erscheinen sie etwa im Arion-Mythos.285 Koeppen lehnt sich vermeintlich an traditionelle Schreibweisen an. Allerdings hat bei ihm die Erfahrung der Realität nur wenig mit der Sphäre der Evokationen zu tun; beide Ebenen laufen parallel. Dieses Prinzip dient bei aller Harmonisierung doch dem Ausdruck eines unüberwindbaren Bruchs, der nur in der Fantasie kurzzeitig zu kitten ist. Den Abschluss des Radio-Essays bildet die Beschreibung des Weinfests von Daphni. Koeppen entfernt sich auch hier denkbar weit von den Beschwörungen eines rauschhaften Griechenlands. Er nimmt daran teil, um in die 283 284 285

Ebd. Ebd., S. 424. Vgl. Art. »Arion«, in: Der neue Pauly, Bd. 1, Sp. 1083f.

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Sphäre des Dionysos vorzudringen. Zunächst misslingt dieser letzte Versuch, in die Welt des Mythos einzutauchen: »Es gab den geharzten und den ungeharzten Wein […], aber ich hatte Pech mit Dionysos, sein griechisches Blut schmeckte müde. Es gab auch keine Mänaden und keine Bacchantinnen.«286 Allerdings ist die falsche Erwartungshaltung des Reisenden der Hauptgrund für diese Distanzerfahrung. So ist der Erzähler von der Mäßigung der Besucher überrascht, die allesamt nüchtern bleiben, obwohl der Eintrittspreis erlaubt, nach Belieben zu trinken.287 Das Bild ist ein deutlicher Kontrast zu Vorstellungen von hemmungslosen dionysischen Gelagen. Erst als Koeppen für sich akzeptiert, dass es sich dabei um das tiefe Geheimnis handelt, kann er das Geschehen würdigen: Ein liebenswürdiges Volk lagerte sich im Wald; es mißbrauchte die Freiheit des Ausschenkens nicht; ich sah keinen Betrunkenen, aber ich fühlte, daß man sich auf eine stille Weise des Lebens freute. Vielleicht war das das Geheimnis.288

Diese zurückhaltende Lebensbejahung, der nichts Exzessives innewohnt, ist für Koeppen die Essenz seiner Griechenland-Erfahrung. Im Tanz findet diese Haltung den ihr gemäßen Ausdruck. Es handelt sich um ein Jahrtausende altes Ritual, in dessen Vollzug sich eine dionysische Erfahrung einstellt, die mit der Begriffsverwendung Nietzsches aber nichts gemein hat: Und aus dieser stillen Daseinsfreude erhob sich dann doch noch Pan, erklang seine Flöte, und es war von den würzigen Pinienhängen, unter den klaren Sternen zu sehen, wie die Tänzer aufstanden, nur Männer, sich zum Reigen fanden, die jahrtausendealten überlieferten Schritte taten, die Figuren des Tanzes nach einer strengen Regel immer wieder wiederholten, um dann allmählich ein jeder aus der Gebundenheit der Gruppe die ernste und einzige Freiheit, die Freiheit des Ichs zu gewinnen, ein Danaegeschenk [ ! ], ein tragisches Alleinsein, eine dem Irdischen schon entrückte Schönheit, ein Zwiegespräch mit dem Gott.289

Die Beschreibung des Weinfests gipfelt in einem Loblied auf die Individualität. Während bei Nietzsche das Dionysische die Auflösung des principium individuationis bedeutete,290 sind bei Koeppen die Verhältnisse umgekehrt: Nun geht es aus melancholischer Perspektive um das tragische Alleinsein, eine Form von existentialistisch anmutender Geworfenheit, die in den uralten Tänzen sichtbar wird.

286 287

288 289 290

Koeppen, »Typoskript«, S. 426. Vgl. dazu auch Bongs, Die großen Augen Griechenlands, S. 75: »Das Maßhalten der Griechen bewährt sich selbst vor einem solchen Gelage im Freien.« Koeppen, »Typoskript«, S. 426. Ebd. Vgl. Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 28.

