Gottlob Benjamin Jäsche: Liebe und Glaube: Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte 9783495999783, 9783495999776


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German Pages [167] Year 2022

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Table of contents :
Cover
Vorwort
Abkürzungen und Siglen
Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie
Reflexionen zum Erlebnis des Kantianers Gottlob Benjamin Jäsche
Eine geschmähte Erfahrungsform
Jäsches Erlebnis
Eine typische nachtodliche Begegnung
Wohltätige Wirkungen
Erscheinung vs. Begegnung
Gängige Vorurteile
Desinteresse und Ablehnung
Das Vorbild der Theologie: Leben nach dem Tod Ja, Erfahrungen mit Verstorbenen Nein
Von der Dämonisierung zur Pathologisierung
Wird die Vernunft durch Erfahrungen mit Verstorbenen um ihren Gebrauch gebracht?
Zunehmende Ablehnung eines persönlichen Fortlebens
Widersprechen Begegnungen mit Verstorbenen der Wissenschaft?
Philosophie als Aufklärung
Der Tod des Anderen
Das kalte Herz der Philosophie
Gottlob Benjamin Jäsche: Liebe und Glaube
Einleitung des Herausgebers
Biographische Informationen
Zum Manuskript
Entdeckung durch Morgenstern und weiterer Verbleib
Entstehungszeit
Beschreibung
Motivation
Einteilung
Philosophische Grundgedanken, Themen und Einflüsse
Liebe und Glaube
Kritik am ›verjüngten Spinozismus‹
Sind (echte) Erscheinungen von Verstorbenen möglich?
War es tatsächlich eine Erscheinung Sallys?
In Kants System gefangen?
Das Vorbild von Friedrich und Margareta Klopstock
Verzeichnis der Schriften von Gottlob Benjamin Jäsche (Auswahl)
Editorische Notiz
Liebe und Glaube
Endnoten-Apparat
Personenregister
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Gottlob Benjamin Jäsche: Liebe und Glaube: Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte
 9783495999783, 9783495999776

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Transzendente Erfahrungen – Phänomene und Deutungen

|4

Heiner Schwenke [Hrsg.]

Gottlob Benjamin Jäsche: Liebe und Glaube Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte

https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Transzendente Erfahrungen – Phänomene und Deutungen Herausgegeben von Heiner Schwenke Band 4

https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Heiner Schwenke [Hrsg.]

Gottlob Benjamin Jäsche: Liebe und Glaube Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte

Mit Einführung, Kommentar und einem Essay von Heiner Schwenke

https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

© Titelbild: Lukas Trabert

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99977-6 (Print) ISBN 978-3-495-99978-3 (ePDF)

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1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, BadenBaden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Vorwort

Begegnungen mit Verstorbenen sind eine verbreitete und für die Betroffenen oft tröstliche Erfahrung. In der Philosophie sind sie allerdings tabu. Ganz überwiegend werden sie ignoriert. Wenn sie doch thematisiert werden, dann zumeist abwertend. Vielleicht liegt das am Selbstverständnis der Philosophie als Aufklärungsinstanz. Begegnungen mit Verstorbenen gelten vielfach als Inbegriff eines zu überwindenden Aberglaubens. Sie signalisieren einen unüberschau­ baren Erfahrungsbereich, der sich dem Bedürfnis der Aufklärung nach einer geschlossenen rationalen Welterklärung widersetzt. Prägend für die Einstellung der Philosophie war Kant mit den Träumen eines Geistersehers. Eine positive Sicht auf Begegnungen mit Verstorbenen wurde in den philosophischen Untergrund gedrängt. Ein Beispiel dafür ist Jäsches Manuskript Liebe und Glaube, das er zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen wagte. Im Jahr 2008 wurde ich durch Eduard Parhomenko auf Liebe und Glaube aufmerksam. Er sprach darüber auf einer Tagung in Tartu. Ihm gilt mein erster Dank. Isabel Niemöller danke ich für ihre Unterstützung bei der Transkription des Manuskripts und Martin Hähnel vom Verlag Karl Alber für die freundliche und effiziente Zusammenarbeit bei der Produktion des Buches. Dagmar Schäfer bin ich für die beständige Förderung meiner Forschungen sehr zu Dank verpflichtet. Die Publikation wurde durch das Forschungsprojekt »Transcendent Experiences – Phenomena, Ideas and Judgements« am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin unterstützt. Basel, den 30. März 2022

Heiner Schwenke

5 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heiner Schwenke

Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

Reflexionen zum Erlebnis des Kantianers Gottlob Benjamin Jäsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eine geschmähte Erfahrungsform . . . . . . . . . . . . . Jäsches Erlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine typische nachtodliche Begegnung . . . . . . . . . . Wohltätige Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinung vs. Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . Gängige Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Desinteresse und Ablehnung . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorbild der Theologie: Leben nach dem Tod Ja, Erfahrungen mit Verstorbenen Nein . . . . . . . . . . . Von der Dämonisierung zur Pathologisierung . . . . . . . Wird die Vernunft durch Erfahrungen mit Verstorbenen um ihren Gebrauch gebracht? . . . . . . . . . . . . . . . . . Zunehmende Ablehnung eines persönlichen Fortlebens . . Widersprechen Begegnungen mit Verstorbenen der Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie als Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das kalte Herz der Philosophie . . . . . . . . . . . . . .

11 11 12 13 16 19 20 22 23 25 27 28 28 29 30 31

7 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Inhaltsverzeichnis

Gottlob Benjamin Jäsche

Liebe und Glaube

Morgengedanken / An meine Sally, die Verklärte . . . . . . . .

33

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . .

35

Biographische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Zum Manuskript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entdeckung durch Morgenstern und weiterer Verbleib Entstehungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

38 38 39 40 40 40

Philosophische Grundgedanken, Themen und Einflüsse . . Liebe und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik am ›verjüngten Spinozismus‹ . . . . . . . . . . . Sind (echte) Erscheinungen von Verstorbenen möglich? War es tatsächlich eine Erscheinung Sallys? . . . . . . . In Kants System gefangen? . . . . . . . . . . . . . . . Das Vorbild von Friedrich und Margareta Klopstock . .

. . . . . . .

42 42 42 43 45 46 46

Verzeichnis der Schriften von Gottlob Benjamin Jäsche (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Liebe und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Endnoten-Apparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163

8 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Abkürzungen und Siglen

Biblische Bücher werden nach den Loccumer Richtlinien abgekürzt. AA

I. Kant, Immanuel, Kant’s gesammelte Schriften, 29 Bde., hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin, Leipzig: Reimer, de Gruyter 1900ff.

ADB

Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Com­ mission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Mün­ chen), 56 Bde., Leipzig: Duncker & Humblot 1875–1912

DBBL

Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, hg. von O. Welding, W. Lenz, Köln: Böhlau 1970

DK

H. Diels, W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker: griechisch und deutsch, 6. Aufl., 3 Bde., Berlin: Weidmann 1951–52

EA

Erstausgabe

ebd.

ebenda

En.

Endnote

Fn.

Fußnote

HKA

F. G. Klopstock, Werke und Briefe: Historisch-kritische Ausgabe (Hamburger Klopstock-Ausgabe), begründet von A. Beck, K. L. Schneider, H. Tiemann, hg. von H. Gronemeyer, E. HöpkerHerberg, K. Hurlebusch, R.-M. Hurlebusch, Berlin: de Gruy­ ter 1974ff.

HWPh

Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, K. Grün­ der, G. Gabriel, 12 Artikelbde., 1 Registerbd., Basel: Schwabe 1971–2007

LG

G. B. Jäsche, Liebe und Glaube, Manuskript, angefangen 1808

Ms

Manuskript

NDB

Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bisher 27 Bde., Berlin: Duncker & Humblot 1953ff.

r

recto

9 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Abkürzungen und Siglen

S.

Seite

v

verso

Z.

Zeile

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Heiner Schwenke

Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie Reflexionen zum Erlebnis des Kantianers Gottlob Benjamin Jäsche Eine geschmähte Erfahrungsform Der ordentliche Professor für theoretische und praktische Philosophie an der Kaiserlichen Universität zu Dorpat, Gottlob Benjamin Jäsche, hatte im Winter des Jahres 1808 ein unerwartetes Erlebnis: eine Begegnung mit einer verstorbenen Person. Das ist eine verbreitete Erfahrung.1 Die Wirkung des Erlebnisses war für Jäsche, wie in den meisten Fällen dieser Art, nachhaltig positiv.2 Insofern stellte es für ihn kein Problem dar. Ein Problem war allerdings, dass die Erfahrung nicht zu Jäsches philosophischer Herkunft passte. Er war ein Schüler und Vertrauter Kants. Dieser aber hatte in den Träumen eines Geister­ sehers derartige Erlebnisse als krankhaften Wahn verworfen.3 Jäsche war jedoch der spontanen Überzeugung, dass er tatsächlich seiner geliebten, verstorbenen Ehefrau Sally begegnet war. Er verfasste das hundertfünfzigseitige Manuskript Liebe und Glaube (LG) nicht nur mit dem Ziel, das Erlebte für andere festzuhalten, sondern auch, um seine Überzeugung der Echtheit des Erlebten philosophisch zu prüfen und zu verteidigen. Hinzu kam ein zweites Problem: Man konnte damals, wie auch heute noch, nicht ohne weiteres über derartige Erleb­ nisse sprechen. Jäsche wagte es nicht, sein Manuskript zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Dahinter stand wohl die Sorge, zur Zielscheibe des Spotts der philosophischen Kollegen und einer breiteren Öffent­ lichkeit zu werden.4 Er diskutierte sein Erlebnis anscheinend nur Siehe S. 20. Siehe D. Arcangel, Afterlife encounters: Ordinary people, extraordinary experiences, Charlottesville, VA: Hampton Roads 2005, 285, und unten S. 16. 3 Siehe z.B. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766), AA 2:346, 361. 4 Siehe LG 31v–r. Der Spott über den wenige Jahre zuvor erschienenen Bericht des Leipziger Gelehrten Johann Karl Wötzel (1765–1836) über die Erscheinung seiner verstorbenen Ehefrau (J. K. Wötzel, Meiner Gattinn wirkliche Erscheinung nach ihrem 1

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

mündlich mit Vertrauten.5 Das schränkte seine Chancen auf einen vielseitigen Erfahrungs- und Gedankenaustausch ein. Gleichzeitig wurde die Philosophie um die Herausforderung gebracht, derartige Erlebnisse ernsthaft zu thematisieren. Wenn ein anerkanntes Mit­ glied ihrer Zunft solches berichtete, konnte sie es nicht einfach als »Ammenmärchen«, »Hirngespenst« und »Wahn« abtun.6 Wer aber, wenn nicht die Philosophie, sollte unabhängig vom Streit der Weltan­ schauungen offen für Erfahrungen einer Begegnung mit Verstorbenen sein und sich unvoreingenommen um ein angemessenes Verständnis solcher Erlebnisse bemühen? Jäsches Erlebnis Jäsches Ehefrau Sarah, genannt Sally, war vormittags am 7. Februar 1808 nach 18tägiger qualvoller Krankheit im Alter von 33 Jahren gestorben. Der hinterbliebene, dreizehn Jahre ältere Jäsche hatte sich am Abend dieses Tages, nach zehn Uhr, zum Schlafen zurückgezogen. Zwei jüngere männliche Personen nächtigten im selben Zimmer. Sie schliefen bald ein, Jäsche aber war noch wach. Er schreibt: In diesem wachen Zustande werde ich plötzlich und unerwartet, ohne durch einen Gedanken, ein Gefühl und irgendeine aufgeregte Begierde der Art dazu vorbereitet und gleichsam gestimmt worden zu sein, von einem nie zuvor empfundenen, von jeder Anwandlung irgend einer Gespensterfurcht, dergleichen ich mich aus meiner früheren Jugend noch erinnere, himmelweit unterschiedenen Gefühl eines hei­ ligen Schauers ergriffen. Ohne eine Gestalt, irgendein Schattenbild zu erblicken – es war nicht ganz dunkel im Zimmer, obgleich kein Mondlicht es erhellte – oder irgendeinen Fußtritt zu hören, empfinde ich die Nähe des Schutzgeistes der im Leben vor wenigen Stunden erst von mir geschiedenen Geliebten.7 »Gib mir Deine Hand« – Tode. Eine wahre unlängst erfolgte Geschichte für Naturforscher zur unbefangenen Prü­ fung dargestellt, 4. Aufl., Leipzig: Jacobäer 1805 [EA 1804]; siehe zur Diskussion D. Sawicki, Leben mit den Toten: Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn: Schöningh 2002, 115–28) wird Jäsche nicht ent­ gangen sein. 5 Siehe LG 38r. 6 Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:317, 320, 340–42, 344–48, 360–61, 366. 7 Der Schutzgeist der Geliebten ist die verstorbene Geliebte selbst, nicht deren Schutzengel. Jäsche schreibt zum Beispiel: »Umschwebe mich, verklärter Geist meiner Geliebten – heiliger und ewiger Schutzgeist meines Lebens, dass ich Deine Nähe

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

sage ich, mit leiser, aber unerschrockener und mit merklich gefühlter Bewegung der Lippen begleiteten Stimme; und in dem Augenblicke fühle ich die Wurzel meiner Rechten – nicht etwa berührt von den Fingern einer körperlichen Hand – nein, nur leise und sanft, aber doch merklich angeweht und angehaucht von einem kalten Hauche. Und den Augenblick darauf hört mit einer himmlisch-melodischen Stimme mein inneres Ohr die Worte ihm zurufen: »Gute Nacht!« – – Die Glieder bebten mir von dem fortdauernden heiligen Schauer durchdrungen; – mein ganzes Inneres wurde in seiner Tiefe bewegt. Es war, als ob die wache Seele, der augenblicklich wieder verschwundenen himmlischen Erscheinung gleichsam nachsehend und dem Nachklange ihrer Engelsstimme nachgehend, hinter derselben einen Lichtstrahl aus dunkler Ferne, von einem allda leuchtenden Sterne der Hoffnung herüber schimmernd, erblickte, der in ihr Inneres sich senkte. – – Dahin war die wunderbare Erscheinung; aber der tiefe, tiefe Eindruck war im Innersten der Seele geblieben und erhält sich bis auf diesen Augenblick noch in derselben mit gleicher unveränderlicher Stärke und Zuversicht. Auch wurde auf der Stelle der Wunsch der Guten Nacht – dieses Zeichen und Losungswort des vertrautesten und liebevollsten Einverständnisses unsrer Herzen, wenn wir im Leben mit einem Kusse der Liebe uns Gute Nacht! sagten – es wurde dieser Wunsch jetzt sogleich erfüllt. Ich schlief von dieser Stunde an ein; und schlief zum ersten Mal wieder einen die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ununterbrochen fortdauernden, erquickenden Schlaf – das für mich damals unentbehrlichste lebenserhaltende und lebensstärkende Mit­ tel.8

Eine typische nachtodliche Begegnung Jäsches Erlebnis ist ein recht typischer Fall einer Begegnung mit einer verstorbenen Person. Das wird deutlich, wenn wir einige Merkmale seines Erlebnisses mit Berichten anderer Betroffener vergleichen. (1) Begegnungen mit verstorbenen Personen treten häufig wie bei Jäsche im Wachzustand auf,9 freilich auch in zahlreichen anderen empfinde; mit den Augen meines Geistes Dein Bild erblicke« (LG 4v). Und: »Du, meine Mittlerin – verklärter Schutz- und Trostengel meines Lebens!« (LG 27r). Jäsche spricht auch davon, dass er mit ihr, die jetzt ein Engel sei, an ihrem Todestag aufs Neue vermählt worden sei (LG 19r–v). 8 LG 32r–33r. 9 Siehe H. Schwenke, Transzendente Begegnungen: Phänomenologie und Metakritik, Basel: Schwabe 2014, 83–111.

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

Bewusstseinszuständen wie etwa im Traum,10 während außerkör­ perlicher Erfahrungen Gesunder,11 in Sterbebettvisionen12 und bei Nahtoderfahrungen in physiologischer Todesnähe.13 (2) Das Erlebnis tritt nach Jäsche »plötzlich und unerwartet«14 auf. Diese Beobachtung findet sich sehr oft in den Berichten über nachtodliche Begegnungen.15 (3) Jäsche schreibt, er habe ein derartiges Erlebnis nicht begehrt.16 Und als sich am Abend des nächsten Tages »der Wunsch und die Neigung des Herzens sich leise […] zur hoffenden Wiederkehr der geliebten Erscheinung hinneigen mochte«,17 er also ein leises Verlangen nach einem erneuten Erlebnis dieser Art verspürte, habe sich nichts dergleichen ereignet. Eine umfangreiche Umfrage zu nachtodlichen Begegnungen legt nahe, dass Verlangen dieses Erleben nicht fördert, sondern sogar eher hemmt.18 (4) Jäsches Erlebnis beginnt nicht mit einem sinnlichen Eindruck, sondern mit dem Gefühl eines »heiligen Schauers«19 und der Empfindung der Gegenwart der verstorbenen Geliebten. Die unsinnliche Empfindung der Gegenwart einer Person tritt bei vielen dieser Erlebnisse im Wachzustand auf.20 Wie bei Jäsche wird dabei häufig auch ein unmittelbares Wissen 10 Siehe ebd. 113–21; als antike bzw. mittelalterliche Beispiele siehe Cicero, De re publica VI,10–14; Boccaccio, Tratatello in laude di Dante, XXVI. 11 Siehe W. Buhlman, Out of Body: Astralreisen – Das letzte Abenteuer der Mensch­ heit, 2. Aufl., München: Heyne 2010 [engl. EA 1996], 36–38, 61, 63, 65. 12 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 132–36. 13 Siehe E. W. Kelly, »Near-death experiences with reports of meeting deceased people«, in Death Studies 25 (2001) 229–49; Schwenke, Transzendente Begegnungen, 122–28. 14 LG 32r (Hervorhebung H. S.). 15 Siehe H. Schwenke, »Begegnungen mit Personen aus anderen Welten«, in ders. (Hg.), Jenseits des Vertrauten: Facetten transzendenter Erfahrungen, Freiburg i. Br.: Alber 2018, 23–65, hier 30, und die Beispiele in B. Guggenheim, J. Guggenheim, Trost aus dem Jenseits: Unerwartete Begegnungen mit Verstorbenen, 9. Aufl., Bern: Scherz 2001 [engl. EA 1995], 28 (»empfand ich auf einmal Wärme, als wäre jemand neben mir«), 28 (»plötzlich fühlte ich, daß meine Mutter links neben mir saß«), 29 (»plötzlich war so etwas wie Sanftheit um mich«), 30 (»hatte ich plötzlich das Gefühl, daß Fred bei mir war«), 30 (»plötzlich spürte ich Oscar […] ich spürte seine Gegenwart – sie war überall um mich her«), 31 (»als ich plötzlich Howards Gegenwart spürte. Er war rechts neben mir«), 32 (»Plötzlich war meine Mutter bei mir im Auto. Ich spürte ihre Gegenwart, ihr ganzes Wesen, als säße sie neben mir«). 16 Siehe LG 27r, 44r, 68v, 74r. 17 LG 34v. 18 Siehe Arcangel, Afterlife encounters, 288. 19 LG 32v. 20 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 83–87.

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

um die Identität der verstorbenen Person berichtet, das sich nicht auf sinnliche Anzeichen stützt.21 (5) Jäsche spricht die verstorbene Sally an und bittet sie, ihm ihre Hand zu reichen. Er hat also das Empfinden, mit einer transzendenten Person direkt zu kommunizie­ ren. Das entspricht dem Erleben vieler anderer Betroffener.22 (6) Auf diese Aufforderung Jäsches scheint die unsichtbare Sally zu reagieren, denn Jäsche berichtet, dass seine rechte Handwurzel augenblicklich »nur leise und sanft, aber doch merklich angeweht und angehaucht [wird] von einem kalten Hauche«.23 Ein kalter Hauch wird häufig bei physisch erscheinenden, also mit physischen Sinnen wahrnehmbaren Verstorbenen registriert.24 (7) Mit diesem kalten Hauch verbunden ist für Jäsche ein »körperliche[s] Gefühl der leisen Betastung meiner rechten Hand«.25 Berührungsempfindungen werden oft als Begleiter­ scheinung von Begegnungen mit verstorbenen Personen beschrie­ ben.26 (8) Unmittelbar nach dem Berührungserleben hörte Jäsche mit seinem »inneren Ohr« eine »himmlisch-melodische[]«27 Stimme zu ihm sprechen. Diese Stimme identifiziert er als die »Engelsstimme«28 seiner verstorbenen Frau. Er ist sich darüber im Klaren, dass es keine physische Stimme ist. Hörempfindungen sind bei nachtodlichen Begegnungen ebenfalls häufig.29 Dabei sind kurze Botschaften üblich. Häufig ist die Stimme so charakteristisch, dass sie einem bestimmten Verstorbenen zugeordnet wird.30 (9) Jäsche, der zum Zeitpunkt der Siehe ebd. 83–87. Siehe ebd. 87–88. 23 LG 32v. 24 Siehe H. Evans, Seeing ghosts: Experiences of the paranormal, London: John Murray 2001, 92–93; E. Mattiesen, Das persönliche Überleben des Todes: Eine Darstellung der Erfahrungsbeweise, 3 Bde., Berlin: de Gruyter 1936–39, 1:122; H. Schwenke, Die Verwechslung der Welten: Auferstehung, Reich Gottes und Jenseitserfahrungen, Freiburg i. Br.: Alber 2017, 34. 25 LG 66r. 26 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 91–93. 27 LG 32v. 28 LG 32v. 29 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 88–90. 30 Siehe E. Heathcote-James, After-death communication, London: Metro 2004, 129: »Es scheint, dass solche auditiven Botschaften in der Regel kurz und prägnant sind – man könnte sie mit SMS oder Telegrammen vergleichen, die in der Regel etwa 25 Wörter enthalten. Sie werden mit der authentischen Stimme des Verstorbenen über­ mittelt, einschließlich Sprachfehlern, Akzenten und charakteristischer Aussprache – die Stimme kann innerlich oder äußerlich sein, so klar, als ob ich jetzt mit Ihnen sprechen würde« (Übers. H.S.). 21

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

Abfassung des Manuskripts offensichtlich nur eine Erfahrung dieser Art hatte, hebt wiederholt die Einzigartigkeit des Erlebnisses hervor: Es stehe »bis auf diesen Augenblick einzig in oder vielmehr außer der Reihe aller meiner übrigen Lebensereignisse da[]«;31 die Erscheinung sei »mit keiner zu vergleichen und keiner einzigen gleich zu achten, welche sich der Seele in Zuständen des Wachens oder des Träumens dargestellt haben«.32 Obwohl die Einzigartigkeit des Erlebens bei nachtodlichen Begegnungen in den Berichten meistens nicht explizit thematisiert wird, so wird sie doch durch die starken biographischen Wirkungen belegt.33 Die Unverwechselbarkeit des Erlebnisses heben die Betroffenen vor allem dort hervor, wo die Tendenz zur Gleichset­ zung mit alltäglichen Erfahrungen besonders ausgeprägt ist, nämlich bei nachtodlichen Begegnungen im Schlaf.34 Wohltätige Wirkungen Das Erlebnis der Begegnung mit seiner verstorbenen Frau war für Jäsche offenbar sehr wohltätig. Es vermittelte ihm »Mut«, »Trost« und »Zuversicht«35 auf eine Wiedervereinigung mit der Geliebten im Jenseits. Er bezeichnet sie auch als seinen »Trostengel«.36 Nicht nur schläft er in den beiden auf das Erlebnis folgenden Nächten einen »heilsamen« Schlaf und wacht »heiterer und gestärkter« auf »als je zuvor«.37 Auch befindet er sich tagsüber in einem Zustand »der Ruhe, der Heiterkeit und Fassung«, er sei »ruhiger und gefasster als je zuvor« gewesen.38 Das Erlebnis scheint ihm zudem die Furcht vor dem eigenen Tod genommen zu haben, denn am Tag nach dem Erlebnis, als er sein Testament abfasste, habe er das »Bild« des Todes mit der »heiteren und freundlichen Miene des Weisen betrachtet[]«.39 Solche positiven Folgen von Begegnungen mit Verstorbenen sind LG 30r. LG 66r–v. 33 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 161–62. 34 Siehe ebd. 114–17. 35 Das kann man aus LG 44r lesen, wo Jäsche schreibt, er habe vor dem Erlebnis »den Mut und den Trost und die Zuversicht immer nur« im »eigenen Geiste und Herzen« gesucht. 36 LG 27r. 37 LG 33r, 34v. 38 LG 34v. 39 LG 34r, 33v. 31

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

die Regel.40 Wenn jemand einer Person begegnet, um die er trauert, dann erfährt er in vielen Fällen Trost, Ruhe und Frieden, Glück und Liebe. Da dies in der Philosophie weitgehend unbekannt zu sein scheint, zitiere ich etwas ausführlicher aus Berichten über die Wirkungen von Begegnungen mit Verstorbenen, die alle im Wach­ zustand erlebt wurden: »Ein überwältigendes Gefühl von Frieden und Ruhe überkam mich.«41 – »Ich wurde ganz heiter und ruhig. Es war das erste Mal, daß ich nach seinem Tod so etwas wie Frieden fand.«42 – »Es war sehr tröstlich für mich – ich war so froh! Das war das Wunderbarste, was ich je erlebt habe.«43 – »Ich war über diese Begegnung überglücklich, und sie gab mir meinen Lebensmut wieder.«44 – »Ich empfand einen inneren Frieden, wie ich ihn seit ihrem Tod nicht mehr empfunden hatte. Es war, als würde eine Last von mir abfallen.«45 – »In mir zog ein tiefer Friede ein und ich war glücklich wie nie zuvor.«46 – »Ich habe in meinem ganzen Leben nie mehr ein solches Gefühl des Friedens vermittelt bekommen. Ich habe niemals mehr die vollkommene Freude und den vollkommenen Frieden erlebt, die ich an diesem Tag erlebte.«47 – »Es war ein Wunder, eine wahre Wohltat! Ich war so von Liebe und Freude durchdrungen, dass mein ganzer Kummer sich auflöste. Ich wußte, mein Vater hatte Frieden gefunden, und von da an war ich ein neuer Mensch.«48 – »Das alles hat mich schlagartig verändert. Ich fühlte mich, als hätte man mir ein Zehn-Tonnen-Gewicht von den Schultern genommen. Ich konnte den Tod meines Vaters endlich annehmen und empfand einen solchen Frieden, dass ich mich aufraffte und nicht mehr so hängen ließ.«49 – »Ich finde keine Worte, mit denen ich die Ruhe beschreiben könnte, die über mich kam. Es war ein wahrer Segen und 40 Siehe Arcangel, Afterlife encounters, 285, 292–94; Guggenheim, Guggenheim, Trost aus dem Jenseits, 190. 41 Ebd. 53. 42 Ebd. 55. 43 Ebd. 54. 44 Ebd. 56. 45 Ebd. 60. 46 A. Jaffé, Geistererscheinungen und Vorzeichen: Eine psychologische Deutung, Zürich: Rascher 1958, 68. 47 L. E. LaGrand, Messages and miracles: Extraordinary experiences of the bereaved, St. Paul, MN: Llewellyn 1999, 148. 48 Guggenheim, Guggenheim, Trost aus dem Jenseits, 44. 49 Ebd. 118. Das Erlebnis begann im Halbschlaf, das Subjekt wurde in seinem Verlauf jedoch »hellwach« (ebd.).

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Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie

fühlte sich wundervoll an.«50 – »[I]ch [war] nie zuvor in meinem ganzen Leben von einer so reinen Glückseligkeit erfüllt.«51 – »Der Kummer über seinen Tod, der mir so lange meinen inneren Frieden geraubt hatte, war endlich überwunden. Stattdessen überflutete mich eine unbeschreibliche Glückseligkeit.«52 Auch tiefgreifende Liebes­ erfahrungen werden berichtet, wie im Fall eines Mannes, der von der Begegnung mit seinem an AIDS verstorbenen Lebensgefährten Robert berichtete: »Robert strahlte eine intensive Liebe aus, die mich ganz und gar durchdrang. Jede Faser meines Körpers empfand Liebe – vollkommene Liebe, vollkommenes Verständnis und Mitgefühl, ganz anders als das, was wir hier erleben.«53 Begegnungen mit Verstorbenen können nach Berichten von Experiencern zudem post­ mortale Versöhnungen bewirken,54 hilfreiche Warnungen vor Gefahr vermitteln,55 vor einem Suizid bewahren,56 Beistand am Sterbebett spenden,57 die Furcht vor dem Tod verringern und die Gewissheit eines Lebens nach dem Tod stärken.58 Nach Jäsches Beschreibung schwächte sich die seelische Wirkung seiner Erfahrung mit der Zeit kaum ab: »Der tiefe, tiefe Eindruck […] erhält sich bis auf diesen Augenblick« »im Innersten der Seele« »mit gleicher unveränderlicher Stärke und Zuversicht«.59 Dergleichen ist, wie Arcangel in ihrer Studie fand, allgemein der Fall: Der Trost, den Erlebnisse wie das von

Ebd. 43. Steward Edward White (1873–1946) über eine Begegnung mit seiner verstorbenen Ehefrau Elizabeth (S. E. White, Uneingeschränktes Weltall, Zürich: Origo 1948 [engl. EA 1940], 22). 52 Paramahansa Yogananda (1893–1952) über eine Begegnung mit seinem verstor­ benen Guru Yukteswar Giri (1855–1936) (P. Yogananda, Autobiographie eines Yogi, 16. Aufl., Bern: Barth 1988 [engl. EA 1946], 429). 53 Guggenheim, Guggenheim, Trost aus dem Jenseits, 86. 54 Siehe z. B. ebd. 213–14. 55 Siehe z. B. ebd. 233–45; E. Haraldsson, The departed among the living: an investiga­ tive study of afterlife encounters, Guildford: White Crow 2012, 157–64. 56 Siehe z. B. Guggenheim, Guggenheim, Trost aus dem Jenseits, 246–58. 57 Siehe z. B. W. Barrett, Deathbed visions: How the dead talk to the dying, Guildford: White Crow 2011 [EA 1926], 23–25; 52–53; K. Osis, E. Haraldsson, Der Tod – ein neuer Anfang: Visionen und Erfahrungen an der Schwelle des Seins, Freiburg i. Br.: Bauer 1978 [engl. EA 1977], 144. 58 Siehe z. B. Guggenheim, Guggenheim, Trost aus dem Jenseits, 37, 46, 86, 129, 133; LaGrand, Messages and miracles, 149; K. Sheridan, Animals and the afterlife: True stories of our best friends’ journey beyond death, Carlsbad: Hay House 2006, 172. 59 LG 33r. 50 51

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Jäsche schenken, ist auch Jahre später kaum geringer.60 Nachtodliche Begegnungen können darüber hinaus lebensverändernde Wirkungen zeitigen. Das bekannteste Beispiel aus der Literatur ist die Wandlung des Paulus von Tarsus vom fanatischen Christenjäger zum größten Missionar der christlichen Bewegung nach seinem Erlebnis mit dem verstorbenen Jesus von Nazareth.61 Erscheinung vs. Begegnung Jäsche bezeichnet seine Erfahrung als »Erscheinung«. Der Begriff der Begegnung, den ich in Anlehnung an Martin Buber verwende, scheint einem Erleben wie dem von Jäsche jedoch angemessener zu sein.62 Unter einer idealtypischen Begegnung verstehe ich eine wechselseitige, bewusst erlebte und unmittelbare Verbindung zweier oder mehrerer Personen. Das Merkmal der Wechselseitigkeit (Rezi­ prozität) bedeutet: Wenn ich einer anderen Person begegne, dann begegnet diese Person auch mir. Einseitige Wahrnehmungen sind keine Begegnungen. Wenn ich eine Person sehe, höre oder körperlich berühre, dann nehme ich sie zwar wahr, aber ich begegne ihr damit nicht. Dazu muss sie auch meine Gegenwart bewusst erleben. Doch selbst das reicht für eine Begegnung noch nicht aus. Wenn wir beide uns gegenseitig aus der Ferne wahrnähmen und jeder für sich lediglich die Anwesenheit des anderen konstatierte, dann würde man wohl nicht von Begegnung sprechen. Nach meinem Begegnungsbegriff müsste die Erfahrung einer unmittelbaren Verbindung hinzukommen. Das Du wird nicht aus Anzeichen erschlossen, sondern direkt erlebt. Martin Buber schreibt in Ich und Du: »Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung«.63 Begegnungserlebnisse sind also nicht not­ wendig mit sinnlichen Eindrücken verbunden. Auch Jäsche erlebte die Gegenwart seiner verstorbenen Ehefrau, bevor er sinnliche Eindrücke Arcangel, Afterlife encounters, 292–93. Siehe Apg 9,1–9; 22,3–16; 26,9–20. Jäsches Erlebnis scheint seine Philosophie nachhaltig beeinflusst zu haben, siehe E. Parhomenko, »Der Himmel als Stimmungs­ bogen des Denkens über Tartu im Februar 1808«, in Studia Philosophica Estonica 8 (2015) 91–103. 62 Der folgende Abschnitt ist nahezu wörtlich entnommen aus Schwenke, »Begeg­ nungen mit Personen«, 24–26; siehe ausführlicher Schwenke, Transzendente Begeg­ nungen, 20–26. 63 M. Buber, Ich und Du, 10. Aufl., Heidelberg: Schneider 1979 [EA 1927]. 60

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von ihr hatte.64 Er erschloss ihre Gegenwart nicht aus sinnlichen Anzeichen. Eine Erscheinung hingegen ist vom gewöhnlichen Wort­ sinn her immer mit sinnlichen Eindrücken verbunden. Nicht alle Begegnungen sind also Erscheinungen. Andererseits sind nicht alle Erscheinungen Begegnungen. Das gilt zum Beispiel für Fälle, in denen transzendente Wesen nur erscheinen, also sinnlich wahrgenommen werden, ohne dass das Erlebnis einer wechselseitigen, unmittelbaren Verbindung hinzukommt. Außerdem kann auch etwas erscheinen, das keine Person ist und dem man daher nach meiner Definition nicht begegnen kann, wie zum Beispiel abstrakte oder unbelebte Objekte. Auch Erscheinungen in menschlicher Gestalt besitzen oft keinen personalen Charakter.65 Eine nachtodliche Begegnung ist ferner begrifflich nicht dasselbe wie eine Nachtodkommunikation oder ein Nachtodkontakt. Diesen Erfahrungsformen fehlt oft das Element der Unmittelbarkeit. Sie umfassen auch Erlebnisse, bei denen man etwas als Anzeichen oder Botschaft einer jenseitigen Person deutet, aber dieser Person selbst nicht begegnet. Gängige Vorurteile Da Begegnungen mit Verstorbenen lange Zeit kaum öffentlich mit­ geteilt wurden, ist ihr Bild von Vorurteilen geprägt. Drei möchte ich hier kurz besprechen. (1) Die geringe Präsenz von Begegnungen mit Verstorbenen in der öffentlichen Diskussion scheint die Ansicht zu nähren, es handele sich um eine Erfahrung, die nur wenige Menschen machen. Auf die Frage »Hatten Sie jemals das Gefühl, wirklich in Kontakt zu einem Verstorbenen zu stehen?« antworteten jedoch in den 1980er Jahren ein Viertel der befragten Westeuropäer sowie 40 % der befragten US-Amerikaner und der chinesischen Studenten mit Ja.66 Zwar ist der in den Umfragen verwendete Begriff des Kon­ takts weiter als mein Begegnungsbegriff, aber ich vermute, dass ein substanzieller Anteil derjenigen, die ein Kontakterlebnis angaben,

Den personalen Charakter seines Erlebnisses unterstreicht Jäsche mit der Bemer­ kung, dass »das Gute Nacht […] von einem Du mir zugerufen« wurde (LG 66r). 65 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 150–55. 66 Siehe E. Haraldsson, »Alleged encounters with the dead: the importance of violent death in 337 new cases«, in The Journal of Parapsychology 73 (2009) 91–118, hier 92. 64

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auch eine Begegnung erlebten.67 (2) Die Vorstellung ist verbreitet, dass primär ungebildete, unkritische oder gar geisteskranke Personen solche Erfahrungen machen. Vermutlich gilt aber auch für nachtodli­ che Begegnungen das, was Louis LaGrand zu Nachtodkommunika­ tionen sagt: Nach meiner eigenen Erfahrung kann ich mit Sicherheit sagen, dass Nachtodkommunikationen bei Reichen und Armen, bei den weltli­ chen, hartgesottenen Typen und bei Vergeistigten, bei Männern und Frauen, bei Alten und Jungen, bei Gebildeten und Ungebildeten, sowie bei Menschen aller Rassen vorkommen. […] Meiner Meinung nach gibt es keine Gruppen oder Untergruppen, die nicht einige Mitglieder aufweisen, die das Phänomen erlebt haben.68

(3) Verbreitet ist die Auffassung, bei Begegnungen mit Verstorbenen handele es sich um Trauerhalluzinationen.69 Das würde heißen, diese Erlebnisse gingen auf das Verlangen zurück, eine verstorbene Person wiederzusehen. Wie bereits erwähnt, scheint ein solches Verlangen nachtodliche Begegnungen nicht zu fördern.70 Erlendur Haraldsson stellte zudem in seiner Studie zu spontanen Erlebnissen mit Verstor­ benen in Island fest, dass sich überhaupt nur 21 % der Subjekte in einem Zustand der Trauer befanden.71 Gegen Trauer und Verlangen als Ursache sprechen auch die zahlreichen Fälle, in denen verstorbene Personen erlebt werden, die der Betroffene nicht kannte oder die er zwar kannte, von denen er aber nicht wusste, dass sie verstorben waren.72 Als Beispiel führe ich einen Bericht über die Begegnung eines Kindes mit einer ihm unbekannten Verstorbenen an. Den Fall über­ lieferte der Kardiologe Pim van Lommel: Im Alter von fünf Jahren bekam ich eine Gehirnentzündung und fiel in ein Koma. ›Ich starb‹ und trieb in einer schwarzen Leere, in der ich 67 Beispielsweise stellen in dem Buch Trost aus dem Jenseits von Bill und Judy Guggenheim, die meines Wissens die bisher größte Umfrage zu Nachtodkommunika­ tionen durchführten, wohl die meisten der über dreihundert dargestellten Fälle von Nachtodkommunikationen auch Fälle von nachtodlichen Begegnungen in meinem Sinne dar. 68 LaGrand, Messages and Miracles, 165. 69 Siehe Haraldsson, »Alleged encounters with the dead«, 102. 70 Siehe Arcangel, Afterlife encounters, 285. 71 Siehe Haraldsson, »Alleged encounters with the dead«, 102. 72 Solche Fälle werden auch »Peak-in-Darien«-Fälle genannt. Zum Begriff und zu zahlreichen Beispielen siehe B. Greyson, »Seeing dead people not known to have died: ›Peak in Darien‹ experiences«, in Anthropology and Humanism 35 (2010) 159–71.

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mich geborgen fühlte. […] Ich sah ein Mädchen von etwa zehn Jahren und ich bemerkte, dass sie mich erkannte. Wir umarmten uns und sie sagte zu mir: ›Ich bin deine Schwester. Ich bin einen Monat nach meiner Geburt gestorben. Man hat mich nach unserer Großmutter benannt. Unsere Eltern nannten mich einfach Rietje.‹ Sie küsste mich und ich spürte ihre Wärme und Liebe. ›Du musst zurückgehen‹, sagte sie zu mir … Sofort war ich wieder in meinem Körper. Ich öffnete die Augen und blickte in die glücklichen und erleichterten Gesichter meiner Eltern. Ich erzählte ihnen von meiner Erfahrung, die sie erst als Traum abtaten. … Ich zeichnete meine Engelsschwester, die mich willkommen geheißen hatte, und beschrieb alles, was sie erzählt hatte. Meine Eltern erschraken so sehr, dass sie regelrecht in Panik gerieten. Sie standen auf und verließen den Raum. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder zurück. Sie bestätigten mir, dass sie eine Tochter verloren hatten, die Rietje hieß. Sie war ungefähr ein Jahr vor meiner Geburt an einer Vergiftung gestorben. Meine Eltern hatten damals beschlossen, mir und meinem Bruder erst dann davon zu erzählen, wenn wir in der Lage wären zu verstehen, was Tod und Leben bedeuteten.73

Desinteresse und Ablehnung Der Tod stellt vielleicht die größte Herausforderung des Menschen dar.74 Das gilt nicht nur für den eigenen Tod, sondern auch und vielleicht besonders für den Tod anderer. Das Band zu einem gelieb­ ten Menschen wird durch den Tod zerschnitten. Das verursacht bei den Hinterbliebenen täglich millionenfaches Leid. Nachtodliche Begegnungen können dieses Leid lindern und den Betroffenen neuen Lebensmut geben. Sie müssten der Philosophie daher nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht wichtig sein. Doch die meisten neuzeitlichen Philosophen interessieren sich nicht für diese Erfahrungen, und wenn sie sich für sie interessieren, lehnen sie sie in aller Regel ab oder machen die Betroffenen sogar lächerlich. Was sind die Gründe dafür?

73 P. van Lommel, Endloses Bewusstsein: Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfah­ rung, Düsseldorf: Patmos 2009 [niederländ. EA 2007], 100. 74 Das gilt zumindest für den modernen Menschen, dem der Umgang mit Verstor­ benen fremd geworden ist (siehe zu Phänomenen des Umgangs mit Verstorbenen in indigenen Kulturen A. Lang, Cock lane and common-sense, London: Longmans, Green 1894).

