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German Pages 91 Year 2018
Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) Band 35
Carlo Masala [Hrsg.]
Grenzen Multidimensionale Begrifflichkeit und aktuelle Debatten
Mit Beiträgen von: Jona van Laak | Sebastian Liebold | Dietmar von der Pfordten | Verena Risse Julia Schulze Wessel
Nomos
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4408-4 (Print) ISBN 978-3-8452-8663-1 (ePDF)
Chefredakteur: Dr. Till Florian Tömmel
1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort des Herausgebers zum Tagungsband „Grenzen“
Bis vor einigen Jahren konnte es den Anschein haben, als verlören Gren‐ zen ihre Relevanz, jedenfalls in einem konventionellen Verständnis als fest umrissene, insbesondere nationalstaatliche Grenzen. Statt für „Begrenzun‐ gen“ und konkrete Grenzen interessierte sich die Politikwissenschaft eher für „Entgrenzungen“ in einem umfassenden und häufig als linear fort‐ schreitend verstandenen Sinne: Sofern es um die Dynamik der Entgren‐ zung ging, oft in engem Zusammenhang mit dem vieldeutigen Konzept der Globalisierung verstanden, wurden sehr unterschiedliche Probleme oder auch optimistisch stimmende Entwicklungen erkannt sowie mögliche Antworten auf sie diskutiert, doch nur selten spielten – alte oder neue – Grenzen dabei eine wesentliche Rolle. In den letzten Jahren haben „Gren‐ zen“ jedoch in mehrfacher Hinsicht eine Wiederkehr erlebt, sowohl in einem allgemein politischen als auch in einem konzeptionellen Sinne. Diese Beobachtung war für die Deutsche Gesellschaft für Politikwis‐ senschaft (DGfP) Anlass, das vielschichtige Konzept der „Grenze“ zum Oberthema ihrer 34. Jahrestagung zu machen, die am 11. und 12. Novem‐ ber 2016 in Heidelberg stattfand. Wie stets seit ihrer Gründung legte die DGfP dabei großen Wert darauf, das Thema aus der Perspektive der drei politikwissenschaftlichen Teildisziplinen diskutieren. Dieser Tagungsband versammelt die schriftliche Ausarbeitung von fünf der insgesamt 13 Refe‐ rate, die auf der Jahrestagung vorgetragen wurden. Julia Schulze Wessel (Dresden) untersucht den Grenzbegriff in seinem Verhältnis zur demokratischen Ordnungsform. Sie hebt hervor, dass Gren‐ zen im Gegensatz zu einem alltagssprachlichen Verständnis gerade nicht durch Statik oder gar Absolutheit, sondern vielmehr durch Nicht-Eindeu‐ tigkeit und Ambivalenz gekennzeichnet sind. Dem Ordnungsmodell der Demokratie wohnen Auseinandersetzungen über Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen notwendig inne. Dietmar von der Pfordten (Göttingen) diskutiert nach einer definitori‐ schen Klärung dessen, was eine Grenze konstituiert, welche normativen Probleme staatliche Grenzen aufwerfen können und wie ihre Existenz aus Sicht eines normativen Individualismus zu rechtfertigen ist. Darauf auf‐ bauend setzt er sich am Beispiel gesetzlicher Verbote von Vollverschleie‐
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Vorwort des Herausgebers zum Tagungsband „Grenzen“
rung mit möglichen Grenzen der Toleranz in liberalen Gesellschaften aus‐ einander. Verena Risse (Dortmund) widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, in‐ wiefern staatliche Grenzen das Verhältnis zwischen politischer Theorie und lebensweltlicher Praxis bedingen und beleuchtet dabei insbesondere das Potential von „visionären“ Theorien, bestehende Praxisformen zu transformieren und insofern grenzverschiebend zu wirken. Jona van Laak (München) analysiert anhand der Arbeiten von Carl Schmitt und Giorgio Agamben den Ausnahmezustand in seiner Funktion als Grenze von Demokratie und Rechtsstaat und entwirft eine Typologie von Ausnahmezuständen. Der Tagungsband schließt mit dem Beitrag von Sebastian Liebold (Chemnitz): Er behandelt das Thema, welche neuen Grenzen und Dilem‐ mata unter einem – angesichts knapper und kostbarer Ressourcen – emp‐ fehlenswerten Paradigma der Nachhaltigkeit entstehen können. Allen Referentinnen und Referenten der Jahrestagung sowie den am Zustandekommen der Jahrestagung beteiligten Personen sage ich – auch im Namen des Vorstandes der DGfP – herzlichen Dank. Ebenso danke ich dem Nomos Verlag und insbesondere Herrn Carsten Rehbein für die be‐ währte Zusammenarbeit bei der Veröffentlichung des Tagungsbandes.
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Inhalt
Demokratien und Grenzkonflikt. (Ober-)Grenzen der Aufnahme und der Integration Julia Schulze Wessel
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Grenzen des Konsenses und der Toleranz in liberalen Gesellschaften
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Dietmar von der Pfordten Staatsgrenzen als faktische Grenzen der theoretischen Reflexion? Verena Risse
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Der Ausnahmezustand als Grenzraum von Demokratie und Rechtsstaat Jona van Laak
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Freiheit des Verbrauchs? Eine vergessene Grenze ordoliberaler Gesellschaftstheorie Sebastian Liebold
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Autorenverzeichnis
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Demokratien und Grenzkonflikt. (Ober-)Grenzen der Aufnahme und der Integration Julia Schulze Wessel
Zusammenfassung Die in den letzten Jahren geführten Diskussionen um die Grenzen der Auf‐ nahme von Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten führen immer wie‐ der zu grundsätzlichen politischen Ordnungsfragen. Der Grenzbegriff soll hier Ausgangspunkt sein, um über begriffliche Widersprüche in dieser De‐ batte und den Kerngehalt demokratischer Gesellschaften nachzudenken. Anders als der Begriff der Obergrenze suggeriert, leben gerade Grenzen von ihrer Durchlässigkeit, ihrer Ambivalenz und ihrer Uneindeutigkeit. Die Demokratie ist selbst eine Ordnungsform, die diese Kennzeichen in ihrem Kern trägt. So kann mit der Auseinandersetzung mit dem Grenzbe‐ griff auf ein Demokratieverständnis verwiesen werden, das von den Kon‐ flikten um Grenzziehungen, Grenzauseinandersetzungen, Grenzverletzun‐ gen und Grenzüberschreitungen geprägt ist. 1. Herausforderungen durch Zuwanderung Flucht und Migration werfen immer wieder Fragen von Sicherheit und Stabilität politischer Ordnung auf, das zeigen nicht zuletzt die aktuellen Diskussionen um die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in ver‐ schiedenen europäischen Ländern. Denjenigen, die von außen in eine be‐ stehende politische Gemeinschaft kommen, haftet etwas Herausforderndes und Irritierendes an, auf das offensichtlich immer wieder und diversen Grenzziehungen reagiert wird, seien sie territorial, kulturell, sozial, ökono‐ misch oder politisch. Diese differenzsetzende Verbindung zwischen einer bestehenden Gemeinschaft und ‚den Anderen‘ kann in der abendländi‐ schen Kultur, wenn auch nicht durchgängig und immer wieder unterbro‐ chen, in gleich Regelmäßigkeit entdeckt werden. Die besondere Perspekti‐ ve auf ‚den Anderen‘ führt – auch das können wir heute beobachten – im‐ mer wieder zu Forderungen nach der Begrenzung der Aufnahme. Hinter 9
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dieser Forderung steht dabei die berechtigte Annahme, dass Zuwanderung längerfristige Konsequenzen für die Aufnahmegesellschaft berge. Somit ist die Frage der Aufnahme auch immer mit Fragen nach der Integration von den Zuwanderern in die Ankunftsgesellschaft verbunden. Wenn auch unter anderen ordnungspolitischen Vorzeichen, so beschäf‐ tigte das Thema der Immigration, der Zuzug von Fremden und die Frage nach der Sicherheit politischer Gemeinwesen bereits Denker der griechi‐ schen Antike. Und auch hier führt das Thema Flucht und Migration zu grundsätzlichen politischen Ordnungsfragen. Blickt man in Platons No‐ moi, so zeigen die wenigen Zeilen zur Ansiedlung Fremder, von Gästen und Flüchtlingen, wie sehr diese Figuren unmittelbar mit dem Selbstver‐ ständnis politischer Ordnung verbunden sind.1 Während der Bürger sich in der Kunst zu üben habe, „die allgemeine Ordnung des Staates zu schaffen und zu erhalten“,2 bargen neu Hinzukommenden die potentielle Gefahr, Unordnung zu verbreiten und die bestehende Ordnung zu beschädigen. Um die Unordnung abzuwenden, spricht sich Platon gegen eine allzu großzügige Aufnahme von Fremden in die bestehende politische Gemein‐ schaft aus. In diesen sollen sie – wenn überhaupt – nur an den Rändern der Städte siedeln dürfen, um die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten der Bewohner nicht zu beeinflussen und die Ordnung nicht zu zerstören. Die Gefahr für eine gute politische Ordnung liege darin, dass der Wesenskern dieser Ordnung durch die „Neuerungen aus der Fremde“, durch die Ein‐ flüsse anderer Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche zerstört werde und aus der guten Ordnung dann eine schlechte, ungeordnete Gemeinschaft er‐ wachse. Dagegen sei die Aufnahme von Fremden für diejenigen Staaten unbedeutend, die sich „eben keineswegs einer guten gesetzlichen Ordnung erfreuen.“ Denn hier sei es vollkommen belanglos, ob „eine solche Vermi‐ schung eintritt“,3 denn die Ordnung sei ja ohnehin schon defizitär. Der kurze Verweis auf Platon zeigt, wie stark verwoben das Thema von Flucht, Migration, Aufnahme oder Abweisung von Fremden mit ganz grundlegenden politischen Ordnungsfragen ist. Fragen von Zuzug, Neuan‐
1 Schulze Wessel, Julia 2009: Sicherheitspolitik und Migration: Über die sicherheits‐ politische Erzeugung von Unsicherheiten und das Dilemma der Menschenrechte. In Nikolaus Werz (Hrsg.): Sicherheit. Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Band 26. Baden-Baden: Nomos, 113-124. 2 Platon 1991: Nomoi. Buch XII. Übersetzung Friedrich Schleiermacher, Frankfurt a. M., 846 c. 3 Ebd., 950 a.
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siedlung und dann auch ggf. der Integration berühren den Kern des politi‐ schen Selbstverständnisses des politischen Gemeinwesens. Seit der Erklä‐ rung der Menschenrechte verbindet sich dieses Thema darüber hinaus un‐ mittelbar mit der Frage nach der Legitimation politischer Ordnung. Denn die universelle und nationalstaatliche Grenzen überschreitende Geltung der Menschenrechte macht den Ausschluss begründungswürdig.4 Viel stärker noch als auf Fragen der Migration bezogen, wird diese be‐ sondere Beziehung zwischen dem potentiellen Aufnahmestaat und dem Nicht-Zugehörigen deutlich, wenn es sich um Flüchtlinge handelt. Das Asylrecht ebenso wie das non-refoulement Gebot können dafür prototy‐ pisch stehen. Denn sie verweisen darauf, dass der Flüchtling, der aus der nationalstaatlichen Ordnung als Ausgeschlossener hervorgeht, gleichzeitig eine normative Dimension erhält: Er vermag als Nicht-Mitglied einen An‐ spruch auf Zugang zu einem Territorium und zu einer Gemeinschaft zu stellen.5 Weniger die moralische Verpflichtung gegenüber Verfolgten als vielmehr das institutionelle Gefüge von Recht und Politik, die Mitglied‐ schaftskonzepte und die Beziehung politischer Gemeinwesen untereinan‐ der, formten das Recht auf Asyl. Nach 1945 hat sich die Stellung des Flüchtlings und der Anspruch auf Asyl durch die internationale Rechtslage fundamental verändert.6 Aber auch diese Veränderung trifft in den Kern des heutigen Selbstverständnisses politischer Gemeinwesen. Tiefe Spal‐ tungen und der Streit um das Selbstverständnis der Nation zeigen sich ganz aktuell in verschiedenen Teilen der Welt. Die Situation in Europa seit 2015 kann für diese Konfliktlinien paradig‐ matisch stehen. Wie keine der vorangegangenen europäischen Krisen der letzten Jahre haben die Neuankömmlinge tiefe politische und gesellschaft‐ liche Spannungen und Konflikte an die Öffentlichkeit gebracht. In Deutschland geben sie Anlass über grundsätzliche politische Differenzen zu streiten und sind fähig, zu einer der größten zivilgesellschaftlichen
4 Zu der Debatte der Begründungswürdigkeit des Ausschlusses siehe z. B. Benhabib, Seyla 2008: Die Rechte der Anderen. Frankfurt: Suhrkamp. Wellman, Christopher Heath/Cole, Phillip 2011: Debating the Ethics of Immi-gration. Is There a Right to Exclude? Oxford: Oxford University Press. Ladwig, Bernd 2002: Gibt es ein Recht auf Einwanderung? In: Jahrbuch für Politisches Denken. Berlin: Dunker-Humblot, 18-40. Angeli 5 Schmalz, Dana 2015: Der Flüchtlingsbegriff zwischen kosmopolitischer Brisanz und nationalstaatlicher Ordnung. In: Kritische Justiz, 48:4, 390-404, hier: 399. 6 Schuster, Liza 2002: Asylum and the Lessons of History. An Historical Perspective. In: Race and Class 40:2, 40-56.
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Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte zu führen. Und auch hier scheinen die grauen Bereiche zu verschwinden: es gibt die „helle Seite der Zivilgesellschaft“7 und ihre entgegengesetzte „schmutzige Seite“8. Zuwanderung erzeugt also immer schon starke Gegenreaktionen, immer hat der Ruf nach Begrenzung der Anzahl, die Warnung vor der Destabili‐ sierung der Ordnung das Thema Zuwanderung begleitet. Das wird bereits an den Überlegungen Platons deutlich. Die Skepsis war immer groß, so‐ bald das Gefühl entstand, es kämen zu viele Menschen über die Grenzen in die europäischen Länder. Im 19. Jahrhundert, in der Zeit der National‐ staatsbildung wurde Migration zunächst vor allem mit einem Sicherheits‐ risiko in Verbindung gebracht. Mit der Einführung einer Sozialstaatsstruk‐ tur und dem wachsenden nationalen Identitätsgefühl wurde die Ablehnung mit den Arbeitsplätzen, der Auslastung der Sozialsysteme und der drohen‐ den Überfremdung gerechtfertigt. Auch gab es Vorbehalte, Widerstände und feindliche Reaktionen aus der Bevölkerung.9 Ebenso ist die Asylpra‐ xis zwischen 1949 und 1993 immer wieder scharf angegriffen worden. Es gab verschiedene Empörungswellen gegen die Aufnahme zu vieler Flücht‐ linge – ganz unabhängig von den tatsächlichen Zahlen.10 Die Überlegun‐ gen nach einer Grenze der Aufnahme und Integration begleitet diese Be‐ fürchtungen. So forderte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 18. Januar 1973, man möge doch sorgsam prüfen, „wo die Aufnahmefä‐ higkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.“ Ebenso beunruhigt auch heute die Zuwan‐ derung die europäischen Aufnahmegesellschaften. Diese Beunruhigung, so schreibt Paul Mecheril, ist tiefgreifend.11 Denn sie scheint ebenso wie bei Platon mit der Angst vor einer Destabi‐ lisierung politischer Ordnung einherzugehen. Selten ist in den letzten Jah‐ ren so emotional über ein politisches Ereignis diskutiert worden, wie über die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ – oder genauer: die Krise der europä‐
7 Marg, Stine, Katharina Trittel, Christopher Schmitz, Julia Kopp, Franz Walter 2016: NoPegida. Die helle Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript. 8 Geiges, Lars, Stine Marg, Franz Walter, 2015: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld: transcript. 9 Oltmer, Jochen 2016: Schutz für Flüchtlinge in der Weimarer Republik. In: Jochen Oltmer (Hrsg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahr‐ hundert. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 439-462, hier: 445. 10 Land, Volker 2015: Im Boot war niemals Platz. In: Die Zeit. Nr. 34, 14. 11 Mecheril, Paul 2011: Wirklichkeit schaffen. Integration als Dispositiv. In: Aus Po‐ litik und Zeitgeschichte 61: 4, 49-54.
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ischen Migrationspolitik12 – im Jahr 2015, selbst wenn die unmittelbar spürbaren Auswirkungen anderer Krisen viel stärker waren. Die Beunruhigung führt dazu, dass ebenso heute Forderungen nach der Grenzziehung hinsichtlich der Aufnahme laut werden. Das Wort der ‚Obergrenze‘ ist dabei neu in die Diskussion eingeführt worden und hält sich trotz der vielfältigen Proteste konstant in der Debatte. Jedoch vermag kaum jemand Kriterien dafür entwickeln, wie denn diese Grenze errechnet und bestimmt werden soll. Ebenso bleibt bislang die Frage unbeantwortet, was denn mit dem ersten Flüchtling passiere, der an die Grenze komme, nachdem das begrenzte Kontingent erreicht ist. Diese Frage zielt darauf, dass aus dem Asylrecht selbst keine Begrenzung abzuleiten wäre, denn es sieht die Einzelfallprüfung für jeden vor. Materialisiert worden ist die For‐ derung z. B. in dem Zaunbau von Ungarn, der wie kaum etwas anderes die Grenzen der Integration und die Grenzen der Aufnahme symbolisiert. Der Zaun steht als deutliches Symbol für die Ordnung und Stabilität erhaltene Integration nach innen und die Abwehr gegen die Unordnung schaffende Gefahr von außen. Ebenso suggeriert der Begriff der Obergrenze, mit der Festlegung der Anzahl an neuaufzunehmenden Flüchtlingen Stabilität und Kontrolle erreichen zu können. Aber sowohl die Einforderung nach einer Festlegung der Grenzen für die Aufnahme als auch der Zaunbau Ungarns rufen bei Vielen ein Unbehagen hervor. Dieses Unbehagen, das soll im Folgenden diskutiert werden, ist nicht allein auf moralische oder humanitäre Bedenken zurückzuführen, sondern es begründet sich aus der demokratischen Ordnung selbst. Wenn man von der Frage absieht, dass es aufgrund der internationalen Verpflichtungen und der Flüchtlingsrechte schwierig ist, Flüchtlingen die Aufnahme zu verweigern, so möchte ich hier in einer demokratietheoretischen Perspek‐ tive auf das Thema blicken. Die Frage, die sich mit den Forderungen nach der Obergrenze stellt ist, was denn eigentlich hinter dieser Grenze passiert. Oft verbleiben Politiker bei der Diskussion dieser Frage in einer dualisti‐ schen Logik zwischen Chaos und Ordnung gefangen. Während der ver‐ mehrte Zuzug mit dem Chaos gleichgesetzt bleibt, so ist die Begrenzung der Zuwanderung der Ordnung zugerechnet.
12 Schulze Wessel, Julia 2017: Krise? Welche Krise? Von der Flüchtlingskrise zur Krise der europäischen Migrationspolitik. In: Indes. Zeitschrift für Politik und Ge‐ sellschaft, 2: 61-68..
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2. Über die Ambivalenz von Grenzen Zunächst muss bei der Frage nach den Grenzen der Integration oder auch den Obergrenzen der Aufnahme danach gefragt werden, was denn der Be‐ griff der Grenze überhaupt beinhaltet. Über sie kann zunächst ganz grund‐ sätzlich gesagt werden, dass sie eine Differenz markiert. Spezifischer ge‐ sprochen beschreibt sie eine Ungleichheitsrelation, bezeichnet eine Diffe‐ renz zwischen mindestens zwei Seiten. Dabei wirkt sie in beide Richtun‐ gen:13 sie wirkt in das Innen, das sie umschließt und vom Außen abgrenzt, und ebenso in das Außen, gegen das sie gerichtet ist. Ohne diese zwei Sei‐ ten kann keine Grenze bestehen, sie hängt an dieser Dualität. Dabei wirkt sie in beide Richtungen auf unterschiedliche Weise. Grenzen schließen die eine Seite ein, umschließen etwas, das durch sie erst ihre spezifische Gestalt erhält. Sie verfügen demnach zum einen über eine integrative Dimension. Paradigmatisch findet diese Grenzziehung in den Vertragstheorien statt. In der Abkehr von einer ungeordneten und un‐ sicheren Vereinzelung entsteht durch den grenzziehenden Vertragsschluss eine Gemeinschaft gleicher Bürger, die integriert sind durch den Schutz ei‐ nes Souveräns oder durch ihre bürgerliche Freiheit, die sich in der Selbst‐ gesetzgebung ausdrückt.14 Jedoch, und das wird auch an dem Beispiel der Vertragstheorien deutlich, ist jede Grenzziehung sinnlos ohne das Außen, gegen das sie sich in Differenz setzt. Die bürgerliche Gesellschaft grenzt sich von der ihr vorausgehenden oder auch sie umgebenden Unordnung, von dem Naturzustand, ab. Sie errichtet ihre Ordnung auf einem umgrenz‐ ten Territorium, auf dem Nicht-Mitglieder Fremde sind. Das Außen ist aus dieser Perspektive das Andere, das Nicht-Mitglied. Damit ist der nächste Aspekt der Grenzziehung angesprochen. Denn Unterscheidungen durch Grenzziehungen bedeuten zumeist auch eine hierarchische Ordnung der Unterschiedenen zueinander. So sind Bürgerin‐ nen und Bürger einer liberalen demokratischen Ordnung ausgestattet mit einem Rechtsbündel, das zum politischen Leben qualifiziert, während an‐ dere, wie in früheren Zeiten Frauen, Sklaven oder nicht-Besitzende, von
13 Agier, Michel 2016: Borderlands. Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition. Cambridge, UK; Malden, MA, USA: Polity, 18. 14 Zur Frage der Rechtfertigung territorialer Grenzziehungen in den Vertragstheorien siehe: Vasilache, Andreas 2007: Der Staat und seine Grenzen. Zur Logik politisch‐ er Ordnung. Frankfurt a.M.: Campus.
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diesen Rechten ausgeschlossen waren. Sie waren Gegenfiguren zu den Staatsbürgern. Grenzen haben also nicht nur eine integrative, sondern auch, das liegt auf der Hand, eine exklusive Dimension. Z. B. fungieren territoriale Gren‐ zen für diejenigen, die von außen kommen als Zäsur, als Entschleunigung für alle, die sie überqueren wollen. Für einige bedeuten sie auch den Ab‐ bruch der Wanderungen, die Verweigerung der Überschreitung. Sie bedeu‐ tet immer Selektion – offene Grenzen können in diesem Sinne nicht ge‐ dacht werden. Sie bezeichnen dann ihre Auflösung, ihr Verschwinden. In der alltagssprachlichen Diskussion wird die Grenze oftmals lediglich mit dieser exklusiven Dimension in Verbindung gebracht: Die Grenze be‐ zeichnet in diesem Verständnis das Ende eines Raumes – territorial oder symbolisch. Mit ihr einher geht die Überzeugung, dass ein Überschreiten der Grenze illegitim oder zumindest problematisch sei. Jedoch auch wenn ihre Endgültigkeit oftmals beschworen und ihr Über‐ schreiten als moralisch illegitim betrachtet wird, so ist doch wesensmäßig die Verbindung und Überschreitung ihr unmittelbar zugehöriges Element: „Boundaries do not only separate, they also link“, so Niklas Luhmann.15 Der Begriff der Grenze beschreibt also ganz allgemein eine Relation,16 die zwischen einem Innen und einem Außen entsteht. Sie kann nur als relatio‐ naler Begriff verstanden werden. Die Ausgestaltung der Relation ist durch die jeweiligen Grenzziehungen, ihre diskursiven Aufladungen, durch ihre Materialisierung und durch die politischen Praxen bestimmt.17 Grenzen verbinden, bringen Differenzen hervor und markieren sie und stellen gleichzeitig Kontaktzonen zwischen Drinnen und Draußen dar.18 Durch ihr verbindendes Element bergen sie immer die Möglichkeit des Passierens, des Überschreitens und des Verweigerns des Zutritts in sich. Grenzen sind durch ihre verbindende Funktion immer durchlässig, 19 mal mehr und mal weniger. Ihre vollständige Schließung oder vollständige Öffnung würde ihre Auflösung bedeuten. 15 Luhmann, Niklas 1982: Territorial Borders as System Boundaries. In: Strassoldo, Raimondo/Giovanni Delli Zotti (Hrsg.), Cooperation and Conflict in Border Are‐ as. Milano: Franco Angeli, 235-244, hier: 236. 16 Agier, a.a.O., 7. 17 Ebd., 19. 18 Schulze Wessel, Julia 2016: On Border Subjects. Rethinking the Figure of the Refugee and the Undocumented Migrant. In: Constellations 23:1. 36-57. 19 Shakenove, Andrew 1993: From Asylum to Containment. In: International Jour‐ nal of Refugee Law 5:4, 516-533, hier: 521.
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Durch die Hervorhebung der Verbindung, die die Grenze kennzeichnet, wird ein weiteres Element sichtbar. Sie kann kaum unilateral bestimmt werden. Normalerweise, so Michel Foucher, braucht es zwei, um eine Grenze zu ziehen20 – mindestens zwei, muss hinzugefügt werden. Sie wer‐ den vor allem dann sichtbar, wenn sie herausgefordert werden. Die Sicht‐ barkeit der Grenze hängt damit nicht nur von demjenigen ab, der sie zieht, sondern auch von denjenigen, die sie in Frage stellen, überschreiten wol‐ len oder auch bekämpfen. Ein markantes Beispiel sind die Grenzen inner‐ halb der EU, die über lange Zeit verschwunden zu sein schienen. Erst durch die vermehrte Zuwanderung in den letzten Jahren und dem damit einhergehenden Gefühl des Kontrollverlustes, werden sie wieder sichtbar und materialisieren sich in Form von Zäunen, Polizei und Grenzbeamten. Grenzen sind umkämpft – von beiden Seiten. Grenzen zeichnen sich durch ihren Schwellencharakter aus, durch das Nicht-Eindeutige, das, was nicht zuzuordnen und nicht zu definieren ist. Grenzen können überhaupt nur in ihrer Ambivalenz gefasst werden. Sie drücken immer ein in-between aus und gehören keiner der beiden Seite an, die sie voneinander trennen: „In theory, and effectively in practice, borders are neither inside not outside the territory they define but simply designate the difference between the two.“ 21 Damit ist es gerade das Nicht-Eindeu‐ tige, das die Grenze ausmacht. Sie kennzeichnen immer beides zugleich: Trennung und Verbindung, Ausschluss und Einschluss, Öffnung und Schließung. Dabei ist zentral, dass selten nur eine Seite über den Grenz‐ verlauf verfügt. Deswegen können Grenzen kaum als statische Größen angesehen wer‐ den, sondern sie sind flexibel, werden erweitert, gestärkt oder geschwächt. Sie sind insofern unsichere Gebilde, die immer wieder auf neue Bestäti‐ gung, Hervorbringung und ggf. Umgestaltung angewiesen ist.22 Der Begriff der Obergrenze ist demnach in sich widersprüchlich. Denn gerade die Unbestimmbarkeit, die Undefinierbarkeit ist das Kennzeichen der Grenze. Sie ist umstritten, wird gedehnt oder gestärkt und gefestigt und kann deswegen nicht mit etwas Absoluten in Verbindung gebracht
20 Foucher, Michel 2000: The Geopolitics of Front Lines. and Borderlines. Geopoli‐ tics 5:2, 159-170, hier: 159. 21 JanMohamed, Abdul 1992: Worldliness-Without-World, Homelessness-as-Home. Toward a Definition of the Specular Border Intellectual. In Michael S. (Hrsg.), Ed‐ ward Said: A Critical Reader. Oxford: Blackwell: 216-241. 22 Agier, a.a.O, 23.
