Grenzgebiete: Liebe in einem zerrissenen Land 9783766845429

Der Roman eignet sich als Lektüre für die Mittel- und Oberstufe, vor allem bei den Themen Interreligiöser Dialog, Israel

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German Pages 112 [113] Year 2020

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Grenzgebiete: Liebe in einem zerrissenen Land
 9783766845429

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Friedhelm Kraft Grenzgebiete

Friedhelm Kraft

Grenzgebiete Liebe in einem zerrissenen Land

Calwer Verlag Stuttgart

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

eBook (pdf): ISBN 978-3-7668-4542-9 ISBN 978-3-7668-4483-5 2. Auflage 2020 © 2018 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlaggestaltung: Karin Class, Calwer Verlag Umschlagmotiv: © picture alliance/epa/Oliver Weiken (Ausschnitt) Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de Internet: www.calwer.com E-mail: [email protected]

Prolog „Warum willst du die Palästinenser unterstützen? Sie wollen unseren jüdischen Staat vernichten.“ Jossi rückt ein Stück von Mareike ab. Sie sitzen auf einer Bank am Märchenbrunnen. Aus den Figuren sprudelt das Wasser. Der Zauber der Umgebung ist jäh verschwunden. Sie sehen sich an und Mareike versteht die Welt nicht mehr. Hat die böse Hexe ihre Hand im Spiel? Sie sieht auf eine Figur, die jedes Kind kennt. Der listige, verschlagene Blick, klammheimliche Freude. Gerade haben sie sich noch zärtlich geküsst, die Hand von Jossi streifte wie aus Versehen ihre Brust, verweilte einen Augenblick und verfing sich in ihren Haaren. Sie hat das Gefühl zu brennen, noch immer, lodernde Flammen statt sprudelndes Wasser. „Warum willst du die Palästinenser unterstützen, die unseren jüdischen Staat vernichten wollen?“, wiederholt Jossi seine Frage. „Für wen hältst du mich? Glaubst du wirklich, ich unterstütze Menschen, die Israel vernichten wollen?“ Mareike sieht in ein fremdes Gesicht. Der weiche Glanz von Jossis Augen ist verschwunden. Seine Lippen sind zusammengepresst, die Augenbrauen leicht hochgezogen. Falten bilden sich auf seiner Stirn. Dieses Gesicht kenne ich nicht, denkt Mareike. „Ich verstehe dich nicht. Du kritisierst mich, als hätte ich dir etwas angetan“, antwortet Mareike mit belegter Stimme. Am liebsten möchte sie aufstehen und gehen. Aber ihre Beine versagen ihren Dienst. Sie schafft es nicht. Und Jossis prüfender Blick bleibt auf sie gerichtet. Was ist los mit ihm? Ich habe nur erzählt, dass ich ein Jahr lang in einem Schulzentrum in der Nähe von Bethlehem arbei5

ten darf. Talitha Kumi lautet der Name der Schule. Träger ist das Berliner Missionswerk. Die Schule befindet sich in Palästina, sagen die einen, andere sprechen vom Westjordanland. Außerdem fährt ein Bus von Talitha Kumi direkt nach Jerusalem. Die Fahrzeit beträgt gut eine halbe Stunde. Wir könnten uns weiterhin treffen. Jossis Auslandssemester wird in wenigen Monaten beendet sein. Warum kann er sich nicht mit mir freuen? Es gab doppelt so viele Bewerber, wie Plätze für ein Volontariat vergeben werden konnten. Warum freut er sich nicht mit mir?

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1. Kapitel Montage sind meine besonderen Tage. Den Montag vor drei Wochen werde ich nie vergessen. Was war das für ein Tag! Am Morgen schien die Sonne. Der Tag fing gut an. Das Berliner Missionswerk hatte zu einem Seminar eingeladen. Meine anfängliche Skepsis war groß. Allein der Name „ Missionswerk“ klang irgendwie seltsam. Wer will heute noch „missioniert“ werden? Passend dazu der alte Bau und die steile Wendeltreppe, die zum Seminarraum im 2. Stock führte. In der Einladung stand „Knaaksaal“ als Seminarraum. Der Raum, ein Erlebnis! Moderne Bürotische und Bürosessel u-förmig aufgestellt, bunte Fenster, die wie Kirchenfenster aussehen, ein überdimensioniertes Kreuz an der Wand und ein Kerzenständer. Mich hat die seltsame, aber beeindruckende Mischung aus Kirchenraum und Großraumbüro beeindruckt. Das Seminar stand unter der Überschrift „Vorbereitung auf ein Volontariat in Talitha Kumi“. Konkret ging es um die Geschichte und aktuelle Situation der christlichen Minderheit in Palästina. Es leben immer weniger Christen im Heiligen Land. Das war das traurige Fazit des Tages. Gründe wurden dafür genannt. Aber wie soll ich sie gewichten? Diese Frage beschäftigt mich weiterhin. Nach dem Seminar geht Mareike in das kleine Café in der Seitenstraße vom Hackeschen Markt. Da ist es passiert. Das Heft rutscht aus ihrer Hand. Ehe sie zugreifen kann, hat ein junger Mann es ihr mit einem Lächeln gereicht. Mareike fallen sofort seine dunklen Augen auf. Sie scheinen mitzulächeln. Sie blickt in ein auf Anhieb sympathisches Gesicht. „Du interessierst dich für Christen im Heiligen Land?“, sagt der höfliche Fremde mit einer Stimme, die fest und zögerlich zugleich klingt. Es hat den Anschein, als wolle er seine Frage zurücknehmen. Aber das geht natürlich nicht. 7

Mareike versucht sich an ihre Antwort zu erinnern. Warum fallen ihr nur noch Bruchstücke ein? Sie ist sich unsicher, worauf die Frage zielt. Was will er von ihr wissen? Irgendetwas muss sie geantwortet haben, denn der Fremde nennt seinen Namen und sagt, dass er gerne mit ihr über Israel und den Nahen Osten sprechen würde. „Da kenne ich mich aus“, sagt er. „Nächste Woche um dieselbe Zeit? Jetzt muss ich leider los.“ Mareike weiß nicht mehr, ob sie wirklich zugesagt hat. Sie hat ihren Namen genannt. Der hilfsbereite Fremde stellte sich mit Jossi vor. Das hat sie sich gemerkt. Die Woche ist schnell vergangen. Mareike erinnert sich, dass sie in dieser Woche immer wieder an die unverhoffte Begegnung mit dem Unbekannten denken musste. Sie weiß seinen Namen. Mehr aber nicht. Was will sie eigentlich mit ihm besprechen? Soll sie von dieser altehrwürdigen Einrichtung berichten? Wer will heute noch etwas mit Mission zu tun haben? Wie würde Jossi reagieren? Auch ist das Thema „Christen im Heiligen Land“ nicht ohne. Wie leicht ergeben sich daraus allzu persönliche Fragen. Religion ist ohnehin ein schwieriges Thema. Diese Erfahrung hat Mareike schon oft gemacht, im Elternhaus und mit ihren Klassenkameraden. Sie gehörte zu den wenigen, die bis zur 10. Klasse am Religionsunterricht teilnahmen. Die anderen hatten eine Freistunde, sie „Reli“. Jetzt trifft sich der „Frommenzirkel“, war ein häufiger Kommentar. Der Unterricht war ihr wichtig, die Themen, die offenen, kontroversen Gespräche. Da ging es zur Sache und oft wurde es persönlich. Über den Glauben von anderen zu reden ist nicht schwierig, aber über den eigenen Glauben zu sprechen, das ist alles andere als leicht. Glaube und Gefühl sind eng miteinander verbunden. Und wer seine Gefühle zeigt, kann leicht verletzt werden. Erst kürzlich 8

hat Mareikes Mutter wieder versucht, sie über das Berliner Missionswerk auszufragen. Ihr ist immer noch nicht klar, welche Vorbehalte in den Fragen mitschwangen. Aber der kritische Unterton war allzu deutlich. Dabei sind Mareikes Eltern alles andere als unreligiös. Ganz im Gegenteil, sie gehen regelmäßig in den Gottesdienst. „Kirche auf dem Berg“ heißt die Glaubensgemeinschaft. Der Gottesdienstraum liegt direkt an der Stadtautobahn im Süden von Berlin. Wie viele Gespräche hat sie mit ihren Eltern über diese Freikirche geführt. Aber das ist ein anderes Thema.

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2. Kapitel Dann ist es wieder Montag. Das Seminar ist beendet und Mareike nimmt die letzte Stufe beinahe im Flug. Es ist eine steile Steintreppe, die in das rote Backsteingebäude hinein- und aus ihm herausführt. Die letzte große Stufe bringt sie nicht aus dem Gleichgewicht. Alles fühlt sich so leicht an, wenn ein Treffen mit einem unbekannten, aber sympathischen jungen Mann ansteht. Ja, Jossi heißt er. Sie musste in der letzten Woche oft an ihn denken. Was ist nur los mit mir?, fragt sie sich immer wieder. Mit schnellen Schritten biegt sie in die Friedensstraße am Friedrichshain ein. Die Tramstation ist nicht weit. Die Straßenbahn bringt sie zum Hackeschen Markt. Ihre langen hellbraunen Haare bewegen sich im Takt ihrer Schritte. An diesem Tag trägt Mareike sie offen. Das ist zwar nicht so bequem, aber sie weiß, wie gut ihr offene Haare stehen. Das kleine Café wartet auf sie und hoffentlich auch Jossi. Der Gedanke an Jossi löst bei Mareike ein Kribbeln aus, das ihr unheimlich ist. Warum eigentlich? Diese Frage will sie sich nicht beantworten. Was will ich eigentlich mit ihm besprechen?, überlegt sie, als die Tram zum Einsteigen hält. Sie ist wie immer um diese Zeit voll besetzt. Mareike findet am Fahrscheinautomaten einen Sitzplatz. Ihre Gedanken kreisen um die Begegnung mit Jossi. Vielleicht wird er gar nicht kommen. Wer weiß, ob das Gesprächsangebot ernst gemeint war. Es könnte ja auch etwas dazwischen gekommen sein. Der Gedanke, dass sie wartend im Café sitzen könnte, bewirkt ein Druckgefühl in ihrem Magen. Mareike wundert sich, wie wichtig ihr das Treffen ist. Aber was sie mit ihm besprechen will, ist ihr immer noch nicht klar. Mareike nähert sich mit schnellen Schritten dem Café. Sie blickt durch das breite Ladenfenster und sieht Jossi. „Das gibt 10

es doch nicht!“ Er sitzt auf ihrem Lieblingsplatz. Ein bequemer Zweisitzer im hinteren Raum mit Fensternähe. Mareike mag das Café mit dem Charme eines Salons aus alten Zeiten. Die Einrichtung erinnert sie an die alten Möbel ihrer Großeltern. Bei ihnen war die Zeit stehen geblieben. Das Vergangene war lebendig, als gäbe es keine Gegenwart. Ein Gefühl der Geborgenheit verbindet sie noch heute mit den Großeltern. Leider wurde die Wohnung aufgelöst, die Möbel bis auf wenige Erinnerungsstücke verkauft. Die Großeltern leben jetzt in einer „Seniorenresidenz“, wie es so schön heißt. Jossi hat sie schnell entdeckt. Er zeigt ein strahlendes Lächeln. Mareike lächelt gelöst zurück. Jetzt trennt sie nur noch eine Fensterscheibe. Sie versucht, sein Lächeln zu deuten. Hat er damit gerechnet, dass sie kommen würde? Steht in seinem Gesicht die Freude des Wiedersehens geschrieben? Jossi steht auf, geht auf Mareike zu, umarmt sie und drückt sie leicht an sich. Mareike kommt es vor, als würde er sie wie einen alten Freund begrüßen. Aber sein prüfender, erwartungsvoller Blick zeigt mehr. Ist er in Gedanken auch so oft bei ihr gewesen, wie sie bei ihm? „Schön, dass du gekommen bist“, begrüßt Jossi Mareike. „Ich hatte ja zugesagt, jetzt bin ich hier“, antwortet Mareike. Mehr fällt ihr erst einmal nicht ein, was sie sagen kann. Zum Glück kommt eine freundliche Bedienung und fragt nach den Wünschen der beiden. Nachdem sie die Bestellung aufgegeben haben, ergreift Mareike die Initiative. Sie gibt sich betont locker. „Wie kommt es, dass du über Israel und den Nahen Osten Bescheid weißt?“, fragt sie geradeaus. Von Jossi weiß sie nur, dass er sich mit dem Thema Israel auskennt. Sein gutes, aber nicht akzentfreies Deutsch, die dunkle Tönung seiner Haut, seine schwarzen Haare und die anziehenden Augen weisen auf eine fremdländische Herkunft 11

hin. Ihre anfängliche Unsicherheit ist so gut wie verschwunden. So kennt sie sich. Das direkte, offene Gespräch fällt ihr schon immer leicht. Hinzu kommt die Begegnung mit einem attraktiven Unbekannten. Da ist Spannung im Spiel. Was für ein Tag! „Ich bin in Israel geboren, studiere jüdische Geschichte und Religionswissenschaften in Jerusalem. Jetzt bin ich für ein Semester in Berlin und arbeite an einem Projekt zur jüdischen Geschichte im Unterricht“, antwortet Jossi. „Jüdische Geschichte im Unterricht. Wie oft mussten wir uns mit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus beschäftigen. Im Deutschunterricht, in Geschichte, Politik und Religion wurde das Thema angesprochen. Mich hat das interessiert, aber viele Mitschüler und Mitschülerinnen unterdrückten nur verhalten ein leises Stöhnen, wenn es wieder um dieses Kapitel der deutschen Geschichte ging.“ Jossi zögert mit seiner Antwort. Tausend Gedanken schießen Mareike durch den Kopf. Jossi ist also Jude. Darf ich das so sagen? Jemanden auf seine Religion festzulegen ist problematisch, ich möchte auch nicht als Christin angesprochen werden. Außerdem ist „Jude“ auf vielen Berliner Schulhöfen ein gängiges Schimpfwort. Würden sich Jugendliche als Juden in der Schule outen? Oder haben sie ihre eigenen Schulen? Wer traut sich schon, mit einer Kippa auf der Straße herumzulaufen? Sollte ich statt Jude besser Israeli sagen? Aber ist israelisch gleich jüdisch? Das Judentum versteht sich als Religion und Volksgruppe. Kann aber Volksgruppe mit Nationalität gleichgesetzt werden? Wie war das mit dem jüdischen Staat? „Das kann sogar ich verstehen“, antwortet Jossi zum Erstaunen von Mareike. „Immer ist von dem armen geknechteten, verfolgten Juden die Rede. Das erzeugt moralischen Druck. Wer will sich schon mit Verlierern der Geschichte identifizieren. Das Judentum wird in Schulbüchern zu sehr als eine Geschichte der 12

Verfolgung und Ausgrenzung dargestellt, dabei werden die erfolgreichen Seiten der jüdischen Geschichte oft vergessen.“ Dann beginnt Jossi zu erzählen, als hätte jemand ein Schleusentor geöffnet. Wie angestautes Wasser bricht es aus ihm heraus. Er erzählt von Moses Mendelssohn, dem großen Philosophen, der in Berlin gewirkt hat. Mendelssohn steht im Mittelpunkt seines Unterrichtsprojektes. Jossi verfolgt seine Spuren in Berlin. Mareike ist fasziniert von der Begeisterung, mit der Jossi von seinem Projekt geradezu schwärmt. Wie gebannt schaut sie in ein Gesicht, das beim Sprechen eine Lebendigkeit ausstrahlt, die auch sie umfängt. Die großen dunklen Augen leuchten, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ist es die Liebe zur Geschichte oder der Stolz auf die Leistungen seiner Vorfahren, seines Volkes, die diese Verwandlung bewirkt hatte? Vielleicht ist das nicht zu trennen. Wenn die Rede vom jüdischen Volk nur stimmen würde. Denn es sind ja auch meine Vorfahren. Menschen jüdischen Glaubens, die hier in Europa gelebt und großartiges geleistet haben. Müsste ich nicht auch stolz auf ihre Leistungen sein? Plötzlich unterbricht Jossi seinen Redefluss. „Entschuldige, ich möchte dich nicht langweilen. Aber die Beschäftigung mit unserer Geschichte packt mich immer wieder.“ „Du hast mich nicht gelangweilt,“ antwortet Mareike. „Mich interessiert die Geschichte der Juden in Deutschland. Ich frage mich, ob das nicht auch meine Geschichte ist und ob ich das so sagen darf.“ Jossi schaut sie mit großen Augen an. Sein Blick war schwer zu deuten. Habe ich etwas Falsches gesagt oder findet er mich auch so interessant, wie ich ihn? „Du hast Recht. Es ist auch deine Geschichte. Leider vergessen das viele Menschen hier in Deutschland“, sagt Jossi ein 13

wenig zögerlich. Sein Blick verliert sich im Glas der Fensterscheibe. Sie sehen sich schweigend an. Mareike versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Jossi beschäftigt sich mit jüdischer Geschichte. Er ist also ein Jude. Juden sind beschnitten. Diesen Gedanken wagt sie nicht weiter zu denken. Sie fühlt bereits eine Scham­ röte, die wie ein warmer Luftstrom ihr Gesicht umfasst. Schnell denkt sie an etwas Anderes. Mareike kommt die Stille wie eine Ewigkeit vor, in der sie sich ungewohnt wohlfühlt. Jossi unterbricht die Schau-mir-indie Augen-Minute, indem er das Thema wechselt und Mareike die längst fällige Frage stellt. „Und du interessiert dich für die Christen im Heiligen Land. Warum eigentlich? Glaubst du auch, dass Jesus von Nazareth der Sohn Gottes ist?“ Mareikes Vorahnung trifft ein. Jossi fragt nach dem, was eigentlich nur sie angeht. Auch spricht er vom Heiligen Land. Wie meint er das? Eigentlich würden Juden nie vom Heiligen, eher vom Gelobten Land sprechen. Sie berufen sich dabei auf die Bibel. Was will er damit bezwecken? Was für ein Bild hat er sich von mir gemacht? „Ja, mich beschäftigt die Lage der Christen im Heiligen Land, genauer in Palästina. Dort hat es seit Jahrhunderten arabische Christen gegeben, aber heute werden es von Jahr zu Jahr immer weniger. Und zu deiner sehr persönlichen Frage: Ja, wenn du mich so direkt fragst, glaube ich, das Jesus Christus der Sohn Gottes ist. Aber sind wir nicht alle Söhne und Töchter Gottes?“ Jetzt ist alles gesagt, denkt Mareike. Das hat er davon, wenn er so persönlich fragt. Sie nagelt ihn förmlich mit ihren Augen fest. Jossi reagiert überraschend. Er nimmt ihre Hand, drückt sie vorsichtig, fast zärtlich. 14

„Entschuldige, ich bin dir zu nahe getreten, das wollte ich nicht.“ Mareike bekommt wieder so ein Kribbeln im Bauch. Sie hält seine Hand fest, schaut ihn mit ungläubigen Augen an. Was passiert hier gerade mit mir oder mit uns? Aber auch auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. „Jetzt weißt du, dass ich mich als Christin sehe. Wie ist es mit dir? Die Frage klingt komisch. Bist du also ein Jude?“ „Ich finde die Frage gar nicht komisch? Ist doch ganz normal so zu fragen?“ „Ich weiß nicht. Mir fällt es schwer, so direkt zu fragen. Außerdem habe ich heute im Seminar gelernt, dass in Israel rund 20 Prozent der Bevölkerung einen arabischen Hintergrund haben“, antwortet Mareike schnell. „Ja, es sind weit über 1,5 Millionen. Sie nennen sich selbst eher „palästinensische Staatsbürger Israels“. Aber zu deiner Frage. Ich bin in Israel geboren. Von einer jüdischen Mutter. Also jüdischer kann ein Mensch nicht sein.“ „Unser Seminarleiter hat heute die Worte Israel und Palästina vermieden. Er sprach von dem Heiligen Land, in dem Juden, Muslime und Christen leben. Ich vermute, dass er damit den politischen Streit übergehen und möglichst überparteilich erscheinen wollte.“ „Ich bin mir da nicht sicher. Gerade wer überparteilich wirken möchte, verrät sich durch seine Sprache. Auch die Rede vom Heiligen Land hat eine politische Bedeutung. Für wen ist das Land heilig? Sind damit alle Ansprüche gleichermaßen gerechtfertigt? Begriffe transportieren Bedeutungen mit offenen oder versteckten Werturteilen. Wir Juden sprechen vom gelobten Land. Es ist das Land, das Gott unseren Vätern geschenkt hat.“ Mareike ist überrascht, mit welcher Klarheit Jossi seine Sichtweise formuliert. Während sie sich im Dschungel der Ar15

gumente vorsichtig vortastet, hat Jossi scheinbar immer die richtige Antwort parat. Die Leute vom roten Backsteinhaus sind da vorsichtiger. Auch sie wissen bestimmt um die politische Bedeutung jeder Begrifflichkeit. Wer das nicht weiß, ist politisch naiv. Diesen Eindruck machen die Leute nicht. Mareike hat dennoch das Gefühl, dass sie bemüht waren, ihre Form der Parteilichkeit nicht offen zu zeigen. Die Rede vom Heiligen Land könnte solch ein Hinweis sein.

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3. Kapitel Mareike und Jossi treffen sich seit diesem Montag fast täglich an unterschiedlichen Orten. So wie es passt. Mal ist es der Märchenbrunnen am Friedrichshain, dann wieder ihr Lieblings­café am Hackeschen Markt, oder sie finden freie Liegestühle mit Blick auf die Museumsinsel an der Spree. Immer vertrauter gehen sie miteinander um, spazieren eng nebeneinander gehend, lachen zusammen und reden und reden. Mareike würde nicht sagen, dass sie ein Paar sind. Da fehlt noch etwas. Sie entdeckt bei Jossi ein großes Interesse an ihrer Person. Das ist bei ihr nicht anders. Vielleicht wird daraus noch mehr. Das Kribbeln im Bauch ist geblieben. Der Gedanke an Jossi löst auch heute wieder ein warmes Gefühl aus, wie ein Sonnenstrahl, der kurz durch die Wolken bricht. Mareike hat ihren Eltern von Jossi erzählt. Wie zu erwarten, wurde sie mit Fragen überhäuft. Wer ist Jossi? Wo kommt er her? Was macht er in Berlin? Und dann kamen die Fragen zum Thema Glaube und Religion. Da ist Mareike ausgerastet. Sie spürte in den Fragen eine Ablehnung, die sie zutiefst verletzte. Auch wenn es nicht direkt gesagt wurde, die untergründige Botschaft war allzu deutlich. Von einer Beziehung zu einem jüdischen Mann raten wir dir ab. Wer weiß, ob er es ernst meint. Ein Jude wird immer nur zu einer Jüdin eine Partnerschaft eingehen. Wir sind Christen, und die jüdische Religion ist uns fremd. Wenn ihre Eltern nur Angst gehabt hätten, sie könnten ihre Tochter verlieren, weil sie ins Ausland und dann noch in das Krisenland Israel gehen möchte. Das hätte sie ja noch verstanden. Aber von einer Beziehung abzuraten, weil der Freund Jude ist, das ging einfach zu weit. Am Ende verschlug es selbst Mareike die Sprache. Tränen standen in ihren Augen. 17