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Das Vorbild der Theologie: Leben nach dem Tod Ja, Erfahrungen mit Verstorbenen Nein Ich beginne meine Betrachtung mit Immanuel Kant, der mit sei­ ner negativen Einstellung gegenüber Erfahrungen mit Verstorbenen einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Zwar vertrat er die »ins Unendliche fortdauernde[] Existenz und Persönlichkeit des[] vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt)« als Postulat der praktischen Vernunft,75 andererseits bestritt er die Möglichkeit, Erfahrungen mit Verstorbenen zu machen.76 Er verlangte, Geistererscheinungen »nur abzubrechen«.77 Er »verwerfe« sie, »die Obiective Beweisgründe mögen seyn, welche sie wollen.«78 Damit übernahm Kant ein Muster der christlichen Theologie. Zentral für das Christentum ist die Lehre eines Lebens nach dem Tod.79 Doch wurden Kontakte mit Verstorbenen zugleich dogmatisch bekämpft.80 Ein wesentlicher Grund dafür scheint – neben dem aus der Hebräi­ schen Bibel übernommenen Verbot solcher Kontakte81 – die Sorge vor sogenannten Privatoffenbarungen82 gewesen zu sein. Sie konnten das von den Amtskirchen offenbar angestrebte Monopol auf Vermittlung des Zugangs zu einer ›guten‹ Transzendenz gefährden und auch kirchlichen Lehrmeinungen widersprechen.83 Mystische Erfahrungen mit Jesus von Nazareth oder mit Maria, der Mutter Jesu, können Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA 5:122. Siehe v.a. Kants Träume eines Geistersehers und dazu H. Schwenke, »Swedenborg und Kant: Über die Schwierigkeit, transzendente Erfahrungen zu verstehen«, in ders., Jenseits des Vertrauten, 126–67; H. Schwenke, »Dreams of a spirit-seer, illustrated by dreams of metaphysics«, in J. Wuerth (ed), The Cambridge Kant-Lexicon, Cambridge: Cambridge University Press 2021, 567–70. 77 Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:372. 78 Kant, Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 454, AA 15:187. 79 Siehe z. B. Katechismus der Katholischen Kirche, Neuübersetzung aufgrund der Editio typico Latina, München: Oldenbourg 2005 [lateinische EA 1997], §§ 988–91. 80 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 231–65. 81 Siehe ebd. 238–39, 246–48, 251–54. 82 ›Privatoffenbarung‹ ist ein fragwürdiger Kampfbegriff, denn auch die Offenbarun­ gen der Religionsstifter Siddharta Gautama, Jesus von Nazareth oder Mohammed waren nicht öffentlicher als die späteren Erfahrungen einer Teresa von Avila, eines Franz von Assisi oder Emanuel Swedenborg. Siehe zu öffentlicher und privater Offen­ barung aus katholischer Sicht M. Wagner, »Das Phänomen der Vision in theologischer Sicht«, in dies., U. Niemann, Visionen – Werk Gottes oder Produkt des Menschen?, Regensburg: Pustet 2005, 11–59, hier 11–12. 83 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 260–62. 75

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Inhalte transportieren, die der kirchlichen Lehre zuwiderlaufen. Ver­ mutlich deshalb verlangten konservative christliche Seelenführer, der Mystiker solle selbst Christuserscheinungen abweisen.84 Häretische Inhalte können jedoch auch durch Erfahrungen mit (›gewöhnlichen‹) jenseitigen Menschen vermittelt werden. So würde zum Beispiel eine Begegnung mit einem Verstorbenen den Lehren vom Seelenschlaf oder Ganztod widersprechen.85 Eine Begegnung mit einem glückli­ chen Verstorbenen, der sich selbst das Leben genommen hatte, würde mit der Lehre in Konflikt kommen, dass sogenannte Selbstmörder in extremer Gottesferne, also in einem höchst unseligen Zustand, leben würden.86 Auch Kant scheint individuelle Erfahrungszugänge zur Transzendenz für überflüssig zu halten. Mit Blick auf Emanuel Swe­ denborgs Jenseitsvisionen schreibt er, die »Zwecke« der »wahre[n] Weisheit« »bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können«.87 Geht es bei der amtskirchlichen Ablehnung von nachtodlichen Begegnungen meiner Meinung nach vor allem um die Bewahrung der kirchlichen Hegemonie in Bezug auf den Zugang zu einer transzendenten Realität, so scheint bei Kant die Autonomie seines Denkens im Vordergrund zu stehen: Es darf nicht von Erfahrungszugängen anderer abhängen, die ihm selbst nicht zu Gebote stehen.88 Kants Bedürfnis nach Unabhängigkeit von den Erfahrungen anderer hat die Tendenz, im öffentlichen Diskurs ebenfalls in ein Hegemoniestreben zu münden, das Erfahrungen, die diese Autonomie gefährden könnten, abwertet und bekämpft, wie dies 84 Siehe z. B. E. von Petersdorff, Daemonologie, 2 Bde., München: Kultur und Geschichte 1956–57, 2:5. 85 Zum Seelenschlaf und Seelentod siehe F. Refoulé, »Seelenschlaf«, in J. Höfer, K. Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 9, Freiburg i. Br.: Herder 1964, 575–76; zur modernen Ganztodlehre siehe C. Henning, »Wirklich ganz tot? Neue Gedanken zur Unsterblichkeit der Seele vor dem Hintergrund der Ganztod­ theorie«, in Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 43 (2001) 236–52. 86 Siehe z. B. J. E. Pruner, »Selbstmord«, in J. Hergenröther, F. Kaulen (Hg.), Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon, Bd. 11, Freiburg i.Br.: Herder 1899, 73–79. 87 Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:372. Kant schrieb in der Kritik der reinen Vernunft, »daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei« (AA 3:538), was sich auch als Kritik an der Annahme der Möglichkeit individuell unterschiedlicher Dispositionen etwa für Jenseitserfahrungen oder Erfahrungen mit Verstorbenen wie im Fall Swedenborg verstehen lässt. 88 Vgl. etwa Kant, Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 454, AA 15:187: Aufklärung beruhe auf der »Selbstwahl der Grundsätze«.

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Kant in den Träumen eines Geistersehers und späteren Bemerkungen zum Thema tatsächlich auch praktizierte. Von der Dämonisierung zur Pathologisierung In der christlichen Theologie wurden Erfahrungen mit Verstorbenen oft als Blendwerke des Satans angesehen, weil die Verstorbenen angeblich gar nicht erscheinen und mit Lebenden interagieren konn­ ten.89 Das lag entweder daran, dass sie den Seelenschlaf schliefen oder ganz tot waren,90 oder aber, wie Augustinus lehrte, dass sie zwar lebten und aktiv waren, jedoch sich an einem Ort befanden, von dem aus sie nicht zu den irdischen Menschen gelangen konnten.91 Eine Ausnahme wurde für Heilige zugelassen.92 Die Dämonisierung von Erfahrungen mit Verstorbenen wandelte sich in der Aufklärung zur Pathologisierung. Wesentlichen Anteil daran hatte Kant. Er attestierte dem schwedischen Universalgelehrten Emanuel Swedenborg (1688– 1772) »Wahnsinn« und »Wahnwitz« und empfahl, »Geisterseher« wie ihn »kurz und gut als Candidaten des Hospitals abzufertigen«.93 Swe­ denborg war jedoch allem Anschein nach bei vorzüglicher geistiger und psychischer Gesundheit. Er wurde als freundlicher, umgänglicher, zufriedener, ja glücklicher Mensch beschrieben.94 Neben einer außer­ ordentlichen Gelehrsamkeit verfügte er auch über einen ausgezeich­ neten praktischen Verstand, der sich unter anderem in seiner Tätigkeit als oftmaliges Mitglied des schwedischen Reichstags zeigte. Der führende schwedische Politiker Anders Johan von Höpken95 schrieb nicht nur, Swedenborg sei »ohne Widerspruch wohl der gelehrteste Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 246–48, 257–60. Siehe Fn. 85. 91 Siehe Augustinus, De curo pro mortuis gerenda, XIII.16, XV.18; deutsch in A. Augustinus, Die Sorge für die Toten, übers. von G. Schlachter, eingeleitet u. erläutert von R. Arbesmann, 2. Aufl., Würzburg: Augustinus 1994), 28, 30; dazu Schwenke, Transzendente Begegnungen, 246–48. 92 Siehe Schwenke, Verwechslung der Welten, 194. 93 Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:348, 361. 94 Siehe H. de Geymüller, Swedenborg und die übersinnliche Welt, Zürich: Sweden­ borg 1988 [Nachdr. Ausgabe Stuttgart 1936], 28; E. Benz, Swedenborg: Naturforscher und Seher, 2. Aufl., Zürich: Swedenborg 1969, 236, 252. 95 Von Höpken war 1752–61 Präsident der schwedischen Staatskanzlei (Kunglig Majestäts kansli), also de facto der Regierungschef. 89

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Mann in meinem Vaterlande«,96 sondern pries auch dessen politi­ schen Sachverstand: »Die gründlichsten und am besten geschriebenen Denkschriften, welche auf dem Reichstage von 1761 in Finanzsachen vorgelegt wurden, waren von ihm [d.h. von Swedenborg].«97 Die Pathologisierung von Erfahrungen mit Verstorbenen wurde von der modernen Psychiatrie fortgeführt. Sie richtete sich auch gegen füh­ rende religiöse Figuren der Geschichte.98 Der Psychiater Kurt Schnei­ der (1887–1967) erkannte auf Psychose, wenn jemand seine verstor­ bene Mutter an seinem Bett sah oder seinen Namen rufen hörte und auch glaubte, dass sie tatsächlich zugegen sei. Wenn man hingegen bei derartigen Wahrnehmungen hinzufügte »Ich weiß genau, daß das nicht sein kann«, dann lag für Schneider nur eine hypnagoge Sinnes­ täuschung vor.99 Die Leugnung der Möglichkeit von Erfahrungen mit Verstorbenen wurde also zur Bedingung einer milden psychiatrischen Diagnose.100 Die Pathologisierung von Erfahrungen mit Verstorbe­ nen trug vermutlich wesentlich zum Verschweigen derartiger Erleb­ nisse bei.101 In neuerer Zeit erkannte man, dass sie in der Konsequenz zur Pathologisierung »ganze[r] Phänomenbereiche« nichtwestlicher, beispielsweise schamanistischer Kulturen führte, in denen Kontakte mit Verstorbenen anerkannter Teil des Lebens sind.102 Der Vorwurf des »ethnozentrischen Imperialismus« gegen die westliche Psychi­ atrie führte möglicherweise zu einer etwas toleranteren Einstellung gegenüber Erfahrungen mit Verstorbenen.103 96 Brief an General Christian Tuxen vom 11. Mai 1772, zitiert nach J. F. E. Tafel, Sammlung von Urkunden betreffend das Leben und den Charakter Emanuel Sweden­ borg’s, 4 Abth. in 2 Bden., Tübingen: Zu-Guttenberg 1839–45, 1:54. 97 Siehe den Brief von Johan Anders von Höpken an General Christian Tuxen vom 11. Mai 1772, zitiert nach Tafel, Sammlung von Urkunden, 1:55. Vgl. auch de Geymül­ ler, Swedenborg, 28. 98 Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 193–94, 213–14. 99 Siehe K. Schneider, Klinische Psychopathologie, 15. Aufl., Stuttgart: Thieme 2007 [EA 1946], 47. 100 Teilweise wörtlich nach Schwenke, Transzendente Begegnungen, 215. 101 Siehe ebd. 194. 102 R. van Quekelberghe, Klinische Ethnopsychologie, Heidelberg: Asanger 1991, 14; vgl. auch P. K. Schneider, Wahnsinn und Kultur oder ›Die heilige Krankheit‹: Die Entdeckung eines menschlichen Talents. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 294. 103 Siehe van Quekelberghe, Klinische Ethnopsychologie, 14; siehe auch E. Bourgu­ ignon, »Institutionalisierte Ausnahmezustände«, in W. M. Pfeiffer, W. Schoene (Hg.), Psychopathologie im Kulturvergleich: Eine Einführung, Stuttgart: Thieme 1980, 102– 15; Schneider, Wahnsinn und Kultur, 32.

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Wird die Vernunft durch Erfahrungen mit Verstorbenen um ihren Gebrauch gebracht? Kant befürchtete, dass durch Erfahrungen mit Verstorbenen (bei Kant: Geistern) die »Vernunft um ihren Gebrauch gebracht« werde,104 denn aus ihnen lasse sich »gar keine Regel herausbringen«.105 Erfah­ rungserkenntnis, so verstehe ich Kant, bestehe aber darin, »sinnliche Vorstellungen unter Regeln zu bringen«,106 und zwar unter Regeln, die eine bestimmte »Verbindung des Mannigfaltigen nothwendig mach[en]«.107 Kant ging von notwendig gültigen Naturgesetzen aus.108 Das tat übrigens auch sein Anhänger Jäsche, der in Liebe und Glaube die Falsifizierung von Naturgesetzen ausschloss: Die »Vernunft«, so schrieb er, dürfe »auch nicht ein einziges Faktum, wodurch ein Naturgesetz verletzt wird, als zulässig gelten lassen«.109 Da Wissenschaft stets nur eine endliche Zahl von Beobachtungen liefern kann, ist der wissenschaftliche Nachweis einer allgemeingül­ tigen Notwendigkeit von Naturgesetzen allerdings unmöglich.110 Davon abgesehen sind die meisten Prozesse nicht nur im Bereich des menschlichen Lebens und Handelns, sondern auch in der unbelebten Natur indeterminiert.111 Der Einzelfall ist oft nicht mit befriedigender Präzision vorhersagbar. Es wäre Kant schwergefallen, etwa aus dem »Sprudeln eines Springbrunnens«112 eine »Regel heraus[zu]bringen«, die eine bestimmte »Verbindung des Mannigfaltigen nothwendig macht«. Es ist fraglich, ob ›Geistererscheinungen‹, also sinnliche Kant, Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 454, AA 15:187. Kant, Metaphysik L2, AA 28:594. 106 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA 4:452. 107 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1787), AA 3:169. 108 Das gilt auch für sogenannte empirische Naturgesetze, die nicht nur aus dem Verstand hergeleitet werden können, siehe z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:146; Kant, Kritik der Urteilkraft (1790), AA 5:180, Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), AA 4:469; und dazu ausführlich A. Seide, Die Notwendigkeit empirischer Naturgesetze bei Kant, Berlin: de Gruyter 2020. 109 LG 62v–63r. 110 Siehe ausführlicher zur Frage einer notwendigen Geltung von Naturgesetzen H. Tetens, »Naturgesetz«, in J. Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissen­ schaftstheorie, 2. Aufl., Bd. 5, Stuttgart: Metzler 2013, 509–11. 111 Siehe G. Ludwig, »Ist der Determinismus eine Grundvoraussetzung für Physik?«, in W. Marx (Hg.), Determinismus, Indeterminismus: Philosophische Aspekte physikali­ scher Theoriebildung, Frankfurt a. M.: Klostermann 1990, 57–70. 112 Ebd. 62. 104 105

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Erfahrungen von Verstorbenen, derart exzeptionell regellos sind, wie Kant dies ohne weiteres unterstellte, Zunehmende Ablehnung eines persönlichen Fortlebens Dem nachkantischen Idealismus wurde der Begriff eines genuin indi­ viduellen Geistes problematisch und entsprechend auch ein persönli­ ches Überleben des Todes.113 Der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufblühende Materialismus, für den der Mensch nur aus Physischem besteht, entzog der Vorstellung, der Mensch könne den Tod des physischen Körpers überleben, gänzlich den Boden. Ein Kontakt mit Verstorbenen war folglich undenkbar. Die Meinung, der Tod sei das definitive Ende der menschlichen Existenz, scheint auch heute noch in der akademischen Philosophie zu überwiegen.114 Widersprechen Begegnungen mit Verstorbenen der Wissenschaft? Ein Grund dafür könnte in der gegenwärtigen Autorität der Neurowis­ senschaften liegen. Hier scheint das Dogma zu herrschen, dass es kein Bewusstsein ohne funktionierendes Gehirn geben könne.115 Wenn nicht die – semantisch unhaltbare – Identität von Bewusstsein und Gehirnaktivität vertreten wird,116 dann zumindest eine notwendige Kopplung von Bewusstsein und Gehirn. Beides würde bedeuten, 113 Siehe A. Hügli, »Tod«, in HWPh 10:1227–42; W. Sparn, »Unsterblichkeit«, in HWPh 11:286–94. 114 Eine der wenigen prominenten Ausnahmen ist Gabriel Marcel: »Ein […] Irrtum, der schwere Folgen nach sich zieht, ist der Lehrsatz der Endgültigkeit des Todes. […I]n diesem Irrtum […] wurzeln die allerschwersten Übel, an denen die heutige Menschheit krankt« (Geheimnis des Seins, Wien: Herold 1952 [franz. EA 1951], 464– 65). In neuester Zeit ist z. B. Holm Tetens zu nennen (siehe H. Tetens, »›Auferstehung der Toten, Gericht, Vergebung‹: Ein Interview mit dem Philosophen Holm Tetens«, in Herder-Korrespondenz 1/2017, 18–22. 115 Siehe z. B. G. Roth, »Gehirn und Bewusstsein: Neurobiologische Grundlagen«, in S. Gauggel, M. Herrmann (Hg.), Handbuch der Neuro- und Biopsychologie, Göttingen: Hogrefe 2008, 17–27, hier 18, 23. 116 Siehe z. B. H.-U. Hoche, »Identity statements and nonsense«, in ders., Anthropo­ logical complementarism: Linguistic, logical, and phenomenological studies in support of a third way beyond dualism and monism, Paderborn: mentis 2008, 101–28; M. Gabriel, Ich ist nicht Gehirn: Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin: Ullstein 2017.

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dass es keine verstorbenen Menschen mit Bewusstsein geben kann. Nachtodliche Begegnungen wären unmöglich. Bei der Lehre einer notwendigen Kopplung von Bewusstsein und Gehirn handelt es sich allerdings nicht um eine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um ein metaphysisches Postulat, da die Existenz von Bewusstsein nicht mit wissenschaftlichen Mitteln festgestellt werden kann und somit auch nicht dessen notwendige Kopplung an ein funktionierendes Gehirn.117 Zudem sprechen auch Erfahrungen dagegen. Es gibt zahl­ reiche Berichte, nach denen Personen während eines Herzstillstandes in sogenannten Nahtoderfahrungen verifizierbare Beobachtungen machten.118 Manchmal betreffen sie Objekte oder Vorgänge, die die Betroffenen von ihrem Standpunkt aus mit ihren physischen Sinnen gar nicht hätten wahrnehmen können, selbst wenn ihr Gehirn noch voll funktionstüchtig gewesen wäre.119 Erstaunlicherweise werden Wahrnehmung und Denken während einer Nahtoderfahrung oft noch schärfer und klarer als gewöhnlich erlebt.120 Philosophie als Aufklärung Die Neigung der Philosophen, sich konstruktiv mit der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod oder gar einer Erfahrung mit Verstorbenen zu beschäftigen, war allerdings bereits vor dem Aufstieg der Neuro­ wissenschaften bereits sehr gering, obwohl der naturwissenschaftlich inspirierte Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts durch die Quantenphysik geschwächt worden war. Es scheint, als ob auch philosophieinterne Gründe eine Rolle spielen. Vermutlich war und Siehe Schwenke, Transzendente Begegnungen, 171–79. Siehe T. Rivas, A. Dirven, R. H. Smit: The self does not die: Verified paranormal phenomena from near-death experiences, Durham, NC: IANDS 2016, 1–126. 119 Siehe ebd. 29–54. Zum EEG während eines Herzstillstands siehe P. van Lommel: The continuity of consciousness: A concept based on scientific research on near-death experiences during cardiac arrest, 11–15 (https://bigelowinstitute.org/docs/2nd.pdf, besucht 1. Dezember 2021); B. Greyson, After: a doctor explores what near-death experiences reveal about life and beyond, New York: St. Martin’s Essentials 2021, 108 und die Nachweise ebd. 238. 120 Siehe E. W. Kelly et al., »Unusual experiences near death and related phenomena«, in E. F. Kelly et al., Irreducible mind: Toward a psychology for the 21st century, Lanham: Rowman & Littlefield 2007, 367–421, hier 384, 386–387. Eine neurophysiologische Erklärung von Nahtoderfahrungen während eines Herzstillstands steht überdies vor dem Problem, dass völlig gesunde Personen ganz ähnliche Erfahrungen machen (siehe van Lommel, Continuity, 7, 32). 117

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ist das Selbstverständnis der Philosophie als Aufklärungsinstanz hier von wesentlicher Bedeutung. Zeitweise war Philosophie ein Synonym für Aufklärung.121 Diese kämpfte im Namen der Vernunft gegen religiöse Autoritäten, aber auch gegen den Aberglauben. Dazu wurde der Glaube an den Verkehr mit Geistern, also in erster Linie mit Verstorbenen, gezählt.122 Eine transzendente Sphäre wurde zunächst meistens nicht rundheraus abgelehnt – was auch politisch heikel gewesen wäre – aber doch entmachtet. Die Möglichkeit einer Interak­ tion mit ihr wurde abgelehnt. Die aufklärungsorientierte Philosophie nahm zwar angesichts der zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ihren diesseitigen Fortschrittsoptimismus zurück.123 Der antimetaphysische Affekt scheint jedoch geblieben zu sein.124 Der Tod des Anderen Das könnte ein Stück weit erklären, warum im philosophischen Dis­ kurs die Vorstellung vom Tod als definitivem Ende der menschlichen Existenz zu dominieren scheint. Wahrnehmbarer Protest dagegen kommt besonders von Philosophen, die den Tod des Anderen in den Mittelpunkt stellen, wie zum Beispiel Gabriel Marcel. Marcel schrieb, er empfinde angesichts des Todes »eines geliebten Wesens« eine »tiefere Bestürzung« als vor seinem eigenen »Sterben-Müssen«. Nach ihm verbieten es die Liebe und Treue zum geliebten Anderen, dessen Tod als definitives Ende anzuerkennen. Im Hinblick auf den eigenen Tod sei »wahrscheinlich eine Art Narkose möglich«. Eine echte Trauer um einen geliebten Anderen würde hingegen diese Nar­ Siehe H. Holzhey, »Aufklärung«, in H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philo­ sophie, 2. Aufl., Hamburg: Meiner 2010, 176–82. 122 Siehe A. Sommer, »Geisterglaube, Aufklärung und Wissenschaft: Historiogra­ phische Skizzen zu einem westlichen Fundamentaltabu«, in Schwenke, Jenseits des Vertrauten, 183–216, hier 183–93; siehe auch J. K. Wötzel, Nähere Erklärung und Aufschlüsse über seine Schrift: Meiner Gattin wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode, Leipzig: Jacobäer 1805, V. 123 Siehe Holzhey, »Aufklärung«. 124 Siehe z. B. T. W. Adorno, »Thesen gegen den Okkultismus«, in ders., Minima Moralia: Reflexionen aus einem beschädigten Leben, Frankfurt: Suhrkamp 1951, 462– 74 (Nr. 151). Adorno leugnet dort die Existenz von Geistern (»Geist dissoziiert sich in Geister und büßt darüber die Fähigkeit ein zu erkennen, daß es jene nicht gibt«) und bezeichnet den Glauben daran als »Metaphysik der dummen Kerls« (ebd. 462, 468). 121

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kose »als Verrat empfinden.«125 Es wäre auch »Verrat« anzunehmen, das geliebte Du sei »einfach verschwunden […] wie eine Wolke, die verfliegt«.126 Der »Geist der Treue« verlange »von uns […] eine ausdrückliche Weigerung«, den Tod derer, die wir lieben, als deren endgültiges Ende anzuerkennen.127 Insofern Jäsche in Liebe und Glaube ebenfalls den Tod vor allem aus der Perspektive der Liebe zum Anderen betrachtet, kann man ihn als einen Vorläufer Marcels ansehen. Jäsche geht allerdings über Marcel hinaus, wenn er Liebe versteht als die Quelle des Glaubens, ja der Gewissheit, dass der geliebte Andere den Tod überlebt. Das kalte Herz der Philosophie Warum hat der Tod des Anderen die Philosophie überwiegend kalt gelassen? Warum bekämpfte sie sogar noch die für die Betroffenen oft so tröstlichen nachtodlichen Begegnungen? Vielleicht liegt es neben Unkenntnis und Vorurteil tatsächlich vor allem am fortdauernden Selbstverständnis als Motor der Aufklärung. Doch in diesem Fall würde Aufklärung Herzlosigkeit bedeuten. Sich mit dem eigenen Tod als endgültigem Ende abzufinden, mag sich noch als Heroismus darstellen lassen. Den Tod anderer – seien es vertraute Menschen, seien es die unzähligen Opfer der Geschichte, wie zum Beispiel Janusz Korczak, Stefania Wilczyńska und ihre Waisenkinder –, als deren definitive Vernichtung zu akzeptieren, zeugt hingegen nicht von Heldentum, sondern von Mangel an Mitgefühl. Sicherlich sollten die Ergebnisse wissenschaftlicher philosophischer Forschung nicht von Mitgefühl bestimmt werden. Aber es gibt keinen rationalen Grund, existenzielle Erfahrungen, die vielen Menschen nachhaltigen Trost spenden können, aus philosophischer Sicht zu ignorieren, vom Diskurs auszuschließen, abzuwerten oder gar lächerlich zu machen. Es wäre sogar im Sinne einer wohlverstandenen, undogma­ tischen Aufklärung, die weitverbreiteten Erfahrungen einer nachtod­ lichen Begegnung in der philosophischen Forschung ausführlicher G. Marcel, »Tod und Unsterblichkeit [Vortrag in Freiburg i. Br. am 4.6.1962]«, in ders., Auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M.: Knecht 1964, 66–86, hier 75. 126 Ebd. 77. 127 Siehe zu Marcels Philosophie des Todes mit weiteren Nachweisen G. Scherer, Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, 59–66, 70–78. 125

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zu thematisieren. Sie fordern freilich das herrschende, am neurowis­ senschaftlichen Lehrsatz vom Bewusstsein als Produkt neuronaler Aktivität orientierte philosophische Menschenbild heraus. Dessen Überzeugungskraft lebt aber nicht zuletzt davon, dass entgegen­ stehende menschliche Erfahrungen ausgeblendet oder ›wegerklärt‹ werden. Eine philosophische Anthropologie, die die ganze Breite menschlicher Erfahrung angemessen berücksichtigt, ist immer noch ein Desiderat.

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Gottlob Benjamin Jäsche

Liebe und Glaube Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte

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Einleitung des Herausgebers

Das bisher unedierte hundertfünfzigseitige Manuskript Liebe und Glaube stammt aus der Feder des Kant nahestehenden Dorpater Phi­ losophieprofessors Gottlob Benjamin Jäsche. Er begann das Manu­ skript im Februar 1808. Das Anlass für die Abfassung des Manu­ skripts war ein Erlebnis, das Jäsche in der Nacht vom 7. auf den 8. Februar hatte: das Erlebnis einer Begegnung mit seiner geliebten, jung verstorbenen Ehefrau Sally. Im Manuskript beschreibt und reflektiert er das ihn tief bewegende und nachhaltig beeindruckende Erlebnis, blickt aber auch auf Krankheit und Sterben seiner Ehefrau zurück.

Biographische Informationen Gottlob Benjamin Jäsche wurde 1762 als Sohn eines Pfarrers in Wartenberg bei Breslau geboren.1 Mit dem ursprünglichen Ziel des Pfarramts studierte er 1783–85 in Halle Theologie und Philosophie, letzteres bei Johann August Eberhard (1739–1809), einem aufkläre­ risch gesonnenen Philosophen in der Tradition von Leibniz und Wolff. Nach dem ersten theologischen Examen 1785 wurde Jäsche Hausleh­ rer in Schlesien und vertiefte sich in die Philosophie Kants. Im Herbst 1791 ging er nach Königsberg und hörte dort Kants Vorlesungen über Anthropologie und Metaphysik. Von 1792–99 war er Hauslehrer in Zum folgenden siehe DBBL, 354; Erik-Amburger-Datenbank, Ausländer im vorre­ volutionären Russland [1993–], Datensatz 52181, http://www.historische-kommissi on-muenchen-editionen.de/beacond/amburger.php?pnd=116765070, besucht 20. April 2021; H.-J. Engfer, »Jäsche, Gottlob Benjamin,« in NDB 10:288–89; K. Morgenstern, Dr. Gottlob Benjamin Jäsche: Kathedervortrag gegenüber dem Sarge des Verewigten, gehalten am 3. September 1842 in der Aula der Kaiserlichen Universität Dorpat, Dorpat: Laakman 1843; B. P. Pick, »Jäsche, Gottlob Benjamin«, in M. Wil­ lascheck et al. (Hg.), Kant-Lexikon, 3 Bde., Berlin: de Gruyter 2015, 1199–1200; M. Wolfes, »Jäsche, Gottlob Benjamin«, in Biographisch-bibliographisches Kirchenlexi­ kon, hg. von T. Bautz, Bd. 16, Herzberg: Bautz 1999, 793–807. 1

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Einleitung des Herausgebers

Kurland. Seine Promotion in Philosophie erfolgte 1795 in Halle, die Habilitation 1799 in Königsberg. Er pflegte dort persönlichen Umgang mit Kant und hielt als Privatdozent Vorlesungen über die kantische Philosophie. 1800 gab er auf Kants Wunsch ein Handbuch zu dessen Logik-Vorlesungen heraus, das als »Jäsche-Logik« bekannt wurde.2 1802 wurde er ordentlicher Professor für theoretische und praktische Philosophie an der wiederbegründeten Universität zu Dorpat (ab 1918 offiziell Tartu) und lehrte dort siebenunddreißig Jahre lang. 1842 starb er dort. In einem Nachruf heißt über ihn: »Der Grundzug seines durchaus edlen Charakters war eine seltene Herzensgüte, die ihm die Zuneigung aller derer, die mit ihm in nähere Berührung kamen, erwarb und erhielt.«3 Jäsche war dreimal verheiratet und hatte neun Kinder.4 Seine wichtigsten philosophischen Schriften entstanden erst nach dem Tod seiner ersten Ehefrau. Sie beschäftigen sich mit dem Pantheismus,5 in welchem Jäsche anscheinend die größte philosophi­ 2 [I. Kant], Immanuel Kants Logik: ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von G. B. Jäsche (Königsberg: Nicolovius 1800). Siehe dazu Pick, »Jäsche«, und R. Stuhlmann-Laeisz, W. Ufert, »Logik: Ein Handbuch zu Vorlesungen«, in: Willascheck, Kant-Lexikon, 1331–34. 3 N. N., »210. Gottlieb [sic] Benjamin Jäsche«, in Neuer Nekrolog der Deutschen, 20. Jg., 1842, Erster Theil, hg. von B. F. Voigt (Weimar: Voigt 1844) 615–16, hier 616. Karl Morgenstern schrieb, dass Jäsche »gewiss keinen Feind im Leben hatte, keinen Feind je haben konnte. Reines Herzens, […w]er von uns Allen war es entschiedener als Er?« (Morgenstern, Jäsche, 5–6). Jäsches Charakter wird auch in Dr. Bertram [Georg Julius von Schultz], Dorpats Größen und Typen vor vierzig Jahren, Dorpat: Gläsers 1868, 27, offenbar angesichts eines Ehebruchs seiner zweiten Ehefrau, vorteilhaft geschildert. 4 Drei Kinder kamen aus der ersten Ehe mit Sally Straker (siehe S. 37). Die zweite Ehe mit Wilhelmine Müthel blieb offenbar kinderlos (siehe E. Kemmler, Johann Gottfried Müthel (1728–1788) und das nordostdeutsche Musikleben seiner Zeit, Marburg a. d. Lahn: Johann Gottfried Herder-Institut 1970, 402). Sie wurde 1809 geschlossen und nach kurzer Zeit geschieden. Schließlich heiratete er Anna (Anette) Sahmen (1787?-1839). In einer autobiographischen Notiz aus dem Jahr 1829 spricht Jäsche von »fünf am Leben gebliebenen Kindern« seiner »jetzigen […] Ehe« und betrauert den Tod seines 9jährigen Sohnes August im Jahr 1825 aus seiner »lezten Ehe«, die aber identisch mit der »jetzigen« sein muss. Denn er bezeichnet dort seine aktuelle Ehefrau als »sorgsame[], liebende[] Mutter unsrer geliebten Kinder, George, […] Marie, Karoline, und der beiden jüngsten Söhne Immanuel […] und Julius«. Der erstgenannte Sohn, George, wurde 1815 geboren, also vor dem jung verstorbenen August (siehe Morgenstern, Jäsche, 36–37; J.-P. Wayenborgh (ed), IBBO – International Biography and Bibliography of Opthalmologists and Vision Scientists, vol. 1, Oostende: Wayenborgh 2001, 1:417). 5 Siehe Jäsches monographischen, zweiteiligen Aufsatz Ansichten des Pantheismus (1815, 1821) und vor allem sein dreibändiges Hauptwerk Der Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen (1826, 1828, 1832). Siehe zu diesem Themenkreis ferner

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Biographische Informationen

sche Bedrohung des Glaubens an eine persönliche Unsterblichkeit erblickte.6 Daneben verfasste er neben einigen teils polemischen Frühschriften auf dem Boden der kantischen Philosophie vor allem kurze, kompendiöse Darstellungen der Ethik, Religionsphilosophie und Systematik der Wissenschaften für den Vorlesungsgebrauch.7 Sarah (genannt Sally), geb. Straker, wurde im Juli 1774 als zweite Tochter des Seemanns, Schiffsbesitzers und Holzhändlers George Straker in Newcastle upon Tyne (England) geboren.8 Die Familie zog wegen des Holzhandels mit dem Baltikum nach Memel. Sally wurde Gesellschafterin der Mutter des vermögenden Richard Cowe (1755– 1821) auf dem Landsitz Silberhammer bei Danzig. Dort traf sie im Juli 1801 auf Jäsche, der mit dem Schwager von Cowe, Peter Emanuel Pott (um 1750–1808), befreundet war.9 Am 4. April 1802 heirateten Jäsche und sie in Danzig und zogen anschließend nach Dorpat (Tartu). Sie gebar drei Kinder, Richard Emanuel (1802/3–23), Jea­ nette Henriette (gen. Jenny) (1804–81 oder 1891, verheiratet mit dem bedeutenden Chemiker Germain Henri Hess, 1802–50) und George (1806/7–12). Am 7. Februar 1808 starb Sally, laut Jäsche nach acht­ seine Aufsätze Die Philosophie des vernünftelnden Verstandes (1813) und Über ein neues Krypto-Identitätssystem (1821). Zu Jäsches Philosophie siehe allgemein A. Lazzari, »§ 45. Anhänger Kants«, in H. Holzhey, V. Mudroch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 5/2, Basel: Schwabe 2014, 1084–1107, hier 1098–1100, und E. Parhomenko, »Der Himmel als Stimmungsbogen des Denkens über Tartu im Februar 1808«, in Studia Philosophica Estonica 8 (2015) 91–103. Parhomenko beobachtet eine Wende in Jäsches Denken hin zu Jakobi und Fries nach dem Erlebnis mit der verstor­ benen Sally (siehe ähnlich, ohne Bezug auf das Erlebnis, bereits C. von Prantl, »Jäsche, Gottlob Benjamin«, in ADB 13:730), was Jäsche aber nicht als Abkehr von Kant ver­ stand (kritisch H. Ritter, Die Halb-Kantianer und der Pantheismus: Eine Streitschrift, veranlasst durch Meinungen der Zeit und bei Gelegenheit von Jäsche’s Schrift über den Pantheismus, Berlin: Trautwein 1827). 6 Siehe LG 5v–5r, 10v–11v, 27v–29v. 7 Siehe Grundlinien der Moralphilosophie (1804); Einleitung zu einer Architektonik der Wissenschaften (1816); Grundlinien zu einer Architektonik und systematischen Univer­ sal-Encyclopädie der Wissenschaften (1818); Grundlinien der Ethik oder philosophischen Sittenlehre (1824); Kurze Darstellung der reinen Vernunftreligion (1825). 8 Siehe H. H. E. Craster, A History of Northumberland, vol. 10: The Parish of Corbridge, Newcastle-upon-Tyne: Andrew Reid 1914, 162; R. Welford, Men of Mark ’Twixt Tyne and Tweed, vol. 3, London: Scott 1895, 458–59. 9 Zu Cowe und Pott siehe K.-H. Ruffmann, Engländer und Schotten in den Seestädten Ost- und Westpreußens, in Zeitschrift für Ostforschung 7 (1958) 17–39, hier 37; Alt­ preußische Biographie, hg. im Auftr. d. Histor. Kommission f. ost- u. westpreuß. Lan­ desforschung v. C. Krollmann, fortgesetzt v. K. Forstreuter, F. Gause, Marburg: Elwert, Bd. 1 (1941) 115, Bd. 2 (1967) 516.

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Einleitung des Herausgebers

zehntägiger Krankheit, im Alter von 33 Jahren.10 Jäsches Freund Karl Morgenstern beschrieb Sally als »ein edles, charaktervolles, gebilde­ tes Weib von reinem Sinne, die den geistigen, zumal den sittlichen Werth des Lebensgefährten ganz zu würdigen verstand«.11

Zum Manuskript Entdeckung durch Morgenstern und weiterer Verbleib Das Manuskript Liebe und Glaube befindet sich in der Universitäts­ bibliothek Tartu als Teil der Karl Morgenstern-Sammlung. Der Alt­ philologe Karl Morgenstern war einer der engsten Freunde Jäsches und langjähriger Kollege an der Dorpater Universität.12 Wie kam das Manuskript in Morgensterns Besitz? Er schreibt in einer Anmer­ kung zur Druckfassung seiner festlichen Trauerrede auf Jäsche von einem »gemüthvollen, zunächst nur für nähere Geistesverwandte bestimmten (im besten Sinne) popularphilosophischen Mskpt[], das auf von mir veranlasste Nachforschung in dem […] in nicht geringer Unordnung aufbewahrten literarischen Nachlass durch einen der wackeren Söhne des Verewigten, leider mit der bedeutenden Lücke Jäsche beschreibt Symptome, die auf Eklampsie deuten (siehe LG 21v–23r, 25v). Morgenstern, Jäsche, 33. 12 Karl Simon Morgenstern wurde 1770 in Magdeburg geboren und besuchte ab 1783 die Domschule Magdeburg, deren Rektor Gottfried Benedict Funk (siehe unten S. 46) sich seiner besonders annahm und dessen Schüler, Freund und Verehrer sich Morgenstern später nennt (siehe K. Morgenstern, »Zuschrift an den Hochwürdigen Herrn Gottfried Benedict Funk«, in Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, Bd. 1, hg. von K. Morgenstern, Dorpat: Grenzius 1813, III–XIV, hier VII, XIV). Morgenstern studierte ab 1788 in Halle und vertiefte sich unter Anleitung des Altphilologen und Altertumswissenschaftlers Friedrich August Wolf (1759–1824) besonders in Platon, wurde dort 1797 außerordentlicher Professor der Philosophie, 1798 Professor der Beredsamkeit und Poesie in Danzig und 1802 in Dorpat Professor für Eloquenz, Ästhetik, der Griechischen und Lateinischen Sprache, der Alterthümer und der Geschichte der Literatur und Kunst. In Dorpat wirkte er sehr intensiv am (Wieder-)Aufbau der Universität und vor allem auch der Universitätsbi­ bliothek mit. Er wurde 1833 emeritiert, las aber bis 1836 (siehe G. B. Jäsche, Geschichte und Beschreibung der Feyerlichkeiten bey Gelegenheit der am 21sten und 22sten April 1802 geschehenen Eröfnung der neu angelegten Kayserlichen Universität zu Dorpat in Lievland, Dorpat: Grenzius [1802], 88; E. Thraemer, »Morgenstern, Karl Simon«, in ADB 22:231–33; DBBL, 528). 10 11

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Zum Manuskript

von drei Bogen, noch aufgefunden worden«.13 Bei diesem Manuskript handelt es sich offensichtlich um Liebe und Glaube. Denn dieses weist eine Lücke von genau drei Bogen auf. Auch die weitere Beschreibung des Manuskripts trifft auf Liebe und Glaube zu. Aus der Angabe Morgensterns, dass er nach dem Manuskript habe forschen lassen, kann man schließen, dass er von seiner Existenz Kenntnis hatte. Das erscheint plausibel, denn er war gerade im Zusammenhang mit dem Sterben und Tod Sallys einer der engsten Vertrauten Jäsches.14 In Liebe und Glaube beschreibt Jäsche, wie er Morgenstern seine nächtliche Begegnung mit seiner verstorbenen Ehefrau anvertraute und mit ihm ausführlich darüber sprach.15 Morgenstern erwog, »vielleicht […] wenigstens eine[n] Theil« des Manuskripts in »einem künftigen zweiten Heft dieser Denkschrift«, also des Nachrufs auf Jäsche, her­ auszubringen, »und zwar diess im Deutschen Vaterlande«. Er machte die Durchführung dieses Plans allerdings von der »Aufnahme dieser Gedenkblätter« abhängig.16 Zur Herausgabe kam es nicht. Morgen­ stern vermachte das Manuskript mitsamt seiner großen Bücher- und Handschriften-Sammlung der Universitätsbibliothek Dorpat (Tartu). Heute ist ein digitales Faksimile des Manuskripts auf dem Webspace der Universitätsbibliothek Tartu allgemein zugänglich.17 Entstehungszeit Im Manuskript finden sich vereinzelte Hinweise auf seine Entste­ hungszeit. Auf der ersten Seite (1r) steht unten »Angefangen im Februar 1808«. Auf Seite 20r vermerkt Jäsche, dass die Begräbnisfeier für seine Ehefrau jetzt sechs Wochen zurückliege. Aus Jäsches Schil­ derungen in Liebe und Glaube lässt sich der 10. Februar 1808 als Tag der Beisetzung erschließen. Danach hätte er also um den 25. März 1808 an der Seite 20r geschrieben. Auf Seite 34v notiert Jäsche, es seien »zwei Monate […] von jener Katastrophe an bis jetzt verflos­ sen«. Weitere explizite Angaben zur Zeit der Abfassung enthält das Manuskript nicht. Morgenstern, Jäsche, 57–58. Morgenstern schrieb über sein Verhältnis zu Jäsche: »[S]o genau kannte ihn wol Keiner als ich« (Morgenstern, Jäsche, 5). 15 LG 39v–42v. 16 Morgenstern, Jäsche, 57–58. 17 http://hdl.handle.net/10062/27732, besucht 29. März 2022. 13

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Einleitung des Herausgebers

Beschreibung Das Manuskript ist ein Heft von 76 Blättern (Fadenheftung). Der Text ist in Kurrentschrift mit Tinte geschrieben. Jedes zweite Blatt ist mit Tinte von gleicher Hand nummeriert. Ich bezeichne diese mit Tinte nummerierten Einheiten (wie anscheinend schon Morgenstern) als Bogen. Die Bogennummerierung setzt mit »2.« auf Seite 5r ein, ein Blatt nach dem Beginn des gebundenen Textes (4r) und reicht bis »40« (75r). Blatt 3r–v ist freigeblieben. Die Bogen 22 bis 24 fehlen. Der Text auf Bogen 25 (45r) fängt mitten im Satz an. Die Blätter des Manuskripts sind mit Bleistift von 1 bis 76 durchnummeriert. Eben­ falls mit Bleistift wurden zahlreiche kleinere Korrekturen angebracht. Die Bearbeitung des Manuskripts mit Bleistift stammt anscheinend ebenfalls von Jäsche. Das würde bedeuten, dass die Bogen 22–24 schon fehlten, als Jäsche das Manuskript revidierte. Motivation Jäsche verfasste Liebe und Glaube zunächst wohl, um die nachtodliche Begegnung mit seiner Frau für sich festzuhalten und zu reflektieren. Insbesondere wollte er das Erlebnis philosophisch prüfen und vertei­ digen. Er bezeichnete das Manuskript aber auch als sein und Sallys »gemeinschaftliche[s] Vermächtnis«, geschrieben für ihre Kinder, Verwandte und Freunde, für gleichgesinnte Unbekannte sowie für seine Studenten (12v–13v). Er fühlte sich sogar zur öffentlichen Mit­ teilung gedrängt, trotz der Gefahr, sich lächerlich zu machen (30v– 31r): »Und doch kann und will ich dem inneren Drange zur Mitteilung nicht widerstehen.« Das »Außerordentliche und Wunderbare, […] was mir erschienen, ich will es mitteilen«, »öffentlich, im Angesichte der Welt« (30r–v). Jedoch nimmt er wenige Seiten später von einer Veröffentlichung zu Lebzeiten Abstand: »Erst dann, wenn ich nicht mehr sein , […] erst dann sollen diese Blätter, bis dahin im Pult verschlossen, auch zur Welt die Sprache meiner Empfindungen reden« (38r). Einteilung Der Text weist keine äußerliche Gliederung durch Überschriften oder Nummerierung auf. Der Vorspann, in dem Jäsche die Grabinschriften

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Zum Manuskript

für Sally und sich entwirft, ist durch ein leeres Blatt vom gebundenen Text abgesetzt. Dieser beginnt mit »I«, eine Folgenummerierung die­ ser Art fehlt jedoch. Vom Inhalt her gesehen zerfällt der Haupttext des Manuskripts in zwei Teile, einen ersten, persönlichen (4r–44v) und einen zweiten, systematisch-philosophischen Teil (45r–75v). Der persönliche Teil lässt wiederum zwei große Abschnitte erkennen, wenngleich sie in der Handschrift nicht graphisch abgesetzt sind. Der erste Abschnitt ist eine Art langer Brief an die verstorbene Sally, durch­ setzt mit Rückblicken, vor allem auf die Tage der Krankheit und des Sterbens Sallys, und ersten philosophischen Reflexionen. Er erstreckt sich von Anfang Seite 4r bis Seite 27r einschließlich des Satzes »Hast Du mir nicht […] ein Zeichen gegeben, […] da Du wirklich nicht mehr lebtest?« In diesem ›Brief‹ redet Jäsche die Verstorbene, im Unter­ schied zum späteren Text, persönlich an.18 Im zweiten Abschnitt des ersten Teils, Seite 27r ab »Ein vielbedeutendes, außerordentliches Zeichen […]« bis Seite 44v, beschreibt Jäsche dann sein Erlebnis einer nachtodlichen Begegnung mit Sally in der Nacht vom 7. auf den 8. Februar 1808,19 sowie Empfindungen, Gedanken, Handlungen, Diskussionen und Ereignisse der folgenden Tage. Den zweiten, sys­ tematisch-philosophischen Teil kündigt Jäsche gegen Ende des ersten Teils an als »das ausführliche philosophische Räsonnement über Dinge dieser Art« auf den »nächstfolgenden besonderen Blättern« (42v). Die erwähnten fehlenden drei Bogen zwischen dem erhaltenen Text des ersten und zweiten Teils entfielen vermutlich gänzlich auf den Anfang des systematischen Teils. Jäsche schreibt nämlich am Ende des überlieferten ersten Teils (44r), »bevor« er »das Geschäft der Kri­ tik« beginne, wolle er sein »subjektives Glaubensbekenntnis« auf eine »völlig anspruchslose Weise« ablegen, was er dann auch tut (44r–v).