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werden. Ebenso wenig passt dieser Begriff zur demokratischen Ordnung, denn auch diese widerstehen jedem Absoluten – das zumindest ist für Denkerinnen wie Hannah Arendt oder Claude Lefort das entscheidende Kennzeichen einer freiheitlichen Ordnung. Ich möchte die Demokratie verstehen als eine politische Ordnung, in der Grenzüberschreitung, Grenz‐ hinterfragung oder allgemein die Grenzkämpfe als konstitutive Elemente verstanden werden müssen. Dieser Grenzkonflikt ist in der für Demokratien zentralen Institution der Staatsbürgerschaft angelegt. Sie ist gleichzeitig die zentrale Institution, wenn es um die politische Integration von neu Zugewanderten geht. 3. Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen in Demokratien Bereits in ihrem Ursprung ist die Demokratie auf Grenzüberschreitung an‐ gelegt gewesen. Das kann mit Josiah Ober gezeigt werden. Anders als Aristoteles, der die Herrschaftstypen nach der Anzahl und der zugrunde‐ liegenden Orientierung der Herrschenden einteilt, hat er eine andere Trennlinie vorgenommen. Er ordnet verschiedene Herrschaftstypen nach ihrem Suffix – also in die ‚archệ‘-Typen und die kratos-Typen. Beide Be‐ griffe können mit „herrschen“ übersetzt werden, jedoch beziehen sich bei‐ de auf unterschiedliche Formen von Macht oder Herrschaft, auf verschie‐ dene Varianten des Sitzes von Macht und Herrschaft. Herrschaftstypen, die mit dem Suffix ‚archệ‘ enden, so Ober, rekurrieren auf eine spezifische Anzahl von Herrschenden. Sie sind meist durch ihre Herkunft zur Regie‐ rung qualifiziert. Ihre Herrschaft drückt sich aus in der Besetzung von Ämtern in einem verfassten Gemeinwesen. Qua dieser Ämter leiten und führen die Herrscher das bestehende Gemeinwesen. Insofern drückt sich in ‚archệ‘ eher die Bedeutung von Regierung, ‚Anleitung‘ oder ‚Führung‘ aus. Die Demokratie dagegen weist den Begriff ‚kratos‘ auf, der zwar eben‐ falls mit Herrschen übersetzt werden kann, jedoch nicht mit der Besetzung öffentlicher Ämter in Verbindung gebracht wird. So steht ‚kratos‘ für Wörter wie Überlegenheit, Kraft, Macht, Stärke, Verfügungsgewalt, für „sich bemächtigen“23 und enthält dadurch eine äußerst aktivistische Kom‐
23 Meier, Christian 1970: Entstehung des Begriffs ‘Demokratie’. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 45.
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ponente.24 Der Begriff ‚kratos‘, so Ober, bezieht sich in Verbindung mit dem demos Begriff auf eine „activated political capacity“,25 und meint nicht einfach nur die oft negativ konnotierte Mehrheitsherrschaft. Das suf‐ fix ‚kratos‘ der Demokratie beziehe sich vielmehr auf ein Vermögen Gleichgestellter, zu handeln und zu verändern, Neues zu schaffen. Diese Macht entsteht nicht zuvörderst durch die institutionalisierte Herrschaft, durch das Innehaben bestimmter Funktionen und Ämter, son‐ dern durch eine horizontale Reziprozitätsbeziehung der handelnden Bür‐ ger untereinander. Dieser Machtbegriff verweist vielmehr als das ‚archệ‘ Suffix auf die Möglichkeit des Eingreifens, der Veränderung, auf die Transformation ‚von unten‘, weil er gerade nicht mit der institutionalisier‐ ten Ordnung in Form des Innehabens von Ämtern verbunden ist. Das grie‐ chische Wort ‚kratos‘, so die Schlussfolgerung von Ober, gehe von daher mit Momenten einer von den handelnden Menschen ausgehenden und po‐ tentiell Unordnung schaffenden Macht einher.26 Die institutionalisierte Ordnung setzt dabei die Grenzen, die durch die ‚activated political capaci‐ ty‘ hinterfragt, herausgefordert und ggf. transformiert werden können. Da‐ mit ist der Streit um Grenzen unmittelbar in die Idee der Demokratie ein‐ gelassen. Ohne das Element des ‚kratos‘ würde die Demokratie zu einer starren Herrschaftsform werden. Diese Logik einer grenzüberschreitenden ‚Unordnung‘ erzeugenden Kraft als Kernelement liberaler Demokratien ist in der Moderne in der zentralen, den revolutionären Stolz verkörpernden Institution eingeschrie‐ ben: die Institution der Staatsbürgerschaft. Oftmals wird auch sie als Mar‐ kierung einer klaren Trennung verstanden, als Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚den anderen‘, Inländern und Ausländern. In ihr ist jedoch der Streit um die Grenzen, der ständige Prozess der Infragestellung von Grenzzie‐ hungen, von Grenzverstärkungen, -verteidigungen und ggf. der Neujustie‐ rung von Grenzen eingeschrieben und selbst in der Institution mit ange‐ legt:
24 Ober, Josiah, et al. 2008: Origins of Democracy in Ancient Greece. Berkeley: Uni‐ versity of California Press. 158. 25 Ober, Josiah 2008: The Original Meaning of Democracy. In: Constellations 15: 1, 3-9. 26 Buchstein, Hubertus (Hrsg.) 2013: Die Versprechen der Demokratie. 25. wissen‐ schaftlicher Kongress der Deutschen Verneigung für Politische Wissenschaft. Ba‐ den-Baden: Nomos; Höffe, Otfried 2011: Aristoteles‘ Politik: Vorgriff auf die libe‐ rale Demokratie, zweite berarbeitete Ausgabe. Berlin: Akademie Verlag. 163-178.
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Die moderne Staatsbürgerschaft ist das Ergebnis von Revolutionen, die als Ereignisse verstanden werden können, in denen, unabhängig davon wie sie enden, ein urdemokratisches Moment hervorgebracht wird. Revolutio‐ näre stellen im Zusammenhandeln institutionalisierte Ordnungen radikal in Frage, ohne dass sie zu dieser Infragestellung von irgendjemand autori‐ siert worden sind. Dieses revolutionäre Charakteristikum hatte bereits Alexis de Tocqueville für die Französische Revolution festgehalten: „Die Franzosen beschränkten sich nicht mehr auf den Wunsch, ihre Angelegen‐ heiten möchten besser besorgt werden; sie begannen, diese selber besor‐ gen zu wollen.“27 Das selbstermächtigende Moment des ‚kratos‘ scheint hier wieder auf und wird in die Demokratien hinübergerettet. Es sind vor allem Hannah Arendt und Alexis de Tocqueville, deren Nachdenken über freiheitliche demokratische Ordnungen von dieser revolutionären Begeis‐ terung für die Freiheit als Selbstbestimmung durch politisches Handeln geprägt ist. Dieses Handeln bedarf einer neuen Legitimation – in den modernen, demokratischen Revolutionen ist das die Behauptung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Dieses universalistische Versprechen auf die Gleichheit und Freiheit aller ist unmittelbar in die Idee der Staatsbürger‐ schaft eingeflossen, ausgedrückt in der ‚Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte‘. Sie sind in einer spezifischen Spannung angelegt, weil in ihnen Universalität und Partikularität miteinander eng verwoben sind. Hannah Arendt machte zwischen universell deklarierten Rechten und ihrer partikularen Zuordnung einen unauflösbaren Widerspruch aus und war für sie ein gewichtiges Argument, um von der Aporie der Menschenrechte zu sprechen.28 Sinnvoller müsste man jedoch von einer Spannung oder einem Widerstreit von zwei Ideen sprechen, die in der Staatsbürgerschaft ange‐ legt sind. Hierauf haben verschiedene Denkerinnen und Denker geantwor‐ tet. Ob nun Jürgen Habermas‘ Überzeugung von der Gleichursprünglich‐ keit von Menschenrechten und Demokratie, oder Seyla Benhabibs Idee der Iteration oder Yasemin Soysals Überlegungen zu einer postnationalen Bürgerschaft – sie alle verbindet die These einer generellen Offenheit für grenzüberschreitende und grenztransformierende Prozesse, die zentrale In‐
27 Tocqueville, Alexis de 1978: Der alte Staat und die Revolution (1856). München: Dt. Taschenbuch-Verlag. 167. 28 Arendt, Hannah 1991: Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Men‐ schenrechte (1955). In: dies: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frank‐ furt a. M.: Piper, 422-470.
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stitutionen von Demokratien wie die Staatsbürgerschaft transformieren können. Ganz in diesem Sinne hat Etienne Balibar die Staatsbürgerschaft in zwei Dimensionen aufgespalten, die diese Möglichkeit der Grenzüber‐ schreitung oder zumindest der Grenzhinterfragung aufzeigen kann: Das universalistische Versprechen der Gleichheit kann als Dimension der Selbstermächtigung verstanden werden, das gezogene Grenzen hinterfragt und herausfordern kann. Es prägt revolutionäre Zeiten und wird hinüber‐ gerettet in konstitutionalisierten Demokratien, in denen es das unab‐ schließbare Element demokratischer Ordnungen symbolisiert. Dabei macht Balibar diese Dimension der Selbstermächtigungunabhängig von dem rechtlichen und politischen Status der Handelnden.29 Diese grenzirritierenden Handlungen sind klassisch repräsentiert in den Kämpfen der Frauen, der Sklaven, der Jüdinnen und Juden, der Schwarzen – und heute, unter anderen Vorzeichen auch bei den Protesten von Flücht‐ lingen präsent. Sie verweisen in ihrem politischen Handeln auf das univer‐ selle Versprechen von Freiheit und Gleichheit, auf deren Grundlage die Rechte eingefordert werden, die durch die exklusive konstitutive Dimensi‐ on nicht institutionell gesichert sind. Insofern kann die selbstermächtigen‐ de Dimension verstanden werden als eine von der konkreten Rechtsge‐ währung unabhängige Dimension, die auch von denjenigen aktiviert wer‐ den kann, die über keine Staatsbürgerrechte verfügen.30 Staatsbürger‐ schaft, so kann mit Balibar geschlossen werden, weist immer über sich selbst hinaus. 4. Das Unbehagen an Obergrenzen Insofern symbolisiert die Staatsbürgerschaft wie kaum eine andere Institu‐ tion Grenzkämpfe in Demokratien – das hat die Geschichte über lange Jahrhunderte gezeigt. Die in der zentralen Institution angelegte Grenzüber‐ 29 Siehe dazu auch: Isin, Engin 2009: Citizenship in Flux. The Figure of the Activist Citizen. In: Subjectivity 29, 367-388. 30 Celikates, Robin 2010: Demokratisierung der Demokratie. Etienne Balibar über die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht. In: Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hrsg.). Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Biele‐ feld: transcript, 59-76; Balibar, Ètienne 2003: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg: Ham‐ burger Edition. 94-100, 123-140.
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schreitung kann als ein Grund dafür gelten, dass es in Demokratien ein Unbehagen gegen Symbolisierungen der Unüberwindbarkeit gibt. Das Un‐ behagen gegen eine Obergrenze der Aufnahme oder gegen die in dem Zaunbau Ungarns symbolisierte Abschottung hätte damit noch andere Gründe, als die Sorge um die humanitäre Verpflichtung gegenüber frem‐ den Staatsbürgern. Denn die Möglichkeit der Grenzüberschreitung gehört zum Kernbestand von Demokratien. Während Markierungen von Differenzen in totalitären oder autoritären Staaten als unüberbrückbar gekennzeichnet werden, so lebt der demokrati‐ sche Prozess von der Aushandlung, von der Offenheit und der Unabge‐ schlossenheit – und das bedeutet auch immer: von der Infragestellung von Grenzen, den potentiellen Grenzüberschreitungen und den mit ihnen ein‐ hergehenden Grenzverschiebungen. Differenzmarkierungen in totalitären Regimen können nicht als Grenzziehung bezeichnet werden. Differenzen sind hier absolut gesetzt, statisch und unverhandelbar.31 Wer dazu gehört und wer nicht, ist endgültig und autoritär entschieden. Weder die prospektiven Opfer noch andere Gruppen haben die Möglich‐ keit, eine Aufweichung der Unterscheidung zu erreichen. Sie verschwin‐ den – symbolisch ebenso wie real – unter den Bedingungen totalitärer Herrschaften. In Anlehnung an Michel Agier können die Differenzsetzun‐ gen in totalitären Herrschaften als Mauern bezeichnet werden, die den An‐ deren verschwinden lassen,32 die Differenzmarkierungen in Demokratien können dagegen mit dem Begriff der Grenzziehungen besser gefasst wer‐ den, denn sie lassen den Anderen bestehen. Aus dieser Perspektive könnte man dann das sogenannte demokratische Paradox abschwächen. Seyla Benhabib hat – unter vielen anderen – auf das Paradox von Grenzen in Demokratien hingewiesen: Demokratien sei‐ en nicht in der Lage, „die Grenzen der Zugehörigkeit zu ihnen … demo‐ kratisch zu bestimmen.“33 Die demokratischen Prozesse gründen demnach auf dem höchst undemokratischen Akt der Grenzziehung. Denn jede Gründung ist von diesen exklusiven Prozessen notwendig begleitet. Aller‐ dings sind diese Grenzen immer wieder erweitert, immer wieder sind neue Gruppen integriert und in diesen Aushandlungen die Grenzen verschoben
31 Siehe hier vor allem das Kapitel ‚Ideologie und Terror‘ sowie ‚Die Konzentrati‐ onslager‘ aus den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft von Hannah Arendt. Arendt, a. a. O. 32 Agier, a. a. O. 7. 33 Benhabib, Seyla 2008: Die Rechte der Anderen. Frankfurt: Suhrkamp. 41.
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worden. Dieses Problem kann unter dem Stichwort der ‚Demokratisierung der Grenzen‘ und der Kontrolle über sie 34 gefasst werden. 5. Integration als Grenzkonflikt Nach den Grenzen der Aufnahme und Integration zu fragen, bedeutet also nicht die Bestimmung eines Endpunktes der Debatte, die Bestimmung einer Obergrenze, sondern eröffnet erst das Feld des Konflikts um Grenz‐ ziehungen und –überschreitungen. Anders als oftmals in der öffentlichen Debatte suggeriert, gehört die beständige Konflikthaftigkeit von (nationa‐ len) Identitäten, der Grundlagen und des Selbstverständnisses zur demo‐ kratischen Ordnung. In dem Begriff der Obergrenze geht diese Dimension verloren. Diese Aushandlungsprozesse werden durch Immigration noch‐ mals verstärkt, wenn diejenigen, die neu hinzukommen, zu den Diskussio‐ nen zugelassen werden. Auffällig ist, dass von jeher dieses Thema fähig war, ganze Gesellschaf‐ ten zu spalten. Die Diskussionen um Einwanderung und Integration bewir‐ ken oftmals extreme, unversöhnliche Reaktionen – und das ganz unabhän‐ gig von der realen Zahl an Zuwanderern. Die Geschichte der Migration und die – relativ stereotypen Reaktionen auf sie – könnten auch heute zur Relativierung der Aufregung beitragen. Das Thema von Zuwanderung, Flucht und Migration ist deswegen so aufgeladen, weil in ihm alle Kon‐ flikte der Zeit verhandelt werden, ohne dass sie unmittelbar mit Fragen von Zuwanderung, Migration und territorialen Grenzüberschreitung zu‐ sammenhingen. Und so wird in allen Diskussionen um die Zuwanderung über das eigene Selbstverständnis mehr ausgesagt als über die Ankom‐ menden selbst. Der Blick in die Geschichte und die Normalität von Grenzkämpfen in Demokratien könnten zur Entdramatisierung von Zuwanderung beitragen. Anstatt also nach der Grenze von Integration zu fragen, wäre vielleicht ein Schritt notwendig, der aus dem Dualismus zwischen Bestandswahrung
34 Siehe dazu z. B.: Abizadeh, Arash 2008: Democratic Theory and Border Coercion: No Right to Unilaterally Control Your Own Borders. In: Political Theory 36:1, 37-65.
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und Chaos35 ausbricht – und auch aus dem Dualismus von wir und sie. So schreibt der Migrationsforscher Albert Scherr über die Grenzziehungen hinsichtlich legitimer Zugehörigkeit und Partizipation in Demokratien: „Denn die Auseinandersetzung über notwendige, mögliche und legitime Formen der Grenzziehungen kann […] in einem spezifischen Sinn entdra‐ matisiert werden, d. h. als Gegenstand der ‚ganz normalen‘ Konflikte um Grenzziehungen betrachtet werden, die demokratisch verfasste politische Systeme kennzeichnen.“36
35 Scherr, Albert 2016: Migration, Menschenrechte und die Grenzen der Demokratie. In: Philipp Eigenmann, Thomas Geisen, Tobias Studer (Hrsg.). Migration und Minderheiten in der Demokratie. Wiesbaden: Springer, 45-61, hier: 54. 36 Ebd.: 55-56.
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Zusammenfassung Grenzen kommt in der Politik eine wesentliche Rolle zu. Was aber sind Grenzen? Und was rechtfertigt staatliche Grenzen? Zu einer Antwort wird nachfolgend die Alternative des normativen Individualismus und des nor‐ mativen Kollektivismus entfaltet und diskutiert. Darauf aufbauend wird nach einem Einwanderungsrecht gefragt und nach den Grenzen des Kon‐ senses sowie der Toleranz in liberalen Gesellschaften, letzteres mit Bezug auf das Beispiel gesetzlicher Verschleierungsverbote. Einleitung Was sind Grenzen? Dies wird in einem ersten Abschnitt untersucht. Dann wird in einem zweiten Abschnitt gefragt, was staatliche Grenzen rechtfer‐ tigt. Zu einer Antwort werden in einem dritten Abschnitt die Theorien des normativen Individualismus und des normativen Kollektivismus unter‐ schieden. Darauf aufbauend ist ein vierter Abschnitt der Frage eines Rechts auf Einwanderung gewidmet. Ein letzter Abschnitt thematisiert die Grenzen des Konsenses und der Toleranz in liberalen Gesellschaften. 1. Was ist eine Grenze? Grenzen bestehen zwischen einem etwas und einem anderen etwas. Sie sind somit Zusammenhänge. Was kann dann ein etwas sein, das mit einem anderen etwas so zusammenhängt, dass beide eine Grenze gemeinsam ha‐ ben? Man denke als Beispiel an die Grenze zwischen dem bewaldeten und dem unbewaldeten Teil eines Berges oder an die Grenze zwischen blau und rot auf einer Flagge. Grenzen sind somit Zusammenhänge zwischen Eigenschaften eines Dings. Zugleich sind sie selbst ein Etwas. Sie sind al‐ 25
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so das sekundäre Etwas des Zusammenhangs wenigstens zweier primärer Eigenschaften eines Dings. Grenzen liegen folglich nicht unmittelbar zwischen Dingen. Dinge sind per se unabhängig voneinander und durch eigenständige Relationen ver‐ bunden, etwa zwei Bäume zwischen denen keine Grenze, sondern ein Ver‐ hältnis besteht, z. B. ein räumliches Verhältnis. Da Eigenschaften grund‐ sätzlich veränderlicher sind als Dinge, gilt: Grenzen sind als sekundäres Etwas des Zusammenhangs der primären Eigenschaften von Dingen viel veränderlicher und veränderbarer als die Dinge selbst. Diejenigen Eigenschaften, welche über eine Grenze im Zusammenhang stehen, können aber natürlich ihrerseits Dinge zur Grundlage haben, etwa in der bewaldeten Zone des Berges aus den Bäumen und Sträuchern oder auf der Flagge aus den Farbpigmenten bestehen. Im Übrigen können durch eine Grenze zwischen Eigenschaften auch Dinge abgegrenzt werden, etwa durch die Grenze der Höhenverringerung eines Tals zwei Berge oder durch die Grenze der Territorien und der Herrschaften zwei Staaten. Dann gibt es aber ein umfassenderes Ding, an dem die Grenze als sekundäres Etwas einen Zusammenhang von primären Eigenschaften markiert, etwa das Gebirge mit der Grenze zwischen zwei Erhebungen als Berge bzw. der Boden der Erde mit den zwei abgegrenzten Gebieten als Staaten. Welche Grenzen bestehen als relativ veränderliche und veränderbare Zusammenhänge zwischen Eigenschaften? Man kann natürliche (etwa räumliche oder zeitliche), soziale, politische, rechtliche, wirtschaftliche, ethische und manche andere Arten von Grenzen unterscheiden. Eine na‐ türliche räumliche Grenze liegt etwa zwischen dem bereits erwähnten be‐ waldeten und unbewaldeten Teil eines Berges, eine natürliche zeitliche Grenze zwischen Sommer und Herbst, eine soziale Grenze zwischen den Wohngebieten von Alteingesessenen und neu Zugezogenen, eine politi‐ sche Grenze zwischen zwei Staaten, eine rechtliche Grenze zwischen den Mitgliedern der EU und den Nichtmitgliedern, eine wirtschaftliche Grenze zwischen reichen und armen Regionen, eine ethische Grenze zwischen dem, was als Verhalten ethisch tolerierbar ist und demjenigen, was nicht mehr tolerierbar ist. Dabei sind natürliche Grenzen für soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Grenzen grundlegend. Oder genauer gesagt: Sie werden dazu gemacht. Die natürliche räumliche Grenze eines Flusses wird etwa zur politischen und rechtlichen Grenze zwischen zwei Staaten erklärt, z. B. der Rhein zur Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Die Gren‐ ze kann aber auch unabhängig vom Fluss verlaufen, wie man bei der 26
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deutsch-französischen Grenze nördlich Karlsruhes sieht. Und man kann Flüsse prinzipiell umleiten. Flüsse können schließlich wie der Nil in Ägypten ganz im Gegenteil ein Land einen. Natürliche räumliche Grenzen wie Flüsse oder Gebirge vermögen also gewisse Gründe für soziale, politi‐ sche, rechtliche und wirtschaftliche Grenzen zu liefern. Diese Gründe stel‐ len aber keine starken oder gar unüberwindlichen Gründe dar. Sie lassen sich durch andere stärkere Gründe verdrängen oder zumindest in ihrer Be‐ deutung verringern. Ein Beispiel ist die Rheingrenze zwischen Deutsch‐ land und Frankreich innerhalb der EU, welche durch das Schengen-Ab‐ kommen relativiert wurde und wird. Dies gilt heute angesichts der moder‐ nen technischen, ökonomischen und politischen Mittel zur Überwindung natürlicher Grenzen in zunehmendem Maße. Während sich soziale Grenzen spontan, also ohne menschliche Planung bilden – man denke etwa an verschiedene Wohngebiete –, sind politische und rechtliche Grenzen das Ergebnis menschlichen Handelns mit Ein‐ schränkungen für die Belange bzw. Interessen anderer und deshalb immer und unabdingbar rechtfertigungsbedürftig. 2. Die Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Grenzen Dann stellt sich die Frage: Was rechtfertigt eigentlich die außenpolitische und staats- bzw. internationalrechtliche, räumliche Grenze zwischen Staa‐ ten, etwa zwischen Deutschland und Frankreich, oder zwischen den Mit‐ gliedern der EU und den Nichtmitgliedern. Was rechtfertigt es also, dass z. B. Grenzschutzbeamte Menschen an der deutschen Grenze oder an den EU-Außengrenzen kontrollieren oder sogar zurückweisen? Lesen wir heute an manchen Hauswänden das Graffiti „Grenzen töten“, dann liegt darin die implizite These, dass sich staatliche, also außenpoliti‐ sche sowie staats- und internationalrechtliche, räumliche Grenzen grund‐ sätzlich nicht rechtfertigen lassen. Dies behauptet etwa ein radikaler Anar‐ chismus bzw. radikaler linker Internationalismus. Dagegen entspringt die Forderung, die nationalen Grenzen in Europa zu schließen, einem Natio‐ nalismus bzw. einer rechten politischen Auffassung, wobei es zwischen diesen Extrempositionen, die unter Demokraten kaum jemand ernsthaft vertritt, natürlich viele Zwischenstufen gibt. Die zentrale Frage lautet also: Wie lassen sich staatliche Grenzen rechtfertigen? Die Rechtfertigung politischen und rechtlichen Handelns kann prinzipi‐ ell auf zwei Ebenen stattfinden: entweder auf einer Ebene der Werte, wie 27
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der Gerechtigkeit, dem Guten, Selbsterhaltung, Freiheit, Eigentum, dem Glück aller bzw. des eigenen Volkes, oder auf einer Ebene der entschei‐ denden Entitäten, also einer Ebene von Entscheidern. Die meisten politi‐ schen Philosophen haben beide Ebenen verbunden, etwa Platon die Eliten‐ herrschaft der Wissenschaftlerherrscher mit den Werten der Beitragsge‐ rechtigkeit und des Guten, Aristoteles die Herrschaft der freien Polisbür‐ ger in der Politie mit dem Gemeinwohl, Hobbes die Vertragschließenden des politischen Vertrags mit der Selbsterhaltung, Kant die autonomen, selbstgesetzgebenden Personen mit dem Ziel der Freiheit und Rawls die rationalen Entscheider im Urzustand mit seinen beiden Grundsätzen der Verteilungsgerechtigkeit. Bezüglich dieser Verbindung von Werten und Entscheidern stellt sich die Frage: Was ist grundlegender, die Werte oder die entscheidenden Enti‐ täten? Das hängt davon ab, ob man wie Platon oder in abgeschwächter Form auch Aristoteles und viele andere Theoretiker der Antike und des Mittelalters eine religiöse, wertontologische oder zumindest naturrechtli‐ che Auffassung zu Grunde legt, oder wie im Modell des politischen oder sozialen Vertrags der Neuzeit, etwa bei Grotius, Hobbes, Locke, Rousseau und Kant, den Mitgliedern bzw. Subjekten der politischen Gemeinschaft einen eigenen Entscheidungsspielraum zugesteht. Angesichts der vielfältigen Skepsis und den heutigen pluralen Auffas‐ sungen wird man die neuzeitliche Überzeugung nicht mehr vollständig umkehren können. Das bedeutet: Wegen der nicht mehr akzeptierten Uni‐ versalität religiöser und metaphysisch-naturrechtlicher Rechtfertigungen stellt sich die Alternative zwischen einem normativen Individualismus und einem normativen Kollektivismus. Mir scheint dies die große Alternative der neuzeitlichen Begründungen der Ethik bzw. politischen Ethik zu sein, wie sie sich auch in der Diskussion zwischen Liberalismus auf der einen Seite und Kommunitarismus auf der anderen Seite ausprägt. Aber was be‐ deutet das genauer und welche Rechtfertigung verdient den Vorzug? 3. Normativer Individualismus versus normativer Kollektivismus Der normative Individualismus bzw. Humanismus behauptet, dass aus‐ schließlich die einzelnen Menschen bzw. Individuen letzter Ausgangspunkt einer legitimen ethischen Verpflichtung bzw. Wertung und damit als be‐ troffene Akteure bzw. Andere erstes Element einer adäquaten normativen Ethik sein können, nicht aber – wie der normativer Kollektivismus meint – 28
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Gemeinschaften oder Kollektive, etwa der Staat, die Nation, das Volk, die Gesellschaft usw.1 Der ethisch zu berücksichtigende Andere ist also in letzter Instanz in einer säkularen Perspektive immer die bzw. der Einzelne. Dabei handelt es sich – das muss betont werden – um die Behauptung der normativen Berücksichtigung als Individuen. Nicht bezweifelt wird, dass die Menschen faktisch auch in mehr oder minder engen Gemeinschaften leben. Nicht bestritten wird auch, dass es vorletzte Werte von Kollektiven geben kann. Nicht bestritten wird schließlich, dass jenseits der säkularen Perspektive göttliche Verpflichtungen bzw. Wertungen bestehen (können). Der normative Kollektivismus hat sich in extremer Form etwa im Na‐ tionalsozialismus in der Parole „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ ausge‐ drückt oder im Kommunismus in der Vorstellung von Klassenkämpfen und dem Primat der Arbeiterklasse sowie der These von der Notwendig‐ keit der Diktatur des Proletariats. Der sogenannte Islamische Staat vertritt eindeutig eine kollektivistische Ideologie bei der die einzelnen Menschen nur Mittel zum Kollektivzweck des sogenannten „Kalifats“ sein sollen. Je‐ der Totalitarismus ist ein Kollektivismus. Seit der Neuzeit haben sowohl die großen Strömungen der normativen Ethik als auch das Recht – mit einzelnen retardierenden Momenten – den normativen Individualismus bzw. Humanismus zunehmend anerkannt, al‐ so den einzelnen Menschen in säkularer Perspektive als letzte normative Instanz moralischer, rechtlicher und ethischer Verpflichtung akzeptiert. Viele der großen, modernen Ethikentwürfe stimmen zumindest im Aus‐ gangspunkt oder in manchen Zügen mit dem normativen Individualismus überein, etwa der Kantianismus bzw. die deontologische Ethik, der Utilita‐ rismus bzw. Konsequentialismus, aber auch die Vertragsethik/Diskurs‐ ethik. Was ist das entscheidende Argument? Eine Begründung muss ihren Ausgangspunkt beim Sinn und Zweck der Ethik nehmen. Die Ethik dient dazu, unseren Charakter sowie unser Han‐ deln und Entscheiden angesichts zumindest potentiell widerstreitender Ge‐ sichtspunkte, Werte und Belange zu bestimmen, und zwar nicht nur mit‐ tels Ratschlägen und Empfehlungen, sondern auch mittels genuiner, kate‐ gorischer Pflichten der Moral und des Rechts. Die Ethik hat also als Teil der menschlichen Kultur den Sinn und Zweck, faire und vernünftige Lö‐
1 Vgl. zum Folgenden: Verf., Normative Ethik, Berlin 2010: De Gruyter, S. 23ff.; ders., Normativer Individualismus, Zeitschrift für Philosophische Forschung 58 (2004), S. 321-346, ders., Normativer Individualismus, in: Information Philosophie 3/2014, S. 5-15.