Nach dieser Erfahrung steht für Mareike eines unverrückbar fest. So wie ihre Eltern sich als überzeugte Christen geben, möchte sie nicht sein. Eine Glaubenshaltung, die unter Berufung auf den Apostel Paulus das Ideal einer rein christlichen Partnerschaft vertritt, ist für sie antiquiert und absolut nicht tragbar. Wenn es nach ihren Eltern ginge, käme der ideale Schwiegersohn allein aus dem Jugendkreis der Freikirche ihrer Eltern. Auch ein Grund, diese Kirche nicht mehr zu betreten. Das ist jetzt Mareike ein für alle Mal klar. Wie kann man die Bibel nur so eng auslegen. Schon immer hatte sie sich über den Satz „Das steht so in der Bibel“ geärgert. Mit diesem Satz kann jedes Gespräch beendet werden, obwohl es gerade erst begonnen hat. Welcher Satz der Bibel hat Geltung? Gibt es nicht eine Vielzahl sich widersprechender Aussagen? Wie kann ich meinen Nächsten lieben, wenn ich seine Religion zwar nicht verachte, aber nicht als gleichwertig ansehe? Mareike denkt an die Menschen in der Gemeinde, die von sich sagen, dass sie den wahren Glauben für ihr Leben gefunden haben. Aber warum in Abgrenzung zu anderen? Sie erinnert sich an Gottesdienste, in denen die Entscheidung für Jesus Christus in einer Kaskade wiederkehrender Formulierungen auf einen Höhepunkt zulief, bis die Gemeinde in ein verzückendes Hallelujarufen einstimmte. Das hat sie schon beeindruckt. Diese Einheit im Glauben, die Gewissheit einer unumstößlichen Wahrheit; sich dem zu entziehen, ist nicht leicht. Mareike hat sich für einen eigenen Weg in Abgrenzung von den Eltern entschieden. Das ist ihr bewusst geworden, als sie ihr Bewerbungsschreiben für ein freiwilliges Jahr formulierte. Mareike hatte an dem Info-Tag über das Freiwilligenprogramm des Berliner Missionswerkes teilgenommen. Danach entschied sie für sich, dass sie in das Programm aufgenommen werden möchte. Sie hatte sich den Bewerbungsbogen heruntergeladen 18

und ausgefüllt. Keine einfache Sache. Neben allgemeinen Fragen musste sie auch die Frage nach ihren Beweggründen, sich beim Freiwilligenprogramm zu bewerben, beantworten. Nur zu schreiben, ich interessiere mich für Menschen in fernen Ländern und möchte ihnen helfen, war zu banal. Worum geht es mir eigentlich? Suche ich den Abstand zu meinen Eltern? Möchte ich mich neu erfinden? Geht es mehr um mein eigenes Erleben, meine eigene Entwicklung, gar nicht so sehr um die Hilfe für andere? Schließen sich Selbstfindung und praktizierte Nächstenliebe gegenseitig aus? Sie versuchte, diese Fragen ehrlich zu beantworten. Beim Schreiben wurde ihr deutlich, dass die Frage nach ihrer Motivation mit ihrem persönlichen Glauben eng verbunden ist. Ja, sie ist auf der Suche nach dem, was ihrem Leben Halt und Orientierung gibt. Ja, sie reizt das Abenteuer in der Fremde, ohne zu wissen, was da kommen wird. Ja, sie möchte ihre Persönlichkeit weiterentwickeln, sich von ihren Eltern lösen, der Enge einer Mischung aus Behütetsein und einer Vielzahl unausgesprochener Zwänge entfliehen. Wie oft muss sie hören: Kommst du mit zum Gottesdienst? Warum gehst du nicht mehr in den Jugendkreis? Bedeutet dir der christliche Glauben so wenig? Mit wem triffst du dich wieder? Musst du dich so körperbetont kleiden? Eine Litanei von unendlichen Fragen! Natürlich alles nur gut gemeint. Eltern machen sich immer viel zu viele Sorgen. Nach dem Motto: Was wird aus meinem Kind? Es ist aber nicht „ihr“ Kind. Kinder müssen ihr eigenes Leben leben. Warum verstehen Eltern das nicht? Irgendwann hatte sie es geschafft und den Bewerbungsbogen abgeschickt. Mareike war zufrieden mit sich. Ihre Antworten auf die gestellten Fragen waren ehrlich, sie hatte das aufgeschrieben, was ihr durch den Kopf ging, wie sie sich selbst versteht. Die Damen und Herren vom Missionswerk sollten sich 19

kein falsches Bild von ihr machen. Sie deutete auch an, dass sie auf der Suche nach einem eigenen Glauben in Abgrenzung zu ihren Eltern wäre. Würde sie mit dieser Bewerbung eine Chance haben? Wenige Tage später wurde sie zu dem Seminar in das rote Backsteinhaus eingeladen. Dann folgte die Begegnung mit Jossi. Heute hat Mareike ein weiteres Schreiben erhalten. Sie ist als Volontärin angenommen worden. Das Berliner Missionswerk bietet ihr für ein Jahr ein Volontariat in einer Schule in Palästina an. Wie wird Jossi reagieren?, fragt sie sich auf dem Weg zu ihrem Treffpunkt am Märchenbrunnen. Mareike kann es kaum erwarten, Jossi die Neuigkeit zu sagen. Sie sieht ihn von weitem, sitzend auf ihrer Bank. Ihre Augen treffen sich, mit ausgebreiteten Armen gehen sie aufeinander zu. Eng umschlungen setzen sie sich auf ihre Bank. Nach einer liebevollen Begrüßung kann Mareike endlich ihre Neuigkeit verkünden. „Jetzt steht es fest. Ich werde als Volontärin in einer Schule arbeiten. Talitha Kumi ist ihr Name.“ Mareikes Augen strahlen vor Glück. „Talitha Kumi? Ich habe den Namen noch nie gehört. Wo liegt diese Schule?“ „Talitha Kumi ist eine Schule in evangelischer Trägerschaft. Sie liegt in der Nähe von Bethlehem in Palästina.“ „Warum willst du die Palästinenser unterstützen, die unseren jüdischen Staat vernichten wollen?“

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4. Kapitel Irgendwann musste es zum Streit kommen. Diese Vorahnung hatte Jossi schon seit einiger Zeit. Aber wann und wo? Warum so plötzlich und gerade jetzt? Sie haben sich geküsst, Lippen haben sich gefunden, Zungenspitzen fanden ihren Weg. Der Duft von Mareike, der weiche Körper, die zarten Konturen ihres Gesichts, Hände, die sich anschmiegen, nicht loslassen können. Und jetzt? Habe ich alles zerstört?, fragt er sich. Ich konnte einfach nicht anders. Es ist aus mir herausgeplatzt. Was weiß auch Mareike von mir. Sie kennt mein Lachen, die Freude an kleinen Dingen, die Liebe zum Leben. Wir können wunderbar die Überraschungen des Alltags miteinander teilen. Das ist das Gesicht, das ich ihr zeige. Mein anderes Gesicht kennt sie nicht. Ich erzähle nur von meinen schönen Träumen. Dass ich nachts schweißgebadet aufwache, von Albträumen verfolgt, davon weiß sie nichts. Immer die Abfolge gleicher Bilder. Das Maschinengewehr in der Hand, der Mann mit dem Messer, Blitze in der Dunkelheit, Schreie, tödliche Stille. Eine Endlosschleife. Jossi hatte Mareike erzählt, dass in Israel jeder Jugendliche nach der Schule für drei Jahre zum Militärdienst eingezogen wird. Auch die jungen Frauen, mindestens zwei Jahre. Die Armee spielt in Israel eine große Rolle. Sie ist die eigentliche Schule des Staates. Eine Reifeprüfung für jeden jungen Israeli. Jossi ist stolz auf diese Armee. Er weiß, dass nur aufgrund ihrer Stärke der Staat Israel noch existiert. Die Gründung des Staates liegt 70 Jahre zurück. „Kraft des natürlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes und aufgrund des Beschlusses der UN-Vollversammlung“, so heißt es in der Unabhängigkeitserklärung vom 21

Mai 1948. Die überwiegende Mehrheit der Völkergemeinschaft hat diesen Staat anerkannt, aber nicht die Führer der arabischen Nachbarn. Sie wollten die Juden „zurück ins Meer jagen“. Das ist ihnen nicht gelungen. Aus dem kleinen Israel ist ein starker, siegesgewisser Staat geworden. Aber ein Staat ohne Frieden. In fast 70 Jahren kein Tag mit wirklichem Frieden. Das kann kein Außenstehender wirklich begreifen. Jossi ist wie jedes Kind in Israel mit dem Gründungsmythos des Staates, den unglaublichen Erfolgen der Armee und den Erzählungen von Pionieren, die das Land in einen blühenden Garten verwandelt haben, groß geworden. Bereits im Kindergarten werden mit Liedern die großen Taten der Väter und Mütter besungen, der jüdische Festkalender erinnert an die Geschicke des von Gott auserwählten Volkes. Jossi hat das Gefühl, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein; dieses Gefühl begleitet ihn seit Kindheitstagen. Wir müssen zusammenhalten, nur so können wir gegen die Übermacht der Feinde bestehen. Wie oft hatte ihm seine Mutter die Geschichte vom kleinen David und dem Riesen Goliath erzählt. Der kleine Hirtenjunge, der, mit einer Steinschleuder bewaffnet, dem riesigen und schwerbewaffneten Philister entgegentritt. Er wird ausgelacht, verhöhnt. Der Krieger ist sich seines Sieges sicher. Doch Mut und Klugheit siegen. Der Stein trifft den Herausforderer mitten auf der Stirn. Er fällt, sein eigenes Schwert bringt ihm den Tod. Gott war auf der Seite des kleinen Hirtenjungen. Keine Geschichte hat Jossi begleitet wie diese. Auch heute noch müssen sich die Juden wie David gegen einen übermächtigen Gegner zur Wehr setzen. Der grenzenlose Mut, die unbedingte Entschlossenheit und der absolute Wille zum Überleben haben dem jungen Staat seine Existenz gerettet. „Juden müssen sich selber zu helfen wissen, sie dürfen auf die Hilfe von außen nicht angewiesen sein“, mit dieser Maxime ist Jossi aufgewachsen. Stärke kommt 22

aus innerer Gewissheit und Verbundenheit. Gott hat uns dieses Land vor Jahrhunderten versprochen, jetzt gehört es uns wieder, unwiderruflich. Kann das jemand verstehen, der nicht dazu gehört, der nicht Teil dieser Schicksalsgemeinschaft ist? Habe ich sie verloren? Warum konnte ich mich nicht zurückhalten? Was bedeutet sie mir? Um diese Fragen dreht sich alles in meinem Kopf wie ein Kreisel in der Hand eines Kindes. Mareike bedeutet mir viel. In Gedanken bin ich oft bei ihr. Wenn wir zusammen sind, bin ich zurückhaltend, zeige wenig von meinen Gefühlen. Dennoch sehne ich mich nach ihr. Der Gedanke, dass ich sie verlieren könnte, ist unerträglich. In meinen Tagträumen begegnen wir uns. Ich spüre die weichen Rundungen ihres Körpers. Die Spuren ihres Geruchs nach Frische und Leben begleiten mich. In meinen Träumen kann ich mich fallen lassen, versinke in ein Meer von Liebe und Lust. Mit dem Erwachen kommt das Schwere, kommen die Fragen. Alles Leichte verschwindet wie der Nebel am Morgen. Warum kann ich nicht ehrlicher und offener sein? Liebt mich Mareike so, wie ich sie liebe? Habe ich das Recht, von Liebe zu sprechen? Sie kennt mich nicht. Müssen Liebende sich kennen, alles voneinander wissen? Wir sind so verschieden. Uns trennen nicht nur Glaube und Nationalität. Mareike ist in ihrem Wesen ganz anders als ich. Ihre Unbefangenheit, mit der sie alles in Frage stellen kann. Ihre Leichtigkeit, mit der sie schwere Fragen einfach nicht beantwortet. Gleichzeitig eine Ernsthaftigkeit, die sich vom Negativen nicht bestimmen lässt. Bei ihr und mit ihr scheint alles möglich zu sein. Das Leben ist voller Überraschungen, wir müssen sie nur suchen. Kann es etwas anderes geben? Ich schaue in ihre Augen und bin überwältigt. Dieser Blick voller Vertrauen und Zuversicht lässt mich nicht los. Ich suche ihre Nähe. Sie hat das, was mir fehlt. Ich möchte leben können wie sie, ohne diese Albträume. Einfach leben ohne Erinnerungen, einfach leben ohne die Last der Geschichte, einfach leben ohne die Begegnung mit dem Tod. Mein Leben ist so anders. Ich bin fast so jung wie sie und doch 23

schon so alt. Wer dem Tod begegnet ist, kehrt als ein anderer zurück. Alles Leichte hat einen Riss bekommen. Die Nacht wird doppelt schwer, der Tag hat ein Janusgesicht. Zwei Gesichter, ein helles und ein dunkles. Jossi weiß, dass der Armeedienst ihn verändert hat. Es gibt ein kurzes Leben vor und ein langes Leben – so Gott will – nach der Armee, pflegte sein Vater immer zu sagen. Es ist eine Sache, die Bedeutung der Armee zu kennen, eine andere, ein Teil von ihr zu sein. Die Grundausbildung würde hart werden, auch das wusste Jossi. Er kennt die heroischen Erzählungen von Gewaltmärschen in der Wüste mit der Ausrüstung einer kämpfenden Truppe. Aber keine Erzählung kann die eigene Erfahrung vorwegnehmen. Sie sind gelaufen, stundenlang, scheinbar ziellos. Trotz totaler Erschöpfung kein Halt, weiterlaufen war die Devise. Dass dies möglich ist und immer die Bahre mit den möglichen Verletzten zusätzlich tragend, ist eine Erfahrung, die tiefe Spuren, nicht selten auch Narben hinterlässt. Alles ist machbar, man muss es nur wollen. Sie haben es geschafft und gemeinsam durchlitten. Erst Gemeinsamkeit entfacht Stärke. Der Kamerad darf nie im Stich gelassen werden. Auch in schwierigsten Situationen müssen nicht nur Verletzte, sondern auch Tote geborgen werden. Dem Feind darf niemand in die Hände fallen; die Ehre des Soldaten ist auch im Tode heilig. Drei Jahre sind eine lange Zeit. Nach der Grundausbildung kamen die Einsätze und später die Albträume. Es war ein Tag wie jeder andere. Sie kontrollierten den Checkpoint am Übergang zum Westjordanland. Es gab in den letzten Wochen vermehrt Übergriffe, Attentate. Sie kannten die Berichte und die Hinweise des verantwortlichen Kommandeurs. Seid auf alles gefasst. Jeder Palästinenser ist ein potentieller Mörder. Das MG muss in Sekundenschnelle schussbereit sein. Wer zögert, verliert sein Leben. So die Theorie. Dann ist 24

es passiert. Ein Mann rennt auf sie zu. Das Messer in der Hand. Jossi steht in vorderster Front. Er hätte schießen müssen. Das hat für ihn ein Freund getan. Jossi hat dem Tod in die Augen geblickt. Das Messer sollte ihn töten. Stattdessen hat der für ihn rettende Schuss den Angreifer getötet. Dessen Tod hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Jossi würde so gerne vergessen. Hat der Armeedienst aus dem unbefangenen Jungen einen Mann gemacht? Was für ein aberwitziger Gedanke. Der Dienst in der Armee hat den Traum ewiger Jugend abrupt beendet. Jossi hat mehr erlebt, als es seinem jungen Leben gut tat. Das weiß er. Das unterscheidet ihn von Mareike. Kann sie das jemals verstehen oder auch nur versuchen, es nachzuempfinden?

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5. Kapitel Für Mareike war die Auseinandersetzung am Märchenbrunnen wie ein Schlag ins Gesicht. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie kennt Auseinandersetzungen, ihre Schlagfertigkeit hat ihr oft geholfen. Aber am Märchenbrunnen war alles anders. Plötzlich lag ein Fremder in ihren Armen. Dieses Gesicht kannte sie nicht. Ihr fehlten die Worte, es hatte sie getroffen. Bis sie wieder miteinander sprechen konnten, hatte es Tage gedauert. Eine lange, viel zu lange, schreckliche Zeit. Jossi hat sich entschuldigt. Das hat ihr gut getan. Aber ist er nicht nur einen Moment, eine Sekunde zu ehrlich gewesen? Dieser Gedanke kommt ihr immer wieder. Jossi ist ihr auf bisher noch nie erlebte Weise nahe. Ihr Herz hat sich für ihn geöffnet. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Kann ein und dieselbe Person unendliche Nähe und zugleich unendliche Ferne verkörpern? Diese Frage stellt sich Mareike immer wieder. Was muss ich über Jossi, sein Leben, sein Land wissen, um ihn besser zu verstehen? Jossi ist Jude. Das weiß Mareike. Aber der Gedanke, dass auch die Religion sie trennen könnte, hat sie bisher nicht zugelassen. Sie nimmt sich vor, sich noch mehr als bisher mit Israel zu beschäftigen. Auch muss sie sich unbedingt mit der jüdischen Religion auseinandersetzen. Was trennt Juden und Christen? Wie praktizieren Juden ihren Glauben? In der Schule kommt das Thema Palästina / Israel nur am Rande vor. Nahost ist ein Konfliktthema. Mit dieser Perspektive wurde es im Unterricht behandelt. Eine abstrakte Perspektive. Krieg und Gewalt in unterschiedlichen Formen ist ein Kennzeichen der Region. Eigentlich sollte jeder die wichtigen Eckdaten der Geschichte Israels kennen. Nach dem Versuch der Vernichtung des europäischen Judentums durch Hitler-Deutschland 26

war die Gründung eines jüdischen Staates unausweichlich. Die arabischen Staaten haben die Entscheidung des Völkerbundes nicht akzeptiert, mit der Folge, dass die Gründungsgeschichte des jüdischen Staates als Kriegsgeschichte beginnt und bis heute fortgeschrieben werden muss: Unabhängigkeitskrieg (1947/48), Suez-Krieg (1956), Sechs-Tage-Krieg (1967), Jom Kippur-Krieg (1973), Libanonkrieg (1982), 1. Intifada (1987), 2. Intifada (2000), Gaza-Krieg (2014). Amerika ist auf Seiten Israels, die arabischen Länder unterstützen die Palästinenser in ihrem Bestreben nach einem eigenen Staat. Der Gazastreifen ist ein abgeriegeltes Gebiet für rund 1,8 Millionen Palästinenser. In der sogenannten Westbank einschließlich von Ostjerusalem leben neben rund 2,9 Millionen Palästinensern fast 700.000 jüdische Staatsbürger in geschlossenen Siedlungen. Diese Siedlungen sind auf das heftigste umstritten und Anlass für internationale Proteste. Im Religionsunterricht ist das Judentum natürlich Thema. Die christliche Ablehnung der jüdischen Religion prägt die Geschichte des Christentums. Auch die Evangelischen sind Teil dieser Unheilsgeschichte von Luther bis zu den Deutschen Christen in der Zeit des Nationalsozialismus. Angesichts dieser Geschichte hat Mareike ein Gefühl der Scham, wenn sie Jossi stärker als Juden und weniger als ihren Liebhaber in den Blick nimmt. Kann Jossi ihr in die Augen sehen, ohne an diese Geschichte der Verfolgung und der Ablehnung zu denken? Oder verdrängt er das Thema Religion, wenn sie sich begegnen? Sie trägt keine Schuld an dieser Geschichte, das ist klar. Aber die deutsche Geschichte ist nun mal ihre Geschichte. Mit dieser Geschichte muss auch sie leben, da hilft kein Verdrängen. Mareikes Eltern wissen, dass ihre Tochter einen jüdischen Freund hat. Auch haben sie sich mit der Tatsache arrangiert, dass Mareike in wenigen Monaten nach Talitha Kumi aufbre27

chen wird. Ihre Tochter hat sich verändert. Eine schwer bestimmbare Mischung aus Träumerei und Ernsthaftigkeit. Sie lebt immer mehr in einer Welt, zu der die Eltern keinen Zugang haben. Das wird ihnen schmerzlich bewusst. Grundsatzdiskussionen gehen beide Seiten aus dem Weg. Dabei gäbe es so viel zu besprechen. Jetzt wäre noch Zeit und Gelegenheit. Der Gedanke an ihre Abreise, das verlassene Kinderzimmer, die fehlende helle Stimme und ihr Lachen im Familienkreis – auch Eltern können weinen. Mareike spürt die leichte Traurigkeit im Verhältnis zu ihren Eltern, auch wenn sie nicht offen gezeigt wird. Sie ist stolz, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird. Eltern können und dürfen ihre Kinder nicht festhalten. Dennoch fällt auch ihr die bevorstehende Trennung nicht leicht. Die Sicherheit, der Schutz und die Zuwendung der Eltern werden ihr fehlen. Dieses Gefühl hat sie jetzt schon. Eine Bitte kann sie ihren Eltern nicht abschlagen. Sie wollen unbedingt Jossi kennenlernen. Mareike war erst dagegen. Was würde Jossi von ihr denken nach einem Besuch bei den Eltern? Da kann so viel schiefgehen. Wenn sie an die vielen Fragen, die Eltern so stellen, denkt, wird ihr ganz anders. Die Themen Politik und Religion lassen sich mit Sicherheit nicht vermeiden. Der Gedanke, was alles kommen könnte, löst bei Mareike ein Gefühl aus, als würde ihr Eiswasser und heißes Öl gleichzeitig über den Rücken laufen. Aber es könnte ja auch anders kommen. Die Eltern lernen Jossi kennen und verstehen, warum Mareike sich in ihn verliebt hat. Mareike weiß, dass ihre Eltern sie lieben und dass sie alles tun würden, damit ihre Tochter glücklich ist. Die Frage ist nur, ob ein gemeinsames Verständnis von Glück überhaupt möglich ist. Sie hat sich von den Eltern entfernt, will ihren eigenen Weg finden. Dazu gehört auch Jossi. Mit ihm hat etwas Neues begonnen, auch wenn nicht klar ist, wohin das 28

führen wird. Das Leben ist so schrecklich spannend. Dieser Gedanke kommt ihr immer wieder. Mareike hat das Gefühl, dass sie in den wenigen Wochen, seit sie mit der Schule fertig ist, so viel erlebt hat wie nie zuvor. Die Seminare im Berliner Missionswerk, die Begegnungen mit Jossi, auch die Eltern verhalten sich ihr gegenüber irgendwie anders. Das Volontariat in Talitha Kumi rückt immer näher. Mit Jossi hat sie über den Wunsch ihrer Eltern, ihn kennenzulernen, gesprochen. Seine Antwort ist kurz und klar: „Das kann ich verstehen. Meine Eltern würden dich auch gerne kennenlernen.“ So ist das also, denkt Mareike. Jossi spricht mit seinen Eltern über mich. Davon hat er mir gar nichts erzählt. Mit dieser Antwort kann sie gut leben. Das Treffen mit ihren Eltern wird plötzlich leichter. Am nächsten Sonntag ist es soweit. Mareike und Jossi treffen sich wie gewohnt in ihrem Lieblingscafé. Mareike will erst Jossi für sich alleine haben, bevor sie ihn mit den Eltern teilen muss. Sie ist angespannt. Der Vorstellungsbesuch strengt sie an. Jossi gibt sich locker wie immer, scherzt über Mareikes Nervosität, findet das alles gar nicht so schlimm. Mareike überlegt, wie sie Jossi auf ihre Eltern vorbereiten sollte. Er soll einen guten Eindruck von ihnen bekommen. Das ist ihr wichtig. Doch dann erzählt sie lieber von ihren Großeltern. Erinnerungen an die Altbauwohnung und die gemütliche Einrichtung werden wach. Jossi hört aufmerksam zu, stellt Fragen. Familie ist ihm wichtig. Auch das mag Mareike an ihm. Dann fahren sie zu ihren Eltern. Das Treffen verläuft entspannter als erwartet. Mareikes Eltern halten sich mit Fragen zurück. Jossi erzählt von seinem Projekt in Berlin. Er versteht es, immer wieder mit Mareikes Mutter ins Gespräch zu kommen. Mareike merkt, wie ihre Mutter Jossi immer offener begegnet. Sie findet ihn sympathisch. 29

Damit hat Jossi gewonnen. Mareike hat das Gefühl, als hätte sie den wichtigsten Sieg ihres Lebens errungen. Ihr Vater ist schwieriger, aber so ist er. Er gibt sich distanziert, als müsse Jossi eine Prüfung ohne Prüfungsordnung ablegen. Es dauert nicht lange, dann kommt die Frage, die Mareike erwartet hat. „Wird es jemals Frieden im Nahen Osten geben?“ Jossis Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Es liegt nicht an uns. Aber solange die Palästinenser unseren jüdischen Staat bekämpfen, werden wir uns verteidigen, mit allen Mitteln. Die Geschichte hat gezeigt, ohne einen eigenen Staat sind wir schutzlos und der Willkür anderer Menschen ausgeliefert.“

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6. Kapitel Die Abfertigungshalle C im Flughafen Schönefeld ist ein einfacher Flachbau. Für eine Hauptstadt ist dieser Flughafen wirklich kein Aushängeschild. Das Gebäude erinnert eher an eine einfache und provisorisch hingestellte Fabrikhalle als an einen Hauptstadtflughafen. Berlin sollte längst einen neuen Flughafen haben. Stattdessen kämpft die Stadt mit einer traurigen Geschichte von Fehlplanungen, inkompetenten Managern und Politikern. Viele sprechen von einem Milliardengrab. Unklar ist, wie viele Firmen sich mit Geldern der Steuerzahler bereichern konnten. Mareike steht mit ihrem großen Koffer vor dem Schalter der israelischen Fluggesellschaft El Al Up. Jossi und ihre Eltern haben sie gemeinsam verabschiedet. Bevor sie den Koffer aufgeben kann, muss sie erst die Befragung durch eine junge Mitarbeiterin des israelischen Sicherheitspersonals bestehen. Mareike weiß, was auf sie zukommen wird. Im letzten Vorbereitungsseminar hatten sie das Gespräch als Rollenspiel vorweggenommen. „Wer hat diesen Koffer gepackt? Hatten Sie ihn immer im Auge? Hat jemand Sie gebeten, etwas mitzunehmen?“ Das waren die einfachen Fragen. Was dann folgt, wird komplizierter. Mareike wird ein vorläufiges Visum vorlegen, das sie als Volontärin der evangelisch-lutherischen Kirche in Jerusalem zur Einreise nach Israel berechtigt. Das Berliner Missionswerk geht davon aus, dass die israelischen Behörden wissen, dass die Volontäre sowohl in Jerusalem als auch in der Westbank arbeiten werden. Allerdings wird der zweite Bestimmungsort mehr oder weniger elegant verschwiegen. Und so kommt es. Die ersten Fragen werden von der Mitarbeiterin mit einem freundlichen Lächeln gestellt. Mareike ant31

wortet entspannt. Sie muss an Jossi denken und gleich wird ihr die junge Frau noch sympathischer. Sind alle Menschen in Israel so entspannt freundlich? „Warum reisen Sie als Volontärin nach Jerusalem? Welche Aufgaben erwarten Sie? Wie werden Sie ihre Zeit dort verbringen? Wissen Sie, was Sie in Jerusalem erwarten wird? Sind Sie sich über die Sicherheitslage im Klaren?“ Mit der letzten Frage hat Mareike nicht gerechnet. Dass sie Ziel und Zweck ihrer Reise erklären muss, war klar. Der wenig versteckte Hinweis auf eine mögliche Gefährdung ihres Lebens wirkt verunsichernd. Ist nicht der Staat Israel für ihre Sicherheit verantwortlich? Oder geht es nur darum, sie einzuschüchtern? Mareike lässt sich nichts anmerken. Sie will die Bildungs­ arbeit der evangelischen Kirche unterstützen. So lautet die abgesprochene Redewendung. „In welcher Schule werden Sie tätig sein?“, wird sie gefragt. „Talitha Kumi“, ist ihre Antwort. „Wo genau liegt diese Schule?“ „In Jerusalem“, antwortet Mareike. Hoffentlich merkt die junge Frau mein kurzes Zögern nicht, denkt Mareike. Sie weiß, dass diese Antwort nur halbrichtig ist. Talitha Kumi liegt in der Nähe von Jerusalem, nicht in Jerusalem. Aber Westbank ist bei Befragungen von Mitarbeitern des israelischen Sicherheitspersonals ein Tabuwort. Das wurde ihr im Vorbereitungsseminar eindrücklich nahegelegt. Aber dass selbst Vertreter eines christlichen Missionswerkes für Halbwahrheiten einstehen, hat sie schon verwundert. Warum können wir nicht offen darüber sprechen, was wir tun? Es geht schließlich um eine gute Sache. Diese Frage wurmt sie schon. „Welche Kinder besuchen diese Schule?“ Die junge Israelin holt Mareike zurück in das Spiel von Frage und Antwort. 32