18 Fast 60mal spricht Jäsche Sally in diesem Abschnitt mit »Du« an, weit über 100mal bezieht er sich auf sie mit »Dir«, »Dich« und »Dein*«. In den anderen Teilen des Manuskripts fehlen diese Anreden Sallys; Jäsche zitiert nur zweimal den Satz »Gib mir Deine Hand«, den er bei der nachtodlichen Begegnung zu der verstorbenen Sally gesprochen hatte (32v, 66r). 19 Siehe dazu ausführlich H. Schwenke: »Begegnungen mit Verstorbenen und die Philosophie« (in diesem Band).

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Einleitung des Herausgebers

Philosophische Grundgedanken, Themen und Einflüsse Liebe und Glaube Die Begriffe Liebe und Glaube, die den Titel des Manuskripts bilden, kommen nur im ersten Abschnitt des persönlichen Teils (›Brief an Sally‹, 4r–27r) prominent vor. »Liebe und Glaube« ist für Jäsche die Essenz der Beziehung zwischen Sally und ihm, ihr »gemeinschaftli­ ches Eigentum« (12r). Liebe und Glaube stehen für Jäsche zwar in einem »engen und ewigen Bunde« (5r), jedoch ist in diesem Verhältnis die Liebe grundlegend. Der Glaube wird von der Liebe »erzeugt« (12r), er ist ein »Sohn« der Liebe, »aus ihrem Schoße entsprungen« (5r) und auf sie »gegründet[]« (11v). Die »lebendige Kraft« der Liebe »unterhält« den Glauben (12r), aus der »Quelle« der Liebe »schöpf[t]« Jäsche ihn (26v). Die Liebe, die den Glauben erzeugt, ist eine »nicht phantastisch schwärmerische[], nicht sinnlich körperliche[], sondern idealische[] Liebe« (5r). Sie hat auch die Attribute ›rein‹, ›rein geis­ tig‹, ›himmlisch‹, ›heilig‹, ›unüberwindlich‹ und ›ewig‹. ›Glaube‹ wiederum ist in diesem Zusammenhang vor allem der Glaube »an unsere Unsterblichkeit und eine vollkommene Wiedervereinigung unserer Herzen« (26v). Den Zustand nach Sallys Tod empfand Jäsche allerdings nicht als völlige Trennung. Im Gegenteil fühlte er, dass seine verstorbene Ehefrau ihm »noch näher gekommen« (18v), sogar als »Engel« (19v) mit ihm in einer »neuen, himmlischen Vermählung« (19r) verbunden worden sei. Kritik am ›verjüngten Spinozismus‹ Jäsche gesteht, dass die ihn intellektuell faszinierende »neueste Schulphilosophie«,20 die den »uralten und den älteren eigentlichen Spinozismus […] in verjüngter und verklärter Gestalt auferweck[te]« »auf Augenblicke wenigstens« am Glauben an ein Fortleben hatte »irre« machen können (5v–5r, 10v–11v, 27v–29v). Auch mit diesem neuen ›Spinozismus‹ sei eine Unsterblichkeit der Person nicht verein­ bar; die menschliche »Individualität« werde »vom Meere der Ewigkeit 1815 veröffentlichte Jäsche den ersten Teil der Ansichten des Pantheismus. Darin diskutierte er die »neue Natur-Philosophie, so fern sie sich als solche ipso facto zugleich eine Wissenschaft des Göttlichen nennt« (ebd. 125).

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Philosophische Grundgedanken, Themen und Einflüsse

wie verschlungen« (29r). Vertreter dieser Richtung nennt er nicht, zitiert aber in diesem Zusammenhang Einwände von Jacobi, Köp­ pen und Bouterwek gegen Fichte und Schelling.21 Jäsche konstatiert, dass Gott (auch) in diesem neuen ›Spinozismus‹ kein »moralische[r] Weltgeist[]« und »Schöpfer der Welt« (11r) mehr sei, sondern nur noch das »Urprinzip der Welt«, eine »oberste, aber blind wirkende Weltursache – das fatum der Alten« (72v–73r, vgl. 29r, 33v). Den Zusammenhang zwischen einem weltimmanenten Gott und der Unmöglichkeit menschlicher Unsterblichkeit erläutert Jäsche aller­ dings nicht näher. Möglicherweise geht er von der christlichen Lehre aus, die das Überleben des Todes nicht als etwas Natürliches ansieht, sondern als Gnadenakt eines welttranszendenten, persönlichen Got­ tes. Auch das nachtodliche Schicksal wird für ihn offenbar vom Willen eines transzendenten Gottes, des obersten »moralische[n] Weltgeiste[s]« (33v) und Weltregenten (siehe 60v), bestimmt. 22 Im Manuskript schreibt Jäsche an die verstorbene Sally, »Gott« werde sie beide »durch das Dunkel der Todesnacht retten« und sie sich »wiedersehen und wiedererkennen lassen« (26r). Jäsche kritisiert den neuen ›Spinozismus‹ erkenntnistheoretisch auf der Grundlage der kantischen Philosophie: Dieser versuche mit dem Verstand in das Gebiet jenseits der Erscheinungen – wozu auch die »Geisterwelt« (11r) gehört - einzudringen. Der Verstand sei jedoch an »das Sichtbare, dem bloßen Sinne Gegebene, als den Stoff und die Sphäre seines Denkens, gefesselt« (4v, vgl. 79v). Das »Jenseits der Natur«, das »Übersinnliche[]«, sei hingegen der Vernunft vorbehalten (70r). Mit dem ›räsonierenden‹ (5r–v, 10r, 68v) oder ›vernünftelnden‹ Verstand, der in das Gebiet der Vernunft vorzustoßen sucht, wird sich Jäsche ausführlich in seiner ersten philosophischen Publikation nach Sallys Tod auseinandersetzen.23 Sind (echte) Erscheinungen von Verstorbenen möglich? Auf den erhaltenen Seiten des systematischen Teils schildert Jäsche Fälle ungewöhnlicher Empfindungen und geistiger Leistungen in veränderten Bewusstseinszuständen, wie des »seltsamen Träumens 21 Im zweiten Teil der Ansichten des Pantheismus, 327 bezeichnet Jäsche Fichtes Philosophie als »neue[n] Spinozismus«; vgl. auch ebd. 308. 22 Siehe etwa Jäsche, Grundlinien der Moralphilosophie, 107 (§ 277). 23 Siehe Jäsche, Die Philosophie des vernünftelnden Verstandes, erschienen 1813.

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im wachen Zustande« (47r). Er kommt zu dem Schluss, dass es Zustände der Seele gebe, in denen die Empfindungsfähigkeit über die der »äußeren Sinnlichkeit gesetzten […] Schranken hinaus erweitert« werde, so dass der Mensch Objekte wahrnehmen könne, die sich gewöhnlich der Wahrnehmung entziehen (48v). Eine Erscheinung Sallys sei demnach subjektiv möglich. Aber wäre sie es auch »in objektiver Rücksicht« oder widerspräche dies den »Naturgesetzen und Naturbedingungen« (52r)? Diese Frage ist für Jäsche zentral. Sein philosophischer Übervater Kant hatte Erfahrungen von Verstorbenen (»Geistern«) für unmöglich erklärt. Kant setzte bei seinem Verdikt allerdings fraglos eine völlige Körperlosigkeit der Verstorbenen vor­ aus.24 An dieser Schwachstelle in Kants Argumentation setzt Jäsche an. Es könne zwischen einem völlig körperlosen Geist und einem Geist in einem »menschlichen« (physischen) Körper doch »etwas Drittes« geben, nämlich einen Geist mit einer »feineren körperlichen Hülle« (53v). Er beruft sich dafür auf den Genfer Naturforscher und Philosophen Charles Bonnet (1720–93). Dieser lehrte, im physi­ schen Organismus schlummere bereits der Keim zu einem feineren Organismus, der sich im Augenblick des Todes entwickele (55r–v). Jäsche konstatiert das »Zusammentreffen« dieser Vorstellung mit der christlichen Glaubenslehre, wobei er vermutlich auf die paulinische Lehre vom pneumatischen Auferstehungsleib anspielt (55v).25 Dieser »ätherische Körper« (59r) der Verstorbenen sei grundsätzlich unseren Sinnen zugänglich, wegen deren »Grobheit« jedoch anscheinend nur in »ungewöhnlichen Stimmungen des Nervensystems«, wenn die »Empfindungsfähigkeit […] exaltiert und auf einen höheren, feineren Ton gestimmt ist« (51v). Ein solcher ätherischer Körper könne bereits zu irdischen Lebzeiten die »Wechselwirkung der Seelenkraft« mit dem »gröberen, sichtbaren« Organismus vermitteln (56r–v) und nach dem Tod der (wie jede »Naturkraft« unzerstörbaren) Seelenkraft als Organ für eine »erweiterte und erhöhte Wirksamkeit« in den »hohen ätherischen Lichtregionen«, der »eigentümlichen Heimat« der Seele, dienen (54v, 59r). Jäsche argumentiert, dass die Annahme eines äthe­ rischen Körpers weder »irgendeinem Naturgesetze entgegen[stehe]« noch den »Analogien der Natur [auch: »der Erfahrung]« (d.h. den Prinzipien der Substanzerhaltung, Kausalität und Wechselwirkung) 24 Siehe Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:319–28, 350–52; vgl. auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:519. 25 Siehe 1 Kor 15,35–44; Phil 3,20–21.

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widerspreche (55r, vgl. 57r, 62r). Somit sei eine Erscheinung wie die Sallys auch objektiv möglich. Sie dürfe nicht deshalb als »Faktum« »sofort« verworfen werden, bloß weil sie derzeit »unerklärlich« sei, da die »Einsicht in den Kausalzusammenhang mit seiner Naturursache« fehle (62r). War es tatsächlich eine Erscheinung Sallys? Der phänomenologische Vergleich zwischen dem Erlebnis, das für Jäsche »einzig« unter allen seinen Erlebnissen war, »abgesondert durch seine Eigentümlichkeit« (30r, 33r, 66r), und den ihm aus eige­ ner Anschauung bekannten »mancherlei künstlichen und natürlichen Täuschungen der Phantasie«, stützt seine »subjektive Überzeugung« (66r), dass sein Erleben »eine wirkliche Empfindung und Wahrneh­ mung« war und »keine bloße Einbildung«, keine »Illusion[] der Phantasie« (64v–65r; vgl. 21r–23r, 25v, 33r–v, 43r–v, 49v). Das Erlebnis hatte anscheinend zudem einen so starken intrinsischen Realitätscharakter, dass Jäsche eine unmittelbare »absolute Nötigung durchs Gefühl« verspürte, es als (echte) »Empfindung und Wahrneh­ mung« anzuerkennen (66v). Dies reiche freilich nicht aus, um die Erscheinung im »objektiv-gültigen Sinne […] als Wahrheit« (75r) zu erweisen. Allerdings sei objektive Wahrheit in der Sphäre der Erscheinungen, also im Bereich des menschlichen Verstandes und Wissens, nur ein »allgemeiner und beständiger Schein«, abhängig von den »Prinzipien [… des] geistigen Organismus« des »Menschen überhaupt« (75r–v). Gemeint sind damit wohl solche Prinzipien, die alle Mitglieder der Art Mensch auf gleiche Weise teilen. Genauso gebe es aber auch individuelle »Wahrheit«, die von der besonderen Empfindungs- und Denkweise des Einzelnen abhänge. Die Idee eines persönlichen Wissens neben dem intersubjektiven Wissen deutet sich hier an, wird aber nicht weitergeführt.26 Jäsche lässt das individuelle Jäsche vermeidet es hier also, sich gegen Kant zu wenden, der die Möglichkeit eines persönlichen Wissens ausschließt. Nach dem von Jäsche selbst herausgegebenen Handbuch zu den Logik-Vorlesungen Kants ist Wissen »allgemein und objectiv nothwendig«, »für Alle geltend« ([Kant], Immanuel Kants Logik (1800), AA 9:66). Wenn man persönliches Wissen akzeptierte, könnte man in Hinsicht auf Jäsches Erfahrung mit der verstorbenen Sally argumentieren, Jäsche wisse, dass es im Fall Sally ein Leben nach dem Tod gibt, weil er eine entsprechende Erfahrung mit ihr nach ihrem Tod gemacht hat. Eine andere Person, die diese Erfahrung nicht gemacht hat, 26

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»Fürwahrhalten« nur als »Glauben von bloß individueller Gestalt und Gewicht« gelten (75v). In Kants System gefangen? Jäsche argumentierte gegen Kant, dass eine Erfahrbarkeit von Ver­ storbenen nicht auszuschließen sei, da diese nicht notwendig als gänzlich körperlose Geister vorgestellt werden müssten, sondern über einen subtilen Körper verfügen könnten, der für uns (irdische Men­ schen) prinzipiell wahrnehmbar wäre. Die naheliegende Konsequenz, dass wir also von der nachtodlichen Existenz von Verstorbenen wissen könnten, zog er jedoch nicht. Offenbar hielt er an Kants Lehre fest, dass im Hinblick auf eine nachtodliche Existenz nur Glaube möglich ist. Weil die Quelle dieses Glaubens nach Kant aber »bloß reine Vernunft«27 und eben nicht Erfahrung ist, kann sich dieser Glaube nur auf die Idee des Fortlebens im allgemeinen Sinne beziehen, und nicht auf ein konkretes Erlebnis mit einer bestimmten verstorbenen Person. Jäsche schien somit dem kantischen System zu sehr verhaftet zu sein, um seinem Erlebnis mit der verstorbenen Sally erkenntnistheoretisch gerecht zu werden können. Das Vorbild von Friedrich und Margareta Klopstock Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) hatte ein ähnliches Schick­ sal wie Jäsche erlitten. Seine kongeniale erste Ehefrau, Margareta (genannt Meta), geb. Moller (1828–58), war ihm bei der Geburt des ersten Kindes gestorben. Von Klopstock zu Jäsche führt eine persönliche Traditionslinie. Klopstocks Verehrer und Freund Gottfried Benedict Funk (1734–1814)28 nahm großen Anteil an Margaretas Tod. Funk wiederum war Lehrer von Karl Morgenstern, einem der engsten Freunde Jäsches und sicherlich dessen engster Vertrauter in Bezug auf hätte dieses Wissen nicht. Für den Kant der Jäsche-Logik hingegen könnte es erst dann ein Wissen vom Leben nach dem Tod geben, wenn »wir Alle wüßten, daß es ein anderes Leben nach diesem giebt« ([Kant], Immanuel Kants Logik, AA 9:66). 27 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA 5:126. 28 Der Pädagoge Gottfried Benedict Funk (1734–1814), war ab 1756 Hauslehrer in Kopenhagen, wo er mit Klopstock bekannt wurde, ab 1769 Subrektor, ab 1771 Rektor der Domschule zu Magdeburg, ab 1785 Konsistorialrat (siehe K. Janicke, »Funk, Gottfried Benedict«, in ADB 8:201–202).

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den Tod von Sally. Morgenstern übernahm von Funk die Verehrung Klopstocks. Er hielt 1806 einen großen Vortrag über Klopstock an der Universität Dorpat. Jäsche dürfte unter den Zuhörern gewesen sein. Morgenstern las Jäsche am Tag von Sallys Begräbnis einen Brief von Funk an Klopstock aus Margareta Klopstocks Hinterlaßnen Schriften vor.29 Möglicherweise hat Morgenstern den Band seinem Freund Jäsche zeitweise überlassen. Daraus könnte dieser die Idee für den Leitspruch auf dem für Sally und ihn selbst konzipierten Grabmal entnommen haben. In den Hinterlaßnen Schriften wird auch die Idee eines ätherischen Leibes erwähnt,30 der für Jäsche eine große Rolle in seiner Argumentation gegen Kant spielt. Jäsches Vorstellung, dass die verstorbene Ehefrau sein Schutzengel ist, findet sich ebenfalls dort,31 desgleichen die Vorstellung der Verlobung mit der verstorbenen Ehefrau als einem Engel,32 ein Gedanke, der bei Jäsche sehr ähnlich als zweite Vermählung mit Sally, diesmal als Vermählung eines Menschen mit einem Engel vorkommt (19r–v). Schließlich spielt das für Jäsche essenzielle Motiv des Wiedersehens mit der verstorbenen Ehefrau bei Klopstock eine entscheidende Rolle, besonders prominent in der von Jäsche zitierten Ode Das Wiedersehn (14v).

29 Es handelte sich hier um den Brief von Funk an Klopstock vom 18. Dezember 1758 ([F. G. Klopstock, Hg.], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, Hamburg: Bohn 1759, LXIV–LXXIV [= HKA Briefe III:117–123]). 30 Siehe ebd. LXXVIII. 31 Siehe ebd. XXXXV, 38. 32 Siehe ebd. XXXX.

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Verzeichnis der Schriften von Gottlob Benjamin Jäsche (Auswahl) [Anonym], »Versuch einer Untersuchung der Frage: Kann reiner Naturalismus Volksreligion werden?«, in Berliner Journal für Aufklärung 2 (1789) 201–40, 3 (1789) 27–60 [Anonym], Ueber reinen Naturalismus, und positive, insonderheit christliche Religion und deren Verhältniß zur Volksaufklärung, Berlin: Akad. Kunst- und Buchhandlung 1790 »Idee zu einer neuen systematischen Encyklopädie aller Wissenschaften«, in Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hg. von F. I. Niethammer, 1 (1795) 327–72 »Über die drey Grundvesten des modernsten Empirismus einer phantasirenden Vernunft, Raum, Zeit und Kraft«, in F. T. Rink (Hg.), Mancherley zur Geschichte der metacritischen Invasion; nebst einem Fragment einer ältern Metacritik von Johann Georg Hamann, genannt Magus des Nordens, und einigen Aufsätzen, die Kritische Philosophie betreffend, Königsberg: Nicolovius 1800, 57–119 Immanuel Kants Logik: ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von G. B. Jäsche, Königsberg: Nicolovius 1800 Geschichte und Beschreibung der Feyerlichkeiten bey Gelegenheit der am 21sten und 22sten April 1802 geschehenen Eröfnung der neu angelegten Kayserlichen Universität zu Dorpat in Lievland, Dorpat: Grenzius [1802] Grundlinien der Moralphilosophie oder der philosophischen Rechts- und Tugend­ lehre. Nach Kants Metaphysik der Sitten entworfen, Dorpat: Grenzius 1804 Liebe und Glaube: Morgengedanken / An meine Sally, die Verklärte (Unveröffent­ lichtes Manuskript, begonnen 1808) »Die Philosophie des vernünftelnden Verstandes im Gegensatze gegen die Philosophie des Verstandes und der Vernunft«, in Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, hg. von K. Morgenstern, Bd. 1, Dorpat: Grenzius 1813, 1–64 »Ansichten des Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen« [Teil 1], in Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, hg. von K. Morgenstern, Bd. 2, Dorpat: Grenzius 1815, 125–85 Einleitung zu einer Architektonik der Wissenschaften; nebst einer Skiagraphie und allgemeinen Tafel des gesammten Systems menschlicher Wissenschaften, nach architektonischem Plane. Zunächst zum Gebrauch für seine encyclopädischen Vorlesungen, Dorpat: Schünmann 1816 Grundlinien zu einer Architektonik und systematischen Universal-Encyclopädie der Wissenschaften. Zunächst zum Gebrauche academischer Vorlesungen entworfen, Bd. 1, Leipzig: Kummer 1818 »Über ein neues Krypto-Identitätssystem in der Form einer durch die Logik versuchten Begründung der Philosophie«, in Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, hg. von K. Morgenstern, Bd. 3, Dorpat: Grenzius 1821, 1–25

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Verzeichnis der Schriften von Gottlob Benjamin Jäsche (Auswahl)

»Ansichten des Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen« [Teil 2], in Dörptische Beyträge für Freunde der Philosophie, Litteratur und Kunst, hg. von K. Morgenstern, Bd. 3, Dorpat: Grenzius 1821, 267–332 Grundlinien der Ethik oder philosophischen Sittenlehre. Zunächst zum Gebrauche academischer Vorlesungen entworfen, Dorpat: Sticinski 1824 Kurze Darstellung der reinen Vernunftreligion. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen über die Religionsphilosophie aus W. T. Krug’s philos. Handbuche ausgezogen, Dorpat: Schünmann 1825 Der Pantheismus nach seinen verschiedenen Hauptformen, seinem Ursprung und Fortgange, seinem speculativen und praktischen Werth und Gehalt. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik dieser Lehre in alter und neuer Philosophie, 3 Bde., Berlin: Reimer 1826, 1828, 1832

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Einleitung des Herausgebers

Editorische Notiz Die Transkription von Liebe und Glaube erfolgte anhand des öffentlich zugänglichen digitalen Faksimiles der Universitätsbibliothek Tartu (http://hdl.handle.net/10062/27732, besucht 29. März 2022). Die Korrekturen und Überarbeitungen des Manuskripts mit Bleistift wur­ den übernommen, da vermutet wurde, dass sie von Jäsche selbst stammen. Der besseren Lesbarkeit willen wurde die Rechtschreibung modernisiert, ebenso die Zeichensetzung. Obsolete Ausdrücke und Formen wurden überwiegend beibehalten. Abkürzungen wurden aus­ geschrieben, kleine Flüchtigkeitsfehler stillschweigend korrigiert. Größere Eingriffe wurden im Endnoten-Apparat vermerkt, ebenso Hinweise auf unleserliche Worte, durchgestrichenen Text, andere Lesarten und Text am Seitenrand. Hinzufügungen wurden in Spitz­ klammern gesetzt, unsichere Entzifferung mit [¿] gekennzeich­ net, eine fehlerhafte Schreibweise im Originaltext mit [sic].

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1r

Morgengedanken An meine Sally, die Verklärte.

»Wahrhaft über sich selbst erhebt den Menschen denn doch nur sein Herz, welches das eigentliche Vermögen der Ideen – der nicht leeren – ist.«2 Friedrich Heinrich Jacobi. (Angefangen im Februar 1808)

|| Unsre Grabschrift

1v/2r

Pyramide3

Über unserem Grabe werde eine errichtet, mit den Symbolen der Liebe und des Glaubens geziert, und darauf folgende Inschrift gezeichnet: Auf der einen Seite: Heilige Stätte! Wo wir, Du, meine Sally, und ich, Dein Jäsche, ruhn! – Saat, von Gott gesäet, Dem Tage der Garben zu reifen.4 Auf der anderen Seite: Wir liebten uns! Mocht’ auch dies Leben schwinden; – Die Liebe hüllt das Grab nicht ein. Wir lieben uns! Und werden dort uns finden, Und stets vereint und selig sein.5

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Liebe und Glaube

Auf der dritten Seite Sally Jäsche, geborne Straker, aus Newcastle in England,6 | gestorben zu Dorpat, den 7ten Februar 1808, in einem Alter von etlichen 30 Jahren.

2v

An ihrer Seite der treue Gatte und Freund Gottlob Benj. Jäsche, Weiland Lehrer der Weltweisheit auf der Kaiserl. Hohen Schule zu Dorpat; Jetzt Schüler einer höhern Weisheit auf einer höhern Schule. geb. zu Wartenberg in Schlesien den 15ten Juli7 1762 gestorben den .... ||| I Von Liebe sollt ich, müsst’ ich einmal schreiben, sagtest Du öfter zu mir, himmlische Seele! wenn in den schönsten Momenten unseres einen Lebens; – in den seligen Stunden der Weihe des traulichsten Seelengenusses, wir den Einklang unserer Herzen mit unaussprech­ lichem Wonnegefühl vernahmen; wenn ich Dich meine Sally, Du mich Deinen Jäsche nanntest, in einem Sinne des Worts, der unseren Herzen nur in seiner ganzen Fülle und in seinem ganzen Umfange klar und fasslich sein konnte. – Was ist die Liebe! tönte es dann rein und laut aus dem Innern – Was ist die Liebe! diese köstliche Gabe des Himmels, dieses reine ätherische Gefühl, dessen Wurzel zwar, als Liebe des Geschlechts, von Erde ist und an dem irdischen, vergänglichen Teil – das Tier im Menschen – befestiget , dessen Blüte und Frucht aber zum Himmel aufsprosst und gen Himmel sich emporringt, weil das Licht des Geistes und die Wärme des Herzens im Menschen den Engel in Tiergestalt – die herrliche Pflanze veredelt und zur Reife bildet und vollendet. 4v | Ja, von dieser Liebe will ich, kann ich schreiben, Deinem Wunsche und Deinem Willen gehorchen, das heißt, das heißeste Bedürfnis und die dringend Forderung des eigenen Herzens befriedigen. Mein Mund wird beredt sein als bei dem, wovon das Herz so voll ist,8 das die Seligkeit dieser Liebe geschmeckt (genossen) hat. O möchte ich mit unauslöschlicher Flammenschrift die Züge des reinen, heiligen und unvergänglichen Gefühls auf diese Blätter

3r/3v/4r

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zeichnen, und so dem Buchstaben und dem toten Bilde den lebendi­ gen Geist einhauchen. Umschwebe mich, verklärter Geist meiner Geliebten – heiliger und ewiger Schutzgeist9 meines Lebens, dass ich Deine Nähe empfinde; mit den Augen meines Geistes Dein Bild erblicke und dass ich das Anschauen des Lichtglanzes Deiner überirdischen Gestalt den Geist und das Herz über die niedere Sphäre der Sinnlichkeit höher emporhebe, und ihn10 ganz die Seligkeit jener reinen idealischen Liebe reiner und gültiger empfinden lasse, von der wir hier im Leben, da unsere Seelen noch durch das irdische Organ vereiniget waren, einen so süßen Vorgeschmack genossen haben. So werde ich Dich reine, hier im Leben schon so reine himmlische Seele! nach Deiner Art lieben, in Deinem Sinne und mit Deinem von Begierde ungetrübten, durch Tugend und Religion geheiligten Gefühl der Liebe, das Du in mein Herz gepflanzt und womit Du meine Emp­ findungen so geläutert und veredelt hast. Von der ätherischen Flamme dieses Gefühls belebt und erwärmt, werde ich es mit Begeisterung sagen können, was Du mir wurdest und warst und noch bist und – o der tröstlichen Hoffnung! – ewig sein wirst, meine, hier und in der Ewigkeit meine Sally! | Heil mir und Trost! dass ich dieses Glaubens mit einer Zuver­ 5r sicht lebe, die alle Zweifel des bloßen Sinnes und Verstandes so mächtig und siegreich niederschlägt. Von diesem Glauben nun will und muss ich auch reden; denn er steht mit jener Liebe, welcher der Gott der Liebe unsere Seelen geweiht und wozu Er unsere Herzen durcheinander gebildet, in einem engen und ewigen Bunde. – Er11 ist ein Erzeugnis – ein Sohn dieser Liebe, aus ihrem Schoße entsprungen, wie die Kinder der physischen Liebe vom Manne gezeugt, aus dem Schoße des Weibes hervorgehen. – Das Licht dieses Zusammenhan­ ges zwischen einer – nicht phantastisch schwärmerischen, nicht sinnlich körperlichen, sondern idealischen Liebe – in der wahren Bedeutung des Wortes, – ist Dir, verklärte Seele! nun schon in seiner völligen Klarheit aufgegangen. Ach! schön und hell leuchtete Dir dieses himmlische Licht schon auf Deinen irdischem Lebenspfade, wenn auch ja zuweilen die Nebel banger Zweifel, im Schoße einer getrübten Phantasie erzeugt, oder vom räsonierenden Verstande12 entsponnen[¿], der, weil er nur an das Sichtbare, dem bloßen Sinne Gegebene, als den Stoff und die Sphäre seines Den­ kens, gefesselt ist, solche Knoten zwar zu schürzen, aber nicht zu lösen vermag – wenn die Nebel solcher Zweifel jenes tröstliche Licht Dir verdunkeln wollten. In solchen Augenblicken trat meine

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Vernunft, die durch eigenes Denken und Prüfen das leere Nichts solcher | Zweifel durchschaut und die Nichtigkeit alles Sprechens und Entscheidens der Spekulation und des räsonierenden Verstandes über Dinge, deren Reich nicht von dieser Welt ist, nach Anerkennung der Grenze menschlicher Einsicht und Wissenschaft, wie der neuere Sokrates,13 mein unsterblicher Lehrer und Führer auf dem Wege der Wissenschaft, der menschlichen Vernunft diese Grenzen so deutlich und bestimmt angewiesen – meine14 unerschrockene, gegen solche Zweifel und Verwirrungen gewappnete Vernunft trat, vom Gefühl mächtig unterstützt, in solchen Augenblicken mit Deinem eigenen, kindlich gläubigen Gefühl in einen Bund gegen jene Feinde und Störer der Ruhe des Geistes und Herzens. Die Vernunft – nicht die räsonierende meine ich, – und das Gefühl siegten, und wir bewahrten immer fester und tiefer im Herzen den heiligen, köstlichen Schatz, den Sinn und Verstand und eine nur dem Sinne und Verstande dienstbare Phantasie Dir und mir zu entreißen drohten. – Noch denke ich mit dankbarer Rührung des wohltätigen kräftigen Eindrucks, den die Verheißungen des Glaubens, die die Religion gibt, auf Dein Herz machten, als ein Todesbote, von Deinem Mutterlande übers Meer herüberkommend, Dir die Schrecken und Betäubung erregende Nachricht von dem Hingange der geliebten Eltern in die bessere 6r Heimat verkündigt hatte.15 Wie das Leben, so | hatte der Tod die Unzertrennlichen vereiniget. – Sie waren zusammen gegangen. Nur um wenige Wochen früher die Mutter – ein Opfer treuer, sich selbst vergessender, dem kranken, pflegebedürftigen Gatten sich ganz hin­ gebender Liebe und Sorge; – und bald darauf war der Vater der treuen Lebensgefährtin, der zärtliche, verwaiste Gatte der Gattin in die Ewigkeit nachgeeilt, um allda den neuen Bund einer heiligen und ewigen Liebe mit einander zu schließen,16 nachdem die Glücklichen hienieden – schönes, bewundernswertes Los! – ihre Bestimmung erreicht, die geliebten, ihrer würdigen Kinder erzogen, sie durch Lehre und Beispiel zur Gottesfurcht und Tugend, zum Segen für die Welt und sie selbst gebildet, und nun in stiller Eingezogenheit17 aus der Welt zurückziehend, durch fromme Empfindungen und Gesinnungen der Geduld, Ergebung und Hoffnung, beruhiget im Herzen und Gewissen durchs Bewusstsein der treuen Berufser­ füllung, für ihre höhere Bestimmung zur Ewigkeit sich vorbereitet und reif gemacht haben. Ach! nur Ein sehnsuchtsvoller Wunsch war dem zärtlichsten Mutter- und Vaterherzen unerfüllt geblieben: der Wunsch, die geliebte, jüngere Tochter, deren Geschick sie längst aus

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der väterlichen Heimat und dem Schoße der Familie entfernt hatte und seit Kurzem, durch die engsten Bande an Gatten und Kinder gebunden, noch weiter und fester entfernt hielt, noch einmal im Leben wiederzusehen. Aber die unbefriedigte Sehnsucht besänftigte der gewisse Gedanke, dass der Himmel sie glücklich als Gattin und als Mutter glücklich gemacht hatte; – das holde himmlische Weib – | das so ganz dazu geschaffen und berufen war, als Gattin den 6v Gatten, als Mutter die Kinder glücklich, für diese und die künftige Welt vollkommener und glücklicher zu machen. Und dann – den teuren Eltern, die für’s Leben nur den einen Wunsch noch zu haben schienen, sollte ja dieser Wunsch auch in kurzem erfüllt werden. Denn auch die kindliche Liebe sehnte mit Inbrunst sich nach der Wonne des Wiedersehens der geliebten Eltern und nach dem Empfange ihres letzten frommen Segens für sich, den Gatten und die Kinder; – die schwesterliche Liebe nach den Umarmungen der Schwester, der Brüder und der teuren Verwandten. Die erfreuliche, so nahe und gewiss gehoffte Aussicht ward ihnen von uns geöffnet. Und bald sollte alles zu einer Sommerreise nach England für den nah bevorstehenden Frühling vorbereitet werden. Welche süße, schöne Träume träumtest Du da mit mir von der Wonne des Wiedersehens, vom Entzücken der Eltern über dies Wiedersehen der Tochter als glücklicher Gattin und Mutter (an der Hand des Gatten und auf dem Schoße ihren teuren, erstgeborenen Liebling erblickend) – von ihrer Freude über die erste persönliche Bekanntschaft mit dem Mann an der Seite ihrer Tochter, wenn er mit frommer Rührung des Herzens Gott und ihnen | für das 7r holde Weib, das sie ihm gezeugt und zur treuen Lebens Gefährtin wie zur Erziehung für den Himmel ihm gebildet, den lauten und innbrünstigen Dank sagen würde. Und von ihrer kindlichen Freude über den Anblick des holden, munteren Knaben, unseres erstgebore­ nen Lieblings Richard Emanuel;18 – und von den lehrreichen und interessanten Stunden des Umgangs und der Unterhaltungen mit dem Vater, dem klugen, welterfahrenen Seemanne,19 der aus dem Leben selbst Lebensweisheit geschöpft und für die höheren Zwecke des Lebens wieder benutzt – durch Leben und Schrift den Geist gebildet und mit vielseitigen Kenntnissen der Welt und des Menschen bereichert, – auch den Kunstsinn für’s Schöne und Nützliche geschärft und praktisch geübt hatte, durch eigene Kraft und durch eigenen Trieb dazu gereizt und geleitet. Aber ach! Die Wonne des Wiedersehens der teuren Eltern noch im Leben sollte Dir nicht werden, und auch mir sollte das Glück nicht vergönnt sein, die Teuren zu sehen und für das

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köstliche Geschenk des Himmels ihnen zu danken. Ach! Dir selbst wäre dennoch diese Freude zu Teil worden, Du hättest die lange zuvor im Busen so tief und lebendig gefühlte Sehnsucht befriedigen können, wenn nur das Herz des Gatten es über sich vermocht hätte, sich den Eingebungen Deines eigenen Genius auch nicht durch Wunsch, durch Bitte und Klage zu widersetzen, sondern Dich ungehindert Deinen ernsten und festen Vorsatz, zwei Jahre früher, als es nachher wirklich geschah,20 aber an meiner Seite, . 7v | Aber das vermochte dieses Herz nicht. Und doch musste es nicht lange darauf sich in das Schicksal einer kurzen Trennung erge­ ben; – der Gatte musste die Gattin in ihrem Mutterlande zurücklassen und allein ohne sie übers Meer nach der Heimat im entfernten Norden in den Kreis der Berufspflichten zurückkehren. Und jetzt – ach! jetzt – so ist’s der Wille und Ratschluss der Vorsehung – muss das zermalmte und geteilte, von seiner besseren Hälfte getrennte Herz den Schmerz der letzten, aber doch auch vielleicht nur kurzen Trennung ertragen. Aber es muss diesen Schmerz nicht nur¸– es kann und will ihn auch ertragen, das kindlich gläubige Herz mit reli­ giöser Geduld und Ergebung, erheitert und gestärkt durch denselben Glauben, der Dich, fromme, gläubige Seele! erheiterte und stärkte, als jene Todesbotschaft mit dem Zurufe des letzten Lebewohls der unvergesslichen Eltern das kindliche Herz so gewaltsam erschütterte, gleich zwei gewaltigen Donnerschlägen, die plötzlich und Schlag vor Schlag aufeinander folgten. Ach! noch höret das erschreckte Ohr des für die Ruhe und Gesundheit, für das Leben der Gattin in Angst und Bangigkeit versetzten Gatten den lauten Schrei, den das heftige Schmerzensgefühl des in seiner Tiefe bewegten und in Aufruhr gesetzten kindlichen Herzens ausstieß; – sehe mit stummem und bangem Gefühl der Teilnehmung das geliebte Weib in den Zustand der Betäubung und Ermattung versunken, höre nach ihrem Wiedererwachen aus der Ohnmacht die von Tränen der Wehmut begleiteten Seufzer und Klagetöne der so zart und tief Fühlenden, 8r | um den Verlust der teuren, unvergesslichen Beiden . »Ach! dass ich sie nicht schon noch einmal und zum letztenmal wiedersehen, der Vielverehrten nicht dies Opfer der dankbaren kind­ lichen Liebe bringen und ihnen selbst die Freude des Wiedersehens – die lang ersehnte und gehoffte – machen sollte, nach deren Genuss die Lebensmüden, Pilger nahe am Ziele ihrer Reise durch’s Leben, mit dankbarer Empfindung hätten ausrufen können: Herr! nun lass in Ruh und Frieden nach der Heimat – der besseren, bleibenden – uns

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hingehen, nachdem Du die frommen Wünsche unseres Herzens und unsere schönsten, auf das höhere Glück der geliebten Kinder gerichte­ ten Hoffnungen alle erfüllt, auch unser letztes Gebet noch erhört hast: – Wir haben die Tochter, die Geliebte, die Beglückte, gesehen, und zum letztenmal sie noch segnen können. – So klagte das gebeugte, verwaiste Herz der Tochter. Aber in diesen Stunden tiefer Trauer erhob sich auch das fromme, gläubige Herz von der hingeschwundenen Aussicht des Wiedersehens im Leben zu der tröstlichen Zuversicht des Wiedersehens in der Ewigkeit. O seid mir gesegnet, auch jetzt insbesondere gesegnet, heilige und selige Stunden, in denen wir gemeinschaftlich durch die Verheißungen alle, die die Religion des reinen Herzens und des guten Lebenswandels gibt, den trüben Geist erheiterten, und das Herz stärkten, trösteten. Wie wir uns da gemein­ schaftlich erbauten aus den Schriften älterer und neuerer Gotteslehrer und Propheten, die aus dem Geiste und Herzen zum Geiste und Herzen reden, den Geist durch hohe Gedanken über die Natur und das Herz durch Belebung überirdischer Gefühle und Ahnungen der Heiligen und Höchsten über jede niedrige Begierde erhaben. | Wie wir, mit dem Geiste und Herzen am Grabe der Eltern, dem 8v unsterblichen, gott- und messiasbegeisterten Dichter sein religiöses Helden- und Siegeslied: »Auferstehn, ja auferstehn wirst Du, mein Staub, nach kurzer Ruh; Unsterblich Leben wird, der Dich schuf, Dir geben, Halleluja!«21 – und andere seiner hohen, Gott und dem Mittler22 und der Unsterblichkeit geweihten, Lieder nachsangen, erhabene Gesänge, die das Gefühl des Ewigen und Unvergänglichen so kräftig beleben. Und wie auch der fromme Dichter Gellert23 mit seinem reinen und lebendigen Sinne für Tugend und Religiosität die Saiten unserer Herzen zu sanften und reinen Harmonien stimmte, uns die Aussichten in die Ewigkeit24 erhellte und einen Vorgeschmack von den Seligkeiten des Himmels empfinden ließ beim Gesange seines herrlichen aus jener Quelle[¿] geflossenen Trostliedes: »Nach einer Prüfung kurzer Tage erwartet uns die Ewigkeit«.25 Wie wir da, den erhellten und erheiterten Blick über Tod und Grab auf die Ewigkeit gerichtet, den ernsten Zuruf des frommen Mannes zu Herzen nahmen und im tiefen Herzen bewahrten: »Lebe, wie Du, wenn Du stirbst, wünschen wirst gelebt zu haben«.26 Und wie endlich in diesen Feier­ stunden der Nacht auch der geistvolle religiöse Redner Reinhard27 uns erbaute, mit seiner den moralischen und religiösen Sinn so vernehmlich und nachdrucksvoll ansprechenden Rede: »Auf welche