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sungen eventuell gegenläufiger Charakter-, Handlungs- und Entschei‐ dungsoptionen zu ermöglichen, die dann auch zu handlungsleitenden, ka‐ tegorischen Pflichten der Moral und des Rechts führen. Das erfordert, dass Handelnder und Betroffener nicht Teil eines einzigen umfassenden, nor‐ mativ letztentscheidenden Kollektivs sind. Denn wären sie Teil eines ein‐ zigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs, so würde das bedeuten, dass sie zueinander nur im Verhältnis einer internen norma‐ tiven Relation stünden, nicht im Verhältnis einer externen normativen Re‐ lation. Würden sie aber zueinander nur im Verhältnis einer internen nor‐ mativen Relation als Teil eines einzigen umfassenden, normativ letztent‐ scheidenden Kollektivs stehen, so wäre nicht zu erklären, warum zwischen ihnen kategorische, handlungsbegrenzende Pflichten bestehen sollten, wie sie für die Ethik begriffliche Voraussetzung sind. Innerhalb eines einzigen umfassenden, normativ letztentscheidenden Kollektivs kann es gute Grün‐ de der Klugheit geben, einzelne widerstreitende Handlungsgesichtspunkte zu bevorzugen. Kategorische Pflichten müssen ihre letzte Quelle aber au‐ ßerhalb dieses Kollektivs haben, denn nur dann hängen sie nicht von will‐ kürlichen Entscheidungen des umfassenden Kollektivs mit unmittelbarer Wirkung für seine Teile ab. Hängen Konfliktlösungen von willkürlichen Entscheidungen des Kollektivs für seine Teile ab, so besteht keine katego‐ rische externe moralische Pflicht, sondern eben nur eine interne, unmittel‐ bar wirksame Klugheitsentscheidung gegenüber den Individuen. Dazu kommt: Kollektive können immer noch einmal ethisch hinsicht‐ lich ihrer eigenen Mitglieder intern bewertet werden. Deshalb kann die Kollektiventscheidung nicht letzter Maßstab der begründeten moralischen Rechtfertigung sein. Es besteht eine unhintergehbare ethische und damit normative Asymmetrie zwischen ethisch zu berücksichtigenden Individu‐ en und Kollektiven. Wir sprechen zwar von den Belangen bzw. Interessen von Kollektiven und akzeptieren damit das Bestehen derartiger kollektiver Belange bzw. Interessen. Daran lässt sich aber immer die Frage anschlie‐ ßen: Entsprechen diese kollektiven Belange bzw. Interessen auch wirklich den dahinter stehenden ethisch zu berücksichtigenden Belangen bzw. In‐ teressen der Mitglieder des Kollektivs? Liegt etwa ein bestimmtes Han‐ deln eines Unternehmens auch wirklich im Interesse der Arbeitnehmer und Aktionäre? Handelt die Repräsentantin oder der Repräsentant einer Familie wirklich im ethischen Interesse aller Familienmitglieder? Das Umgekehrte gilt aber nicht: Wenn Individuen ethisch betroffen sind und nicht in speziellen Rollen als Repräsentanten eines Kollektivs agieren, so kann man – so jedenfalls unsere phänomenal zu ermittelnde allgemeine 30
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Ansicht – nicht normativ bzw. ethisch, sondern nur faktisch bzw. kausal sinnvoll fragen: Entsprechen die Auffassungen der fraglichen Individuen auch wirklich den dahinter stehenden, individuenunabhängigen Auffas‐ sungen des Kollektivs? Die grundlegende Asymmetrie der moralischen Berücksichtigung von Individuen und Kollektiven manifestiert sich am deutlichsten in der Frage der Auflösbarkeit von Kollektiven. Lässt man religiöse oder sonstige tran‐ szendente Rechtfertigungen außer Betracht, so sehen wir keinen ethischen und moralischen Grund, warum Kollektive gegen den klaren Willen, d. h. die Ziele und Wünsche aller ethisch zu berücksichtigenden Betroffenen bestehen bleiben sollen. Stimmen alle zu berücksichtigenden Betroffenen zu, so ist die Auflösung von Kollektiven ethisch nicht verwerflich. Man hat es etwa nicht allgemein als ethisch verwerflich angesehen, dass die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei aufgelöst wurden. Und das glei‐ che gilt jetzt für den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs. Derartige Akte der Separation wird man allenfalls vielleicht als unzweckmäßig be‐ werten. Nur enttäuschte Erwartungen, nicht erfüllte Verpflichtungen oder andere, auf den Fortbestand des Kollektivs gerichtete Belange bzw. Inter‐ essen der Individuen können in solchen Fällen zu einer negativen ethi‐ schen Bewertung und zu entsprechenden Verzögerungs- und Kompensati‐ onspflichten führen, nicht aber die Beendigung der Gemeinschaft als sol‐ che. Diese Beendigung ist ethisch indifferent, weil die Gemeinschaft als solche unabhängig von ihrer Bejahung durch die Individuen keinen eige‐ nen letzten intrinsischen Wert hat. 4. Wie kann der normative Individualismus Grenzen rechtfertigen? Sind die Individuen letzter Ausgangspunkt der ethischen Rechtfertigung, dann bedürfen Einschränkungen ihrer individuellen Belange bzw. Hand‐ lungen der Legitimation. Dies betrifft den Transfer von Waren und Dienst‐ leistungen. Es betrifft aber auch die Menschen selbst, sei es in Form des Reisens oder der Einwanderung in Staaten und der Auswanderung aus Staaten. Das Interesse, seinen Wohn- und Lebensort frei wählen zu können, ist sicherlich ein grundlegender Belang jedes Menschen. Und diese sog. Frei‐ zügigkeit wird auch als Menschen- bzw. Grundrecht anerkannt, allerdings nur innerhalb von Staaten, etwa in Art. 11 I Grundgesetz, und zum Verlas‐
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sen von Staaten, also zur Auswanderung, etwa in Art. 13 der UN-Men‐ schenrechtserklärung und Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK. Dann stellt sich die Frage: Warum soll es gerechtfertigt sein, das Inter‐ esse von Individuen an der Ansiedelung in anderen Staaten durch politi‐ sche Grenzen einzuschränken, also die Einwanderung in bestehende Staa‐ ten durch Nichtstaatsangehörige zu unterbinden? Warum gibt es kein Menschenrecht auf Einreise für alle? Sollte nicht im Gegensatz zur gegen‐ wärtig allgemein anerkannten Praxis jeder Mensch die Möglichkeit haben, sich auf der Erde frei seinen Wohnsitz und seine Arbeitsstelle zu suchen, wo er will? Was rechtfertigt also die Einschränkung der Einwanderung der Menschen durch politische Grenzen? Kant hatte nur ein Recht zum Besuch und zum Anbieten der eigenen Ansiedelung anerkannt, nicht aber ein Einwanderungsrecht.2 Und Politik und Recht halten die Begrenzung der Einwanderung nach wie vor für legi‐ tim. In der Philosophie wird sie allerdings neuerdings kontrovers disku‐ tiert. Eine Mehrheit der Theoretiker sieht sie nach wie vor als gerechtfer‐ tigt an.3 Eine Minderheit plädiert demgegenüber für ein Recht auf Ein‐ wanderung und damit für eine weitgehende Öffnung bzw. Abschaffung der Grenzen für Personen.4 Hier kann nicht der Raum sein, diese mittler‐ weile sehr verzweigte Debatte nachzuzeichnen.5 Es kann nur ein Argument aus der Warte des normativen Individualis‐ mus skizziert werden: Für eine Ethik des normativen Individualismus ist unbezweifelbar, dass das Interesse einzelner Menschen, sich ihren Wohn‐ ort frei wählen zu können, Beachtung verdient. Weiterhin gilt, dass die Be‐ schränkung der Einreisefreiheit in letzter Instanz nicht durch bloßen Ver‐
2 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechts‐ lehre, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968: de Gruyter, § 62, S. 353. 3 Michael Walzer, Spheres of Justice, 1983: Basic Books, S. 31-63; Christopher H. Wellmann, Immigration and Freedom of Association, in: Ethics 119/1 (2008), S. 109-141; Ryan Pevnick, Immigration and the Constraints of Justice. Between Open Borders and Absolute Sovereignty, Cambridge 2011: CUP; David Miller, Strangers in Our Midst. The Political Philosophy of Immigration, Cambridge/ London 2016: HUP; Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Hamburg 2017: edition Körber-Stiftung. 4 Joseph H. Carens, The Ethics of Immigration, Oxford 2015: OUP; Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Ber‐ lin 2016: Suhrkamp. 5 Vgl. für eine Darstellung der einzelnen Auffassungen: Andreas Cassee, Globale Be‐ wegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen.
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weis auf Kollektive wie das Volk, die Nation oder den Staat gerechtfertigt werden kann. Eine Rechtfertigung muss sich vielmehr auf die einzelnen Bürger eines bestehenden Staates als Individuen und ihre Belange stützen. Diese Belange können sich aber natürlich auch auf die jeweils eigene poli‐ tische Gemeinschaft bzw. den eigenen Staat richten. Und solche auf den eigenen Staat gerichteten Belange verdienen Beachtung. Die Menschen in einer politischen Gemeinschaft haben also nicht nur ein individuelles Selbstbestimmungsrecht, wie sie ihr Leben gestalten, sondern auch ein ge‐ meinsames politisches Selbstbestimmungsrecht wie und mit wem sie zu‐ sammenleben wollen. Das Selbstbestimmungsrecht der Bürger in einem Staat rechtfertigt es grundsätzlich, Menschen, welche die Staatsangehörig‐ keit nicht besitzen, die Ansiedelung in diesem Staat zu verwehren. 6 Ande‐ re dürfen den Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens durch ihre Ein‐ reise keine Lebensgemeinschaft aufzwingen, so wie sie nicht in private Wohnräume eindringen dürfen oder in einen privaten Verein aufgenom‐ men werden müssen. Allerdings wird man zugestehen müssen, dass politische Gemeinschaf‐ ten sich in vier Hinsichten von privaten Vereinen unterscheiden, bei denen die Aufnahme von Nichtmitgliedern im Belieben der Mitglieder steht. In‐ sofern ist der Vergleich zu privaten Vereinen nur begrenzt überzeugend. Staaten betreffen erstens anders als private Vereine nicht nur einen kleinen sachlichen Teilbereich des Lebens, etwa den Sport, sondern sie regeln das Leben relativ umfassend. Wie schon Aristoteles wusste, sind sie durch Autarkie gekennzeichnet, also durch eine relative Selbstgenügsamkeit.7 Staaten sind zweitens auch räumlich und im Hinblick auf die Anzahl ihrer Mitglieder größer und umfassender. Sie haben einen öffentlichen und einen privaten Bereich. In Staaten muss man zwar in mancher Hinsicht mit anderen zusammenkommen und interagieren, aber man kann sich auch in seinen privaten Lebens- und Wohnbereich zurückziehen. Staaten neh‐ men drittens ein Territorium exklusiv für sich in Anspruch. Staaten sind schließlich viertens durch eine relative Historizität und Natürlichkeit ihrer Mitgliedschaft gekennzeichnet. Die meisten Bürger eines Staates treten ihm also nicht als Erwachsene bei, sondern man wird in ihm und/oder als Nachkomme eines Staatsbürgers geboren und erwirbt so die Staatsbürger‐
6 Michael Walzer, Spheres of Justice, S. 31-63; Christopher H. Wellmann, Immigrati‐ on and Freedom of Association, in: Ethics 119/1 (2008), S. 109-141; Julian NidaRümelin, Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, S. 164-168. 7 Aristoteles, Politik 1252 b.
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schaft ohne freiwilligen Willensakt. Das bedeutet nicht, dass man Staaten nicht als freiwillige Zusammenschlüsse von Individuen interpretieren kann und muss, denn jeder manifestiert seinen Willen zur Zugehörigkeit durch Kooperation mit den Institutionen und durch Nichtauswanderung. Wel‐ chen Einfluss haben diese vier Besonderheiten von Staaten auf die Stärke des Selbstbestimmungsrechts? Wegen der Umfassendheit des sachlichen Regelungsbereichs von Staa‐ ten sowie der Natürlichkeit und Historizität seiner Zugehörigkeit haben die Staatsbürger regelmäßig ein gesteigertes und legitimes Interesse, ihre sozialen, politischen und ökonomischen Institutionen sowie ihre spezifi‐ sche Kultur, etwa ihre mehrheitliche Religionszugehörigkeit, zu erhalten. Sie können dies faktisch nur in ihrem eigenen Staat, weil die Auswande‐ rung die Bewahrung ihrer eigenen Kultur entweder unmöglich macht oder zumindest erschwert. Dabei muss die Kultur in einem Staat nicht immer eine einzige sein. So kann es etwa wie in der Schweiz oder in Kanada un‐ ter dem Dach einer Nationalkultur verschiedene Teilkulturen geben. Die erste und die vierte Besonderheit sprechen also für eine gewisse Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Mitglieder eines Staates gegenüber dem‐ jenigen von privaten Vereinen. Insofern ähneln Staaten eher Familien. Auf der anderen Seite ist man in Staaten wegen ihrer räumlichen Größe und Umfassendheit von anderen Mitgliedern in seinem privaten Leben nicht so stark tangiert. Man kann sich in seinen privaten Lebens- und Wohnbereich zurückziehen. Und der Anspruch auf ein eigenes Territorium entfaltet gegenüber Dritten naturgemäß eine stärkere Einschränkung als die bloße Nichtmitgliedschaft in einem von mehreren privaten Vereinen. Die zweite und die dritte Besonderheit sprechen also für eine gewisse Schwächung des Selbstbestimmungsrechts der Mitglieder eines Staates gegenüber demjenigen von privaten Vereinen. Fasst man dieses Ergebnis der Stärkung und Schwächung des Selbstbe‐ stimmungsrechts der Menschen in politischen Gemeinschaften zusammen, so ergibt sich in etwa eine Nullsumme. Das Selbstbestimmungsrecht der Bürger in Staaten wird also insgesamt weder gestärkt, noch geschwächt, sondern besteht in einer relativen Stärke für politische Gemeinschaften wie für private Gemeinschaften, etwa Vereine. Dieses politische Selbstbestimmungsrecht der Bürger in Staaten exis‐ tiert jedoch nicht in absoluter Stärke und Gewichtigkeit. Deshalb kann es das Interesse einzelner anderer Individuen, Asyl vor einigermaßen belas‐ tender politischer Verfolgung zu erhalten, nicht zurückdrängen, sofern kei‐ ne untragbare Masseneinwanderung erfolgt. Anders ist das aber mit den 34
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schwächer zu gewichtenden Interessen, ein besseres wirtschaftliches oder soziales Leben führen zu wollen. Hier ist das Selbstbestimmungsrecht im Hinblick auf die politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und kultu‐ rellen Belange der Menschen in einem Staat gewichtiger, so dass die Bür‐ ger es nach ihrer Vorstellung ausüben können. Die gegenwärtig in der Bundesrepublik und auch in vielen anderen Ländern auf der Welt sowie der EU geltende Rechtslage „Politisches Asylrecht gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ja – wirtschaftlich motivierte Einwanderung ohne explizite Zustimmung der politischen Repräsentanten des fraglichen Staa‐ tes nein“ lässt sich bei einer derartigen Abwägung der Belange der Ein‐ wanderungswilligen und der Bürger des Einwanderungslandes also auf der Grundlage des normativen Individualismus rechtfertigen und verdient wei‐ terhin Unterstützung. 5. Grenzen des Konsenses und der Toleranz in liberalen Gesellschaften Man sollte sich klar machen, dass die Begriffe des Konsenses und der To‐ leranz moralische bzw. ethische Kategorien sind. Die modernen liberalen Gesellschaften sind aber regelmäßig Rechtsstaaten, d. h. die Grenzen der Toleranz und des Konsenses sind in rechtlichen Kategorien bzw. Ver‐ pflichtungen gefasst. Das bedeutet, dass rechtlich gesehen der Konsens der Gemeinschaft, aus Gründen des Gemeinwohls von einzelnen etwas zu ver‐ langen oder sie zu beschränken, genau dort seine Grenze findet, wo deren individuelle subjektive Rechte entgegenstehen bzw. anfangen, also ihre Menschenrechte, Grundrechte, sonstigen subjektiven öffentlichen Rechte sowie ihre subjektiven Rechte des Zivilrechts. Einer Einschränkung der Religionsausübung steht etwa das subjektive Recht der positiven und ne‐ gativen Religionsfreiheit jedes einzelnen Menschen entgegen. Die Religi‐ onsfreiheit ist im Grundgesetz gemäß Art. 4 als Grundrecht ohne Geset‐ zesvorbehalt garantiert. Das heißt, dieses Recht darf nur auf Grund ande‐ rer Grundrechte oder anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechts‐ güter beschränkt werden. Angesichts dieser Rechtslage stellt sich z. B. die Frage, ob die Religi‐ onsfreiheit wie in Frankreich, Belgien und Österreich auch in Deutschland ihre Grenze in einem rechtlichen Vollverschleierungs- bzw. Vermum‐ mungsverbot in der Öffentlichkeit finden darf, also im Ergebnis in einem Verbot des Tragens der Burka oder des Niqab in der Öffentlichkeit, und zwar nicht nur wie jetzt bei öffentlichen Versammlungen gem. § 17 a II 35
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Nr. 1 Versammlungsgesetz. Dürfte das deutsche Recht also das Tragen einer Vollverschleierung in der Öffentlichkeit verbieten, so wie das in Frankreich, Belgien, Österreich und in den Niederlanden in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sowie in Behörden und öffentlichen Verkehrs‐ mitteln verboten ist, wie es der Schweizer Nationalrat mit knapper Mehr‐ heit beschlossen hat und wie es vom Europäischen Gerichtshof für Men‐ schenrechte akzeptiert wurde? Bekanntlich haben dies einige Politiker der CDU, CSU, FDP und AFD mit unterschiedlichen Begründungen gefor‐ dert. Sieht man das Tragen der Vollverschleierung als Ausübung der Religi‐ onsfreiheit nach Art. 4. GG an, so müsste es gegenteilige Grundrechte an‐ derer oder Rechtsgüter mit Verfassungsrang geben, auf die sich ein solches gesetzliches Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit stützen könnte.8 Aber die negative Religionsfreiheit anderer gibt kein Recht da‐ rauf, von fremden Glaubensbekundungen in der Öffentlichkeit verschont zu bleiben. Und die Menschenwürde oder die Gleichbehandlung der Frau‐ en wird – sofern die Verschleierung freiwillig getragen wird – durch diese Verschleierung nicht verletzt.9 Denkbar wäre weiterhin der Verfassungs‐ wert der öffentlichen Sicherheit, falls das Tragen der Vollverschleierung mit gewisser Wahrscheinlichkeit oder Regelmäßigkeit für terroristische Anschläge oder sonstige Straftaten genutzt würde. Möglich schließlich wäre die Annahme eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 1 I und 2 I GG, andere Personen in der Öffentlichkeit als bestimmte Individu‐ en identifizieren zu können, um mit ihnen nicht auf einer bloß instrumen‐ tellen Art und Weise kommunizieren zu müssen. Es ist hier nicht der Raum, die Verfassungslage sorgfältig zu erörtern. Aber es gilt: Können die beiden letztgenannten Rechte bzw. Werte in der Abwägung nicht ins Feld geführt werden, so wäre eine Änderung des Grundgesetzes notwendig. Diese würde nach Art. 79 I GG eine Zweidrit‐ telmehrheit in Bundestag und Bundesrat erfordern. Zwar ist nach Art. 79
8 Vgl. Tristan Barczak, Zeig mir dein Gesicht, zeig mir, wer du wirklich bist“ – Zur religionsverfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines Burka-Verbots unter dem Grund‐ gesetz, in: Die öffentliche Verwaltung, 64 (2011), S. 54-61, S. 55ff.; Guy Beau‐ camp/Jakob Beaucamp, In dubio pro libertate – Überlegungen zur Kopftuch- und Burkaverbotsdebatte, in: DÖV 68 (2015), S. 174-183. 9 Ingo von Münch, Burka-Verbot: ja oder nein, in: Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, Festschrift für Edzard Schmidt-Jortzig, Heidelberg 2011: C. F. Müller, S. 47-62, S. 59-61.
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Grenzen des Konsenses und der Toleranz in liberalen Gesellschaften
III der Kerngehalt der Menschenwürde auch bei den Grundrechten, also auch bei der Religionsfreiheit unabänderlich, aber das Tragen der Vollver‐ schleierung in der Öffentlichkeit ist wohl als Religionsausübung nicht so zentral, dass ihr Verbot eine Menschenwürdeverletzung darstellen würde, sofern es gewichtige Gründe für ein solches Verbot gäbe. Eine Verfas‐ sungsänderung wäre also wohl möglich.10 Aber es bedürfte starker Gründe bzw. Werte der Gemeinschaft um diese Änderung ethisch zu rechtfertigen. Fraglich ist, ob es diese starken Werte oder Gründe in einer liberalen Ge‐ sellschaft auf der Grundlage des normativen Individualismus gibt? Von der Warte eines normativen Individualismus ist die Interaktion der einzelnen Menschen in der Öffentlichkeit ein sehr hohes Gut, so hat Kant etwa die Öffentlichkeit in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ als wesentlichen Wert apostrophiert,11 allerdings natürlich vor allem die literarische Öffentlichkeit. Und auch für die Diskurs- und Konsenstheorie der Frankfurter Schule ist die Möglichkeit zur öffentlichen Kommunikation bzw. Interaktion ein zentrales Element der Rechtfertigung und der Gesellschaft. Diese Kommunikation und Interaktion in der Öffent‐ lichkeit setzt aber jenseits bloß instrumentellen Handelns voraus, dass man den anderen mit seinem wesentlich individualisierenden Körperteil, näm‐ lich seinem Gesicht, erkennen kann und seine Reaktionen in der Kommu‐ nikation auch im Gesicht ablesen kann. Das Tragen der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit macht das unmöglich. Der öffentliche Raum würde sich durch die Vollverschleierung von einem Raum der individuellen Be‐ gegnung und Kommunikation sowie qualitativen Wahrnehmung des ande‐ ren mit wesentlicher sozialer und politischer Funktion zu einem bloß in‐ strumentellen Raum der Erledigung von Geschäften oder des Verkehrs vom einen Ort zum anderen wandeln. Es entstünde eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen denen, die ihr Gesicht zeigen und identifizierbar so‐ wie mehr als instrumentell kommunikationsfähig sind und denen, die das nicht sind, wobei die Freiwilligkeit bei den Frauen angesichts der nach wie vor herrschenden gravierenden Ungleichheit in traditionellen ortho‐ dox-islamistischen Gesellschaften praktisch mehr als fragwürdig ist. Die Vollverschleierung ist – darauf haben auch viele Feministinnen hingewie‐ sen – in Wahrheit auch ein Mittel zur Unterdrückung der Frauen, da sie nicht wie die Männer in der Öffentlichkeit sozial- und kommunikationsfä‐ 10 Ebd. bei Barczak, S. 60 f. 11 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968: de Gruyter; S. 33ff.
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hig sind und damit gravierend benachteiligt werden. Auch der EGMR hat sein Urteil zum französischen Verschleierungsverbot in ähnlicher Weise begründet: „Es ist nachvollziehbar, dass ein Staat in diesem Zusammen‐ hang den zwischenmenschlichen Beziehungen besondere Bedeutung bei‐ misst, die beeinträchtigt werden, wenn eine Person ihr Gesicht in der Öf‐ fentlichkeit verschleiert. Die Barriere, die gegenüber anderen durch einen das Gesicht verbergenden Schleier errichtet wird, kann als Angriff auf das Recht anderer verstanden werden, in einem sozialen Raum zu leben, der das Zusammenleben erleichtert.“12 Ich denke deshalb, dass eine liberale Gesellschaft mit ihrer langen Tra‐ dition der individuellen Identifizierbarkeit und sozial anspruchsvollen Kommunikationsfähigkeit von Menschen in der Öffentlichkeit vor allem in den Stadtkulturen des Mittelmeerraums den Verlust dieser liberalen Tra‐ dition durch eine Vollverschleierung der Frauen nur schwer akzeptieren kann. Das französische und belgische Verbot zeigt das ganz deutlich. In diesem Fall würde also ein wesentlicher Wert liberaler Gesellschaften ver‐ schwinden und diese dürfen wohl ethisch und dann auch rechtlich eine Grenze des Selbstschutzes hinsichtlich der grundlegenden Werte bzw. Rechte der Mehrheit ihrer Menschen auf wechselseitige Möglichkeit der Identifikation und sozialen Kommunikation in der Öffentlichkeit zwischen den Menschen ziehen. Ob sich die Mehrheiten in einzelnen Ländern dann politisch dafür entscheiden, ist eine andere Frage.
12 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: Neue Juristische Wochenschrift 2014, S. 2925. Vgl. dazu: Christoph Grabenwarter, Katharina Struth, Das französi‐ sche Verbot der Vollverschleierung – Absolutes Verbot der Gesichtsverhüllung zur Wahrung der "Minimalanforderungen des Lebens in einer Gesellschaft"? /Bespre‐ chung des Urteils der großen Kammer des EGMR vom 1. Juli 2014 – S.A.S. ge‐ gen Frankreich, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 42 (2015), S. 1-8.