„Es sind Kinder aus christlich-arabischen und muslimischarabischen Familien. Die Schule will ein Zeichen für Verständigung und Frieden setzen.“ Mareike ist mit sich zufrieden. Mit dieser Antwort hat sie jenseits von taktisch-politischen Rücksichten ausgesprochen, was ihr wichtig ist und der Wahrheit entspricht. Sie hat lediglich statt von palästinensischen von arabischen Familien gesprochen. Aber muss sie den Unterschied kennen? Nun ist sie auf die Reaktion gespannt. Die junge Frau mit dem freundlichen Gesicht zögert sichtlich mit der Antwort. Sie wirft noch einmal einen Blick in den Reisepass, schaut auf das Foto, vergleicht es mit Mareikes Gesicht und sieht sie mit einem entwaffnenden Blick an. „Schalom, Friede. Ja, wenn er doch käme. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit in Israel.“ Mareike nimmt ihren Pass, gibt den Koffer auf und bekommt das Flugticket. Der Blick der jungen Frau begleitet sie. Er hat etwas Sehnsuchtsvolles, mit einer Spur tiefer Traurigkeit vermischt. Was will die Frau mir mitgeben? Worauf bezieht sich dieser intensive, aber schwer zu deutende Blick? Der Hinweis auf die Sicherheitslage kann als Warnung gemeint sein. Plötzlich kommt ein leiser Zweifel auf, den sie bisher immer strikt zur Seite geschoben hatte. Fragen verknoten sich in ihrem Kopf. Worauf habe ich mich eingelassen? Haben alle diejenigen Recht, die mich vor einem Volontariat in einem zerstrittenen Land gewarnt haben? Bin ich zu naiv oder gar zu selbstsüchtig auf der Suche nach Abenteuer? Kann ich fremden Menschen wirklich helfen? In den Wochen vor ihrem Abflug hat sich Mareike intensiv mit der aktuellen Lage in Israel beschäftigt. Talitha Kumi ist ein Schulzentrum in der Nähe von Bethlehem mit einer langen Geschichte. Ursprünglich gegründet als eine Schule für christli33

che arabische Mädchen. Heute besuchen die Schule rund 1000 christliche und muslimische Jungen und Mädchen aus der Umgebung von Bethlehem. Alle kommen aus palästinensischen Familien. Seit einigen Jahren hat die Schule den Status einer deutschen Auslandsschule. Schülerinnen und Schüler können neben dem palästinensischen auch das deutsche Abitur erwerben. Die deutsche Sprache hat daher in der Schule einen wichtigen Platz. Die Schule liegt auf der sogenannten Westbank. Also auf einem von Israel besetzten Gebiet. Was das konkret bedeutet, ist Mareike alles andere als klar. Sie hat gelesen, dass das Gebiet westlich des Jordans – daher der englische Name Westbank – im Sechs-Tage-Krieg von Israel erobert worden war. Seitdem steht das Westjordanland unter israelischer Militärverwaltung. Die Anzahl der Friedenskonferenzen sind kaum zu zählen. Sie führten als Minimallösung zu einer eingeschränkten Selbstverwaltung der Palästinenser. Die Palästinenser sind mit dieser Lösung wenig einverstanden. Palästinensische Proteste in unterschiedlichen Formen bis hin zu Selbstmordattentaten kennzeichnen die aktuelle Lage. Eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist nicht in Sicht. Mareike weiß, dass die Palästinenser einen eigenen Staat haben wollen. Aber wie der aussehen und in welchen Grenzen er sich ausdehnen soll, ist ihr ein Rätsel. „Das Land ist zu klein für zwei selbständige Staaten. Wenn du es mit eigenen Augen gesehen hast, wirst du verstehen, was ich meine.“ Mit dieser Antwort hat Jossi die Frage eines eigenen Staates für die Palästinenser entschieden verneint. Aus seiner Sicht gibt es in dieser Frage keine Diskussion. Das war Mareike schnell klar. Natürlich hat sie einen Blick auf die Landkarte geworfen. In der Tat: Zwei Völker streiten sich um ein kleines Stück Land: Israel ist ohne die besetzte Westbank gerade mal so groß wie das 34

Bundesland Hessen. Aber ist Jossis Argument korrekt? Haben die Palästinenser nicht auch ein Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf einen eigenen Staat? Bei aller Liebe zu Jossi. Diese Forderung steht im Raum und kann nicht einfach weggewischt werden. „Ich werde mir das vor Ort ansehen. Dann reden wir weiter.“ So endete das Gespräch mit Jossi. In wenigen Flugstunden wird sie auf dem Flughafen Ben Gurion landen. Was wird sie erwarten?

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7. Kapitel Wie an jedem Morgen rollt Farid seine Schlafmatte zusammen und stellt sie in die Ecke des Zimmers. Das Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilt, wirkt morgens noch kleiner und enger. Die beiden Schlafmatten bedecken den Boden fast vollständig, daher werden sie jeden Morgen und Abend weggeräumt bzw. ausgerollt. Farid wirft einen prüfenden Blick auf seinen Bruder. Sein Atem geht regelmäßig. Der Tag hat für ihn noch nicht begonnen. Im Gegensatz zu seinem Bruder ist Farid ein Frühaufsteher. Noch bevor sich der neue Tag zeigt, hält ihn nichts mehr auf. Für Farid sind die ersten Momente des Morgens ein fortwährendes Geschenk. Das zarte Licht, eine erste Andeutung von Sonnenstrahlen, lokalisierbare Geräusche, die sich mit der Ruhe und Stille des Morgens brechen. Solange sein Bruder und die Schwestern noch schlafen, gehört der Morgen ihm. Er sitzt auf der kleinen Terrasse des Hauses. Von hier aus hat er einen weiten Blick zu den Hügeln und Tälern der Umgebung. Es ist eine karge Landschaft, die sich hügelig und mit Wadis durchzogen seinen Augen zeigt. Die Abhänge sind terrassiert und mit Olivenbäumen bepflanzt. Olivenbäume und Felsensteine bilden ein Panorama wie in einer jahrhundertelangen Erzählung, schlicht und einfach, aber untrennbar miteinander verbunden. Sein Blick fällt auf einen Hügel, der sich von der Landschaft deutlich abhebt. Die Häuser sind klar geordnet, wie auf einem Reißbrett gezeichnet, die roten Spitzdächer schimmern in der Ferne. Eine der vielen Siedlungen, die von jüdischen Siedlern mit Unterstützung der israelischen Regierung auf palästinensischem Boden gebaut wurden. Sie wirken wie langgestreckte Trutzburgen, gesichert durch Mauern und Zäune mit Stachel36

draht. Moderne Burgen in eine Landschaft hineingestellt, die friedlich wirkt. Aber der Schein trügt. Jede dieser Siedlungen zeigt, wer das Westjordanland beherrscht. Trotz internationaler Proteste werden es von Jahr zu Jahr mehr. Fast 700.000 jüdische Staatsbürger leben bereits auf einem Gebiet, das einmal einen palästinensischen Staat umfassen soll. Aber wird es diesen Staat jemals geben? Das zukünftige palästinensische Staatsgebiet gleicht einem Schweizer Emmentaler-Käse mit seinen vielen großen Löchern. Jede Siedlung ist praktisch israelisches Gebiet. Hier gelten die Gesetze des Staates Israel. Palästinensisches Recht endet an den Zäunen und Mauern. Die Siedlungen werden von israelischen Soldaten geschützt. Palästinenser haben nur mit einer besonderen Erlaubnis Zutritt. Farid merkt, wie der Anblick der jüdischen Siedlung seine Stimmung verändert. Gefühle aus einer Mischung aus Wut, Ärger, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit machen sich breit. Sie umklammern seine Brust wie eiserne Fassreifen. Warum haben Juden das Recht, auf seinem Land Siedlungen zu bauen, wie es ihnen passt? Sie nehmen uns das Land weg, zerstören unsere Häuser und zeigen uns jeden Tag, wer hier die Macht hat. Wie können wir uns wehren? Wird sich unsere Situation jemals ändern? Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor es eine gerechte Lösung des Konflikts geben kann? Wird sich der Konflikt jemals lösen lassen? Farid wird aus seinen düsteren Gedanken jäh herausgerissen. „Allahu akbar – Gott ist am größten“, ertönt es. Mit Beginn der Morgendämmerung ruft der Muezzin der benachbarten Moschee die Muslime zum Morgengebet auf. Aus den Lautsprechern ertönt der Aufruf zum Gebet immer mit denselben Worten, natürlich auf Arabisch. „Gott ist am größten. Ich bekenne, dass es keine Gottheit gibt außer Gott. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte 37

Gottes ist. Kommt zum Gebet. Kommt zum Heil. Gott ist der Allergrößte. Es gibt keine Gottheit außer Gott.“ Farid rollt wie jeden Morgen seine Gebetsmatte aus und beginnt sein Gebet in dem Wechsel von aufrechtem Stehen, Vorbeugen und Niederknien. Das Morgengebet ist ihm wichtig. Innehalten, sich für Gott zu öffnen, sich in der Gemeinschaft der Betenden zu wissen, gibt dem neuen Tag eine besondere Note. Für Farid öffnet sich ein Tor zu einer anderen Welt mit einem Gefühl von Unbeschwertheit und innerer Freiheit. Mit der Kraft der ersten Sonnenstrahlen werden Gedanken wach, die über die Sorgen des Alltags hinweggleiten. Der Konflikt scheint plötzlich überwunden. Farid gleitet in eine Traumwelt. Eine Welt ohne Soldaten und Panzer. Eine Welt, in der Menschen sich lieben statt streiten. Eine Welt ohne Not und Leid. Er sieht sich in den Armen eines außergewöhnlichen und schönen Mädchens. Stolz zeigt er ihr sein neues Auto. Ein ausländisches Fabrikat als Taxi umgerüstet. Damit fährt er Menschen von einem Ort zum anderen. Durch ein friedliches Land ohne Grenzen, ohne Checkpoints, ohne Mauern. Das Pfeifen des Wasserkessels beendet seine kleine Traumreise. Seine Mutter bereitet das Frühstück für die Familie vor, wie an jedem Tag. Farid liebt seine Mutter über alles. Sie ist der wichtigste Mensch in seinem Leben. Das Herz der Familie. Farid bewundert, mit welcher Hingabe sie das Leben in der kleinen Wohnung organisiert. Der Platz ist beschränkt, aber mit ihrer lenkenden Hand kommt jeder zu seinem Recht. Farids Zuhause ist ein grober Betonbau mit mehreren Etagen. Die Großeltern setzten den Grundstein. Mit dem Wachstum der Familie ist im Laufe der Zeit ein Bau mit mehreren Wohnungen entstanden. Eine Familie hat der anderen geholfen. Die Großfamilie mit Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen bewohnt das Haus und ist der bestimmende Bezugspunkt nicht 38

nur im Leben von Farid. Sie bilden eine Gemeinschaft, jeder achtet auf den anderen. Das gibt dem Leben Fülle und Struktur. Natürlich gibt es Konflikte und Regeln. Diese sind vorgegeben, jeder kennt sie. Die Schwestern haben andere Aufgaben als die Brüder. Jeder hat seine Rolle und muss damit zurechtkommen. Der Vater ist die bestimmende Autorität. An ihm kommt keiner vorbei. Er trifft die Entscheidungen für die Familie. Wie oft hat sich Farid gewünscht, er würde mit ihm Dinge absprechen. Selbst seine Mutter muss sich seinem Willen fügen. Aber da gibt es Grenzen, das weiß Farid, auch wenn die Eltern vor den Kindern jeglichen Konflikt vermeiden. Sie kennt die Wünsche ihrer Söhne und Töchter und findet oft einen Weg, den Vater umzustimmen, ohne dass seine Stellung in der Familie in Frage gestellt wird. Wenn er nur mehr tun könnte, damit sein ältester Sohn eine berufliche Zukunft hätte. Farid kennt sich mit Autos aus. Schrauben, aus alten Teilen etwas Neues schaffen, das kann er wie kein anderer. Sein Onkel hat als Kleinunternehmer zwei Taxiwagen laufen. Die Wartung der Wagen überlässt er Farid. Nach Beendigung der Schulzeit konnte Farid in einer kleinen Autowerkstatt Arbeit finden. Dort hat er gelernt, wie auch das älteste Fahrzeug mit Phantasie und technischem Geschick wieder flott gemacht werden kann. Autos sind in Palästina ein kostbares Gut, nur wenige können sich einen Neuwagen leisten. Leider hat die Autowerkstatt nicht genügend Aufträge, so dass eine Festanstellung nicht möglich wurde. Hin und wieder darf er kommen, kleine Aufträge übernehmen und auf dem Boden liegend mit dem Schraubenschlüssel hantieren. Für Farid sind diese Tage kleine Festtage. An anderen Tagen beauftragt ihn der Onkel mit Fahrten in der näheren Umgebung. Farid würde gerne Touristen in ganz Palästina umherfahren. Aber der Konflikt macht das nicht möglich. Nicht einmal nach Jerusalem darf er Fahrten 39

übernehmen. Für Jerusalem benötigen Palästinenser eine besondere Erlaubnis. Seine Identitätskarte weist ihn als Bewohner des Gebiets westlich des Jordans aus. Dieses Gebiet darf er nur mit einer Sondergenehmigung verlassen. In der Ferne könnte er die Mauer sehen, die das Land teilt. An einigen Stellen ist sie 8 Meter hoch, toter Beton mit Parolen und Graffiti bemalt. Der Checkpoint markiert den Übergang von der einen zur anderen Seite. Ein zerrissenes, geteiltes Land. Farid kennt nicht die Freiheit des Reisens. Auch der Geruch des Meeres ist ihm fremd. Es gibt Tage, da fühlt er sich eingesperrt wie in ein Vogel in einem Käfig. Wird sich die Tür eines Tages öffnen lassen?

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8. Kapitel Mareike geht schnellen Schrittes die Straße vom Gästehaus zum Kindergarten. Eigentlich ein kurzer Weg von wenigen Metern. Aber morgens ist hier alles anders. Autos fahren bis vor die Tür des Kindergartens, Kinder springen heraus, Eltern verabschieden sich, Schülergruppen finden ihren Weg zum Schulgebäude. Stimmengewirr, fröhliches Lachen, Autos, die sich einen Weg bahnen, in einer Mischung aus Gelassenheit und Hektik. Alles ein wenig chaotisch, aber so beginnt jeder Schultag in Talitha Kumi. Mareike ist mitten drin. Sobald die Kinder sie sehen, wird sie umringt. Kleine Hände versuchen ihre Hände festzuhalten, ein fröhliches Gedränge, bis die Erzieherin eingreift und die Kinder zur Ordnung ruft. Die Kinder wissen genau, Mareike hat eine Sonderstellung. Sie kommt aus Deutschland, aus einem fernen Land, spricht eine fremde Sprache. Mit dieser Sprache werden die Kinder konfrontiert. Sie sollen ein Gefühl für diese Sprache bekommen, erste Sätze lernen. Mareike ist im Kindergarten die Deutschlehrerin. Das hätte sie sich vor wenigen Wochen noch nicht vorstellen können. Aber es klappt. Sie holt sich aus den Gruppen ihre Kinder, singt und spielt mit ihnen. Auch wenn Mareike nur wenige arabische Wortbrocken der Kinder versteht, vieles lässt sich erahnen und die Kinder zeigen ihr deutlich, was sie wollen. Mareike ist beeindruckt, mit welcher Freude die Kinder ihre Angebote annehmen. Bereits nach wenigen Wochen können sie die deutschen Texte der Kinderlieder ohne Mühe singen. Der Vormittag vergeht im Fluge. Das Zusammensein mit den Kindern ist für Mareike der schönste Teil des Tages. Mareike ist nun bereits fast drei Monate in Talitha Kumi. Langsam stellt sich ein Gefühl des Angekommen-Seins ein. 41

Aber noch immer ist vieles neu, fremd und aufregend, einfach anders. Immerhin kennt sie jetzt das Gelände und verläuft sich nicht mehr in den vielen Fluren und Gängen der weiträumig und verzweigt gebauten Schule. Kindergarten, Berufsschule, Mädcheninternat und Schule – sich hier auszukennen braucht Zeit. Talitha Kumi ist ein besonderer Ort. Dieses Gefühl hat Mareike vom ersten Tag an. Allein die Luft. Diese einmalige Mischung aus Sonne, Höhe und dem Duft der Kiefernbäume. Talitha Kumi umfasst eine ganze Berghöhe. Der Weg vom Haupttor führt hinauf an der Berufsschule und dem Gästehaus vorbei zum Kindergarten. Ein kleines Wäldchen mit Kiefernbäumen und angelegte Flächen mit Weinreben bestimmen das Bild einer weitläufigen Anlage. Palästina schmeckt nach Oliven, Chai, Zimt, Humus, Falafel und Pitabrot, so steht es im Reiseführer. Nur die Feigenmarmelade am Morgen ist vergessen worden. Mareike hätte nicht gedacht, dass Pitabrot und Feigenmarmelade so gut zusammenpassen. Die Vorzüge der arabischen Küche kann sie genießen, auch ohne Vollkornbrot. Der Tagesablauf ist vorgegeben. Der Vormittag gehört den Kindern im Kindergarten und am Nachmittag hilft sie im Mädcheninternat aus. Den Abend verbringt sie im Kreis der kleinen Gruppe der Volontäre. Sie bilden die „Talitha-WG“. Charlotte, die auch aus Berlin kommt, ist ihre Zimmernachbarin. Oft sitzen sie zusammen und tauschen sich über die Erlebnisse des Tages aus. Charlotte ist schon länger in Talitha. Sie wird bald abreisen, ihre Zeit als Volontärin nähert sich dem Ende. Charlotte hat Mareike wie eine Fremdenführerin in das neue Leben eingeführt. Ohne ihre Hilfe hätte sich Mareike oft hilflos und einsam gefühlt, wie eine Schiffbrüchige auf einer Insel. Eine Insel in einem tobenden Meer. Das klingt ein wenig theatralisch, aber das Bild ist nicht ganz falsch. Talitha Kumi wirkt in der Tat wie 42

eine ruhige, friedliche Insel. Das schwere blaue Eisentor und die den Schulkomplex umgebende Mauer bilden eine Grenze. Wer sie überschreitet, betritt eine eigene kleine Welt. In dieser Welt scheint alles geordnet, überschaubar und sicher. Für diese Sicherheit steht das schwere Eisentor mit seinen freundlich grüßenden Wachleuten. Tor und Mauer trennen Welten. In der kleinen Welt hinter der Mauer kennt sich Mareike nunmehr aus. Die andere ist für sie ein verwirrendes Meer mit vielen offenen Fragen, überschattet von der großen Frage des Konflikts. In welcher Welt leben wir eigentlich? Mit dieser Frage enden viele Gespräche mit Charlotte. Eine klare und eindeutige Antwort scheint es nicht zu geben. Immer mehr verstärkt sich bei Mareike das Gefühl, dass sie in einem Kosmos unzähliger Welten lebt. Im Rückblick erscheint ihr bisheriges Leben in Berlin viel zu einfach. Alles ist geordnet und hat seinen Platz. Ein Leben ohne große Konflikte, Checkpoints, Mauern und Soldaten. In Gedanken ist sie oft bei ihren Eltern. Sie sind so fern und nah zugleich. Die Auseinandersetzungen der Vergangenheit verlieren sich in der Distanz. Die sorgenvollen Fragen der Eltern scheinen ihr manchmal richtig zu fehlen. Wer hätte das gedacht. Aber wer wirklich fehlt, ist natürlich Jossi. Die ersten Wochen in Talitha Kumi waren so aufregend, dass die Trennung von Jossi nicht schwer fiel. Das ist jetzt anders. Mareike sehnt sich nach seiner Nähe, nach der Sanftheit seiner Hände. In ihren Träumen hält sie mit beiden Händen sein Gesicht fest. Sie will es an sich heranziehen, ihre Lippen wollen sich berühren, aber es gelingt nicht. Trauriges Erwachen, Jossi ist weit weg. Das können auch Telefonate und Mails nicht ändern. Aber es dauert nicht mehr lange, dann ist sein Projekt in Berlin beendet und Jossi wird in sein Land zurückkehren.

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9. Kapitel In den Abendstunden, wenn in Talitha Kumi Ruhe und Stille sich Raum verschaffen, ist Mareike oft in Gedanken bei Jossi. Sein Gesicht mit den klugen, dunklen Augen, sein Lächeln mit den kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, es ist, als wäre er bei ihr. Und doch hat sie trotz aller Nähe das Gefühl, dass eine unsichtbare Wand zwischen ihnen steht. Sie erinnert sich an einen Clown, der mit seinen Händen versucht, eine unsichtbare Wand zu überwinden. Er tastet sich vor und zurück, nach oben und unten, aber er kann sie nicht überwinden. Das wirkt komisch und traurig zugleich. Unsichtbares in Sichtbares zu verwandeln, ist eine Kunst für sich. Wie ist das mit Jossi? Werde ich ihn so verstehen können, wie es sich Liebende erhoffen? „Das Land ist zu klein für zwei selbständige Staaten. Wenn du es mit eigenen Augen gesehen hast, wirst du verstehen, was ich meine.“ Diese Aussage von Jossi begleitet Mareike, seit sie in Talitha Kumi angekommen ist. Steht sie wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen? Aber was hat Liebe mit Politik zu tun? Soll Jossi denken, was er will. Mareike hat sich vorgenommen, den Konflikt mit ihren eigenen Augen zu betrachten. Erst einmal will sie verstehen, worum es eigentlich geht. Aber das ist leichter gesagt als getan. Allein die Rede vom ‚Konflikt‘ mutet seltsam an. Warum sprechen Palästinenser von einem ‚Konflikt‘? Das klingt doch ein wenig verharmlosend, schließlich geht es doch um die Frage der Beendigung der Besatzung. Oder meint die Rede von dem ‚Konflikt‘ noch mehr? Geht es um die Lebensberechtigung zweier Völker, also um Leben oder Tod? Dass gestorben wird, weiß sie. In den Nachrichten wird immer wie44

der über Attentate berichtet. Sie muss unbedingt herausfinden, was sich in diesem Land hinter der Rede vom Konflikt verbirgt. „Konflikte sind da, um sie zu lösen.“ Auch so ein kluger Merksatz, den Mareikes Mutter gerne benutzt. Aber eigentlich hat sie Recht. Konflikte warten auf eine Lösung. Sollte das hier anders sein? Für Jossi scheinen die Dinge klar auf der Hand zu liegen. „Die Palästinenser wollen unseren jüdischen Staat zerstören.“ Auch diesen Satz hat Meike nicht vergessen. Aber er passt so gar nicht zu den Menschen, die Mareike in Talitha Kumi kennengelernt hat. Sie sieht die Mütter und Väter, die mit liebevollen und stolzen Blicken ihre Kinder morgens zur Schule oder in den Kindergarten bringen und am Nachmittag abholen. Sie erkundigen sich nach dem Wohlergehen ihrer Kinder, wie es alle Eltern auch in Berlin machen würden. Sie sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder. Aber auch das gehört zum Elternsein. Wenn es doch so einfach wäre. Mareike hat den Eindruck, alles ist im Heiligen Land schrecklich normal und unnormal zugleich. Das fängt an mit der Straße, die an dem Schulkomplex vorbeiführt. Da fahren Autos. Das ist normal. Aber der zweite Blick zeigt die Grenzen der Normalität. Die Nummernschilder unterscheiden sich. Es gibt weiße und gelbe. Die Autos mit den gelben Nummernschildern gehören in der Regel israelischen Siedlern, die möglichst schnell zu dem nahegelegenen Siedlungskomplex fahren. Die Autos mit den weißen Nummernschildern fahren Bewohner der arabischen Ortschaften. Mareike weiß inzwischen, dass die Straße vor dem Tor zur so genannten C Zone gehört, während das kleine Tor hinter dem Kindergarten zur A Zone gehört. Auch ist von einer B Zone die Rede. Das klingt kompliziert, ist es auch. Das Westjordanland ist unterteilt in drei Zonen, in denen die Art und Weise der 45

Besatzung unterschiedlich geregelt ist. Die C Zone kontrolliert allein die israelische Armee, in der A Zone hat die palästinensische Polizei die Kontrolle und in der B Zone arbeiten beide Seiten zusammen. Das klingt erst einmal gar nicht nach Konflikt. Aber ist es „normal“, das „weiße“ Autos sich nur in diesen drei Zonen bewegen dürfen, während es für „gelbe“ Autos keine Grenzen gibt? Die Wochenenden stehen Mareike zur freien Verfügung. Ausschlafen, lesen, oft wird die Zeit lang, bis auf die kleinen Ausflüge. Anfangs war jeder Schritt aus dem Haupttor heraus eine Expedition in ein unbekanntes Land. Zum Glück hat sie Charlotte an ihrer Seite. Alleine hätte sie sich nicht getraut, die sichere Insel Talitha Kumi zu verlassen. Mareike kann sich noch gut an die Ratschläge im Vorbereitungsseminar erinnern. Blonde Mädchen, die alleine in der Gegend umherwandern, werden in der Regel nicht lange alleine sein. Ausflüge also besser als Gruppe oder mindestens zu zweit organisieren, so der Hinweis. Beit Jala und Bethlehem sind die Orte der näheren Umgebung. Mareike hat schnell gemerkt, dass in Palästina das Auto das wichtigste Fortbewegungsmittel ist. Fußgänger oder gar Radfahrer sind in dieser bergigen Landschaft Exoten. Wer kein Auto hat, kommt mit dem Taxi. Talitha Kumi hat einen eigenen Taxifahrer. Seine Fahrdienste nutzen die Volontäre gerne für ihre Ausflüge und für abendliche Erkundungen. Aber es gibt auch einen Bus Richtung Bethlehem und in der Gegenrichtung nach Jerusalem. Die Busstation ist nur wenige Meter vom Haupttor entfernt. Die Fahrt zum Jaffator dauert kaum eine halbe Stunde. Eigentlich ein Katzensprung. Die kurze Fahrt zeigt auch ohne jede Erklärung, dass der Konflikt allgegenwärtig ist. Hohe Mauern, die Gebiete trennen, Zäune mit Stacheldraht und der Checkpoint als Grenzübergang. Mareike kann sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals an Checkpoints, 46

Militärfahrzeuge und Soldaten, deren Gewehre lässig an der Schulter baumeln, gewöhnen wird. Auch erstaunt sie immer wieder der Anblick von Soldatinnen. Das selbstbewusste Auftreten dieser Frauen ist beeindruckend. Davon hätte sie gerne auch etwas. Aber natürlich ohne Uniform und Maschinengewehr.