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würdige Weise man das Andenken seiner verewigten Geliebten und Freunde feiern müsse.«28 – – Solche Betrachtungen – solche Empfindungen der Andacht und 9r der hohen | religiösen Begeisterung erheiterten die durch düstere Bilder des Todes und des Grabes getrübte Phantasie, wiegten die Aufgeschreckte in sanften Schlummer ein, indem sie dem Geiste Licht, und dem Herzen Ruhe gaben. – Du schliefst nun einen ruhigen, erquickenden Schlaf. Und wenn Du dann heiter und gestärkt am Mor­ gen erwachtest und wir uns den freundlichen Morgengruß boten: da sprachen wir, öfter und zuversichtlicher als je zuvor, auch von unserm gemeinschaftlichen Zusammengehen nach dem Beispiele der Eltern, wenn wir auch unser Tagewerk verrichtet; unsere Kinder erzogen, auch für die Welt nicht umsonst gelebt hätten. Ein schöner, dem Wunsche und Bedürfnisse unserer Liebe so willkommener Traum, den wir jetzt öfter und lebhafter, als je zuvor träumten. Ach! es ahndete dem wünschenden und hoffenden Herzen des Gatten, der allzu sicher dem Scheine und dem gewohnten Naturgange der Dinge vertrauend, damals so wenig, dass die jüngere Gattin mit der frisch blühenden Rosenwange, mit dem stärkeren Körperbau und dem kraftvolleren Leben; – noch im Sommer ihres Lebens, ehe der Herbst herannahte, in dem sie erst die Früchte ihres rastlosen und uneigennützigen, mit so mancher Sorge und Beschwerde verbundenen Schaffens und Wirkens für den Mann, die Kinder und die Freunde hätte brechen und genießen können – schon die Vollendete sein sollte. Er dachte 9v vielmehr und gewisser an sein früheres | Hingehen, wenn er seine schon grau gewordene Locke betrachtete und beim Gefühl einer zwar nicht kränkelnden, aber doch von Natur zarten und schwachen,29 und durch so manche Mühen und Sorgen, so manchen Aufwand von Anstrengungen und so manchen inneren Gram und Kummer im früheren Leben noch mehr geschwächte Lebenskraft, die Reihe der durchlebten Jahre in der Herbstzeit seines Lebens überzählte. Doch der liebende Gatte bedachte nicht, dass er damit der Gattin das schwerste Los – das Los des Zurückbleibens mit den verwaisten Kindern würde bereitet haben. Auch achtete er nicht der sicheren Ahnungen der Gattin, deren Wahrsagegeist ihm öfter so manche Bilder der Zukunft wahr und lebendig vor die Seele stellte, und manche bange Vorgefühle in ihm erweckte. Und nun – Ach! nun sind sie doch in die Wirklichkeit getreten, diese Bilder einer die Zukunft vorbildenden Phantasie; eingetroffen sind Deine Ahnungen, wenn Du zuweilen im Geiste schon und im Vorgefühl der Zukunft von

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jenen Höhen herab, auf denen Du, Verklärte! nun wandelst, mich mit unseren Kindern allein, einsam und verlassen und Dich – mich selbst, mein anderes, besseres Ich – überall, aber vergebens suchen und dann in stummen tiefen Schmerz und Trauer hingesunken sahst. – Aber Du kanntest auch die Kraft meines Glaubens, des Glaubens, worin ich Dich durch Erhebung Deines Geistes über die Natur bestärkte, so wie Du mich darin durch Deine | reine himmlische Liebe und durch 10r Belebung jedes höheren und unvergänglichen, damit verwandten Gefühls, gestärkt hast. – O des göttlichen Glaubens, dessen ersten Funken der gläubige Vater, ein Priester der Religion durch Lehre und Beispiel, in des Sohnes junger Seele entzündet,30 dessen tief und ursprünglich in den Geist und das Herz des Menschen gelegten Keim die treue väterliche Pflege früh schon zu entwickeln und auszubilden suchte. Und diesen Glauben hat das eigene Leben nicht verdrängt oder geschwächt, sondern vielmehr erhalten und gestärkt; – nicht ertötet und entkräftet, sondern immer nur noch wirksamer und lebendiger gemacht. Die Wissenschaft und die Spekulation konnten dem nach Wissen und Einsicht begierigen und forschenden Schüler nicht nehmen, was sie ihm nicht gegeben hatte und nicht geben konnte. Glücklich genug, dass ihm die Wissenschaft und die Spekulation nur die Irrtümer und Zweifel zerstören half; – die Wahrheit selbst, die ewige, aber dem menschlichen Wissen unzugängliche, und den Glauben an dieselbe, der, wie der Friede Gottes, höher ist denn alle menschliche räsonie­ rende Vernunft,31 verdankt er dem inwendigen, gewissen Geiste und dem Herzen durch die Offenbarungen seines eigensten innersten Lebens. Was ihm die Wissenschaft nur als Idee und als Ideal ohne gehaltvolle Bedeutung in der bloßen Form des Wissens vorzeichnete, über dessen Realität hat ihm das eigene Leben durchs Leben gleichsam die Handschrift und das Siegel gegeben. Er hat die Überzeugung des Glaubens an diese Realität nur aus den Tiefen des eigenen Geistes und Gefühls schöpfen können. – Und darum, weil meine Philosophie | ihre Grenze als Wissenschaftslehre32 anerkennt und – mit dem 10v geistvollen Jacobi zu reden – dem durch philosophische und rein menschliche Denkart mit mir Verwandten – den Standpunkt der Spekulation nicht für den höchsten ansehen kann,33– darum schämt sie sich auch jenes Glaubens nicht, will das Bekenntnis, auch eine Glaubenslehre zu sein, nicht verleugnen, sondern rühmt sich dessen vielmehr mit selbsteigenem Beifalle und mit stolzer Freude. Nicht, als ob sie selbst aus dem Wissen und durchs Wissen diesen Glauben

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zu erzeugen vermöchte und darum sich eine Glaubenslehre nennen könne; wohl aber, sofern sie den Glauben, dessen tiefe Wurzeln im Geiste und Herzen des Menschen selbst liegen, gegen seine Wider­ sacher, den Unglauben wie den Aberglauben und den Fanatismus, zu schützen und in seiner unverfälschten Lauterkeit und Klarheit zu erhalten, die Kraft und den Beruf hat.34 – Die Metaphysik, sagte Kant – diese eigentliche Philosophie, ist zwar nicht die Mutter der Religion, aber doch ihre Schutzwehr.35 Aber die Treulose hat öfter ihre Waffen gegen die Heilige gekehrt, die sie verteidigen sollte. – Und jetzt – welche Zeichen der Zeit! Ist nicht die neueste Schulphilosophie36 in einen Bund getreten zugleich mit dem Unglauben und dem Aber­ glauben gegen den Glauben, der Menschheit köstlichstes Kleinod, in dem sie mit dem Dämon einer alles wahre Leben und Sein töten­ den spekulativen Zauberkraft das An-sich-Nichts zum Ersten und Höchsten erhoben, die Geisterwelt in eine bloße Gespensterwelt37 und Gott selbst, den höchsten Geist und die Urquelle alles geistigen und moralischen, wie allen physischen Lebens, in ein bloßes Gespenst verwandeln will.38 Sie, die alles, was die Persönlichkeit erhebt, – wie der würdige Schüler und Geistesverwandte Jacobis Friedrich Köp­ pen,39 mit Wahrheit und Kraft sich ausdrückt – die den Glauben an 11r Freiheit,40 an Gott als einen Geist ist | und als den Schöpfer der Welt, – den Glauben an eigene und fremde Persönlichkeit (sowie an eine ewige Fortdauer und Erhöhung des geistigen Lebens und Seins mit Bewusstsein der Persönlichkeit –) für kein Erheben sondern für ein Niedersinken, eine in sich grundlose Ehrenrettung des Scheins hält und dagegen eifert.41 Aber solange die Menschheit noch wahre sittli­ che Energie besitzt, wird sie den Wirkungen einer solchen Philosophie widerstehen, und sich den Glauben an Gott und den eigenen Geist (so wie an das fortdauernde und fortschreitende, mit persönlichem Bewusstsein begleitete Leben und Wirken desselben jenseits dieser Welt der Erscheinungen) nicht aus dem Herzen reißen lassen.«42 Und diesen Glauben, der Menschheit so teuer und wert, ihr zu bewahren, seine göttliche Würde und Herkunft, seine Wahrheit anzu­ erkennen, und ihm zu huldigen, dazu fühlt auch mein philosophischer Genius seinen hohen Beruf, der inneren Stimme des Geistes und des Herzens gehorchend. – Mein Blick richtet sich bei diesen, wie bei jedem hohen Gedanken der Seele und bei jedem idealischen Gefühle des Herzens, hinauf zu Dir, verklärte Freundin dieses Glaubens! Was mir Deine ungeteilte Achtung und Liebe gewann, sie erhielt und von Tag zu Tag erhöhte, war nicht der Kopf an mir, sondern das

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Herz. Du gabst ja die Hand und das Herz Deiner Liebe nicht dem Gelehrten, nicht dem spekulativen Denker, sondern dem Menschen. Und wie es Dir im Fortgang unseres gemeinschaftlichen Lebens, Wirkens und Duldens je länger, je klarer wurde, dass der Mensch mit seinen höheren Trieben und Bedürfnissen über den kalten Denker die Oberhand in mir behaupte, dass ich lieber bereit war,43 diesen44 hinzuopfern und Preis zu geben; dass die Liebe stärker in mir sei als jedes andere Band und mächtiger wirke als die Triebe einer eitlen Ehr- und Ruhmsucht oder nach Gewinn des Zeitlichen; – und der Glaube an das Heilige und Ewige | unendlich teurer 11v und werter sei als alles gelehrte und bloß spekulative Wissen um Dinge dieser Welt, so wie das Streben nach Weisheit die höhere und wichtigere Angelegenheit als das Ringen und Trachten nach bloßer Klugheit und Schulwissenschaft; – als Du dies, sage ich, immer mehr inne wurdest und werden musstest: da fühlte sich auch Dein Herz immer näher und stärker zu dem meinen hingezogen, fühlte durch unüberwindliche Liebe und einen auf diese unüberwindliche Liebe gegründeten unüberwindlichen Glauben, zur vollkommenen Eintracht sich vereinigt. – – – Liebe also und Glaube! Das war »das Heiligste, was unsere Geister und Herzen tiefer und tiefer gefühlt, fester und fester ver­ band«45 und noch heute vereint – und auf ewig fester und fester vereinigen wird. Was Dir, verklärte Freundin meines Geistes und Herzens, vielleicht jetzt schon in Deinem nunmehrigen Stande der Erlösung durch Schauen zur genügenden Gewissheit geworden, das kann freilich für mich, solange ich in diesem Leibe hienieden noch walle, nur Glaube sein. Aber es ist ein Glaube, der den Tod und die Welt überwindet.46 Darum vergönne denn, meine Sally- hier und in der Ewigkeit meine Sally! Vergönne mir, indem ich in den früheren Morgenstunden meine Gedanken und Empfindungen über Liebe und Glaube, in den früheren Morgenstunden, dieser goldenen Zeit, die uns ein Vorbild und einen Vorgeschmack von dem großen Morgen der Ewigkeit gibt, auf diese Blätter zeichnen will,47 den bestän|digen 12r Blick des Geistes auf Dich, die Verklärte, zu richten; gleich als ob Du, dem irdischen Auge noch gegenwärtig an meiner Seite säßest, wie Du zuweilen an meiner Seite saßest, die Hand der Liebe auf meine Schultern gelehnt, wenn ich, mit Geistesarbeiten beschäftigt, manche Frucht der Meditation mit Dir teilte, und die durch Zustimmung Deines hellen Verstandes und Deines lauteren Herzens in der inneren Überzeugung von der Wahrheit und Brauchbarkeit meiner Ideen

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und Ansichten, bestärkt wurde. Blicke nun auch, verklärte Seele, mit Deinem ermunternden Beifalle auf diese Blätter, wenn Du darauf das Bild jener reinen, heiligen Liebe und des Glaubens, den diese Liebe erzeugt und dessen lebendige Kraft sie unterhält, nicht ohne Wahrheit und ohne Würde gezeichnet findest. Und Du wirst es; denn es ist ja nicht mein Wort allein, sondern auch das Deine; von mir begonnen, fortgeführt und vollendet nicht bloß auf Deinen Wunsch, sondern auch in Deinem Namen und unter dem höheren Einflusse Deiner Leitung und Eingebung. Denn Liebe und Glaube waren ja gleichsam, als die beiden köstlichsten Kleinodien unseres Geistes und Herzens, unser gemeinschaftliches Eigentum, das wir einander zubrachten und am emsigsten zu erhalten und zu vermehren trachteten; – das doppelte Band, wodurch wir Eines waren und noch Eines sind und auf immer sein werden, weil nur durch die gestillte Sehnsucht des Herzens nach immer vollerem Genuss einer solchen Liebe, mit der wir uns lieben, unsere Seligkeit wird befördert und weil das Bedürfnis des Glaubens für unseren endlichen Geist, – ein vermessener, aber aus den Zeichen meines innersten moralischen Lebens, meiner geheims­ ten Wünsche und Ahnungen geschöpfter Gedanke – der innerhalb der ewigen Schranken seiner Endlichkeit nie zum vollendeten Schauen sich zu erheben vermag, nie wird aufhören können. – Und darum sind denn auch Liebe und Glaube die zwei gehaltvollsten Worte, in denen die ganze unermessliche Fülle meiner höheren Gedanken und Empfindungen liegt; – es sind gleichsam die beiden großen Zentralpunkte, aus denen meine klarsten und erhabensten Gedanken des Geistes, die köstlichsten und unvergänglichsten Gefühle des 12v Herzens | und die reinsten und kraftvollsten Entschlüsse des Willens ausstrahlen und zu denen sie wieder zurückkehren; – es sind die beiden Pole, um welche sich das System dieser Ideen, dieser Empfin­ dungen und Bestrebungen herumwendet. Möge denn die Darstellung und die Mitteilung dieser unserer Gedanken und Empfindungen über Liebe und Glaube – denn es sind ja auch die Deinen, von Dir und dem tiefen Andenken an Dich entweder geweckt, oder belebt und geläutert –, möge sie das gemeinschaftliche Vermächtnis sein, das wir hinterlassen wollen, zunächst als ein mütterliches und väterliches Erbteil unsern Kindern, dass ihnen das Bild dieser Liebe zum Vorbilde und Muster fürs eigene Leben und Handeln diene –, sodann auch zum Denkmal einer dankbaren Freundschaft den noch zurückgebliebenen Verwandten und den Freunden, die wir im Leben gekannt, geschätzt und geliebt haben, da48 wir ihnen und sie uns – die Auserwählten,

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die Vertrauten – so49 nahe gestanden. Aber auch den Ungekannten, allen, die, obgleich im Leben von uns ungekannt, doch uns nahe und durch die moralischen Bande eines gleichen Sinnes und Herzens mit uns verwandt waren, und denen wir dereinst vielleicht, im großen erweiterten Gesichts- und Wirkungskreise des Geisteslebens noch näher kommen werden. Lass denn endlich auch, meine Liebe! an unserem Vermächtnisse teilnehmen die alle, welche der große allgemeine Erzieher des Men­ schengeschlechts so wie aller endlichen Geister, meiner besonderen Belehrung und Leitung anvertrauend, in den Kreis meines Lehrerbe­ rufs führte. Es tut noch in der Erinnerung dem Herzen des Lehrers wohl und ein Genüge, dass unter der Zahl derselben immer so manche waren, die als würdige, auserwählte Schüler der Wissenschaft und der Weisheit, vom Gefühl der Würde und Gemeinnützigkeit derselben durchdrungen, ihm den Dank des eigenen Herzens durch das unge­ heuchelte Bekenntnis dargebracht | und von der Erreichung seines 13r beabsichtigten Lehrerzweckes durch eigenes Lehren und Handeln die sichere Probe ihm gegeben haben. Wie diese gelehrigen Schüler der Wissenschaft, denen der Sinn für die Wahrheit und die Weisheit heller aufgegangen war, die mit ungeteilter und uneigennütziger Achtung und Liebe sich ihr weihten und ihrer Stimme folgten – Wie ich dieser so dankbar mich freute, und wie ich von meinem akademischen Lehrstuhle herab den Blick auf die Hörer gerichtet oder im traulichen Kreise gemeinschaftlicher philosophischer Unter­ haltungen oder mancherlei mit den jungen Zöglingen der Weisheit angestellten Übungen zur Weckung und Schärfung des Sinns der Anwendung fürs praktische Leben auf sie, die mich ganz fassten und mit ungeteilter Achtsamkeit und Interesse das Wort und die Rede des Lehrers vernahmen und, selbst darüber nachdenkend, und es sich zueignend, es im Herzen bewahrten, mein besonderes Augenmerk richtete. Wie sie mich ermuntert, meinem Vortrag mehr Leben und Kraft gaben, ja ihn nicht selten bis zur Begeisterung hoben. Und wie ich ihrer mich freute, wenn ich nach vollendeter Vorlesung mit der inneren Überzeugung, nicht vergebens im Dienste der Wahrheit und die Weisheit und für die Erweiterung und die Beförderung ihres Kreises gearbeitet zu haben, den Hörsaal verließ und , eine Träne der Freude und des Dankes im Auge, mit lebhafter Bewegung des Herzens dem Gedanken überließ: Diese Reinen und Würdigen, selbst zu Lehrern und Erziehern der Menschheit, oder zu Vormündern und Sachwaltern ihrer Rechte oder zu Rettern und Wohltätern und

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Beförderern ihres physischen Lebens und Wohlseins mit Vergessen­ heit und Aufopferung ihrer selbst, berufen, werden meist die Blüten und Früchte des50 mit empfänglichem Geiste und Herzen von ihnen empfangenen und durch selbsteigene Tätigkeit zum Keimen und Aufsprossen gebildeten Samens des Guten und Nützlichen tragen 13v zum Segen | und Heil für die Menschheit, und du51 selbst wirst auf solche Weise, wenn du nicht mehr lebst, doch noch durch sie fortleben und fortwirken, und kannst also, auch ohne auf den wohlverdienten Ruhm einer klassischen Unsterblichkeit die mindesten Ansprüche machen zu dürfen, doch in dem Gefühl der Demut und Bescheidenheit und mit unvergesslichem Dank gegen die Vorsehung für den schönen, dem Bedürfnisse des eigenen Geistes und Herzens so willkommenen und genügenden Wirkungskreis mit dem Dichter dir selbst auch in Beziehung auf diese dem Raum und der Zeit nach so beschränkte Sphäre deines Lebens und Wirkens dir selbst sagen: Non Omnis Moriar – Nicht ganz werde ich sterben.52 Mein Herz erweitert sich; – es schlägt stärker vor Freude und Dank, wenn ich von dem Anschauen der Urbilder des Wahren des Schönen und des Guten, deren Kopien ich auf diese Blätter zeichnen will, begeistert bei dem Gedanken mit Wohlgefallen verweile, dass diese, wenn auch noch so unvollkommene, aber doch nicht absichtlich verfälschte und verzerrte Zeichnung des Nachbildes, in denen, die eine ähnliche Sinnes- und Denkart mit uns vereiniget, den Geisterblick erhellen und über die Natur erheben und das Herz durch die Wärme höherer überirdischer Empfindungen beleben werde. Für andere, deren Geistesauge das Schauen einer idealischen Welt noch gänzlich 14r verschlossen, oder durch | Verkehrtheit des Sinnes und Herzens verfinstert und erblindet und deren Herz erkaltet und durch den gröberen Sinnesreiz für die Reize und Eindrücke höherer ätherischer Gefühle unempfindlich geworden ist: – Für solche, können diese Blätter nicht geschrieben sein. Das irdische Auge kann darauf nur den toten Buchstaben sehen, nicht den Geist, der aus ihnen hervorblickt; – an dem entworfenen Bilde nichts als die äußeren Züge und Umrisse bemerken, aber nicht die Bedeutung entziffern, nicht die Absicht enträtseln, weil sie den Schlüssel dazu in ihrem eigenen Geiste und Herzen nicht finden. Das Bild, stumm und leblos für sie, wird sie nicht ansprechen, und sie werden daher, wie von einem leeren Schattenbilde, einem bloßen Phantom und Gespenste ohne Wahrheit und Bestand, das ihrem ungläubigen Sinne und Herzen oder ihrem

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abergläubigen Wahnsinne und Wahnglauben nichts sagen kann noch will, unbefriedigt und unwillig den Blick davon wegwenden. Euch aber, ihr Guten und Edlen mit dem reinen oder gereinigten, für das Höhere und Bessere, das Heilige und Ewige, durch Liebe und Glauben, durch Vertrauen und Gehorsam gereiften und gebildeten Sinne und Herzen, Leben und Wandel: Euch wird das Bild ansprechen. In euch wird es den Geistes Blick für das Anschauen des Höheren und Unvergänglichen erhellen und das Herz für die Gefühle und Ahnungen desselben beleben. Mit dem geschärften Geistesauge und mit dem höher erhobenen Herzen, über die Sphäre des Sichtbaren werdet Ihr uns in die Ewigkeit nachsehen, wohin wir Euch vorange­ gangen sind, und uns dahin nachfolgen mit derselben Hoffnung, die uns die Aussicht in das heilige Land so freundlich und reizend machte, dass wir, alle durch Liebe und Glaube miteinander verwandt, allda zusammenkommen, die im Leben | als solche schon Erkannten wie­ 14v derfinden und wiedererkennen, und die sich verwandtesten und hier im Leben schon durch die Bande einer heiligen Liebe und Freundschaft aneinander geknüpften Seelen, die sich ganz gekannt und gleichsam einander durchdrungen und ineinander eingegangen waren, so dass sie nur Eines waren – zu einem neuen, vollkommenen Bande durch diese Verwandtschaft auf ewig wieder vereinigt – einen heiligen Zirkel der Liebe und Freundschaft untereinander schließen werden. – – Mein Geist wird entzückt, indem er nach dieser Aussicht den Blick hinwendet, die so nahe, so klar und hell vor ihm dasteht. Es dünkt ihm sogar, von den Banden des Leibes, der ihn an die Erde noch hält, schon entfesselt zu sein. – Welche Täuschung! Wie willkommen, aber auch wie natürlich! Ist`s nicht der Geist, der mit seinem hohen Gedankenfluge über Räume und Zeiten sich erhebt, und, die kurze Spanne dieses Zeit Lebens in einem Augenblick vorüber eilend, den Moment der Zukunft zu einem Momente der Gegenwart umschafft? Ist`s nicht das Herz, aus welchem, obgleich in diesem irdischen Leben noch schlagend und nach Befreiung sich sehnend, schon die ätherische Flamme überirdischer Gefühle und Triebe auflodert, die ungetrübt von der Sinnen Lust und der irdischen Begierde, die unversiegende Quelle der Seligkeit jenes Lebens sein werde? Und bist Du denn nicht schon wirklich hinüber? Du, die eine und die bessere Hälfte meines Selbst? O wie bald, wie bald, und auch wie leicht wird auch über mir die Erde sein, da wo mein Staub hingebettet zu dem Deinen, sich mit ihm vermischen wird, nachdem wir selbst uns schon den ersten Morgengruß in der Ewigkeit werden geboten haben.

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»Dann – Aber ach, ich weiß ja nicht, was Du schon lange weißt; Nur dass es, hell von Ahndungen, mir um die Seele schwebt! Mit wonnevollen Hoffnungen die Abendröte kommt; Mit frohem tiefem Vorgefühl die Sonnen auferstehn.«5

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15r

Nein! Sie ist nicht tot für mich, sagte ich mit gehobener und gewisser Stimme mit Ernst und Nachdruck, als ob ein Gott aus mir spräche – dem mit wahrem, tiefem und zarten Gefühl teilnehmenden Freunde und Arzte I…,54 als derselbe bald nach dem Augenblicke der Entscheidung ins Zimmer getreten war und dem verwaisten Freunde, der jetzt mit ihm durch eine gleiche Schickung verwandt geworden, mit der Miene und dem Herzen teilnehmender Trauer sich nahte. Ach! dem Herzen des Guten und Biederen hatte vor Jahren das Schicksal mit dem Verluste der geliebten Gattin, die auch ihm nur auf so kurze Zeit zur Lebensgefährtin war gegeben worden, eine ähnlich tiefe Wunde geschlagen, und damit das schöne Gebäude des häuslichen Glücks dem gefühlvollen Gatten und Vater zertrümmert. Noch trübt, und umwölkt das Andenken an dies, für den treuen Gatten und Freund, dessen Herz auch nur einmal lieben konnte, wie man hienieden nur einmal lebt, auf immer verlorene Glück, und das ihm umschwebende Bild der Trümmer desselben, den sonst heiteren Geist; eine Träne der Wehmut feuchtet das Auge, und das Herz wird bei diesen Erinnerungen an die Vergangenheit von tiefem und unaustilgbarem Gram ihm stärker bewegt. – – Sie ist nicht tot für mich – das, sagte ich, waren die ersten, mit solcher Zuversicht und Kraft ausgesprochenen Worte, die ich 15v | dem Mitleid fühlenden Freunde zurief, nachdem ich zum klarerem Bewusstsein und zur Besonnenheit wieder erwacht war aus dem Zustande der Betäubung, der Geistesverwirrung und Zerrüttung, in welchen der Anblick der auf den höchsten Ruf des uns unerforschli­ chen Willens aus meinen Armen, von meinem Busen scheidenden Gattin und Freundin, und mit dem gebrochenen Auge, das mir, ach! das mir – ein Spiegel der reinen und heiligen Liebe, – mit seinem schönen, heiteren Himmelsblau immer so freundlich und liebevoll

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gelächelt und mit seinem offenen und in die Tiefen meines Innersten dringenden Blicke mir ihre ganze lichtreine Seele und ihre ungeteilte Liebe zu mir offenbart hatte; – und mit der von Todesröcheln stöh­ nenden Brust, aus welcher, mit der letzten Abenddämmerung des für dies Leben und für diese Welt verlöschenden Bewusstseins vor hereinbrechender Todesnacht noch die letzten Seufzer und die letzten Segnungen für den Gatten und die Kinder, die teuren Verwandten und Freunde aufsteigen mochten; und der Letzte von der Scheiden­ den – der einzig und ewig Geliebten – mit dem letzten Kusse der Liebe auf die mit kaltem Todesschweiße benetzte Stirn, und mit dem Zurufe der Verheißung und des Trostes genommene Abschied: »Sally, meine Sally! Bald, bald sind wir beisammen. Leb wohl! Ich danke Dir!« – mich versetzt hatten; – Das Übrige alles, was jetzt nur noch zu tun war, sicher anvertrauend der treuen und redlichen Freundschaft unseres braven, biederen D.,55 der als Arzt und als Freund, bis ans Ende ausdauernd, seine hohe und durch Erfahrung erprobte Kunst mit der emsigsten und | gewissenhaftesten Sorgfalt 16r zur Rettung der geschätzten Freundin aufgeboten hatte, für deren Wiederherstellung das eigene, so rein und stark in seinem Busen schlagende Herz der Freundschaft für die geschätzte, mit ungeteilter Achtung und Vertrauen ihm, dem Freunde und dem Arzte, zugetan gewesene Freundin und deren Gatten – den vertrauten Freund des Herzens, so interessiert gewesen war, wie vor wenigen Jahren einst das zärtliche Bruderherz für die ach! auch von Gott und der Kunst der sorgfältigen Pflege vergebens erflehten Genesung einer geliebten Schwester, deren Andenken dem Bruder, durch so manches Ähnliche mit der hingeschiedenen Freundin im Leben und im Tode, mit jetzt wiederkehrender lebhafter Empfindung der Wehmut erinnert wurde. –– Nein! Sie ist nicht tot für mich! – sprach laut und mit der lebendigsten, die mich umschwebenden Bilder des Todes und des Grabes wie mit Gotteskraft hinwegbannende Zuversicht, die innere Stimme zu mir, als ich im Begriff stand, das verödete Haus zu verlassen, nachdem das Haupt dieses Hauses sich geneigt hatte, die Krone desselben gefallen war und das Herz kein Eigentum mehr für sich darin besaß, denn auch die Kinder bereits der Sicherheit wegen daraus entfernt worden – und zur benachbarten mütterlichen Freundin hineilte, um hier in dem Kreise der verwaisten Unmündigen, die in dem Stande ihrer Unschuld und glücklichen Unwissenheit sich ihren jugendlichen Freuden und Spielen mit fro­

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hem Sinne und ungebeugtem Mute überließen, den verfinsterten Geist zu erheitern und das erstarrte Gattenherz durch aufgeregte 16v Vatergefühle zu erwärmen und zu beleben. – – | Hatte ich nun – ich lege meinem Herzen selbst die Frage vor – hatte ich bei jenem mit solcher Zuversicht ausgesprochenen Worte des Trostes etwa nichts weiter im Sinne, als die gewöhnliche wohltätige Täuschung der Phan­ tasie, die auf eine Zeitlang, für die erste Zeit wenigstens, da eine solche Täuschung dem Wunsche und Bedürfnisse eines verwaisten Herzens so wohltut, den Sinn zu überwältigen und ein verlorenes Kleinod des Herzens, als ob es nicht verloren wäre, in einem lebendigen Bilde zu vergegenwärtigen und dadurch dem Herzen in einer eingebildeten Wirklichkeit zu bewahren weiß? Wollte ich mir also damit nichts mehr sagen, als was man sich in diese Täuschung von der Phantasie eingewiegt, da gewöhnlich zu sagen pflegt: »Es ist mir, als ob sie noch lebte – noch um mich und an meiner Seite wäre; – ich kann mir ihr Nichtmehrsein nicht vorstellen?« Sehr natürlich freilich ist diese Täuschung. Wer mag überhaupt den Gedanken des Nichtseins – der Vernichtung des Seins – ertragen und in einem anschaulichen Bilde sich denken! Und ist`s nicht die nämliche Täuschung, die einen jeden sein eigenes Ich – ich meine das verloschene Leben – in diesen irdischen Schranken der Persönlichkeit überleben, und doch in den nämlichen Schranken fortdauernd noch eingeengt und eingekerkert sein lässt; – die der Seele im Todesschlafe ihres Körpers träumend oder wachend, Vorstellung und Gefühl, Begierde und Abscheu im leblosen Leibe und im Grabe noch gibt, unter dem kühlen Schatten der 17r Bäume? Sind nicht überhaupt für die | Phantasie, – diese Quelle und Urkraft und dieser beständige Leiter des Lebens – wie für die Vernunft und die höheren Lebenssinne und Lebensgefühle des Herzens, Tod und Verwesung und Vernichtung, bloße, nichts bedeutende Namen, leere Schreckbilder für den bloßen Sinn? Wenn dieser erstarrt bei dem Anblick der Leblosigkeit, worin das Rege, das Lebendige in einem Nu sich verwandelt: so ist sie56 es, die mit ihrer Zauberkraft wie die genialische Phantasie des Künstlers dem starren Marmorblocke, dem toten Bilde Leben einhaucht, die mit ihrem Zauberlichte die dunklen Gänge des Todes zum Lande eines neuen Lebens erleuchtet und über den Gräbern ein Fest der Auferstehung und des Lebens feiert. – Täuschung ist freilich, nichts als bloße Täuschung, wenn die Phantasie mit ihrer dichtenden Schöpferkraft, dem Sinne und Verstande zum Trotz, entgegengesetztes Leben und Tod – das Sterbliche und Unsterb­ liche auf widernatürliche Weise vereinigen will, indem sie das Leben

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des Geistes an eine unorganische und unempfindliche Körpermasse oder an ein wesenloses Schattenbild bindet – den unsichtbaren, aus seiner Kerkerhütte entwichenen Geist in diese alte für ihn untauglich gewordene Hütte wieder zurückbannt, ihm das alte, zerrissene Kleid wieder anlegt und ihn darin – ein wesenloses Gespenst – noch umher wandeln, nachempfinden und handeln lässt. Aber ist`s wohl töricht und vergebens, hinter diesen Blendwer­ ken und täuschenden Spielen der Phantasie nichts, durchaus und wieder nichts als bloße Täuschung zu suchen? Hinter der Erschei­ nung nicht das An-sich der Erscheinung – hinter den wesen- und gehaltlosen Bildern und dem bloßen Scheine nichts an sich Reelles und Wahres – unter dem Gehaltlosen Selbstständiges und Gehaltvolles, | Bleibendes und Unvergängliches, mag es57 auch von 17v dem bloßen Sinne und Verstande nicht gesehen, so wenig, als von der Phantasie durch ein sinnliches Bild – gleich den Schattenwesen im Elysium – verkörpert werden können. – Liegt denn zwischen dem Unglauben und der Blindheit oder beschränkten Sehkraft des blo­ ßen Sinnes und Verstandes und dem Wahn und Gespensterglauben der Phantasie, deren Auge, durch das optische Glas der Täuschung blickend, von dem Zauberlichte derselben, geblendet, die Gestalt mit der Sache, das verkörperte Schattenbild mit dem Wesen selbst, das Kleid mit der Person verwechselt und so den Geist und des Geistes Leben in ein bloßes Gespenst und Gespensterleben umschafft? – Ist es nicht der unsichtbare Geist selbst, der mit seiner reinsten und umfassendsten Sehkraft – dem Auge der Vernunft, die, wie Jacobi sagt, das Leben des Geistes ist58 – über die Sphäre des Sinnes und der Phantasie zugleich sich erhebend, das Bild und die Gestalt von der Sache, die wesenlose, flüchtige Erscheinung von dem An-sich hinter der Erscheinung, die Schale vom Kerne, das Kleid von der Person, den Schatten vom Lichte, den Körper vom Geiste, die sichtbare Welt von der unsichtbaren zu scheiden weiß; und der auf diesen erhabenen Standpunkt des reinen Gedankens, von dem aus er die Welt der Sinnenerscheinungen tief unter sich und eine idealische Welt über sich oder vielmehr sich selbst in ihr von lauter Verwandten umgeben, erblickt, die Phantasie nach sich zieht und sie nötiget, durch ihre Zauberkraft. das Unsichtbare selbst sichtbar zu machen, aber nicht auf eine verkehrte und widernatürliche Weise für den Sinn und Verstand, sondern in einer angemessenen schicklichen Form | dem Bedürfnisse einer endlichen Vernunft selbst genügenderen 18r Form, die reinen nackten Ideen mit einer aus den feinsten Fäden

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des feinsten Stoffes gewebten Hülle zu bekleiden; oder den Geist gleichsam in ein Gefäß zu legen und darin aufzubewahren; obgleich dieses Idealisieren der Ideen, um ihnen ein dem Bedürfnisse sinnlichvernünftiger Wesen angemessenes objektives Sein und Bestehen zu geben, der Phantasie, die hier in und für den Dienst der endlichen Vernunft arbeitet, noch weit weniger so gelingen kann, dass die Wahrheit und Reinheit der Idee selbst ihr ungetrübtes Licht behalte, als es ihr gelingt, wenn sie im Dienste des Verstandes die Begriffe desselben durch Schemata verkörpert, eine völlige Eintracht zwischen den Entgegengesetzten zu stiften, sondern beide nur im Schweben gegen einander (gehalten) begriffen, einander bald anziehend, bald wieder zurückstoßend, für nur einen Zeitmoment mit einander zu vereinen vermag. – Der Geist also ist`s, der sich selbst gleichsam entkörpert und von jeder Hülle entkleidet, wenn er, um sich dadurch leichter zu machen, auf den Flügeln seiner Ideen den kühnen Adler­ flug in die hohen Lichtregionen der Geisterwelt beginnt und der Phantasie gebietet, ihn, so weit sie`s vermag, dahin zu begleiten. – Und ist es nicht das Herz, das reine, von jeder Sturmluft und jeder irdischen Begierde entfesselte Herz, das dem hohen Fluge des Geistes so willig und begierig folgt, getrieben und hingezogen mit seinem gläubigen Gefühle von Ahnungen und Hoffnungen (die hier59 nicht erfüllt werden können), dass es allda nicht eine leere Schatten- und Gespensterwelt, sondern das Land der Verheißung, wo seine hier unbefriedigt gebliebene Sehnsucht gestillt werden soll – die sichere Zufluchtsstätte vor den Stürmen und Gefahren der Leidenschaft – den Hafen der Ruhe und eines unaussprechlichen Glücks – seine bessere 18v und bleibende Heimat finden werde. – | Und in diesem reelleren, höheren und bedeutenderen Sinne warst auch Du nicht tot für mich, verklärte Seele! Du einzige Freundin und Geliebte meines Geistes und Herzens! Du warst und bleibst, spricht die innere Stimme des Geistes und Herzens zu mir, diesem Geiste und Herzen so nahe, so gegenwärtig, als ob mein Geist den Deinen noch in dem Spiegel Deines irdischen, geschlossenen Auges erblickte – als ob mein Herz an Deinem im irdischen Busen noch Weilenden, sich erwärmt hätte. Ach! dieses Auge, der klare Spiegel Deiner lichtreinen Seele, war ja schon von dem Engel des Todes auf ewig geschlossen; – dieses Herz von der Todeskälte erstarrt, hatte mit dem letzten Pulsschlag bereits aufgehört, sich im Busen zu bewegen. Und doch warst und bleibst Du meinem Geiste und Herzen noch so gegenwärtig. Ja – darf und vermag das Herz Empfindungen, die aus seinem Innersten

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quillen, in Worte übertragen, die freilich nur dem geweihten, gleich organisierten Herzen und Ohr verständlich sein können? – Darf ich es sagen, der widersprechenden Aussage des Sinnes und Verstandes und der dagegen sich aufregenden, aber überwältigten Stimme der Sinnenlust und Sinnenbegierde zum Trotz, es bekennen: Du warst, von dem Augenblicke an, als der Tod das irdische Band unserer Liebe zerrissen, dem Geiste und Herzen noch näher gekommen und noch inniger und vertrauter mit beiden geworden. Als, mit der vollen Zuversicht der Liebe und des Glaubens begleitet, aus dem Innersten die Worte kamen und zu wiederholten Malen in meinem Innersten widertönten und noch mit der nämlichen Zuversicht immer wiederkehrten: »Du bist nicht tot für mich« – da dünkte mich, als würde ich mit Dir zum zweiten | Male, aber dieses zweite Mal von 19r einem Engel zum Traualtare, ins Allerheiligste selbst, geführt, um allda, von demselben Gott der Liebe, der uns vor sechs Jahren um die nämliche Zeit auf wunderbare Weise, wie Du selbst darüber immer Dich ausdrücktest, zusammenführte, durch ein noch geheiligteres und festeres Band – das Band einer rein geistigen Liebe – miteinander verbunden zu werden.60 – So erschien mir Dein Todestag als das Bundesfest unserer neuen, himmlischen Vermählung. Und in der Art kündigte ich auch wirklich Deinen Tod dem edlen Manne an, den Gott dazu auserwählt hatte, uns, die wir beide Fremdlinge in dem Lande, wo unsere ersten Blicke sich einander begegneten und in unsere Herzen fielen, in so verschiedenen von einander so entlegenen Kreisen die erste Laufbahn des Lebens angetreten, einander in die Nähe zu führen, und, nachdem der Genius der Liebe das Geheimnis unsrer Herzen uns aufgeschlossen, so dass wir seine Deutung und Absicht auf genügende Weise gefasst und begriffen, unsere Hände in einander legte und den Segen des Freundes über den geschlossenen geheiligten Bund unserer Herzen aussprach. – Ich schrieb dem Freunde – diesen Ersten und Vertrautesten unserer Freunde: – Vor 6 Jahren knüpfte Gott durch einen dazu von ihm auserwählten Mann61 das Band unserer ersten sinnlich moralischen Liebe, die uns zunächst für dies Leben durch einander beglücken und für die Zwecke dieses Lebens | schöne und 19v nützliche Früchte tragen sollte. Und nach 6 Jahren dieser so kurz zwar und so unerwartet flüchtig für uns vorüber geeilten, aber doch so reizenden und so fruchtbaren Blüte- und Fruchtzeit unserer ersten Liebe, vereiniget uns derselbe Gott der Liebe – denn Er ist und bleibt ja immer derselbe Gott der Liebe – auf’s Neue wieder, durch das heiligste und unvergänglichste Band einer rein geistigen Liebe, deren

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eigenste Bedeutung und Absicht hier62 nicht, hier allein wenigstens nicht zu suchen und deren Wert für die bloßen Zwecke dieses Lebens nicht zu berechnen ist. Einen Engel vermählt Er mit einem Menschen, der als Mensch zwar noch in diesem Leibe wallen muss, aber mit dem höheren Sinne, der längst ihm aufgegangen ist, über die niedere Sphäre des Irdischen sich bereits emporgehoben, und dem Geiste und Herzen nach, mit dem heiligen und ewigen Schutzengel seines Lebens, der ihn, nur dem Auge des Leibes, aber nicht dem Auge des Geistes unsichtbar, umschwebt, lebet, denkt und empfindet.63 Ein verklärtes, der Wonne der Unsterblichkeit bereits genießendes Wesen vermählt Er mit einem Sterblichen, der aber doch auch der Unsterblichkeit geweiht ist und den Keim der Unsterblichkeit in sich trägt, dessen Blüten und Früchte sich ja auch in ihm und vielleicht bald, bald entwickeln und reifen werden. So schrieb ich dem Freunde. Es begann, als ich’s schrieb, bereits der vierzehnte Morgen seit dem Tage unserer zweiten Vermählung 20r anzubrechen;64 und doch war die Stimmung der | Seele, jene Emp­ findung des Herzens und jene gläubige Zuversicht ganz noch die nämliche. Und sie ist es noch – unverändert und ungeschwächt ist sie dieselbe geblieben bis auf den Augenblick, in welchem ich diese Züge auf dies leere Blatt zeichne, nachdem ich von heute an gerechnet schon 6 Wochen zählen kann (O! wie eilen die Stunden, wie schnell rückt unter den Geschäften und Sorgen meines Vater- und Erzieherund Lehrerberufes der Zeiger meiner Zeit vorwärts zu dem Punkte hin, der die letzte Stunde meines Lebens bezeichnen wird), seitdem die Hülle der Geliebten zur Ruhestätte gebracht wurde. Und heut und ewig – das sagt mir mein Herz, das Herz der heiligen und ewigen Liebe zu Dir – wird dieser Gedanke, diese Empfindung und Überzeugung unwandelbar dieselbe bleiben. Wenn sie’s je aufhören könnte, von dem Augenblicke, an, da jener Gedanke aus dem Lichte, worin er jetzt glänzt, ins Dunkle sich gewandt, jene Empfindung und Liebe und jene Zuversicht des Glaubens verloschen wäre; von diesem Augenblicke an wäre von mir selbst nichts weiter als der bloße Name und das bloße Kleid übrig geblieben. Mein Inneres, – mein ganzes Wesen wäre vernichtet; entflohen der gute reine Geist, und an dessen Stelle ein böser, unreiner und trügerischer Dämon eingekehrt, der dieses Herz mir aus dem Busen gestohlen, und ein anderes unlauteres, oder falsches und lügenhaftes und untreues hineingelegt hätte. O! ich fühle es nur zu deutlich, und werde es ewig mit unveränderter Kraft und Lebendigkeit fühlen müssen – Dein Todestag ward der