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Staatsgrenzen als faktische Grenzen der theoretischen Reflexion? Verena Risse
Zusammenfassung Dieser Beitrag untersucht, inwiefern Staatsgrenzen das Verhältnis zwi‐ schen politischer Theorie und lebensweltlicher Praxis bedingen. Dabei werden zwei Fälle dieses Verhältnisses besonders beleuchtet: erstens der Fall einer „visionären“ Theorie, die über die Grenzen der lebensweltlichen Praxis hinausweist, zweitens der Fall einer sich wandelnden Praxis, durch die die Grenzen einer bestehenden Theorie getestet werden. Die Diskussi‐ on beider Fälle unter Rückgriff auf aktuelle Beispiele von Grenzpraktiken zeigt, dass die Praxis nicht nur die Theorie begrenzt und bestimmt, son‐ dern auch die Theorie einflussreich auf die Praxis wirken und Veränderun‐ gen in der Praxis anstoßen kann. Die Grenzen zwischen Theorie und Pra‐ xis erscheinen somit in beide Richtungen durchlässig und veränderbar. Einleitung Grenzen zu ziehen, bedeutet immer auch, Unterscheidungen zu treffen: Unterscheidungen zwischen innen und außen, diesem und jenem, Meinem und Deinem. Grenzen zu ziehen, bedeutet aber auch, Dinge zu konturieren und abzugrenzen und dies sowohl in theoretischer wie in faktischer Hin‐ sicht. Eine besondere Herausforderung bedeutet das Treffen von Abgrenzun‐ gen für die (politische) Theoriebildung, die einerseits eine Trennung zwi‐ schen Theorie und Praxis annimmt und sich andererseits an Grenzen ori‐ entiert, die durch faktisch Gegebenes bestimmt werden. Zudem hat eine politische Theorie, die sich normativ versteht, den Anspruch, bestimmte faktische Grenzen zu überschreiten und über die bestehende Praxis hinaus‐ weisende Ansprüche zu formulieren. Vollständig wird das Bild aber erst durch die Klärung der Frage, inwie‐ weit bestehende Grenzen und hier insbesondere politische, d.h. Staatsgren‐ zen, dieses Verhältnis der Theorie-Praxis-Bestimmung bedingen. Dabei
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treten Staatsgrenzen in verschiedener Weise auf. So erscheinen Staatsgren‐ zen einerseits selbst als eine Praxis, die politischen und rechtlichen Ent‐ scheidungen unterliegt. Andererseits konturieren sie Nationalstaaten, die über ein jeweils spezifisches institutionelles und rechtliches System verfü‐ gen. Die hier zu behandelnde Frage, inwiefern faktische Grenzen auch der theoretischen Reflexion Grenzen setzen, soll insbesondere mit Blick auf zwei Fälle erörtert werden. Der erste Fall lässt sich als Problem der „visio‐ nären“ Theorie bezeichnen, womit gemeint ist, dass die Theorie über die Grenzen der Praxis hinausgehende Annahmen formuliert. Der zweite Fall betrifft das Problem einer sich wandelnden Praxis, durch die die Grenzen einer bestehenden Theorie getestet werden. Die beiden Fälle werden – im Sinne der Fragestellung – jeweils unter Rückgriff auf Beispiele von Maß‐ nahmen zur Kontrolle politischer Grenzen diskutiert. Mit der Erörterung dieser Fälle ist die aufgeworfene Frage freilich nicht abschließend behan‐ delt. Die betrachteten Aspekte decken aber insofern ein relevantes Spek‐ trum ab, als sie durch die Berücksichtigung aktueller Grenzpraktiken auf einen Forschungskontext reagieren, der von einer fortschreitenden Interna‐ tionalisierung politischer, rechtlicher und sozialer Kontexte geprägt ist. 1. Erste Grenzziehungen: Definitionen und Problematisierungen Grenzen sind omnipräsent und vielfältig. Sie sind omnipräsent, insofern nahezu jeder Gegenstand eine Kontur und damit eine Begrenzung hat – und dies sowohl in räumlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht. Grenzen sind vielfältig, insofern jede Grenzziehung immer auch eine Abgrenzung ist, die gegenüber anderen Konzepten und Objekten unterschiedlich aus‐ fallen und regelmäßig weiter verfeinert werden kann. In diesem Abschnitt sollen ebenfalls Definitionen vorgenommen und auf diese Weise der Ge‐ genstand des vorliegenden Aufsatzes eingegrenzt werden. Auf dieser Grundlage sollen dann später wiederum andere Grenzziehungen infrage gestellt werden. Grenzen werden in den folgenden Überlegungen in zwei Ausprägungen eine Rolle spielen. Erstens werden Grenzen im politischen Sinne betrach‐ tet, d.h. als Grenzen zwischen territorial erfassten politischen Einheiten, insbesondere Staatsgrenzen. Staatsgrenzen sollen allerdings nicht nur im räumlichen Sinne begriffen, sondern als der Ort definiert werden, an dem diejenigen Maßnahmen stattfinden, mittels derer die Einreise von Perso‐ 40
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nen in ein fremdes Land kontrolliert wird. Der Fokus dieses Verständnis‐ ses liegt somit auf der Verknüpfung einer Handlung (der Kontrolle) und dem Handlungsort (dem Ort der Durchführung der Kontrolle) und nicht auf einer rein geografischen Bestimmung. Es handelt sich um eine Er‐ scheinungsform von Grenzen, die in der lebensweltlichen Praxis auftritt. Zweitens werden Grenzen im Sinne von konzeptuellen Abgrenzungen auftreten, mithin als trennende Linie zwischen zwei verschiedenen Objek‐ ten oder Aspekten. Diese Abgrenzungen zu ziehen, bedeutet, die betrach‐ teten Gegenstände genauer zu bestimmen und von anderen zu unterschei‐ den. Es handelt sich um eine auf theoretischer Ebene zu verortende Er‐ scheinungsform von Grenzen. Beide Arten von Grenzen sind jedoch nicht getrennt voneinander zu denken. Vielmehr findet bei einer näheren Bestimmung politischer Gren‐ zen immer auch eine theoretische Abgrenzung statt. Darüber hinaus kön‐ nen politische Grenzen die (politik-)theoretische Diskussion und (poli‐ tik-)theoretische Eingrenzung sowie Ausdeutung anderer Begriffe wie zum Beispiel Staatlichkeit, Demokratie oder Recht bedingen. Impliziert wird in der Verbindung beider hier verwendeten Ausprägun‐ gen von Grenzen somit auch das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, das sich wiederum über eine Grenzziehung zwischen beiden Begriffen an‐ gehen ließe. Und auch wenn hier nicht das Verhältnis von Theorie und Praxis an sich, sondern dessen Dynamik mit Blick auf politische Grenzen im Vordergrund stehen wird, ist eine zumindest ansatzweise Klärung des hier zugrundliegenden Verständnisses von Theorie und Praxis notwendig. Im Folgenden werden als Theorie diejenigen systematischen Aussagen verstanden, die Aspekte der Realität beschreiben und erklären.1 Praxis be‐ zeichnet demgegenüber das Handeln oder die konkrete Realität (in den meist Fällen sogar: das Handeln in letzterer), auf die die Theorie bezug‐ nimmt. Mit Blick auf das Verhältnis von Theorie und Praxis soll hier die Frage aufgeworfen werden, inwiefern ein theoretisches Argument bestehende Praxis berücksichtigen muss bzw. inwiefern der Verweis auf eine beste‐ hende Praxis ein theoretisches Argument begrenzen oder widerlegen kann. Um diese sehr weite Frage zu konkretisieren und zu aktualisieren, soll hier erörtert werden, inwiefern speziell politische Grenzen, d.h. Staatsgrenzen, 1 In Verbindung mit zusätzlichen (prinzipiellen) Erwägungen lassen sich u.U. zudem normative Konsequenzen ableiten. Die Verfasserin dankt Jürgen H. Wolff für diese notwendige Differenzierung.
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politische Theoriebildung bedingen. Dabei sind politische Grenzen jedoch nicht in dem Sinne faktisch und gegeben wie andere existierende Dinge, die beispielsweise anfassbar oder in der Natur gewachsen sind. Vielmehr wird zu berücksichtigen sein, dass politische Grenzen keines natürlichen Ursprungs sind, sondern künstlich geschaffen wurden. Gerade durch diese Eigenschaft allerdings lässt sich mit der Perspektive auf Staatsgrenzen nicht nur über Grenzen selbst lernen, sondern lassen sich diese Aspekte der Staatlichkeit und des Politischen bei der Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis besonders beleuchten. In diesem Sinne sollen im Folgenden die Grenzen zwischen (politi‐ scher) Theorie und Praxis genauer in den Blick genommen und dabei der Sonderfall politischer Grenzen berücksichtigt werden. Um das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis begreifbar zu machen, werden zwei spezifi‐ sche Problemfälle diskutiert, beginnend im folgenden Abschnitt mit dem Problem der „visionären“ Theorie. 2. Das Problem der „visionären“ Theorie Das Problem der „visionären Theorie“ betrifft die Frage, inwiefern der po‐ litischen Theoriebildung durch bestehende politische und institutionelle Praxis Grenzen gesetzt werden. Die verschiedenen Weisen, mit denen sich diese Frage beantworten lässt, beschreiben auch Möglichkeiten zur Be‐ stimmung der Aufgaben von Theorie allgemein. So könnte erstens der durch die Theorie abgedeckte Bereich mit dem des faktisch Gegebenen identisch sein, d.h. Theoriebildung würde sich auf die systematische Dar‐ stellung des Existierenden beschränken. Dies würde eine regelmäßige Neujustierung und Anpassung einer Theorie an eine sich verändernde Pra‐ xis voraussetzen. Zweitens könnten Theorien diese Anpassungen nicht vornehmen und stattdessen bestimmte Konzeptionen oder Definitionen unabhängig von einer sich wandelnden Praxis als gegeben annehmen. Die‐ se würden dann in der Folge das Verständnis und unter Umständen auch die weitere Beurteilung der betroffenen Praxis bedingen.2 Beide skizzierten Möglichkeiten sind denkbar, wenn auch jeweils in ex‐ tremer Ausprägung unwahrscheinlich. Wohl aber lassen sich aus ihnen 2 Ein vergleichbarer Fall wäre hier die juristische Subsumtion, durch die an die Zu‐ ordnung eines Sachverhalts zu einer bestimmten Rechtsnorm Rechtsfolgen ausge‐ löst werden.
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zwei weitergehende Fragestellungen ableiten, deren Diskussion das Prob‐ lem der visionären Theorie illustrieren kann. Die erste Frage ist, wie weit die Grenzen gesteckt sind, die durch die Praxis gezogen werden; in ande‐ ren Worten: wieweit darf sich Theorie überhaupt von einer bestehenden Praxis entfernen? Die zweite Frage ist die nach dem Transformationspo‐ tential von Theorien, die auch in der Praxis Grenzen verschieben können; in anderen Worten: kann Theorie eine bestehende Praxis verändern? 2.1 Bestehende Praxis als Grenze theoretischer Reflexion Zur Beantwortung der ersten Frage nach der Reichweite der durch die Pra‐ xis gezogenen Grenzen theoretischer Reflexion kann die von Charles Beitz eingeführte Unterscheidung zwischen dem denkbar Möglichen und dem bereits Existierenden („feasibility“ gegenüber „existence“)3 ein erster Anknüpfungspunkt sein. Gegenüber der Beschränkung auf das faktisch Gegebene, eröffnet die Option des denkbar Möglichen (und die aus ihr ab‐ leitbaren Aussagen) einen ausgedehnteren Anwendungsbereich der Theo‐ rie. Demnach hätte eine Theorie nicht nur dann Bestand, wenn sie sich auf bereits Gegebenes bezieht, sondern wenn sie auch auf solche Aspekte re‐ kurriert, die denkbar möglich sind. Mit anderen Worten: einem theoreti‐ schen Argument sind nach diesem Verständnis nicht bereits durch die Tat‐ sache Grenzen gesetzt, dass ein wesentlicher Aspekt, auf den sich das Ar‐ gument bezieht, in der Lebenswirklichkeit nicht vorliegt, sondern erst, wenn das Vorliegen dieses Aspekts auch in Zukunft undenkbar erscheint. Die wohl wichtigste Fallgruppe, in der die Frage der Begrenzung der theoretischen Argumentation unter Rückgriff auf Beitz‘ Begriffe diskutiert wird, steht in direktem Zusammenhang mit staatlichen Grenzen und zu‐ gleich mit den Grenzen von Staatlichkeit selbst. Es ist die Diskussion um die Frage nach der außerstaatlichen Ausweitung oder Anwendung wesent‐ licher Grundbegriffe des politischen Zusammenlebens wie beispielsweise Gerechtigkeit, Rechte oder Demokratie. Die Frage nach der Ausweitung von Gerechtigkeitspflichten ist auch diejenige, in deren Kontext Beitz sei‐ ne Unterscheidung formuliert. Und obwohl diese Frage der internationalen
3 Beitz, Charles 1983: Cosmopolitan Ideals and National Sentiment. In: The Journal of Philosophy 80: 10, S. 595; vgl. auch Abizadeh, Arash 2007: Cooperation, Perva‐ sive Impact, and Coercion: On the Scope (not Site) of Justice. In Philosophy and Public Affairs 35: 4, S. 321.
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Reichweite politischer oder juridischer Pflichten bereits seit mehreren Jahrzehnten aufgeworfen wird, ist es überraschend, dass ihr Inhalt seitdem weitgehend identisch geblieben ist, insofern der Staat als Referenzpunkt für die internationale Theoriebildung erhalten bleibt. Das bedeutet: soll ein Verständnis von Recht, Gerechtigkeit oder Institutionen für den internatio‐ nalen Raum entworfen werden, geht die Theorie regelmäßig von den mit Blick auf ein einen staatlichen Kontext entwickelten Begriffen aus und stellt zugleich deren Anwendbarkeit jenseits staatlicher Grenzen infrage. Ein Beispiel aus der Diskussion um außerstaatliche Gerechtigkeits‐ pflichten, in der eine Beurteilung der institutionellen Situation außerhalb des Staates erforderlich ist, illustriert dieses Problem der „visionären“ Theorie. So wird von verschiedenen Autoren die Frage diskutiert, ob rechtlich-soziale Pflichten wie beispielsweise Gerechtigkeitspflichten an das Vorliegen bestimmter Institutionen geknüpft sind, die regelmäßig nur im staatlichen Kontext existieren.4 Infrage steht, ob die außerstaatlichen Institutionen (potentiell) ähnlich genug sind, um auch über die Staatsgren‐ zen hinausreichende Gerechtigkeitspflichten auszulösen. Als mögliche in‐ stitutionelle Basis werden hier beispielsweise von Arash Abizadeh die ko‐ operative Grundstruktur („basic structure“) benannt, die gemäß Rawls we‐ sentlich ist für das Erwachsen von Gerechtigkeitspflichten5, oder von Charles Beitz wird auf den ebenfalls auf Rawls’ zurückgehenden Begriff des Urzustands („original position“)6 verwiesen. In beiden Fällen gelan‐ gen die Autoren zu der Ansicht, dass durch das Nichtvorliegen von Insti‐ tutionen, die den staatlichen entsprechen, die Reichweite nicht begrenzt wird, da ihr Vorliegen auf der Basis des gegenwärtigen internationalen in‐ stitutionellen Kontexts durchaus vorstellbar ist. Das heißt, eine Theorie kann nach diesem Verständnis in dem Maße visionär sein, wie sie in der Praxis Denkbares einbezieht. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wo genau die Grenze zwischen dem Denkbaren und Undenkbaren zu ziehen ist und nach welchem Maßstab sich die Denkbarkeit bemisst.
4 Siehe z.B. Nagel, Thomas 2005: The Problem of Global Justice. In: Philosophy and Public Affairs 33: 2, S. 113-147; Blake, Michael 2002: Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy. In: Philosophy and Public Affairs 30: 3, S. 257-296. 5 Abizadeh, Arash 2007. A.a.O., S. 319-325. 6 Beitz, Charles 1983. A.a.O., 595; vgl. auch Abizadeh, Arash. A.a.O., S. 321.
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2.2 Theorien als Impulsgeber für Veränderungen in der Praxis Die zweite Frage hinsichtlich des visionären Charakters von Theorie ist, inwieweit eine konsequente theoretische Charakterisierung die Grenzen von Praxis hinterfragen und ggf. ausdehnen kann. Um diese Aufgabe er‐ füllen zu können, scheint viel davon abzuhängen, wie praxisrelevant, um‐ fassend und konsequent eine Theorie entwickelt wird. Notwendig scheint auch zu sein, dass die Theorie sich nicht auf eine Abbildung bestehender Praxis beschränkt, sondern in Beitz’ Sinne ihre Inhalte auf den potentiell denkbaren Bereich ausdehnt. Ein Beispiel, an dem sich dieser Fall illustrieren und erörtern lässt, ist die Reichweite individueller Rechte. So ergibt sich aus der Charakterisie‐ rung von Grund- und Menschenrechten als diejenigen Rechte, die jedem Menschen qua Menschsein zukommen, bereits ein Universalitätsanspruch. Wendet man diese theoretische Annahme universeller Gültigkeit konse‐ quent an, sind auch internationale Menschenrechte als individuelle Rechte dieser Art zu begreifen und ihre Träger in gleicher Weise geschützt wie nationale Trägerinnen von Grund- und Menschenrechten. Das heißt, der Geltungsanspruch von Menschenrechten scheint nicht auf diejenigen be‐ schränkt, die innerhalb eines bestimmten Staatsgebiets wohnen oder einem bestimmten Staat angehören. Diese theoretische Konsequenz ist auf der Rechtssetzungsebene in in‐ ternationalen Menschenrechtschartas bereits verwirklicht. Das heißt, die beispielsweise in der Universellen Erklärung der Menschenrechte kodifi‐ zierten Rechte kommen allen Menschen gleichermaßen zu. Noch nicht umfassend umgesetzt ist sie auf der praktischen Ebene7, was sich nicht zu‐ letzt beim Erreichen einer Staatsgrenze zeigt. So erleben Personen, die in einen Staat einreisen wollen, regelmäßig eine Einschränkung ihrer Bewe‐ gungsfreiheit mindestens für den Moment der Überprüfung ihrer Papiere.8 Auch können Menschenrechtsgarantien an einer Staatsgrenze enden, wenn in einem benachbarten Staat Menschenrechte beispielsweise generell, ge‐ genüber ausländischen Bürgern oder von einigen Personengruppen nicht
7 Praxis ist hier im Sinne von. Rechtsbefolgung und effektiver Geltung gemeint. Selbstverständlich ist die Kodifikation selbst bereits eine Praxis. 8 Der wohl bekannteste und einflussreichste Aufsatz zur Freizügigkeitist Carens, Jo‐ seph H. 1987: Aliens and Citizens: The Case for Open Borders. In: The Review of Politics 49: 2, S. 251-273. Vgl. auch Carens, Joseph H. 2013: The Ethics of Immi‐ gration, Oxford: Oxford University Press, bes. Kapitel 11.
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länger geschützt werden. Trotzdem scheinen sich individuelle Rechte als ein Beispiel für eine Praxis anführen zu lassen, die sich zunehmend den aus der Theorie folgenden Forderungen anpasst und etwa die Einschrän‐ kungen von Grundrechten an der Grenze mit umfassenden Rechtfertigun‐ gen verknüpft. Naheliegend ist, dass diese Veränderung in der Praxis nicht über die einmalige theoretische Artikulation einer notwendigen Weiterent‐ wicklung erreicht wird, sondern viel eher über eine Dynamik des Wechsel‐ spiels zwischen theoretischer Fundierung und praktischer Anpassung ver‐ läuft. Es zeigt sich, dass die Beziehung zwischen Theorie und Praxis nicht einseitig in der Weise besteht, dass die existierende Praxis Theoriebildung bedingt und sich die Rolle von Theorie darauf beschränkt, bestehende Praktiken umfassend abzubilden. Vielmehr – und das hat dieser Abschnitt gezeigt – kann eine kohärente Theorie, die konsequent angewendet wird, Praxis herausfordern und unter Umständen zu Veränderungen anregen. In‐ wiefern umgekehrt auch eine sich wandelnde Praxis die Theorie heraus‐ fordert, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden. 3. Das Problem der sich wandelnden Praxis, die eine bisherige Theorie testet Das zweite Problem, das hier erörtert werden soll, ist das einer sich verän‐ dernden Praxis, durch die bestehende Theorien an ihre Grenzen gebracht und auf den Prüfstand gestellt werden. Das bedeutet, dass durch Verände‐ rungen in der Praxis Theorien nicht mehr konsistent haltbar oder ihre nor‐ mativen Konsequenzen nicht mehr ableitbar sind. Die von diesem Prob‐ lem der sich wandelnden Praxis umfasste Situation tritt beispielsweise durch drastische Veränderungen bestehender oder durch die völlige Neu‐ schaffung wesentlicher politischer, sozialer oder rechtlicher Strukturen und Institutionen auf.9 Vor dem Hintergrund der oben gegebenen Definition von Theorie und Praxis sowie der skizzierten Wechselwirkung zwischen beiden, besteht eine grundsätzliche Notwendigkeit, die politische Theorie zumindest auch auf diese neue politische Praxis auszuweiten, anzupassen oder zu entwi‐
9 Die (alleinige) menschliche Kausalität ist für diese Veränderungen keine notwendi‐ ge Bedingung.
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ckeln. Die Frage, die sich dabei jedoch stellt, ist, ab welchem Zeitpunkt diese Anpassung notwendig ist und wie zugleich der im vorherigen Ab‐ schnitt formulierte Anspruch an die Theorie, Praxis nicht nur zu beschrie‐ ben, sondern u.U. auch zu hinterfragen, eingelöst werden kann. Die Dis‐ kussion dieser Frage soll anhand aktueller Beispiele sich wandelnder und zunehmend vom theoretischen Standardfall abweichender politischer Grenzen erfolgen. Im Standardfall politischer Grenzen, der in dem Beispiel sich wandeln‐ der Grenzen als Referenz dienen soll, werden Grenzen wie folgt definiert: Grenzen bezeichnen den Ort, an dem die Grenzkontrolle an der territoria‐ len Staatsgrenze durch Beamte des Staates durchgeführt wird. Grenzkon‐ trolle wiederum bezeichnet die Kontrolle der Papiere zur Einreise und zum Aufenthalt in einem fremden Land, von dessen Ausgang der Zutritt oder Verbleib auf dem staatlichen Territorium abhängt. Dieser Standardfall beschränkt sich nicht auf eine rein räumliche Definition, sondern verbin‐ det diese mit einer Handlung, nämlich der Grenzkontrolle. 3.1 Neue Grenzen in der Praxis Obwohl der Standardfall weiterhin praktiziert wird, lassen sich in der neueren Praxis Abweichungen in Bezug auf verschiedene Elemente der Definition bemerken. Das bedeutet, Abweichungen ergeben sich in Bezug auf den Ort der Kontrolle, die kontrollierende Person sowie in Bezug auf das Vorliegen einer Kontrolle an sich.10 Eine erste Abweichung besteht hinsichtlich des Ortes der Grenzkontrol‐ le. Hier lassen sich Verlagerungen weg von der geografischen Grenzlinie bemerken. Damit ist gemeint, dass die Grenzkontrolle von der Staatsgren‐ ze selbst an einen anderen Ort außerhalb oder innerhalb des Staates verlegt oder die Lokalität der Grenzkontrolle selbst aufgehoben wird. Diese räum‐ liche Abweichung lässt sich durch unterschiedliche Beispiele illustrieren. Ein neueres Beispiel für die Verlagerung der Grenzkontrolle außerhalb des nationalen Territoriums ist die sogenannte Turn-back Policy Australi‐ ens mit dem Ziel, Flüchtlingsboote auf hoher See, d.h. außerhalb der aus‐
10 Für Beispiele und Kategorisierungen vgl. auch Bloom, Tendayi/Risse, Verena 2014: Examining Hidden Coercion at State Borders. Why Carrier Sanctions Can‐ not be Justified. In: Ethics and Global Politics 7: 2, S. 65-82.
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tralischen Hoheitsgewässer, zur Umkehr zu bewegen.11 Ein anders gela‐ gerter Fall sind die Vereinbarungen zwischen europäischen Staaten und nordafrikanischen Drittländern, um bereits das Auslaufen von Booten in Richtung Europa durch die nationale Küstenwache des Drittstaates zu ver‐ hindern. Die verschiedenen Abkommen, die Italien in der 1990erund 2000er-Jahren zu diesem Zweck mit Libyen geschlossen hat und die im Gegenzug zur Ausreisekontrolle vor der libyschen Küste Zahlungen vorsehen, sind das vielleicht bekannteste Beispiel.12 Auch für die Verlagerung von Grenzkontrollen ins Innere des Staatsge‐ bietes lassen sich Beispiele finden, wobei verschiedene Varianten zur Überprüfung des Aufenthaltsstatus einer Person für diese Art der Abwei‐ chung prototypisch sind. In Deutschland beispielsweise obliegt die Melde‐ pflicht Behörden wie der Polizei, der Arbeitsagentur oder dem Sozialamt gemäß § 87 Abs. 2 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz. Abgeschafft wurde in 2011 hingegen die Meldepflicht des Aufenthaltsstatus durch Kindergärten und Schulen. Während es sich in den genannten Fällen der meldepflichtigen Institutionen um staatliche Stellen handelt, die an den Aufenthaltstitel staatliche Leistungen knüpfen, sind in anderen Ländern auch Privatperso‐ nen vor dem Abschluss von Rechtsgeschäften zur Überprüfung des Auf‐ enthaltsstatus verpflichtet. So wurde 2016 in Großbritannien ein auch in den USA bereits etabliertes Verfahren eingeführt, wonach Vermieter unter Androhung von Geldbußen den Aufenthaltsstatus potentieller Mieter über‐ prüfen und melden müssen.13 Zuletzt lässt sich der Wegfall von Grenzkontrollen an den europäischen Binnengrenzen im Schengenraum als Aufhebung von Grenzkontrollen an
11 Schloenhardt, Andreas/Craig, Colin 2015: Turning Back the Boats’: Australia’s In‐ terdiction of Irregular Migrants at Sea. In: International Journal of Refugee Law 27: 4, S. 536-572; Klein, Natalie 2014: Assessing Australia's push back the boats policy under international law: Legality and accountability for maritime intercep‐ tions of irregular migrants. In: Melbourne Journal of International Law 15: 2, S. 414-444. 12 Für die Rolle Libyens im Kontext verschiedener Maßnahmen europäischer Staaten zur Kontrolle der Mittelmeermigration vgl. Bialasiewicz, Luiza 2012: Off-shoring and out-sourcing the borders of Europe: Libya and EU border work in the Mediterranean. In: Geopolitics 17: 4, S. 843-866. 13 Vgl. Wie Britannien illegale Ausländer finden will. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Februar 2016. Bate, Alex/Bellis, Alexander 2017: Right to Rent: pri‐ vate landlords’ duty to carry immigration status checks. In: House of Commons Li‐ brary Briefing Paper Nr. 7025, S. 1-45.