Rationalisierung und Skepsis

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Anders als für eine Vielzahl in dieser Arbeit behandelter Autoren ist Griechenland für Koeppen nicht das Sehnsuchtsland schlechthin. Zwar bemüht er bereits in den zuvor entstandenen Romanen und Essays vielfach Vergleiche aus der griechischen Mythologie; diese stehen aber gleichberechtigt neben einer Vielzahl anderer Bildfelder, so dass das spezifisch Griechische nur ein Baustein in dem Versuch ist, eine mythische Tiefenschicht zu konstruieren, die aber letztlich unabhängig von Griechenland ist. Dennoch ist von Bedeutung, wie Koeppen die Erfahrung des Ursprungslandes vieler von ihm verwendeter mythologischer Versatzstücke gestaltet. Dabei bleibt trotz einer Vielzahl von erwartbaren Reminiszenzen der Eindruck der Distanz: Koeppen ist weit weg vom Gegenstand seiner Beschreibung. Seine Aneignung der Antike ist in jedem Fall durch moderne Muster (wie etwa Joyces Ulysses, aber auch die neoklassizistischen französischen Antikebearbeitungen von Giraudoux oder Anouilh) vorgegeben. Die Reise nach Griechenland ist keine Pilgerfahrt zu einem sakralisierten Sehnsuchtsort, sondern eine Auslandsreise neben vielen im Auftrag des Rundfunks. Diesen Eindruck transportieren große Teile des Textes. Er bietet kein homogenes Bild von Koeppens Griechenland-Erfahrung. Weder beschränkt er sich auf die Darstellung von Frustration und Enttäuschung, noch bestimmen die Beschreibungen gelungener Augenblicke den Reisebericht. Beide Elemente stehen nebeneinander. Die deutliche Zweiteilung des Textes lässt den Schluss zu, dass Koeppen unentschlossen zwischen zwei sich ausschließenden Positionen schwankt. Im Unterschied zu den traditionsprägenden Texten der Jahrhundertwende und den meisten der darauf folgenden Reiseberichte geht es bei Koeppens Essay Die Erben von Salamis nicht um die emphatische und euphorische Anverwandlung einer Tradition. Vielmehr umkreist er seinen Gegenstand in einer Weise, die deutlich macht, dass er wiederholend an Schreibweisen der Moderne anschließt. Der Bezugscharakter dieser Verfahren ist aber so offensichtlich, dass der Text diese bereits als Elemente einer Tradition ausstellt.291 In dem in der Forschung oft zitierten Essay An Ariel und den Tod denken. Warum ich reise (1968) entwickelt Koeppen eine Typologie des Reisens (und zudem eine Poetologie seiner Reiseprosa), in der besonders der Fremdheit zentrale Bedeutung zukommt:

291

Vgl. Peter Sprengel, »Wolfgang Koeppen. Die Wiederholung der Moderne«, in: Becker/Kiesel (Hrsg.), Literarische Moderne, S. 403–415.

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Reiseberichte über Griechenland nach 1945

Ich komme an und lebe mit der Fremde. Ich pirsche durch die Stadt. Ich durchstreife noch ihre entlegensten Reviere. Ich sehe, höre, rieche, schmecke Menschen, Häuser, Plätze, Kirchen, Friedhöfe, Amtsstuben, Gerichtssäle, Kneipen, ihre armen und reichen Küchen. Ich trinke die fremde Luft. Sie berauscht, reizt, ernüchtert, und immer macht sie wach, weckt Erwartung, läßt suchen, setzt auf eine Spur.292

Gerade die Position der Fremdheit stimuliert die Neugier des Reisenden; auch die Aneignung des Fremden geschieht nicht über die Aufgabe der eigenen Subjektivität, sondern vielmehr über eine zwar intensive, aber distanzierte Art der Beobachtung. Damit steht Koeppen am Ende einer Tradition, die vor allem auf subjektive Anverwandlung, auf die Aneignung des kulturellen Erbes auf mythisch und historisch bedeutsamem Boden abzielte. Es geht nicht mehr um die große Erzählung einer Wahlverwandtschaft, sondern um die skeptische Erkundung eines fremden Landes.