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Tag einer neuen Wiedergeburt, einer Verklärung unserer Liebe, an welchem mit diesem geheiligten Gefühl gleichsam ein neuer Schei­ dungsprozess vorging. Denn als der Tod das sichtbare Band unsrer Liebe zerrissen und das irdische Organ derselben zerstört: da sank in dem gemischten Gefühl unserer Liebe der sinnliche Bestandteil derselben, der von Erde ist und vergänglich, und darum in Dir, | himmlisch reine Seele! auch hier schon der geringste gewesen 20v war, mit einem Male gänzlich zu Boden, und rein und hell stieg sie auf, die ätherische Flamme einer rein geistigen Liebe, die ohne eines materiellen Nahrungsstoffes und äußeren Reizes mehr zu bedürfen, aus sich selbst schön und klar und mit der gleichen Beständigkeit beständig fortbrennt. Und hier bin ich bei dem Punkte angekommen, von dem ich auf die durchlaufene Bahn meiner Gedanken zurückblicken und die Reise derselben übersehen will. Ich kehre zurück zu dem Hauptge­ danken, dem eigentlichen Texte65 der hier dargestellten Ideen und Empfindungen, und frage hier noch einmal mich selbst: Sollte die im innersten Herzen gebliebene und auf ewig – ich bin meiner Sache gewiss – bleibende Empfindung der Zuversicht und des Trostes, mit der ich die Worte Sie ist nicht tot für mich aussprach: – Sollte, konnte sie nichts weiter sein als das Werk und die Frucht jener Täuschung der Phantasie, deren ich oben erwähnt habe? War ich selbst hier nur mir unbewusst ein bloßes Spiel dieser Phantasie, die mich, die Künste der Geisterseher und Geisterbeschwörer nachahmend, durch einen magischen Spiegel gleich einem Schattenspiele an der Wand, die hingezauberte Gestalt der Geliebten sehen und durch ihre künstlich angebrachten Maschinerien die Stimme derselben hören ließ? – Nein, Nein! So war es nicht, so konnte es nicht sein. O! für die bloße Phantasie, wie für den bloßen Sinn, war die hingeschiedene Geliebte mehr tot für mich, als es wohl bei so manchem Anderen unter gleichen Ereignissen der Fall sein mag. Du lebtest wirklich auch in der bloßen Phantasie, in | diesen Augenblicken wenigstens, nicht mehr für mich. 21r Ach! wie hätte auch in einem Zustande, da in der Seele eine solche Flut und Ebbe der Gefühle wechselte, dass sie bald von dem mächtig reißenden, bis zu einer unmäßigen Höhe angeschwollenen Strome der Gefühle aufs heftigste erschüttert und bewegt wurde; bald wieder einen Augenblick darauf, (wenn die Ebbezeit eingetreten,) einem dürren, ausgetrockneten, toten Meere glich; – sich bald während des gewaltigen Tobens und Brausens des Stroms der Gefühle allzu bewegt und lebendig, bald wieder allzu ruhig, ohne Bewegung und

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Energie des Lebens gleichsam wie ausgeleert, erschöpft und vernichtet fühlte. – Wie hätte in einem solchen Gemütszustande die malerische Geschicklichkeit der Phantasie es vermocht, die Bilder von dem geliebten Gegenstande mit so lebhaften Farben zu zeichnen und so nahe vor den Spiegel der Seele zu bringen, dass sie jene Täuschung hätten hervorbringen und unterhalten können. Denn sowohl das allzu sehr und zu stark von der Macht der Gefühle ergriffene und erschüt­ terte als das durch eine solche Exaltation und Überzeugung erschlaffte und entkräftete Gemüt lähmt die Kraft der bildenden Phantasie und macht sie unfähig zum Bilden und lebendigen Anschauen. Und dann – welche Bilder des unvergesslichen Gegenstandes hätte auch als die nächsten und lebhaftesten, die Phantasie dem Spie­ 21v gel der Seele vorgeführt! | O vor diesem Trauerbilde, dessen Züge von so langanhaltenden, schrecklichen Leiden und Qualen und Martern so entstellt waren, musste das Auge den Blick abwenden; – das Herz musste davor erschrocken zurückbeben. Denn nicht plötzlich wie in einem Nu hatte die Parze den starken, kraftvollen Faden des jungen Lebens zerschnitten. Der Tod hatte sich einen beschwerlichen und dornigen Pfad durch die heftigsten peinvollsten Martern und Qualen des Körpers während einer 18 Tage hindurch dauernden Krankheit zum Ziele gebahnt. Er hatte auf seinem langen Wege schon manche sichtbaren Spuren seiner verheerenden Macht aufgedrückt und im heftigen, wiederholten Kampfe mit dem starken, kraftvollen Leben solche Gräuel der Verwüstung angerichtet, die seinen letzten ent­ scheidenden Sieg ahnden ließen. Und von diesem furchtbaren Kampfe war der treue Gatte und Freund der beständige Zeuge gewesen. Ach! es hatte sich ihm das Bild der leidenden, durch vielfache Qualen und Martern des Körpers so grässlich entstellten und langsam, unter öfter wiederkehrenden, lauten Ausbrüchen des heftigen Schmerzes und unter abwechselnden Zuständen der Betäubung und eines totähnli­ chen Schlummers, der kein stärkender und erquickender Schlaf war, hinsterbenden Gattin und Freundin, tief, tief in die Seele gegraben. Und dieses Bild, so nah so gegenwärtig und lebendig, hätte mir die Phantasie also auch jetzt darstellen und alle die schönen, von so jugendlichem frischem Leben blühenden Bilder der früheren Vergan­ genheit in den Schatten stellen müssen, oder diese lieblichen Bilder 22r nur darum etwas beleuchtet, damit der Kontrast | die Todesblässe jenes Trauerbildes nur desto mehr heben möge. Nein! das Auge der Phantasie, immer noch unverwandt den Blick auf Deine Leidens- und Sterbensstätte geheftet, ließ mir Dich, holdes, reizendes Weib! nicht

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sehen in Deiner so jugendlich-blühenden Gestalt mit der Rosenfarbe der Gesundheit, in der Grazie und Gewandtheit und leichten Bewe­ gung Deiner Glieder; sondern in der vom Leiden und Todeskampf entstellten Gestalt, die schon erstarrten, des Lebens Äther langsam aushauchenden Glieder ohnmächtig aufs Lager ausgestreckt und nur von Zeit zu Zeit durch Zuckungen heftiger Krämpfe widernatürlich und unwillkürlich bewegt. Ich sah mit dem Auge der Phantasie nicht die freundliche, heiter lächelnde Miene – das Zeichen des heitern und frohen Sinnes – womit Du das Leben des Gatten und der Kinder zur Heiterkeit und zum Frohsinn belebtest; womit Du in den Kreis geselliger Freundschaft eintretend, die Freunde zu erheitern und zu fröhlich-geselligen Empfindungen zu stimmen wusstest. Ich erblickte nur die düsteren Mienen, nur grässliche, vom Krampf entstellte und verzogene Gebärden der Leiden und Martern. Es war nicht das große, schöne Auge, das mit seinem reizenden, blauen Himmelsäther in den Tagen der Gesundheit und des Frohsinns alles um sich her erheiterte, auch dessen Blick der Verklärung insbesondere dem Gatten und den Kindern so schön und freundlich geleuchtet. Ach! in dem Gebilde der Phantasie sehe ich diesen kristallhellen Spiegel der reinsten Seele so matt und so getrübt und gefärbt durch blutrote Strahlen, die | dem 22v Kennerblicke des erfahrenen Arztes als das schlimmste Zeichen, die Größe Gefahr und den Ausgang der Krankheit als das schlimmste Zeichen derselben ahnden ließen. So hatte das hellblaue Licht des Himmelsäthers sich in ein furchtbares, Verwüstung und Tod drohendes Nordlicht verwandelt. – Ach! wie drang gleich einem scharf schneidenden Schwerte in die Tiefe der Seele der starre, tiefe Geisterblick, wo mit dieses so entstellte, krampfhaft aufgezogene Auge nachsinnend und wehmutsvoll den am Krankenlager sitzenden Gatten anblickte, auf dessen Miene der Gram und die Schwermut gemalt war. Dieser mein Innerstes erschütternde Blick steht jetzt noch so neu und so lebendig vor dem Auge meiner Phantasie. – So war es auch nicht die liebliche melodische Sprache und Stimme, womit die Rede und insbesondere der wohltönend-reizende Gesang der tief und stark und zart fühlenden Gattin den musikalischen Sinn und das mitfühlende Herz des Gatten und Freundes in den Tagen des Glücks und der Freude so ergötzt hatten. Ach! die Organe dieser lieblich tönenden Sprache und Stimme hatte ein heftiger Krampf teils gelähmt, teils zu widernatürlichen und schmerzhaften Bewegungen gereizt. Meine Phantasie rief diese Töne des Schmerzens und der Wehklage zurück; – den lauten Schrei, den Ausdruck des heftigen

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Schmerzens unter den stärksten Empfindungen desselben; – und das stillere Stöhnen und Ächzen, so oft die Heftigkeit des Schmerzes bestätigt wurden und ein Zustand der Ermattung und 23r Betäubung erfolgte; und das | Stammeln der Stimme und Sprache, die in den letzten Tagen nur einzelne Töne und Laute, aber keine ganz vernehmliche und noch weniger zusammenhängende Rede aus­ zusprechen vermochte unter den fast unaufhörlichen, unwillkürlichen Bewegungen, die ein heftiger und anhaltender Krampf auf der Zunge und den Lippen hervorbrachte. In dem Bilde Deiner durch Leiden und Todeskrampf so entstell­ ten Gestalt erblickte ich auch die Hand der Liebe, die mich so liebevoll und so fest und sicher durch einen Teil meiner Lebensbahn geleitet. Aber ich sehe sie jetzt zitternd und an Kraft gelähmt; – sehe die kaum aufgehobenen, entnervten Arme, die mich so oft mit der gan­ zen Inbrunst und Innigkeit der reinen keuschen Liebe umschlungen hatten, bebend und kraftlos und allen Nerven vom Krampfe bewegt, bald wieder niedersinken. – So malte die Phantasie mir Dein Bild, holdes, im jugendlichen Leben so reizendes, blühendes Weib, in den Augenblicken, wo eine gemäßigte Temperatur der Seele wieder66 die Kraft verlieh, Dein Bild für die Anschauung zu zeichnen und mit ihrem Pinsel die grellen und dunklen Farben aufzutragen. Aber so war nicht das Bild von Dir, das sich mir in das Innerste der Seele – in den Geist und das Herz, mit unauslöschlichen Zügen eingegraben hatte. Hier lebtest Du wieder in verklärter Engelsgestalt – in ewigblühender Schönheit und kraftvoller Jugend. Die äußere Form und Gestalt war dahin und wie zerronnen und zerflossen;67 – dies Gewand, das Du im Leben getragen, das schöne, reizende Feier­ kleid der Freude sowohl als Dein letztes dunkles Trauerkleid der Leiden und des Todes war abgelegt. – Aber Dein inneres Wesen 23v selbst war und ist mir geblieben, – | die eigenste, von allem, was Du nicht selbst warst, allem äußeren Schmuck und Glanze entkleidete Individualität Deines Geistes und Herzens. Sie allein ist im ungetrüb­ ten, lebendigen und verklärten Bilde dem Dir verwandtesten Geiste und Herzen geblieben. Und so auch alles, was auf dieses Bild sich bezieht und den Glanz seiner Klarheit und Lebendigkeit erhöht; – das Andenken an Dein inneres moralisches Leben; – jede Erinnerung an Dein Denken und Tun; und wie Du dachtest, wie Du gesinnt warst und die lautere Herzensgesinnung, von einer starken und festen und männlichen Willenskraft unterstützt, durch Taten offenbartest. Vor

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allem aber lebet und blühet gleich mit der frischesten Rosenblüte im Geiste und Herzen das Andenken Deiner Liebe, – der Gatten- und der Mutterliebe, wie sie an Reinheit und Wärme und Innigkeit zugleich einzig vielleicht – für mich wenigstens einzig in ihrer Art war. – Wie da alles noch in so frischem, lebendigem Andenken vor dem Auge meines Geistes dasteht, was auf das Bild dieser Liebe hinweiset; – jede Äußerung, jegliches Unterpfand und Zeugnis derselben, ihrer Wahrheit, ihrer Wärme und ihrer unvergänglichen Treue. Und wie es dem gramerfüllten Herzen so wohltut, noch in dem bloßen Bilde der Erinnerung den schönen Blumen- und Fruchtgarten dieser Liebe zu durch | wandeln und voll Dankgefühl an dem Anblicke seiner Reize 24r und Schönheiten und besonders der in ewig frischer, jugendlicher Blüte darin prangenden Blume Vergiss Mein Nicht! sich zu weiden. O der unaussprechlichen Wonne der Wehmut, womit dieses Herz sich die letzten Szenen, die letzten Zeichen Zeugnisse dies letzte Seufzen und Flehen, die letzten Wünsche und Gelübde der heiligen und ewigen Liebe in den letzten Lebens Tagen der Geliebten zurückruft. Dein Geist ist`s, der jetzt noch immer mich ruft; wie Du so oft mich an Deine Schmerzens- und Leidensstätte riefest, um in dem Anblicke, dem Mitgefühl und der Trostzusprache des treuen Gatten und Freundes Linderung und Stärkung für die Qualen und Martern zu finden. Aber Dein Geist ruft – der selige Geist – mich jetzt nicht, als ob er noch meiner Teilnehmung und meines Beistandes und Trostes auch jetzt noch bedürfe, und von schmerzlichster Sehnsucht getrieben verlange, dass ich die Fesseln zerbrechen solle, die die Seele an diesen Leib und durch ihn an diese Welt binden. Denn ich soll ja leben; – so gebeut’s mir die Pflicht, deren Wille die Stimme Gottes ist im Gewissen Herzen des Menschen. Aber in meinem Innersten ruft Dein Geist mir jetzt zu – und das innere Ohr wird diese ihm so bekannte Geisterstimme in den letzten Augenblicken des Lebens noch hören – er ruft unaufhörlich mir zu: Dass ich der Stimme der Herzens- und Berufspflicht bis ans Ende treu und gehorsam, mit der Tat wie mit dem Leibe, in dieser und für diese Welt, mit dem Geiste und Herzen aber, oder dem Denken und Wollen nach, in jener Welt und für die höheren und ewigen Zwecke derselben den Rest des kurzen Lebens | in den drei großen Kreisen der 24v mir zugewiesenen Berufspflichten fortführen und vollenden müsse, um so jeden furchtbaren Gedanken von Trennung, von Todesnacht und Todeskluft zwischen uns ganz und auf ewig aus der Seele vertilgen zu können. Und was diese Stimme mir sagt, ist ja auch im Grunde

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nur der Widerhall der Wünsche und Bedürfnisse und der Ahndungen des eigenen Herzens; – denn wir waren und bleiben ja dem Herzen nach einig. In diesem Sinne und Geiste und mit diesem Herzen voll Zuversicht rief ich auch Dir an einem Morgen – der rührendste und unvergesslichste Auftritt – noch einige Lebenstage vor dem letzten, als Du mich aus dem Sterbezimmer wieder zu Dir gerufen, mich mit einer Inbrunst und Herzlichkeit wie nie in Deine Arme geschlossen, an Dein Herz mich gedrückt und mit Küssen der reinsten und heiligen Liebe das für dies Leben sich lösende Band der Liebe für ein neues Leben auf’s neue fest zu knüpfen suchtest – ich rief das Trostwort Dir zu: Sally, meine Sally! Wir trennen uns nie! – Und mit derselben Zuversicht, die der Geist der Liebe und des Glaubens Dir einflößte, sprachst Du das dreimalige Beteuerungswort aus: Nein, nimmer, nimmer, nimmer! – Ach! ohne diese Zuversicht des Glaubens hätte unter der schweren Zentnerlast des Gedankens an die Trennung 25r das Herz Dir erdrückt und zermalmt werden müssen,68 | da selbst vom Gefühl dieser Zuversicht belebt und gestärkt, Deine Seele doch zagte und zitterte im Angesichte und lebhaften Vorgefühl der nahe bevorstehenden Trennung, und voll Kummer und Bangigkeit um das Schicksal der bald verwaisten Deinigen ihre Gefühle in den Klagetö­ nen ausdrückte: »Ich denke nicht an mich und fürchte auch nichts für mich; aber schwer, schwer ist’s, die Seinen, Mann, und Kinder zu verlassen, und solche Freunde« (auf unseren biederen Freund und Arzt hin deutend) – Jawohl, teilnehmende Seele, geschworene Feindin alles Egoismus jeder Art – wohl dachtest Du nie an Dich selbst, wie im Tode nicht, so auch nicht im Leben, sondern nur an die, welche Deine Welt, die Welt Deines rastlos und gemeinnützig geschäftigen Lebens – – waren, den Gatten und die Kinder, und nächst diesen an die teuren Verwandten, und die Freunde und deren Verlassene und Verwaiste. Diesen, nicht Dir selbst zum Genusse, hattest Du Dein Leben, das rastlos und gemeinnützig geschäftige Leben, geweiht. – Aber am nächsten lag jetzt dem teilnehmenden Herzen das Schicksal des Gatten, dessen Tiefe und Lebendigkeit des Gefühls Du nur zu wohl kanntest und bedachtest, wie ja auch das Schicksal der Kinder selbst von dem Zustande des Vaters abhängen würde. 25v | Wie Du, teilnehmende Gattin und Freundin und Mutter! nicht um Dich, sondern nur um mich und die Kinder besorgt, nur an mich und sie denkend, Dich selbst aber vergessend, nicht achtend der Pein des gegenwärtigen Schmerzens und des nahe bevorstehenden, letzten Kampfes, wenn der Tod den bitteren Kelch Dir reichen würde, den

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Gebeugten aufzurichten, seine Tränen zu trocknen und den Gram ihm aus den Tiefen des Herzens zu scheuchen suchtest. Als ich wenige Tage vor der entscheidenden Trennungsstunde, die Du selbst, je näher, je gewisser Dir entgegen kommen sahst, mein gebeugtes Haupt auf Deine Hand legte, und die teure Hand mit Tränen des Grams und der Wehmut, deren Ausbruch ich zu lindern nicht vermochte, benetzte: da erhobst Du, von wehmütiger Teilnehmung gerührt, die tränenbenetzte Hand und berührtest damit sanft und streichelnd meine Wange. Ach! schon hatten Lippen und Zunge, vom Krampfe gelähmt, und in zuckende Bewegung gesetzt oder von starken, mit Anstrengung aller noch vorhandenen Kraft ausgestoßenen Lauten des Schreiens entkräftet, Dir die Sprache versagt. Du konntest das Gefühl Deines Herzens nur noch auf solche Weise vernehmlich genug ausdrücken. Aber der erste und einzige Vertraute Deines Herzens vernahm auch diese Sprache, und sie drang tief in sein Innerstes. Er erkannte und vernahm in dieser deutungsvollen Zeichensprache der Liebe und | des Vertrauens die Wiederholung des schon einmal ihm 26r in der Stunde einer schweren, früheren Trennung gesagte Trostwort: »Sei unbesorgt und unbekümmert, der Gott, welcher uns so wunder­ bar zusammenführte, wird uns auch, ich hoffe es zutrauungsvoll zu Ihm – nach einer kurzen Trennungszeit wieder zusammen bringen.« So vernahm ich's und deutete es auch jetzt: Gräme, härme Dich nicht, dieser Gott, der mich nach jener Trennung wieder zu Dir geführt auf dem Wege so großer und augenscheinlicher Todesgefahren, die mir69 von wütenden Orkanen tobenden Meereswellen gedroht, aus denen ich wunderbar gerettet worden,70 – derselbe Gott wird auch durch das Dunkel der Todesnacht uns retten und, zum neuen Leben erwacht, in einem neuen Lichte die Unzertrennlichen einander wie­ dersehen und wiedererkennen lassen. O, noch jetzt, immer noch gedenke ich dieses mir gegebenen Zeichens der Liebe und des Glau­ bens, und so oft das Andenken dieser himmlischen Tröstung mir vor der Seele schwebt, wird mein Innerstes am tiefsten bewegt und unaufhaltsam strömet die Träne einer unaussprechlichen Wonne der Wehmut. Denn ach! es war ja doch das letzte Gespräch, das letzte Zeichen und der letzte Ausdruck des Einverständnisses zwischen Dir und mir. Der folgende Zustand bis zum letzten Pulsschlage Deines Lebens verstattete uns kein Gespräch keiner Art weiter, bis auf den letzten Zuruf in der Todesstunde, den Du vielleicht noch vernommen. | Und Du – Du könntest tot für mich sein, Du, meinem Geiste 26v und Herzen mit dem Geiste und Herzen so nahe, so gegenwärtig.

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Vernichtet könnten sie sein, vertilgt aus der Seele die heiligen Erinne­ rungen an alles, an solche Zeichen und Unterpfänder einer solchen Liebe und eines solchen Vertrauens? Verloschen und verdunkelt könnte sein das Bild Deiner Liebe und Deines Glaubens, das Du selbst in dem inneren Heiligtum meines Geistes und Herzens – ein ewiges Denkmal – aufgestellt hast. Nein! Du bist noch und lebst noch für mich; und wirst heute und immer für mich noch leben und sein. Wie ich in dem tiefen, lebendig bleibenden Andenken an Dich und das Herz Deiner Liebe und dem erhöhten und verklärten Gefühl der Mei­ nen zu Dir, Erheiterung und Mut und Kraft zur Erfüllung jeder Pflicht finde, so finde ich darin zugleich das köstliche Unterpfand und eine nicht täuschende Bestätigung des Glaubens an unsere Unsterblichkeit und eine vollkommene Wiedervereinigung unserer Herzen. Aus der Quelle der reinen und unüberwindlichen Liebe schöpfe ich den Trost und die Hoffnung des Glaubens. Darum ruft denn auch in diesem bedeutungsvollsten und vollendeten Sinne und mit dieser Hoffnung mein Geist Deinem seligen Geiste in die höhere unsichtbare Sphäre seines jetzigen Schauens und Wirkens noch unaufhörlich nach: Sally, hier und in der Ewigkeit meine Sally! Wir trennen uns nie! Und ich höre von dorther noch Deine Geisterstimme das nämliche 27r Trostwort | mir zurufen: Nein, Nimmer, Nimmer, Nimmer. – Wir werden uns Wort halten; bei dem Gott der Liebe wollen wir es beteuern: Wir werden uns Wort halten. – Und hast denn Du, meine Mittlerin – verklärter Schutz- und Trostengel meines Lebens! mir nicht schon Wort gehalten; oder vielmehr – denn an Worthalten in der buchstäblichen Bedeutung kann und soll hier durchaus nicht gedacht werden – Hast Du mir nicht ein meinem innersten Sinne, der über das, was ihm wahr und überzeugend dünkt, zu urteilen und zu entscheiden hat, genugsam verständliches und glaubwürdiges; – ein Zeichen gegeben, dass Du lebtest; – mit Bewusstsein Deiner Persönlichkeit fortlebtest, und auch für mich noch fortlebtest, da Du wirklich nicht mehr lebtest? – Ein vielbedeutendes, außerordent­ liches Zeichen, das ich weder begehrt noch erwartet, weil ich an die Möglichkeit desselben nie zuvor geglaubt; das ich nicht einmal gewünscht, geschweige denn gar mit Begierde erfleht und ersehnt und die Befriedigung dieser Begierde auf eine etwa zuvor gegangene Verabredung – als ob sich über Dinge dieser Art wohl gar auf einen gewissen Fall ein Kontrakt schließen ließe – oder irgend eine andere gleich törichte und vernunftwidrige Vorkehrung und Veranstaltung gebaut hätte, weil ich von je her es für sträflich, für Gott versuchend

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und Gott misstrauend, und für ein Zeichen eines verkehrten Sinnes und eines ungläubigen oder abergläubigen Herzens gehalten, Erschei­ nungen und Offenbarungen dieser Art zu verlangen, | und bis auf 27v diesen Augenblick noch dafür halte. Mein Glaube an eine Geister­ welt hatte überdies seit langem schon so tiefe Wurzeln im Herzen und Gewissen geschlagen, dass ich jeden anderen Weg zum Besitz eines schon im Herzen gefundenen und darin bewahrten Kleinods zu gelangen, um so mehr verschmähen musste; ja, mehr von Tag zu Tage, dem gewissen Zeugnisse der Vernunft und des Herzens vertrauend, meine Überzeugung zugenommen, dass jeder andere Weg unsicher und unzugänglich, oder gar der Reinheit und Anspruchslosigkeit der echten sittlichen Denkart und Gesinnung gefährlich und nachteilig sei. »Mein Glaube an eine Geisterwelt« schrieb ich an einem der bangen und angstvollen Tage, da ich mich mit der Geliebten schon nahe am Scheidewege des Lebens zu befinden fürchten musste, dem hochgesinnten, idealischen, den Platonen und Klopstocken nachempfindenden und nacheifernden Freunde M.71 als Antwort auf ein erheiterndes und ermunterndes Trostwort der teil­ nehmenden Freundschaft; – ich schrieb dem Freunde: »Mein Glaube an eine Geisterwelt und an die Unvergänglichkeit alles dessen, was für eine solche Welt nur Bedeutung und Zweck haben kann, das ist der Trost, den ich in mir selber finde.«72 – Wohl hatte ja zuweilen – denn warum sollte ich hier meine Schwäche und meinen Wankelmut verhehlen – wohl hatte mir die Spekulation den ungestörten | Besitz 28r und Genuss meines kindlichen Glaubens zu verkümmern und das Herz in ihr Gewebe künstlicher metaphysischer Deduktionen und Demonstrationen zu verstricken gesucht. Insbesondere aber hatte die transzendente Tendenz der neuesten Spekulationen, die den uralten und den älteren eigentlichen Spinozismus aus dem Grabe wieder, wie wohl in verjüngter und verklärter Gestalt, auferwecken,73 auf Augenblicke wenigstens irre zu machen, und mich um die nötige Haltung und Besonnenheit zu bringen gewusst, die man behaupten muss, um dergleichen Gestalt und ausdrucksleere Physiognomien des menschlichen Geistes durchschauen, und diese falschen Inter­ preten seiner Anlagen und Triebe und Bestrebungen, seiner Zwecke und Absichten für das, was sie sind, zu erkennen. Und in Wahrheit! Es gehörte dazu um so mehr Unbefangenheit und um so mehr Stärke der Selbstverleugnung des eigenen spekulativen Triebes in mir, je mehr mein eigener spekulativer Genius mich unaufhaltsam und unwillkürlich zu dem nämlichen System hintrieb, und an dem Anbli­

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cke seiner eigentümlichen Reize, seiner anerkannten Konsequenz und inneren, ganz eigenen, szientifischen Würde, Einfalt Selbstgenügsamkeit mit unnennbarem Wohlgefallen sich ergötzte, so dass ich sogar in dem Resultate des transzendentalen Idealismus an dem Lichte der Vernunftkritik im Grunde auch nichts weiter erblickte als Spinozismus, nur freilich den umgekehrten und statt des 28v positiven einen bloß negativen Spinozismus, wie74 | der Autor der Apodiktik,75 dieser geistvolle Denker, dessen Glaubensbekenntnis hierüber ich hiermit unterschreibe,76 sich ausdrückt. Dieser negative Spinozismus der Vernunftkritik, der es laut und mit sokratischer Einfalt und Offenheit bekennt, von der Seele, der Welt und von Gott und insbesondere von dem Verhältnisse Gottes zur Welt im Grunde und an sich nichts weiter zu wissen, als das, dass und warum man davon nichts wissen könne, kann freilich die menschliche Vernunft mit ihrem spekulativen Wissenstriebe zum Stillschweigen bringen und zur Resignation nötigen; auch gibt sie allerdings negativen Trost und zugleich den Mut, jenen Schattenbildern und Gespenstern der neuesten Spekulationen, die sich über das alles ein positives und so entscheidendes Stimmrecht anmaßen wollen, ohne Furcht und Zagen ins leere Angesicht zu sehen. Aber ich war mir leider! auch dieses negativen Trostes, dieser Unerschrockenheit und dieses Mutes in allen den Lebensmomenten, in welchen der spekulative Trieb in mir an der Tagesordnung war, nicht immer in gleichem Maße und Grade bewusst. Öfter ergriff mich auf Augenblicke ein eiskalter Schauer, das Herz fing mir an zu erstarren; das Licht des Geistes verdunkelte sich in mir; es wurde finster, immer finsterer um mich, 29r und das Bewusstsein meiner Per|sönlichkeit selbst schien endlich ganz verlöschen zu wollen, wenn ich meine altgewohnte, dem Geiste und Herzen so interessante und willkommene Ansicht von einem unsterblichen, mit dem fortdauernden Bewusstsein der Persönlichkeit begleiteten und vom stets regen Ewigkeits- und Perfektibilitätstriebe gereizt, zum Höheren, zum Ziele vollendeter Vollkommenheit fort­ schreitenden Leben, vom Meere der Ewigkeit wie verschlungen, in ein lebloses Leben ohne Selbstständigkeit und Individualität;77 und meine Ansicht von Gott als einer moralischen Intelligenz und seinem Verhältnisse zur Welt und dem Menschen, als dem freien Schöpfer zu freien Geschöpfen, in die Ansicht von Gott als einer bloß inwohnenden Weltseele, im ganzen Universum gleichsam verbreitet, aber ohne eigenes persönliches, vom Universum selbst, dem bloßen Werke seiner schaffenden und erhaltenden Macht, verschiedenes

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Sein und Leben, durch die Zauberkünste jener Spekulationen, die auf solche Weise das alte, blinde Schicksal, fatum genannt, auf den Thron des wahren lebendigen Gottes erheben, verwandelt sah. – In diesen trüben, dem inneren Leben des Geistes und des Herzens Tod und Vernichtung drohenden Lebensmomenten vermochte | das 29v gebrauchte Gegengift einer ihr Vermögen und Unvermögen und ihre Grenzen anerkennenden Spekulation mich allein nicht zu retten. Aber ein erweiterter und geschärfter Blick nach außen auf die Natur in ihren mannigfaltigen und geordneten Zweckbeziehungen, in denen das Auge der Reflexion die unverkennbaren Züge einer freien, nach Zweckideen alles und überall ordnenden, schöpferischen Weisheit, wie mit einer geheimen Chiffrensprache geschrieben, erblickte; und mehr noch ein nach innen gekehrter, in die Tiefen des eigenen Geistes, Gewissens und Herzens eindringender Blick, erheiterte mit einem Male und belebte wieder den Geist und das Herz; das Licht des Geistes wurde heller wieder angefacht, neue Lebenswärme kehrte ins erstarrende Herz wieder zurück, und sie ergoss sich wieder reiner und kräftiger, die Quelle des inneren persönlichen Lebens; und ich fand in diesem erhöhten und kräftigen moralischen Lebensgefühle die Verheißung, nie, nie könne diese unerschöpfliche Quelle versie­ gen. Denn ich hörte hier die innere Stimme, die mir das Wort der Verheißung zurief; und was die innere Stimme spricht – sagte mir mit dem unsterblichen Dichter ein anderer als mein spekulativer Genius – »Was die innere Stimme spricht, das täuschet die hoffende Seele nicht.«78 Also noch einmal! – Es bedurfte für mich zur Sicherung und Bekräftigung meiner subjektiven, köstlichsten Überzeugungen keiner außerordentlichen Beglaubigung und Bekräftigung durch eine außerordentliche Er|scheinung, auch konnte und durfte ich eine 30r solche aus den anderweitigen, schon oben angegebenen Gründen nicht einmal wünschen, geschweige denn verlangen und erwarten. Wirklich war auch nicht einmal vom ferne ein Gedanke daran oder ein Wunsch und eine Sehnsucht danach mir in die Seele gekommen. – Ich finde es nötig, von dieser ruhigen, unbefangenen und durchaus anspruchslosen und sich immer gleich gebliebenen Gemütsfassung in Absicht auf alle Wünsche, Begierden und Erwartungen dieser Art ein besonderes und ausdrückliches Wort mit dem Bekenntnisse der lautersten Aufrichtigkeit hier zu sagen, indem ich soeben auf dem Punkte stehe, hier öffentlich, im Angesichte der Welt, die diese Blätter des Durchlesens oder wenigstens eines flüchtigen Anblicks nicht unwert achten wird, von einer außerordentlichen, mir kundge­

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wordenen Erscheinung, als einer Begebenheit, die bis auf diesen Augenblick einzig in oder vielmehr außer der Reihe aller meiner übrigen Lebensereignisse dasteht, zu reden. – Aber was will tun? Mitteilen also, öffentlich mitteilen, was ich vielleicht – ein tiefes, mir selbst unerforschliches Geheimnis – auf immer im sicheren Busen verschließen oder nur den vertrauteren und unbefangenen Freunden als eine psychologische Aufgabe und als einen nicht unwichtigen Beitrag zu den mancherlei wunderbaren Täuschungen des Sinnes, der Phantasie und des Herzens vorlegen sollte, ohne selbst darin mehr Wahrheit zu finden und ein größeres Gewicht darauf zu legen, als der nüchterne Denker und der unbefangene Naturforscher darin sehen und danach abwägen und schätzen kann. Sollte ich nicht also 30v lieber | ganz davon schweigen, auch darum schon schweigen, um die Philosophie nicht zu wiederholten Malen79 die Schmach und Beschämung erleben zu lassen, dass einen ihrer Priester, und noch dazu aus der Schule des nüchternsten und ruhigsten Denkers, der mit der Fackel seines hell- und weitleuchtenden philosophischen Geistes die Macht der Gespensterwelt von Anbeginn an mit Mut und Eifer zu verscheuchen gesucht, zur Fahne der Geisterseher80 und Geisterbeschwörer81 sich begeben und am Altar des Wahnglaubens an Geistererscheinungen demselben der Schwärmerei82 opfern sehe. Oder meine ich vielleicht durch Mitteilung eines Faktums dieser Art den philosophischen oder unphilosophischen Unglauben unsrer Zeit bekehren und doch von der anderen Seite dem Aberglauben und der Schwärmerei damit zugleich bedeutende Winke und Fingerzeige zu geben, die zur Absicht haben, vor Missbrauch und Missverständ­ nissen zu warnen und sichern? Diese und eine Menge ähnlicher Bedenklichkeiten lege ich mir selbst vor. Und doch kann ich und will ich dem inneren Drange zur Mitteilung nicht widerstehen. Ich will das Außerordentliche und Wunderbare, nie bis jetzt, weder vorher noch nachher Erlebte, was mir erschienen und wie es mir erschienen und wie es mir für mich wahr gemacht und gewiss geworden, ich will es mitteilen in der einfachen und unausgeschmückten Form der Geschichtserzählung, selbst auf die Gefahr, dass meine Absicht dabei 31r misskannt und missbraucht, | selbst83 auf die Gefahr endlich, dass mein philosophischer Name und Ehrenruf deswegen in Anspruch genommen und dem Spott oder Mitleid preisgegeben werde. Viel­ leicht werden manche, nachdem sie diese Blätter durchgelesen, mich mit unserem großen Lessing, wie der Scharfsinnige in der ihm eigenen Antithesen-Manier sich ausdrückte, zu den Köpfen zählen, in denen

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Sinn und Unsinn, Licht und Finsternis gar friedlich und nachbarlich zusammenhausen.84 – Nun – es sei dann auch so. Möge die Satire den Kopf treffen, wofern nur das Herz durch eine nicht zu verkennende Reinheit und Unbescholtenheit seiner Absichten vom Tadel sich frei erhalten kann. Denn ich bin mir in allem dem, was ich der Welt sagen werde, der Zustimmung meines eigenen Herzens und Gewissens bewusst; auch glaube ich der Billigung meiner verklärten Freundin, selbst in diesem Punkte gewiss zu sein. Sie kann es für keine Entweihung ihres Wesens halten, wenn ich 85 Geheimnis der Offenbarung zwischen ihr und mir, wie ich es empfangen und mir ausgelegt und wie es in seinem Erfolge auf Geist und Herz in mir gewirkt hat, hier öffentlich mitteile. – Ich schreibe die folgende, unentstellte und unverfälschte Geschichtserzählung davon nieder, vielleicht schon im Angesichte eines nahen Todes, wovon ich einiges Vorgefühl bereits zu verspüren glaube. Es war in der ersten Nacht (vom 7ten zum 8ten Febr.)86 des Todesschlummers der verewigten | Gattin und Freundin, als ich die 31v außerordentliche Erscheinung erlebte. Ich befand mich seit der Schei­ destunde der Geliebten von vormittags gegen 11 Uhr in dem nahe benachbarten Hause unserer mütterlichen Freundin, der verwitweten Pastorin O….87 Abgespannt und entkräftet von alledem, was ich an Körper und an der Seele durch das traurigste Ereignis meines Lebens gelitten, hatte ich mich etwas erholt und gestärkt gefühlt, teils schon vorher in der letzten Lebensnacht der Hinscheidenden durch einen tiefen, dreistündigen Schlaf auf dem Sofa nahe an der Leidens- und Sterbestätte, während dessen ich das laute Schreien und Stöhnen – den letzten angestrengtesten Ausbruch des heftigsten Schmerzes der schon mit dem Todeskampf Ringenden – nach der Aussage der treuen und wachsamen Pflegerin nicht einmal vernommen hatte; teils auch nachher wieder am Nachmittag desselben Tagens durch gehaltene kurze Mittagsruhe. – Mein Gemüt befand sich jetzt in jenem Zustande der Ebbe, den ich oben schon überhaupt beschrieben; einer nie zuvor in dem Maße empfundenen Stille und Ruhe, eine Wirkung der Abspannung und Entkräftung. Kein inneres Wogen und Brausen der Gefühle, kein Sturm der Leidenschaften, keine aufsteigenden und vor den Spiegel des Bewusstseins tretenden lebendigen, mit düsteren oder heiteren Farben kolorierten Bilder einer in Aufruhr und heftige Bewegung gesetzten Phantasie. Nichts von alledem; nichts von irgendeiner

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Exaltation der körperlichen oder geistigen | Lebenskräfte. In dieser Stimmung begebe ich mich nach 10 Uhr ins Schlafzimmer, begleitet dorthin von dem Sohne der Freundin, dem Kaiserlichen Flügeladju­ tanten und Obristen O.,88 der in dem nämlichen Zimmer schlief; so wie ein junger Pflegesohn der Freundin zu den Füßen meiner Schlafstätte. Ich lege mich sogleich zu Bette, ohne noch zuvor etwas vornehmen, schreiben oder lesen zu können und zu wollen. Denn ich sehnte mich nach neuer Erholung durch einen erquickenden Schlaf, nachdem ich so viele Nächte zuvor entweder gar nicht oder doch nur äußerst wenig, und selbst die wenigen Schlummerstunden hindurch von unaufhörlicher Angst und Sorge nur zu oft aufgeschreckt, nie erquickend und ununterbrochen geschlafen hatte. Ich wünschte ein­ zuschlafen, aber ich vermochte es nicht, während der erstgenannte Freund und Schlafgenosse seiner Gewohnheit gemäß, kurz vor dem Einschlafen noch mit einer Lektüre sich beschäftigte. Aber auch nach dem das Licht ausgelöscht und der Freund bereits eingeschlafen war, konnte ich nicht schlafen, sondern blieb wach. Denn ach! der Zustand einer zu großen Ermattung und Ermüdung ist dem Schlafe eben so ungünstig als der Zustand allzu großer Lebhaftigkeit während eines fortdauernden, mit anstrengender Tätigkeit verbundenen Spiels der Seelenkräfte. In diesem wachen Zustande werde ich plötzlich und unerwartet, ohne durch einen Gedanken, ein Gefühl und irgendeine aufgeregte Begierde der Art dazu vorbereitet und gleichsam gestimmt 32v worden zu sein, | von einem nie zuvor empfundenen, von jeder Anwandlung irgend einer Gespensterfurcht, dergleichen ich mich aus meiner früheren Jugend noch erinnere, himmelweit unterschiedenen Gefühl eines heiligen Schauers ergriffen. Ohne eine Gestalt, irgendein Schattenbild zu erblicken – es war nicht ganz dunkel im Zimmer, obgleich kein Mondlicht es erhellte – oder irgendeinen Fußtritt zu hören, empfinde ich die Nähe des Schutzgeistes der im Leben vor wenigen Stunden erst von mir geschiedenen Geliebten. »Gib mir Deine Hand« – sage ich, mit leiser, aber unerschrockener und mit merklich gefühlter Bewegung der Lippen begleiteten Stimme; und in dem Augenblicke fühle ich die Wurzel meiner Rechten – nicht etwa berührt von den Fingern einer körperlichen Hand – nein, nur leise und sanft, aber doch merklich angeweht und angehaucht von einem kalten Hauche. Und den Augenblick darauf hört mit einer himmlisch-melodischen Stimme mein inneres Ohr die Worte ihm zurufen: »Gute Nacht!«89 – – 32r

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Die Glieder bebten mir von dem fortdauernden heiligen Schauer durchdrungen; – mein ganzes Inneres wurde in seiner Tiefe bewegt. Es war, als ob die wache Seele, der augenblicklich wieder verschwun­ denen himmlischen Erscheinung gleichsam nachsehend und dem Nachklange ihrer Engelsstimme nachgehend, hinter derselben einen Lichtstrahl aus dunkler Ferne, von einem allda leuchtenden | Sterne 33r der Hoffnung herüber schimmernd, erblickte, der in ihr Inneres sich senkte. – – Dahin war die wunderbare Erscheinung; aber der tiefe, tiefe Eindruck war im Innersten der Seele geblieben und erhält sich bis auf diesen Augenblick noch in derselben mit gleicher unveränderli­ cher Stärke und Zuversicht. Auch wurde auf der Stelle der Wunsch der Guten Nacht – dieses Zeichen und Losungswort des vertrautesten und liebevollsten Einverständnisses unsrer Herzen, wenn wir im Leben mit einem Kusse der Liebe uns Gute Nacht! sagten – es wurde dieser Wunsch jetzt sogleich erfüllt. Ich schlief von dieser Stunde an ein; und schlief zum ersten Mal wieder einen die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen ununterbrochen fortdauernden, erquickenden Schlaf – das für mich damals unentbehrlichste lebenserhaltende und lebens­ stärkende Mittel. Als ich am Morgen heiterer und gestärkter als je zuvor erwachte, da trat sogleich das Bild der erlebten, außerordentlichen Erscheinung mit der frischen Lebendigkeit des ersten Eindrucks wieder vor die Seele und ich sah es so einzig da stehen, so abgesondert durch seine Eigentümlichkeit von allen bloßen, auch den lebhaftesten Traumbil­ dern und Traumgesichten, die ich ja zuweilen, wie wohl doch selten nur im Leben gehabt hatte, und deren Entstehung ich mir immer natürlich nach psychologischen Regeln zu erklären wusste. Aber das war kein bloßes Traumgesicht | gewesen; – nein, das konnte kein 33v bloßes Traumgesicht gewesen sein, denn ich hatte ja nicht geschlafen; auch keinen leichten Schlummer geschlummert, sondern ich hatte gewacht. Die Erinnerung an diesen wachen Zustand und an das Außerordentliche, was ich in diesem Zustande erlebt, war jetzt am ersten Morgen des Tages so deutlich und bestimmt, als je zuvor das Andenken an irgend eine andere gewöhnliche oder ungewöhnliche Begebenheit meines Lebens gewesen war. Und wie mächtig und einzig der Eindruck davon auf mich wirkte, davon zeugte meine ganze Stimmung an diesem Tage so wie an den nächst folgenden. Ich war ruhiger und gefasster als nie zuvor, so ruhig und auf alle Fälle gefasst, daß ich von der Stunde an mit ruhiger Besonnenheit und nachdenkendem Ernste mit dem, was eben für diesen Augenblick