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der Grenze anführen. Zu beachten ist jedoch, dass in diesen Staaten trotz‐ dem weiterhin interne Kontrollen von Aufenthaltstiteln möglich sind. Zweitens lassen sich Abweichungen in Bezug auf die für die Kontrolle zuständigen Personen feststellen. So wird die Grenzkontrolle in verschie‐ denen Fällen an Nicht-Staatsbedienstete übertragen. Dabei kann es sich sowohl um Fälle der Übertragung von Grenzkontrollen an Private ebenso wie an Bedienstete anderer Staaten handeln. Ein Beispiel für die Übertragung von Grenzkontrollen an Privatperso‐ nen sind Carrier Sanctions.14 Der Begriff der Carrier Sanctions bezeichnet Sanktionsmechanismen, durch die Fluggesellschaften angehalten sind, ihre Passagiere vor dem Boarding zu kontrollieren und nur solche Perso‐ nen in das Zielland zu befördern, die die zur Einreise in dieses Land erfor‐ derlichen Papiere vorweisen können. Andernfalls müssen die Fluggesell‐ schaften die Person auf eigene Kosten an den Ausgangsort zurückbeför‐ dern und ein Bußgeld entrichten.15 Auch die Übertragung der Registrierung und Identifizierung eintreffen‐ der Migranten an spezialisierte nichtstaatliche Agenturen stellt einen Fall der Privatisierung dar.16 Diese Praxis hat aber eine etwas andere Qualität, weil die Einreise hier schon erfolgt ist, während die anschließende Erfas‐ sung an private Akteure ausgelagert wird. Allerdings hat auch diese Praxis rechtlich relevante Konsequenzen, die unter Umständen normative Fragen aufwerfen. Der bereits erwähnte Fall der Ausreisekontrollen auf dem Territorium eines anderen Staates wie im Beispiel der Abkommen zwischen europä‐ ischen und nordafrikanischen Staaten stellt wiederum ein Beispiel für die Übertragung der Grenzkontrolle an Bedienstete eines anderen Staates dar. Allein die wenigen hier referierten Beispiele zeigen somit nicht nur Ab‐ weichungen vom Standardfall in einzelnen Dimensionen, sondern mitun‐ ter auch in Bezug auf mehrere Elemente der Definition. Zugleich verdeut‐ lichen sie die starke Diversität, die Grenzen inzwischen erhalten haben, 14 Vgl. Kritzman-Amir, Tally 2011: Privatization and Delegation of State Authority in Asylum Systems. In: Law & Ethics of Human Rights 5: 1, S. 193-215. Für eine ausführliche Diskussion der Praxis der Carrier Sanctions vgl. Bloom, Tendayi / Risse, Verena 2014. A.a.O., S. 65-82. 15 In Deutschland werden Carrier Sanctions seit 1987 angewandt und in den §§ 64 und 65 des Aufenthaltsgesetzes geregelt. 16 Vgl. für den EU-Kontext Guild, Elspeth et al. 2015: Enhancing the Common European Asylum System and Alternatives to Dublin. In: CEPS Paper in Liberty and Security in Europe Nr. 83, S. 1-67.
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denen die Erlaubnis des Zutritts auf ein Territorium oder dessen Verweige‐ rung jedoch allen gemeinsam sind. 3.2 Konsequenzen für die Theorie zur Legitimation von Grenzen Dass aber nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Form der Grenzkon‐ trolle relevant sein kann, zeigt sich, wenn man die Konsequenz dieser be‐ schriebenen Veränderungen in der Praxis von Grenzkontrollen für die Theorie betrachtet. Die sich auf den Ablauf oder die Form der Grenzkontrolle beziehenden Abweichungen in der Praxis fordern nicht alle auf Grenzen rekurrierende Theorien gleichermaßen heraus. Vielmehr haben sie speziell Konsequen‐ zen für solche Theorien, die sich entweder auf den Standardfall beschrän‐ ken und/oder auf verfahrensmäßige Abläufe abstellen.17 Zur Illustration sollen hier Beispiele aus der Kategorie verfahrensbezogener Theorien er‐ wogen werden. Dies sind erstens Rekurse auf demokratische Legitimation, zweitens der Verweis auf Rechtsstaatlichkeit sowie drittens instrumentelle Argumente zur Verfahrensermöglichung. Bei der demokratischen Legitimation von Grenzkontrollen wird darauf verwiesen, dass deren Ablauf durch eine demokratische Entscheidung ge‐ deckt ist. Die demokratische Legitimation von Grenzen ist zuletzt immer wieder infrage gestellt worden, unabhängig von der genauen Ausgestal‐ tung der Grenzkontrollen. Die Kritik richtet sich darauf, dass das demo‐ kratische Prinzip, wonach all diejenigen, die einem Gesetz unterworfen sind, an dessen Entstehung mitwirken können müssen, im Fall der Grenz‐ kontrollen nicht eingehalten werden kann. Und selbst die weniger starke Forderung, wonach diejenigen, die dem durch die Regelungen ausgelösten Zwang unterworfen sind, an der Rechtfertigung dieser Regelungen mitwir‐ ken können müssen, lässt sich nicht erfüllen.18 Vielmehr sind mit den ein‐
17 Weniger Relevanz hat dieses Kriterium des Verfahrens für Rechtfertigungen mit Verweis auf Identität, Kultur o.Ä, die ebenfalls eine wichtige Stimme in der Dis‐ kussion ausmachen. Vgl. z.B. Scheffler, Samuel 2007: Immigration and the Signif‐ icance of Culture. In: Philosophy & Public Affairs 35: 2, S. 93-125. 18 Vgl. nur Abizadeh, Arash 2008: Democratic Theory and Border Coercion: No Right to Unilaterally Control Your Own Borders. In: Political Theory 36: 1, S. 45. Siehe auch Celikates, Robin 2014: Demokratische Inklusion. Wahlrecht oder Bür‐ gerschaft?. In Andreas Cassee und Anna Goppel (Hrsg.): Migration und Ethik, Münster: Mentis, S. 291-305.
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reisewilligen Nichtstaatsbürgern naturgemäß solche Personen von den Re‐ gelungen zur Ausgestaltung von Grenzkontrollen betroffen, die nicht an deren Entstehung mitwirken konnten.19 Die abweichenden Formen der Grenzkontrolle stellen die demokratische Rechtfertigung jedoch vor ein zusätzliches Problem, als zwar die Konsequenz (d.h. der eingeschränkte Zutritt zu dem staatlichen Territorium) von der Wahlbevölkerung mehr‐ heitlich gewollt sein mag, sich das Verfahren der Zutrittsbeschränkung selbst jedoch im Fall der Verlagerung an Privatpersonen oder Angehörige ausländischer Staaten einer weitgehenden demokratischen Kontrolle ent‐ zieht. Damit verknüpft ist zweitens der Verweis auf die Einhaltung rechts‐ staatlicher Grundsätze bei der Abwicklung von Grenzkontrollen. Das be‐ deutet unter anderem, die Rechte der betroffenen Personen zu achten, das Verfahren gleich und transparent zu gestalten und den Rechtsweg zu eröff‐ nen. Die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensmäßigkeit wird jedoch in den vom Standardfall abweichenden Fällen der Grenzkontrolle stark eingeschränkt, werden diese doch (teilweise bewusst) der Öffentlich‐ keit entzogen.20 Dieser Öffentlichkeitsentzug erfolgt auf mindestens zwei Weisen: erstens, indem die wahre Natur einer Maßnahme nicht bekannt gemacht wird und zweitens, indem eine Maßnahme an einen Ort oder in die Hände von Personen verlagert wird, die dem Rechtsweg oder adminis‐ trativen Kontrollverfahren entzogen sind. Während für öffentliche Akteure und staatliche Beamte entsprechende Verfahren zur Überprüfung ihrer ho‐ heitlichen Handlungen vorgesehen sind, sind private oder ausländische Akteure in ihrem Handeln dieser Kontrolle nicht unterworfen. Stark einge‐ schränkt ist auch die Drittwirkung von Rechten zwischen Privatperso‐ nen21, die somit in diesem Fall ebenfalls keinen ausreichenden Rechtsweg eröffnet. Drittens scheinen sich auch instrumentelle Rechtfertigungen von Grenzkontrollen zur Gewährleistung rechtsstaatlicher und demokratischer Verfahren nur bedingt auf die abweichenden Formen zu erstrecken. Zwar scheint ein unkontrollierter Zustrom von Personen ein institutionelles Sys‐
19 Wie Abizadeh ausführt, gibt es demokratietheoretisch kein Argument für einen be‐ grenzten Demos. Abizadeh, Arash 2008. A.a.O., bes. S. 44-48. 20 Vgl. auch Bloom, Tendayi/Risse, Verena, a.a.O., S. 76-77. 21 So können beispielsweise weder in Deutschland vor dem Bundesverfassungs‐ gericht noch auf europäischer Ebene vor dem Europäischen Gerichtshof für Men‐ schenrechte Individuen angeklagt werden, sondern ausschließlich Staaten.
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tem zu gefährden; ob dafür allerdings eine Verlagerung der Kontrollen an Private oder außerhalb des Staatsgebiets notwendig ist, ist fraglich. Bei der Betrachtung der Beispiele fällt auf, dass Praktiken, die hier als vom Standardfall abweichend beschrieben wurden, verschiedene theoreti‐ sche und normative Zusammenhänge voraussetzungslos machen und da‐ mit bestehende Theorien infrage stellen. So waren in den angeführten Bei‐ spielen Begründungen oder Rechtfertigungen für Grenzkontrollen ange‐ sichts der abweichenden Praktiken nicht mehr oder nur noch bedingt ein‐ schlägig. Zugleich lässt sich bemerken, dass durch diesen Theorie-PraxisAbgleich eine Problematisierung der abweichenden Praktiken möglich wird. Das bedeutet, dass nicht nur die theoretischen Erwägungen, die sich auf den Standardfall beziehen, infrage gestellt werden, sondern dass die Praktiken selbst im Licht bestehender normativer Annahmen problemati‐ siert werden können. So schien beispielsweise die rechtsstaatliche Recht‐ fertigung für abweichende Grenzkontrollen weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht haltbar. Vielmehr schien die abweichende Praxis auch den unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen zur Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien nicht zu genügen. In welche Richtung hier jeweils eine Anpassung notwendig ist, ist keine eindeutig zu beantwortende Frage. In jedem Fall erlaubt die Feststellung solcher Diskrepanzen jedoch, so‐ wohl Praxis als auch Theorie zu überprüfen. 4. Abschließende Bemerkungen In diesem Aufsatz ist die Frage diskutiert worden, wie sich die Abgren‐ zung und das Verhältnis von (politischer) Theorie und Praxis unter Be‐ rücksichtigung der Existenz politischer Grenzen bestimmen lässt. Es sind dabei insbesondere zwei Fallgruppen betrachtet worden, in de‐ nen die Beziehung zwischen Theorie und Praxis herausgefordert wurde: in der Fallgruppe der visionären Theorie einerseits und in der Fallgruppe einer sich wandelnden Praxis als Herausforderung für die Theorie anderer‐ seits. Dabei sind unterschiedliche Dimensionen und Dynamiken des Ver‐ hältnisses von Theorie und Praxis sichtbar geworden. So zeigte sich bei der Diskussion der ersten Fallgruppe, dass eine Theorie, die konsequent gedacht und angewendet wird, Veränderungen in der Praxis anstoßen kann. Unklar blieb jedoch, ab welchem Punkt eine Theorie einen Grad der Potentialität erreicht hat und derart über das in der Praxis Existierende hin‐ ausragt, dass sie ihre Praxisrelevanz verliert. Die zweite Fallgruppe hat 52
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verdeutlicht, dass eine sich wandelnde Praxis Theorie herausfordern kann. Zugleich zeigte sich, dass auch eine bestehende Theorie Anhaltspunkte zum Hinterfragen neuer oder abweichender Praktiken bieten kann. Insge‐ samt lässt dies darauf schließen, dass die Praxis nicht nur die Theorie be‐ grenzt und bestimmt, sondern auch die Theorie gegenüber der Praxis Wir‐ kung entfalten kann. Die Grenzen zwischen Theorie und Praxis erscheinen somit in beide Richtungen durchlässig und veränderbar. Darüber hinaus ist durch die Wahl von Beispielen aus dem Kontext po‐ litischer Grenzen deutlich geworden, dass politische Grenzen, die in der Praxis vorliegen, auch konzeptionelle Grenzen bedingen. Dies geschieht direkt, indem sie als modifizierbare politische Praxis Bestandteil von poli‐ tischer Theoriebildung sind. Daneben setzen politische Grenzen als Gren‐ zen eines bestimmten institutionellen Raumes aber auch einen Rahmen für die Betrachtung rechtlicher und politischer Institutionen und Konzepte. Bibliographie Abizadeh, Arash 2008: Democratic Theory and Border Coercion. No Right to Unilat‐ erally Control Your Own Borders. In: Political Theory 36: 1, 37-65. Abizadeh, Arash 2007: Cooperation, Pervasive Impact, and Coercion. On the Scope (not Site) of Justice. In: Philosophy and Public Affairs 35: 4, 318-358. Bate, Alex/Bellis, Alexander 2017: Right to Rent: private landlords’ duty to carry im‐ migration status checks. In: House of Commons Library Briefing Paper Nr. 7025, 1-45. Beitz, Charles 1983: Cosmopolitan Ideals and National Sentiment. In: The Journal of Philosophy 80: 10, 591-600. Blake, Michael 2002: Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy. In: Philoso‐ phy and Public Affairs 30: 3, 257-296. Bialasiewicz, Luiza 2012: Off-shoring and out-sourcing the borders of Europe: Libya and EU border work in the Mediterranean. In: Geopolitics 17: 4, 843-866. Bloom, Tendayi/Risse, Verena 2014: Examining Hidden Coercion at State Borders: Why Carrier Sanctions Cannot be Justified. In Ethics and Global Politics 7: 2, 65-82. Carens, Joseph H. 1987: Aliens and Citizens: The Case for Open Borders. In: The Re‐ view of Politics 49: 2, 251-273. Carens, Joseph H. 2013: The Ethics of Immigration, Oxford: Oxford University Press. Celikates, Robin 2014: Demokratische Inklusion. Wahlrecht oder Bürgerschaft?. In Andreas Cassee und Anna Goppel (Hrsg.): Migration und Ethik, Münster: Mentis, 291-305.
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Verena Risse Guild, Elspeth/Costello, Cathryn/Garlick, Madeline/Moreno-Lax, Violeta 2015: En‐ hancing the Common European Asylum System and Alternatives to Dublin. In CEPS Paper in Liberty and Security in Europe Nr. 83, 1-67. Klein, Natalie 2014: Assessing Australia's push back the boats policy under interna‐ tional law: Legality and accountability for maritime interceptions of irregular mi‐ grants. In: Melbourne Journal of International Law 15: 2, 414-444. Kritzman-Amir, Tally 2011: Privatization and Delegation of State Authority in Asylum Systems. In: Law & Ethics of Human Rights 5: 1, 193-215. Nagel, Thomas 2005: The Problem of Global Justice. In: Philosophy and Public Af‐ fairs 33: 2, 113-147. Scheffler, Samuel 2007: Immigration and the Significance of Culture. In: Philosophy & Public Affairs 35:2, 93-125. Schloenhardt, Andreas/Craig, Colin 2015: Turning Back the Boats. Australia’s Inter‐ diction of Irregular Migrants at Sea. In: International Journal of Refugee Law 27: 4, 536-572.
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Der Ausnahmezustand als Grenzraum von Demokratie und Rechtsstaat Jona van Laak
Zusammenfassung Dieser Artikel soll den Ausnahmezustand in seiner Funktion als Grenze von Demokratie und Rechtsstaat analysieren. Zu diesem Zweck wird der Ausnahmezustand aus normativem, konstitutivem und deskriptivem Blickwinkel dekonstruiert und anschließend normativ als ‚Grundrechts‐ verletzende Veränderungen von Rechtsnormen‘ definiert. Diese gewählte Definition wird durch den Antagonismus von Recht und Souveränität in der Ausnahmezustandstheorie Carl Schmitts und Giorgio Agambens veri‐ fiziert. Anschließend werden klassische und neue Ausnahmezustände an‐ hand der Rechtsfolgen von Ausnahmezuständen differenziert und die da‐ raus ableitbaren Grenzen für demokratische und rechtsstaatliche Prinzipi‐ en diskutiert. Abschließend wird die Frage diskutiert, ob der Ausnahmezu‐ stand nicht nur als Grenze, sondern auch als dynamischer Grenzraum zwi‐ schen politischer Effektivität und rule of law bezeichnet werden kann. 1. Der Ausnahmezustand als Grenze Der Ausnahmezustand stellt in Demokratien westlicher Prägung eine der originärsten innersystemischen Grenzen für den demokratischen Rechts‐ staat dar. Wie die Entwicklungen in Frankreich oder der Türkei in den letzten beiden Jahren sichtbar gemacht haben, handelt es sich dabei nicht nur um ein Phänomen der rechts- oder politikwissenschaftlichen Theorie, sondern um eine hochaktuelle Frage der politischen Praxis und der Rechtspraxis. Die mehrfache Verlängerung des Ausnahmezustands in Frankreich und die Entwicklungen in der Türkei in Richtung autoritärer und diktatorischer Staatsstrukturen verdeutlichen die hohe Attraktivität des Ausnahmezustands als Mittel staatlicher Politik und die Gefahr seiner Verstetigung. Ursächlich dafür ist, dass sich der Ausnahmezustand an den innersystemischen Grenzen staatlichen Handelns bewegt und sich aus den 55
Jona van Laak
Grenzen des Ausnahmezustands zugleich die Grenzen demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien ableiten lassen. Die Beschäftigung mit dem Ausnahmezustand wirft deshalb Fragen auf, wo die Grenze zwischen Nor‐ mallage und Ausnahmezustand zu ziehen ist, welche Grenze souveränes Handeln im Ausnahmezustand erfährt und wie die Rückkehr in den Nor‐ malzustand zu gestalten ist. 2. Ausnahmezustand – Annäherung an einen streitbaren Begriff Der Begriff Ausnahmezustand und seine Verwendung sind widersprüch‐ lich. Ich möchte im Folgenden den Begriff Ausnahmezustand aus drei Per‐ spektiven diskutieren, aus normativem, konstitutivem und deskriptivem Blickwinkel. Das deskriptive Verständnis definiert den Ausnahmezustand als Abweichung von einem als normal verstandenen Zustand. Dieses Ver‐ ständnis entstammt der allgemeinsprachlichen Verwendung von Ausnah‐ mezustand im privaten Kontext, in sozialen Netzwerken oder im öffentli‐ chen Diskurs. Die Aussage ‚Bei mir herrscht der Ausnahmezustand‘ be‐ schreibt damit lediglich einen vom Normalzustand abweichenden Zustand, dessen Inhalte oder Folgen nicht verallgemeinerbar sind. Der Ausnahme‐ zustand kann hier beispielsweise von einer besonders emotionalen Situati‐ on des Alltags (z.B. euphorischer Ausnahmezustand) bis zur existentiellen Bedrohung einer Berufsunfähigkeit (z.B. existentieller Ausnahmezustand) reichen – als gemeinsames Merkmal dient lediglich die Abweichung vom Normalzustand. Das normative Verständnis verbindet den Begriff Ausnah‐ mezustand mit den Phänomenen Bedrohung, Not und Ernstfall. Es lässt sich auf die ersten Notstandsgesetzgebungen in den Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts zurückführen, wie beispielsweise dem loi de l’état de siège in der Französischen Verfassung von 1791 oder der Belagerungszu‐ standsgesetzgebung in Artikel 68 der Deutschen Verfassung von 1851. Schon die begriffliche Formulierung zeigt den militärischen bzw. kriegeri‐ schen Charakter. Als Folge der normativen Verknüpfung des Ausnahme‐ zustands mit Bedrohungsszenarien politischer oder militärischer Gewalt, wird der Ausnahmezustand als ein Grenzfall der Staats- und Rechtsord‐ nung verstanden, der zu vermeiden ist. Das bedeutet, dass die Diagnose ei‐ nes Ausnahmezustands gleichgesetzt mit einer bedrohlichen Veränderung der Rechtsordnung verstanden wird. Das konstitutive Verständnis be‐ schreibt den Ausnahmezustand als ein verfassungsrechtlich determiniertes Rechtskonstrukt, durch das bestimmte Alternativregeln Rechtswirkung er‐ 56
Der Ausnahmezustand als Grenzraum von Demokratie und Rechtsstaat
langen. Dieser rechtspositivistische Blickwinkel beschränkt die Analyse von Ausnahmezuständen deshalb auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Rechtsanwendung und der rechtlichen Ordnung des Ausnahmezu‐ stands. Das bedeutet, dass die Diagnose eines Ausnahmezustands Rück‐ schlusse auf die Anwendung von Notstandsnormen der Verfassung ermög‐ licht und dabei analysiert werden kann, ob sich staatliches Handeln inner‐ halb der verfassungsrechtlich gesteckten positivrechtlichen Grenzen be‐ wegt, oder nicht. Der Versuch der Dekonstruktion des Ausnahmezustands mündet nach dieser Typisierung in der Festlegung wesensrelevanter Kriterien, die einen staatsrechtlichen Ausnahmezustand kennzeichnen. Dies ist zum einen die Abweichung vom Normalzustand (A) und zum zweiten die Veränderung von Rechtsnormen (B). Während sich (A) etymologisch aus dem Begriff Ausnahmezustand erschließen lässt,1 kann die Rechtsveränderung (B) über die Diagnoseproblematik des Ausnahmezustands hergeleitet werden. Um den Ausnahmezustand diagnostizieren zu können, bedarf es Merkmale, anhand derer die Abweichung vom Normalzustand festgestellt werden kann. Da der Ausnahmezustand eng mit dem Phänomen politischer Macht verbunden ist (siehe z.B. Heller), liegt es nahe, den Fokus auf eine Analy‐ se politischer Macht oder staatlicher Souveränität zu legen und so die Ab‐ weichung zum Normalzustand beispielsweise anhand der Machtzunahme bestimmter Akteure zu diagnostizieren. Hier jedoch gerät die politikwis‐ senschaftliche Analyse an ihre Grenzen, weil sich Machtveränderungen in demokratischen Systemen lediglich Einzelfallbezogen untersuchen lassen und daraus keine Schlüsse auf das System als Ganzes möglich sind. Wenn z.B. ökonomische Eliten größeren Einfluss bei der policy-Formulierung generieren können als der Durchschnittsbürger,2 so lässt sich daraus weder ableiten, dass diese Diagnose für alle politischen Entscheidungsbereiche gilt, noch dass die Machtveränderung als rechtswidrig zu kategorisieren ist. Auf politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Ebene gibt es keinen verallgemeinerbaren Bewertungsmaßstab oder -index anhand dessen der
1 Der Ausnahmezustand muss irgendeine Abweichung zum Normalzustand darstel‐ len. Aus formaler Logik gilt die Bedingung AZ ≠ NZ . => AZ = v∗NZ . 2 Siehe: Gilens, Martin / Page, Benjamin, 2014: Testing Theories of American Polit‐ ics: Elites. Interest Groups, and Average Citizens. In: Perspektives on Politics 12: 3, S. 564-581; Enns, Peter / Christopher Wlezien, 2011: Group Opinion and the Study of Representation. In: Peter Enns / Christopher Wlezien (Hrsg.): Who gets represen‐ ted?. New York: Russell Sage Foundation, S. 1-26.
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Ausnahmezustand diagnostiziert werden könnte, zumal der politische Nor‐ malzustand erst aus der Rechtsordnung definiert werden kann. Somit lie‐ fert nur die Rechtsordnung eine formale Analysebasis, anhand derer politi‐ sches Handeln auf die Vereinbarkeit mit geltenden Normen überprüft wer‐ den kann. Führt man (A) und (B) zusammen, so ergäbe sich eine Definition, die den Ausnahmezustand als eine Abweichung vom Normalzustand definiert, die durch die Veränderung von Rechtsnormen entsteht. Diese Definition ist problematisch, weil sie die Diagnose eines permanenten Ausnahmezu‐ stands zur Folge hätte, wie sie etwa in der Theorie Agambens zum Vor‐ schein kommt. Wenn alle Normveränderungen Ausnahmezustand wären, wäre der Ausnahmezustand permanent. Agamben begründet in seiner Theorie die Permanenz des Ausnahmezustands mit folgender Argumenta‐ tionskette:3 (1) Dekonstruierte, d.h. auf ihren Wesensgehalt geprüfte Ge‐ setze haben ihre inhaltliche Bedeutung verloren, sie bestehen als leere Hüllen weiter. (2) Jedes Gesetz, das eine Geltung ohne Bedeutung mani‐ festiert, ist ein Ausnahmezustand der permanent geworden ist. (3) Alle Ordnungen unserer Welt sind von permanenten Ausnahmezuständen ge‐ zeichnet. Diese Kausalkette ist jedoch weder empirisch haltbar, noch las‐ sen sich aus ihr weiterführende inhaltliche Aussagen ableiten. Ein perma‐ nenter Ausnahmezustand ist vom Normalzustand nicht zu unterscheiden, weil die permanente Ausnahme selbst zur Regel und damit zur Normalität wird. Ein permanent gewordener Ausnahmezustand ist deshalb nicht län‐ ger Offenbarungszustand und vermag keine inhaltlichen Aussagen über die Qualität von Rechtsstaat und Demokratie zu vermitteln. Um der Permanenz des Ausnahmezustands zu entgehen, der sich der dekonstruierte Ausnahmezustand gegenübersieht, bedarf es im zweiten Schritt einer normativen Definition, die eine Einschränkung der Kriterien auf bestimmte Normen ermöglicht. Die Diskussion um die politischen Folgen von Normveränderungen oder Norminterpretationen kann weder rein rechtspositivistisch geführt werden, noch lassen sich alle Arten von Normenmissachtung, Normveränderung oder Norminterpretation als poli‐ tischer Ausnahmezustand werten. Die normative Einschränkung kann des‐ wegen auf zwei Ebenen entwickelt werden. Zum einen auf der rechtsposi‐
3 Vgl. Agamben, Giorgio. 2013: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays. Frank‐ furt am Main: S. Fischer, S. 301ff; Agamben, Giorgio. 2004: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 102; Hidalgo, Oliver. 2014: Die Antinomien der Demokratie. Frankfurt am Main u.a: Campus, S. 378.
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tivistischen Ebene staatlicher Grundrechte oder Staatsstrukturprinzipien4 und zum zweiten auf der normativen Ebene von Menschen- oder Natur‐ rechten. Das bedeutet beispielsweise, dass eine Normmissachtung dann als Ausnahmezustand gewertet werden kann, wenn dadurch ein Widerspruch zu Normen im Grundrechtscharakter oder zu naturrechtlichen Menschen‐ rechts- oder Gerechtigkeitskonzepten entsteht.5 In diesem Kontext soll der Ausnahmezustand als Grundrechtsverletzende Veränderungen von Rechts‐ normen definiert werden. Es vermag ungewohnt zu erscheinen, dass der Begriff Ausnahmezustand im Folgenden nicht als klassischer Staatsnot‐ stand definiert wird. Damit jedoch wird der Nachteil umgangen, dass der Ausnahmezustand auf Situationen wie Staatsnotstände, militärische Be‐ drohungsszenarien, Naturkatastrophen etc. beschränkt ist. Im Umkehr‐ schluss schließt die gewählte Definition diese Szenarien mit ein, kann je‐ doch auch neue Formen von Ausnahmezuständen analysieren, mit denen sich die Politikwissenschaft im 21. Jahrhundert konfrontiert sieht. 3. Der Antagonismus von Recht und Souveränität Um das Ergebnis der Begriffsdiskussion aus der Perspektive der politi‐ schen Theorie zu verifizieren, soll aus dem Verhältnis von Recht und Sou‐ veränität bei Carl Schmitt und Giorgio Agamben die These entwickelt werden, dass Ausnahmezustände einzig durch die Veränderung von Rechtsnormen diagnostiziert werden können. Für Schmitt und Agamben ist die Theorie vom Ausnahmezustand Teil der Souveränitätstheorie. Viel‐ zitiert ist die These Schmitts in der Politischen Theologie: Souverän 4 Mögliche Alternativbegriffe: Normen im Verfassungsrang, Normen der höchsten Stufe der Rechtshierarchie. 5 Dies schließt an Gustav Radbruch an. Für Radbruch ist das Recht eine „Kulturer‐ scheinung“ und damit ein „wertbezogener“ (Radbruch, Gustav, 1959: Vorschule der Rechtsphilosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 33) Begriff. Daraus folgt, dass das Recht neben seinen rechtspositivistischen Charakter weitere Eigen‐ schaften aufweisen muss. Dies ist erstens der normative Charakter, zweitens der so‐ ziale Aspekt, dass Recht ein gerechtes soziales Zusammenleben anstreben soll und drittens der generelle Charakter im Sinne einer Gleichheit aller. Staatliches Handeln muss deshalb neben den rechtlichen auch sozialen und normativen Anforderungen Rechnung tragen. Im Umkehrschluss bedeutet dies für Radbruch, dass die Geltung von positivem Recht da endet, wo es einen unerträglichen Widerspruch zur Gerech‐ tigkeit darstellt. (Forschner, Steffen. 2003: Die Radbruchsche Formel in den höchstrichterlichen "Mauerschützenurteilen". Tübingen: Univ. Diss., S. 13).