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10. Kapitel Farid kann sein Glück kaum fassen. Seit nunmehr zwei Wochen hat sich für ihn ein Traum erfüllt. Er darf das Taxi seines Cousins Haled fahren. Haled ist der Sohn seines Onkels, der sich am Fuß verletzt hat. Nun darf er seine Fahrten übernehmen. Haled ist verantwortlich für die Fahrten im Auftrag von Talitha Kumi. Wenn aus der Einrichtung ein Transfer benötigt wird, ist er zur Stelle. Zu seinen Kunden zählen Lehrinnen und Lehrer sowie Eltern mit ihren Kindern. Auch übernimmt er Fahrten für die Schulverwaltung, besorgt die Dinge, die für den schulischen Alltag fehlen. Seine Kinder besuchen die Schule. Er ist nicht nur deswegen alles andere als nur ein Taxifahrer. Sein Taxi ist zugleich ein Ort des intensiven Austausches über Dinge, über die man eigentlich nicht spricht, aber jeder sprechen möchte. Manche bezeichnen Haled als einen Geheimnisträger, der keine Geheimnisse kennt. Auch solche Menschen muss es geben. Farid kennt seinen Cousin. Er mag ihn sehr. Haled hat in seinem Leben das erreicht, wovon Farid immer noch träumt. Eine Frau, Kinder und Arbeit. Ohne Arbeit ist das Leben schwer. Das Gefühl, nutzlos zu sein, ist schrecklich. Die Stellung in der Familie hängt ebenso davon ab. Ohne Arbeit kein Einkommen, ohne Arbeit keine Unabhängigkeit. Das ist eine bittere Wahrheit. Farid trifft seinen Cousin regelmäßig in der kleinen Werkstatt seines Onkels. Er muss nie lange warten, bis Haled mit seinen Erzählungen beginnt. Talitha Kumi ist sein Leben. Die jungen Volontäre aus Deutschland liegen ihm besonders am Herzen. Sie sind so jung und unerfahren, stellen viele Fragen. Die Fremde scheint sie nicht zu schrecken. Ganz im Gegenteil. Sie stellen sich dem Neuen gegenüber mit einer Unbefangenheit und Neugier, die Haled immer wieder erstaunt. Ihren er48

wartungsvollen Blicken kann sich keiner entziehen. Er will sie schützen, ja beschützen, insbesondere die Volontärinnen. Haled kennt die palästinensischen Männer. Die Regeln der arabischen Kultur mit ihrer Geschlechtertrennung gelten nicht für junge Frauen aus Deutschland. Aus den Erzählungen seines Cousins kennt Farid die Namen der Volontärinnen. Wenn Haled von ihnen berichtet, mit der Schönheit der jungen Mädchen kokettiert, als würde sie ihm gelten, ist Farid sprachlos, sein Atem scheint zu stocken. Er beneidet seinen Cousin. Die Nähe zu den Volontärinnen hätte er auch gerne. Entspringt die wunderbare Gestalt seiner Tagträume diesen Erzählungen? Aber nun ist alles anders. Haleds Unglück ist Farids Glück. Sein Traum geht in Erfüllung, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Er darf das Taxi fahren, ist nun täglich für Talitha Kumi unterwegs. Von den Volontärinnen sind ihm zwei aufgefallen. Charlotte und Mareike. Sie sind Freundinnen und nehmen gerne seine Dienste in Anspruch. Die Fahrten mit ihnen sind für Farid eine besondere Freude. Die beiden sind so anders als palästinensische Mädchen. Sie sprechen ihn direkt an, lachen mit ihm, machen ihre Scherze. Mareike erzählt von den Kindern im Kindergarten, singt ausgelassen ihre Lieder. Charlotte stimmt fröhlich ein. Mit Charlotte kann Farid unbefangen plaudern. Mit Mareike ist das anders. Schon seit Tagen muss er darüber nachdenken. Er fühlt sich von ihren Blicken angezogen. Ihre großen, ausdrucksstarken Augen haben etwas rätselhaft Fragendes. Ihre Blicke treffen sich wie zufällig, kurze Momente. Farid spürt ein Interesse, das er nicht deuten kann. Sucht sie den Kontakt oder bildet er sich das nur ein? Diese Frage lässt ihn nicht mehr los. Charlotte wird in wenigen Tagen ihre Arbeit in Talitha Kumi beenden. Schade, die beiden zusammen sind sein kleines Glück geworden. Wenn er das 49

blaue, schwere Tor durchquert und die Höhe zum Parkplatz vor dem Gästehaus nimmt, halten seine Augen Ausschau nach den beiden. Wirklich nach beiden? Farid tut so, also würde er nach beiden fragen, aber in Wirklichkeit wartet er auf eine Begegnung mit Mareike. Charlotte wird ihren Abschied feiern. Auch Farid ist eingeladen. Es gibt Dinge, die sind traurig und ungeheuer spannend zugleich. Mareike ist mit den Vorbereitungen für Charlottes Abschiedsfest beschäftigt. Sie muss irgendetwas tun, das lenkt ab. Dass sie ihre Zimmernachbarin verlieren wird, ist einfach schrecklich. Sie könnte in Tränen ausbrechen. Charlotte hat alle ihre Freunde eingeladen. Auch Farid wird kommen. Dafür hat Mareike gesorgt. Er darf nicht fehlen. Warum eigentlich nicht? Charlotte hat gefragt, warum sie ihn gerne dabei hätte. Ihre Antwort war ein wenig unbestimmt. Es gelang Mareike, etwas zu sagen, ohne etwas gesagt zu haben. Charlotte hat nur verwundert geschaut, aber nicht weiter nachgefragt. Eine echte Freundin. Mareike findet Farid interessant. Das gesteht sie sich ein. Mehr aber nicht. Das ist doch klar. Es gab bisher keine Gelegenheit, einmal mit ihm alleine zu sprechen. Die kurzen Fahrten sind für tiefergehende Fragen nicht geeignet. Und sie hat so viele Fragen. Sie würde gerne mehr über sein Leben erfahren, über seine Sicht der Dinge und natürlich, was er zur großen Frage des Konflikts sagen würde. Farid einfach anzusprechen, hat sich Mareike nicht getraut. Wie sähe das auch aus. Deutsches Mädchen flirtet mit einem hübschen Fremden. Farid ist nett anzuschauen. Das würde Mareike auch sagen. Aufgefallen ist ihr sein flüchtiger, fast verlegener Blick, wenn sich ihre Blicke treffen. Dass Männer sie anschauen, auch Bemerkungen machen, ist Mareike gewöhnt. Sie weiß um ihre Ausstrahlung. In Palästina geht es direkter und heftiger zu als in Berlin. Die Männer wür50

den sie am liebsten voller Bewunderung anfassen. Das ist alles andere als schön. Farid ist anders. Das hat Mareike von Anfang an gespürt, sogar ein wenig verunsichert. Findet er mich nicht attraktiv? Diesen Gedanken kann sie zu ihrer Verwunderung nicht unterdrücken. Abschiedsfeste können auch aus anderen Gründen sehr unterschiedliche Gefühlslagen freisetzen. „Wie lebt es sich in Palästina?“ Endlich hat Mareike die Frage gestellt, die ihr schon lange auf der Zunge lag. Sie klingt zwar ein bisschen plump. Aber wie sonst ein Gespräch anfangen? Mareike und Farid sitzen schon seit einiger Zeit im Innenhof von Talitha Kumi zusammen. Das Fest nähert sich dem Ende. Außer Blicken, kleinen Bemerkungen hat sich bisher nichts zwischen ihnen ereignet. Was soll sich auch ereignen? Schließlich geht es heute Abend um Charlotte. Sie steht im Mittelpunkt. Es ist ihr Abschied. Farid wartet lange mit einer Antwort. An seinem Gesicht lässt sich nicht ablesen, was die Frage bei ihm bewirkt. Aber seine Stimme klingt rauer als sonst. „Wir leben in einem wunderbaren Land. Leider wird es uns weggenommen. Wie würdest du dich fühlen, wenn fremde Menschen in das Haus deiner Eltern kommen und behaupten, dass es ab heute ihnen gehört? Sie zwingen euch zum Auszug und die Nachbarn schauen zu, ohne einzugreifen. Wie würdest du dich fühlen? Komm in unser Haus, dann siehst du, wie wir leben.“ Dann steht er auf und geht. Mareike kann gerade noch hinterherrufen, dass sie ihn gerne besuchen würde. Hat Farid ihre Antwort noch gehört? Mareike ist sich alles andere als sicher.

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11. Kapitel Charlotte ist abgereist. Sie lagen sich in den Armen und haben geweint. Der Abschied fiel beiden schwer. Mareike hat das Gefühl, als hätte jemand ihr etwas Kostbares weggenommen. Eine Freundin im fremden Land ist ein Geschenk des Himmels. Nun muss sie lernen, ohne sie ihren Weg zu gehen. Am Tage vergeht die Zeit wie im Fluge. Die Kinder erfordern ihre ganze Aufmerksamkeit. Da ist kein Platz für schwere Gedanken. Ganz im Gegenteil: die Freude, das Lachen der Kinder, ihre Anhänglichkeit und Beharrlichkeit, wie sie Nähe und Zuneigung einfordern, berührt Mareike immer wieder. Nur die Abende werden länger. Da tut sich eine Lücke auf, die Charlotte hinterlassen hat. Oft ist Mareike mit ihren Gedanken alleine. Wie gerne hätte sie die Antwort von Farid mit Charlotte besprochen. Was wollte er ihr mit seiner Antwort sagen? Kein Mensch hat das Recht, jemanden aus seinem Haus zu vertreiben. Das ist doch klar. Wenn Unrecht offensichtlich geschieht, muss es auch benannt werden. Auch das ist klar. Wollte Farid wirklich mit dem Bild des Hausraubes die Situation der Menschen in der Westbank beschreiben? Ist das nicht maßlos übertrieben? Allein der Blick auf die Nachbarhäuser der angrenzenden Grundstücke des Schulareals zeigt, wie gut es sich hier leben lässt. Prächtige und eindrucksvolle Bauten, da könnte man fast neidisch werden. Ihre Eltern leben nicht so komfortabel. Auch findet sie den versteckten Vorwurf nicht fair. Trägt sie eine Mitverantwortung oder gar Mitschuld an der Lage der Palästinenser? Wie hat Farid das gemeint oder hat er ihre Frage einfach falsch verstanden? Hat er gedacht, dass sie sich über ihn lustig machen würde? Nach dem Motto: Du arme, kleine gefangene Maus. Wie geht es dir? Warum 52

musste das Gespräch so abrupt enden, wie es aus dem Nichts begonnen hatte? Ja, ich bin neugierig. Ich möchte wirklich wissen, wie Farid sein Leben lebt. Ich möchte ihn näher kennenlernen. Er hat etwas Besonderes, was sich nur schwer fassen und beschreiben lässt. Ich möchte wissen, was er denkt und fühlt, wie er die Situation beurteilt. Und ich möchte verstehen. Verstehen, warum der Konflikt unlösbar erscheint. Verstehen, was der Konflikt bei ihm und den Menschen bewirkt. Gehe ich damit zu weit? Habe ich das Recht, das alles zu erfahren? Was wird Jossi sagen, wenn ich ihm von Farid erzähle? Der Gedanke an Jossi ist für Mareike beruhigend und aufregend zugleich. Liebe ist etwas Wunderbares. Da ist jemand, der an seine Liebste denkt und auf sie wartet. Sie wartet schon lange auf Jossi und ist in Gedanken in den Abendstunden oft bei ihm. Dann liegt sie in ihrem Bett, fühlt seine Hände, wie sie ihren Körper ertasten. Sie versinkt in ein Meer von Gefühlen. Warme Wellen, die sie in andere Welten tragen. Wenn sie erwacht, zählt sie die Tage, bis Jossi in Jerusalem eintreffen wird. Dann können sie sich endlich wieder in die Arme nehmen.

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12. Kapitel Farid wartet wieder einmal auf den nächsten Fahrauftrag. Das Taxi wird zu seinem zweiten Zuhause. Oft vergehen Stunden, bis er den Wagen wieder in Bewegung setzen kann. Während er auf den nächsten Auftrag wartet, drehen sich seine Gedanken im Kreise. Der Abend im Innenhof von Talitha, das Abschiedsfest von Charlotte, die Begegnung mit Mareike, ein Film in einer Endlosschleife. Erst konnte er sein Glück kaum fassen. Er war eingeladen worden. Charlotte hatte ihn in Gegenwart von Mareike angesprochen. Beide würden sich freuen, wenn er kommt. Sie haben das gesagt, als wäre nichts dabei, als wäre es völlig normal, dass Frauen einen Mann zu einem Fest einladen. Das können nur Frauen aus dem Ausland machen. Für ein unverheiratetes Mädchen in Palästina wäre das undenkbar, sie wäre für alle Zeiten gebrandmarkt. Natürlich gibt es Blicke, kleine Zeichen der Aufmerksamkeit zwischen Mädchen und Jungen. Aber Beziehungen sind undenkbar, es sei denn die betroffenen Familien hätten das entscheidende Wort gesprochen. Nur in Talitha ist alles anders. Dort gelten scheinbar andere Regeln. Nicht für die Schülerinnen und Schüler. Nicht ganz, denn für die christlichen Schülerinnen gelten andere Regeln als für die muslimischen Mädchen. Das weiß auch Farid. Daher ist eine Beziehung zwischen christlichen und muslimischen Jugendlichen undenkbar. Die Bedeutung der Religion ist in Palästina mehr als nur wichtig. Sie bestimmt das Selbstverständnis der Menschen, ist der bestimmende Kern jeder Familientradition. Farid ist sich sicher, dass die jungen Mädchen aus Deutschland die Bedeutung der Religion in Palästina nicht kennen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich gegenüber Männern so anders verhalten. Sie begegnen Männern in einer Offenheit, die Farid 54

immer wieder erstaunt. Allein wie sie Blickkontakt halten. Farid ist gewohnt, wenn er ein Mädchen anschaut, dass das Mädchen seinem Blick ausweicht und die Augen zum Boden richtet. Bei den deutschen Mädchen ist es umgekehrt. Sie blicken ihn direkt an. Er ist es, der den Blick fast schamhaft senkt. So ist es ihm zuerst mit Charlotte ergangen. Er hat gelernt, sich anders zu verhalten. Bei Mareike ist das anders. Wenn sie ihn anschaut, fühlt er sich unsicher und gehemmt. Er hätte so gerne das Gespräch mit ihr gesucht. Sie saßen sogar nebeneinander, Seite an Seite, Körper an Körper. Es war wunderbar, so dicht zusammen zu sein, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen. Es fehlten ihm die Worte. Ihre Nähe war wie ein Zauber, der ihn gefangen hielt. Vielleicht war es das. Die Angst, dass sein Traum zerstört werden, sich in Luft auflösen könnte, hatte ihn so gehemmt. Dann kam der Moment, der alles veränderte. Mareike stellte ihre Frage, die ihn völlig aus dem Gleichgewicht brachte. „Wie lebt es sich in Palästina?“ Was hatte sie sich bei dieser Frage bloß gedacht? Weiß sie so wenig über uns Bescheid oder wollte sie mich provozieren? Diese Frage beschäftigt Farid seit Tagen. Mareike hat ihn mit ihrer Frage ins Herz getroffen. Sie wollte ihn sicherlich nicht verletzen. Aber wie kann jemand so unsensibel fragen, der seit Monaten in Palästina lebt? Auf diese Frage hat Farid keine Antwort. Aber sie passt in das Bild, das er von Deutschland hat. Deutschland steht auf der Seite der Juden. Deutschland unterstützt Israel, weil Deutsche Juden millionenfach umgebracht haben. Farid kennt Leute, die sagen, dass es ohne die Nationalsozialisten nie zu einem jüdischen Staat gekommen wäre. Und er kennt Stimmen, die sagen, dass der millionenfache Mord an Juden eine zionistische Erfindung sei, um einen jüdischen Staat auf Kosten der Palästinenser zu rechtfertigen. Warum haben Juden in Palästina einen eigenen Staat gegründet? Auf 55

diese Frage hat Farid keine wirkliche Antwort. In seinen Schul­ büchern kommt der Staat Israel nicht vor. Die Juden sind böse Zionisten, die die Welt beherrschen und die arabischen Völker unterdrücken. Dagegen haben sich mutige Palästinenser zur Wehr gesetzt und viele haben den Tod als „Märtyrer“ erlitten. Sie sind unsere Vorbilder. So steht es in den Schulbüchern, und seine Lehrer haben dem nicht widersprochen, obwohl Farid oft den Eindruck hatte, dass selbst sie diese einfache Sicht der Dinge nicht teilten. Warum Landkarten den Staat Israel nicht verzeichnen, hat selbst er nicht verstehen können. Die Antwort sind ihm die Lehrer schuldig geblieben. Wer die hohen Mauern, Stacheldrahtzäune, Checkpoints und die vielen Soldaten mit eigenen Augen gesehen hat, ist von der Existenz des Staates Israel mehr überzeugt, als einem lieb sein kann. Die Gründung des Staates wird als „Nakba“, als Katastrophe, gesehen. In diesem Punkt sind sich alle Palästinenser einig. Dazu bedarf es keines Schulbuches. Was wollte Mareike mit ihrer Frage bewirken? Vielleicht interessiert sie sich wirklich für mich? Vielleicht möchte sie wirklich wissen, wie wir leben? Ich würde ihr gerne zeigen, wie es um uns steht. Sie muss uns verstehen. Ich muss herausfinden, auf welcher Seite sie steht. Ich habe sie eingeladen. Und ich habe ihre Antwort gehört. Sie wird kommen. Das Mädchen meiner Träume.

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13. Kapitel Jossi ist zurückgekehrt. Er ist wieder in seinem Land. Hier ist er geboren und aufgewachsen. Er ist erstaunt, welch tiefe Gefühle der Verbundenheit die Rückkehr in ihm ausgelöst hat. Was Heimat bedeutet, kann nur verstehen, wer in der Fremde gewesen ist. Jossi hat sich in Berlin wohl gefühlt. Eine lebendige und bunte Stadt. Die berlinerische Mischung aus Hektik und Gelassenheit hat ihn beeindruckt. Jeder Kiez hat seine eigene Atmosphäre. Es gibt ein Berlin-Gefühl, das Zugereiste gefangen hält. Vergleichbar mit dem Jerusalem-Virus, der viele Menschen seit Jahrhunderten infiziert hat. Berlin ist für viele junge Israelis eine zweite Heimat geworden. Ein Klein-Tel Aviv ist entstanden mit Hummusläden, Galerien und eigenen Webseiten. Wer auf der Suche nach Geschichten ist, findet sie in unendlicher Fülle. Jossi hat in Berlin seine ganz persönliche Geschichte gefunden. Die Begegnung mit Mareike hat sein Leben verändert. Gemeinsam haben sie die Stadt erkundet. Eine unvergessliche Zeit liegt hinter ihnen. Er nimmt etwas mit, ein unverhofftes Glück. Wie wird es weitergehen? Werden wir einen gemeinsamen Weg finden? Hat unsere Beziehung Bestand? Warum sehe ich immer gleich den Schatten auf dem Glück? Jossi ärgert sich über sich selbst, dass er sich seinen Liebesgefühlen nicht einfach unbefangen hingeben kann. Mareike kann das. Er bewundert sie dafür. Was könnte er nicht alles von Mareike lernen. Nun ist er wieder in Israel. Die Ankunft im Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv ist eine sprichwörtliche Familienzusammenführung gewesen. Seine große Schwester Ester mit dem kleinen Itzhak und seine Eltern haben ihn in der großen Eingangshalle des Flughafens in die Arme genommen. „Wir sind so froh, dass du wieder da bist. Wir haben dich so vermisst. Dem Schöpfer sei gedankt, dir ist nichts passiert.“ 57

Mit einer Träne in den Augen küsst die Mutter ihren Sohn. Jüdische Mütter lieben ihre Söhne über alles. Das ist in muslimischen Familien nicht anders. Nur mit dem Unterschied, dass sich die Liebe der Mutter mehr Söhne teilen müssen, als es mehrheitlich in jüdischen Familien der Fall ist. Jossi ist der einzige Sohn der Familie, ihm gilt die Aufmerksamkeit in besonderer Weise. „Wie hat dir die Stadt gefallen? Was hast du alles gesehen und erlebt? Stimmt es, dass Berlin trotz der vielen Muslime eine der größten Partystädte der Welt ist? Was ist mit dem Mädchen, das du kennengelernt hast?“ So ist die große Schwester. Kaum ist er da, überhäuft sie Jossi mit Fragen über Fragen. Sie will immer alles sofort wissen. „Berlin ist eine wunderbare Stadt mit vielen jungen Menschen aus aller Welt. Absolut sicher lässt es sich dort leben. In einigen Wohnvierteln leben fast nur türkische und arabische Familien. Ein jüdisches Viertel gibt es nicht. Die vielen Israelis in der Stadt fallen nicht auf. Sie zeigen ihre jüdische Identität nicht offen. So wie ich aussehe, haben mich die Menschen eher für einen Araber als für einen Israeli gehalten.“ Damit ist das Wichtigste gesagt. Die Frage nach Mareike hat Jossi einfach überhört. Die Frage wird wiederkommen. Den prüfend-fragenden Blick seiner Mutter hat er wohl bemerkt. Sie wird ahnen, dass er sich verliebt hat. Mütter spüren Veränderungen sofort. Da ist sich Jossi sicher. Mit dem Auto der Eltern verlassen sie das weiträumige Flughafengelände und fahren zusammen Richtung Tel Aviv. Tel Aviv bedeutet auf Hebräisch „Frühlingshügel“. Die Skyline ist von Hochhäusern geprägt. Eine Stadt direkt am Meer mit wunderschönen Stränden. Im Großraum von Tel Aviv leben die meisten Menschen in Israel. Jossis Eltern wohnen in einem der vielen Vororte. Sie haben sich vor Jahren ein kleines Reihenhaus gekauft. In der Wohnanlage stehen die Häuser dicht an dicht 58

wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Häuser und Wohnungen sind in Israel ein teures Gut. Die Familien sparen und legen das Geld zusammen. Die hohen Preise sind ein ständiges Ärgernis. In Israel leben die Menschen in der Regel in ihren eigenen vier Wänden. Wohnen zur Miete wie in Berlin ist eine Ausnahme. „Nun erzähl schon. Was hast du in Berlin erlebt?“ Sie sitzen im Wohnzimmer zusammen. Es gibt Jossis Lieblingskuchen. Der Vater hat ein Segenswort gesprochen, er trägt wie an jedem Tag seine Kippa. Nun muss Jossi erzählen. Er berichtet, wie er die Stadt Schritt für Schritt, Quartier für Quartier erkundet hat und von seinem Schulbuchprojekt. Die Eltern und die Schwester freuen sich über Jossis Erzählungen. Endlich ist er wieder da. Aber alle warten auf den eigentlichen Bericht. Wer ist das deutsche Mädchen, das er in Berlin kennengelernt hat. „Wer ist nun die unbekannte Schöne aus Berlin?“ fragt seine Schwester mit einem Lächeln, das mehr sagt als Worte. Atemlose Stille. Alle Augen sind auf Jossi gerichtet. „Ihr wisst ja, sie heißt Mareike. Mareike hat gerade die Schule abgeschlossen und ihr Abitur gemacht. So konnten wir viel Zeit miteinander verbringen und Berlin zusammen entdecken. Sie arbeitet jetzt als Erzieherin in einer Schule in der Nähe von Bethlehem.“ „In Bethlehem?“ Wie aus einem Munde schallt es ihm entgegen. „Was will sie gerade dort? Kennt sie die Situation in unserem Land?“ fragt Jossis Vater und seine Stirnfalten werden allzu deutlich. „Mareike macht ein freiwilliges Jahr in einer evangelischen Schule. Sie will sich für andere Menschen einsetzen. Das ist ernst gemeint. Sie ist davon überzeugt, dass alle Menschen eine Zukunft haben müssen. Und sie will verstehen, warum es im Nahen Osten keinen Frieden gibt.“ 59