292

Wolfgang Koeppen, »An Ariel und den Tod denken. Warum ich reise«, in: Ders., Gesammelte Werke 5: Berichte und Skizzen II, Frankfurt am Main 1986, S. 279–282, hier S. 280.

Epilog: Idealisierung und Ideologisierung

V.

427

Epilog: Idealisierung und Ideologisierung

Am Ende einer Untersuchung, die erstmals einen kulturellen Komplex von großer Bedeutung in den Blick genommen hat, stellt sich zwangsläufig die Frage nach Gemeinsamkeiten und Konstanten, aber auch nach signifikanten Unterschieden und Brüchen. Es soll hier nicht darum gehen, das heterogene Material simplifizierend in ein festes Schema zu pressen: Gerade in der Vielschichtigkeit liegt die Bedeutung der Reiseliteratur über Griechenland, die vor allem von Idealisierung und Ideologisierung geprägt ist. Reiseliteratur nimmt im Kontext des deutschsprachigen GriechenlandDiskurses eine zentrale Rolle ein, weil sie vorgeblich authentische Erfahrungen und Eindrücke eines zentralen Erinnerungsortes vermittelt und auf diese Weise nicht unwesentlich zur Vitalisierung einer Tradition beiträgt. Griechenland unterscheidet sich in der Logik der Texte von anderen Reisezielen durch die äußerst hohe Bedeutung, die seiner Kultur und Geschichte beigemessen wird. Wegen dieser oftmals geradezu religiösen Überhöhung des Landes wird die Reise zur Pilgerfahrt. Die Reiseberichte über Griechenland beschäftigen sich zumeist mindestens ebenso sehr mit der Innenwelt der Reisenden wie mit der Außenwelt des Reiseziels. Nahezu allen Reisenden ist die große Erwartungshaltung gemein: Griechenland ist das Sehnsuchtsland der klassisch Gebildeten, der Besuch dieses Landes bedeutet vielfach die Erfüllung von Kindheitsträumen. Vor kurzem hat Jens Jessen in der Wochenzeitung Die Zeit prägnant formuliert, die »deutsche Idealisierung der Hellenen [habe] immer schon in die Irre geführt«.1 Von diesem kritischen, wohl aber zutreffenden Befund ausgehend, ließe sich diese Arbeit als Versuch beschreiben, den Irrwegen der deutsch-griechischen Begegnung nachzugehen. Man könnte den Untersuchungsgegenstand aber auch wohlwollender als die Imaginationen eines Sehnsuchtsraums bestimmen, deren Schreibweisen einiges über Mechanismen der Bedeutungszuschreibung aussagen. Beide Sichtweisen sind möglich, wie der Überblick über ein reiches Textkorpus verrät, den diese Arbeit erstmals gestattet. Wolfgang Koeppens skeptische, tastende Annäherungen an ein fremdes Land stehen am Ende einer Traditionslinie, die mit emphatischen Bedeutungszuschreibungen begonnen hat. Es fällt auf, wie Griechenland innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit als 1

Jens Jessen, »Diese Griechen! Die deutsche Idealisierung der Hellenen hat immer schon in die Irre geführt«, in: Die Zeit, 4. 3. 2010, S. 39.