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ist, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet“6. Damit nimmt Schmitt im verfassungstheoretischen Streit der 1920er Jahre eine radikale Gegen‐ position zu Hans Kelsen ein, der den Begriff der Souveränität einzig als formales Kriterium zur Verknüpfung von Rechtsordnung und Staatsgewalt beschreibt und wertet die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezu‐ stand als die entscheidende Demonstration staatlicher Souveränität. Wie Schmitt in der Politischen Theologie weiter ausführt, ist Souveränität des‐ halb ein Grenzbegriff, d.h. ein Begriff der „äußersten Sphäre“7 der Rechts‐ ordnung, der sich an den Rändern der Rechtsgeltung bewegt. Denn die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand wird weder außer‐ halb der Rechtsordnung getroffen, noch setzt sie das Recht vollständig au‐ ßer Kraft. Dies kennzeichnet das Paradoxon des Ausnahmezustands, der, obwohl er die Selbstständigkeit von Norm und Dezision offenbart, nicht eo ipso zu einer Außerkraftsetzung der Rechtsordnung führt. Schmitt cha‐ rakterisiert den Souverän deshalb als Teil der Rechtsordnung, der zugleich außerhalb von ihr steht. Dieses Verständnis hat weitreichende Folgen für die politische Theorie Schmitts, für den Begriff des Politischen, den Fein‐ dantagonismus und die politische Bedeutung gesellschaftlicher Homoge‐ nität. Für Agamben ist der Ausnahmezustand analog zu Schmitt ein Grenzbe‐ griff der Rechtsordnung im „Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität“8. Ein rechtsfreier Raum, in dem alle Rechtsbe‐ stimmungen „deaktiviert“9 sind – quasi ein Rechtsvakuum innerhalb der Rechtsordnung. Für Agamben dient, hier wird der biopolitische Einfluss Michel Foucaults sichtbar, das Lager durch die Reduktion der Inhaftierten auf nacktes, kreatürliches Leben als die Extremform politischer Entrech‐ tung und damit als der weitreichendste Akt politischer Souveränität. Diese epistemische Dimension, die das Lager in der Theorie Agambens erfährt, ist neuartig, hat jedoch hinsichtlich ihrer Radikalität und Pauschalität viel berechtigte Kritik nach sich gezogen. Ich möchte die Analyse deshalb auf die juridopolitische Dimension der Theorie Agambens beschränken. Sie lässt sich bereits aus der Bewertung der Ausnahmezustandsdefinition von Schmitt herauslesen.
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Schmitt, Carl. 1922: Politische Theologie. Berlin: Duncker & Humblot, S. 9. ebd. Agamben, Giorgio. 2004: Ausnahmezustand. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 8. Vgl. Agamben, Giorgio 2004: a.a.O., S. 62 f.
Der Ausnahmezustand als Grenzraum von Demokratie und Rechtsstaat
„Wir können also den Ausnahmezustand in der Schmittschen Lehre definieren als den Ort, wo der Gegensatz zwischen Norm und ihrer Anwendung seine höchste Intensität erreicht. Er ist ein Feld rechtlicher Spannungen, in dem ein Minimum an formaler Geltung einem Maximum an wirklicher Anwendung entspricht und umgekehrt.“10
Während sich mit Schmitt festhalten ließe, dass der Ausnahmezustand eine rechtsimmanente Außerkraftsetzung des Rechts ist, konzipiert Agam‐ ben den Ausnahmezustand als eine eingeschlossene Ausgeschlossenheit des Rechts, in dem Recht gilt, jedoch ohne faktische Bedeutung ist. In An‐ lehnung an Derrida spricht Agamben von einem Zustand der Geset‐ zeskraft, in dem eine Norm weiter gilt, sie jedoch keine Anwendungskraft mehr hat. Damit schafft der Zustand der Gesetzeskraft den Raum für Ge‐ setzeskraft, d.h. den Ausnahmefall, in dem Handlungen Anwendungskraft erlangen, die nicht den Stellenwert von Gesetzen haben.11 Für Agamben spielt sich der Ausnahmezustand deshalb in einem rechtsfreien Raum ab, der aus der Suspendierung der Rechtsordnung entsteht und damit mittelbar im Kontext der Rechtsordnung steht. Für die weitere Argumentation lassen sich folgende Kernthesen ablei‐ ten. Im Ausnahmezustand befreit sich die souveräne Entscheidung von rechtlicher Hegung. Der Ausnahmezustand ist damit mittelbarer oder un‐ mittelbarer (je nach konstitutioneller Ausprägung) Bestandteil der Rechts‐ ordnung, der eine Außerkraftsetzung der Rechtsordnung oder bestimmter Normen zur Folge hat. Diese Rechtsveränderung kann als entscheidendes Kennzeichen des Ausnahmezustands gelten, woraus im Umkehrschluss gefolgert werden kann, dass der Ausnahmezustand erst durch diese Rechtsveränderung diagnostizierbar ist. 4. Wie sich im Ausnahmezustand das Recht verändert Trotz der hohen Individualität von Ausnahmezuständen lassen sich einige verallgemeinerbare Strukturmerkmale bestimmen, die Ausnahmezustände kennzeichnen. So weist jeder Ausnahmezustand bestimmte Rechtsgrund‐ lagen auf, die auch als Differenzierungsmerkmal zu vor- oder außerstaatli‐ chen Zuständen dienen. Denn ein Ausnahmezustand, der die Rechtsord‐ nung außer Kraft setzt, kann nur dann von vor- oder außerstaatlichen Zu‐
10 ebd., S. 47. 11 ebd., S. 48 f.
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ständen (z.B. Naturzustand) differenziert werden, wenn er bestimmte mit‐ telbare Beziehungen zur Rechtsordnung aufweist. Des Weiteren besitzt je‐ der Ausnahmezustand zeitliche Eigenschaften (teilweise auch einer Auslö‐ ser-Situation) und Rechtsfolgen. Anhand der Rechtsfolgen lassen sich drei verschiedene Typen von Ausnahmezuständen differenzieren, in denen der souveräne Akteur auf unterschiedliche Bestandteile von Rechtsnormen einwirkt. Dazu ist es notwendig, Rechtsnormen in die Bestandteile Tatbe‐ stand und Rechtsfolge zu unterteilen und die Rechtsanwendung/Rechtsin‐ terpretation hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Rechtsnorm zu analysie‐ ren. Hierbei lassen sich klassische und neue Typen von Ausnahmezustän‐ den unterscheiden. Zu den klassischen Typen von Ausnahmezuständen zählen Norm-Suspendierende Ausnahmezustände und Rechtsfolge-Suspen‐ dierende Ausnahmezustände. Als neuer Typus lässt sich der Rechtsinter‐ pretation-Instrumentalisierender Ausnahmezustand konzipieren. Klassi‐ sche und neue Typen weisen hinsichtlich ihrer Sichtbarkeit und Diagnosti‐ zierbarkeit Unterschiede auf, können in ihrer politischen Wirkung jedoch zu einem faktisch gleichen Ergebnis führen. 4.1 Klassische Ausnahmezustände In einem Norm-Suspendieren Ausnahmezustand werden bestimmte Grund‐ rechtsnormen vollständig außer Kraft gesetzt. Dies kann beispielhaft an den Notstandsartikeln der Weimarer Verfassung diskutiert werden, die in Art. 48 dem Reichspräsidenten zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung die Möglichkeit einräumten, Grundrechte außer Kraft zu setzen. Diese Notstands-Ermächtigung ermöglichte es dem Reichspräsidenten, die politische Praxis der Präsidialkabinette ab 1929 vermag dies zu verdeutli‐ chen, trotz rechtlich begrenzender Merkmale in Art. 48/3 WV den Aus‐ nahmezustand als effektives Mittel für mehr Souveränität zu nutzen. Ein Rechtsfolge-Suspendierender Ausnahmezustand ist ein Ausnahme‐ zustand, in dem Tatbestände von Rechtsnormen weiter gelten, jedoch ohne Rechtsfolge sind. In diesem Machtvakuum entstehen Ersatzverfahren, die keine rechtliche Legitimation besitzen. Als Beispiel kann die Inhaftierung von detainees in Guantanamo gelten. Wie das Supreme-Court Urteil vom
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28. Juni 200412 gezeigt hat, war der Beschluss des damaligen US-Präsi‐ dent George W. Bush wider geltendes Recht, dass es erstens keine Ver‐ pflichtung zur Wahrung von der Verfassung begründeter Schutzrechte gä‐ be, da sich das Lager außerhalb US-Territoriums befinde, und es zweitens nicht nötig sei die Genfer Konventionen zu beachten, da diese nur für Kriegsgefangene und Zivilpersonen in Kriegszeiten und nicht für unlawful enemy combatants gelte. Den Inhaftierten wurde weder einen Kriegsge‐ fangenen-Status zuerkannt, noch wurden Anklagepunkte angeführt, die die Verhaftung der Inhaftierten begründeten. Das völlige Auseinanderfallen von Tatbestand und Rechtsfolge, dadurch dass präventiv, präemptiv und teils ohne Verdachtsmoment zuerst die Rechtsfolge, nämlich die Inhaftie‐ rung vollzogen wurde, um im Anschluss Tatbestände auf menschenrechts‐ verletzende Weise zu konstruieren, stellt damit eine Verletzung von rechts‐ staatlichen Grundsätzen dar (z.B. Gesetzlichkeitsprinzip, Folterverbot u.a.). Die genaue Analyse offenbart, dass der Tatbestand dieser Rechts‐ grundsätze nicht außer Kraft gesetzt wurde (die Bush-Regierung hat z.B. die Geltung der GFK nicht verändert), sondern die Rechtsfolge dieser menschenrechtlicher Normen „im Raum des Rechts“13 ihren zwangsbe‐ wehrten Charakter verlor. 4.2 Neue Ausnahmezustände Ein Rechtsinterpretation-Instrumentalisierender Ausnahmezustand ist durch eine Instrumentalisierung der Rechtsinterpretation von Grundrechts‐ normen gekennzeichnet, die einen Widerspruch zu verfassungsrechtlichen Grundnormen, Staatsstrukturprinzipien oder naturrechtlich begründbaren Grundrechten darstellt. Dieser Definition sind einige Grundcharakteristika der Rechtstheorie voranzustellen. Rechtsnormen weisen unbestimmte Inhalte auf, die eine Lücke zwi‐ schen der Tatbestands-Beschreibung einer Norm und einem konkreten Sachverhalt schaffen, die der Rechtsanwender im Prozess der Rechtsan‐
12 US-Supreme-Court, Hamdi. /. Rumsfeld et al., (03-6696). Urteil v. 28. Juni 2004, 542 US 507 (2004) und US-Supreme-Court, Rasul et. Al../. Bush et al. (03-334)/ Al Odah et al. United States et al. (03-343), Urteil v. 28. Juni 2004, 542 US 466 (2004). 13 Assheuer, Thomas, 2004. Das nackte Leben. http://www.zeit.de/2004/42/STAgamben, 17.6.2017.
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wendung zu überbrücken hat. Diese Lücke lässt sich nicht vollständig durch den inhaltlichen Kontext einer Norm in der gesamten Rechtsord‐ nung überbrücken, da die rechtliche Normierbarkeit Grenzen kennt und der Entscheidungsspielraum des Rechtsanwenders nicht vollständig einge‐ grenzt werden kann. Deshalb muss der Rechtsanwender auf sprachliche, politische oder kulturelle Verständnisse zurückgreifen, weil Normen als sprachliche Konstrukte normativer Kategorien und Prämissen bedürfen14. Hierbei versucht der Rechtsanwender die inhaltliche Aussage einer Norm soweit zu konkretisieren, dass sie auf einen bestimmten Sachverhalt an‐ wendbar ist und zugleich die inhaltliche Absicht des Gesetzgebers berück‐ sichtigt wird, die zur Implementation der Norm geführt hat. Zu den Ursa‐ chen rechtlicher Unbestimmtheit zählt etwa Kelsen in Reine Rechtslehre sprachliche Ursachen, wie beispielsweise unzureichend definierte Begriffe oder Sätze oder logische Ursachen, wie Diskrepanzen zwischen der Inten‐ tion einer Norm in ihrem Rechtskontext und ihrer sprachlichen und inhalt‐ lichen Umsetzung. Der Interpretationsraum von Rechtsnormen schafft da‐ mit einen Handlungsspielraum des Rechtsanwenders, der dazu führen kann, dass eine Norm eine unbegrenzte Vielzahl an rechtlichen Entschei‐ dungen zur Folge haben könnte, dass jedoch das richterliche Urteil unter der Vielzahl dieser gleichwertigen Möglichkeiten eine herausstellt, die da‐ durch Kraft des Urteils zu positivem Recht wird.15 „Die zu vollziehende Norm bildet in allen diesen Fällen nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Vollziehung gegeben sind, wobei jeder Akt normgemäß ist, der sich innerhalb dieses Rahmens hält, den Rah‐ men in irgendeinem möglichen Sinn ausfüllt.“16
Das hat die unmittelbare Folge, dass eine untergeordnete Norm oder eine, durch die Rechtsanwendung konkretisierte Norm, durch die Geltungskraft der jeweils höherrangigen Norm gelten kann, obwohl sie in inhaltlichem Widerspruch zu dieser steht. Die Überprüfung dieses Widerspruchs ist von der zugeordneten Prüfungsinstanz abhängig und die Außerkraftsetzung einer dergestalt rechtswidrigen Norm ist davon abhängig, als Information in die Öffentlichkeit zu gelangen, durch eine unabhängige Instanz in Frage gestellt zu werden und durch die Autorität richterlicher Entscheidung au‐
14 Vgl. Koch, Hans-Joachim / Rüßmann, Helmut. 1982: Juristische Begründungsleh‐ re. Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft. München: Beck, S. 5. 15 Vgl. Kelsen, Hans. 2008: Reine Rechtslehre. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 105. 16 ebd., S. 104.
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ßer Kraft gesetzt zu werden. Bis zum Tag der Außerkraftsetzung entfaltet die rechtwidrige Norm jedoch in jedem Fall ihre Geltung. Das bedeutet, die Einschränkung von Staatsbürgerrechten mittels normwidrigen Normen besitzt temporär begrenzte Legalität. Hier lässt sich eine Querverbindung zur Ausnahmezustandstheorie zie‐ hen. Der Prozess der Rechtsanwendung kann so instrumentalisiert werden, dass ein inhaltlicher Widerspruch zu hierarchisch übergeordneten Grund‐ rechtsnormen oder dem dahinter verortbaren normativen Anspruch ent‐ steht, der als Ausnahmezustand bezeichnet werden kann. Diese Instrumen‐ talisierung kann zum einen in Form einer direkten, nicht-öffentlichen Ein‐ wirkung eines souveränen Akteurs bei der Normanwendung auftreten, um im Eigeninteresse eine bestimmte rechtliche Lage zu erzeugen. Zum ande‐ ren kann der Einwirkungsprozess über den öffentlichen Meinungsbil‐ dungsprozess erfolgen, indem in der öffentlichen Diskussion durch souve‐ räne Akteure Diskurse oder Phänomene verzerrt und verstärkt werden, die in der Folge eine veränderte Gesetzesinterpretation begünstigt.17 Doch welchen Mehrwert bietet die Verknüpfung dieser Art der Rechts‐ veränderung mit dem politischen Konstrukt des Ausnahmezustands? Ers‐ tens spiegelt sie den Charakter des Grenzphänomens Ausnahmezustand wieder, der an der Schnittstelle von Politik- und Rechtswissenschaft zu diskutieren ist.18 Zweitens ermöglicht die Diagnose eines Ausnahmezu‐ stands eine weitaus höhere Wirkmächtigkeit, als eine widerrechtliche Rechtsanwendung einer Norm, die von der Rechtswissenschaft jeweils nur einzelfallbezogen analysiert wird. Drittens ermöglicht die Diagnose neuer
17 Argumentativ lässt sich das wie folgt beispielhaft darstellen: Das Spannungsver‐ hältnis zwischen Sicherheit und Freiheit wird im öffentlichen Diskurs so instru‐ mentalisiert (Stichworte: Sicherheitsstaat; Terrorismusbedrohung), dass sich Si‐ cherheit vom Schutzgedanken gegenüber dem Bürger löst und final in freiheitsne‐ gierenden Entwicklungen wie der Überwachungsaffäre kulminiert. Siehe: Voigt, Rüdiger. 2009: Souveräne Entscheidungen im Ausnahmezustand: Staatliches Handeln zwischen Legalität und Legitimität. In: Michael Hirsch und Rüdiger Voigt (Hrsg.): Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart: Franz Steiner, S. 44 f.; Holzinger, Markus et.al., 2010: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand. Wei‐ lerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 25; Kreuder-Sonnen, Christian. 2013: Die Ent‐ grenzung des Ausnahmezustands: global und permanent. In: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Dikta‐ tur. Baden-Baden: Nomos, S. 166. 18 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer steigenden Verflechtung von Po‐ litik und Recht.
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Ausnahmezustände eine rechtliche Ausdifferenzierung des Ausnahmezu‐ stands, was wiederum im Umkehrschluss differenziertere Aussagen über die Qualität von Rechtsstaat und Demokratie ermöglicht. Dies gilt insbe‐ sondere für die fließenden Grenzen neuer Ausnahmezustände, deren Dia‐ gnose komplex ist. Sie werden oft nach der try-and-error Politik umgesetzt und man könnte vom einem Austesten der Möglichkeiten sprechen, mit denen der Gestaltungsspielraum durch souveräne Akteure ausgelotet wird. Die Zweckentfremdung von Interpretationsräumen als Rechtsinterpre‐ tation-Instrumentalisierender Ausnahmezustand lässt sich am Ankauf von Staatsanleihen über die Offenmarktgeschäfte der EZB seit 2010 aufzeigen, die als Verletzung institutioneller Richtlinien und des Prinzips der Gewal‐ tenteilung gewertet werden kann. Die Offenmarktgeschäfte ermöglichen der EZB die Geldmengensteuerung über den An- oder Verkauf von Wert‐ papieren am Geld- oder Kapitalmarkt. Mit dem SMP-Programm begann die EZB 2010 Staatsanleihen defizitärer Krisenstaaten als Handelssicher‐ heiten bei ihren Geldmarktgeschäften mit den Geschäftsbanken zu akzep‐ tieren. Vordergründig stellte dies ein ‚normales‘ Geldmarktgeschäft dar, da die EZB selbst festlegt, welche qualitativen Hürden sie für Papiere fest‐ legt. Faktisch jedoch bedeutete dies eine versteckte Finanzierung von defi‐ zitären Mitgliedsstaaten über die Mittlerfunktion der Geschäftsbanken. Diese Art des Ankaufs von Staatsanleihen ist in den Verträgen nicht im Wortlaut verboten, stellt jedoch in ihrer Qualität eine trickreiche Umge‐ hung des Verbots der direkten Finanzierung nationaler oder europäischer Organe nach Art. 123 AEUV dar. Diese Instrumentalisierung der Rechts‐ anwendung der institutionellen Richtlinien der EZB kann als Ausnahme‐ zustand kategorisiert werden. 5. Der Ausnahmezustand als Grenze von Demokratie und Rechtsstaat Es bietet sich an, sich dem Begriff Grenze über seine Verwendung im na‐ tionalstaatlichen Kontext zu nähern. Nationale Grenzen üben staatsrecht‐ lich relevante Funktionen aus, sie kontrollieren Grenzsubjekte, entschei‐ den über deren Ein- und Ausschluss und demonstrieren so die Macht der souveränen Entscheidung nach außen und innen. Diese Demonstration von Souveränität zeigt sich auch bei der Entscheidung über den Ausnahmezu‐ stand, der als Grenze von Demokratie und Rechtsstaats bezeichnet werden kann. Der Ausnahmezustand lässt die Grenze des Rechtsstaats sichtbar werden, weil er erstens die Geltung von Rechtsnormen verändert, die auf 66
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unterschiedliche Weise außer Kraft gesetzt oder verändert werden können. Zweitens hat der Ausnahmezustand eine rechtliche Ungleichbehandlung von Personen zur Folge, die sowohl die Ebene staatsbürgerlicher Grund‐ rechte, als auch die Ebene der Menschenrechte betreffen kann. Drittens führt ein Ausnahmezustand zu eingeschränkten innersystemischen Kon‐ trollmöglichkeiten der Exekutive, die etwa die Gewaltenteilung aushebeln können und willkürliche politische Entscheidungen zur Folge haben. Ebenso setzt der Ausnahmezustand der Demokratie Grenzen, da er de‐ mokratische Teilhabemöglichkeiten ungleich verteilt und die Opposition entmachtet. Die Mitwirkung an Parteien, die Bildung von Parteien oder die Teilhabe an demokratischer Entscheidungsfindung wird im Ausnahme‐ zustand selektiv und bleibt bestimmten gesellschaftlichen Akteuren vorbe‐ halten. In der Tendenz ersetzt so die Prärogative die parlamentarische Ge‐ setzgebung. Flankiert wird dies durch eine Einschränkung des öffentlichen Diskurses, beispielsweise der Presse- oder Meinungsfreiheit, der zu Ho‐ mogenisierung der Meinungspluralität und einer Diskriminierung Anders‐ denkender führen kann. Diese Beispiele zeigen, dass bei der Grenzüberschreitung vom Normal‐ zustand in den Ausnahmezustand bestimmte Wesensmerkmale eines de‐ mokratischen Rechtsstaats verändert werden. Die Grenze zum Ausnahme‐ zustand zu überschreiten, bedeutet, diese Merkmale zu verändern oder au‐ ßer Kraft zu setzen. Während also beispielsweise im Normalzustand die Meinungsfreiheit ein Grundrecht jedes Staatsbürgers darstellt, führt der Grenzübertritt in den Ausnahmezustand dazu, dass Meinungsfreiheit ein‐ geschränkt wird oder selektiv nur noch bestimmten Gruppen zusteht. Die‐ ser Übergang erfolgt, analog zu einer nationalstaatlichen Grenze, an einer statischen Grenze. 6. Der Ausnahmezustand als Grenzraum? Der Charakter nationaler Grenzen, d.h. die Sicht-, Fühl- und Erfahrbarkeit ihrer Existenz, hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert und hängt maßgeblich von der Perspektive des Grenzübertrittsuchenden ab. Während für europäische oder westliche BürgerInnen die Grenze in den letzten Jahrzehnten als in Auflösung erlebt wurde, sieht sich der undoku‐ mentierte Flüchtling aus Gebieten des NMO oder Afrikas ihrer steigenden Präsenz gegenüber, in verschärften Kontrollen oder wiedererrichten
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Grenzzäunen. Diese Selektivität und Personengebundenheit der Grenze19 hat im europäischen Kontext in den letzten zwei Jahrzehnten zur Entnatio‐ nalisierung der Grenze und zur Bildung eines dynamischen (anti-stati‐ schen) Aktionsraums geführt, dessen Ermächtigung in der Interessens‐ überschneidung der beteiligten Staaten zu finden ist. „The border zone moves around, appears and disappears again. It travels along with the migrants and the controls that are inflicted upon them.”20
Grenzräume unterscheiden sich deshalb von statischen Grenzen durch ihren dynamischen Charakter, der abhängig von Akteuren und Phänome‐ nen ist. Dieser Aspekt lässt sich auch auf den Ausnahmezustand übertra‐ gen, der als Grenzraum zwischen politischer Effektivität und rule of law bezeichnet werden kann. Erstens, weil der Ausnahmezustand inhaltliche Aussagen über Souveränität, Demokratie und Rechtsstaat ermöglicht, zweitens weil eine wehrhafte Demokratie den Ausnahmezustand als Grenzfall rechtlicher Bestimmbarkeit benötigt, in dem sich politische Ef‐ fektivität offenbart. I) Der Ausnahmezustand offenbart inhaltliche Aussagen über den de‐ mokratischen Rechtsstaat. Auf der einen Seite setzen die verfassungsrecht‐ lichen Spielregeln in demokratischen Rechtsstaaten dem Ausnahmezu‐ stand klare Grenzen. Auf der anderen Seite wird die Geltung von Grund‐ rechten und Staatsstrukturprinzipien materiell erst durch den Extremfall Ausnahmezustand bestimmt. Denn der Ausnahmezustand offenbart als dy‐ namischer Raum, wie demokratisch die Demokratie und wie rechtsstaat‐ lich der Rechtsstaat ist. II) Der Ausnahmezustand soll als Zustand eines effektiven, d.h. effizi‐ enten, direkten und durchsetzungsfähigen, politischen Handelns das Funk‐ tionieren eines politischen Systems im Extremfall sicherstellen. Die Effek‐ tivität des politischen Handelns einer souveränen Exekutive steigt mit rechtlicher Unbestimmtheit, zumal der Ausnahmezustand nicht vollständig rechtlich bestimmbar ist (sonst könnte er als Normalzustand in die Rechts‐ ordnung implementiert werden). Politisches Handeln im Ausnahmezu‐ stand setzt bestimmt Rechtsnormen außer Kraft, wendet sie faktisch nicht an oder nutzt rechtliche Grauzonen im Anwendungsbereich von Normen.
19 Vgl. Schulze Wessel, Julia. 2012: Grenzfiguren. Über Staatenlosigkeit, undoku‐ mentierte Migration und die Permanenz der Grenze. In: ZPTh 3: 2, S. 151-166. 20 Schulze Wessel, Julia. 2016. On border subjects. Rethinking the figure of the refugee and the undocumented migrant. In: Constellations 23, S. 51.
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Der Ausnahmezustand als Grenzraum von Demokratie und Rechtsstaat
Die möglichen Folgen dieses dynamischen Raumes spannen sich zwi‐ schen zwei Polen auf. Effektives Handeln durch rechtliche Freiheiten ver‐ meidet die time lags der politischen Willensbildung, kann aber auch jeder‐ zeit zu Machtmissbrauch führen. So zeigt der bestehende Ausnahmezu‐ stand in Frankreich21 sichtbare Rechtsfolgen für die Grundrechte (Ein‐ schränkung von Bewegungs-, Versammlungsfreiheit; Hausdurchsuchun‐ gen, Überwachung) besitzt jedoch selbst klare Grenzen (Ausweitung des Informationszwangs der Regierung, Rechtliche Kontrolle), die in der kon‐ solidierten Verfassung von 2015 in Relation zum ursprünglichen Gesetz von 1955 noch verschärft wurden (z.B. Abschaffung Medienkontrolle). Der Ausnahmezustand zeigt hier die Wehrhaftigkeit der Demokratie ohne den Geltungsbereich der Grundrechte völlig außer Kraft zu setzen. Es ist ein daher ein schmaler Grat, ob der Ausnahmezustand ein effektives Mit‐ tel einer souveränen Exekutive darstellt und zum Wohle der Gesellschaft das Recht transformiert, wie etwa Helmut Schmidt in der Flutkatastrophe 1962, oder aber als effektives Mittel zur Transformation eines demokrati‐ schen Systems in autoritäre Strukturen missbraucht wird. Von dieser unbe‐ rechenbaren Dynamik lebt der Grenzraum des Ausnahmezustands.
21 Loi 55-385 vom 3.4.1955; Vgl. Mbongo, Patrick (2017): Die französischen Rege‐ lungen zum Ausnahmezustand. In: Matthias Lemke (Hrsg.): Ausnahmezustand. Theoriegeschichte – Anwendungen – Perspektiven, Wiesbaden: Springer, S. 129-166. Zum État d’urgence: Lemke, Matthias. 2013: Am Rande der Republik. Ausnahme‐ zustände und Dekolonisierungskonflikte in der V. Französischen Republik. In: Rü‐ diger Voigt: Ausnahmezustand. Carl Schmitts Lehre von der kommissarischen Dik‐ tatur, Baden-Baden: Nomos, S. 186.