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noch als die dringendste und wichtigste Pflichtangelegenheit von mir zu besorgen sei, mich beschäftigte, wenn die nächstkommende Nacht vielleicht schon die letzte auch meines Lebens sein sollte. Denn von nun an glaubte ich deutlicher und stärker als jemals meine Abhängigkeit nicht von einem blinden fatum, sondern von einem moralischen Weltgeiste zu fühlen, in dessen Händen ich mit Ergebung und Zutrauen mein Schicksal sah. Ich konnte nicht wissen, was in dem Ratschlusse des Weltregimes über mich beschlossen sei; welches Verhängnis mir diesem unerforschlichen Ratschlusse zufolge bevorstehe; ob ich länger noch leben oder bald und schnell hier 34r abgerufen werden solle, um mit der Lebens|gefährtin und Freundin zu einem vollkommenen Bande aufs Neue vereiniget, das neue Leben in dem größeren, uns allda angewiesenen Tätigkeitskreise wieder zu beginnen. – In dieser Stimmung, in welcher ich mich mächtiger als je im Leben bis an die Grenzen des Sinnenlebens getrieben und der mit mir noch verwandter gewordenen Geisterwelt näher gerückt fühlte, setzte ich im Angesicht des vielleicht nahen, sehr nahen Todes, dessen Bild ich mit der heiteren und freundlichen Miene des Weisen betrachtete, noch an dem nämlichen Tage schriftlich einige nötige Verordnungen auf, das unserem Herzen Wichtigste und Nächste, das Schicksal unsrer verwaisten Kinder, betreffend, als unseren letzten gemeinschaftlichen Willen, mit meinem so wie mit dem Namen der verewigten Gattin und Mutter unterzeichnet. Ich lege das in der Form eines kuvertierten Briefes versiegelte, aber mit keiner Aufschrift versehene Papier auf den Tisch des Schlafzimmers, bevor ich mich ungefähr um die nämliche Zeit wieder, wie im Zustande der größten Ruhe und Fassung gestern, zu Bette begebe. Kein lebhafter Wunsch, keine sehnsuchtsvolle Begierde, das Wunder einer neuen solchen Erscheinung wieder zu erleben; aber viel weniger noch von der andern Seite die mindeste Anwandlung von Abneigung, von Widerstreben, oder Bangigkeit und Furcht davor.90 Ruhig und gelassen will ich vielmehr es abwarten, was mir begegnen, welches das über mich beschlossene Verhängnis und der Ausgang desselben sein möge. Aber – obgleich freilich bei aller Ruhe und Fassung die Erwartung 34v dennoch natürlicherweise von jetzt an etwas gespannt | war, ja selbst aus gleich natürlichen Ursachen, der Wunsch und die Neigung des Herzens sich leise und im Geheimen auch ohne laute Regungen einer starken und sehnsuchtsvollen Begierde zur hoffenden Wiederkehr der geliebten Erscheinung hinneigen mochte: Es erfolgte nichts. Statt der vergebens vermuteten Wiederkehr schlief ich in Kurzem ein und

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genoss eines ununterbrochenen und selbst traumlosen Schlafes bis zum hellen Morgen, an welchem ich heiterer und gestärkter mich fühlte als je zuvor; ohne übrigens auch nur das Mindeste aus der geführten Lebensart und Ordnung des vorigen Tages angeben zu können, welches mir das Labsal dieses heilsamen Schlafes zubereitet hätte. Meine Stimmung war und blieb die nämliche; – die der Ruhe, der Heiterkeit und Fassung. Bei der Erinnerung an das auf den Tisch gelegte Papier, seinen Inhalt und Zweck fiel mir ein, dass ich einen wesentlichen Umstand darin abändern müsse, der das Schicksal unseres älteren Sohnes betraf, um in Ansehung dieses teuren, erst­ geborenen Lieblings unseres Herzens noch ruhiger und unbesorgter sein zu können. Ich verbrannte daher das Papier und schrieb auf ein neues unseren letzten Willen auf, mit der von mir für nötig erachteten Abänderung. Das Papier, welches ich seit den zwei Monaten, die von jener Katastrophe an bis jetzt bereits verflossen sind,91 unentsiegelt unter meinen übrigen Papieren aufbewahrt, | habe ich soeben vor 35r mich gelegt, um es in diesem Augenblicke erst zu erbrechen und den Inhalt von Wort zu Wort hier auszuschreiben. Hier sind die Worte: »Unseren ältesten Sohn Richard Emanuel empfehlen wir, als ein teures Vermächtnis, der väterlichen Fürsorge und Erziehung unseres edlen Freundes, des Herrn C. v. M… auf Z…,92 der immer eine beson­ dere Zuneigung für diesen unseren erstgeborenen Liebling bezeigt hat. Sollte indessen unser unvergesslicher Freund, der Geheimrat P. in D.,93 der das schöne Band unserer reinen und ewigen Liebe geknüpft hat, den holden Knaben zum Andenken an uns und als ein köstliches Pfand der Freundschaft für uns fordern und als Pflegesohn aufnehmen wollen: so hat dieser alte Freund auf den Besitz unseres Sohnes die nächsten und größten Ansprüche. Unsere Tochter, Jean­ nette Henriette, übergeben wir der Aufsicht und Erziehung unserer mütterlichen Freundin, der Frau Pastorin O94…, mit dem vollsten und dankbarsten Vertrauen auf die treue, erprobte Freundschaft dieser seltenen Freundin. Unser jüngster Sohn, George Straker, werde nach England in den Schoß seiner mütterlichen Familie geführt und allda seinem | teuren 35v Onkel, George Straker in Newcastle, als Pflegesohn zum köstlichen Andenken an seine verewigte, von ihm so zärtlich mit der innigsten Bruderliebe geliebte Schwester Sally anvertraut. Die Papiere, unsere Hausangelegenheiten betreffend, sind zu finden im Pulte auf meinem Studierzimmer. Unser Briefwechsel mit­

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einander liegt zum Teil in dem nämlichen Pulte, zum Teil im Bureau95 unseres Schlafzimmers. Der Briefwechsel werde zum Andenken an uns für unsere Kinder aufbewahrt. Das Übrige Gott und unseren Freunden mit ewig dankbarer Empfindung des Herzens befohlen. G.B. und Sally Jäsche den 8ten Febr. (eigentlich aber den 9ten erst in dieser veränderten Form aufgesetzt)« So hatte ich also jetzt unseren letzten Willen abgefasst, das Papier ganz so wie gestern zusammengelegt und versiegelt und ohne Auf­ schrift auf den Tisch gelegt. – Meine Gemütsstimmung war indessen den Tag über (es war der Tag vor dem nächstfolgenden Morgen, an welchem die Hülle der Unvergesslichen zur Ruhe sollte bestattet werden) durch man­ che Umstände, Ereignisse und Beschäftigungen um ein Merkliches 36r | verändert worden. Die Temperatur der Seele war nicht mehr die gemäßigte der ewigen Ruhe und Stille; sie war erhöht. Die Töne und Farben der Empfindungen waren frischer und lebhafter – die Bilder der Phantasie klarer und lebendiger geworden. Ich hatte an diesem Tage von dem, was mir am Herzen lag, selbst die Sorge übernommen. Ohne mich aus dem Hause der Freundin zu entfernen und ins Trauerhaus zu begeben, machte ich von hier aus eine und die andere Bestellung, zeichnete ich am Morgen dieses Tages mit eigener Hand die Inschriften auf, die auf die weißglänzenden, an die äußeren Seiten des Sarges befestigten Schilder eingegraben werden sollten. Auf das eine dieser Schilder Namen, Geburtsort, Todestag und Lebensalter; auf das andere den so ganz hier passenden Spruch aus dem Munde des Heiligen des Evangeliums: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.96 Nachmittags wurde mir durch eine verehrte Freundin mein ältester Sohn wieder in die Arme geführt, den ich seit länger als zwei Wochen nicht gesehen. Es hatte ihn diese Zeit über mein teurer Freund und College, der Prof. G., der ach! soeben erst das gleiche Schicksal erlebt,97 und mit dem treuesten und liebevollsten Herzen des Gatten und des Freundes um den Verlust der zärtlichsten und edelsten Gattin und Freundin trauerte, zu sich ins Haus als alten und vertrauten Gespielen des einzigen, verwaisten Sohnes aufgenommen und Vaterstelle an ihm vertreten . Beim Wiedersehen

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dieses unseres erstgeborenen, nun verwaisten Lieblings vermochte die mächtig aufgeregte Wehmut sich nicht im Inneren verschlossen zu halten. | Sie brach in heftigen Schmerz aus, von heißen Tränen 36v begleitet. Mit dem verwaisten Vater weinte der 5jährige verwaiste Sohn, dessen weichgeschaffener und teilnehmender Knabenseele der ungewohnte Anblick des so trauernden Vaters und auch selbst wohl eine ihn umschwebende dunkle Ahndung von dem, was vorgefallen sei, ohne darum klar und bestimmt zu wissen und wissen zu wollen, diese Tränen des Jammers auspressen mochten. ––––– An dem nämlichen Nachmittag beschäftigte mich die Sorge um den besonderen, meinem Wunsche und Verlangen gemäß auszuwäh­ lenden Platz auf dem Kirchhofe zur Grabesstätte für die Hülle der Gattin und der künftigen Ruhestätte des treuen Gatten und Freundes neben der ihrigen. Diese Angelegenheit ward besorgt; die Leiche sollte aber indessen die noch übrige Winterzeit hindurch bis zum Frühjahr in einem Gewölbe beigesetzt bleiben. Am Abend dieses Tages wandelte mich die Begierde an, die Hülle der Geliebten zu sehen. Ich hatte die Sterbende und soeben Erblasste, aber nicht die Tote im letzten, engen Schlafgemach von Brettern gesehen. Die Sehnsucht nach diesem Anblicke verließ mich nicht, sondern wurde stärker und stärker. Ich schwankte und kämpfte zwischen dieser Begierde und dem mächtig ihr widerstrebenden Gedanken der pflichtmäßigen Sorge für die Kinder und mich selbst, die mir untersagen müsse, mich jetzt noch ohne Zweck einer Gefahr der Ansteckung in meinem jetzigen Zustande der Reizbarkeit oder doch eines allzu heftig erschütternden Eindruckes bei dem Anblicke dieses Bildes auszusetzen, | bis endlich denn doch der Gedanke an 37r die schuldige Sorge der Erhaltung meiner Selbst um der Kinder, der Freunde und der Welt willen, unterstützt von dem ernsten und liebevollen Zureden der mütterlichen Freundin – »ich möge doch ja nicht hingehen« – über die Begierde siegte und das Gefühl der Sehnsucht unterdrückte. Ich blieb zurück und sagte am Ende mir selbst: Du wirst Dich ja selbst auch nicht als Leiche sehen. Nach dem Abendessen setzte ich mich an das Klavier und spielte mir, mit Gesang begleitet, zur Erbauung, so wie am gestrigen Abend, die vortrefflichen Choräle einiger geistlicher Lieder, die ich – ein ehemaliger fertiger Orgelspieler und jetzt noch entschiedener Liebha­ ber des alten, ausdrucksvollen Choralgesanges –98 noch im frischen Gedächtnis behalten. Die fromme Freundin, durch Alter nicht fern mehr vom Ziele der Laufbahn und eingedenk der unvergesslichen

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Lieben, die ihr in die Ewigkeit bereits vorangegangen, des teuren Gatten, dieses ehrwürdigen Greises und gottesfürchtigen Priesters der Religion, insbesondere der einzigen, ewig geliebten Tochter, saß am Klavier mir zur Seite und erbaute sich gemeinschaftlich mit mir an dem Spiel und Gesange der herrlichen Lieder: »Meine Lebenszeit ver­ streicht99 usw.«, »Nach einer Prüfung kurzer Tage«100, »Auferstehn, ja auferstehn wirst du«101 und andere Gesänge der Art. 37v In dieser erhöhten Stimmung der Gedanken | und Gefühle, bei welcher das Spiel der Phantasie mit den Bildern des Todes und des Grabes, der Unsterblichkeit und des Wiedersehens lebhafter wiederum aufgeregt und unterhalten worden war, gehe ich ins Schlaf­ zimmer, in welches mir bald darauf mein aus einer Gesellschaft nach Hause gekommener Schlafgesellschafter, der Obrist O…,102 folgt. Wir begeben uns beide zu gleicher Zeit zur Ruhe. Ohne mich mit dem Freunde, der seit langem gewohnt war, sich durch Lektüre in Schlum­ mer einzuwiegen, in eine Unterhaltung einzulassen, so wenig als an den vorigen Abenden, war ich nur mit mir selbst beschäftigt, und zwar diesmal lebhafter als an den zwei nächstvergangenen Abenden. Dieser lebhafteren Gemütsstimmung ungeachtet, schlafe ich doch, nachdem das Licht ausgelöscht worden, in Kurzem ein, ohne auch nur die leiseste Anwandlung von jenem wunderbaren Gefühl, das mich vorgestern um diese Nachtzeit ergriffen, verspürt, geschweige denn die Wiederkehr einer Erscheinung der Art wieder erlebt zu haben. Ich schlafe vielmehr auch diese Nacht wieder einen ebenso ununterbrochen ruhigen und traumlosen Schlaf, als die gestrige und vorgestrige Nacht hindurch. Der Morgen, an welchem ich nun aus diesem erquickenden Schlafe erwachte, war zur Begräbnisfeier bestimmt. Ich nahm daran persönlich keinen Teil, so wenig, als mein darin gleichgesinnter und -empfindender Freund G…103 hatte nehmen können. Ich wollte mir den hellen und lebendigen Gedanken: »Sie ist nicht tot für mich« 38r durch keine | düsteren Bilder des Todes und des Grabes trüben und ertöten; auch konnte und wollte ich meine Gefühle der Welt nicht gleichsam zur Schau hinstellen. Die Quelle dieser und aller damit verwandten Gefühle öffnet sich nur den vertrauteren Freunden, die mich fassen und begreifen; vor dem Angesichte der Welt bleibt sie verschlossen. Erst dann, wenn ich nicht mehr sein , wenn das Herz, in welchem diese Gefühle blühten und nicht unnütze Früchte trugen, nicht mehr in diesem Busen schlagen wird, erst dann sollen diese Blätter, bis dahin im Pult verschlossen, auch zur Welt die

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Sprache meiner Empfindungen reden, nicht unverständlich denen, die den Dolmetscher dazu in ihrem eigenen Herzen finden werden. 104 105 Um die zur gedachten Feier bestimmte spätere Morgenstunde fanden sich zwei Freundinnen ein, welche in Begleitung unserer alten, mütterlichen Freundin ins Trauerhaus sich von hier aufmachten, um, wie die gewöhnliche Sprache sich ausdrückt, der entschlafenen Freundin die letzte Ehre der Ruhebestattung zu erweisen. Ich blieb jetzt mit den Kindern allein im Hause zurück. Es war ein schöner, heiterer Morgen; der klare Himmel lächelte mich so freundlich an, als ob er mir eine fröhliche Botschaft und einen erheiternden Mor­ gengruß von der Freundin, die er zu sich aufgenommen, zu bringen hätte. Ich konnte im Zimmer nicht bleiben; ich musste hinaus ins Freie in den am Hause gelegenen Garten, wo ich den Seitengang hinaufging, an dessen Ausgange ich des eigenen | verödeten Hauses 38v von der hinteren Seite am Garten ansichtig wurde, ohne doch von dem Trauerzeremoniell selbst etwas sehen oder hören zu können. Ach! wie trübte sich jetzt der Blick, wie heftig wurde das Herz bewegt von Empfindungen der Wehmut! – Was ging jetzt alles in meinem Inneren vor, da die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft mit ihren getäuschten Hoffnungen für dies Leben nun vor mir lagen und sich vereinigten, der Seele zugleich die reizendsten und die trübsten Bilder darzustellen, und bei der Ansicht derselben in ihr zugleich die wonnevollsten und die wehmütigsten Empfindungen aufzuregen. Ich blickte hinüber in den großen reizenden Garten, der, mit seinem jetzigen Wintergewande bekleidet, zunächst vor mir lag, den wir, nebst dem schönen und bequemen Wohnhause vor wenigen Jahren erst angekauft und zum Tempel des schönsten und köstlichsten Glücks – des häuslichen – für uns und für unsere Kinder und unsere Freunde eingeweiht hatten. Im klaren Spiegel der Vergangenheit zogen sie jetzt vor der Seele vorüber, die lieblichen Bilder aller der an der Seite und an der Hand der zärtlichsten Gattin und treusten Lebensgefährtin genossenen Freuden häuslicher Glückseligkeit. Dankbare Zähren traten ins Auge; Empfindungen der Freude erfüllten und bewegten das Herz bei den Erinnerungen an diese köstlichsten, obgleich so kurzen, traumähnlichen | Lebensgenüsse in diesem Tempel, wo Liebe und 39r Freundschaft und häusliche Glückseligkeit gewohnt hatten. – Aber ich blickte nun auch hinüber in dieses Tempels innerstes Heiligtum, in welches sich die häusliche Liebe und Freundschaft am liebsten und öftesten zurückzuziehen pflegte, um hier im Stillen und am ungestörtesten ihre Familienfeste feiern zu können; und ach!

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ich sehe jetzt diesen Ort der Freude in ein finsteres Trauergemach verwandelt; entflohen war der Geist der Liebe und der häuslichen und geselligen Freude, der diese heilige Stätte erhellt und belebt hatte. Ich sah mit dem Auge der Phantasie nichts als die seelenlose und entstellte Hülle, die so eben aus dem Hause getragen werden sollte und musste, weil sie länger106 mit ihrem verpestenden Hauche einer ansteckenden Seuche dem Hause Verheerung und Tod würde gebracht haben,107 so wie einst ihr seelenvoller Bewohner in den Kreisen seines Lebens und Wirkens Leben und Lebensgenuss um sich her verbreitet hatte. Ach! wie verfinsterte das in tiefe Trauer gehüllte Bild der ver­ gangenen Freude den Blick der Gegenwart und zugleich der Zukunft, die nunmehr öde und tot und freudlos gleich einer dunklen und kalten Herbstnacht vor mir da lag. Denn heruntergezogen dünkte mir bereits der Vorhang, geschlossen das Drama meines Lebens, verlebt unter dem Wonnegenusse der für mich köstlichsten und genießbarsten Lebensfreude. Aber der verdunkelte Blick wandte sich auf einmal und erhob sich zum geistigen Anschauen, jenes erfahrbaren Schauplatzes einer neuen Welt, wo der zugefallene Vorhang sich wieder geöffnet 39v hatte, | und das Drama des Lebens in den folgenden, interessanteren und das Ganze des Planes und Zweckes immer klarer und lichtvoller enthüllenden Auftritten fortgeführt werde. – Erheitert und neu belebt kehrte ich aus dem Garten ins Zimmer zurück. Der erste Blick fiel auf meine Kinder; und dieser Blick öffnete mir zugleich den Himmel der schönen und genussreichen Freuden, die dem Vaterherzen auch für dies Leben noch zum Ersatz für das, was das Herz des Gatten und des Freundes verloren, bereitet sein sollten. Bald darauf trat Freund M.,108 den ich oben schon kenntlich genug bezeichnet, ins Zimmer. Wir gingen nun zusammen in den Garten. Der überaus klare Himmel und das milde Winterwetter lud so sehr dazu ein und begünstigte das Bedürfnis meines beklommenen Herzens, der freien Luft im Angesicht des freien, heiteren Himmels zu genießen. Welch ein schöner, heiterer Tag! rief der heitere und den Freund zu erheitern gekommene Freund aus. Jawohl, stimmten wir beide mit einem Munde und Herzen zusammen – wohl ist die Natur, der sichtbare Himmel über uns anzusehen als ein Bild und Symbol der moralischen Welt, des unsichtbaren, jenseits noch über dem Sonnenund Sternenhimmel mit dem Auge des Geistes und des Herzens zu erspähenden Himmels, auf welchen das Wünschen und Sehnen und Trachten des geistigen, idealischen Menschen gerichtet ist. – 40r Mancherlei wurde jetzt während des Auf- und Abgehens | in den

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langen Gängen des großen Gartens geredet, manches Lieblingsthema der alten, traulichen Gespräche unter uns, das gerade jetzt für mich, wie natürlich, ein nie zuvor so tief und lebendig gefühltes Interesse haben musste, zum Vorwurf der Unterhaltung gemacht. Manche Idee und Empfindung wurde insbesondere gewechselt über das Klare und zugleich Nicht-Klare, das zu Lösende und nicht zu Lösende in der Bestimmung des Menschen. Wie der bessere, höhere Mensch, vom Drang des doppelten Triebes nach Idealität und nach Realität unaufhaltsam getrieben, unaufhörlich schwanke und schwebe zwi­ schen dem idealen Streben der Erweiterung seines Daseins hinaus ins Unendliche und dem Streben nach Beschränkung durch Realität in bestimmten und geschlossenen, engen und engsten Kreisen seines Handelns und Wirkens. Wie in dem Punkte einer harmonischen Befriedigung der beiden Triebe das Gefühl der Einigkeit und Harmo­ nie mit uns selbst – unserem eigensten innersten und vollständigen Wesen – liege. Wie bei dem einen und dem anderen, oder auch bei einem und eben demselben zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen und Anlässen bald der eine, bald der andere Trieb vorherrsche. Und wie endlich der eine auf diesem, ein anderer auf einem anderen Wege und durch andere Schulen und Bildungsanstalten hindurchgeführt, das ersehnte Ziel zu erstreben suche, und früher oder später demselben auch wirklich näherkomme, ohne es jemals ganz erstreben zu können. – Mit Empfindungen eines dankbaren Herzens pries ich die | Liebe – die Liebe des Herzens in 40v dem engsten, traulichsten Bunde des ehelichen und häuslichen Lebens als die Schule, in welche ich, von der Hand einer höheren Weisheit und Liebe in dieselbe geführt, zum volleren und reelleren harmonischen Genuss meines Daseins und Lebens gebildet worden; als eine Anstalt, die für die höheren und höchsten Zwecke meines Daseins und Lebens die fruchtbarste und wichtigste Epoche gemacht. Der Freund, der bis auf diesen Augenblick noch allein im Leben dasteht, aber nach Verei­ nigung mit einem gleichgesinnten und gestimmten Wesen sich sehnt, fühlte nur zu gut die Wahrheit und das Gewicht dieses Zeugnisses von der Liebe und von der Ehe in ihrer zugleich realen und idealen, oder physischen und moralischen Bedeutung und Tendenz, (wofern) wenn sie ist, was sie sein kann und sein soll. Aber er bebt auch mit Schauder zurück vor dem Gedanken, wenn ihm vielleicht kein so glückliches Los fallen sollte als dem beglückten Freunde, von dessen häuslichen Glück er Zeuge und Teilnehmer gewesen war – dessen Los doch immer noch beneidenswert zu nennen und mit dankbarem Herzen in

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der Erinnerung für das so reichlich empfangene und genossene Gute anzuerkennen und zu schätzen sei, ob es ihm schon nur auf so kurze Zeit war beschieden worden. Unter diesen und ähnlichen Gesprächen, den geschärften Blick des Geistes öfter hinauf gerichtet nach jenem Lichte, welches das 41r Dunkle dieses Lebens genügender | aufklären soll, (aufklären wird), waren wir wieder ins Zimmer getreten; ich insbesondere mit dem im Herzen gesprochenen und vom Wonnegefühl einer tiefen Wehmut begleiteten Gedanken des unsterblichen Sängers des Messias: »Auf der Erde schon sind Freuden, in denen des Grabes Erbe die künf­ tige Wonne vorausempfindet; – Ach! frühe Blüthen, welken sie schnell.« 109 Bald darauf hörten wir das Geläute der Totenglocke; – das Zeichen des Hinaustragens der Leiche zur bestimmten Ruhestätte. Meine Phantasie begleitete dorthin die Hülle der Gattin und Freundin; das Auge des Leibes sah hin nach der vor ihm liegenden Ansicht auf diese Ruhestätte der geliebten Toten; indessen das Auge des Geistes sich wieder höher emporhob und sie selbst erblickte und das Herz, ihr Selbst, sich nahte, um von ihr selbst den Segen der Ruhe und des Friedens in der Verheißung des ewigen Bundes unserer unvergänglichen Treue und Liebe zu empfangen. Der tröstende Freund setzte sich jetzt an meine Seite, zog ein Buch hervor – es waren »hinterlassene Schriften von Margareta Klopstock. Hamburg, bei Bohn 1759,«110 – und las mir daraus den geistvollen und interessanten, so ganz zu meiner jetzigen Gemüts­ stimmung passenden Brief vor, den der verdienstvolle Funk,111 M.s112 unvergesslicher Lehrer, an Klopstock, den Freund, geschrieben,113 als den Verwaisten ein gleiches Schicksal wie mich, durch den Tod seiner Meta,114 der einzig und ewig Geliebten – getroffen hatte. Mehrere 41v Stellen dieses Briefes | machten einen tiefen und überraschenden, noch nie empfundenen Eindruck auf mich und versetzten mich in eine Stimmung der Begeisterung. Denn ich glaubte darin ganz deutlich eine Harmonie mit manchen meiner Lieblingsideen von Liebe und den höheren moralischen Zwecken der Verschiedenheit sowie der engsten Vereinigung beider Geschlechter durch Liebe – und eine Bestätigung dieser Ideen zu finden. – Das weitere Gespräch führte ganz natürlich auf Klopstock selbst, den klassischen Menschen und den klassischen Dichter. Wohl mag der Gottbegeisterte, sagte mein Freund, in den letzten Lebenstagen, als er sich von der Erde bereits und selbst von seinen Freunden in das innerste Heiligtum seines innersten

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Lebens zurückgezogen hatte, – vielleicht schon himmlischer Erschei­ nungen gewürdigt worden sein.115 Hier trat auf einmal das Bild der eigenen, vor kurzem mir gewor­ denen Erscheinung nahe und lebendig wieder vor den Spiegel meines Bewusstseins; und ich konnte in diesem Augenblicke dem Drange nicht widerstehen, das bis jetzt in eigenen Busen bewahrte Geheimnis der erlebten Erscheinung dem vertrauten Freunde zu entdecken, so wie ich es späterhin noch einem und dem anderen unter meinen vertrautesten Freunden und Freundinnen schon wirklich | mitgeteilt 42r habe. – Wir waren sogleich darüber einig, dass sich über Dinge der Art aus sehr begreiflichen Ursachen auf keine objektive wahre, keine objektiv gewisse Weise sprechen und entscheiden lasse; – die Über­ zeugung sei und bleibe für immer nur eine bloß subjektive; die aber dem, was objektiv-wahr und gewiss für unseren Verstand ist, doch auch nicht durchaus und nicht in gerader Beziehung widerspreche. Denn wer kennt wohl – bemerkt der weit und hell sehende Freund – wer kennt den Zusammenhang zwischen der Geistes- und der Körperwelt so vollständig und genau, dass er es wagen dürfte, über die einzig möglichen Bedingungen desselben – die Kommunikations­ mittel und -wege, so entscheidend abzusprechen116? Wer vermag wohl aus bloßen Naturgesetzen zu erklären oder unter Leitung bloßer Naturgesetze zu entdecken die geheimen und unsichtbaren geistigen Bande, durch welche verwandte Geister und Herzen auf einer ihnen selbst unerklärlichen Weise und im Momente eines Augenblicks, durch das an sich oft sehr unbedeutende und zufällige Medium eines Namens, Ortes, eines einzigen Federstriches der Hand usf., deutlicher aber und stärker noch durch Sprache und Stimme, nicht bloß der Worte und des Gesanges, sondern auch durch die ihnen allein nicht fremde Sprache eines Blickes, einer Miene und Gebärde, eines Lautes und Tones sich verständigend, sich von einander sogleich und so innig und durchdringend mit Empfindungen | anziehen und bei diesem 42v Gefühl es zugleich schon ahnden, was sie einander sein können und sein werden. Wer erklärt genügend und vollständig genug, aus ihren entdeckten ersten Gründen und Quellen, diese Regungen und Offenbarungen einer moralischen Sympathie in der Liebe und Freundschaft, oder der Antipathie in dem Hasse und der Feindschaft; – diese geheimen Anziehungs- und Zurückstoßungskräfte der Geister und Herzen untereinander? Welcher Seelennaturforscher hat dieses Dunkel in den Tiefen des menschlichen Geistes mit dem Lichte der bekannten Naturgesetze schon hell genug erleuchtet, und wer vermag

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es hell genug zu erleuchten? – Diese Ideen können zu einer Menge von Betrachtungen und Reflexionen führen über subjektive Wahrheit und Täuschung, natürliche oder künstliche, in Beziehung auf erlebte oder nicht erlebte, sondern nur eingebildete, außerordentliche Erfah­ rungen und Offenbarungen des Lebens, welches keine Philosophie und keine Wissenschaftslehre zu deduzieren und zu erweisen, aber auch ebenso wenig zu widerlegen vermag? Aber das ausführliche phi­ losophische Räsonnement über Dinge dieser Art verspare ich für die nächstfolgenden, besonderen Blätter.117 Denn es dünkt dem psycholo­ gischen Naturforscher wichtig und der Mühe wert, die Sache, sollte sie 43r selbst auch nur als psychologische Aufgabe von dem | nur das Objek­ tiv-Wahre und Gewisse suchenden und wägenden Verstande des kalten und ruhigen Denkens angesehen werden dürfen, einer unbe­ fangenen, genauen und vielseitigeren Betrachtung zu unterwerfen. Es ändert in der Vorstellungsart und Beurteilung der Sache nichts, wenn meine subjektive Ansicht und Überzeugung auch nach wiederholter strengster und gewissenhaftester Kritik doch immer unverändert die nämliche bliebe, so wie sie bis auf diesen Augenblick vor und nach der ersten, mit mir selbst darüber angestellten genaueren Prüfung doch unverändert dieselbe geblieben ist und – was mir insbesondere merkwürdig ist – am klarsten und stärksten gerade in denjenigen Lebensmomenten zu sein scheint, in welchen die ruhige und beson­ nene Denkkraft am meisten an der Tagesordnung ist und am freiesten sich fühlt von dem Einflusse täuschender Spiele und Träumereien der Phantasie; – in welchen der nüchterne, am Morgenlichte der wirklichen Welt geschärfte und erhellte Geistesblick den Traum vom Wachen, Täuschung und Schein in den Grübelspielen der Phantasie, von der Wahrheit und Realität in den wirklichen Empfindungen am deutlichsten und bestimmtesten zu unterscheiden weiß. – In118 Wahrheit: Wär’s im Grunde und durchaus nichts als ein bloßer Traum, ganz und gar weiter nichts als eine bloße Täuschung: – wunderbar bliebe mir doch immer diese so mich täuschende Erscheinung, – 43v | wunderbar in ihrem Entsetzen wie in ihrer eigentümlichen Art und in ihren Folgen oder ihrem fortdauernden Einflusse auf die Stimmung meines Geistes und Herzens. Sonderbar! Ich fand in diesen Tagen eine Stelle im Messias (im 17ten Gesange), in welcher die subjektive Art der Überzeugung nur in Betracht außerordentlicher Erscheinungen und Offenbarungen überhaupt so beschrieben wird, dass sie mein eigenes Gefühl der Überzeugung ansprach und mir eine verständliche Deutung und Erklärung desselben zu geben schien. Sogleich damals

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würde ich den mit dem Sänger des Messias so vertrauten Freunde an die Stelle erinnert haben, wenn sie mir selbst damals eingefallen wäre oder wenn ich sie nicht gar vielleicht erst jetzt zum ersten Male gelesen hätte. Ich kann nicht umhin, sie hier anzuführen: »Finster und scharf war Sebida’s Blick … … … Japhet, ein Pilger aus Tenedos … Stand … Nahe vor ihm und redete mit ihm, von der doppelten Täuschung Bald der gewähnten Gewissheit und bald des ergrübelten Zweifels, Alles, nachdem die Seele zur Überzeugung sich neige, Oder wider dieselbe sich sträube. Der Weisere köre Dinge sich aus, und Beschaffenheiten der Dinge, die sichtbar Vor ihm lägen, und die er zu übersehen vermöchte; Böten aber sich ihm aus weiteren Kreisen der Kenntnis Andere dar; so erforschet er sie, wie die aus den engern, Sähe wie sonst, verdrehte bei Überschauung des Höhern Nicht den Blick, und täuschte sich nicht durch ergrübelte Zweifel.«119

| Ist’s mir erlaubt, bevor[¿] ich das Geschäft der Kritik als Natur­ 44r forscher beginne und mich selbst vor meinen eigenen Richterstuhl oder vielmehr vor den Gerichtshof der strengen, unbestochen und unbefangen räsonierenden Vernunft in mir fordern will, hier meine Empfindung, das Gefühl meiner subjektiven Überzeugung, auszu­ sprechen und mein subjektives Glaubensbekenntnis auf eine völ­ lig anspruchslose Weise abzulegen? Schämte sich doch der selige Lichtenberg120 vor seinem, die innere wie die äußere Natur mit so hellem, so scharfem und tief eindringendem Blicke durchspähenden Verstande nicht, zuweilen im Augenblick des Trübsinns und unru­ higer Bewegungen des Herzens, die Bitte zu wagen: »Lieber Gott! Etwas aufs Zettelchen!« 121 Warum sollte ich denn vor dem Geiste meiner spekulativen Philosophie erröten und verstummen; – warum aus falscher Scham das Bekenntnis nicht des Philosophen, sondern des Menschen, zurückhalten, oder gar in meinem eigenen Inneren unterdrücken: »Lieber Gott! Ich hatte Dich um nichts Außerordent­ liches gebeten; – nichts von der Art auch nur einmal gewünscht, geschweige denn erwartet. Mir selbst nur vertrauend und dem eigenen gewissen Geiste und Herzen, hatte ich den Mut und den Trost und die Zuversicht immer nur in diesen Quellen gesucht und zu finden gehofft und auch wirklich gefunden. – Und doch gabst Du unerfleht

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und unerwartet mir Schwachem – denn welcher Sterbliche darf wohl seiner Stärke allein und immer anmaßend sich rühmen? – Einen Kleinen Blick in jene Freudenszene 44v | Gabst mir Schwachen; – Mir den Abschied leicht zu machen O! Du Gott der Liebe, der ewigen, unaussprechlichen Liebe!«

[Hier fehlen die Bogen 22, 23, 24 à vier Seiten] | Künstlerin – so weit eingedrungen, dass er das ganze Maschi­ nenwesen darin zu übersehen vermöchte. Wer hat den Schlüssel zu der geheimen Kunst gefunden, mit welcher die Phantasie jene wun­ derbaren Zwittergestalten erzeugt,122 in denen Entgegengesetztes, das Allgemeine und das Einzelne so vereiniget ist, dass sie als allgemeine Bilder, Schemata, Muster, Formen (Normalideen123), sinnliche Abs­ trakta124 genannt, zwischen dem Individuellen des eigentlichen Bildes und dem Allgemeinen des Begriffs gleichsam wie in der Mitte schwe­ ben. »Es ist anzumerken, dass, auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art, die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gele­ gentlich, selbst von langer Zeit her, zurückzurufen; sondern auch das Bild und die Gestalt des Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Arten, oder auch einer und derselben Art, zu reproduzieren; ja auch, wenn das Gemüt es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuten nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewusstsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen, und, durch die Kongruenz der mehreren von dersel­ ben Art, ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allem zum gemeinschaftlichen Maße dient.«125 – – – – – – – – – – – 45v | So urteilt Kant (Kritik der ästhetischen Urteilskraft), der unter allen bisherigen Forschern des menschlichen Geistes in die Werk­ stätte desselben den klügsten, tiefsten und umfassendsten Blick getan hat, über diese wunderbare Funktion der Einbildungskraft als über 45r

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einen dynamischen Effekt, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des inneren Sinnes entspringt.126 Aber aus welchem bloß mechanischen Gesetze der Ideenassoziationen ist die Wirkungsweise dieses Effekts begreiflich? Und ist nicht auch das Ideal selbst, dieser Ausdruck des Schönen und des Sittlichen, in seiner Vereinigung an der menschlichen Gestalt dargestellt, ein Produkt jenes dynamischen Prozesses und jener geheimen Zeichenkunst, sofern er, der sichtbare Ausdruck sittlicher, den Menschen innerlich beherrschender Ideen, doch auch nur aus der Erfahrung gewonnen werden kann, obgleich zur Darstellung, ja selbst zur bloßen Beurtei­ lung einer solchen verkörperten, in ihrer Totalität und Vollendung aufgefassten Idee überhaupt reine Ideen der Vernunft und zugleich eine große Macht der Einbildungskraft gehören. Diese chemische Wirkungsweise der bildenden Dichtkraft im Schaffen | ihrer Fiktionen und Phantasmen überhaupt hatte auch 46r schon der tiefforschende Tetens entdeckt und gezeigt, wie die gewöhn­ liche, bloß mechanische Erklärungsart von dem Entstehen der Fik­ tionen aus einem bloßen Zerteilen und Wiederaneinandersetzen oder Aneinanderlegen der einzelnen Partien und Stücke des Ganzen unhinlänglich sei.127 Reicht nun schon nach Tetens jene Erklärungsart nicht hin, um daraus den Ursprung auch nur der gemeinsten Dichtun­ gen zu begreifen,128 wieweit weniger mag sie dazu dienen können, uns die Bildung der vollkommensten und vollendetsten Meisterwerke dieser Schöpferin; – die Bildung der Ideale zu erklären, in denen alles Einzelne zur Einheit eines harmonischen Ganzen vereinigt sein und daher nicht einem, aus vielerlei einzelnen Lappen zusammengeflick­ ten und -genähten, sondern aus einem Stücke gewebten Gewande gleichen muss. So weit hier nur und so viel über diese uns gänzlich unbegreif­ liche Funktion einer Seelenkraft, von der überhaupt Kant in seinen Anthropologischen Vorlesungen, wenn die Reihe an die Betrach­ tung derselben kam, zu bemerken pflegte, dass uns die Möglichkeit eines solchen Vermögens völlig problematisch und unbegreiflich sein müsste, wenn es uns nicht in der Wirklichkeit gegeben wäre.129 – Denn nicht anders verhält es sich mit einer unzähligen Menge anderer Phänomene, Verrichtungen und Wirkungen der Einbildungskraft, die uns ebenso über die Grenzen des Begreiflichen hinausführen. | Ich würde etwas ganz Überflüssiges tun, ohne Ursache und ohne 46v Zweck, wenn ich hier das weitläufige Register solcher entweder gar nicht oder doch noch lange nicht befriedigend genug erklärter

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Tatsachen ausführlich durchgehen und mit kritischem Räsonnement begleiten wollte. Denn ich darf mich hier nur auf unsere psycholo­ gischen Annalen, Magazine und Archive berufen und beziehen, in denen dergleichen Tatsachen gesammelt und mit philosophischem Geiste oder ohne denselben beurteilt werden. Das sind denn auch die Lückenbüßer in unseren anthropologischen und psychologischen Handbüchern – die terra incognita auf der großen Karte des mensch­ lichen Gemüts. – Nur eines und das andere aus der zahlreichen Klasse dieser Phänomene will ich hier erwähnen; oder vielmehr, ich brauche darauf nur hinzudeuten, an das Bekannte den Leser, der nicht ganz Fremdling im Gebiet anthropologischer Kenntnisse ist, nur zu erinnern. In der eben gedachten terra incognita liegt ohne Zweifel das dunkle oder doch nicht genügsam aufgehellte Gebiet der Träume; dieses seltsamen Zustandes, in welchem jeder seine eigene Welt hat, worin Er lebt, und aus der gemeinschaftlichen wirklichen Welt ent­ rückt worden.130 Ohne hier der mancherlei Träume von der seltsamen und ungewöhnlichen Art und der auffallenden Täuschungen, die die Phantasie dabei spielt, zu gedenken, welche die Aufmerksamkeit und 47r das Interesse in einem ausnehmenden Grade auf sich ziehen und | die Forschbegierde zu befriedigender Erklärung derselben reizen und auf­ fordern, betrachte ich hier nur mit dem Blicke der Verwunderung und des Erstaunens die wunderbaren Träumer im Zustande des Wachens, mit oder ohne Besonnenheit und Bewusstsein, auf eine kurz vorüber­ gehende oder mehr anhaltende Weise. – Mein Freund und Amtsge­ nosse P.,131 von seltenem Scharfblick und Beobachtungsgeiste, der mit dem geschärften und geübten Auge und mit der Nüchternheit und Besonnenheit des echten Naturforschers hier sein Inneres beobachtet, wie er als Physiker die Phänomene der Körperwelt zu beobachten pflegt, erzählte mir vor Kurzem einen auffallenden, an sich selbst erlebten Fall dieser Art. Die folgende hier mitgeteilte Erzählung dieser Visionsgeschichte, dieses vorübergehenden und mit Besonnenheit und Willkür wiederholten Traumes im Wachen, ist von ihm selbst auf meine Bitte schriftlich aufgesetzt und mir mitgeteilt worden.132 Bei derselben Gelegenheit erzählte mir derselbe Freund von einem merkwürdigen und interessanten Träumer der Art, den er selbst einmal, so wie mehrere seiner Bekannten öfter, während dieses seltsa­ men träumend-wachen Zustandes beobachtet hatte. Dieser Träumer schlief einen Geistesschlaf bei wachen und offenen Sinnen den Tag über; denn er war während der Tageszeit stumpf, schwach und blöd