Jossi hat gesagt, was zu sagen ist. Die Familie braucht nicht zu wissen, dass sie sich gestritten haben. Die Entscheidung von Mareike, in der Westbank zu arbeiten, hat Jossi nur schwer ertragen können. Aber alles Schwere hat auch ein Gutes. Mareike ist hier, und sie können wieder zusammen sein. Der Gedanke an Mareike löst ein Gefühl aus, als würde eine große Welle ihn überrollen. Einfach nur eintauchen. Sich von der Kraft der Welle treiben lassen. „Mareike kommt doch sicherlich aus einer christlichen Familie, oder?“ Die Frage der Mutter holt Jossi zurück. Jetzt wird es schwierig. Wie kann er antworten, ohne etwas Falsches zu sagen. Er weiß, welche Bedeutung Religion für die Familie hat. Ohne die jüdische Religion gäbe es das Volk Israel schon lange nicht mehr. Der Glaube an den einen Schöpfergott, der sein auserwähltes Volk führt, prägt den Alltag der Familie. Aber worauf zielt die Frage der Mutter? Geht es um religiöse Bindungen im Allgemeinen? Oder will sie mit der Frage das Trennende hervorheben? „Ja, sie kommt aus einer christlichen Familie, und ich denke schon, dass der Familie der christliche Glaube wichtig ist“, antwortet Jossi. „Ich habe die Eltern kennengelernt. Sie lieben ihre Tochter über alles und machen sich ihre Gedanken. Meine Erzählungen vom Leben in Israel haben sie ein wenig beruhigt. Ich glaube, die Mutter mag mich.“ Nun muss die Mutter schmunzeln. Kein Wunder, ihr Sohn hat einen guten Eindruck hinterlassen, denkt sie voller Stolz. Damit ist das Thema Religion erst einmal umschifft. „Wann lernen wir Mareike kennen?“ fragt Jossis Vater. „Sie ist in unserem Haus willkommen. Wir freuen uns auf ihren Besuch.“ Auf diesen Satz hat Jossi gewartet. Natürlich soll die Familie Mareike bald kennenlernen. Aber zuerst gehört sie mir, erst dann kommt die Familie. 60

14. Kapitel „Ahlan wa sahlan“ – „Herzlich Willkommen bei uns zu Hause.“ Mareike wird von Farid mit einer einladenden Handbewegung gebeten einzutreten. Heute wird sie die Familie von Farid kennenlernen. Mareike ist aufgeregt. Der Besuch von Mareike hat die Familie den ganzen Tag beschäftigt. Die Wohnung ist aufgeräumt und das Abendessen vorbereitet. Die Familie ist versammelt. Auch die beiden Brüder von Farids Vater sind mit ihren Frauen gekommen. Sie sitzen bereits im großen Wohnzimmer und warten mit ihren Kindern auf den Gast. „Ahlan wa sahlan“ – Herzlich Willkommen. Kommen Sie herein. Wir freuen uns, dass Sie gekommen sind. Farids Freunde sind auch unsere Freunde.“ Farids Vater tritt auf Mareike zu und führt sie zu einem ausladenden Sessel. Es ist eine beeindruckende Sofalandschaft, die sich Mareikes Augen bietet. Sofa an Sofa und einige Sessel sind zu einem offenen Rechteck aneinandergereiht. Ein Raum, wie für eine Großfamilie geschaffen. Alle Augen sind auf Mareike gerichtet. Farids Vater stellt die Familienmitglieder vor. Er ist ein stolzer Hausherr. Diese Rolle genießt er. Farids Mutter begrüßt Mareike mit beiden Händen. Zwei freundliche, lebhafte Augen begegnen Mareike. Sie trägt ein Kopftuch, wie die anderen Frauen. Das lange schwarze Kleid mit dem farbig gemusterten Umhang zeigt eine muslimische Mutter, die selbstbewusst ihre Stellung in der Familie einnimmt. Mit einem forschenden Blick betrachtet sie Mareike. Es ist, als ob sie ihr Gesicht wie ein Buch lesen könnte. Als Mutter kennt sie die geheimen Wünsche ihres Sohnes. Ihr ruhender Blick verrät nichts darüber. Auch nicht, ob sie sich Sorgen über enttäuschte Hoffnungen macht. 61

Mareike betrachtet von ihrem Sessel aus mit großen Augen die fremde Umgebung. Allein die Gestaltung des Raumes ist ein Erlebnis. An den Wänden hängen zwei große Bilder, die in arabischer Schönschrift Koranverse enthalten. Ebenso blickt sie auf ein Bild, auf dem die al-Aqsa-Moschee und der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel abgebildet sind. Am eindrucksvollsten findet sie neben der Sofalandschaft die schweren Samtvorhänge, die die Fenster einkleiden. Sie hätte nicht gedacht, dass sich in diesem von außen schlichten Betonbau derart aufwendig und geschmackvoll dekorierte Räume befinden. Dann entdeckt sie neben der Tür an der Wand einen alten großen Schlüssel. Er befindet sich in einem kunstvoll geschnitzten Holzkästchen hinter einer Glasscheibe. Dieser Schlüssel muss eine besondere Bedeutung haben. Das ist allzu offensichtlich. „In welches Schloss passt dieser Schlüssel?“, fragt Mareike. Ihre Anspannung hat sich gelegt. Sie ist mit einer überwältigenden Freundlichkeit empfangen worden. „Dieser Schlüssel spiegelt das Drama unserer Leidensgeschichte wider. Er passte in das Schloss der Eingangstür des Hauses meiner Eltern“, antwortet Farids Vater. Seine Stimme ist belegt. Das eben noch lachende Gesicht wirkt versteinert und ernst. Plötzlich ist es ruhig im Raum. Die Blicke sind auf das Holzkästchen gerichtet. „Es war an einem Novembertag im Jahre 1948. Israelische Soldaten brechen die Tür des Hauses auf. Meine Eltern müssen es verlassen. Nur wenige Sachen können sie mitnehmen. Dieser Schlüssel gehört dazu. Er begleitete sie Zeit ihres Lebens. Sie sind mit einem gebrochenen Herzen gestorben, weil sie das Haus seit diesem Unglückstag nicht mehr betreten konnten. Das Dorf meiner Eltern gibt es nicht mehr. Die Häuser sind zerstört. Wir wissen nicht einmal, ob noch Mauerreste an das alte arabische Dorf erinnern. Seit Jahrhunderten haben dort 62

arabische Familien gewohnt. Alle sind vertrieben worden. Die Juden haben dort ihre eigene Stadt gebaut. Sie trägt einen neuen Namen. Die Juden wollen wohl nicht an ihre Verbrechen erinnert werden. Wir werden niemals vergessen, was geschehen ist. Der Schlüssel wird uns immer an unser Haus erinnern. Der Tag wird kommen, an dem unsere Kinder das Haus meiner Eltern wieder aufbauen werden.“ Je länger der Vater spricht, desto mehr zieht sich Mareike in ihren Sessel zurück. Sie hätte nicht gedacht, dass mit ihrer harmlosen Frage die arabisch-israelische Tragödie zum Vorschein kommen würde. Ihre Augen suchen Farid. Sie will wissen, ob sie etwas falsch gemacht hat. Farid schaut sie an, als ob nichts geschehen sei. Sie sieht, wie ein feines Lächeln in seinem Gesicht für einen Moment aufleuchtet. Gilt es seinem Vater oder gilt es mir?, fragt sich Mareike. Mit dem Essen verflüchtigt sich die ernste Stimmung wie eine Wolke an einem heißen Sommertag. Die Frauen bringen auf kleinen und großen Tellern die Köstlichkeiten der arabischen Küche. Salate in verschiedenen Variationen, Hummus, Auberginenmus, sauereingelegtes Gemüse werden als Vorspeisen serviert. Später folgen als Hauptgerichte gefaltete Weinblätter mit Reis und Hackfleisch und gebratene Hühnchenschenkel. Mareike lässt es sich zur Freude ihrer Gastgeber schmecken. Das Gespräch plätschert dahin. Es werden die Dinge des Alltags angesprochen. Mareike berichtet, wie sie mit den Kindern in Talitha Kumi arbeitet. Es entgeht ihr nicht, dass sie von Farid mit einer Mischung aus Verwunderung und Begeisterung angeschaut wird. „Glaubst du wirklich, dass du eines Tages das Haus deiner Großeltern wieder errichten wirst?“, fragt Mareike Farid nachdenklich. Sie sind beide auf dem Weg nach Talitha Kumi. Farid bringt sie zurück. 63

„Ich glaube das ehrlicherweise nicht. Eine Rückkehr der Vertriebenen werden die Israelis nicht zulassen, solange sie die Macht in Palästina haben. Aber wer weiß, ob sie diese Macht für immer haben werden“, antwortet Farid. „Aber warum sagt dein Vater dann so etwas? Der Schlüssel in dem Schmuckkästchen erinnert mich an Reliquien, mit denen Gläubige in der Kirche ihre Heiligen verehren.“ „Das Land ist uns heilig. Es wurde uns weggenommen. Der Schlüssel erinnert uns an unser Schicksal. Er hält die Hoffnung wach, dass sich Dinge ändern können. Leider sind wir uns über den Weg dahin nicht einig. Viele haben die Hoffnung verloren. Andere suchen Zuflucht im Islam. Wir Palästinenser sind ein Volk, ganz egal ob wir in der Westbank, in Israel, in Flüchtlingslagern, in Gaza oder im Libanon, in Amerika oder irgendwo auf der Welt leben. Aber wir sind ein Volk. Wir wollen die Rechte haben, die jedes Volk dieser Welt hat.“ Mareike bemerkt, wie sich in Farids Stimme leise Verzweiflung Bahn bricht. Am liebsten würde sie tröstend einen Arm um seine Schulter legen. Aber das geht nicht. Das würde zu Missverständnissen führen. Sie sitzen die restliche Fahrt schweigend im Auto. Am blauen Eisentor setzt Farid sie ab. Mareike umarmt ihn zum Abschied. Ein Glänzen in seinen dunklen Augen verrät, dass er etwas von ihrem Mitgefühl gespürt haben muss. Nachdenklich und bedrückt geht Mareike den Weg hoch zum Gästehaus. Wie gut haben wir es in Deutschland, denkt sie. Wir haben einen schrecklichen Krieg begonnen und uns wurde nicht nur Frieden, sondern auch die Wiedervereinigung geschenkt. Sie erinnert sich, wie im Unterricht das Schicksal der Vertriebenen zur Sprache kam. Warum ist unsere Geschichte so anders verlaufen? Was wäre, wenn die Familien unserer Vertriebenen auch Schlüssel verlassener Häuser in einem Schmuckkästchen aufbewahren würden? Diesen Gedanken will sie lieber nicht zu Ende denken. 64

15. Kapitel Mareike steht an der Straßenkreuzung wenige Schritte vom Eingangstor der Schule entfernt. Sie wartet auf den Bus, der sie zum Jaffator nach Jerusalem bringen wird. Dort ist sie mit Jossi verabredet. Endlich werden sie sich wieder in die Arme nehmen können. Sie befeuchtet mit der Zungenspitze ihre Lippen. Ein Vorgeschmack auf das Kommende. Der Bus fährt die Straße hinunter zum Checkpoint. Er ist heute gut besetzt mit Touristen und Frauen und Männern, die als Bewohner der Westbank gut zu erkennen sind. Der Bus hält am Checkpoint. Die Palästinenser müssen aussteigen, die Touristen dürfen sitzen bleiben. Zwei israelische Soldaten steigen in den Bus und lassen sich die Ausweise zeigen. Ein Soldat prüft die Dokumente, der andere sichert ihn mit seiner Waffe. Die Palästinenser haben sich in einer Reihe aufgestellt. Sie müssen warten, bis die Kontrolle im Bus vorüber ist. Einzeln treten sie vor. Das Maschinengewehr ist auf sie gerichtet, während der Ausweis und die Taschen kontrolliert werden. Mareike versucht herauszufinden, wie sich in den Gesichtern die bizarre Situation widerspiegelt. Sie hat den Eindruck, als würden die Palästinenser mit einem betont stolzen Gesichtsausdruck die Kontrolle über sich ergehen lassen. Mit keiner Regung lassen sie erkennen, dass das auf sie gerichtete Gewehr sie beeindruckt. Auch die Gesichter der Soldaten geben sich bewusst ausdruckslos. Sie verkörpern die Macht. Eine Macht, die um ihre Gefährdung weiß. Mareike ist froh, als der Bus sich wieder in Bewegung setzt. Die Kontrolle ist überstanden. Eine beklemmende Stimmung bleibt im Bus zurück. Sie löst sich auf beim Anblick der die Altstadt von Jerusalem umfassenden Stadtmauer. 65

Jossi steht an der Haltestelle. Mareike hat ihn gleich entdeckt. Zwei strahlende Gesichter gehen aufeinander zu. Sie fallen sich in die Arme und halten einander fest, als ob nichts mehr sie trennen könnte. Hand in Hand überqueren sie die Straße und gehen in den anliegenden Teddy Park. Die aufwendig gestaltete Parkanlage ist zu Ehren des legendären Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek errichtet worden. Ein idealer Ort für Liebespaare, aber ebenso für Familien mit ihren Kindern. Die berühmte Wasserinstallation ist ein Blickfang. Wasserfontänen schießen in zeitlichen Abständen aus dem Boden. Mareike hat ihren Kopf auf dem Rasen liegend an Jossis Schulter angelehnt. Sie sind wieder zusammen. Es gibt viel zu erzählen. „Ich habe dich vermisst“, sagt sie und streichelt sein Gesicht. „So schnell gebe ich dich nicht mehr her.“ „Dann verlass doch deine Palästinenserschule und wechsle zur richtigen Seite“, antwortet Jossi mit einem verschmitzten Lächeln. Er kann es nicht lassen. Selbst in den schönsten Minuten muss er provozieren. „Ich bin auf der richtigen Seite. Ich bin doch bei meinem starken israelischen Helden.“ Mareike lässt sich nichts gefallen. Grenzenlose Liebe und lustvoller Streit passen zu einem Land der Widersprüche. Sie hat das Gefühl, dass dieses Land sie für immer festhalten wird. „Dein starker Held würde dir gerne seine Familie vorstellen. Sie sind voller Erwartung der schönen Fee, die in Berlin von ihren Fesseln befreit wurde.“ Mareike gibt Jossi einen zärtlichen Schlag. Sie balgen sich wie pubertierende Teenager, bis eine Gruppe von Kindern unterschiedlichsten Alters die Fontänen für sich entdecken. Mareike blickt erstaunt auf die Mädchen mit ihren langen Kleidern. Auch die Jungen tragen Hosen und Hemden. Alle, auch 66

die Kleinen, tragen die Kippa, unter der eine lange Haarlocke zum Vorschein kommt. Sie rennen durch das Spalier der Fontänen, die rutschende Kippa mit einer Hand festhaltend. Was für ein Schauspiel. Mareike verfolgt gebannt das Treiben der Kinder. Sie erscheinen ihr wie Wesen aus einer fremden Welt. Die Eltern der Kinder sind nicht weit entfernt. Die Männer mit ihren schwarzen Anzügen, weißen Hemden und großen schwarzen Hüten sind unschwer als orthodoxe Juden zu erkennen. Ihre Frauen tragen lange Kleider, die Mareike an Bilder aus der Zeit ihrer Großeltern erinnern. „Ist das hier ein Treffpunkt für fromme Juden?“, fragt sie Jossi. „Wenn ich die Kinder und ihre Eltern sehe, habe ich den Eindruck die Zeit ist stehen geblieben. In welcher Welt leben diese Menschen?“ „Jerusalem ist das Zentrum des orthodoxen Judentums. Seit Jahrtausenden ist sie eine Stadt der Sehnsucht und der Hoffnung für jeden frommen Juden. Mit der Gründung des Staates Israel können Juden sich wieder ohne Angst vor Verfolgung ganz der Religion widmen. Die Männer verbringen in der Regel den ganzen Tag mit dem Thora- und Talmudstudium. Dafür genießen sie Sonderrechte. Sie werden vom Staat unterstützt und sind vom Militärdienst befreit. Früher war ihre Anzahl überschaubar. Heute stellen sie aufgrund ihres Kinderreichtums eine stetig wachsende Gruppe dar, die in verschiedene Richtungen gespalten ist. Sie nennen sich die Haredim, die „vor Gott zittern“. Im Laufe der Jahre ist ihr Einfluss auf das religiöse und politische Leben immer größer geworden. Du kannst dir vorstellen, dass das für viele Israelis ein Ärgernis ist. Wir Juden sind ein einmalig schwieriges Volk. Nicht ohne Grund wird gesagt: zwei Juden, drei Meinungen.“ Jossi versucht, betont sachlich zu bleiben. Ihm ist bewusst, wie umstritten die orthodoxen und insbesondere die ultra67

orthodoxen Juden in Israel sind. Jerusalem, die Stadt der „verrückten Schwarzhüte“, ist noch einer der harmloseren Kommentare. Weit verbreitet ist die ironische Aussage, es gäbe zwei jüdische Hauptstädte – Jerusalem für die Juden und Tel Aviv für die Israelis. Er beobachtet die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in religiöse und nicht- oder besser wenigerreligiöse mit großer Sorge. Er kann sich nicht damit abfinden, dass gerade Religion zur Trennung von Menschen in einer Gesellschaft beiträgt. „Religion kann versöhnen und spalten zugleich.“ Mareike bringt das auf den Punkt, was Jossi gerade gedacht hat. „In Talitha Kumi habe ich gelernt, dass man in Palästina alles sein kann, nur nicht ohne Religion. Keine Religion geht nicht. Ohne Religion ist man ein Niemand. In Berlin ist das anders. Religion spielte für die meisten meiner Mitschüler keine Rolle. Ich habe mir oft den Satz anhören müssen, dass ohne Religion die Welt viel friedlicher wäre. Ich habe dann immer dagegen gehalten. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht doch Recht hatten?“ „Es sind die Menschen, die die Religion missbrauchen. Wenn Religion zur Politik wird, ist es am Schlimmsten. Der Islam zeigt, wozu eine politische Religion fähig ist. Im Namen der Religion sollen alle Juden aus Palästina vertrieben werden. „Auch Juden beanspruchen im Namen der Religion das Recht auf ganz Palästina ohne Rücksicht auf die arabischen Bewohner. Sie träumen sogar von einem neuen Tempel an Stelle der al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms“, ergänzt Mareike. „Ja, auch wir haben unsere Fanatiker. Aber wir erziehen in den Synagogen keine Selbstmordattentäter heran. Scheich Salah verspricht sogenannten Märtyrern 72 Jungfrauen im Paradies. Unsere Radikalen bauen illegale Siedlungen, aber sprengen sich und andere nicht in die Luft. Juden warten auf den Messias und nicht auf Jungfrauen.“ 68

„Wer den Messias herbeiruft, indem er die Kontrolle über den Tempelberg übernimmt, zündelt mehr als nur an einem Pulverfass. Die Erwartung des Messias ist scheinbar ebenso gefährlich wie die Hoffnung auf Jungfrauen.“ Mareike kann sich diesen Seitenhieb nicht verkneifen. Sie hat den Eindruck, dass Jossi die Befürchtungen der Palästinenser nicht ernst nimmt. Der von Muslimen verbreitete Ruf „al-Aqsa ist in Gefahr“ kann wohl kaum nur als Propaganda abgetan werden. „Meine Liebe, jetzt gehst du zu weit. Haben dich deine Palästinenser eingekauft? Du kannst wirklich nicht die wenigen Extremisten in unseren Reihen mit dem weltweiten Islamismus vergleichen. So viele Jungfrauen kann es nicht geben, wie dort versprochen werden. Ich für meinen Teil hoffe nicht auf Jungfrauen im Paradies, schon gar nicht wenn diese junge Frau an meiner Seite ist.“ Jossi versucht, seinen Ärger als Scherz zu überdecken. „Die Muslime müssen verstehen, dass für uns Juden unser Glaube der Garant unserer Existenz ist. Der Tempel als Bauwerk und Traumbild hat unsere Geschichte bestimmt. Ohne diesen Glauben gäbe es uns längst nicht mehr. Wir wären eine kleine Episode der Geschichte. Wenn du meine Eltern kennenlernst, wirst du sehen, wie der Glaube unser Leben prägt. Lass uns in die Altstadt gehen. Dort müssen auf engstem Raum Juden, Christen und Muslime in all ihrer Verschiedenheit miteinander auskommen. Komm, wir schauen uns das an, schöne junge Frau.“ Lächelnd reicht Jossi Mareike die Hand und hilft ihr aufzustehen.