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Freiheit des Verbrauchs? Eine vergessene Grenze ordoliberaler Gesellschaftstheorie Sebastian Liebold
Zusammenfassung Im individuellen wie im gesellschaftlichen Ressourcenkonsum liegt eine Grenze der Freiheit, die von normativen Prämissen, ökonomischer Mach‐ barkeit und dem Zeitkontext abhängt und ihrerseits starken Einfluss auf Gesellschaftstheorien ausübt. Anhand von Namen wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow als ordoliberale Denker wie Walter Eucken und Alfred Müller-Armack als Promotoren der Sozialen Marktwirtschaft zeigt der Autor Grenzbestimmungen auf, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Fehler des „alten“ Liberalismus und den Nationalsozialismus re‐ agierten, aber unterschiedlich mit der Wohlstandsexplosion umgingen. Historische Vordenker wie postmoderne Kritiker kommen zu Wort; so er‐ gibt sich die Figur des Maßhaltens als umkämpftes Kriterium für eine ver‐ nünftige Konsumgrenze. 1. Einführung: Leben am Pool Wer für das Politikfeld Nachhaltigkeit die engere Definition gebraucht, le‐ diglich so viele Ressourcen zu nutzen, dass die nächste Generation keine kleinere Lebensbasis hat, wird darin eine recht strikte Begrenzung indivi‐ duellen Handelns finden. Die Grenze der Freiheit liegt darin, nicht alle aus Gewohnheit und technischer Machbarkeit möglichen Dinge zu tun, da sonst bestimmte Handlungsoptionen in Zukunft völlig wegfallen. Auf in‐ dividueller Ebene lässt sich dies am Beispiel des Wasserverbrauchs darle‐ gen: Wer auf eine Karte Kaliforniens schaut, findet in vielen Siedlungen fast in jedem Garten einen Pool. Wohlgemerkt einen legal erbauten Pool, dessen Füllung durch Begleichen der Wasserrechnung ebenfalls rechtlich nicht zu beanstanden ist. Aber ist es nicht auf moralischer Ebene merk‐ würdig, angesichts der durch den hohen Wasserverbrauch steigenden Aus‐ trocknungsprozesse in den Berggegenden des Hinterlandes zu beobachten, 71
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wie die Natur zerstört wird? Die einfache Rechnung, wie viel Wasser statt‐ dessen in einem öffentlichen Schwimmbad verbraucht würde, kann helfen. In der Geschichte hat das à la longue gravierende Auswirkungen. Wenn in antiken Berichten von den „Zedern des Libanon“ die Rede ist, schauen wir heute auf eine weithin entwaldete Region mit enormen Wasserproblemen – und alles nur, weil die Griechen und Römer den Wald für Schiffe ver‐ braucht haben, ohne aufzuforsten. Wir finden schon zwei Anhaltspunkte zum Gegensteuern: Gemeinschaftssinn und Maßhalten. Auf der Ebene der Gesellschaft ist vielleicht das Beispiel des Elektro‐ fahrzeugs am schlagendsten: Es ist zwar während des Gebrauchs umwelt‐ freundlich, aber die Motoren sind viel aufwendiger herzustellen als Ver‐ brennungsmotoren; für Batterien sind Unmengen an Kobalt nötig, das nicht endlos verfügbar ist und unter unmenschlichen Bedingungen etwa im Kongo abgebaut wird. Noch ein Anhalt zu Kritik: Nicht jede techni‐ sche Innovation ist unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit sinnvoll. Lo‐ gische Folge wäre die Wendung zu einer strukturkonservativen Ökodikta‐ tur, deren Leitung weiß, was die Menschen brauchen. So funktioniert in‐ des keine Gesellschaftsordnung auf Dauer. Menschen erwarten, in Freiheit leben zu können. Grundlegende Ansprüche auf Privatheit, die Möglichkeit zum Probieren neuer Wege und schließlich der Nießbrauch erarbeiteter Güter sind zu Recht kanonische Bestandteile „westlicher“ Gesetzbücher. Leben am Pool ist eine zweischneidige Sache. Einerseits dienen Anrei‐ ze wie dieses angenehme Dasein unter der Sonne dazu, wirtschaftlich tätig zu sein. Zu Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zählt die Verbreiterung des Wohlstands auf breite Schichten – eine „nivellierte Mittelstandsgesell‐ schaft“ (Schelsky) hat mehr Friedenssinn als eine segregierte Klassenge‐ sellschaft, wie sie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen harter Marktprinzipien bestand. Die Freiheit zu Innovationen ist nötig, um stets auftretende neue Lebensanforderungen meistern zu können. Anderer‐ seits führt die Heiligung des Eigentums zu einer Konzentration allen Han‐ delns auf Gewinn. Der Nachbar baut einen größeren Pool, die Nachbarin baut eine Heizung für kühlere Tage ein – steigender Ressourcenverbrauch liegt bisher einem höheren Lebensstandard zwingend zugrunde.1 Wer nicht auf „Degrowth“ und damit Einschränkungen der Bequemlichkeit
1 Viele Ordoliberale führten dies auf die zur „Größe“ neigende städtische Lebenswei‐ se zurück. Ein Lob der ländlichen „Kleinheit aller soziologischen Gruppen“ in frü‐ heren Zeiten findet sich etwa bei Rüstow, Alexander, 1950: Ortsbestimmung der Gegenwart, Band 1: Ursprung der Herrschaft, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 263.
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Freiheit des Verbrauchs?
setzt, muss sich Gedanken machen, wie aus demselben Ressourcenvorrat mehr „herausgeholt“ werden kann: Effizienz, Wirkungsgrad und Zweit‐ verwendung kommen zum Tragen.2 Das wusste bereits Hans Carl von Carlowitz3 (1645–1714), der als sächsischer Oberberghauptmann in seiner 1713 publizierten „Sylvicultura oeconomica“ erstmals von der „nachhaltenden Nutzung“4 sprach und so der bekannteste Entdecker dieses Prinzips wurde, das damals dem im Nie‐ dergang befindlichen Bergbau zu neuer Blüte verhelfen sollte. Der Adlige mit Wissen etwa um Colberts Forstreformen in Frankreich hielt die berg‐ affine Gesellschaft dazu an, neue Bäume zu pflanzen, Öfen statt Kamine zu nutzen, steinerne Häuser zu bauen, freilich auch, Torf zum Heizen ab‐ zubauen (dies würden wir heute als Moorvernichtung ablehnen). Die da‐ malige Lebenserwartung machte es zu einer generationenübergreifenden Aufgabe, die Ernte einer Baumschonung einzufahren. Carlowitz betonte als Zweck seiner Ideen die Ermöglichung auskömmlichen Wirtschaftens in der Zukunft – Gewinnstreben eingeschlossen. Damit gerät die Frage diachroner Überlegungen in Vorhand gegenüber den sich mit gegenwärti‐ gen Verteilungseffekten begnügenden Konzepten. 2. Garten, Kornspeicher und andere Regelungsgründe Bei ordoliberalen Theoretikern wie etwa Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow wie bei den Ideengebern der Sozialen Marktwirtschaft Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, deren Schriften heute hinter dem viel‐ fach aktualisierten Konzept ein Schattendasein führen, finden sich konkre‐ te Überlegungen zu maßvollem Verhalten der Menschen im Wirtschafts‐ system. Damit beschreiben sie die obige Grenze, ohne ausdrücklich den
2 Statt vieler Weizsäcker, Ernst Ulrich von/Hargroves, Karlson/Smith, Michael, 2010: Faktor Fünf – die Formel für nachhaltiges Wachstum, München: Droemer; Politi‐ sche Ökologie 28 (2010), Heft Nr. 121/122 mit Texten zur Frage: Was tun „nach dem Wachstum“? 3 Zum Hintergrund Kogan, Ilja/Liebold, Sebastian, 2014: Sächsische Humanisten als Ideengeber nachhaltiger Ressourcennutzung. Georgius Agricola und Hans Carl von Carlowitz, in: Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg.): Menschen gestalten Nachhaltigkeit. Carlowitz weiterdenken, München: Oekom, S. 133-142. 4 Carlowitz, Hans Carl von, 1713: Sylvicultura oeconomica oder Haußwirthschaftli‐ che Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht, Leipzig: Braun, S. 105.
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Begriff zu verwenden. Ihr Hintergrund war nicht die drohende Abholzung Mitteleuropas, sondern es waren die Auswüchse des alten Liberalismus, der zu Kartellen und Monopolen, zu übergroßem Einfluss auf politische Entscheidungen und wohl indirekt auch zum Nationalsozialismus geführt hatte. Die Krise hypertropher Wirtschaftsführung ist der Ausgangspunkt vieler Texte, von denen ich hier Röpkes aufrüttelnde Schrift „Das Kultur‐ ideal des Liberalismus“ von 19475 an den Anfang stellen will. Darin gei‐ ßelte er die Profitgier großer Kapitalgesellschaften und pries jene ältere Form des Haushaltens, die zuvor eher belächelt wurde: die kleine Form, den Mittelstand, zudem den Wert von Landbau und Handwerk. Im Grunde fußt der Ordoliberalismus auf der Einsicht, die „Moderne“ der Zwischen‐ kriegszeit habe hergebrachte Prinzipien frevelhaft außer Kraft gesetzt, so dass eine Rekonstruktion von Kulturtraditionen (im Sinne einer Wirt‐ schaftskultur) das richtige Mittel sei, die Verwerfungen, manifest am Zu‐ sammenbruch 1945, zu überwinden und zu einer maßvollen Wirtschafts‐ form zurückzukehren. Damit ist im Ordoliberalismus schon ein Funke Nachhaltigkeitsprinzip enthalten, ehe der Begriff in den 1980er Jahren zum Modewort avancierte. Die Freiheit des Verbrauchs als Grenze des Handelns leiten vor allem Röpke und Rüstow aus zwei wesentlichen Gebieten her: aus den Tiefen der Zivilisationsgeschichte (Rüstow befasst sich in der „Ortsbestimmung der Gegenwart“ mit Regelungsprinzipien in antiken Hochkulturen, Röpke mit Fehlern des älteren Liberalismus) und aus den kleinsten gesellschaftli‐ chen Einheiten (Familie, Hof, Kleinbetrieb und Garten). Alexander Rüs‐ tow bescheinigte dem Gärtnern, für ihn eine Verbindung von Bauerntum und städtischen Produktionsformen, vor allem einen positiven Einfluss auf die „Lebenslage“6 jedes Menschen, indem er ein Gespräch zwischen Lud‐ wig von Mises und Wilhelm Röpke wiedergibt. Der Erste meinte zum Schrebergarten: „Unproduktive Art von Gemüseproduktion!“ Der Zweite soll geantwortet haben: „Höchst produktive Art von Glücksproduktion!“7 Was lässt sich daraus für die Freiheit des einzelnen ableiten? Für Rüs‐ tow, darin ist er Pragmatiker wie Kenner menschlicher Bedürfnisse, braucht jede Familie das Gartengrün – eine „Familie im 5. Stock eines
5 Vgl. Röpke, Wilhelm, 1947: Das Kulturideal des Liberalismus, Frankfurt am Main: Schulte-Bulmke. 6 Rüstow, Alexander, 1963: Rede und Antwort, Ludwigsburg: Hoch, S. 275-277. 7 Ebd., S. 286.
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Hinterhauses mit Aussicht auf die Mülltonnen“8 könne kein gutes Leben führen. Dies impliziert zweierlei: Zum einen ist es eine Regelungsgrenze für die Stadtpolitik. Ausreichend Grün in Form von Parks und Gärten zu schaffen, gleicht einem Imperativ für Planer. Zum anderen kann großflä‐ chiges Grün (zumal in Metropolen) die Zersiedelung der Landschaft nach sich ziehen, die heutige Ökologen kritisieren. Im Moment folgen Archi‐ tekten einem Trend, der die funktional klar gegliederte, autogerechte Stadt völlig zugunsten einer neuen Mischung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und kurzer Wege aufgibt. Arbeit im Garten lässt sich auf einer individuellen Ebene bewerten. Meine Tätigkeiten würden in einer repräsentativen Umfrage wohl folgen‐ de Benotung (von „gut“ bis „böse“) erhalten: Obst pflücken und Gras kompostieren mögen alle, nachdenkendes Lesen unter dem Apfelbaum ist ebenfalls eine meist positiv konnotierte Charaktereigenschaft. Die Rosen‐ zucht, die Konrad Adenauer pflegte, wird als elitär und exklusiv wahrge‐ nommen; Bratwurstverzehr meiner Grillfreunde spaltet die Gemüter; Holzmachen sollte nur, wer im selben Jahr einen Baum pflanzt. Unkraut‐ vernichtung mittels Chemie goutiert heute fast niemand mehr. Doch wirk‐ lichen Streit wird die Anlage eines Bassins zum privaten Wassergenuss hervorrufen: Gehört zum pursuit of happiness die Verschwendung von Trinkwasser? Die Frage mag für den an westliche Grundfreiheiten Ge‐ wöhnten trivial klingen. Sie ist es ebenso wenig wie die Entscheidung zu einem neuen Smartphone oder dem erwähnten Elektro-Auto, zu deren Herstellung Rohstoffe aus entfernten Weltgegenden zusammengetragen werden müssen. Wann erreicht der Ressourcenverbrauch ein Maß, das öf‐ fentliche Interventionen rechtfertigt? Kann man eine objektive Grenze des tolerablen Konsums bestimmen? Mit anderen Worten: Bedeutet die Festle‐ gung bestimmter Standards den Ersatz freiheitlicher Politik durch techno‐ logische und „naturgemäße“ Entscheidungen? Wilhelm Röpke hat die Existenz solcher – für ihn – sachlich begründe‐ ten Politiken bejaht; für diese (Mitte des 20. Jahrhunderts modischen) na‐ turrechtlichen Entwürfe hagelte es Kritik. Er schrieb selbst, dass „Freunde einer natürlichen Ordnung“ als „romantisch“ disqualifiziert würden, weil Dezentralisation ein „idyllischer Traum“ wäre.9 Indes habe die neuere Ge‐ schichte gezeigt, wie schädlich die Konzentration von „Macht, Eigentum,
8 Ebd., S. 287. 9 Röpke, Wilhelm, 1950: Maß und Mitte, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 153.
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Menschen, Produktion, Verwaltung und Herrschaft“10 für jede Gesell‐ schaft sind. Die Fehler der „alten“ Ordnung (gemeint sind der Liberalis‐ mus des Kaiserreichs und die Kommandowirtschaft der NS-Zeit) habe fol‐ gende Reformen unabdingbar gemacht: wirksame Entgegnungen auf die „Proletarisierung, Vermassung, Mechanisierung und Devitalisierung unse‐ rer Kultur“. Für nötig hielt er eine „Wirtschaftsfreiheit auf dem feste Grunde des Masseneigentums, des eigenen Heims, der eigenen Werkstatt und des eigenen Gartens“.11 Damit konnte Röpke, der Keynes heftig atta‐ ckierte, die Ausgangsfrage für sein Modell beantworten: Das „Problem der Freiheit“ löse eine „wohleingehegte Marktwirtschaft“ am besten, wenn sie eine „echte Gemeinschaft“ durch die „Standfestigkeit der Einzelexis‐ tenz, die Rückkehr zum Maßvollen, Proportionierten, Naturgemäßen“ zu schaffen vermag.12 Kritik an diesen, heute eigenartig steif klingenden Sätzen scheint be‐ rechtigt. Bei aller Vehemenz, mit der Röpke die Freiheit des einzelnen ver‐ teidigt, sind doch seine kulturellen Grundannahmen in vordemokratischen Systemen beheimatet. Zwar kann ihm angerechnet werden, der histori‐ schen Verantwortung angesichts der NS-Verbrechen mit Tiefe gerecht ge‐ worden zu sein (und die Bundesrepublik hat sich wirklich demokratisch stabilisiert), die Antworten der Ordnungspolitik auf neuere Entwicklungen wie Pluralisierung, Technisierung und Globalisierung lieferte er nicht. Rüstow ging – mehr Soziologe – in „Versagen des Wirtschaftsliberalis‐ mus“ stärker auf „moderne“ Gesellschaftsfragen ein, ignorierte die „gro‐ ße“ Form nicht (Urbanisierung, Großbetriebe, technischer Wandel) und kritisierte folgende Fehler des „alten“ Liberalismus: „Passivismus, Glück‐ seligkeitsdusel, Unbedingtheitsaberglaube, Soziologieblindheit“.13 Er mahnte, unveränderliche institutionelle „Randbedingungen“ nicht zu ver‐ nachlässigen. Jeder Staat müsse die „Selbstsucht“ als „eigentliche Trieb‐ kraft allen menschlichen Handelns“ (zwar gebändigt durch eine ratio na‐ turalis) einkalkulieren. Jede Rechtspflege müsse zuvörderst der Monopol‐ bildung entgegentreten, die das Gewinnstreben auf die Spitze treibe und die Ordnung in Schieflage bringe.
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Ebd., S. 152. Ebd., S. 154. Ebd., S. 154. Rüstow, Alexander, 2001: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, 3. Aufl., Marburg: Metropolis, S. 82-112.
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Auch bei Rüstow findet sich antimodernes Denken – so tritt er gegen die „pluralistische Entartung des Staates“ ein, das für ihn den korporativen Zusammenhalt unterminiere: „Ein krasses Symptom der pluralistischen Staatserweichung [...] war die Gewährung des Aussperrungsrechts an die Arbeitgeber und des Streikrechts an die Arbeiter, d.h. die staatliche Kon‐ zessionierung von öffentlichen Arbeitskämpfen [...], ein Rückfall in das mittelalterliche Fehderecht.“14 Indes äußert sich seine interkulturelle Auf‐ geschlossenheit, wenn er islamische Texte auf die Frage hin untersuchte, wie Preise entstehen: Bei Al-Idji (gestorben 1355) fand er eine alte Debat‐ te darüber, ob die Preisfestsetzung eine direkte oder mittelbare Handlung Gottes sei, mithin der Mensch daran teilhaben könne. Die Laisser-FaireVariante sah er als die „heute noch gültige nationalökonomische Lehre von der Bildung des Marktpreises aus Angebot und Nachfrage“ an, wo‐ nach die Marktwirtschaft im rationalistischen Flügel des Islam als im „Er‐ gebnis heilsam“ betrachtet werde. Der „Herr des Handels“ (der Teufel) symbolisiere die nötige List, ohne die König Salomo keine Flechtkörbe verkaufen konnte.15 Was bedeutet das für heutige Verbrauchsmuster? Das Konsumdenken hat in einem Maße zugenommen, das jeden Effizienzgewinn und die meis‐ ten Umweltpolitiken wettmacht – den kulturellen Schaden bedenkenloser Nutzung von Ressourcen nicht eingerechnet. Bei aller früherer Kritik an den genannten Gesellschaftstheorien ist die Regel, den nachfolgenden Ge‐ nerationen dieselbe Wirtschaftsbasis zu gönnen wie der unseren, ohne Ordnungspolitik kaum einzuhalten, anders ausgedrückt: Unter reinen Marktbedingungen, in denen „externe Kosten“ oft der Gemeinschaft über‐ lassen werden, hat die nachfolgende Generation Pech. Dies war zu allen Zeiten mit schwacher politischer Führung so – wohl gemerkt nicht im Sin‐ ne von autoritärer Führung, die manchen Gruppen (einer Klasse oder einer Rasse) privilegierten Zugang zu Gütern zubilligte, sondern einer prinzipi‐ entreuen16 und daher am ehesten gerechten Führung: Wenn im alten Ägypten das, was ich „Kornspeicherprinzip“ nenne, nicht eingehalten wurde, konnte in einem Dürrejahr schnell Hunger ausbrechen. Eine „straf‐ fe“ Regierung war am Nil so nötig wie in jeder mittelalterlichen Stadt, weil klar geregelt sein musste, wie viel Korn abzuliefern war und welche
14 Ebd., S. 133-134. 15 Vgl. ebd., S. 156. 16 In gewisser Weise kann der moderne Rechtsstaat als „streng“ gelten, da seine Prin‐ zipien für alle gelten und ohne Ansehen der Person durchgesetzt werden.
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Mengen an Bedürftige ausgegeben werden konnten, weil die Existenz der Gemeinschaft (nicht nur in Notzeiten) davon abhing. Der Entscheidungsprozess über die Kornverteilung markiert einen der Ursprünge von Demokratie: Nicht ein königlicher Stadtvogt dekretierte, sondern die – besitzenden – Bürger versammelten sich, um Streit auf dem Verhandlungsweg auszutragen und Kompromisse zu finden. Gerechtes Handeln basierte auf gegenseitiger Kontrolle: Aus Verteilungskämpfen entstanden Räte, deren Ansehen davon abhing, ob sie in den Augen der Öffentlichkeit eine „gute Ordnung“ etablierten und wahrten. Wichtig war stets persönliche Verantwortung – das Gegenbild, die „großen“ Demokra‐ tien der Gegenwart in ihrer Anonymität, erscheint dagegen demokratie‐ theoretisch als defizitär: Da die Bürger sich als Nachbarn kannten (und aufgrund ihrer Habe überwiegend an den Ort gebunden waren), folgten auf exzessiven Verbrauch materielle wie moralische Sanktionen. Inzwi‐ schen gehört dieser Mechanismus zum Paradox liberaler Gesellschaften: Jeder darf nach seiner Façon leben – aber wie soll er mit Ressourcen um‐ gehen? Wer die Frage des Ressourcenverbrauchs in die Geschichte zurückver‐ folgt, findet im Humanismus der Renaissance wesentliche Überlegungen. Die zählebige Vorstellung von der Unendlichkeit natürlicher Ressourcen ging mit der noch nicht bis in jeden Winkel entdeckten Erde einher. Bei Georgius Agricola (1494–1555), der immerhin Umweltschäden durch den Bergbau (damals die umweltschädlichste Branche, gefolgt von den Ger‐ bern) anspricht, war die Vorstellung so: Wahrnehmbare Umweltschäden könnten durch Ausweichen auf andere Gebiete oder durch Zeitablauf um‐ gangen werden. Agricola17 versah das Bergwesen nicht nur mit anwendungsnahen Illus‐ trationen, er beschrieb auch die – oft mühseligen – Bedingungen des Berg‐ baus und die Folgen für die Umwelt, für den Menschen und die Land‐ schaft. Er sprach den hohen Holzverbrauch nicht nur in den Erzminen, sondern auch bei der Weiterverarbeitung an, betonte dabei zudem den Rückgang der Waldbestände in den angrenzenden Regionen und die Not‐ wendigkeit, Holz aus entfernteren Gegenden herbei zu schaffen. Er ging auf Befürchtungen der Bergbaugegner ein: „Durch das Schürfen nach Erz werden die Felder verwüstet; deshalb ist einst in Italien durch ein Gesetz
17 Vgl. Naumann, Friedrich, 2007: Georgius Agricola – Berggelehrter, Naturforscher, Humanist, Erfurt: Sutton.
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dafür gesorgt worden, dass niemand um der Erze willen die Erde aufgrabe und jene überaus fruchtbaren Gefilde und die Wein- und Obstbaumpflan‐ zungen verderbe. Wälder und Haine werden umgehauen; denn man bedarf zahlloser Hölzer für die Gebäude und das Gezeug sowie, um die Erze zu schmelzen. Durch das Niederlegen der Wälder und Haine aber werden die Vögel und andern Tiere ausgerottet, von denen sehr viele den Menschen als feine und angenehme Speise dienen. Die Erze werden gewaschen; durch dieses Waschen aber werden, weil es die Bäche und Flüsse vergiftet, die Fische entweder aus ihnen vertrieben oder getötet.“18 Wer sich vor Au‐ gen hält, dass im 16. Jahrhundert viele Bergbaugebiete weltweit ihrer „Entdeckung“ harrten, kann ermessen, dass die für Sachsen beschriebenen Probleme wohl insofern nicht als grundlegend erschienen, da der Mensch an vielen anderen Stellen des Globus neu „anfangen“ und die bereits er‐ schöpften Minen und abgeholzten Regionen hinter sich lassen konnte. Das Zeitalter der Entdeckungen (man denke an die Goldvorkommen in Latein‐ amerika) setzte den Schwerpunkt in der Erkundung und – oft mit Waffen‐ gewalt – in der Besitzergreifung. Als Angelpunkt für die Geschichte des nachhaltigen Denkens erscheint dem Forscher die Differenzierung des Handwerks im 17. Jahrhundert – viel Holz war nötig für das „Rösten / Brennen / Schmeltzen und [die] Gut‐ machung der Metallen / welches der grundgütige Gott diesen Landen auch nicht versaget“. Daher legte Hans Carl von Carlowitz, in geistiger Ver‐ wandtschaft zu Agricola, besonderen Wert auf die ausgeglichene Fortwirt‐ schaft, auch wenn die Grenze des Verbrauchs (so viel, wie nachwächst) zunächst eine empfindliche Einschränkung – „Suffizienz“ – bedeutete. Dies war in der Barockzeit, bei langsamen Wachstumsraten, noch mög‐ lich. Das 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung alte Produktionsweisen über den Haufen warf und die Herstellung ungeahnter Mengen zu erlau‐ ben begann, schuf die Basis für die moderne Konsumgesellschaft. 3. Krisenreaktion: Antworten der Sozialen Marktwirtschaft In der Zeit rasanter Wirtschaftsentwicklung, die heute wegen der wackli‐ gen Demokratie jener Tage kaum mehr als solche wahrgenommen wird,
18 Agricola, Georg, 1928: Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen (1556), Mün‐ chen: Deutsches Museum – VDI, S. 6.
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schien sich das mit Aufklärung, Nationsbildung und Aufbau rechtsstaatli‐ cher Strukturen gerahmte Projekt des Liberalismus endlich zum Wohle breiterer Schichten auszuwirken. In der Weimarer Republik verzeichneten neue Branchen wie die Chemie- und Elektroindustrie hohe Zuwächse, ihre Exporte stiegen mit besonderer Geschwindigkeit. Zugleich baute die – im Kaiserreich vorsichtig begonnene – Sozialgesetzgebung die Mitbestim‐ mungs- und Absicherungsrechte der Arbeiter aus.19 Nur schwer schien 1928 vorstellbar, dass 1918 erkämpfte Freiheitsrechte bald zugunsten einer Kommandowirtschaft aufgegeben werden sollten. Die Weltwirt‐ schaftskrise von 1929 zeitigte enorme Verwerfungen, deren konsumtive Folgen noch während des Nationalsozialismus zur Absenkung des Le‐ bensstandards führten. Im Hitlerstaat, wo verhasste (jüdische) Konzerne keine Macht mehr haben sollten, machte – bei einer deutlich wachsenden, teils sozialistisch organisierten Staatstätigkeit – mancher (arisierte) Kon‐ zern exorbitante Gewinne, wofür die Kanonen von Krupp paradigmatisch stehen. Der private Verbrauch wurde durch politische Zurückhaltungsap‐ pelle, teils durch tatsächliche Knappheit verstärkt, begrenzt. Während des Zweiten Weltkriegs staute der weitere Konsumrückgang eine Inflation auf, die bis zur 1948 bei „Nacht und Nebel“ umgesetzten Währungsreform vor allem dem Schwarzmarkt höchste Gewinne einbrachte. Viele dem Liberalismus verpflichtete Theoretiker gingen während der Zeit des Nationalsozialismus mit der Realität der totalitär verführten Kar‐ tellbildung hart ins Gericht: Vor allem Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow hatten – in ihrem christlichen Verständnis dem Freiburger Kreis20 ähnlich – Defizite21 begründet, die politische Undurchführbarkeit anderer Ordnungssysteme (vor allem des Sozialismus) mit naturrechtlichen und
19 Wie dies in mehreren westlichen Ländern im Vergleich zu Deutschland nachhalti‐ ger glückte, zeigt Müller, Tim B., 2014: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversu‐ che moderner Demokratien, Hamburg: Hamburger Edition. 20 Vgl. Maier, Hans (Hrsg.) 2014: Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und soziale Marktwirtschaft, Paderborn: Schöningh. 21 Etwa Rüstow, Alexander, 2009: Die Defizite des Liberalismus, in: Ders.: Die Reli‐ gion der Marktwirtschaft, 3. Aufl., Münster: Lit, S. 17-42. Nicht verschwiegen werden soll, dass bereits in der Weimarer Zeit einige Wissenschaftler die allgemei‐ ne Krise auch als Kulturkrise auffassten, etwa Weber, Alfred, 1925: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart: DVA; ferner Eucken, Walter, 1926: Die geistige Krise und der Kapitalismus, in: Die Tatwelt, 2. Jg., Heft 1/3, S. 13-16 (unter Pseudonym Kurt Heinrich).