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Epilog: Idealisierung und Ideologisierung

Bezugsraum an Bedeutung verloren hat: Gerade einmal 50 Jahre zuvor versuchten die Autoren der Jahrhundertwende voll Enthusiasmus, ihre idealisierten Vorstellungen von Hellas im modernen Griechenland wiederzufinden. Dass ihnen dies teilweise glückte, liegt bezeichnenderweise vor allem an den Projektionstechniken: Geschult an Mustern der Mystik kann es gelingen, von der Gegenwart zu abstrahieren bzw. diese als Ausgangspunkt für Aufschwünge in eine Welt des Mythos zu nehmen, die aber immer zugleich auf die Subjektivität des Schreibenden zurückverweisen. So sind Hauptmanns Griechischer Frühling und Hofmannsthals Augenblicke in Griechenland ebenso sehr selbstreflexive Dokumente künstlerischer Verfahrensweisen und Befindlichkeiten wie Reisebeschreibungen über Griechenland. Diese Schreibweisen sind noch für Erhart Kästners Griechenland-Bücher aus den 1950er Jahren vorbildhaft. Allerdings ist es zu diesem Zeitpunkt problematisch geworden, sich ausschließlich auf die Innenwelt zu konzentrieren. Dies gilt ebenso für die emphatische Feier Griechenlands als eines mythischen Rückzugsraums aus einer als bedrohlich empfundenen Moderne: Insbesondere die Vereinnahmung philhellenischer Diskurse im Nationalsozialismus und eine unmenschliche deutsche Besatzungspolitik demonstrieren die Ideologisierung einer wirkmächtigen Tradition. Gerade in der Reiseliteratur sind von vornherein Mechanismen angelegt, die zeigen, wie es zu einem derartigen Missbrauch kommen kann. Die Fokussierung auf ein abstraktes Ideal, das erst im Vollzug der Reise mit Leben erfüllt werden soll, hat dann fatale Folgen, wenn aus der Begeisterung für die griechische Antike eine Abneigung gegen die griechische Moderne resultiert. Die Vehemenz, mit der Autoren seit der Jahrhundertwende das moderne Griechenland abwerten oder nicht zur Kenntnis nehmen, gehört zu den Kehrseiten des an dunklen Aspekten nicht eben armen deutschen Griechenland-Diskurses: Gerade die Stilisierung Griechenlands zu einem mit religiöser Bedeutung aufgeladenen Sehnsuchtsort prägt die Reiseliteratur im positiven wie im negativen Sinn. Die Politisierung der Gattung in den 1920er Jahren und vollends im Dritten Reich führt zu einer Vermischung von politischen und ästhetischen Kategorien, die es erschwert, Texte klar einzuordnen. Ein Extrembeispiel stellt Erhart Kästners Propagandabuch Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege dar, das Blutmystik in der Nachfolge Alfred Rosenbergs neben hymnische Naturbeschwörungen nach dem Vorbild Gerhart Hauptmanns stellt. Die Ideologie einer deutsch-griechischen Sonderbeziehung marginalisiert die modernen Griechen: Für sie ist in den Konstrukten, die auf Fallmerayers berüchtigte Griechenthese zurückgehen, kein Platz mehr. Sie erweisen sich oftmals als Störfaktoren bei der angestrebten Begegnung zwischen modernen Deutschen und alten Griechen.