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an Geiste; unfähig zum Nachdenken und jeder Geistestätigkeit und Unterhaltung. Erst am Abend, | nachdem die Tore der äußeren Sinne 47v geschlossen waren, zündete sich in dieser Seele das Licht des inneren Sinnes und des Verstandes an. Zum Erstaunen derer, die in diesem Zustande diesen wunderbaren Träumer beobachteten, wenn er mit ausgestrecktem Körper, den Kopf etwas niederwärts gebeugt, auf dem Sofa dalag, hielt er in dieser Lage bei gänzlicher Abwesenheit des Bewusstseins so wie bei völliger Atonie des äußeren Gefühls,133 bald gedankenreiche, geistvolle zusammenhängende Reden; bald führte er zusammenhängende Dialoge zwischen sich selbst und seinen Domestiken und Freunden, wobei er sogar den Ton, die Sprache und die Stimme derselben bis zum malerisch Treffenden nachahmte. Ich enthalte mich für jetzt aller Bemerkungen über Phänomene und Zustände dieser außerordentlichen und unerklärlichen Art. Es war mir hier nur darum zu tun, aus der unzähligen Menge solcher Erscheinungen eines und das andere als zuverlässig bewährte Faktum auszuheben,134 dessen realen Zusammenhang mit den Naturgesetzen des menschlichen Geistes wir vergebens bis jetzt zu erforschen und einzusehen strebten. Und wie viele solcher unbegreiflicher Phäno­ mene gibt es nicht? Wie viele wunderbare Täuschungen des Sinnes und insbesondere der Einbildungskraft, deren | Spiel in seinem 48r Entstehen wie in seiner Unterhaltung bis jetzt noch ein Rätsel und Problem für den Naturforscher der menschlichen Seele ist. – – Aber – was will ich und was beabsichtige ich mit der Berufung auf dergleichen Seelenphänomene und -zustände von der ungewöhn­ lichen und unbegreiflichen Art? – – – Mehr nicht und nicht weniger als nur dieses: dass der Naturfor­ scher der menschlichen Seele es sich nicht anmaßen dürfe, irgendein Phänomen dieser Art schon darum sogleich und ohne weiteres für reine Lüge und Erdichtung oder für Selbstbetrug zu halten und ohne Bedenken ins Reich der Unmöglichkeiten zu verweisen, weil es sich, bei aller darauf verwandten Mühe des Nachforschens, nicht erklären, d.h. aus den Naturbedingungen und Gesetzen der menschlichen Seele begreiflich machen lässt. Ich mache von dieser, wie mich dünkt, nicht unbescheidenen und ungerechten Behauptung, die an sich auf keine widerrechtliche Weise das Interesse der Naturwissenschaft einschränken kann noch soll, nunmehr unmittelbar die Anwendung auf jene Erscheinungen, um derentwillen alle diese Betrachtungen und Untersuchungen von

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mir angestellt werden, indem ich zu diesem Behuf nur die folgende allgemeine Bemerkung vorausschicken will. Wenn es – wie die Erfahrung durch zuverlässige und kritisch genug geprüfte Tatsachen lehrt – wenn es Zustände der Seele gibt, 48v in welchen sie | wie nicht gewöhnlich empfindet, und aus der Empfin­ dung wie nicht gewöhnlich Vorstellungen und Gedanken sich bildet, so dass dieses ihr Leiden und ihr Tun uns unerklärlich und rätselhaft erscheint: – Warum sollte es dann unmöglich sein, dass die Seele auch in einen solchen Zustand auf eine uns freilich unbegreifliche Weise versetzt werde, in welchem sie für Eindrücke empfänglich wäre, durch diese Eindrücke Empfindungen erhielte und aus diesen Empfindungen sich Vorstellungen bildete, dergleichen sie innerhalb der bestimmten Schranken menschlicher Seh- und Empfindungskraft sonst nie zu empfangen und hervorzubringen vermöchte? Sollte es dann unmöglich, durchaus so unmöglich sein, dass in einem sol­ chen Zustande die Empfindungsfähigkeit der Seele auf Augenblicke über die durch den Organism der äußeren Sinnlichkeit ihr gesetzten Schranken hinaus erweitert – der Sinn bis zu einem solchen Grade verfeinert, erhöht und verstärkt und, sozusagen, auf einen gewis­ sen Wahrnehmungspunkt so konzentriert würde, dass auf das so gestimmte und so exaltierte Subjekt Objekte wirken und Empfindun­ gen in demselben erregen können, deren realer Einfluss auf das Gemüt jenen Schranken und Bedingungen des Perzipierens und Empfindens von Seiten der menschlichen Organisation, obgleich nicht überhaupt den Bedingungen aller möglichen Wahrnehmung und Erfahrung, 49r widerspricht? | Ich sage mit Absicht und wohl bedacht: nicht den Bedingungen möglicher Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt. – In der Reihe der Erscheinungen muss jedes Glied derselben wie­ derum Erscheinung sein; und man kann aus der Reihe der Erscheinun­ gen mit dem Sinne und Verstande nicht heraustreten, ohne zugleich aus den Schranken der möglichen Wahrnehmung und Erfahrung herauszugehen, welches unserer an die Bedingungen der Sinnlichkeit gebundenen Erkenntniskraft unmöglich ist. Jedes Phänomen muss hinwiederum mit einem Phänomen in realem Zusammenhange ste­ hen; immer nur zwischen Erscheinung und Erscheinung kann eine Wechselwirkung des Tuns und des Leidens stattfinden, und es gibt zwischen einer Erscheinung und dem, was nicht Erscheinung ist, kein erkennbares Band, wodurch beide aneinander geknüpft sind. Dieses vorausgesetzt und anerkannt als Axiom für alle mögliche Wahrneh­ mung und Erfahrung, wird daher ein jedes Objekt, das auf ein empfin­

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dendes und nur durch Empfindung aus erhaltenen Sinneseindrücken wahrnehmendes Subjekt einwirken und Empfindungen in demselben erregen soll, allerdings zwar selbst Erscheinung – ein Empfindung Gebendes oder richtiger: durch Eindruck auf den Sinn Verursachen­ des – sein müssen. Aber es könnte ja dem ungeachtet doch auch zugleich eine Erscheinung sein, die nur unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen und Umständen des Subjekts, nur in solchen Zuständen desselben, in welchen der Sinn in einem ausnehmenden Grade ver­ feinert und gestärkt – die Empfindungsfähigkeit so erhöht und auf einen gewissen bestimmten Wahrnehmungspunkt | konzentriert ist, 49v zu einem Wahrgenommenen135 werden, durch erregte Empfindungen von einer eigentümlichen Art dem wahrnehmenden Subjekt sich wahr machen, d.h. offenbaren könne; unter allen übrigen Umständen und Bedingungen dagegen, und in allen anderen gewöhnlichen Zuständen des Subjekts der Sphäre der möglichen Wahrnehmungen entzogen136 und dem wahrnehmenden Sinne durchaus unzugänglich bliebe. Sollte diese Meinung, Hypothese – oder wie man den Gedanken immer nennen mag – weiter nichts als eine bloße Fiktion und Chimäre sein und mit anderen von der Phantasie ausgebrüteten Hirngeburten und bloßen Gedankenschwärmereien in eine Klasse gezählt werden müssen? – – Ich sollte meinen: Diese Hypothese sei so gewagt und verwerflich eben nicht, als sie auf den ersten Anblick erscheinen mag. Denn sie wird durch mehrere Analogien begünstiget und unterstützt: Gibt es denn nicht viele und mancherlei Zustände, in denen die Seele empfindet und wahrnimmt, wie sie unter gewöhnlichen Umständen nicht zu empfinden und wahrzunehmen vermag, so dass sie gleichsam aus der Sphäre alles ihres bisherigen Empfindens herausversetzt und einer ungewöhnlichen Erweiterung der Schranken ihres Wahr­ nehmens während solcher Zustände inne wird? Ich habe mancher dieser Zustände schon gedacht. Diesen seltenen und außer|ordentli­ 50r chen lassen sich einer Menge anderer wohlbekannter und gar nicht seltener, obgleich ihrer eigentümlichen Natur nach auffallender und wunderbarer Fälle beizählen. Wie bis ins unbestimmbar Unendliche der Sinn sowie jede Seelenkraft in ihrer Wirksamkeit durch Übung und Kultur erweitert und verstärkt werden könne, das ist bekannt. Und wer mag hier für irgendein Individuum das Maximum dieser Ausbildung und Verstärkung bestimmt anzugeben? Wer mag der Wirksamkeit einer geistigen Kraft Maß und Ziel setzen, zumal, wenn sie auf Objekte einer gewissen bestimmten Art sich einschränkt und somit an Intension in demselben Verhältnisse wächst, in welchem der

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Kreis ihrer Extension enger und enger sich zusammenzieht. – Aber es ist nicht die Übung allein, von Willkür und Absicht geleitet und mit Anstrengung verbunden; auch außerordentliche, von Willkür und Absicht unabhängige Umstände und Ereignisse, Lagen und Zustände können eine oder die andere Seelenkraft wohl ja zuweilen zu einem ungewöhnlichen Grade der Wirksamkeit erheben. Wie es Träume gibt, von der natürlichen und der widernatürli­ chen Art, während welcher die Seele in gewisser Rücksicht wacher ist als gewöhnlich; in welchen der Verstand des Träumers klarer und richtiger und zusammenhängender über irgend einen einzelnen Gegenstand gedacht als in wachenden Zustande, und was er in diesem Zustande oft und mit Anstrengung, aber vergebens gesucht – das facit und Resultat seines Nachdenkens – im Traume auf eine überra­ 50v schende Weise gefunden: | So gibt es auch mancherlei krankhafte Zustände des Körpers, in welchen die Seele in mancher Beziehung sich gesünder befindet, eine größere innere Lebenstätigkeit äußert, als in gesunden Tagen. Ich habe denkende Männer gekannt, die mit schar­ fem und nüchternem Blicke sich beobachten, welche den Wunsch zu äußern pflegten, zuweilen von Paroxysmen eines Fiebers befallen zu werden, weil das Andenken an dergleichen schon erlebte Zustände sie mit Wohlgefallen erinnern lässt an die reiche Ausbeute von hellen und kräftigen Ideen und von lebendigen Gefühlen, welche sie während dieser Fieberparoxysmen hatten sammeln und aufbewahren können. Es gibt Beispiele gewisser seltener und widernatürlicher Zustände des Körpers, während welcher in der Seele sogar eine Palingenesie137 in Ansehung ihrer Ideen und Empfindungen vorzugehen scheint, indem manche längst schon in die Schatten der Dunkelheit und Vergessen­ heit zurückgewichenen Vorstellungen und Geschäfte mit einem Male ans Licht des Bewusstseins wieder hervortreten; Ideen und Empfin­ dungen, die gleich verborgenen Schätzen unter dem Boden vergraben lagen und aus dem Grabe plötzlich wieder auferweckt werden; zum 51r Beweise, | dass nichts von dem, was einmal in der Seele dagewesen und was sie sich zugeeignet, ganz und auf immer für sie verloren gehe. – So gibt es unter anderem Fälle, dass Menschen, in einen exaltierten, widernatürlichen Zustand versetzt, während dieses Zustandes auf eine wunderbare Weise eine Sprachfertigkeit wieder erhalten, die sie längst aus unterlassener Übung verloren hatten. Was in der Regel nur eine mit Mühe und Anstrengung wiederholte und eine Zeitlang fortgesetzte Übung hätte ausrichten können, das vermochte hier der Zufall einer ungewöhnlichen Exaltation einer auf einen bestimmten

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Punkt gerichteten Seelenkraft ohne Willkür und Absicht. Und wie das Erinnerungsvermögen, die Phantasie und die Denkkraft, so kann auch der Sinn selbst, der äußere oder der innere Sinn – wie die Erfahrung durch so manche natürliche und widernatürliche Fälle beweist – über die Grenzlinien seines bisherigen Wahrnehmens erweitert, seine Empfindungsfähigkeit kann verfeinert und gleichsam auf einen höheren Ton hinaufgestimmt werden; so dass er in derglei­ chen Zuständen neuer, nie sonst erhaltener Empfindungen fähig ist, oder doch sonst auch138 Empfindungen lebendiger und kräftiger und bestimmter perzipiert, mit mehr Schärfe und Reinheit die Eindrücke unterscheidet und der Tätigkeit der ursprünglich bildenden Phantasie Anlass und Anreiz gibt, von allem so Perzipierten und Empfundenen ein klareres und lebendigeres Bild zu zeichnen. | Es ist bekannt, 51v dass bei139 ungewöhnlichen Stimmungen des Nervensystems, z.B. in verschiedenen krankhaften Nervenzuständen140 – auch der Ton des Empfindungsvermögens selbst, das ja mit dem Nervensystem, seinem unmittelbaren Organ und Leiter, in dem nächsten Zusam­ menhange steht, eine ungewöhnliche Stimmung erhält, in welcher die Seele eine oft das Erstaunen des Beobachters erregende Empfänglich­ keit für neue, ganz ungewöhnliche Empfindungen von Objekten, die sonst gar nicht in der Sphäre des empfindenden Subjekts lagen, oder doch für weit schärfere und feinere Empfindungen in Beziehung auf schon empfundene Gegenstände äußert. Auf die gleiche Weise verhält es sich auch mit dem inneren Sinne. In gewissen Momenten des Lebens, unter gewissen, zuweilen ganz außerordentlichen Umstän­ den, äußert sich auch die innere Empfindungsfähigkeit so exaltiert und auf einen höheren, feineren Ton gestimmt. Während dieser fortdauernden Stimmung ist der innere Beobachtungsblick oft so geschärft, dass die Seele sich selbst in einem helleren Spiegel erblickt und auch die dunkleren Partien in dem von einem ungewöhnlichen Lichte erleuchteten Bilde ihrer selbst, klarer und bestimmter als je zuvor bemerkt. Dergleichen oft mit Blitzesschnelle vorübergehende Beleuchtungen unseres Inneren müssten dem Seelenforscher äußerst inter|essant und willkommen sein; denn er wird sie zu Erweiterung, 52r oder zu Berichtigung und Aufklärung seiner Kenntnisse von der Seelennatur benutzen; anstatt dass der Schwärmer und Mystiker, der ohne Methode, ohne Leitung vernunftgemäßer Regeln und Maximen sich beobachtet, dadurch nur noch mehr irregeleitet und auf mancher­ lei phantastische Meinungen und Grillen gebracht wird. –

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Diese und eine Menge anderer analoger Fälle dürften also doch wohl nach den Regeln der Analogie jene aufgestellte Hypothese von dem Verdachte und Vorwurfe, nichts weiter als eine bloße Fiktion und Chimäre zu sein, freisprechen und sonach in subjektiver Rücksicht die Möglichkeit einer Erscheinung einer solchen außerordentlichen Art rechtfertigen. Ich sage: in subjektiver Rücksicht, oder von Seiten der subjektiven, im wahrnehmenden Subjekt selbst und dessen erhöhter und geschärfter Wahrnehmungsfähigkeit liegenden Bedingungen des Empfindens und Wahrnehmens. Aber selbst damit wäre freilich die empirische Möglichkeit einer Erscheinung dieser Art noch nicht in objektiver Rücksicht, d.h. von Seiten der objektiven, auf das Phäno­ men selbst sich beziehenden Bedingungen seiner Möglichkeit darge­ tan. – Ist ein solches Phänomen wohl an sich selbst möglich; – kann es als Phänomen überhaupt in die Kreise der Erscheinungen gehören? Das ist die Frage, worauf es noch ankäme, um die Zulässigkeit jener Hypothese von jeder Seite rechtfertigen zu können. Ist eine solche Erscheinung überall und an sich selbst physisch unmöglich; – steht 52v | sie in offenbarem Widerspruche mit den besonderen, empirisch erkannten Naturgesetzen und Naturbedingungen: – Dann freilich kann jede vorgebliche Wahrnehmung eines an sich unmöglichen Phä­ nomens keine wirkliche Wahrnehmung; sie muss ein bloß subjektives Spiel täuschender, wenn auch noch so lebendiger Phantasiebilder, nichts weiter als ein bloßer Traum im Wachen sein. »Meinen: daß es reine, ohne Körper denkende, Geister im mate­ riellen Univers gebe, heißt dichten, und ist gar keine Sache der Mei­ nung, sondern eine bloße Idee, welche übrig bleibt, wenn man von einem denkenden Wesen alles Materielle wegnimmt, und ihm doch das Denken übrig lässt. Ob aber alsdann das Letztere (welches wir nur am Menschen, d.i. in Verbindung mit einem Körper, kennen) übrig bleibe, können wir nicht ausmachen.«141 Ein solches vernünfteltes Wesen142 gehört nämlich als Gegenstand einer bloßen Vernunftidee gar nicht zu den erkennbaren Dingen; man kann »mithin in Ansehung desselben nicht einmal eine Meinung haben, da Meinungssachen jederzeit Objekte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungser­ kenntnis (Gegenstände der Sinnenwelt) sein müssen, die aber nach dem bloßen Grade dieses Vermögens, den wir besitzen, für uns 53r unmöglich ist, wie z B. die Annahme | einer elastischen, alle anderen Materien durchdringenden und mit ihnen innigst vermischten Flüs­ sigkeit, unter dem Namen des Äthers; oder Annahme vernünftiger

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Bewohner anderer Planeten und dgl. m. – – (Kant, Kritik der teleo­ logischen Urteilskraft S. 455)143 Nach dieser Äußerung des strengen, nüchternen Denkers, der hier mit philosophischer und mathematischer Genauigkeit und Schärfe die verschiedenen Arten des Fürwahrhaltens voneinander unterscheidet, die verschiedenen Momente desselben gegeneinander abwägt, das Gebiet des Wissens, das auf Tatsachen beruht, von dem Gebiete des bloßen Meinens und beide von dem Gebiete des Glau­ bens, dieser ganz eigentümlichen Art des Fürwahrhaltens – trennt, würde sich über Dinge, die bloße Ideen sind und als solche außerhalb der Sphäre des Erkennbaren liegen, nicht einmal meinen oder auch nur irgend eine Hypothese wagen lassen. Und dieses hätte dann auch seine vollkommene Gültigkeit, wenn der Gegenstand, über dessen Natur und Beschaffenheit man sich irgendeine Meinung erlauben will, wirklich nichts weiter als ein Objekt in der bloßen Idee wäre. – Reine, ohne Körper denkende Geister, und doch in der materiellen Welt lebend und wirkend, sind allerdings solche Gegenstände in der bloßen Idee, für deren objektive Möglichkeit und Realität uns ganz und gar keine Bedingungen gegeben sind. Über dergleichen Gegenstände kann man freilich weder etwas wissen, noch meinen, 53v noch glauben; | folglich nur dichten. – Aber es sei mir erlaubt, hier zu fragen: Kann es denn zwischen einem reinen, ohne allen Körper denkenden Geiste und einem Geiste, in einem menschlichen Körper wohnend und wirkend, nichts, durch­ aus nichts Drittes geben? – Kann nicht ein Geist mit einer feineren körperlichen Hülle als diese menschliche ist, umgeben und durch dieses Medium eines feineren Organism mit dem materiellen Univer­ sum in Wechselwirkung stehend, gerade das sein, was zwischen jenen beiden in der Mitte liegt? – Wäre ein solches Ding denn auch noch nichts weiter als der Gegenstand einer bloßen Idee, nichts an sich Erkennbares und Wahr­ nehmbares, auch wenn der menschliche Sinn in einem so hohen Grade geschärft wäre, dass er die feinsten, für ihn in seinem jetzigen Zustande unzugänglichen materiellen Stoffe und Gestalten wahrzu­ nehmen vermöchte? – Oder stände es denn144 überhaupt so schlimm mit der objektiven Möglichkeit eines solchen nicht leeren Gedanken­ dinges, obgleich freilich auch nicht in den beschränkten Kreis unserer Sinneserscheinungen gehörigen Gegenstandes, dass die Annahme desselben doch immer nichts weiter als eine bloße Fiktion und Chi­ märe bliebe, so dass auch selbst unter dieser Einschränkung oder

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Bedingung keine Meinung, ja nicht einmal irgendeine Hypothese über ein an sich unmögliches Ding, | verstattet werden könne? – – Ich denke nicht. – Setzen wir aus anderweitigen guten Gründen voraus, was wir freilich aus theoretischen Gründen nicht ausmachen, d.h. nicht für uns wahr und gewiss machen können, dass die Denkkraft des menschlichen Geistes als Kraft fortdauern, auch nachdem die organische Form und Bedingung ihrer Wirksamkeit im Menschen zerstört werde: Ist dann wohl keine Möglichkeit vorhanden, dass diese durch den Tod ihres Leibes nicht vernichtete Geisteskraft zum Behuf ihrer fortdauernden reellen Wirksamkeit einen anderen Organismus und mit diesem eine andere Bedingung ihres Lebens und Wirkens durch irgendeine Naturanstalt erhalte, von der wir freilich nichts wissen, von der wir aber auch ebenso wenig sagen können, dass sie nicht vorhanden und nicht getroffen145 sein könne? Ich weiß freilich wohl, dass der Naturforscher als solcher keine seiner Hypothesen auf rein spekulative metaphysische, noch auf Prinzipien gründen könne, die eine bloß subjektive, obgleich für praktische Zwecke des Lebens und Handelns subjektiv zureichende Gewissheit haben. Es müssen Naturprinzipien sein, die der Hypothese Zulässigkeit und Haltung geben. Die metaphysische Idee von der Einfachheit und Inkorruptibi­ lität der Seelensubstanz wäre ein solches bloß spekulatives Prinzip; so wie die Voraussetzung ihrer Fortdauer um moralischer Zwecke willen ein uns in praktischer Rücksicht bloß subjektiv zureichend gültiger 54v Grundsatz. | Weder das eine noch das andere darf der Naturforscher voraussetzen, um darauf irgendeine Hypothese zu bauen. Aber was er voraussetzen kann und muss, das ist die Idee der Seelenkraft als einer Naturkraft, die so wenig wie irgendeine andere Naturkraft vernichtet wird. Indessen hängt das wirkliche Leben – die Tätigkeit dieser Natur­ kraft – von mannigfaltigen Beziehungen zu anderen Naturkräften ab; es ist an das Gesetz der Wechselwirkung mit diesen Naturkräften gebunden. Denn alles Leben des Individuums ist ja nichts als Relation von Kräften, die in Beziehung und im Verhältnis der Aktion und Reaktion gegeneinander stehen; – ein Konflikt entgegengesetzter Tätigkeiten, die im Verhältnis der Kraft und des Widerstandes zuein­ ander stehen und sich gegenseitig einander bedingen und vorausset­ zen. Also: Keine Objektivität, auch keine Subjektivität, kein Leib, keine Seele; – kein Organismus, keine Tätigkeit und kein Leben des Empfindens, des Denkens und Wollens. – Wird diese Beziehung oder Relation aufgehoben – die Bedingung des gegenseitigen realen Einflusses zwischen der Subjektivität und Objektivität der Seelenkraft 54r

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und dem Organismus des Leibes: So hört damit freilich zugleich die Wirksamkeit der Kraft auf, ohne an sich selbst vernichtet worden zu sein. Und wenn nun diese Kraft an sich selbst nicht vernichtet wird; – wenn überall in der ganzen | Natur keine Vernichtung 55r irgendeiner Kraft, so wenig als eine Schöpfung neuer Kräfte, darf angenommen werden – was hindert da wohl den Naturforscher und was kann ihn Anstand nehmen lassen, sich den Tod unter dem alten gewohnten Gesichtspunkte einer neuen Geburt zu denken; einer Art von Translokation oder Versetzung unter andere Umstände und Verhältnisse, in andere Beziehungen zur gesamten Natur und deren Kräften, durch deren reellen Einfluss auf die Seelenkraft die aufgeho­ bene und gehemmte Wirksamkeit derselben sofort wieder hergestellt und befördert wird. Ist denn etwa die Hypothese: dass der Moment der Zerstörung des bestimmten menschlichen Organismus die Katastro­ phe146 der Evolution eines neuen Lebens unter neuen, obgleich uns unbekannten organischen Bedingungen sei, nicht annehmungswert, sondern sogar ihrer Möglichkeit nach eine bloße Fiktion? – Steht denn diese Hypothese vielleicht irgendeinem Naturgesetze entgegen; oder stimmt sie wenigstens nicht überein mit den Analogien der Natur?147 Keines von beiden. – Ein Bonnet148 – der berühmte Bonnet – musste wohl zuvor überlegt haben, dass er sich an keinem Naturgesetze versündige, als er die Idee auffasste und ausbildete, dass der Keim eines feineren und unsichtbaren Organismus im gröberen, sichtbaren bereits eingewickelt im Verborgenen liege, sich im Momente der Zerstörung des groben, sichtbaren Organismus | entwickele und 55v der erhöhten Seelenkraft zur neuen Grundlage und Bedingung ihrer Wirksamkeit diene.149 – Also eine Palingenesie150; – die Auferste­ hung oder Auferweckung eines neuen, verklärten Leibes aus dem Tode und Grabe des alten, verweslichen und verwesten, der hier im Leben das Organ der Wirksamkeit des Geistes und seiner Verbindung mit der Außenwelt gewesen war. Eine schöne, interessante Idee, die mit der alten Vorstellungsart der christlichen Glaubenslehre der Auferstehung zusammentrifft, ohne die krasse151 und naturgesetzwidrige (physisch und moralisch unmögliche), aber auf bloßem Missverstande beruhende Bedeutung und Tendenz dieser Lehre anzunehmen.152 Und nun werfe ich noch einmal in Beziehung auf diese bestimmte Idee des großen Naturforschers die Frage auf: Ist diese Idee, in der Form und Dignität einer bloßen Hypothese aufgestellt, so verwerflich, dass sie nicht einmal darauf Anspruch machen dürfte, einen Platz in

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dem Gebiete der Möglichkeiten – ich meine: des Real-Möglichen – einzunehmen? – Von einer Hypothese, sagt Kant, muss zum wenigsten die Mög­ lichkeit gewiss sein.153 Aber was kann unter dieser ausgemachten Gewissheit einer Hypothese anders verstanden werden als ihre Über­ einstimmung mit den allgemeinen Naturgesetzen? Und was mag wohl mehr mit allen, teils den allgemeinen Gesetzen, teils den beson­ 56r deren, aus den Analogien der Natur geschöpften | Regeln zusammen­ stimmen, als die Annahme und Voraussetzung einer durchgängigen und ununterbrochenen Verbindung der Kraft und des Organs ihrer Wirksamkeit; einer Seele und eines Leibes und eines angemessenen Verhältnisses zwischen beiden als Prinzip zur Erklärung und Begrün­ dung der fortdauernden, an ein Organ gebundenen Wirksamkeit der Naturkräfte selbst? Dass wir die neue Bedingung der Wirksamkeit der Seelenkraft nicht kennen; – dass der entwickelte Keim des neuen Organismus unseren jetzigen Sinnen unzugänglich ist; – das kann an sich für keine Instanz gegen die Möglichkeit der Voraussetzung selbst gelten. Uns ist nur die eine Bedingung gegeben, an welche die Tätigkeit unseres Geistes in diesem Leben gebunden ist. Aber daraus, dass wir nur diese eine Bedingung, dieses einzige Organ unserer jetzigen, geistigen Wirksamkeit kennen, zu schließen, dass diese Organisation die einzig mögliche Bedingung der fortdauernden Tätigkeit der Geisteskraft sei; das hieße: einen gewaltigen Sprung im Schließen zu begehen. Wer einen solchen Schluss sich erlauben wollte, den dürfte man wohl mit allem Recht der Einseitigkeit und Beschränktheit des Verstandes beschuldigen. – So viel ist doch auch schon in Ansehung der jetzigen Verbindung unserer tierisch-mensch­ lichen Organisation mit der Geisteskraft gewiss: dass der gröbere, sichtbare Organismus mit dem inneren Prinzip des geistigen Lebens nur in mittelbarem Zusammenhange stehe durch das unsichtbare 56v | Band eines feinen, materiellen Stoffes und Wesens, dem man einen Namen gegeben und hier oder dort einen besonderen Sitz angewiesen hat, ohne es zu kennen und gleichsam vorzeigen oder darstellen zu können. Wie verschieden aber auch die Ansichten und Vorstellungsarten älterer und neuerer Anthropologen von diesem Seelenorgan, seiner inneren Natur- und Wirkungsweise und seinem Verhältnisse zur gröberen, tierischen Organisation sein mögen – man mag nun entweder mit Platner ein doppeltes, geistiges und tierisches Seelenorgan154 oder mit Sömmering und anderen nur ein einfaches, aber dieses doch als ein für sich bestehendes substantielles Wesen,155

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oder nach anderen endlich, dieses Seelenorgan nur in der Eigentüm­ lichkeit der tierisch-menschlichen Organisation finden, ohne abge­ sonderte Form und substantiellen Bestand: – Alle diese und ähnliche, voneinander abweichende Vorstellungsarten treffen doch insgesamt in dem einen Punkte zusammen; dass die Wechselwirkung zwischen der Seelenkraft und der gröberen, sichtbaren Organisation nur unter Bedingung und Voraussetzung eines solchen Organs von der feinsten und wirksamsten Natur, sich erklären lasse. – Dass dieses Organ für sich selbst nicht darstellbar ist, sondern mit dem äußeren, sichtbaren organischen Gerüste so innig verbunden, dass es durch keine Kunst gesondert werden kann; das kann gegen sein Vorhandensein und seine | Wirksamkeit nichts beweisen, da ja nach dem Naturgesetz des 57r Kausalnexus von den Wirkungen auf einen Grund und vom Prinzip dieser Wirkungen muss geschlossen werden. Gibt es doch so manche materielle Stoffe, und dass gerade die feinsten und wirksamsten, die für sich nicht darstellbar sind, die uns aber ihre Existenz und ihre Wirksamkeit kundmachen durch die Offenbarung ihrer mächtigen Wirkungen, die sich nur unter Voraussetzung solcher Stoffe, als ihrer Ursache, erklären lassen. Hier ist also ein realer, erkennbarer Zusammenhang zwischen den Wirkungen und ihren Ursachen; und wir sind des Daseins156 dieser an sich nicht darstellbaren Stoffe gewiss, obgleich uns eine unmittelbare Wahrnehmung derselben wegen der Beschaffenheit unsrer beschränkten Sinnesorgane versagt ist. Aber die Grobheit unserer Sinne geht, wie Kant selbst sich ausdrückt, die Form möglicher Erfahrung überhaupt nichts an.157 Genug für die Anerkennung und Manifestation des Daseins eines Dinges, wenn nur dieses Dasein aus dem Zusammenhange erkannt wird, »worin dieses Ding mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung steht, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen.«158 Und wer weiß, wie weit die Kunst und der durch die Kunst geschärfte und verfeinerte Beobachtungssinn selbst in unmittelbarer Wahrnehmung dessen, was zur Zeit kein Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung ist, noch gelangen könne. Wie viele der äußersten, gröbsten Hüllen und Schalen, welche den Kern des Innern der Natur der Dinge umgeben, hat ihre anatomi­ sche und insbesondere ihre chemische Analyse bereits loszuschälen vermocht, | um die feineren, unter den gröberen verborgen liegenden 57v Hülsen auszuspähen, die unmittelbarer jenen Kern einschließen. Freilich wird sie bis zu dem Kern selbst – dem absolut inneren Prinzip des Lebens – nie vordringen können; denn ins Innere der Natur,

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erkannte schon Haller, dringt kein erschaffener Geist.159 Auch wird sie im Fortgange ihrer Analyse sogar nicht einmal bis zur Entdeckung der letzten, innersten Schale des Kerns gelangen können, da die Teilung und Auflösung jedes materiellen Stoffes als solchen bis ins unbestimmbare Unendliche, nie zu Vollendende fortgeht; oder jede materielle Substanz ins Unendliche teilbar ist, wie ihre Form, der Raum selbst, ins Unendliche teilbar ist, wie ihre Form, der Raum selbst, ins Unendliche teilbar ist. Aber noch näher und näher der Sache zu kommen, tiefer und tiefer in die unergründliche Tiefe des Inneren einzudringen, das kann für die fortgesetzte Analyse der Kunst doch an sich nichts Unmögliches und um so weniger zu bezweifeln sein, je bedeutender und unverkennbarer die Fortschritte sind, welche die Kunst seit kurzem bis jetzt wirklich zu diesem Ziele gemacht hat. »Ich glaube der Entdeckung auf die Spur kommen zu können oder schon wirklich auf die Spur gekommen zu sein, dass der Geist eine Gasart sei;« – sagte einesmals während eines auf dergleichen Dinge geleiteten Tischgespräches halb im Scherze, halb im Ernste, mein edler Freund und College G…,160 ein theoretischer und praktischer Chemiker, von anerkanntem Rufe und Verdienst als Schriftsteller 58r und als akademi|scher Dozent seines Faches. – Wofern hier der Chemiker mit seiner Behauptung nicht im Sinne hatte, über die Grenzen seiner Wissenschaft hinauszugehen und einen philosophi­ schen Materialismus zu begründen; sondern – wie dies wirklich der Sinn seiner Meinung war – den Begriff des Geistes hier in der materiellen, chemischen, nicht aber in der eigentlichen philoso­ phischen Bedeutung des Wortes nahm, mithin darunter nicht das immaterielle Lebensprinzip selbst, sondern nur das materielle Organ derselben; – nicht den Kern, sondern nur die innere, feinere, unseren gröberen Sinnen unzugängliche Schale dieses Kernes verstand: So konnte er damit auch nur sagen wollen, dass er auf dem Wege sei, durch die fortgehende Analyse seiner Kunst die neuere Hypothese physiologisch zu bestätigen, welche das Prinzip der Nervenwirksam­ keit weder in einem Fluidum noch in einem vibrierenden Spiel der Nervensaiten, sondern in einer Zersetzung der Gasarten sucht. – Eine Gasart also – einer von jenen feinen und höchst wirksamen, aber für sich nicht darstellbaren oder doch bis jetzt noch durch keine Kunst dargestellten Stoffen, wäre das unmittelbare Organ, welches dem Geiste zur materiellen Bedingung seiner Wirksamkeit diente und das Band zwischen ihm und der gröberen, sichtbaren Körperorganisation knüpfte und festhielte. Wie – wenn aber die Fäden zerrissen sind, mit

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welchen dieses Seelenorgan an die gröbere Organisation, der feinere materielle Stoff an die gröberen Stoffe geknüpft war, und mit diesen ein unzertrennliches Ganzes ausmachte? – | Vermag schon die Kunst, diese bloß unvollkommene Nachah­ 58v merin und Kopistin der Natur, die ursprünglichen, einfachen Gasarten aus der gröberen Materie so auszuscheiden, dass sie sich nach dieser Trennung mit den ganz recht so genannten imponderablen Stoffen des Lichts oder der Wärme verbinden und in dieser Verbindung erst ihre volle, ungehinderte Wirkung in einem Grade sehen lassen, dergleichen sie zugleich in ihrer Verbindung mit gröberen materiellen Massen nicht äußern konnten; – vermag dieses schon, sage ich, die Kunst: Was ist da nicht der Natur selbst und ihrer Allvermögenheit zuzutrauen! Vielleicht vereinigt die Natur jenen ungekannten mate­ riellen Stoff, der als permanent elastischer Körper in Gasform der Seelenkraft zum unmittelbaren Organ ihrer Wirksamkeit diente, nach seiner Trennung von der gröberen, der Zerstörung preisgegebenen Organisation, mit dem Lichtstoffe, mit welchem er hier vielleicht schon – wenn anders so manche große und erhabene Ideen der neues­ ten Naturphilosophie mehr als bloße Dichtungen und ihre hohen und umfassenden Ansichten von der Natur mehr als bloße Schattenspiele an der Wand sind – in der nächsten und unmittelbarsten Verwandt­ schaft steht. Und was sollte uns hindern, hier uns der Vermutung zu überlassen, dass jenes eine permanent-elastische Element durch seine Verbindung mit dem Lichtstoffe, diesem feinsten, ausgebreitets­ ten und wirksamsten Elemente, das vielleicht in seiner reinen und ursprünglichen ätherischen Form und Natur als die Urquelle aller übrigen Elementarstoffe, ja vielleicht | aus eben diesem Grunde 59r gleichsam als die letzte, innerste Scheidewand zwischen der Geisterund der Körperwelt nach der alten sinnvollen Vorstellungsart, oder gleichsam als die letzte Hülse und Schale des Geistes anzusehen ist; – dass, sage ich, dieses Element in und durch diese Verbindung zu einem ätherischen, aber für unseren gröberen Sinn unsichtbaren Körper umgeschaffen und gebildet werde? Dieser ätherische Körper würde nun das neue Organ für die erweiterte und erhöhte Wirksamkeit der Seele, das ihr eine neue, nie zuvor gefühlte Schwungkraft – der Psyche neue Flügel – zu geben, geschickt und bestimmt wäre: Von diesem ätherischen Körper umkleidet stiege die Ewige und Unvergängliche mit leichtem und ungehindertem Fluge nun hinauf zu den hohen ätherischen Lichtregionen, ihrer eigentümlichen Heimat, wo sie den Wirkungskreis ihrer erneuerten und erhöhten Tätigkeit fände. – –

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Bis zu diesem Vielleicht – diesen und ähnlichen Vermutun­ gen und Hypothesen möchte also die Naturphilosophie, von den Analogien der Natur geleitet und den bisherigen Erfahrungen und Versuchen der so weit schon fortgeschrittenen Kunst unterstützt, wohl vordringen können. Das wäre aber auch die letzte, äußerste Grenze ihres Vordringens. – Ob das Ewige und Unzugängliche in uns – der Geist – von der gröberen Materie entfesselt, in seiner nun­ 59v mehrigen Umgebung | und Verbindung mit dem neuen, verklärten Körper als Organ und Bedingung seiner Wirksamkeit, mit bewusster oder bewusstloser Tätigkeit fortdauere und fortwirke; ob mit dieser Katastrophe161 und Palingenesie das Bewusstsein der Individualität und Persönlichkeit verlösche oder sich erhalte und zu einem immer höheren Grade der Klarheit und Kraft gesteigert werde; – ob die Erin­ nerungskraft in der Reproduktion des Vergangenen untergehe oder der Spiegel ihr bleibe, welcher ihr in lebendiger Klarheit und Helle die Bilder der Vergangenheit, sei`s auch nicht im Einzelnen, doch in einem lichtvollen und kontinuierlichen Zusammenhange eines Ganzen, darstellt; – ob endlich die Frage-, Denk- und Willenskraft des Geistes, von dem neuen Verhältnisse zur Natur nicht gehemmt und gehindert, sondern begünstiget und unterstützt, in stufenweisen Fortschritten, ihres fortschreitenden moralischen Lebens und freien Wirkens sich bewusst, dem idealischen Ziele ihrer Vollkommenheit sich mehr und mehr nähern könne; – das alles sind Fragen und Aufga­ ben, über welche keine Naturphilosophie Auskunft zu geben vermag. Vergebens wenden wir uns mit solchen Fragen und Aufgaben, an welchen dem Geiste und Herzen über alles gelegen ist, an das Orakel 60r der Natur; – denn sie – die bloße | Natur – wird und kann uns darauf Nichts antworten. – Dass die Katastrophe der Zertrümmerung unseres jetzigen Körperorganismus nicht bloß eine neue Geburt – eine bloße Formänderung des Lebens und sonach ein Fest sei, welches das Leben über den Tod, dieses leere und unnatürliche Phantom, feiert; sondern auch – was weit mehr noch als dies bedeuten will – zugleich ein Siegesfest der Unsterblichkeit, welches die Freiheit und die Vernunft über das bloße Leben der bewusstlosen Natur feiert: Darüber kann die Freiheit und die Vernunft, die eben das Leben des Geistes ist,162 nur sich selbst, im vollen, unumschränkten Vertrauen zu sich selbst und ihrer Allvermögenheit und Superiorität über die gesamte Natur die authentische und zuverlässige Zusicherung geben. Die Vernunft tut dieses durch einen Machtspruch des Glaubens an die

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unfehlbare Wahrheit ihrer Aussprüche und das unfehlbare Gelingen ihrer höchsten Zwecke. »Der Punkt, auf welchem wir uns selbst finden, wenn wir zuerst des Mittelvermögens der Freiheit (in der Bestimmung unseres empiri­ schen Daseins nach dem in unserem absoluten Sein gegründeten und für die Unendlichkeit gültigen Gesetze der Bestimmungen unseres Daseins) mächtig werden, hängt nicht von uns ab; die Reihe, die wir von diesem Punkte aus in alle Ewigkeit beschreiben werden, | in ihrer 60v ganzen Ausdehnung gedacht, hängt völlig von uns ab.«163 Der Autor der Wissenschaftslehre erlaube mir, diesen Worten derselben die folgende meiner Denkart und Überzeugung angemessene Deutung und Erklärung zu geben. Der Punkt, auf welchem wir uns selbst finden, wenn mit dem ersten Pulsschlage des erwachten Selbstbe­ wusstseins wir unserer selbst innewerden und uns selbst von allem, was wir nicht selbst sind, bestimmt und klar unterscheiden, hängt nicht von uns ab. Aber die Reihe des Lebens, von nun an begonnen und fortgeführt für uns selbst und durch uns selbst, also eines Lebens mit Bewusstsein – mit Besonnenheit, Reflexion und Absicht –, die wir von diesem Punkte aus in alle Ewigkeit beschreiben werden, in ihrer ganzen Ausdehnung gedacht, wird einerseits allerdings zwar von uns selbst, andererseits aber auch zugleich von der allweisen und allgütigen Regierung eines moralischen Weltgeistes abhängen, an den, als den Schöpfer und Erhalter einer moralischen Weltordnung, wir glauben müssen, so gewiss wir an uns Selbst, an unsere eigene Freiheit und Vernunft und das unfehlbare Gelingen ihres höchsten Zwecks glauben. Weiter also als bis zu den angegebenen Grenzpunkten kann keine Naturphilosophie vordringen. | Und es wäre sonach auch hier 61r die Grenze aller Untersuchung, so weit sie von dem empirischen Standpunkte aus kann angestellt werden: – Ich glaube von diesem Standpunkte aus, durch welchen der Horizont des empirischen Ver­ nunftgebrauches bestimmt ist, den Gegenstand für meinen Zweck hinreichend erschöpft zu haben. Denn ich habe die Sache, deren Mög­ lichkeit oder Unmöglichkeit, Zulässigkeit oder Unzulässigkeit ich unter Leitung empirischer Vernunftprinzipien zu prüfen unternom­ men, von den beiden Hauptseiten, der subjektiven und der objektiven Seite – beleuchtet, und bin nunmehr bei der Stelle angelangt, wo aus den gedachten zwei Hauptgesichtspunkten dem164 Räsonnement sich nun ohne weiteres das Resultat von selbst darbietet, dass ein vorgegebenes Faktum darum nicht sofort als Faktum zu leugnen und