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anthropologischen Prinzipien22 erklärt und dem Aufbau einer freiheitli‐ chen, zugleich sozial abgefederten Wirtschaftsordnung den Weg bereitet. Nun muss aber eine Theorie, will sie das Licht der Welt erblicken, poli‐ tisch umsetzbar sein. Der Schritt von ordoliberalen Annahmen zur Sozia‐ len Marktwirtschaft machte – in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ nach der Freigabe der Preise 1948 – deutliche Änderungen der Ideen nötig. Ludwig Erhard sagte über den Gegensatz von Freiheit und Kollektiv zwar später: „Wer den vordringenden kollektivistischen Lebensformen Wider‐ stand entgegensetzen will, muss dem Eindringen des Staates in immer weitere private Lebensbereiche Widerstand entgegensetzen und nicht zu‐ letzt aus diesem Grunde eine dirigistische Politik ablehnen.“23 Doch als Wirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik sorgte er für ausgleichende Maßnahmen (Wohnungsbewirtschaftung, öffentlicher Betrieb der Daseins‐ vorsorge wie Wasser, Strom, Eisenbahn und Telefon). Auch wenn das Kartellgesetz keine maßgeblichen Betriebsteilungen erreichte, glich die Ordnung der Zeit eher den Ideen von „Maß und Mitte“ (Röpke) oder vom „freien Markt im starken Staat“ (Rüstow).24 Die entscheidende Antwort auf die Frage, wie weit der Verbrauch – an‐ gesichts stark wachsenden Wohlstands – gehen sollte, lieferten die Denker der Sozialen Marktwirtschaft mit ihrer optimistischen Grundhaltung: Mehr Menschen werden stärker am Wohlstand teilhaben als jemals zuvor – wenn nicht sofort, dann doch in absehbarer Zukunft! Die Möglichkeit zum Aufstieg war ein zentrales Integrationsmoment der frühen Wirtschaftspoli‐ tik. Walter Eucken nannte diese Ordnung die „wirkliche Wirtschaft“25, weil sie die „Überwindung der großen Antinomie“ (die Gegenläufigkeit
22 Gegen jeden Kollektivismus etwa Röpke, Wilhelm, 1946: Civitas humana. Grund‐ fragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 47-69; bereits 1941 Goerdeler, Carl, 1988: Das Ziel: Beseitigung der Kollektiv‐ wirtschaft, in: Karl Hohmann u.a. (Hrsg.): Grundtexte zur sozialen Marktwirt‐ schaft, Bd. 2, Stuttgart: G. Fischer, S. 13-14. 23 Erhard, Ludwig, 1973: Demokratie heißt Freiheit, Recht und Ordnung, in: Ders./ Kurt Brüß/Bernhard Hagemeyer (Hrsg.): Grenzen der Demokratie? Probleme und Konsequenzen der Demokratisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf: Econ, S. 15-40, hier S. 31. 24 Rüstow, Alexander, 1963: Die staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschafts‐ politischen Liberalismus, in: ders.: Rede und Antwort, Ludwigsburg: Hoch, S. 249-258. 25 Eucken, Walter, 1989: Die Grundlagen der Nationalökonomie (1939), 9. Aufl., Berlin: Springer, S. 162.
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verschiedener Systeme26) erlaube, die zuvor Friktionen hervorgerufen hat. Da etwa auf dem Arbeitsmarkt stets „Gleichgewichtslosigkeit“ herrsche (ständig fänden „Streiks oder Aussperrungen“ statt), weil er in Teilmono‐ polen geordnet ist, jede menschliche Ordnung aber nach „Maß und Gleichgewicht“ strebe, sollten die Löhne den Aufschwung spiegeln.27 In einer menschenwürdigen Ordnung „soll die Knappheit an Gütern, die sich Tag für Tag in den meisten Haushaltungen drückend geltend macht, so weitgehend wie möglich und andauernd überwunden werden“.28 Dazu sei eine Wirtschaftsverfassung nötig – Eucken bestand darauf, dies als „kon‐ krete Ordnungsaufgabe“ zu sehen, also unter Berücksichtigung verbreite‐ ter ökonomischer Verhaltensweisen. Alfred Müller-Armack, der 1933 noch daran glaubte, korporatistische Ideen in die NS-Ordnung einbringen zu können, sekundierte Eucken 1946 im Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ mit Aussagen, wo‐ nach der geschichtliche Wechsel der Ordnungen Marktverwerfungen evo‐ ziert hätte. Durch „Lenkung“ könnten die Interessen von Unternehmern und Arbeitern (und von beiden als Konsumenten) zum Ausgleich gebracht werden.29 Anders als Röpke und Rüstow sah Müller-Armack (darin eher Praktiker) Maßnahmen der Wettbewerbs- und der Preispolitik vor, um die Marktwirtschaft zu ordnen. Dazu gehörte auch eine Sozial- und Konjunk‐ turpolitik, mit der Nachfrage angekurbelt und Angebot auf Gebieten ge‐ schaffen werden sollte, wo der Markt es nicht von selbst tat – etwa im Wohnungsbau.30 In den „Vorschlägen zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft“ erteilte Erhards Adlatus zwar der Planwirtschaft eine ka‐ tegorische Absage („zu ganz anderen als den gewollten Ergebnissen ge‐ führt“), gestand aber ein: „Über das anzustrebende Ziel, nämlich eine aus‐ reichende Güterversorgung, soziale Sicherheit und die Wahrung der Men‐ schenwürde, besteht unter Planwirtschaftlern und Marktwirtschaftlern
26 Er nannte als Beispiel den schlesischen Weberaufstand. Die dortigen Probleme führte er auf parallel existierende Formen von zentralgeleiteter Wirtschaft und Ver‐ kehrswirtschaft (Nachfragemonopole) zurück (S. 178-179). 27 Ebd., S. 238-239. 28 Ebd., S. 240. 29 Müller-Armack, Alfred, 1933: Staatsidee und Wirtschaftsordnung im Neuen Reich, Berlin: Junker & Dünnhaupt; ders., 1990: Wirtschaftslenkung und Markt‐ wirtschaft (1946), München: Kastell. 30 Für die Gegenwart ergibt sich daraus ein systemimmanenter Handlungsimperativ, der beim Städtebau die kleine Form und das mittlere Maß gegen die Teuerung durchsetzt.
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weitgehende Übereinstimmung.“31 Anders klangen seine Steuerpläne von 1948: „Herabsetzung der steuerlichen Belastung auf ein Maß, das das wirtschaftliche Eigeninteresse an Mehrproduktion fördert, die Steuermoral wiederherstellt und den Sparwillen sowie die Kapitalbildung in den Be‐ trieben anregt.“32 Diese Maßnahmen waren geeignet (und bewiesen es in kurzer Zeit), die Produktion anzuregen – damit stiegen, nach Kriegsverlus‐ ten und Mangel, sowohl die Unternehmensgewinne als auch die Konsum‐ möglichkeiten der Allgemeinheit.33 Welche Maßnahmen gingen über die ordoliberalen Ideen von Dezentra‐ lisierung und Wirtschaftsfreiheit hinaus? Zunächst können als gemeinsa‐ me Vorhaben die Schaffung von sozialen Betriebsordnungen, eine öffentli‐ che Wettbewerbsordnung, eine „Anti-Monopol-Politik“ und die Freigabe der Preise genannt werden. Hingegen zählen die „konjunkturpolitische Be‐ schäftigungspolitik“ mit dem Ziel größerer Sicherheit vor „Krisenrück‐ schlägen“ u.a. durch staatliche Investitionen und ein „marktwirtschaftli‐ cher Einkommensausgleich zur Beseitigung ungesunder Einkommensund Besitzverschiedenheiten, und zwar durch Besteuerung und durch Fa‐ milienzuschüsse, Kinder- und Mietbeihilfen an sozial Bedürftige“34 zu den politischen Realien, die eher der Krisenreaktion geschuldet waren als der Überlegung, worin die Vorzüge einer subsidiär geordneten, selbstverant‐ wortlichen Wirtschaftsordnung bestehen könnten. Von mäßigem Ver‐ brauch in Zeiten des Wirtschaftswunders also programmatisch keine Spur!35 Ordoliberale wie Röpke und Rüstow traten nicht für steigende Produk‐ tion und höheren Konsum ein, sondern für eine freiheitliche Ausrichtung an menschlichen Bedürfnissen (die langfristig durchaus schwanken). Ihr Modell orientierte sich weniger an Mehrheitserfordernissen der Nach‐ kriegszeit. Der realiter eingeschlagene Weg führte indes zu wirtschaftli‐ cher Stärke, die heute teils als vorbildhaft, teils als bedrohlich erscheint.
31 Müller-Armack, Alfred, 1974: Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Markt‐ wirtschaft, in: Ders.: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern: Haupt, S. 90-107, hier S. 91. 32 Ebd., S. 97. 33 Begünstigend wirkten sich die Revision des Industrieplans und der Marshall-Plan aus. 34 Ebd., S. 97. 35 Dennoch stieg die – an der Staatsquote ablesbare – Umverteilung erst nach 1970 vergleichsweise stark an, so dass ex post doch vom Maßhalten gesprochen werden kann.
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Dieser – insbesondere von Erhard und Müller-Armack ausgestaltete – „Konsenskapitalismus“ (mit „moderater staatsinterventionistischer Steue‐ rungskompetenz, rationaler Gesellschaftsplanung und verstärkter Kon‐ junkturpolitik“) hat das „individuelle Konsumglück“36 in den Vordergrund gerückt. Eher an Röpke und Rüstow erinnert die perzipierte „human-zivile Ästhetik“ eines Rückzugs ins Häuslich-Familiäre.37 Die zweite – und auf‐ grund der mannigfaltigen Modernisierungs- und Teilhabetendenzen fragli‐ che – Diagnose zur frühen Bundesrepublik weist nochmals auf die anti‐ konsumtive Einstellung der zu Beginn vorgestellten Autoren hin, denen die Gesellschaft keineswegs gefolgt ist. Ob der deutsche Weg europäische Nachahmer gefunden hat?38 Hier lie‐ gen, so meine ich, zwei Fehlschlüsse vor: Zum einen hat der freiheitliche Ordo-Gedanke in der frühen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeu‐ ropa kaum Anklang gefunden (England und Frankreich waren seinerzeit viel stärker auf Interventionen aus), weil kriselnde Ökonomien mittels po‐ litischer Programme in Schwung gebracht werden sollten. Ohne diesen Sachverhalt hätte die Mont-Pelerin-Society kaum entsprechenden Zulauf erfahren. Zum anderen wird der in Deutschland entwickelte Typ des Libe‐ ralismus für neuere Pathologien andernorts zur Verantwortung gezogen, wo er weder propagiert noch „klammheimlich“ umgesetzt wurde. Ist diese „mittlere“ Form des Liberalismus eine „kulturelle“ Wurzel des heutigen Neoliberalismus? Bernhard Löffler konzediert die „Außenliberalisierung“ als „Teil einer kulturell-politischen Mission“, in deren Folge Deutschland ein „tolerantes Auskommen“ mit den westlichen Staaten erreichte und vie‐ le amerikanische Gesellschaftseinflüsse aufnahm39; dafür steht der melan‐ cholische Aufruf „Trink Coca-Cola“ in einem Gedicht von Hilde Domin. Das „regenerierte“ Liberalismuskonzept habe die Idee der „subsidiären Bürgergesellschaft mit eigenverantwortlichen ‚mittleren Existenzen‘, einer Zivilgesellschaft mit starken intermediären Gewalten moderater Größe, ei‐ nes Rechtsstaates mit dezentralisierten [...] Struktureinheiten sowie einer
36 Löffler, Bernhard, 2011: Ein deutscher Weg in den Westen. Soziale Marktwirt‐ schaft und europäischer Neoliberalismus, in: Friedrich Kießling/Bernhard Rieger (Hrsg.): Mit dem Wandel leben. Neuorientierung und Tradition in der Bundesrepu‐ blik der 1950er und 60er Jahre, Köln u.a.: Böhlau, S. 29-61, hier S. 38. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 61. 39 Ebd., S. 40.
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prozessual verlaufenden, nicht planbaren Ökonomie“ umgesetzt.40 Beson‐ ders Röpke und Rüstow wird „antipluralistische Parteien- und Demokra‐ tieskepsis“ sowie das Aufbauschen des „Antagonismus von lebendiger und ‚organisch‘ gewachsener (Volks-)‚Gemeinschaft‘ versus unnatürlich artifizieller Gesellschaft“ vorgeworfen.41 Weiterhin als modern geltende Prinzipien (subsidiäre Vorteile, Kartellverbote) kommen in solchen Bilan‐ zen nicht vor. Witzigerweise machen Ordnungsdenker heute bei den Ordoliberalen eine Hypothek aus, die an anderer Stelle eher als Vorzug erscheint: Die „Bindungen an Normen und Sitten“ hätten für Denker wie Röpke nicht „auf konstruktivistischen Planungsideen, einer physikalischen Deutung der Welt und einem technizistischen Organisationskultur“ basieren dürfen (weil das nach Totalitarismus roch). Vielmehr sei der Neoliberalismus ge‐ prägt „durch, wie das Hayek formulierte, ‚spontan‘ gebildete, klein struk‐ turierte Einheiten (wie Familie, Nachbarschaft, Kommune und lokale Selbstverwaltungsorgane, Genossenschaften, Vereine, mittelständische Unternehmen etc.), sie sich flexibel und evolutiv, pragmatisch und proze‐ dural zu entfalten hätten [...].“42 Das klingt eher nach Soziologie gegen‐ wärtiger Gruppen, die sich der Nachhaltigkeit verschrieben haben, oder ist Spontaneität und genossenschaftlich-evolutiver Geist dort nicht zu finden, wo der Verbrauch reduziert werden soll? 4. Wachstumskritik und das „gute Leben“ Als ökonomischen Kontext der Gegenwart muss man sich klarmachen: Nach Zeiten hohen Wachstums (dem „Wirtschaftswunder“ und teils noch‐ maligem Wachstum in den 1990er Jahren) sieht sich die westliche Welt mit einer Periode geringeren Wachstums konfrontiert. Ist Wachstumskritik daher wohlfeil? Zudem gilt das Paradox der „doppelten Moderne“: Westli‐ che Gesellschaften haben einen Stand erreicht, der Umweltschonung ohne große Einbußen in der Lebensweise möglich macht. In den meisten Län‐ dern des „globalen Südens“ ist dies so nicht möglich. 1987 verwendete der „Brundtland-Bericht“ der Vereinten Nationen erstmals den Begriff „Nach‐ haltige Entwicklung“, um den wabernden Konzepten zur Begrenzung un‐ 40 Ebd., S. 48-49. 41 Ebd., S. 51. 42 Ebd., S. 53.
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begrenzten Wachstums Form zu verleihen. In der angelsächsischen Litera‐ tur äußerte Herman E. Daly früh Kritik an – oft mit calvinistischer oder puritanischer Ethik begründeten – Wachstumsideologien.43 Nun kommt die politische Kultur ins Spiel: Nur in Staaten, deren Einwohner gern Müll trennen, verbrauchsarme Autos fahren und lieber ins öffentliche Freibad gehen, als sich einen Pool ins Grundstück zu bauen, entfaltet das theore‐ tisch gefasste und demokratisch verabschiedete Konzept eine Wirkung.44 Viele Schwellenländer sehen die Idee der „nachhaltigen Entwicklung“ eher als Movens an, ihre – bislang verpasste – Industrialisierung voranzu‐ treiben (nachhaltiges Wirtschaftswachstum verstehen sie dabei fälschli‐ cherweise als Wert). Deshalb geht der Blick wieder nach Deutschland, die‐ sem von der Sozialen Marktwirtschaft „gebeutelten“ Gebiet. Kann es als Impulsgeber der Nachhaltigkeit gelten? Bürger und Wirtschaft sind über‐ wiegend dafür sensibilisiert (man denke an die Corporate Sustainability Reports), die Grünen sind als Partei ein Garant für das Ressourcengewis‐ sen bei Aushandlungsprozessen in der Politik, und alle anderen nutzen we‐ nigstens Papiertüten bei Einkäufen. Apropos Einkäufe: Harald Welzer45 kritisiert zu Recht, dass nachhaltig produzierte Möbel, jährlich durch neue ersetzt, keinerlei Beitrag zur Res‐ sourcenschonung leisten, auch wenn der schwedische Einrichtungskatalog aus Altpapier besteht. In einer freien Gesellschaft muss sich jeder an die eigene Nase fassen; offensichtlich gibt es eine Art nachhaltiges Gewissen, auf das ein jeder hören kann – oder nicht. Um die Nachkriegspolitik auf‐ zugreifen: Gewinne steigen mit den Verkäufen, Enthaltsamkeit würde eine andere Lebensart bedeuten. Immerhin kommt so die Frage nach Bedin‐ gungen des „guten Lebens“ wieder zum Vorschein. Es ist wohl ein Zug der Zeit, dass selbst dezidiert sozialistische Kreise die Frage nach dem „guten Leben“ aus der Mottenkiste geholt haben. Ser‐ ge Latouche sieht im „guten Leben“ eine linke Alternative zum „liberalis‐ tischen“ Weltverständnis.46 Wunderlich ist in diesem Beitrag vieles: Der 43 Daly, Herman E., 1996: Beyond Growth. The Economics of Sustainable Develop‐ ment, Boston: Beacon Press (deutsch 1999 als „Wirtschaft jenseits von Wachs‐ tum“). 44 Solche Staaten schaffen diesen Mentalitätswandel überwiegend mit preislich fass‐ baren Anreizen. 45 Vgl. Welzer, Harald, 2013: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frank‐ furt am Main: S. Fischer. 46 Latouche, Serge, 2015: Vom Glück zum BIP – und die Alternative des guten Le‐ bens, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 60. Jg., Heft 12, S. 83-97.
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Ökonom fordert die Menschen auf, nicht nur in materiellen Dingen ihr Glück zu suchen. Hat nicht eine sozialistische Weltsicht gerade jeder Ro‐ mantik entsagen wollen, indem sie das Glück für den „einfachen Mann“ vom Jenseits ins Diesseits, vom Utopischen in die Gegenständlichkeit ge‐ holt hat? So kann eine Kritik folglich nicht den Spieß umdrehen und Lin‐ ken wie Kapitalisten eine Gemeinsamkeit, eine übersteigerte Materialis‐ musorientierung, vorwerfen – vielmehr wird sie eine Suche nach Über‐ windung marxistischer Ideen konzedieren.47 Als Gegenmittel schlägt La‐ touche eine „ethische Wende“ vor, was einer theoretischen Untermauerung bedürfte. Indes schließt er mit Allgemeinplätzen wie: Wachstum und Wohlstand sollten nicht als sine qua non betrachtet werden. Etwas an Ha‐ vanna erinnert der Verweis auf die Idee der Lebensfreude bzw. „Konvivia‐ lität“ als Form der Mäßigung, oder in den Worten der Glücksökonomie: „Ich finde lieber einen neuen Freund als ein neues Auto.“48 Eine ernsthafte Hoffnung setzt Latouche zu Recht in die Einsicht des globalen Südens, ein „gutes Leben“ auch dann führen zu können, wenn dessen Gesellschaften wirtschaftlich nicht wachsen. Es zeugt von kulturel‐ ler Sensibilität, wenn Latouche in Erzählungen Afrikas und Südamerikas nach eigenen Konzepten von Maßhalten und schonendem Verbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen sucht. Die Europäer, allen voran die Deut‐ schen, sollten nicht ein Konzept der Nachhaltigkeit zur nächsten imperia‐ len Strategie aufbauschen. Wurzeln für nachhaltiges Denken in den Kultu‐ ren der Welt zu suchen, ist ein gutes Anliegen, nicht zuletzt, weil verglei‐ chende Schlüsse über die Kernfrage dieses Beitrags möglich würden: Wie groß ist in der jeweiligen Tradition der Rückhalt für eine Definition von Freiheit, die Verantwortung für die Mitwelt in Gegenwart und Zukunft beim Verbrauch von Ressourcen einschließt? In der Frage der Nachhaltigkeit lebt oft ein klassenkämpferischer Ton auf. Zur These der Überlagerung von Interessen wird, wer die großen Bruchlinien race, class, gender im Kopf hat, sagen: Rollen ergänzen sich im Leben eines Menschen, sie bestimmen (auf lange Sicht) viele Situatio‐ nen. Kein Mangel herrscht unterdessen an Studien zum ökonomischen Be‐ griff der Nachhaltigkeit im Sinne von zeitlich gerechter Ressourcennut‐
47 Zum Widerspruch zwischen sozialer Entwicklung und Ressourcenverbrauch bei Karl Marx siehe Saito, Kohei, 2016: Natur gegen Kapital. Marx‘ Ökologie in sei‐ ner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt am Main: Campus. 48 Zitat nach Serge Latouche (FN 46), S. 92.
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zung und Güterverteilung.49 Auch die Steuer- und Sozialsysteme geraten neu in den Blick, ohne sich der Ähnlichkeit mit Vorschlägen der Nach‐ kriegszeit bewusst zu sein.50 Damit könnte ein Vergleich zwischen ordoli‐ beralen Ideen und heutigen Gesellschaftstheorien unterfüttert und auf praktische Anwendungsbeispiele hin untersucht werden: Wo reichen An‐ reize, wo sind Verbote sinnvoll? Kann der Parlamentarische Beirat des Bundestages wirklich alle Gesetze daraufhin prüfen, ob durch sie die Erde vor Zerstörung bewahrt bleibt? 5. Ausblick Was bedeutet es, die Grenze des maßvollen Wirtschaftens ernst zu neh‐ men? Sollte die Antwort Auswirkungen auf das politische System haben und Einfluss auf die internationalen Beziehungen nehmen? Interessanter‐ weise scheint Kritik am Ordoliberalismus zugleich die Aktionsgruppen der Gegenwart zu treffen, die gegen Planung, „große“ Form und zentrale Hebel auftreten. Umgekehrt scheint der Hinweis auf das „gute Leben“, die „gute Ordnung“51 und die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, wenn man diesem Konzept folgt, auch bei den ordoliberalen Denkern wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow eher auf eine bleibende Aktualität hinzu‐ deuten. Die Rückkehr des Ordoliberalismus52 ist nicht nur eine Folge der skiz‐ zierten (fehlenden) Grenzwahrnehmung, soviel steht fest. Die Grenze der Freiheit eher als geistiges denn als materielles Problem zu sehen, eint heu‐ tige Nachhaltigkeitstheoretiker und die Köpfe aus der Gründungszeit der Bundesrepublik. Eine Rückkehr des Konzepts, bei dem häufig nicht mehr der Unterschied zwischen der Theorie und der späteren Praxis der Sozia‐
49 Etwa Scholz, Christian/Zentes, Joachim (Hrsg.) 2014: Beyond sustainability, Ba‐ den-Baden: Nomos. 50 Vgl. Hauff, Michael von/Tarkan, Bülent (Hrsg.) 2008: Nachhaltige kommunale Fi‐ nanzpolitik für eine intergenerationelle Gerechtigkeit, Baden-Baden: Nomos; siehe außerdem Kegelmann, Jürgen/Martens, Kay-Uwe (Hrsg.) 2013: Kommunale Nachhaltigkeit, Baden-Baden: Nomos. 51 Vgl. Liebold, Sebastian, 2015: Nachhaltigkeit – eine Forschungsagenda der guten Ordnung und der Vernunft, in: Carlowitz-Gesellschaft (Hrsg.): Zur DNA der Nachhaltigkeit. Carlowitz weiterdenken, München: Oekom, S. 111-122. 52 Goldschmidt, Nils, 2014: Die Zukunft der Ordnungspolitik in der Sozialen Markt‐ wirtschaft, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 63. Jg., Heft 1, S. 3-14.
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len Marktwirtschaft (und erst recht der Auswüchse insbesondere durch die Finanzmarktreformen der 1980er und 1990er Jahre)53 gemacht wird, hat heute bei stärkerer Vernetzung eine internationale Bedeutung: Ist es ein europäisches Modell oder ein Gespenst?54 Wer die Staaten der Europä‐ ischen Union auf die Krisenresilienz seit 2009 hin vergleicht, wird immer wieder auf die Vorzüge der deutschen Ordnung verwiesen: auf die dezen‐ trale Struktur mit vielen Kleinbetrieben, auf Flexibilität und „evolutive“ Reformen, schließlich den Umweltsinn vieler Bürger, deren Eifer beim Mülltrennen noch viele weitere Gebiete nachhaltig transformieren könnte. Wilhelm Röpke zählte die Rückkehr zur „kleinen“ Form, zu Kleinbetrieb und Handwerksarbeit (etwa „Radioreparateure“) zu jenen „Hoffnungs‐ gründen“55 für den Erfolg einer freiheitlichen Wirtschaftsform, die Deutschland prägte, ehe eine völlig anders geartete, von globalen Regeln getragene Liberalisierung eintrat. Wenn heute Repair Cafés dafür werben, einen Gegenstand nicht sofort wegzuwerfen, treten sie unbewusst in diese Fußstapfen. Dezentralisierung und „kleine“ Form bedeuten – Röpke zufolge – die Chance, dass möglichst viele Bürger Maß halten. Auf der Aggregatebene kann eine so verfasste Gesellschaft bei aller Freiheitswahrung einen Mo‐ dus erreichen, der Gewinnstreben moderiert und die Folgen solchen Han‐ delns zumindest jedem bewusst werden lässt. Eine Garantie gibt es nicht, doch die Gegenmodelle (Neoliberalismus, Sozialismus, nationale Autar‐ kie) bieten in weit geringerem Maße eine Gewähr dafür, das Postulat der Nachhaltigkeit umzusetzen. Wir sollten anstelle von Kirschen aus Argenti‐ nien lieber Äpfel aus der Region essen.
53 Vgl. Gary S. Schaal, 2016: Liberale Gesellschaftsordnungen. Wie die Wandlungen des Liberalismus unser Leben unter Druck gesetzt haben, in: Indes, 5. Jg., Heft 2, S. 77-83. 54 Biebricher, Thomas, 2014: The Return of Ordoliberalism in Europe – Notes on a Research Agenda, in: i-lex, Heft 21, S. 1-24. 55 Röpke, Wilhelm, 1946: Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirt‐ schaftsreform, Erlenbach-Zürich: Rentsch, S. 273 und S. 300.
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Autorenverzeichnis
PD Dr. Julia Schulze Wessel Universität Leipzig Institut für Politikwissenschaft Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte Beethovenstr. 15 04107 Leipzig [email protected] Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten Georg-August-Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben 6 37073 Göttingen [email protected] Dr. des. Verena Risse Technische Universität Dortmund 44227 Dortmund [email protected] Dipl. Pol. Jona van Laak Hochschule für Politik an der TU München Richard-Wagner-Straße 1 80333 München [email protected] Dr. Sebastian Liebold TU Chemnitz Institut für Politikwissenschaft 09107 Chemnitz [email protected]
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