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16. Kapitel Mareike und Jossi schlendern Richtung Altstadt. Sie durchqueren das Jaffator und befinden sich in einem einmaligen Labyrinth aus verwinkelten, schmalen Gassen. Für Mareike ist es nicht der erste Besuch. Dennoch: Der Trubel, die Menschen, die vielen Händler mit ihren kleinen Geschäften, die unterschiedlichen Quartiere mit ihren Sehenswürdigkeiten, die Überraschungen nehmen kein Ende. Und mit Jossi an der Hand fällt ein neuer Glanz auf diesen besonderen Ort. Sie setzen sich in ein kleines Restaurant und beobachten, wie sich Ströme von Menschen ihren Weg bahnen. Es bietet sich ihnen ein buntes Bild, gleichsam ein Kaleidoskop der Welt. Leichtbekleidete Touristen, Pilgergruppen mit ihren Führern, Mönche in ihren braunen Kutten, muslimische Frauen, die bis auf ihr Gesicht verhüllt sind, Juden mit Kippa und auffälligen Pelzhüten ziehen an ihnen vorüber. Mareike könnte stundenlang sitzen und schauen. „Es ist unglaublich, dass Menschen aus aller Welt sich von dieser Stadt angezogen fühlen.“ Mareike spricht mehr zu sich selbst als zu Jossi. „Welche Bedeutung hat dieser Ort für dich?“ Jetzt ist Jossi direkt angesprochen. Er überlegt lange, bevor er antwortet. „Du stellst Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Jerusalem ist die Stadt meiner Väter. Juden haben hier vor mehr als 3.000 Jahren gelebt. Es ist zugleich die Stadt Gottes. König Salomo errichtete den ersten Jerusalemer Tempel, den die Babylonier zerstört haben. Der zweite Tempel ist von den Römern zerstört worden. Auch in den Zeiten der Zerstreuung, als Juden nicht in Jerusalem siedeln durften, blieb die Hoffnung auf Zion wach. ‚Nächstes Jahr in Jerusalem‘, mit diesem Wunsch endet seit Jahrhunderten der Sederabend. Jerusalem ist für Juden Wirklichkeit und Traum zugleich. Wir verbinden mit dieser Stadt den Traum 70

eines ewigen Friedens. Du weißt, dass die Gründung des Staates an einem seidenen Faden hing. Wir haben den Krieg unter großen Opfern gewonnen. Was viele als ein Wunder bezeichnen, war geschehen: Nach 2.000 Jahren der Zerstreuung in alle Welt konnten Juden wieder in ihr angestammtes Land zurückkehren. Jerusalem blieb eine geteilte Stadt. Die Altstadt mit den heiligen Stätten hatten die Jordanier erobert. Juden hatten keinen Zutritt. Erst nach dem Sechs-Tage-Krieg wurde die Stadt wieder vereint. Juden konnten an der Klagemauer, der Kotel, wie es auf Hebräisch heißt, wieder beten. Ich kenne die Bilder der ersten betenden Soldaten lediglich aus dem Schulbuch. Aber mein Vater erzählt heute noch mit Tränen in den Augen von seinem ersten Besuch, als wäre es gestern geschehen. Es war einen Monat nach Beendigung des Krieges im Juli 1967. Wenn ich vor der Westmauer, der Umfassung des alten Tempels, stehe, hält mich unsere Geschichte gefangen. Es gibt keinen anderen Ort, an dem ich ihr so nahe bin. Beten kann ich an jedem Ort. Aber das Gefühl, mit der Geschichte meines Volkes verbunden zu sein, ist überwältigend.“ Mareike ist beeindruckt, wie Jossi mit wenigen Worten Jahrhunderte zu einer Erzählung verknüpfen kann. Keine Stadt trägt so viel Geschichte mit sich herum wie diese. Auch Christen sind hier auf den Spuren ihrer Geschichte. Scharen christlicher Pilger besuchen jedes Jahr die Grabeskirche. Die leere Grabhöhle verweist auf den auferstandenen Christus, die Vielzahl der Altäre auf die Vielfalt christlicher Kirchen. Für viele ist der Besuch ein spiritueller Höhepunkt. Mareike kann sich an besondere religiöse Gefühle nicht erinnern. Pilgergruppen und ihre Orte haben etwas Anstrengendes. „Wir müssen unsere Geschichte kennen. Aber Geschichte kann eine Last sein. Wird Jerusalem diese Last tragen können oder droht es daran zu zerbrechen? Der Tempelberg war wiederholt Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen.“ Sie blickt fragend 71

zu Jossi, erwartet aber eigentlich keine Antwort. Jossi muss das gespürt haben. Er umgreift zärtlich ihren Kopf. Sie küssen sich. Sie durchqueren das christliche Viertel, befinden sich im arabischen Teil der Altstadt und gehen die schmale Gasse bergab in Richtung Tempelberg. Mareike will sich nach den historischen Exkursen mit einem Blick von der Klagemauer und dem Felsendom für den heutigen Tag von der Altstadt verabschieden. Sie kommen nicht weit. Der Weg wird ihnen abgeschnitten. Polizisten haben den Zugang zum Tempelberg abgeriegelt. Sie werden in eine Gasse abgedrängt, die das christliche vom arabischen Viertel trennt und zum Damaskustor führt. Plötzlich kommt ein Mann laut schreiend auf sie zu gerannt. Er hat ein Messer in der Hand. Jossi drängt Mareike in den Eingang eines Ladens und stellt sich schützend vor sie. Der Mann rennt an ihnen vorbei, sein Ziel sind die Polizisten am Ende der Gasse. Jossi schreit laut auf, er will die Polizisten warnen. Der Mann ruft laut und vernehmlich „Allahu akbar“ und stürmt auf die Polizisten zu. Alles spielt sich in Sekundenschnelle ab. Eine Polizistin geht zu Boden. Es fallen Schüsse. Der Attentäter liegt in einer Blutlache. Mareike zittert am ganzen Körper. Der Schock sitzt tief. Tränen rinnen über ihr Gesicht. Jossi hält sie fest umklammert. Sie stützen sich gegenseitig. Auch Jossi ist der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Seine Erinnerungen haben ihn eingeholt. Das ist kein Albtraum. Wirklicher kann Realität nicht sein. Sanitäter sind gekommen. Sie versorgen die verletzte Polizistin. Der Leichnam des Attentäters liegt unter einem Tuch. Mareike und Jossi wollen den Ort des Schreckens verlassen, werden aber von einem Polizeibeamten zurückgehalten. Sie sind Zeugen des Geschehens und müssen eine Aussage machen. Der Laden eines Händlers wird als provisorisches Untersuchungsbüro genutzt. Hier macht Jossi seine Aussagen. Die Beamten notieren sich Namen und Adressen der beiden. 72

„Euch ist nichts passiert. Ihr habt Glück gehabt. Das hätte ein Blutbad werden können“, sagt ein freundlicher Polizist. „Dein Rufen hat die Polizisten vorgewarnt. So konnte Schlimmeres verhindert werden. Die Verletzung der Polizistin ist ernst, aber nicht lebensbedrohlich.“ Jossi ist sichtbar erleichtert. Die Worte des Beamten haben ihm gut getan. Er hat Mareike beschützt. Hätte er sich dem Attentäter in den Weg stellen müssen? Mit einer Waffe wäre er dazu verpflichtet gewesen. Ein Polizist begleitet die beiden aus der Altstadt. Das Damaskustor ist geschlossen, der Tempelberg auch für muslimische Besucher abgeriegelt. Ein Taxi bringt Mareike und Jossi in seine kleine Wohnung im Westteil der Stadt. Nach Talitha Kumi zurück zu fahren ist für Mareike nach diesem Erlebnis nicht denkbar. Sie liegen eng umschlungen auf Jossis Matratze. Das kleine Zimmer wirkt wie eine Schutzburg. Hier sind wir sicher, denkt Mareike. Sie sucht immer noch nach Worten, um das Erlebte zu verarbeiten. Der Text eines Liedes fällt ihr ein. Es ist ein christliches Dank- und Loblied. Mit der Melodie im Kopf wird sie ruhiger. Ihre Hand greift nach Jossi. Sie sucht sein Gesicht. Sie finden sich, ihre Hände entdecken sich gegenseitig. Es gibt viel zu ertasten. Mareike spürt, wie Jossi ihren Körper sanft für sich erobert. Seine Berührungen öffnen ungeahnte Sphären. Ihre Körper verschmelzen. Tränen kommen wieder. Es sind Tränen des Glücks, der Wonne. Sie könnte schreien. Wie vom Kamm einer Riesenwelle stürzt sie sich in ein Meer von Gefühlen. In dieser Nacht erzählt Jossi ihr von seinen Albträumen. Sie erleben den Schrecken des Todes gemeinsam. Mareike trocknet mit ihrem Mund seine Tränen. Sie sprechen über den Selbstmordattentäter. Wie ist es möglich, dass Menschen ihr Leben einfach wegwerfen?

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17. Kapitel Jossis kleine Wohnung entwickelt sich zu einer Liebesinsel. Mareike hat ihre Arbeit im Kindergarten für einige Tage unterbrochen. Sie sind jetzt Tag und Nacht zusammen. Ein Liebespaar in einer komplizierten Welt. Die Begegnung mit dem Tod macht das Leben unendlich kostbar. Hinzu kommt die Erfahrung der Liebe. Mareike hat das Gefühl, als hätte sie eine Grenze überschritten, als hätte das Leben noch einmal begonnen. Mareike genießt die Zeit mit Jossi. In Berlin war sie Stadtführerin, jetzt ist es umgekehrt. Berlin und Jerusalem. Zwei Hauptstädte, die geteilt waren. Im Gegensatz zu Berlin ist in Jerusalem die Teilung weiterhin gegenwärtig. Jerusalem ist die Hauptstadt Israels, West- und Ostteil sind per Gesetz zu einer Stadt vereinigt worden. Aber die Annektierung von Ostjerusalem wird von der Staatengemeinschaft nicht anerkannt. Daher befinden sich die diplomatischen Vertretungen, auch die deutsche Botschaft, in Tel Aviv. Der endgültige Status der Stadt soll nach dem Willen der UNO erst im Rahmen einer umfassenden Friedensregelung erfolgen, da die Palästinenser vehement Ostjerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates einfordern. Jossi zeigt Mareike den Westteil der Stadt. Sie besichtigen die Knesset, das israelische Parlament, den Schrein des Buches mit den Qumranrollen und Yad Vashem. Mit dem Besuch von Yad Vashem, der Erinnerungsstätte für den millionenfachen Mord an jüdischen Männern, Frauen und Kindern, ist ihr die Tragweite und Bedeutung der Gründung des Staates Israel neu deutlich geworden. Juden aus aller Welt haben eine Zuflucht bekommen. Ein Fenster der Geschichte hat sich für ein Volk in der Zerstreuung geöffnet. Das Trauma der Vernichtung und der Traum eines eigenen Staates sind hier spürbar wie an keinem anderen Ort. Jeder 74

Jude, der nach Israel einwandert, ist automatisch Staatsbürger. Damit ist Israel ein einzigartiges Einwanderungsland. Das hat Mareike auch vorher gewusst. Mit Jossi bekommt diese Tatsache eine neue Bedeutung. Sie möchte mehr über die Familie von Jossi wissen. Unter welchen Umständen ist sie eingewandert? Hatte sie unter Verfolgungen zu leiden? Sind Mitglieder der Familie von den Nazis ermordet worden? Sie traut sich diese Fragen kaum zu stellen. Die Scham über die deutsche Geschichte ist nach Yad Vashem nicht in Worte zu kleiden. „Jossi, was weißt du über die Geschichte deiner Familie? Darf ich dich danach fragen?“ Mareikes Stimme hat einen zögerlichen Klang. „Da gibt es keine Geheimnisse. Du darfst alles wissen. Leider weiß ich viel zu wenig über meine Großeltern. Ich habe nur wenige Erinnerungen an sie. Sie sind früh gestorben. Mein Vater hat erzählt, dass sein Vater, also mein Großvater, bereits vor der Staatsgründung nach Palästina eingewandert ist. Er lebte zuvor in Bagdad. Dort gab es eine große jüdische Gemeinschaft mit einer jahrhundertelangen Tradition. Nach der Zerstörung des ersten Tempels wurden Juden nach Babylon in die Gefangenschaft geführt. Der persische König Kyrus erlaubte ihre Rückkehr. Aber nicht alle Juden nahmen das Angebot an. Babylon ist immer ein Zentrum jüdischer Kultur geblieben. Mein Großvater, das habe ich selber erlebt, war in Gedanken oft in Bagdad. Er muss diese Stadt sehr geliebt haben. Denn er schwärmte von dem Treiben und den Gerüchen des jüdischen Basars mit seinen hunderten von Ständen und kleinen Geschäften. Er hat dafür gesorgt, dass die arabische Küche bei uns zu Hause einen Ehrenplatz einnahm.“ „Warum ist dein Großvater nach Palästina eingewandert?“, unterbricht Mareike Jossi. Sie kennt inzwischen seine Vorliebe für historische Exkurse. 75

„Die Lage für die Juden in Bagdad hatte sich dramatisch verschlechtert. Im Sommer 1941 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen mit vielen Toten. Tausende von muslimischen Irakern zogen plündernd und mordend durch das jüdische Viertel. Nur wenige Monate später hat mein Großvater Bagdad verlassen. Fast alle irakischen Juden kamen in den folgenden Jahren nach Israel. Jüdisches Leben war nach der Staatsgründung in arabischen Staaten nicht mehr möglich. Die Schmach der Niederlage gegen eine kleine jüdische Armee entlud sich im Hass gegen die Juden. Mehr als 600.000 arabische Juden sind in den ersten Jahren nach der Gründung des Staates eingewandert. Auch mein Großvater musste mehrere Jahre in einem der Aufnahmelager verbringen, bis er eine eigene Bleibe finden konnte. Es waren schlimme Zeiten. Wir können uns das heute nicht mehr vorstellen. Die Neuankömmlinge wurden in Israel Mizrahim genannt. Das bedeutet wörtlich übersetzt „Ostler“. Das war alles andere als ein Kosename. Sie hatten es schwer, standen am Rande der Gesellschaft. Allein die Tatsache, dass sie arabisch sprachen, eine Vorliebe für arabisches Essen und arabische Musik hatten, machte sie zu Fremden. Jedenfalls aus der Sicht der Generation der Pioniere, die das Land aufgebaut hatten. Diese kamen vorrangig aus dem europäischen Judentum und werden als Ashkenasim bezeichnet. Ihre Vertreter besetzten im neuen Staat jahrzehntelang alle wichtigen Positionen. Zu unserer Geschichte gehört auch ihre Schattenseite. Ich glaube, ich habe mich für das Studium der Geschichte auch deshalb entschieden, weil meine Familie jüdisch-irakisch-arabische Wurzeln hat.“ Mareike betrachtet Jossi mit erstauntem Blick. Jossi ist also ein „Ostler“ und Araber zugleich! Ihr Bild des Landes mit der klaren Unterscheidung von Juden und Arabern kommt ins Wanken. Wie viel muss ich noch lernen, um das Land wirklich ver76

stehen zu können, murmelt sie kaum hörbar. Von der großen Kluft zwischen dem europäischen und arabischen Judentum hat sie bisher noch nichts gehört. In Deutschland wird nach Jahrzehnten der Wiedervereinigung weiterhin von Westlern und Ostlern gesprochen. Der Prozess des Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten ist noch lange nicht abgeschlossen. Welche Hürden mussten also in Israel übersprungen werden, damit Juden aus aller Welt zusammenleben konnten? Vom Exil der Juden in Babylon, dem heutigen Irak, ist im Religionsunterricht gesprochen worden. Sie kann sich erinnern, dass der zweite Schöpfungsbericht der Bibel, das priesterschriftliche Schöpfungslied, in der Zeit des Exils entstanden ist. In Gedanken versunken summt sie das bekannte Lied „By the rivers of Babylon …“ vor sich hin. Jossi hat viel von seiner Familiengeschichte preisgegeben. Jetzt ist sie gespannt auf die Begegnung mit seinen Eltern.

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18. Kapitel Freitag. Der Tag ist gekommen. Sie sitzen im Bus und fahren von Jerusalem nach Tel Aviv. Mareike ist froh, dass sie Jossi an ihrer Seite hat. In dem riesigen Busbahnhof in Jerusalem hätte sie sich mit Sicherheit verlaufen. Busse fahren von hier in alle Richtungen des Landes. Die Zugänge zu den Bussen sind mit Nummern gekennzeichnet, wie auf einem Flughafen. Über eine Rampe führt der Weg zu den Bussen im unteren Bereich des Gebäudes. Der obere Bereich ist ein verwinkeltes Kaufhaus mit vielen Etagen. An die Kontrollen an den Eingängen hat sich Mareike gewöhnt. Selbst in kleinsten Supermärkten steht an der Eingangstür ein Wachmann, der sich Einkaufstaschen und Rucksäcke zeigen lässt und sorgfältig kontrolliert. Jerusalem ist die Stadt auf den Bergen. Der Name Zion steht für Berg, Stadt und Land zugleich. Der Höhenunterschied zu Tel Aviv beträgt rund 800 Meter. Die gewundene Autobahn führt den Bus in die Ebene. Die Fahrt dauert rund eineinhalb Stunden. In Tel Aviv werden sie von Jossis Schwester, ihrem Mann und dem kleinen Itzhak erwartet. Sie fahren mit dem Auto zum Haus der Eltern. „Schalom. Herzlich willkommen. Kommt herein“, sagt Jossis Vater. Mareike blickt in ein freundliches Gesicht, das die Besucher ins Haus führt. Sie gehen in das Wohnzimmer, wo sie von Jossis Mutter erwartet werden. Die Mutter umarmt Mareike. „Wie schön, dass wir dich endlich kennenlernen. Jossi hat uns so viel von dir erzählt“, sagt sie mit einer warmen Stimme. Nach dieser herzlichen Begrüßung ist Mareikes Nervosität fast verflogen. Die Familie gibt ihr das Gefühl, als gehöre sie dazu. Sie ist die Freundin von Jossi. Es gibt vor dem Abendessen 78

Kaffee und Gebäck. Jossi berichtet von ihren Aktivitäten der letzten Tage. Das Schreckenserlebnis in der Altstadt umgeht er. Das Gespräch dreht sich um die kleinen Dinge des Alltags. Der niedliche Itzhak steht wie immer im Mittelpunkt des Geschehens. Er betrachtet Mareike mit großen Augen. Wer ist diese fremde Frau, scheinen sie zu fragen. Mareike sucht den Kontakt zu ihm. Sie zeigt ihm eines ihrer Fingerspiele, die sie mit ihren Kindern in Talitha Kumi spielt. Das Eis ist gebrochen. Eltern, Schwester, Schwager, Jossi und Itzhak beobachten lachend ihre kleine Vorführung. „Deine Kinder im Kindergarten werden dich sicherlich sehr mögen“, sagt Jossis Mutter bewundernd. „Welche Aufgaben hast du in deiner Einrichtung?“ Jetzt steht Mareike plötzlich im Mittelpunkt des Gesprächs. Sie erzählt von ihrer Arbeit, den Kindern und beschreibt ihren Arbeitsalltag. „Warum hast du dir eine Schule in der Westbank ausgesucht? Wusstest du, was auf dich zukommt?“, fragt Jossis Vater. Mareike zögert mit der Antwort. Wie ist die Frage gemeint? Geht es um ihre persönlichen Motive für das freiwillige Jahr? Oder steht hinter der Frage die Kritik einer indirekten Parteinahme für die Palästinenser? Sie erinnert sich noch genau an Jossis Bemerkung. „Was mich erwarten würde, konnte ich nur ahnen. Wir sind im Rahmen von mehreren Seminaren auf unser freiwilliges Jahr als Volontäre vorbereitet worden. Wir haben Informationen über die Situation in Palästina und Israel bekommen. Aber die Wirklichkeit ist immer anders als vorgestellt. Wenn ich mit meinen Kindern in Talitha Kumi zusammen bin, habe ich das Gefühl, in einer ganz normalen Einrichtung zu arbeiten. Die Kinder verhalten sich nicht viel anders, als Kinder in einem deutschen Kindergarten. Sie lachen, spielen, streiten, versöh79

nen sich und sind so bewundernswert neugierig. So wie Kinder eben sind. Verlasse ich aber unseren Bildungscampus, begegnet mir eine Welt voller ungelöster Konflikte. Ich habe nicht gewusst, wie kompliziert die Situation ist. Jossi und ich haben vor wenigen Tagen einen Selbstmordanschlag erlebt. Ich verstehe bis heute nicht, wie Menschen so etwas tun können.“ Mareikes letzte Bemerkung löst einen Sturm von Fragen aus. Sie sieht die sorgenvollen Blicke der Eltern. Jetzt muss Jossi erklären, was passiert ist. Alle reden gleichzeitig. Entrüstung, Ärger und Wut sind zu spüren. Der kleine Itzhak nimmt die Spannung in der Familie wahr. Er fängt an zu weinen. Jossis Mutter steht tröstend auf. Sie blickt zu Mareike. „Wir danken Gott, dass euch nichts passiert ist“, sagt sie und drückt Mareike fest an sich. Mareike bekommt vor Rührung feuchte Augen. Sie fühlt sich in den festen Armen der Mutter geborgen. Sie hat den Eindruck, dass die Situation, Matsav wie Jossi sagt, auch das Lebensgefühl der Familie bestimmt. Wie kann eine Familie angesichts der Spannungen und Bedrohungen so viel Glück und Zufriedenheit ausstrahlen, fragt sich Mareike. Sie spürt einen Zusammenhalt, den sie in ihrer Familie oft vermisst hat. Dann beginnen die Vorbereitungen für das Abendessen. Mareike weiß, dass in Jossis Familie der Freitagabend mit einem traditionellen jüdischen Sabbatritual gefeiert wird. Mit der Feier wird der Sabbat eingeleitet. Er beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend. Der Sabbat ist ein Ruhetag. Er erinnert an Gottes Ruhetag während der Schöpfung und an die Befreiung Israels aus Ägypten. Jossi hat den Sabbat als das wohl größte Geschenk der Juden an die Welt bezeichnet. Das findet Mareike zwar etwas übertrieben. Aber sie weiß, dass die Christen ihren arbeitsfreien Sonntag dem jüdischen Sabbat zu verdanken haben. Das Sabbatgebot ist eines der Zehn Gebote, 80

die Mose von Gott empfangen hat. Das christliche Gebot der Sonntagsruhe ist ebenso davon abgeleitet, zugleich aber ist es ein Gedenken an die Auferstehung Christi. Nun ist sie auf die Zeremonie der Feier gespannt. Jossis Mutter hat den Tisch vorbereitet. In der Mitte des Tisches stehen zwei Kerzenständer mit Kerzen, ein Teller mit zwei Broten, die mit einem Tuch zugedeckt sind, und ein mit Wein gefüllter Becher. Die Familie ist stehend um den Tisch versammelt. Das Ritual kann beginnen. Auf Bitten der Mutter darf Mareike die Kerzen anzünden. Jossis Vater nimmt den übervollen Weinbecher in die Hand, hebt ihn hoch und spricht das Segenswort, den Kiddusch. »Gesegnet seist du, Adonai, König der Welt, der die Frucht des Weinstocks geschaffen hat“, sagt er mit feierlicher Stimme. Dann nimmt er einen Schluck aus dem Becher und reicht ihn an alle weiter. Auch Mareike trinkt aus dem Becher. Dann nimmt er das Tuch von den Broten und spricht ein zweites Segenswort. Er bricht das Brot in Stücke, bestreut sie mit Salz und reicht die Stücke an die Familie weiter. „Shabbat Schalom“, einen „Sabbat des Friedens“ wünschen sie sich gegenseitig. Der Sabbat hat begonnen. Jetzt wird in mehreren Gängen gegessen. Mareike ist beeindruckt von der Sabbatfeier. Der tiefe Ernst, das gemeinschaftliche Essen und Trinken bewirken ein Gefühl, das sie an ihr erstes Abendmahl nach der Konfirmation erinnert. Brot und Wein. Die Zeichen des Lebens. Im Abendmahl der Kirche die Zeichen der Erinnerung an Jesu Tod und der Versöhnung mit Gott. Sie ist überrascht, dass sich zwischen dem jüdischen Sabbatritual und dem christlichen Abendmahl bei aller Verschiedenheit gemeinsame Motive entdecken lassen.

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19. Kapitel Mareike und Jossi fahren die Straße am Meer entlang Richtung Norden. Sie haben bei der Schwester in Tel Aviv übernachtet und sich von ihr ein Auto ausgeliehen. Jossi möchte Mareike Orte zeigen, an denen sich die Geschichte und das Selbstverständnis des Staates Israel zeigen lassen. Mareike hat sich mit ihrem Herzen für ihn entschieden. Das Gefühl schenkt sie ihm jeden Tag. Jossi hofft, dass sich auch ihr Herz für sein Land öffnet. Sie soll einen Eindruck von seiner Schönheit bekommen und mit eigenen Augen sehen, was die Generationen der Pioniere geleistet haben. Jossi möchte, dass Mareike seine Liebe zum Land nachempfinden kann. Und sie soll verstehen, warum Israel keine Kompromisse eingehen kann, wenn es um seine Sicherheit geht. Mareike genießt die Autofahrt mit Jossi. Sie reden über den Verlauf des gestrigen Abends. „Meine Familie ist begeistert von dir. Auch meine kritische Mutter hat deutlich gezeigt, wie sehr sie dich mag“, sagt Jossi. „Du gehörst jetzt zur Familie.“ Mareike ist glücklich. Das Gefühl, gemocht zu werden, ist wunderbar. Sie sprechen über die Sabbatfeier. Mareike berichtet von ihren Eindrücken. Sie erklärt Jossi die Praxis der Abendmahlsfeier in der Kirche. Beide staunen, dass es Berührungspunkte zwischen beiden Feierritualen gibt. „Welche Bedeutung hat der jüdische Glaube für deine Eltern?“, fragt Mareike Jossi. „Der Glaube ist uns wichtig. Wir würden uns als fromme Juden bezeichnen. Fromm, aber nicht im Sinne der Schwarzhüte. Die Orthodoxen meinen, dass nur sie allein die wahren Frommen sind. Der Sabbat ist ein wichtiger Ruhetag. Aber du 82

siehst, Autofahren ist für mich nicht verboten. Wir essen kein Schweinefleisch und meine Mutter hält sich an Regeln für koscheres Essen. Sie versucht Milch- und Fleischspeisen getrennt zuzubereiten. Die koschere Küche ist eine Wissenschaft für sich. Ich esse alles, was auf den Tisch kommt. Mein Vater geht freitags in der Regel in die Synagoge zum Beten. Ich bin kein regelmäßiger Synagogengänger. Juden mit arabischen Wurzeln gelten als traditionell gesinnte Juden. Wir sind traditionell, aber nicht dogmatisch. Kannst du damit leben?“ „Solange deine Eltern nicht erwarten, dass ich mit langem Rock und einer Perücke herumlaufe, kann ich mit allem leben“, antwortet Mareike lachend. „Schade, eine schönere orthodoxe Frau könnte ich mir nicht vorstellen. Für die Orthodoxen wärst du im besten Heiratsalter. Natürlich gilt bei den Orthodoxen, dass der Mann als Haupt der Familie die bestimmende Autorität ist. Das würde dir doch nicht schwerfallen. Oder doch?“ „Ihr Juden seid nicht viel besser als die Muslime. Frauen haben es in beiden Religionen schwer. Weil die Männer ihre Begierden nicht im Griff haben, müssen sich Frauen verhüllen und werden eingesperrt.“ „Das kann mir nicht passieren. Ich habe meine lüsternden Wünsche immer im Griff“, antwortet Jossi lachend und seine Hand gleitet zärtlich auf ihren Oberschenkel. Mareike nimmt seine Hand. „Jetzt bist du an der Reihe. Welche Bedeutung hat die Religion für deine Familie?“, fragt Jossi. „Meine Eltern sind überzeugte Christen. Sie gehen regelmäßig zum Gottesdienst ihrer Kirche. Es ist eine christliche Gemeinde mit einer besonderen Ausrichtung. Der Glaube ist an Jesus Christus orientiert. Die Bibel ist das unbefragte Wort Gottes. Ich empfinde diese Frömmigkeit als eng und extrem. 83