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Der affirmative Bezug auf die Welt der Antike führt zu ästhetisch komplexen Gebilden, die gerade in ihrer Hybridität äußerst reizvoll sind: Die intertextuellen Formen von Gerhart Hauptmann oder Hugo von Hofmannsthal, aber auch die komplexe ›Mythenstapelei‹ Theodor Däublers sind nicht nur als Dokumente einer Auseinandersetzung mit Griechenland von Interesse, sondern ebenso als spezifisch moderne Beiträge zur Reiseliteratur. Ein unbefangener Umgang mit Griechenland als Reiseziel ist vielen Autoren kaum mehr möglich. Einige wenige Schriftsteller versuchen dennoch, von der antiken Vergangenheit zu abstrahieren: Die Texte von Bernhard Guttmann und Victor Auburtin gehören zu den erfrischenderen Beispielen der Gattung, eben weil sie die Vergeblichkeit eines ersatzreligiösen Bezugs klar erkennen. Ein Blick auf die überwältigende Zahl von mythisch angereicherten Reiseberichten zeigt aber, dass es Nüchternheit und Ironie im Kontext einer Tradition schwer haben, die von der Emphase lebt. Was bleibt? – Nach wie vor entstehen Bearbeitungen antiker griechischer Stoffe: Die Faszination, die von der Welt des Mythos ausgeht, scheint ungebrochen. Gerade deshalb fällt umso mehr auf, dass Reiseberichte über Griechenland kaum noch eine Rolle spielen. Die Selbstbetrachtung im »magischen Spiegel«2 einer als vorbildlich empfundenen Antike hat ihre Relevanz verloren. Mag auch der (zwischenzeitliche) Bedeutungsverlust der Gattung des Reiseberichts mit übergreifenden Tendenzen zusammenhängen, so wird doch im Fall des Schreibens über Griechenland darüber hinaus deutlich, dass emphatische und affirmative Aneignungen von Tradition problematisch geworden sind. Gerade angesichts der bizarren Vorstellung einer deutsch-griechischen Sonderbeziehung und der Art, wie diese in der Begegnung mit Griechenland aktualisiert wird, ist man geneigt, Hofmannsthals Aussage über die Antike auf die befremdlichen Ausformungen ihrer Rezeption zu übertragen: »Dies alles war fremd über die Maßen und unbetretbar.«3

2 3

Hofmannsthal, »Buch der Freunde«, S. 265. Hofmannsthal, »Augenblicke in Griechenland«, S. 181.

430

Epilog: Idealisierung und Ideologisierung

431

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VI. Literaturverzeichnis

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459

Personenregister

VII.

Personenregister

Dieses Register listet historische Personen und Figuren des Mythos auf. Achill 331, 412, 413, 414 Agamemnon 31, 265, 418 Agaue 396 Aischylos 77, 79, 260 Ajax 331 Akribios 397 Alexander der Große 204 Alkinoos 393 Alverdes, Paul 247 Andres, Stefan 290, 299, 300–304, 310, 318 Anouilh, Jean 425 Antenor 331 Apoll 28, 29, 32, 73, 91, 111, 136, 138, 195, 196, 200, 205, 227, 250, 252, 260, 273, 308, 338, 339, 363, 384, 397, 402, 403, 419, 422, 423 Ariadne 412 Arion 423 Aristophanes 71, 182, 183, 390, 399 Artemis 66, 402, 403, 423 Asklepios 56, 295 Athene 44, 52, 80, 109, 131–134, 136, 164, 338, 392 Atreus 31, 175, 223, 230, 284 Auburtin, Victor 148, 159–169, 176, 178, 180 Baeumler, Alfred 266 Bahr, Hermann 3, 32, 48, 49, 338 Bamm, Peter 352, 354, 388, 405, 418 Bechtle, Richard 15, 16, 17, 50, 129 Benjamin, Walter 142, 155 Benn, Gottfried 27, 251, 269, 275, 276 Bernays, Jacob 76 Berve, Helmut 263, 264, 274, 275, 325, 326, 351, 352 Berzeviczy, Albert von 26, 78, 115, 119, 224 Biernat, Ulla 17, 353 Birt, Theodor 64, 65, 121, 336 Bissing, Friedrich Wilhelm von 144

Blavatsky, Helena 213, 215, 217, 218, 221, 225 Bloch, Ernst 401, 402, 403 Boeckh, August 29, 30 Bogosavljevic, Srdan 17, 122 Bohlen-Hegewald, Fred von 280 Böhme, Jakob 42 Bongs, Rolf 347, 349, 424 Börger, Hans 160 Brecht, Bertolt 389, 390, 396, 398–403 Breker, Arno 344 Breuer, Josef 33 Bronnen, Arnolt 414 Brunn, Heinrich 31 Bruno, Giordano 196 Burckhardt, Jacob 4, 29, 30, 70, 104, 134, 160, 175, 252, 276 Buschor, Ernst 415, 416 Butler, E. M. 5, 350 Byron, George Gordon 164 Camus, Albert 391, 403 Chamberlain, Houston Stewart 259, 260 D’Annunzio, Gabriele 31, 34, 46, 224, 225 Dädalus 408 Dante Alighieri 396 Darré, Richard Walther 276 Däubler, Theodor 168, 189–208, 212, 213, 214, 227, 228, 275, 312, 317, 429 Demokrit 300 Diem, Carl 270–274, 276, 277, 278, 281 Dingeldein, Otto 39, 232 Diomedes 331 Dionysos 6, 28, 29, 32, 57, 58, 66, 67, 71–74, 77, 79, 84, 87, 91, 96, 111, 136, 138, 192, 204, 248, 308, 318, 338, 396, 397, 398, 420, 421, 424 Döblin, Alfred 396, 410