Das gemeinsame Singen der Lobpreislieder hatte auf mich immer eine starke Wirkung. Meine Eltern würden am liebsten meinen zukünftigen Ehemann aus der Gemeinde aussuchen. Aber diese Zeiten sind endgültig vorbei. Das wissen auch meine Eltern. Sie lassen mir alle Freiheiten, auch wenn es ihnen schwer fällt. Du siehst, auch wir sind ein wenig traditionell, aber keine Dogmatiker. Irgendwie passen unsere Familien gut zusammen.“ Jossi kann ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. Mareike schafft es immer wieder, Gemeinsames zu entdecken, wo andere von Unterschieden sprechen würden. Sie ist eine Brückenbauerin. Sie will sich nicht damit abfinden, dass Religionen und Weltanschauungen Menschen trennen. Ist sie zu gut für diese Welt? Diesen Gedanken wagt er nicht auszusprechen. Die Zeit im Auto vergeht im Fluge. Sie sind im Norden Israels angekommen. Jossi hat Mareike das Hule-Tal gezeigt und die Quellflüsse des Jordans. Der Weg führt sie weiter auf den Golan. Teile des Golans gehören zu den Gebieten, die Israel neben Ostjerusalem annektiert hat. Jossi erklärt Mareike die strategische Bedeutung der Golanhöhen für die Sicherheit Israels. Im Oktober 1973 hat hier die syrische Armee einen Überraschungsangriff geführt. Er erfolgte an dem höchsten Feiertag, dem Versöhnungstag Jom Kippur. Neben Syrien und Ägypten griffen mehrere arabische Staaten Israel an. Nur unter großen Verlusten konnte Israel den Angriff abwehren. Auf der Fahrt auf dem Golan begegnen ihnen jüdische Siedlungen und Dörfer der Volksgruppe der Drusen. Vom Golan führt der Weg am See Genezareth und dem Berg Tabor vorbei in die Jesreelebene zum Kibbuz En Harod. Mareike ist von der Vielfalt der landschaftlichen Eindrücke begeistert. Höhenzüge, Bergmassive und Täler bilden ein unglaubliches Panorama. Sie hat das Gefühl, dass sich fast im 84

Minutentakt die Landschaft neu formiert. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass Israel von der Fläche her gesehen ein sehr kleines Land ist. Ein kleines, aber eindrucksvolles Land mit einer Geschichte, die an Dramatik nicht zu überbieten ist. Jossi hat En Harod als Ziel ihrer kleinen Reise ausgewählt. En Harod ist ein Kibbuz, der 1921 von russischen Juden gegründet worden ist. In den 20er Jahren bildete er das Zentrum der landesweiten Kibbuz-Bewegung. In En Harod haben Pioniere das Wunder vollbracht, ein ödes, durch Sümpfe und Malaria verseuchtes Tal in eine blühende Landschaft mit fruchtbarem Ackerland zu verwandeln. Der Kibbuz ist angelegt an der Talseite eines Höhenzuges. Die Häuser blicken auf das Tal, das mit Feldern und Plantagen wie ein bunter Flickenteppich wirkt. Mareike hat das Gefühl, in einer Ferienkolonie angekommen zu sein. Auffällig ist, dass in dem Kibbuz viele ältere Menschen leben, die mit kleinen Elektroautos die Wege von den Gemeinschaftseinrichtungen am Fuße des Berges zu den höher gelegenen Häusern bewältigen. Der Kibbuz hat ein Schwimmbad, ein Kunstmuseum und ein Museum zu Geschichte und Natur der Umgebung, ebenso eine Schule und einen Kindergarten. Er wirkt wie eine Insel in einer Landschaft im Wechselspiel von Tal und Berg. Mareike und Jossi besuchen eine Dauerausstellung, die die Geschichte des Kibbuz im Spiegel der Geschichte Israels zeigt. Ein Raum zeigt Bilder von Moshe Dayan, dem damaligen Verteidigungsminister. Dass hier ein Kriegsheld verehrt wird, ist Mareike auf den ersten Blick ersichtlich. Die Aufnahmen dokumentieren Verlauf und Folgen des Sechstagekrieges im Juni 1967. Leichname von Soldaten, ausgebrannte Panzer und apathische Gesichter von Gefangenen zeigen die eine Seite des Krieges. Die andere Seite sind Bilder von Soldaten mit strahlenden Gesichtern, die den Schauplatz des Krieges als Sieger verlassen. 85

Mareike verlässt mit einem bedrückten Gefühl die Ausstellungsräume. Die Geschichte Israels ist eine Geschichte von Kriegen. Das wusste sie auch vorher. Aber die Folgen des Krieges zu sehen, ist etwas anderes. Der Sechstagekrieg wird in der Ausstellung gefeiert wie eine zweite Staatsgründung. Die Grundlagen des Staates haben sich mit ihm in der Tat entscheidend verändert. Israel ist Besatzungsmacht. Es kontrolliert nun Gebiete wie den Gazastreifen und die Westbank mit einer arabischen Bevölkerung. Mareike fragt sich, ob die Helden des Krieges gewusst haben, welchen Preis die nachfolgende Generation für diesen Sieg zahlen wird. Wie ist es möglich, dass sich Triumph und Tragödie gegenseitig bedingen? Sie hat viel mit Jossi zu besprechen.

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20. Kapitel Am nächsten Morgen geht die Fahrt weiter. Jossi hat das nächste Ziel noch nicht verraten. Seine vagen Andeutungen haben Mareike neugierig gemacht. Von einem besonderen Ort mit einer tragischen Geschichte hat er gesprochen. Mehr konnte sie ihm nicht entlocken. Der Weg führt sie von der Jesreelebene in das Jordantal. Die ausgebaute Straße verläuft parallel zur jordanischen Grenze Richtung Totes Meer. „Wir durchqueren heute Samaria und Judäa. Alles keine großen Entfernungen“, sagt Jossi. „Wolltest du sagen, wir durchqueren das Westjordanland?“ Mareike ist immer wieder überrascht, dass in Israel nur noch von Samaria und Judäa gesprochen wird. Selbst auf Landkarten findet sich kein Grenzverlauf, der das besetzte Gebiet gesondert ausweist. „Für die Jordanier, die bis 1967 hier herrschten, war es das Gebiet jenseits des Jordans. Sie sprachen von Cisjordanien. Wir verwenden wieder die alten biblischen Bezeichnungen. Sie verdeutlichen die Zugehörigkeit zu Erez Israel, dem Land Israel.“ „In Talitha Kumi, aber auch in Deutschland, sprechen wir von den besetzten Gebieten. Die Palästinenser sprechen von Palästina und wünschen sich ihren eigenen Staat. Eine politisch korrekte Bezeichnung für ein strittiges Gebiet zu finden, ist nicht einfach.“ „Die Political Correctness der Europäer ist lächerlich. Ihr fordert seit Jahren eine Zweistaatenlösung, obwohl jeder weiß, dass dies unmöglich ist. Aber keiner traut es sich öffentlich zu sagen. Was für eine Doppelmoral.“ „Ach, jetzt beschimpfst du mich auch noch der Doppelmoral. Ich habe lediglich als deine Freundin, Deutsche und Euro87

päerin darauf hingewiesen, dass der Status der Westbank ungeklärt ist. Man kann nicht andere Menschen auf Dauer unter Besatzungsrecht stellen und gleichzeitig die Demokratie feiern. Das fällt für mich unter die Rubrik Doppelmoral.“ Mareike passt in unsere Gesellschaft, denkt Jossi. So wie sie streitet, kann sie mit jedem Juden mithalten. Er ist ein wenig stolz auf seine Freundin, zeigt es ihr natürlich nicht. Wenn sie doch einsehen würde, dass, solange die Palästinenser einen eigenen Staat fordern, es zur Besatzung keine Alternative gibt. Weitreichende Autonomieregelungen sind möglich, aber kein eigener Staat. „Israel ist im Nahen Osten der einzige demokratische Staat. Das wirst selbst du nicht bestreiten können“, sagt er. Mareike soll nicht das letzte Wort haben. Mareike vergeht die Lust zum Streit angesichts des atemberaubenden Ausblickes. Sie haben Jericho umfahren und stoßen auf eine Straße, die direkt am Toten Meer entlang führt. Mareike hat Bilder vom Toten Meer gesehen. Die direkte Begegnung mit diesem einmaligen Naturschauspiel ist etwas Anderes. Der Jordangraben liegt hier mehr als 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Kein See oder Meer der Welt ist tiefer gelegen. Das Tote Meer hat keinen Abfluss. Im trockenen Wüstenklima verdunstet das Wasser. Dadurch ist der hohe Salz- und Mineralgehalt entstanden. Die Bilder von Touristen, die im Meer auf dem Rücken schwimmend Zeitung lesen, sind weltbekannt. Mit dem Südwestende des Toten Meeres haben Mareike und Jossi ihr Ziel erreicht. Vor ihnen erhebt sich ein einzelner Berg mit einem großflächigen Gipfelplateau. Masada. Eine Festungsanlage mit einer tragischen Geschichte. Mareike hat von dieser Geschichte gehört, den Ort des historischen Geschehens aber noch nie gesehen. Nun führt sie der Schlangenpfad am Ostabhang hinauf zum Plateau. Oben angelangt eröffnet sich ihnen eine großartige Aussicht über die 88

Judäische Wüste und das Tote Meer. König Herodes I. hat hier zwischen 40 und 30 v.Chr. eine als uneinnehmbar geltende Festungsanlage mit Königspalast und entsprechenden Gebäuden bauen lassen. Berühmt-berüchtigt wurde Masada durch den Selbstmord von 960 jüdischen Rebellen, Männer, Frauen und Kinder. Sie wollten lieber als freie Menschen sterben als den Römern in die Hände fallen. Die von den Römern künstlich errichtete Belagerungsrampe ist immer noch gut zu erkennen. Mareike spürt, mit welcher inneren Betroffenheit Jossi ihr das Geschehen schildert, das der jüdische Historiker Flavius Josephus aus dem 1. Jahrhundert nach Christus in allen Einzelheiten überliefert hat. Wie kann ein Ereignis nach so langer Zeit solch eine Wirkung entfalten?, fragt sie sich verwundert. „Masada hat für unseren Staat eine besondere Bedeutung. Hier haben Juden gezeigt, dass sie lieber den Tod wählen als die Sklaverei. Masada ist für uns ein Symbol jüdischen Freiheitswillens. Wir zeigen hier, dass wir uns von keiner Macht der Welt unterwerfen lassen. Ich bin auf diesem Plateau als Soldat vereidigt worden. Es war ein unvergesslicher Tag. Wir sind mitten in der Nacht aufgebrochen und haben den Sonnenaufgang über dem Toten Meer erlebt. Dann kam die Zeremonie der Vereidigung. Wir haben geschworen, dass wir unser Land auch mit dem Einsatz des eigenen Lebens verteidigen werden. Nur wenn wir Stärke zeigen, können wir gegenüber der Überzahl der arabischen Armeen bestehen. Wir sind ein kleines Land und mussten lernen zu kämpfen. Unser Schicksal lag seit der Ausrufung des Staates in der Hand unserer Streitkräfte. Leider wird es auch so bleiben.“ Jossi endet mit einer gebrochenen Stimme. Mareike sieht den Stolz, aber auch die Trauer in seinen Augen. Er ist ein Sabr­e, außen stachlig, aber innen weich und süß wie die gleich­namige Kaktusfrucht. Sie betrachtet ihn mit einer Mischung aus Schrecken, Bewunderung, Mitleid und Liebe. 89

„Ich habe immer gedacht, dass wir Menschen nur in einer friedlichen Welt glücklich sein können. Es muss unheimlich schwer sein, mit dieser Anspannung Glück zu empfinden. Dennoch habe ich in deiner Familie eine Wärme und Zuneigung gespürt, die ich in meiner Familie oft vermisse.“ Mareike ist sich nicht sicher, ob Jossi verstanden hat, was sich nur schwer in Worte fassen lässt. In Israel / Palästina ist ihr Lebensgefühl ins Wanken geraten. Sie sieht sich mit Widersprüchen und Spannungen konfrontiert wie noch nie in ihrem Leben. Es ist, als wolle jemand den Teppich unter ihren Füßen wegziehen. Gewissheiten, die bisher ungefragt galten, werden brüchig. Leben wir in einer Welt, in der Krieg das Leben bestimmt? Ist Friede nur ein naiver Traum? Sie verlassen schweigend, Hand in Hand, einen Ort, der für Mareike mehr Fragen als Antworten verheißt. Masada ist die letzte Station ihrer Rundfahrt gewesen. Jetzt geht es zurück. Sie durchqueren die Judäische Wüste und stoßen auf die Schnellstraße 6, die sie zur Rückgabe des geliehenen Autos nach Tel Aviv führt. Jossi erzählt im Auto, dass die Generation seiner Eltern an die Möglichkeit von Frieden geglaubt habe. Die Friedensgespräche in Oslo in den neunziger Jahren, die Verleihung des Friedensnobelpreises an Ministerpräsident Rabin, Außenminister Peres und den Führer der Palästinenser Arafat schienen eine neue Zeit anzukündigen. Doch dann versetzte eine Welle von palästinensischen Anschlägen die Menschen in Angst und Schrecken. Busse in Tel Aviv explodierten. Seine Eltern sind jahrelang in kein öffentliches Verkehrsmittel eingestiegen. Sie haben Rabin verehrt. Seine Ermordung durch einen jüdischen Extremisten hat sie schwer getroffen. Die Friedensträume seiner Eltern haben sich in Luft aufgelöst. Sie haben die Hoffnung aufgegeben, dass sich zu ihren Lebzeiten die Situation noch grundlegend ändern wird. 90

Die Schilderungen von Jossi drücken die Stimmung im Auto nur für kurze Zeit. Sie finden im Radio bekannte Songs, die sie lautstark mitsingen. Es kann so einfach sein, von der Politik ins pralle Leben zu wechseln. Mareike könnte vor Glück heulen. Mit Jossi zusammen zu sein, ist ein Geschenk des Himmels. Nach der Rückgabe des Autos fahren sie mit dem Bus zurück nach Jerusalem. Auf Mareike warten die Kinder in Talitha Kumi. Jossi muss an seinem Abschlussbericht des Berliner Projekts arbeiten. Jossi bringt Mareike zur Busstation am Teddy Park. Sie haben noch Zeit für einen Spaziergang. „Das waren wunderbare Tage mit dir“, sagt Jossi. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so glücklich war. Meine Familie mag dich. Ich möchte jeden Tag mit dir zusammen sein. Wenn du zum Judentum übertrittst, könnten wir zusammen Kinder haben. Wir lieben uns, egal, ob in Jerusalem oder in Berlin.“ Mareike weiß nicht, wie ihr geschieht. Tränen schießen in ihre Augen. Sie bilden Rinnsale. Jossis Hände umgreifen ihre Wangen. Der Strom der Tränen nimmt kein Ende.

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21. Kapitel Mareike ist wieder in Talitha Kumi. Die Arbeit mit den Kindern strukturiert den Tagesablauf und gibt ihr inneren Halt. Oft muss sie an den tränenreichen Abschied von Jossi denken. Was war passiert? Warum konnte sie den Tränen nicht Einhalt gebieten? Jossi hat ihr seine Liebe offenbart. Das wäre doch ein Grund für Tränen der Freude. Er möchte mit ihr zusammenleben und sprach von der Gründung einer Familie. Er möchte Kinder. Auch ein Grund zur Freude. Aber der indirekte Heiratsantrag hat einen Haken. Jossi möchte Kinder von einer Frau, die Jüdin ist. Mareike ist Christin. Ihre Kinder sind, auch wenn Jossi der Vater ist, nicht Teil der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder zum Judentum übergetreten ist. Ein jahrtausendealter Grundsatz. Ihre Beziehung hat nur Zukunft, wenn sie zum Judentum übertritt. Sie muss sich entscheiden. Eine Lebensentscheidung. Wie sie sich auch entscheiden wird, sie wird etwas aufgeben müssen. Die Tränen haben den Abschied vorweg­ genommen. Er wird kommen, so oder so. Wie soll ich mich entscheiden, fragt Mareike sich. Mareike liebt Jossi, sie möchte ihn nicht verlieren. Aber ist der Übertritt zum Judentum denkbar? Die Religion wechseln wie das Hemd am Morgen? Ihre Eltern werden entsetzt sein. Jossi hat versucht zu erklären, dass seine Kinder ohne eine jüdische Mutter außerhalb der jüdischen Gesellschaft stehen würden. Religion und Volk gehören im Judentum zusammen. Für seine Eltern wäre die Ehe mit einer Christin das Schlimmste, was er ihnen antun könnte. Es wäre aus ihrer Sicht das Ende der Familie. Mareike hat mit dem Kopf verstehen können, was Jossi ihr sagen wollte. Ihr Bauch spricht eine andere Sprache. 92

Er fühlt sich an, als hätten sich Schmetterlinge in Kieselsteine verwandelt. Mareike und Jossi haben vereinbart, dass sie sich in den nächsten Tagen nicht treffen werden. Mareike möchte Zeit zum Nachdenken haben. Mareike stürzt sich in ihre Arbeit. Das fröhliche Lachen der Kinder ist ansteckend, es vertreibt die schweren Gedanken. Sie muss Besorgungen für den Kindergarten machen. Es fehlen Stifte, Zeichenblätter und mehr. Das Taxi mit Farid als Fahrer steht dafür zur Verfügung. Farid ist glücklich, dass er den Auftrag bekommen hat, mit Mareike die Einkäufe zu übernehmen. Er hat sie vermisst und seit dem Abendessen in seiner Familie nicht mehr getroffen. Nun sitzen sie nebeneinander im Taxi und fahren auf der staubigen Straße Richtung Bethlehem. Farid spürt sofort, dass Mareike irgendwie anders ist. Er vermisst ihre lockere Fröhlichkeit. Ihr ernster Blick, mit dem sie die Landschaft betrachtet, verunsichert ihn. Was ist seit ihrer letzten Begegnung passiert, dass sie so anders ist?, fragt er sich. „Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht gesehen“, fragt Farid vorsichtig. Mareike weiß nicht, wie sie antworten soll. Dass sie die Entscheidung ihres Lebens treffen muss, möchte sie Farid nicht offenbaren. Wenn sie doch Charlotte an ihrer Seite hätte, mit ihr könnte sie über alles sprechen. „Ich war mit meinem Freund Jossi in Israel unterwegs. Wir haben viel gesehen. Das Erlebte beschäftigt mich sehr“, antwortet Mareike zögerlich. Farid ist über die Antwort alles andere als erfreut. Mareike, die Frau seiner Träume, hat einen Freund. Der Name klingt jüdisch. Sie hat einen Juden als Freund. Ausgerechnet einen Juden. Die Juden sind unsere Feinde. Er bemerkt, wie ein Gefühl von Ärger und Enttäuschung sich in seinem Inneren ausbreitet 93

wie das Fieber einer ansteckenden Krankheit. Die Juden haben unser Land. Sie haben die Macht und bekommen noch dazu die schönsten Frauen. Er könnte schreien, hat sich aber im Griff. Ein Gefühl sagt ihm, dass Mareike nicht glücklich ist. Wer glücklich verliebt ist, zeigt ein anderes Gesicht. Die Juden behandeln uns schlecht. Vielleicht ergeht es Mareike nicht anders. „Wir waren in Jerusalem. Plötzlich rannte ein Mann mit einem Messer auf uns zu. Wir dachten, jetzt ist es aus mit uns. Aber er lief, laut „Allahu akbar“ rufend, an uns vorbei. Sein Ziel waren Polizisten wenige Meter von uns entfernt. Er hat eine Polizistin verletzt und ist dann erschossen worden. Wie können Menschen im Namen der Religion morden und ihr Leben wegwerfen? Kannst du mir das erklären?“ Farid ist entsetzt. Fühlte er gerade noch das Fieber des Zornes, so läuft es ihm eiskalt über den Rücken. Der Gedanke, dass Mareike fast einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, ist unerträglich. „Ich denke, es ist nicht die Religion. Es ist der politische Konflikt, der Menschen zu solch einer Handlung treibt.“ Farid versucht, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. „Aber ihr verehrt Attentäter als Märtyrer, denen das Paradies versprochen wird.“ Mareike ist mit der Antwort von Farid unzufrieden. „Die Juden rauben unser Land. Sie sagen, dass ihnen dieses Land von Gott gegeben wurde. Sind sie etwa bessere Menschen?“ Plötzlich sind sie in ein Streitgespräch verwickelt. Mareike merkt, wie sie mit Argumenten von Jossi Farid widerspricht. Im Gespräch mit ihm hat sie die Palästinenser vertreten. Ihre Rechte eingebracht. Jetzt sieht es aus, als hätte sie die Seite gewechselt. Sie müsste lachen, wenn das Thema nicht so traurig wäre. Farid unterbricht die Fahrt und fährt das Auto in eine Parklücke. Er kann nicht gleichzeitig erregt diskutieren und kontrolliert Auto ­fahren. Farid lässt seinem Ärger freien Lauf. Er ist sich nicht 94

sicher, ob sein Zorn von der Besatzung herrührt oder sich der Nachricht verdankt, dass Mareike einen jüdischen Freund hat. „Die Gründung eines jüdischen Staates auf arabischem Boden ist bis heute ein Unrecht, das ihr Europäer zu verantworten habt. Erst verfolgt ihr die Juden und dann gebt ihr ihnen auf unsere Kosten einen eigenen Staat. So wie es meinen Groß­ eltern ergangen ist, ist es den meisten Palästinensern ergangen. Sie wurden vertrieben, viele leben bis heute in Flüchtlings­ lagern oder sind in alle Welt zerstreut. Wir leben in Palästina seit einem halben Jahrhundert unter israelischer Militärverwaltung. Du lebst in einem freien Land, wir in einem Gefängnis.“ Seine Stimme hat ihren leisen Klang verloren. Mareike will sich die moralische Verantwortung für die Lage der Palästinenser nicht aufdrücken lassen. Wer sich als Opfer der Weltgeschichte sieht, vergisst in der Regel, wofür er selbst verantwortlich ist. Deutschland hat zwei Kriege verloren und dafür den Preis zahlen müssen. Nur weil wir die jetzigen Grenzen akzeptiert haben und die Vertriebenen integrieren konnten, haben wir Frieden in Europa. „Ihr Palästinenser seid Meister im Verpassen von Chancen. Ich verstehe nicht, wie ein Volk drei Kriege verlieren konnte, aber zu Kompromissen nicht bereit ist. Der Traum eines Friedens ist durch palästinensische Selbstmordattentate zerbombt worden. Viele Palästinenser können immer noch nicht einen jüdischen Staat akzeptieren.“ „Dein jüdischer Freund hat ganze Arbeit geleistet. Du vertrittst nur noch die Seite der Juden.“ Farid kann seine Eifersucht nicht bremsen. „Du hast nur in einem Punkt Recht. Wir Palästinenser sind gespalten, welche Ziele wir erreichen wollen. Das ist unsere größte Schwäche. Ich könnte dir zeigen, was Besatzung bedeutet. Vielleicht hast du dann mehr Verständnis für unsere Lage.“ 95