460 Dörpfeld, Wilhelm 233, 277 Dos Passos, John 410 Durrell, Lawrence 354, 393 Edschmid, Kasimir 156 Egk, Werner 273 Ehrenstein, Albert 33 Elisabeth von Österreich (»Sissi«) 3, 161 Endres, Franz Carl 189, 214, 216–222, 228, 230, 240, 388 Enzensberger, Hans Magnus 386, 391, 392 Eschmann, Ernst Wilhelm 290–299, 302, 304, 310, 354 Euripides 91, 396–400, Fallmerayer, Jakob Philipp 63, 64, 65, 173, 180, 202, 203, 265, 334, 368, 428 Fermor, Patrick Leigh 354 Fischer, Friedrich 246 Fleischer, Hagen 344 Forel, Auguste 68 Fredrich, C. 120, 202 Freud, Sigmund 2, 3, 33, 34, 39, 46, 102 Frisch, Max 359, 396 Gelber, Adolf 69 Genette, Gérard 11 George, Stefan 32, 33, 34, 247 Giraudoux, Jean 425 Glasenapp, Elisabeth von 130 Gobineau, Joseph Arthur de 259 Goethe, Johann Wolfgang 16, 19, 47, 48, 49, 52–55, 59, 60, 69, 74, 90, 102, 116, 133, 187, 196, 296, 329, 333, 334, 350, 370, 376 Götz, Bärbel 114 Graeb-Könneker, Sebastian 283 Graf, G. J. 319, 324, 325, 326 Günther, Hans F. K. 167, 264, 276 Guttmann, Bernhard 148, 169–178, 188, 201, 429 Hadrian 170 Hager, Werner 292 Hauptmann, Benvenuto 37 Hauptmann, Gerhart 3, 6, 7, 17, 19, 20, 21, 24, 26, 34–63, 65–81, 82–87, 89, 90, 93, 97, 102, 103, 104, 106, 107, 114, 117–122, 125, 129, 132, 133,

Personenregister 137, 138, 159, 178, 225, 248, 269, 275, 285, 319, 326, 329, 330, 333, 338–341, 342, 352, 355, 357, 361, 362, 370, 379, 396, 428, 429 Hauptmann, Ivo 37, 47, 50, 83 Hauser, Heinrich 280, 281, 284–289, 291, 310, 345 Heidegger, Elfride 376, 377 Heidegger, Martin 310, 355, 374–389, 392 Helwig, Werner 242 Herakles 133, 204, 400 Hermes 204, 252, 278, 289, 390, 402, 416, 419, 420 Hermes Trismegistos 220 Herodot 215, 277 Hesiod 218 Hevesi, Ludwig 52, 169, 224 Hiller von Gaertringen, Julia 328, 335, 338, 339, 361, 366, 367, 372, 374 Himmler, Heinrich 266, 267 Hinck, Walter 389 Hirschberg, Julius 78, 79, 80 Hitler, Adolf 256, 257, 258, 260, 262, 271, 276, 277, 312, 313, 314, 316 Hofer, Franz 97, 98, 99 Hofmann, Ludwig von 3, 37, 83 Hofmannsthal, Hugo von 1, 3, 4, 5, 7, 17, 19, 32, 33, 34, 35, 81–93, 95–98, 100–112, 114–119, 122, 133, 138, 142, 143, 144, 165, 202, 205, 212, 246, 340, 358, 390, 428, 429 Hofmiller, Josef 36, 84 Hölderlin, Friedrich 40, 116, 134, 142, 173, 246, 247, 300, 301, 304, 375, 378, 379, 380, 382, 388 Holz, Arno 43, 340 Homer 30, 31, 37, 38, 47–54, 56–60, 66, 71, 91, 96, 97, 119, 131, 175, 184, 201, 205, 215, 218, 248, 249, 259, 271, 329, 331, 332, 334, 337, 345, 367, 391, 392, 393, 395, 396, 402, 411, 422 Huchel, Peter 401, 402 Humboldt, Wilhelm von 2, 27 Ikarus 408 Iphigenie 133, 338, 339, 361 Ipsen, Dorothea 15, 16, 17, 121 Irving, Washington 359

Personenregister Jaeger, Werner 144, 352 Jens, Walter 354, 388–405, 414 Jessen, Jens 427 Jesus Christus 88, 196, 204, 205, 220, 361–364 Joyce, James 410, 411, 425 Jünger, Ernst 305, 309, 357 Jünger, Friedrich Georg 269, 290, 293, 304–310, 318, 354, 388 Kalypso 57, 59 Kambas, Chryssoula18 Karo, Georg 245 Kästner, Erhart 7, 17, 256, 309, 319, 326–346, 352–377, 384, 387, 388, 392, 393, 394, 396, 405, 418, 428 Kaulbach, Helmut 327 Kefalea, Kirky 18 Kekulé von Stradonitz, Reinhard 31, 132 Kern, Otto 120, 202 Kessler, Harry Graf 3, 26, 78, 82, 83, 84 Kirke 57–61 Kirsten, Ernst 349, 354 Klinias 132 Koch, Lutz 280, 283 Koeppen, Marion 406 Koeppen, Wolfgang 6, 7, 354, 388, 405–427 Korte, Barbara 9 Kracauer, Siegfried 146 Kraiker, Wilhelm 349, 354 Kulz, Werner 264, 265 Kurz, Hermann 131 Kurz, Isolde 10, 21, 24, 79, 80, 101, 103, 120, 121, 128–138, 319, 342, 379 Kuypers, Franz 315 Kyber, Manfred 228 Le Rider, Jacques 114 Lykurg 274, 275, 276, 293 Maillol, Aristide 82, 83 Mann, Thomas 27, 213, 231, 233, 236, 237, 238, 240, 241, 389 Marchand, Suzanne L. 3 Maria 204 Maria Magdalena 361, 363, 364 Mayer, Hans 50, 60, 401, 402 Mazower, Mark 323 Meraviglia, Olga Gräfin 20, 62, 130

461 Merkur 408 Metaxas, Ioannis 271, 289, 312, 315 Meyrink, Gustav 213, 226, 313 Michelangelo 196 Miller, Henry 354, 393, 406, 407 Minos 318, 412, 422 Mitsou, Marilisa 18 Mohl, Ernst 130 Müller, Orrie 231, 233–237, 241 Münchow, Ursula 50 Murray, Gilbert 93, 98, 111 Mussolini, Benito 161, 162, 169, 320 Napoleon Bonaparte 196 Nauhaus, Julia M. 328 Nausikaa 38, 52, 53, 55, 59, 60, 392 Nietzsche, Friedrich 4, 6, 28, 29, 32, 35, 47, 70, 71, 73, 77, 78, 111, 119, 135, 191, 246, 247, 318, 338, 363, 390, 396, 400, 424 Nike 184 Odin 218 Ödipus 33, 64, 78, 93, 94, 97, 98, 100, 107, 369, 372, 373, 397, 399 Odysseus/Ulysses 37, 38, 50, 51, 52, 54, 56–61, 106, 218, 249, 395, 396, 411 Oettingen, Wolfgang von 115 Orff, Carl 273 Orpheus 195, 204, 214, 296, 423 Osborn, Max 21, 44 Otten, Karl 92, 205 Otto, Walter F. 144 Pan 67, 68, 87, 114, 204, 308, 342, 372, 422, 423, 424 Pannwitz, Rudolf 118, 119, 191 Paquet, Alfons 148–161, 168, 169, 176, 178, 188, 189 Pater, Walter 48, 77 Pausanias 26, 51 Penelope 58, 59, 60 Pentheus 396, 397, 398, 401 Perikles 156, 184, 220, 417 Persephone 402, 403 Perseus 198, 224, 394 Pessentheiner, Norbert 17, 168 Peterich, Eckart 191, 192, 406, 421 Pfister, Manfred 11, 24, 48 Phidias/Pheidias 115, 131, 132, 133 Pindar 381