22. Kapitel Farid hat Mareike abgeholt. Treffpunkt ist wie immer der Parkplatz vor dem Gästehaus. Ihr hitziges Wortgefecht vor wenigen Tagen war schnell beendet, nachdem Mareike signalisiert hat, dass sie sein Angebot annimmt. Mareike findet, dass Jossi und Farid eines gemeinsam haben. Sie können sich in Sekundenschnelle in Rage reden, aber schnell wieder beruhigen und die liebsten Menschen der Welt sein. Haben Araber und Israelis mehr gemeinsam, als sie denken? Dann fällt ihr ein, dass Jossi ja ein halber Araber ist. Kein Wunder also. Nun fahren sie Richtung Bethlehem. Farid will Mareike das Flüchtlingslager Deheishe zeigen, das in Bethlehem am Rande von Beit Jala liegt. Das Unrecht soll ein Gesicht bekommen. Mareike hat keine Vorstellungen, wie ein Flüchtlingslager aussieht. Eine Ansammlung von provisorischen Bauten ist eigentlich undenkbar. Dass Menschen seit einem halben Jahrhundert in einem Flüchtlingslager leben, ist aus ihrer Sicht ein Skandal. Die Zahlen hat sie recherchiert: Im arabisch-israelischen Krieg sind rund 750.000 Araber vornehmlich nach Jordanien und in die von Jordanien besetzte Westbank geflüchtet. Nur rund 160.000 blieben auf dem Gebiet des heutigen Israel. Die Anzahl der Flüchtlinge ist auf rund 5,5 Millionen angewachsen. Davon leben bis heute ein Drittel in Flüchtlingslagern, die von einem Hilfswerk der Vereinten Nationen betreut werden. Das Rückkehrrecht der Flüchtlinge ist eine der zentralen Forderungen der Palästinenser neben einem eigenen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt. Sie betreten die engen Gassen des Flüchtlingslagers. Farid macht Mareike auf die Graffitis aufmerksam. Ein Graffiti zeigt 96

das Gesicht eines Jungen, der im Straßenkampf getötet worden ist. „Für uns ist dieser Junge kein Terrorist, sondern ein Held. Er hat sein Leben für die Freiheit Palästinas riskiert“, sagt Farid. Mareike lässt die Bemerkung unkommentiert. Ihr Blick richtet sich auf die Häuser, die dicht an dicht stehen. Es sind einfache Bauten aus Beton, die im Laufe der Jahre in die Höhe gewachsen sind. Farid erklärt Mareike, dass jedes Stockwerk für eine weitere Generation von Flüchtlingen steht. Die Menschen leben hier mittlerweile in der vierten Generation. Aber sie träumen weiterhin von der Rückkehr in ihre Heimat. Die Erzählungen von den Dörfern, ihren Häusern und Feldern werden von Generation zu Generation weitergegeben. „Warum ist eine Integration der Flüchtlinge in die palästinensische Gesellschaft nicht erfolgt?“, fragt Mareike. „Ich habe den Eindruck, ihr benutzt sie immer noch als Faustpfand gegen Israel?“ „So einfach kann man diese schwierige Frage nicht beantworten. Wir sind eine traditionelle Gesellschaft, die auf Familienbande beruht. Die Familien bleiben unter sich, sie umfassen zumeist hunderte von Personen. Da bleiben Flüchtlinge außen vor. Sie bilden eine eigene Gruppe. Das gilt auch für Eheschließungen. Um Arbeit zu finden, muss man in Palästina Beziehungen haben. Diese haben Flüchtlinge zumeist nicht. Einige sind vielleicht auch bequem, es lässt sich auch mit der Unterstützung der UNO leben.“ Sie verlassen das Flüchtlingscamp. Mareike ist in Gedanken bei den Flüchtlingen. Die Antwort von Farid hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Sie bedauert das Los der Flüchtlinge. Dennoch bleibt die Frage, warum die Palästinenser so wenig für sie tun. Alles auf die Besatzung zu schieben, ist ihr zu einfach. Ihr Weg führt weiter zur nächsten Station. Farid will Mareike einen seit Jahren umkämpften Weinberg zeigen. Er liegt 97

rund zehn Kilometer südlich von Bethlehem. Mareike fällt sofort der Felsbrocken am Eingang des Weinberges ins Auge. „Wir weigern uns, Feinde zu sein“, steht auf Arabisch, Englisch und Deutsch auf dem Stein geschrieben. Mareike kennt die Geschichte des Weinberges. Sie ist beschrieben in einem der Informationshefte des Berliner Missionswerkes. Nun sieht sie mit eigenen Augen das wunderschöne, aber hart umkämpfte Gelände mit einem hohen Hügel. Der Weinberg befindet sich inmitten eines israelischen Siedlungsblockes. Den Siedlern ist der Weinberg ein Dorn im Auge. Sie möchten das Gelände für sich haben. Immer wieder kam es zu Übergriffen und Zerstörungen von Obstbäumen und Weinreben. Der christlichen Palästinenserfamilie Nasser gehört das Gelände. Und sie kann es urkundlich belegen. Die Familie wehrt sich seit vielen Jahren mit allen gerichtlichen Mitteln gegen die Anfeindungen und eine Wegnahme des Landes. Sie hat in der Zeit der zweiten Intifada das Projekt „Zelt der Völker – Tent of Nations“ ins Leben gerufen. Auf dem Weinberg begegnen sich junge Menschen aus aller Welt. Sie wollen mit den Palästinensern zeigen, dass Frieden und Verständigung möglich ist. Mareike ist von der Botschaft des Weinberges überwältigt. Nach der deprimierenden Erfahrung des Flüchtlingslagers ist das hier ein Ort der Hoffnung. „Was für ein herrlicher Ort. Ist es nicht wunderbar, dass solch ein Friedensprojekt möglich ist?“ Ihre Stimme hat einen fast enthusiastischen Klang. „Die Israelis könnten jeder Zeit zuschlagen. Es gibt keine Rechtssicherheit für uns. Der Kampf um den Weinberg findet weltweite Beachtung. Leider gilt das nicht für andere Orte. Landraub und Enteignungen erfolgen täglich. Die Siedlungen werden weiterhin ausgebaut und nehmen unser Land in Anspruch. „Il-harb“ – der Krieg hat verschiedene Gesichter. Hier 98

versteckt er sein Gesicht. Wenn du die Siedler in Hebron gesehen hast, wirst du sein wahres Gesicht entdecken.“ Farid spürt, dass Mareike nach Zeichen des Friedens, nach Brücken für eine Verständigung geradezu sucht. Er will ihr zeigen, dass es keinen Grund zur Hoffnung gibt. Dieses Lebensgefühl prägt ihn und seine Generation. Sie ist von Enttäuschung und Wut gekennzeichnet. Diese richtet sich nicht nur gegen die Besatzer, sondern ebenso gegen ihre palästinensische Führung. Sie ist in ihren Augen eine Clique von alten Männern, die nur ihren eigenen Vorteil suchen. Die Fatah-Partei herrscht im Westjordanland, die Hamas hat den Gazastreifen fest in der Hand. Für beide Gruppen hat Farid wenig übrig. Sie machen ihre Politik auf Kosten der Bevölkerung. Hebron ist das letzte Ziel ihres Ausfluges. Die Stadt liegt südlich von Bethlehem und ist gut über die ausgebaute Straße 60 zu erreichen. Mareike kann am Zustand einer Straße leicht erkennen, ob sie von Siedlern benutzt wird. Die Anzahl der Schlaglöcher und Unebenheiten ist auf einer Siedlerstraße spürbar reduziert. Hebron ist eine der ältesten Städte der Welt. Hier befindet sich nach biblischer Überlieferung das Grab der Patriarchen, die letzte Ruhestätte der Erzväter Abraham, Isaak, Jakob und ihrer Frauen Sara, Rebekka und Lea. Das Grab der Patriarchen ist für Juden und Muslime gleichermaßen ein heiliger Ort. Abraham ist der Urvater der Juden, sein Sohn Ismael der Stammvater der Araber. Auch für Christen ist Abraham der Urvater des Glaubens. Hebron ist nicht erst seit heute eine Stadt im Ausnahmezustand. In keinem Ort in der Westbank stehen sich Juden und Araber so verfeindet gegenüber. Rund 800 orthodoxe Juden leben inmitten einer Stadt, umgeben von über 200.000 Palästinensern. Sie werden schwer bewacht. Die Altstadt ist geteilt in eine israelisch und eine palästinensisch kontrollierte Zone. Das 99

Grabmal des Patriarchen kann von Juden und Muslimen nur durch getrennte Zugänge betreten werden. Es ist ein imposantes Gebäude, einerseits Synagoge, andererseits Moschee. Und wenn man ganz genau hinschaut, erkennt man von außen noch, dass der Bau zur Zeit der Kreuzfahrer eine Kirche gewesen ist. Mareike ist von dem Flair der Altstadt beeindruckt. Auf den Straßen begegnet sie der Buntheit und Lebendigkeit einer arabischen Stadt. Der Markt mit seinen Früchten, Gemüse und Gewürzen ist eine Augenweide. Mit Verwunderung sieht sie in einer der Straßen der Altstadt ein Netz gespannt. Farid erklärt ihr, dass sich in den oberen Stockwerken der Häuser Siedler einquartiert haben. Auf dem Netz liegen Müll und Steine, die Siedler aus den Fenstern auf die Straße der Altstadt geworfen haben. „Diese Siedler zeigen hier ihr wahres Gesicht. Sie wollen uns aus der Altstadt vertreiben“, erklärt Farid mit einer Miene, die Zorn und Wut nicht verbergen kann. Tiefe Traurigkeit erfüllt Mareike. Menschen leben dicht an dicht, aber getrennt durch Mauern, Zäune und Absperrungen. Die Kinder könnten sich durch die Zäune die Hände reichen. Stattdessen leben sie in getrennten Welten und werden im Hass auf den Feind erzogen. Das blaue, schwere Eisentor öffnet sich. Den Wachmann grüßend fahren sie zum Gästehaus von Talitha Kumi. Mareike sitzt schweigend neben Farid. Mit einer schnellen Bewegung umarmt sie ihn. Das gehört sich eigentlich nicht. Aber sie ist sich sicher, dass Farid ihre Umarmung richtig deuten kann als ein Zeichen von Freundschaft und Mitgefühl. Sie sieht den Schimmer in seinen Augen. Sie verlässt das Auto und betritt, ohne sich umzuwenden, das Gästehaus.

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23. Kapitel Mareike sitzt im Flugzeug. Die Maschine hat vor wenigen Minuten abgehoben. Sie sieht die Skyline, Straßen, Häuser und den Strand von Tel Aviv wie durch einen Schleier. Ihre Augen haben sich mit Tränen gefüllt. Der überraschende Anruf, die überhastete Abreise. Ihre Großmutter ist gestorben. Die Familie erwartet sie zur Beerdigung zurück. Mareike blickt aufs Meer, das Festland ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Aus der Höhe betrachtet hat das Leben der Menschen unten etwas Unwirkliches. Mareike hat das Gefühl, sie ist allem enthoben. Sie fliegt den Problemen, offenen Fragen einfach davon. Mit jeder Flugminute wächst die Entfernung, wird die Distanz größer. Wenn das nur stimmen würde. Wenn sie ohne Gepäck Abstand gewinnen könnte. Wenn sie einfach losfliegen könnte, als wäre nichts geschehen. Das Gegenteil ist der Fall. Viel ist geschehen. Allzu viel. Es gibt Momente, in denen sie denkt, das habe nicht ich erlebt. Das war jemand anderes. Eine andere Person. Ich bin die Mareike aus Berlin. Die Mareike aus Talitha Kumi ist eine andere. Die Mareike aus Berlin kennt das Leben, wie es vor sich dahinplätschert. Ein Leben ohne große Fragen, ohne unlösbare Konflikte, ein Leben ohne große Entscheidungen. Die Mareike aus Berlin lebt in einer gemütlichen Luftblase. Die Mareike im Flugzeug ist eine andere Person. Die Mareike im Flugzeug hat mehr vom Leben gesehen, als ihr lieb war. Die Mareike im Flugzeug hat ihr Herz verloren und sie weiß nicht, ob sie es ungebrochen wiederfinden wird. Die letzten Stunden am Flughafen hat sie mit Jossi verbracht. Sie haben einfach nebeneinandergesessen. Hand in Hand. Jossi hat sie mit seinen dunklen Augen angeschaut. In seinen Augen stand die Frage geschrieben, die ihn seit Tagen umtreibt. Sein 101

Gesicht zeigte eine ungewohnte Blässe. Die Ringe unter den Augen haben verraten, dass er in der Nacht keine Ruhe findet. Jossi hat die Frage, die im Raum steht, nicht gestellt. Der Tod ihrer Großmutter hat sie überschattet. Der Tod ist die denkbar stärkste Unterbrechung des Lebens. Mareike hätte nicht gedacht, dass der Tod der Großmutter ihr so nahe gehen würde. Sie hat Jossi erzählt, wie sie in ihren Erinnerungen weiterleben wird. Ihre Lebensentscheidung hat Mareike vertagt. Nach der Beerdigung wird sie eine Entscheidung treffen müssen. Jetzt sitzt sie im Flugzeug. Mareike blickt zurück. Sie versucht, das Erlebte zu ordnen. Die beglückenden Erfahrungen mit den Kindern. Ein Kindergarten inmitten eines beeindruckenden Schulkomplexes. Mareike muss an die Gespräche mit Charlotte denken. Volontärszeit ist eine besondere Auszeit. Das Leben in einer Gemeinschaft schafft Nähe wie in einer Familie. Sie hat viel vom Heiligen Land gesehen. Das hat sie Jossi und Farid zu verdanken. An Jossi hat sie ihr Herz verloren. In Farid einen Freund gefunden. Beide haben ihr die je eigene Sicht des Konflikts, der Situation gezeigt. Sie kann beide Seiten verstehen. Jede Erzählung hat ihre Berechtigung. Es ist, als ob zwei gegensätzliche Züge auf einem Gleis der Geschichte fahren würden. Der Zusammenstoß ist vorprogrammiert. Der gemeinsame Bahnhof nicht in Sicht. Wie auf Frieden hoffen, wenn keine Anzeichen zu sehen sind? Diese Frage beschäftigt Mareike immer mehr. Die Propheten des Alten Israels haben einen neuen Himmel und eine neue Erde angekündigt. Diese Hoffnung hat das Volk Israel getragen. Wir Christen leben ebenso von dieser Hoffnung, denkt Mareike. Vielleicht ist Talitha Kumi ein Hoffnungszeichen. Talitha Kumi wirkt wie eine Insel des Friedens inmitten einer Welt der Konflikte. Sie wird zurückkehren. Das weiß sie. Wie wird sie sich entscheiden? – Das weiß sie noch nicht. 102

Anhang Arabische Christen: Als arabische Christen werden arabische Angehörige einer der christlichen Kirche bezeichnet. Die meisten christlichen Araber gehören zur orthodoxen Kirche, viele sind melkitisch und römisch-katholisch. Es gibt aber auch Anglikaner, Lutheraner und viele andere Konfessionen. Weniger als zwei Prozent der Einwohner Israels und Palästinas sind heute Christen. Die genauen Zahlen der Christen in Palästina sind nur schwer zu ermitteln. Aktuelle Schätzungen gehen von 50.000 aus (47.000 im Westjordanland und knapp 3.000 in Gaza). Arabische Israelis: Als arabische Israelis werden israelische Staatsbürger arabisch-palästinensischer Herkunft bezeichnet, die keine Juden sind und deren ethnische und kulturelle Identität oder Sprache Arabisch ist. Sie machen über 20 Prozent der israelischen Staatsbürger aus. Allahu akbar: Der Ausruf bedeutet „Gott ist größer“ beziehungsweise „Gott ist am größten“. Er ist Teil des Rufes, mit dem die Muezzins die Gläubigen zum Gebet auffordern. Ahlan wa sahlan: Heißt wörtlich „Angehörige und leicht“ und meint „als Angehörige (und nicht als Fremde) seid ihr gekommen und leicht sollt ihr es haben“. Vor allem im Nahen Osten als Willkommensgruß verbreitet. Al-Aqsa-Moschee: Die al-Aqsa-Moschee ist eine Moschee auf dem Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt. Sie gilt als drittwichtigste heilige Stätte des Islam. Ashkenasim: Als aschkenasische Juden bezeichnen sich mittel-, nord- und osteuropäische Juden und ihre Nachfahren. Sie bilden die größte Gruppe im heutigen Judentum und besetzten bei der Gründung des Staates die wichtigsten 103

Führungspositionen. Daneben spricht man v.a. von Sefardim (Juden aus Südeuropa und dem Mittelmeerraum) und Mizrachim (orientalische Juden, z.B. aus dem Jemen, Indien und dem Irak). Drusen: Die Glaubensgemeinschaft der Drusen wurde um das Jahr 1000 n.Chr. gegründet. Sie hat islamische Wurzeln, zählt aber nicht zur islamischen Religion. Drusen leben vor allem im Libanon, in Syrien, auf den Golanhöhen und in Israel als loyale Staatsbürger. Fatah: Die Fatah ist eine politische Partei in den palästinensischen Autonomiegebieten unter dem Vorsitz von Mahmud Abbas. Der innerpalästinensische Konflikt zwischen Hamas und Fatah begann im Jahr 2006 und führte im Jahr 2007 zu einer faktischen Teilung der Palästinensischen Autonomiegebiete in die Westbank und den Gazastreifen, die bis heute andauert. Felsendom: Der Felsendom steht über einem Felsen auf dem Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem und ist eines der islamischen Hauptheiligtümer. Nach der islamischen Tradition soll Mohammed von diesem Felsen aus die Himmelfahrt und seine Begegnung mit den früheren Propheten des Judentums und Jesus angetreten haben. Andere Traditionen verbinden mit dem Felsen die Erschaffung Adams und die Opferung Isaaks durch Abraham. Gelobtes Land: Nach biblisch-jüdischer Überlieferung hat Gott Abraham und dessen Nachkommen (und damit den Juden) das Land versprochen bzw. gelobt. Daher wird das Land Kanaan (heute Palästina) das Gelobte Land genannt. Die Landnahme schildern die biblischen Bücher Josua und Richter. Golan: Die Golanhöhen gehörten ursprünglich zu Syrien. Im Jahr 1981 wurden sie von Israel annektiert, nachdem sie wäh104

rend des Sechstagekriegs 1967 und des Jom-Kippur-Kriegs 1973 stark umkämpft waren. Grabeskirche: In der Altstadt von Jerusalem steht die Grabeskirche. Sie wurde im Jahr 335 nach Christi Geburt geweiht und zählt zu den bedeutendsten Heiligtümern des Christentums. Nach christlicher Überlieferung wurde Jesus an dieser Stelle gekreuzigt, begraben und wiederauferweckt. Daher wird sie auch Auferstehungskirche genannt. Hamas: Die Hamas ist eine islamistische Partei, die als Terrororganisation eingestuft wird. Sie wurde 1987 als Zweig der Muslimbruderschaft gegründet mit dem Ziel, anstelle des Staates Israel einen palästinensisch-islamischen Staat zu gründen. Die Hamas beherrscht seit 2007 den Gazastreifen. Haredim: Als Haredim („Gottesfürchtige“) werden die ultraorthodoxen Juden bezeichnet. Sie sind an ihrem Kleidungsstil erkennbar und grenzen sich von der Mehrheitsgesellschaft ab. Viele Männer gehen keiner Arbeit nach, sondern verbringen ihre Zeit ausschließlich in religiösen Lehranstalten. In ihrer Haltung zum jüdischen Staat sind sie gespalten; sie müssen keinen Wehrdienst ableisten. Heiliges Land: Für Juden und Christen ist Palästina das Heilige Land als ein Ausdruck der Ehrerbietung und Liebe zum Land. Für Juden ist es das von Gott versprochene Land, für Christen das Land, in dem Jesus als der Christus gewirkt hat, gestorben und auferstanden ist. Hule-Tal: Das Hule-Tal liegt im Norden Israels. Die ursprüngliche Sumpflandschaft wurde bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch jüdische Pioniere urbar gemacht. Nach der Trockenlegung in den 50er Jahren ist ein kleiner Teil als Naturreservat erhalten geblieben. Hummus: Hummus ist eine im Orient verbreitete Vorspeise aus pürierten Kichererbsen. 105

Il-harb: arabisch für „der Krieg“. Intifada: Arabisch für „sich erheben“; Name für palästinensische Aufstände gegen Israel. Jom Kippur: Jom Kippur ist der höchste jüdische Feiertag. Er beendet eine zehntägige Reuezeit, in der sich Juden mit allen Mitmenschen versöhnen sollen. Übersetzt heißt Jom Kippur „Tag der Bedeckung“, an dem Gott die Sünden vergibt und zudeckt. Kibbu(t)z: Als Kibbutz oder Kibbuz bezeichnet man eine ländliche genossenschaftliche Siedlung mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen. Die Kibbuzim spielten eine entscheidende Rolle bei der jüdischen Besiedelung des heutigen Israels. Kiddusch: Kiddusch ist Hebräisch und heißt Heiligung. Der Kiddusch ist ein Segenstext, der zu Beginn einer Mahlzeit gesprochen werden kann. Am Schabbat werden mit dem Kiddusch ein Becher Wein und die Schabbat- oder Feiertagsbrote gesegnet. Der Becher heißt Kidduschbecher und die Brote heißen Challot. Kippa: Die Kippa ist eine kleine Kappe. Viele jüdische Männer tragen sie den ganzen Tag über als Zeichen der Ehrfurcht vor Gott auf dem Hinterkopf. In der Synagoge ist eine Kopfbedeckung für jeden Mann Pflicht. Unterschiede in der Gestaltung können auf bestimmte Glaubensrichtungen im Judentum hinweisen. Klagemauer: Die Klagemauer (Kotel), wörtlich die „(westliche) Mauer“, gehört zur erhalten gebliebenen Befestigung der beiden zerstörten Tempel in der Altstadt von Jerusalem. Sie ist für Juden das Zeichen für den Bund Gottes mit dem Volk Israel und daher eine heilige Stätte. Koscher: Koscher heißt „erlaubt“ oder „geeignet“. Das Wort benutzen Juden vor allem im Zusammenhang mit Speisevorschriften. Sie heißen Kaschrut und regeln, was Juden es106

sen dürfen und wie sie die Speisen zubereiten müssen, wie Vorräte zu lagern sind und wie das Kochgeschirr benutzt werden soll. Matsav: hebräisch für „Situation“. Das Wort umschreibt die schwierige politische Lage in Israel/ Palästina. Muezzin: Das Wort „Muezzin“ heißt übersetzt „Gebetsrufer“. Er ruft die Muslime fünfmal am Tag zu den rituellen Pflichtgebeten. Mizrahim: Bezeichnung für die aus dem Nahen Osten stammenden (orientalischen) Juden. Nakba: Mit dem arabischen Wort „Katastrophe“ werden aus der Sicht der Palästinenser die Ergebnisse und Folgen des Krieges von 1948 bezeichnet. Palästina: Nach den jüdischen Aufständen im 1. Jahrhundert nach Christus und der Vertreibung der Juden aus Judäa nannte der römische Kaiser Hadrian das Land Syrien-Palästina, später hieß es nur noch Palästina, das Land der Philister. Es bezeichnet heute in der Regel Teile der Gebiete von Israel und Jordanien, einschließlich des Gazastreifens und des Westjordanlandes. PLO: Abkürzung für die 1964 gegründete „Organisation zur Befreiung Palästinas“. Sabre: Eigentlich die Bezeichnung für eine Kaktusfeige; wird aber landläufig auch für einen in Palästina geborenen Juden verwendet, da auch diese nach außen „stachelig“, innerlich aber „süß“ seien. Schalom: Schalom ist hebräisch und heißt ursprünglich „Vervollständigung“. Im Deutschen wird es oft mit „Friede“ übersetzt. Mit diesem Wort begrüßen sich Juden seit den Zeiten der Bibel. Sederabend: Am Vorabend des Pessach-Festes wird der Sederabend, kurz Seder genannt, gefeiert. Er ist der Beginn von 107

Feierlichkeiten über mehrere Tage, bei denen der Auszug des israelitischen Volkes aus der Gefangenschaft in Ägypten gefeiert wird. Sefardim: Bezeichnung für die aus Südeuropa und dem Mittelmeerraum stammenden Juden. Talitha Kumi: Talitha Kumi ist eine deutsche evangelische Schule in Beit Jala/Palästina. Sie wurde ursprünglich als Schule für arabische Mädchen gegründet. Daher der Name, der „Mädchen, steh auf“ bedeutet. Das Schulzentrum umfasst heute rund 1000 christliche und muslimische Schülerinnen und Schüler. Volontariat: Eine Bezeichnung für einen freiwilligen und begrenzten Dienst für eine Organisation oder Institution. Das Berliner Missionswerk entsendet seit vielen Jahren Freiwillige zur Mitarbeit in Projekten seiner Partnerkirchen. Westjordanland: Das Westjordanland, auch bekannt unter dem englischen Namen Westbank, liegt westlich des Jordans im Gebiet des historischen Palästina. Es ist das Gebiet des Landes, das 1948/49 die Jordanier eroberten. Das Westjor­ danland ist seit dem Sechstagekrieg 1967 von Israel besetzt – doch ein Teil steht seit 1994 unter palästinensischer Verwaltung. In Israel wird es Judäa und Samaria genannt. Zion: Zion ist ursprünglich der Name für eine Turmburg des vorisraelitischen Stadtstaates Jerusalem. Zion steht heute für Jerusalem. In der jüdischen Tradition wurde Zion zugleich zum Symbol für ihr „Heiliges Land“.

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Zeittafel 1947, 29. November: UN-Generalversammlung nimmt den Teilungsplan für Palästina an (Resolution 181) 1948, 14. Mai: Israelische Unabhängigkeitserklärung, Beginn des Unabhängigkeitskrieges bzw. Nabka (arab. für „Katastrophe“) 1949, Februar–Juli: Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien 1967, 5.–10. Juni: Sechstagekrieg bzw. Naksa (arab. für „Rückschlag“) 1973, 6.–26. Oktober: Jom-Kippur-Krieg bzw. Oktober- oder Ramadan-Krieg 1987, 8. Dezember: Beginn der ersten Intifada 1993, 13. September: Oslo-I-Abkommen 1995, 24. September: Oslo-II-Abkommen 1995, 4. November: Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin durch den jüdischen Extremisten Jigal Amir 2000, 28. September: Beginn der zweiten Intifada („Al-Aksa-Intifada“) 2002, Juni: Israel beginnt mit dem Bau der umstrittenen Sperranlagen, die das israelische Kernland vom Westjordanland trennen und Selbstmordanschläge auf israelischem Gebiet verhindern sollen. 2004, 11. Dezember: Tod Jassir Arafats. Mahmud Abbas wird sein Nachfolger als Präsident, Fatah- und PLO-Vorsitzender 2005, August: Israel räumt Siedlungen und Militärbasen im GazaStreifen und riegelt das Küstengebiet ab 2008, 18. März: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eine Rede auf Deutsch vor der Knesset in Jerusalem. 2010, 27. Januar: Am 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz spricht Israels Staatspräsident Schimon Peres vor dem Bundestag in Berlin.

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2014, Juli/August: Nach Raketenbeschuss der Hamas aus dem Gazastreifen reagiert Israel mit Luftangriffen und einer Bodenoffensive. 2017, Dezember: Der amerikanische Präsident Donald Trump spricht sich für die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels aus.

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Literaturhinweis (eine kleine Auswahl) Asseburg, Muriel / Busse, Jan: Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven, München 2016 Baumgarten, Helga: Kampf um Palästina – Was wollen Hamas und Fatah?, Freiburg i.Br. 2013 Brenner, Michael: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München 2016 Doron, Lizzi: Who the Fuck is Kafka, München 2015 Schäuble, Martin: Gebrauchsanweisung für Israel und Palästina, München/Berlin 2016 Farhat-Nasser, Sumaya: Thymian und Steine. Eine palästinensische Leidensgeschichte, 5. Aufl. Basel 2002 Rosenthal, Donna: Die Israelis, München 2007 Shavit, Ari: Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels, München 2013 Wolffsohn, Michael: Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, 12. Aufl. München/Berlin 2015

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