462 Pinner, Erna 130 Piscator, Erwin 352 Platen, August von 390 Plato 105, 132, 214, 220, 242, 400 Plutarch 67, 342 Polyphem 218 Pongs, Hermann 334 Ponten von Broich, Julia 121 Ponten, Josef 24, 91, 120–129, 133, 159 Poseidon 130, 191, 192, 422 Poussin, Nicolas 84, 88, 90 Praxiteles 115, 252 Prometheus 128, 215 Pythagoras 204, 214 Pytlik, Priska 229 Raffael 196 Ratzel, Friedrich 123 Reisinger, Ernst 128 Renan, Ernest 101, 127, 164, 187 Riefenstahl, Leni 271 Rilke, Rainer Maria 247 Rimbaud, Arthur 93, 96–99 Rohde, Erwin 77 Rosenberg, Alfred 256, 259, 260, 264, 276, 317, 330, 331, 334, 335, 361, 428 Santini, Daria 35, 60, 105, 118 Schliemann, Heinrich 30, 31, 166, 224 Schmid, Alfred 242 Schnell, Ralf 344 Schnitzler, Arthur 34, 46 Schröder, Rudolf Alexander 117 Schubring, Gioia 130 Schulze, Alfred 146 Schuré, Édouard 214, 215, 220 Seidensticker, Bernd 395 Seybold, Cattina von 130 Skopas 115 Sophokles 64, 78, 80, 91, 92, 105, 106, 399, 400, 409 Spunda, Franz 189, 192, 201, 207–214, 216, 221, 222, 224–230, 333, 255, 298, 310–318, 388 Stalin, Josef 402

Personenregister Steiner, Rudolf 213, 225 Strauß, Franz Josef 402 Strauss, Richard 3, 143 Strohmeyer, Arn 275, 328, 344 Strunz, Franz 138 Taine, Hippolyte 276, 340 Tantalos 175 Teiresias 397 Telemach 51, 54 Thanapoulos, Georgios A. 17 Theseus 134, 316, 317, 318, 412 Thun, Roderich Graf 356, 375 Ulbricht, Walther 402 Václavek, Ludvík 314 Valentin, Karl 402, 403 Van de Velde, Henry 3 Venizelos, Eleftherios 140, 177 Venus 410 Vogt, Joseph 262, 351, 352 Vöhler, Martin 394 Wagner, Richard 41, 42, 238, 390 Wagner, Siegfried 41 Waldmann, Emil 28, 31, 32 Waterhouse, John William 60 Weber, Leo 52, 105, 119 Weber, Max 190 Wegener, Paul 313 Wehner, Josef Magnus 148, 177–189, 255, 333, 336 Weyssenhoff, Franz von 265, 266 Wieland, Christoph Martin 4 Wiethölter, Waltraud 114 Wilhelm II. 3, 44, 159–164 Will, Wilfried van der 47 Winckelmann, Johann Joachim 4, 6, 133, 192 Wiskott, Carl T. 268, 271, 280–284, 286, 291, 310, 319, 345 Wolfram von Eschenbach 42 Xerxes 206 Zeus 56, 59, 192, 218, 278, 289, 325, 342, 417 Zifferer, Paul 117