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zu verwerfen sei, weil es auf die natürliche Weise und nach den Regeln der Naturordnung sich nicht erklären lässt, wofern es nur überall nicht, weder mit den allgemeinen Naturgesetzen noch mit den besonderen empirisch anerkannten Naturregeln oder Analogien der Natur in einem realen Widerspruche steht. Denn unter diesen Bedingungen kann die reale Unmöglichkeit einer solchen Tatsache mit nichts dargetan und gerechtfertigt werden, so wenig auch immer die reale Möglichkeit derselben sich begreifen lässt. Die räsonierende Vernunft, in ihrer empirischen Funktion betrachtet, muss hier den 61v Finger auf den Mund legen und schweigen, | weil sie hier weder beweisen noch widerlegen kann. Wie nun aber, wenn eine solche Zumutung an die Vernunft an sich selbst nicht vernünftig, wenn sie dem eigenen Interesse der Vernunft und einer darauf gegründeten allgemeinen Vernunftmaxime widerstreiten sollte, welcher zufolge sie aufgefordert wird, nichts anzunehmen und zuzulassen, sondern ohne weiteres sogleich von der Hand abzuweisen, was als allgemeines Gesetz gedacht, ihren Gebrauch selbst, entweder ganz und gar, oder doch in Ansehung eines gewissen Bezirks aufheben würde? – Gesetzt also auch: es lasse sich der Unmöglichkeit eines Faktums der Art auf keine Weise dartun – genug, wenn der Anerkennung und Beglaubigung derselben dieses Interesse und diese Maxime der Vernunft entgegensteht, um es ohne weiteres und »wie billig« zu verwerfen.165 Und diese Maxime selbst muss sich um so mehr bewähren und die Vernunft also sich desto mehr für befugt halten, in keinem Falle ihren Gebrauch aufzugeben, je mehr die Gültigkeit dies Gebrauchs bestätiget wird durch so manche analogische Fälle, welche zu der begründeten Erwartung berechtigen, dass das Resultat der Prüfung jedes neuen Falles von ähnlicher Art zum Vorteil der natürlichen Vorstellungs- und Erklärungsart der Sache ausfallen werde. 62r | Ich kann es nicht im Sinne haben und es kann meine Absicht nicht sein, die Rechtsgültigkeit dieser allgemeinen Vernunftmaxime, welche Kant, als einer der größten und geschicktesten Sachwalter der Vernunft, durch seine eigene philosophische Denkart und Methode überall und immer so geltend zu machen und zu befolgen suchte, in Anspruch zu nehmen166 und ihren Gebrauch auch nur einschränken zu wollen. Aber ich darf mir hier wohl die Frage erlauben: Ob das die Gültigkeit jener Maxime aufgeben und ihren Gebrauch auch nur einschränken hieße, wenn man Anstand nimmt, Dinge sofort zu verwerfen und von der Hand abzuweisen,167 bloß darum, weil sie

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fremd und unerklärlich sind, und ihres Wunderbaren wegen sich nicht an die Reihe der natürlichen und gewöhnlichen Erscheinungen durch das Band der natürlichen Gesetze anknüpfen lassen. Ich wie­ derhole es hier: Zwischen dem erkennbaren und erkannten realen Widerspruche mit den Naturgesetzen und Analogien der Erfahrung und der eingesehenen Verbindung und Übereinstimmung mit diesen Gesetzen und Analogien gibt es offenbar ein Drittes. Und dieses Dritte ist aber nichts weiter als die bloße Unerklärlichkeit eines Faktums, aus Mangel an Einsicht in den Kausalzusammenhang mit seiner Naturursache auf eine den bekannten Naturgesetzen und ‑bedingun­ gen angemessene Weise. Es ist folglich auch nur ein Geständnis der Unwissenheit und der Schranken ihrer Einsichten im Bezirk ihres empirischen Gebrauchs, welches die Vernunft ablegen muss, wenn sie die Unerklärlichkeit irgendeines fremden und wunderbaren Faktums anerkennen muss. Denn weit entfernt, dass sie mit diesem Geständ­ nisse zugleich genötigt würde, ihre allgemeine Maxime als ungültig aufzugeben oder sich auch nur des Gebrauchs derselben für Fälle jener Art zu enthalten, | wird sie vielmehr bei vorkommenden Fällen 62v dieser Art am meisten aufgefordert, sich ihrer Maxime zum Behuf des Versuchs einer natürlichen Erklärung derselben zu bedienen. Denn sie darf jene Unerklärlichkeit selbst für keine absolute, sondern immer nur für eine relative halten, da kein Phänomen als solches für durchaus oder unbedingt unerklärbar anzusehen ist. Und wer mag unter dieser Voraussetzung der Vernunft das ihr zustehende Recht streitig zu machen, jedes, wenn auch noch so außerordentliche und wunderbare, von der gewöhnlichen Naturordnung abweichende Faktum doch so zu betrachten, als ob es ganz und gar natürlich und erklärlich sei, und daher um dieses vorausgesetzten natürlichen Charakters willen den natürlichen Ursachen und Bedingungen desselben auch wirklich und unablässig nachzugehen? Wer wollte es ihr zumuten, auch nur für einen solcher Fälle sich jenes Rechts nicht zu bedienen, da sie eine Menge analogischer Fälle als Zeugen für sich aufrufen kann, von denen die Prüfung und Untersuchung den Nimbus des Wunderbaren und Übernatürlichen zerstreut und die Sache unter einen Gesichts­ punkt gestellt hatte, aus welchen sich die wahre, natürliche Ansicht derselben jedem nüchternen und unbefangenen Blicke darbieten musste. Es bleibt sonach jene allgemeine Maxime in ihren unum­ schränkten Gebrauch unerschütterlich fest stehen; und die Vernunft darf auch nicht ein einziges Faktum, wodurch ein Naturgesetz verletzt wird, als zulässig gelten | lassen, ohne die allgemeine Dignität der 63r

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Naturgesetze zu vernichten und sich damit selbst von dem Throne ihrer königlichen Macht und Gesetzgebung herabzustürzen. »Kein Zeugnis ist im Stande ein Wunder zu beglaubigen, wofern es nicht von der Art ist, dass die Falschheit desselben, ein größeres Wunder sein würde, als das Faktum, dessen Wahrheit es bestätigen soll.« Das ist die allgemeine Regel, welche Hume in seinem scharf­ sinnigen Räsonnement über Wunder zur Beurteilung der Zulässig­ keit und Glaubwürdigkeit derselben aufstellt. »Wenn mir jemand erzählt,« setzt er zur Erläuterung der Regel hinzu, »er habe gesehen, wie ein Toter ins Leben wieder zurückgerufen wurde; so überlege ich sogleich bei mir; ob es wahrscheinlicher sei, dass diese Person getäuscht sei, oder täuschen wolle, oder dass das Faktum, das sie berichtet, wirklich geschehen sei. – Ich wäge das eine Wunder gegen das andere ab und entscheide nach dem Übergewicht von Gründen, welches ich auf der einen Seite finde, so dass ich das größere Wunder allzeit verwerfe.«168 Nichts kann vernünftiger, dem allgemeinen Vernunftinteresse angemessener und empfehlenswerter sein, als der Gebrauch dieser Maxime. – Aber der scharfsinnige Mann macht hier auch einen scharfsinnigen Unterschied zwischen eigentlichen Wundern als wirklichen Verletzungen der Naturgesetze, und zwischen bloß außerordentlichen und wunderbaren Tatsachen. 63v | Denn ein Anderes ist es, aller gleichförmigen und unveränderlichen, auf Naturgesetze gegründeten Erfahrung durch eine wirkliche Abwei­ chung von diesen Gesetzen zu widersprechen; und ein Anderes, mit der Erfahrung nur nicht übereinzustimmen, und aus Naturgesetzen nicht abgeleitet werden zu können, aus Mangel an Einsicht in den Zusammenhang mit diesen Gesetzen. Ich habe die nämliche Unterscheidung gemacht zwischen Bege­ benheiten, deren reale Unmöglichkeit keinem Zweifel unterworfen sein kann, sofern sie mit Naturgesetzen als Verletzungen derselben in einem realen Widerspruche stehen; und zwischen bloß wunderbaren und außerordentlichen Tatsachen, deren reale Möglichkeit sich aus Naturgesetzen nicht erklären und herleiten lässt. Ich glaube, durch das bisher geführte Räsonnement jenen Unterschied deutlich genug hervorgezogen169 und den Gesichtspunkt fixiert zu haben, unter welchen die Beurteilung des mitgeteilten Faktums, meinem Urteile nach, gestellt werden muss. Vorausgesetzt nun, dass das Faktum in der Art, wie ich es erlebt, nur für eine außerordentliche und wunderbare Erscheinung, aber für kein Wunder, für keine Verletzung der Naturgesetze zu halten sei, will auch ich in bestimmter Beziehung

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auf dasselbe nunmehr Gebrauch von jener Hu|meschen Maxime 64r machen und mich dieser Regel zur Beurteilung jener außerordentli­ chen Erscheinung und ihrer Zulässigkeit bedienen. Dieser Maxime zu folgen, überlege ich also bei mit selbst: ob es wahrscheinlicher sei, dass ich getäuscht worden – getäuscht durch ein bloßes Spiel der Phantasie, einen Traum im Wachen – oder dass das Faktum, welches ich berichtet, mehr als ein Traum – kein Phantasma, sondern ein wirklich Empfundenes und Wahrgenommenes – war. Ich wäge das eine für mich Außerordentliche und Wunderbare gegen das andre ab, und entscheide nach dem Übergewicht von Gründen, welches ich nach meiner subjektiven Ansicht und Überzeugung auf der einen Seite finde, so dass ich das, was mir als wunderbarer und außerordentlicher erscheint, zu verwerfen bereit bin. Also: Ist’s nicht vielleicht wahrscheinlicher, dass ich denn doch vielleicht nur getäuscht worden? – Ich bin kein Fremdling in der Welt der Seelen Erscheinungen; – nicht unbekannt mit den mancher­ lei künstlichen und natürlichen Täuschungen der Phantasie, habe ich als Naturforscher der Seele, aus eigenem inneren Triebe und durch äußeren Beruf, den Beobachtungsblick des inneren Sinnes zu erweitern und zu schärfen gesucht, um das Wahre und Reelle der wirklichen Empfindung von dem subjektiven Scheine bloßer Einbildungen und Fiktionen | zu unterscheiden, und den Quellen 64v nachzuforschen, woraus diese Täuschungen entspringen. Ich habe aus eigener Erfahrung so manche dieser Täuschungen kennen gelernt; und es hat die eigene Erfahrung mich öfter belehrt, dass es so leicht nicht sei, dergleichen Illusionen in jedem Falle für das anzuerkennen, was sie sind, ihnen jedes Mal auf die Spur und auf den Grund zu kommen, und sich wenigstens von ihnen nicht hintergehen und zum Irrtum verleiten zu lassen, auch wenn der Schein, selbst, nachdem wir seiner170 schon inne geworden sind, nicht aufhören sollte, uns hinfort noch zu täuschen. – Ich habe die ähnlichen Erfahrungen, die andere über dergleichen Illusionen der Phantasie gemacht, mit den meinigen verglichen, und bei dieser Vergleichung die Umstände und Veranlassungen, die Quellen und Entstehungsgründe dieser Täu­ schungen in Erwägung gezogen, und hieraus die Regeln abstrahiert, wonach in einzelnen Fällen die Prüfung über Täuschung und Wahrheit anzustellen ist. Mit genommener Rücksicht auf das alles, was mir bis jetzt in der Sache aus der Erfahrung und der Reflexion über die Erfahrung klar geworden ist, lege ich mir nun selbst die Frage vor: ob ich nicht,

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durch den bloßen Schein hintergangen, etwas bloß Subjektives mit einem Objektiven verwechselt, für eine wirkliche Empfindung und Wahrnehmung gehalten, was im Grunde und an sich denn doch wohl 65r nichts | weiter als ein täuschendes Spiel der bloßen Einbildung sein mochte. – Ich würde alle meine aus der Quelle der eigenen und frem­ den Erfahrung geschöpften psychologischen Kenntnisse ignorieren und eine gänzliche Unkunde der Natur der Seele, ihrer Kraft und der Bedingungen ihrer Wirksamkeit, insbesondere in Beziehung auf die Empfindung und Einbildung, affektieren171 müssen, wenn ich, meinen Erfahrungen und der aus ihnen gebildeten und durch sie bestätigten Theorie zuwider, die Möglichkeit einer solchen Täuschung und Irrung leugnen oder diese Möglichkeit auch nur im mindesten bezweifeln wollte. Gegen diese dreiste und anmaßende Behauptung würden alle die Fälle auftreten können, die es auf die unleugbarste Weise oft bis zum Augenschein bewiesen haben, dass unter gewissen Umstän­ den, in gewissen ungewöhnlichen Körper- und Gemütszuständen, Täuschungen von der außerordentlichsten und wunderbarsten Art entstehen können. Aber indem ich die Möglichkeit eines bloßen imaginären Blendwerks der Phantasie unangetastet lasse, und mich weiter und bestimmter frage: Was ist wahrscheinlicher: Selbsttäuschung und Selbstbetrug, oder das wirkliche Gewahrnehmen einer Vision dieser Art: So kann und muss hier, wie ich ja wohl einsah, keine objektive, sondern nur eine subjektiv gültige Entscheidung der Frage verlangt und erwartet werden. Denn was einer empfunden hat, und wie er es empfunden, und wie es ihm als ein Empfundenes klar und gewiss 65v geworden, so dass er wisse, | sich nicht bloß eingebildet zu haben, was dem Sinne in einer wirklichen Empfindung dargeboten und gegeben worden; – darüber kann kein anderer, sondern nur er selbst urteilen. Ob in einem gegebenen Falle eine dafür gehaltene Empfin­ dung wirklich eine Empfindung sein konnte, darüber kann und muss allerdings der Verstand entscheiden; und er entscheidet darüber nach den objektiven Regeln der Erfahrung, deren wir uns als Kriterium bedienen müssen, um in einzelnen Fällen bloße Phantasmen von wirklichen Erscheinungen (phainomena172) in Beziehung auf den objektiven Zusammenhang der Wahrnehmungen untereinander zur Einheit des Ganzen der Erfahrung unterscheiden zu können. Den urteilenden Verstand mit seinem Urteil über die Möglichkeit jenes Faktums der Wahrnehmung hier nun beiseitegesetzt; oder vielmehr diese Möglichkeit wirklich vorausgesetzt, nach dem von mir

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darüber angestellten Räsonnement und den erwogenen und geprüf­ ten Bedingungen, worauf es, wie ich glaube, bei dieser Möglichkeit ankommt: Darf ich also hier lediglich auf eine subjektiv gültige Entscheidung der Frage mich einlassen? Denn indem ich in Ansehung einer bloßen Empfindung und Wahrnehmung die Behauptung nicht zu rechtfertigen brauche: die Sache ist gewiss, | sondern nur das 66r subjektive Urteil: Ich bin gewiss; darf ich auch nur das Gefühl mei­ ner subjektiven Überzeugung hier beschreiben und die Gründe klar machen und angeben, worauf diese Überzeugung beruht. Ich sage demnach, und spreche damit meine klare und lebendige Überzeugung aus: Ich bin gewiss; dass ich gewacht und nicht geträumt, – dass ich in diesem Zustande des Wachens, der Nüchternheit und Besonnenheit, durch kein bloßes Spiel der Phantasie hintergangen, sondern dass dem wachen und nüchternen Sinne eine wirkliche Empfindung und Wahrnehmung gegeben worden; – dass nur die Worte: Gib mir Deine Hand, von mir selbst ausgesprochen, das Gute Nacht dagegen von einem Du mir zugerufen; und dass auch das körperliche Gefühl der leisen Betastung meiner rechten Hand auf eine merkliche Weise von mir wahrgenommen wurde. Ich bin von dem allen so gewiss173 als von irgendeiner anderen im Leben gehabten Empfindung und Wahr­ nehmung. Ich vergleiche dieses außerordentliche und wunderbare Faktum mit allen Erscheinungen meines ganzen bisherigen Lebens, so weit nur immer die klare Erinnerung reicht und die Bilder der Vergangenheit meinem Bewusstsein zurückführen kann: Und ich sehe diese Erscheinung als die einzige in ihrer Art in der Reihe der übrigen dastehen; mit keiner zu vergleichen und keiner einzigen gleich zu achten, welche sich der Seele in Zuständen des Wachens oder | des Träumens dargestellt haben. Das Gefühl meiner Über­ 66v zeugung wird durch die Vergleichung und Zusammenstellung mit meiner ganzen bisherigen Erfahrung im Leben nicht irre und wankend gemacht, sondern vielmehr nur noch befestiget; es wird dadurch nicht geschwächt, sondern nur noch deutlicher hervorgezogen,174 lebendiger und klarer. – Je unbefangener, je klarer und umfassender der Blick ist, den ich bei dieser Vergleichung auf die ganze durchlaufene Bahn meines Lebens und die Reihe seiner Ereignisse und Begebenheiten werfe; desto unwillkürlicher und stärker fühle ich mich gezwungen, die erlebte Erscheinung für mehr als ein täuschendes Spiel der bloßen Phantasie zu halten. Und im Grunde ist’s ja doch immer diese absolute Nötigung durchs Gefühl, woraus die unmittelbare Überzeugung von

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Empfindung und Wahrnehmung entspringt und auf der sie unange­ tastet ruhen¿ bleibt, wofern nicht der urteilende Verstand dagegen Zweifel erregt oder wohl gar dartun und klarmachen kann, dass unter den gegebenen Umständen nach den Regeln der Erfahrung die vorgebliche Empfindung und Wahrnehmung keine wirkliche, sondern nur eine imaginäre, durch sogenannten Sinnenbetrug oder eine Illusion der Phantasie vorgespiegelte und erkünstelte Empfin­ dung gewesen sein konnte. In einem solchen Falle würde jene abso­ lute Nötigung durchs Gefühl freilich nur eine bloße Überredung 67r an der Stelle der Überzeugung bewirkt haben durch Ver|wechslung des subjektiven Scheins mit dem objektiven Wahren und Reellen der Empfindung. So verwechseln der Wahnsinnige, der Schwärmer, der Phantast und andere ähnliche Gemütskranke in ihrem beharrli­ chen oder vorübergehenden widernatürlichen Gemütszustande ihre bloßen Einbildungen mit wirklichen Empfindungen, und glauben überzeugt zu sein durch eine absolute Nötigung des Gefühls, wovon sie sich, durch den Schein hintergangen, denn doch nur überredet haben können. Könnte ich mich nun nicht auch vielleicht in einem analogen, obgleich nur vorübergehenden Gemütszustande befunden haben, in welchem ein gleiches Gefühl der Nötigung, wie beim wirklichen Empfinden und Wahrnehmen, im Inneren erzeugt würde, welches, durch den gleichen Schein mit der Empfindung täuschend, eine ähnliche Wirkung hervorbrachte; eine Überredung, die mit der Über­ zeugung verwechselt und ihr gleich geachtet worden? Da sich über Empfindungen, als Empfindungen, sofern sie als solche lediglich etwas Subjektives sind, nicht streiten lässt; – da sich Empfindungen auch nicht mitteilen lassen: So muss ich es freilich jedem anderen freistellen, darüber zu urteilen, wie er glaubt, dass darüber könne und müsse geurteilt werden. Wer das Faktum selbst nicht bloß für wunderbar und unbegreiflich hält, sondern für etwas in realer Bedeu­ tung schlechthin Unmögliches, als eine Verletzung der Naturgesetze: Der kann diese Erscheinung für nichts weiter ansehen als für eine bloße Wirkung eines, wenn auch wunderbaren, doch nicht widerna­ 67v türlichen Selbstbetrugs. Und so würde | mein eigener Verstand über meinen eigenen Gemütszustand und der Erscheinung in demselben, urteilen müssen, wenn ich, von der nämlichen Voraussetzung aus­ gehend, mich gezwungen fühlte, durch diese Voraussetzung mein Urteil bestimmen zu lassen. Aber ich habe, nach meiner Ansicht der Sache, hier nur zwischen Wunderbarem und Wunderbarem zu

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wählen und beides gegen einander abzuwägen, und da habe ich frei und ohne Zurückhaltung bekannt, auf welche Seite sich nach meinem subjektiven Gefühl der Überzeugung das Übergewicht hinneige: Ich wiederhole hier mein freies und offenes Geständnis, dass ich nicht begreife, es mir aus meinem ganzen, mit Wahrheit und Aufrichtigkeit von mir beschriebenem Gemütszustande nicht zu erklären vermag, wie aus der verborgenen Tiefe der Seele mir unbewusst, unwillkürlich, so plötzlich, ohne durch irgendeinen Reiz eines Wunsches, einer Begierde und der Erwartung aufgeregt worden zu sein, ein bloßes Spiel von Phantasiebildern in der Art, dass es ganz die Empfindungen nachgeahmt und den gleichen Eindruck, wie diese, auf mein Inneres gemacht, ohne einen wirklichen Eindruck von außen empfangen zu haben. Das Urteil schwebt und schwankt sonach hier zwischen zwei Unbegreiflichkeiten; – dem Unbegreiflichen der Täuschung in einem bloßen Phantasienspiele; – und | dem Unbegreiflichen der Wahrheit 68r in der wirklichen Empfindung: Welche von beiden Unbegreiflichkei­ ten die größeren – für mich die größere sei, nachdem ich beide gegeneinandergehalten und gewogen. Wenn ich noch genauer und tiefer mit der gewissenhaftesten Prüfung den Gründen nachforsche, welche auf meine Überzeugung Einfluss haben und ihr eigentlich das Übergewicht verschaffen: so finde ich, dass in der inneren Geneigtheit selbst zur Überzeugung dieser erste und tiefste Grund liege. – Indem ich mir selbst zu Gemüt führe »jene doppelte Täuschung bald der gewähnten Gewissheit, und bald des ergrübelten Zweifels; Alles, nachdem die Seele zur Überzeugung sich neige, oder wider dieselbe sich sträube«:175 fühle ich es gar wohl, dass die Seele, zur Überzeugung sich hinneigend, aus innerem Triebe ein Gewicht in die schwankende Waagschale lege, welches den Ausschlag gibt und das Problematische und Zweifelhafte zur subjektiven Gewissheit für mich macht. Möge man dieses Gefühl der Gewissheit Überzeugung oder bloße Überre­ dung nennen; das gilt mir im Grunde hier gleichviel. Genug, ich kann und will nicht zweifeln; sondern ich bin gewiss. Und um mir von den subjektiven Gründen dieser Gewissheit noch deutlicher Rechenschaft zu geben, forsche ich sogar noch weiter und gehe selbst der Quelle nach, woraus jener innere, die Seele zur Überzeugung neigende und bestimmende Trieb entsprungen sein möge. – Nein; – Sie | ist 68v nicht tot für mich! Das war, von dem Augenblicke ihres Todes an, der herrschende Gedanke und das herrschende Gefühl meiner Seele geworden. Ich hatte die Überzeugung davon gegen meinen Freund I…176 so laut und nachdrucksvoll ausgesprochen; und ich habe mich

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bereits darüber erklärt, welche Bedeutung ich in diesen Gedanken und in dieses Gefühl, die bis auf diesen Augenblick der Seele noch gegenwärtig und lebendig in ihr sind, gelegt hatte. »Wer es glaubt, dem ist das Heilige nah!«177 – sage ich mit dem unsterblichen Dichter, von demselben hohen Gefühl des religiösen Glaubens begeistert. Ich glaubte, sie lebe, und lebe auch für mich noch fort. Und dieser Glaube meines Geistes und Herzens ward mir durch ein gegebenes Zeichen auf eine Weise bestätiget, die ich weder jetzt noch je zuvor begehrt und erwartet hatte. Ich weiß recht wohl, dass ich mit dieser Hinweisung auf jenen herrschenden Gedanken und jenes herrschende Gefühl der Seele dem durchaus unbefangenen, durch den Einfluss keiner ähnlichen Emp­ findung gestimmten und geleiteten, bloß räsonierenden Verstande des psychologischen Naturforschers den Schlüssel zur natürlichen Erklärung des ganzen Faktums selbst in die Hände liefere. Er möge sich immer mit genommener Rücksicht auf alle die übrigen Data, die in der Beschreibung meines damaligen Gemütszustandes und der Erzählung aller der besonderen, äußeren Umstände enthalten sind, 69r dieses Schlüssels | bedienen, um sich damit über das Wunder und Geheimnis der Erscheinung so viel Aufschluss zu verschaffen, als er es vermag. Wie und warum mir selbst, der ich die Wahrnehmung im wachen und besonnenen Zustande gehabt zu haben versichere, eine solche Erklärung kein Genüge leiste, darüber nun kein Wort weiter. –– Aber kommt es denn nicht bei der Ansicht und Beurteilung einer jeden wunderbaren oder nicht wunderbaren Begebenheit hauptsäch­ lich, ja vielleicht lediglich auf den Gemütszustand des Schauenden an? – Die Frage hat einen bedeutenden und tief eingehenden Sinn, wenn man sie nur von einem höheren Standpunkte aus ins Auge fassen und beantworten will. »Was ist denn ein Wunder?« fragt der geistvolle Verfasser der Reden über die Religion. – »Wisst Ihr etwa nicht, dass was wir so nennen im religiösen Sinn, sonst überall soviel heißt als Zeichen, Andeutung, und dass unser Namen, der lediglich den Gemütszustand des Schauenden trifft, nur in so fern schicklich ist, als ja freilich, was ein Zeichen sein soll, zumal wenn es noch irgend etwas anderes ist, so muss geartet sein, dass man auch darauf und auf seine bezeichnende Kraft merken wird. Jedes Endliche ist aber in diesem Sinne ein Zeichen des Unendlichen; und so besagen alle jene Ausdrücke nichts, als 69v die unmittelbare Beziehung | einer Erscheinung aufs Unendliche, –

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schließet das aber aus, dass es nicht eine eben so unmittelbare aufs Endliche und auf die Natur gibt? – Wunder ist nur der religiöse Name für Begebenheit: jede, auch die allernatürlichste und gewöhnlichste, sobald sie sich dazu eignet, dass die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann, ist ein Wunder.«178 – – Auf diesen hohen religiösen Standpunkt also muss man sich stellen; – mit dem Geiste über die Natur sich erheben, um bei jener Frage den religiösen Sinn und die religiöse Antwort zu finden. Ich will jetzt auf diesen Standpunkt mich stellen und den Blick auf die Ansicht richten, die sich von diesem Mittelpunkte aus dem allsehenden Auge der Vernunft darbietet. Der Vernunft, sage ich. Denn es ist dieses ja der idealische Standpunkt der Vernunft, die, das Absolute und Ewige im Auge, alles Beschränkte und Bedingte auf das Unbedingte als das Prinzip alles Endlichen bezieht; in allem Endlichen einen Spiegel sieht, in welchem das Unendliche sich abspiegelt; – einen Abdruck anerkennt, durch den es sich auf die mannigfaltigste Weise offenbart. Von dieser Seite angesehen ist sonach jede Erscheinung eine Darstellung und Offenbarung des Unendlichen. Dieser Ansicht der Vernunft ist entgegengesetzt die Ansicht des Verstandes, dessen Gebiet das Gebiet des Endlichen und Beschränkten ist, und der, da er sich über die Sinnensphäre | der Endlichkeiten zum Übersinnlichen 70r und Unendlichen nicht zu erheben vermag, Endliches immer nur wie­ der auf Endliches, Erscheinung auf Erscheinung unmittelbar bezieht, und als Gesetzgeber der Natur das Band zwischen den Erscheinungen knüpft und ihre Verhältnisse untereinander bestimmt. – – Eine jede Erscheinung wäre sonach von zwei verschiedenen Sei­ ten zu betrachten; nämlich von Seiten ihrer unmittelbaren Beziehung auf eine andere Erscheinung und sonach ihres Zusammenhanges mit dem Ganzen der Erscheinungen oder der gesamten Natur überhaupt, nach festen, vom Verstande bestimmten und erkannten Gesetzen und Regeln der Natur; zugleich aber auch von Seiten ihrer unmittelbaren Beziehung auf das Jenseits der Natur, das übersinnliche Prinzip derselben – das Unbedingte und Unendliche. Aus dem ersteren Gesichtspunkte betrachtet, wie schon gesagt, der bloße Verstand die Erscheinung; aus dem letzteren betrachtet sie die Vernunft. Beide Gesichtspunkte können bei ihrer entgegengesetzten Tendenz durch­ aus nicht untereinander geworfen, – sie müssten vielmehr sorgfältig voneinander geschieden und gesondert werden, wenn nicht Verwir­ rung und Widerspruch in die Vorstellungsart einer und derselben Sache kommen soll. Aber es klärt diese Verwirrung sich auf; –

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es löset das Rätselhafte und Widersprechende sich eben durch die Trennung der beiden Ansichten, wobei die gegenseitigen Ansprüche 70v des Verstandes und der Vernunft gegeneinander ausgeglichen | wer­ den. Der Verstand hat seine Rechte und Ansprüche, aber auch die Vernunft die ihrigen. Jener kann seine Rechte nur für die Welt der Erscheinungen geltend machen; diese erhebt sich mit ihrer Idee des Absoluten über die Sinnenwelt, und betrachtet diese Welt aus dem Mittelpunkte ihrer Idee, worin alle Erscheinungen, alle Bege­ benheiten der Natur wie einzelne Strahlen in ihrem Brennpunkte sich vereinigen. Diese Erhebung des Geistes über die Natur ist dem religiösen Gemüt eigen; und je herrschender und harmonischer die religiöse Stimmung dieses Gemüts ist, desto klarer und umfassender wird diese Ansicht sich ihm darbieten. Ein solches Gemüt wird in diesem Zustande des religiösen Schauens überall Wunder sehen, d.h. in allem und durch alles jenes übersinnliche Prinzip erblicken, das sein Sein und seine Wirksamkeit in allem und durch alles offenbart, was als Erscheinung in die Wirklichkeit tritt und aus der Reihe der Erscheinungen wieder verschwindet. Von diesem Standpunkte aus betrachtet ist also alles ein Wunder – eine unmittelbare Offenbarung und Darstellung des Unendlichen. Wie die Schöpfung selbst das erste und unergründlichste Wunder und Geheimnis ist; so ist’s nicht weni­ ger die Erhaltung der ganzen Natur als eine fortgesetzte Schöpfung derselben. Alles Sein und Leben der gesamten Natur, sowie alles individuelle Leben und jede einzelne Erscheinung und Begebenheit im Leben jedes Einzelnen, ist ein Wunder, sofern alles hinweist und sich bezieht auf die ewige und selbstständige Urquelle, woraus das 71r Werden | und Sein alles Endlichen und Einzelnen in der Welt der Erscheinungen entspringt. Ohne Annahme dieses Wunders durch Voraussetzung und Anerkennung einer absoluten Realität, worauf, als ihr selbstständiges Prinzip, alle beschränkte, endliche Realität muss bezogen werden, schwindet alle endliche Realität in der Erscheinung dahin und verwandelt sich in bloßen Schein; in ein An-sich-Nichts. Entweder Gott gesetzt als das Höchste, das allein wahre und allein in sich bestehende Wesen, als die Wurzel alles Seins, der Natur und aller endlichen, durch Verbindung mit einer Natur in die Schranken der Endlichkeit eingeschlossenen Vernunft – oder das Nichts. »Das Nichts erwählend macht der Mensch sich selbst und alles was ihn umgibt zu einem bloßen Gespenste, alle Realität in sich selbst und außer sich vernichtend.«179 Darin aber besteht ja das Wesen der Vernunft, dass sie hinweiset auf das höchste selbständige Wesen und Reale,

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dass sie ausschließend gerichtet ist auf das unter den Erscheinungen Verborgene, die Bedeutung desselben; auf das Sein, welches einen Schein nur von sich gibt, und das wohl durchscheinen muss in den Erscheinungen, wenn diese nicht an sich Gespenster, Erscheinungen von Nichts, bloße Traumbilder, Wesen der bloßen Einbildungskraft sein sollen. Das selbstständige Wahre und Reale als Prinzip aller beschränk­ ten Realität in der Erscheinung notwendig voraussetzend, erscheint der menschlichen Vernunft, indem sie alles Endliche auf jenes | Unendliche bezieht, die ganze Welt der Erscheinungen als ein 71v Wunder. Denn sie sieht in jeder Erscheinung – in jeder Begebenheit ein Zeichen, wodurch ihr das Unendliche angedeutet und offenbart wird, ein Zeichen, welches erst in und durch seine Beziehung auf das Unendliche seine Bedeutung erhält. – Alle Wahrnehmung also ein Wunder; – jedes Faktum, auch das natürlichste und gewöhnlichste, ein Wunder, indem die Vernunft in allem das übersinnliche Prinzip aller Realität auf eine ihr unbegreifliche Art findet, dasselbe anerken­ nen und voraussetzen muss, obgleich sie es weder an sich, seinem unergründlichen Wesen nach, noch in seinem Zusammenhange mit dem Endlichen – der gesamten Natur – zu erkennen vermag. Aber in der Reihe der am Faden des in der Gesetzgebung des Verstandes gegründeten Naturmechanismus fortlaufenden Begeben­ heiten eignet sich die eine mehr als die andere dazu, dass die religiöse Ansicht von ihr die herrschende sein kann. Jede Wahrnehmung, jede Erfahrung des Lebens, die das Gemüt in eine für die Ideen und Gefühle des Unendlichen empfängliche Stimmung versetzt, in welcher die Richtung des Geistes und Herzens nach dem Ewigen und Unendlichen die stärkere und entschiedene ist, verdient also in einem vorzüglichen Sinne mit dem religiösen Namen des Wunders bezeichnet zu werden. Denn | dieser Name trifft allerdings lediglich oder doch hauptsäch­ 72r lich nur den Gemütszustand des Schauenden, da es ja hier darauf ankommt, ob der bloße Sinn und der die Sinneswahrnehmungen nach objektiv gültigen Regeln ordnende Verstand oder ob der Geist und das Herz des Menschen die herrschende Ansicht bestimmt, die mit dem Auge des bloßen Sinnes und Verstandes angeschaut, nichts weiter als die natürliche der bloßen Erscheinung selbst ist, mit dem Auge der Vernunft dagegen betrachtet, das überall nach dem Unendlichen hin blickt und Alles auf das Unendliche bezieht, zur wahrhaft religiösen Ansicht sich erhebt. Darum kann denn freilich in dieser subjektiven Rücksicht auf den Gemütszustand des Schauenden jede, auch selbst

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die allernatürlichste und gewöhnlichste Begebenheit ein Wunder genannt werden, insofern jede das Gemüt in den beschriebenen Zustand zu versetzen vermag. Aber ich wiederhole es: Eine Begeben­ heit vermag mehr als die andere das Gemüt zu der hohen Stimmung religiöser Begeisterung und Andacht zu erheben, wenn sie nämlich so geartet ist, dass man, wie der angeführte Schriftsteller sich ausdrückt, auf die Begebenheit als ein sinnliches Zeichen des Übersinnlichen und auf die bezeichnende Kraft dieses Zeichens – die Bedeutung desselben – zu merken vorzüglich veranlasst wird. Und da ist es denn doch außer Zweifel, dass der Charakter des Wunderbaren, des Außerordentlichen und Ungewöhnlichen an einer Begebenheit oder einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten die Aufmerk­ 72v samkeit auf sich zu lenken und die Ge|fühle der Bewunderung und des Staunens zu erregen im Stande ist – dass man hier den Finger jener unsichtbaren, übersinnlichen Macht, die über die Natur – über die Schicksale und Angelegenheiten der Welt und der Menschen waltet – deutlicher als an anderen, ganz gewöhnlichen Begebenheiten zu erblicken veranlasst wird, wie die Geschichte der Menschheit und alle Religionsgeschichte insbesondere die Sache bestätigt. Wunderbare Erscheinungen – außerordentliche und unerklärliche facta sind von jeher die natürlichsten, die allgemeinsten und unfehlbarsten Einla­ dungs- und Introduktionsmittel zur Einführung, zur Begründung und Verbreitung aller Religionen gewesen. Und wenn an dergleichen wunderbaren Erscheinungen die moralische Tendenz und Bedeutung unverkennbar ist, wenn aus ihnen das Licht des Zusammenhanges mit einer moralischen Weltordnung dem moralischen Sinne heller entgegenstrahlt und durch die Beziehung der Natur auf die Freiheit, der physischen auf die moralische Welt und deren Endzweck, klarer und lebendiger erkannt und gefühlt wird: In diesem Falle wird recht eigentlich eine wahrhaft religiöse Ansicht von dergleichen Begeben­ heiten die herrschende werden müssen. Oder man muss die Religion von der Moral trennen, nur von einem unendlichen Universum und einer Beziehung alles Endlichen auf dasselbe wissen wollen; das Heilige aber verleugnen und an der Gottheit nichts weiter als das 73r unendliche Urprinzip der Welt, | eine oberste, aber blind wirkende Weltursache – das fatum der Alten – sehen.180 Aber das moralischreligiöse Gemüt, dessen Religiosität keine Frucht der bloßen Phan­ tasie und Spekulation ist und im bloßen Schauen und Fühlen des Unendlichen besteht, sondern eine Sache des Herzens, entsprungen aus der Quelle einer reinen Herzensgesinnung, eines heiligen Wan­

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dels und göttlichen Lebens, findet in Gott nicht bloß den Unendlichen, sondern auch den Heiligen; erkennt in Ihm an den moralischen Weltgeist und das lebendige Prinzip einer sittlichen Weltordnung. Jede Erscheinung in der Sinnenwelt nicht bloß auf das Unendliche und Unbedingte, als ein Endliches und Bedingtes, sondern zugleich als ein Glied eines Ganzen von Zwecken, dessen Mittelpunkt der moralische Zweck ist, auf eine moralische Weltordnung beziehend, wird das moralisch-religiöse Gemüt durch Wahrnehmung solcher Begebenheiten, an welchen diese moralische Tendenz und Bedeutung ihm klarer und einleuchtender erscheint, auch auf eine kräftigere und lebendigere Weise in eine religiöse Stimmung versetzt und die religiöse Ansicht dieser Begebenheiten für dasselbe die herrschende werden. Allerdings wird daher freilich ein für moralische Ideen und Gefühle nicht nur empfängliches, sondern auch für dieselben höchst interessiertes und begeistertes Gemüt schon vorausgesetzt, um wahr­ genommene Begebenheiten auf den moralischen Endzweck beziehen und die moralische Bedeutung an denselben entdecken zu können. Aber | dieser herrschende moralisch-religiöse Sinn, diese hohe Stim­ 73v mung des Gemüts zur religiösen Begeisterung wird durch das Wahr­ nehmen solcher Begebenheiten, wie ich sie soeben beschrieben, noch kräftiger belebt und noch mächtiger gehoben werden. Auf diese Weise steht beides in gegenseitigem Einflusse aufeinander: das Subjektive des Gemütszustandes in Betreff des religiösen Gesichtspunktes, unter welchem einer Erscheinung und eine Reihe derselben aufgefasst wird; und das Objektive der Begebenheit selbst, sofern sie in Hinsicht auf ihren Charakter des Außerordentlichen und ihre sie181 auszeichnende moralische Tendenz und Bedeutung auf die Belebung und Erhöhung der religiösen Gemütsstimmung zurückwirkt. Und so betrachte ich denn auch – dass ich auch hier wieder die Anwendung mache – so erkläre und deute ich mir die wunderbare erlebte Erscheinung, wenn ich auf jenen höchsten Standpunkt mich erhebe, von welchem aus eine religiöse Ansicht von derselben, als die herrschende, sich mir darbietet. Meine Gemütsstimmung war in jener Katastrophe meines Lebens in einem höheren Grade als je zuvor religiös; meine Gedanken und Gefühle hatte sich mächtiger als je über das Sinnenleben empor­ geschwungen und waren auf das Ewige und Unvergängliche gerichtet; – ich lebte mit dem Geiste und dem Herzen in der Geisterwelt.182 In einem solchen Zustande war die Seele wohl besonders fähig, Eindrücke aus der Geisterwelt, Zeichen und Offenbarungen von dorther zu empfangen, zu verstehen und zu deuten; vorausgesetzt,

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| dass ein solches Kommerzium,183 ein solcher Zusammenhang, an sich nicht unmöglich, obgleich unerklärlich ist. Und eben dieser Zustand war es, in welchem sich mir eine nicht erwartete und nie zuvor erlebte Erscheinung darbot und durch ein gegebenes sinnliches Zeichen mir bestätigte, was dem gläubigen Gefühl und dem Interesse und Bedürfnisse meines Herzens zusprach. – (184 Mit einem Wunder sind einmal alle Philosophien behaftet, sagt der vortreffliche Jacobi.185 – Welche Philosophie mag das Wunder der Wahrnehmung überhaupt erklären! Der reine und durchgeführte Idealismus, der die Empfindung und Wahrnehmung, wie die Erkennt­ nis und das Wissen, aus der Intelligenz allein, und der reine und konsequente Realismus, der sie allein aus den Eindrücken unabhän­ gig vorhandener Objekte als Dinge an sich erklären will; – beide stoßen hier auf ein Unbegreifliches: das Prinzip der bestimmten Beschränktheit – der Individualität. Das Wunder der Wahrnehmung anerkennend und voraussetzend, setzt eine Philosophie, die sich nicht anmaßen will, eine Wissenschaft im strengsten Sinne des Worts zu heißen, die Quelle oder das Prinzip der Empfindung und Wahr­ nehmung in eine unerklärliche und unbegreifliche Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt; – einem Realen in uns und einem Realen außer uns. Warum sollte nun – dass ich mit der Frage das Ganze beschließe 74v – eine einzelne Empfindung und Wahrnehmung | mehr und in einem besonderen, ausgezeichneten Sinne ein Wunder heißen müs­ sen, mehr als alle Wahrnehmung überhaupt? Etwa im System des beschriebenen Idealismus, nach welchem ja alle Wahrnehmung und Empfindung an sich und in der Wahrheit nichts weiter ist als eine notwendige Einbildung, das Produkt einer ursprünglich bewusstlosen Tätigkeit der Intelligenz; einzig und allein abzuleiten, ihrer Entste­ hung nach, aus den Tätigkeiten und Zuständen des Gemüts. Und welcher Idealist mag sich anmaßen, gründlich und vollständig zu bestimmen, was in den Umkreis der Empfindungen und Wahrneh­ mungen eines Individuums gelangen und nicht gelangen kann. Er müsste das Prinzip der Individualität in seinem ganzen Umfange und in seiner unergründlichen Tiefe erkennen und die ganze Reihenfolge aller Empfindungen und Wahrnehmungen in ihrer Vollständigkeit daraus darlegen können.) Mir selbst, sage ich, auf eine individuelle Weise bestätigt. Und mehr als dies habe ich auch durchaus weder behaupten wollen noch behaupten können: Sei es an sich immerhin Täuschung: Genug, für 74r

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mich selbst ist es, dem subjektiven Gefühl meiner Überzeugung nach, wahr geworden. Es urteile darüber ein jeder nach seiner besonderen Denkart und Ansicht der Sache. Die, in welchen bei außerordentlichen Gemütszuständen ähnliche Gefühle | erregt worden, und denen sich 75r unter diesen Umständen vielleicht ähnliche Erscheinungen im Leben dargeboten, werden in dem erzählten wunderbaren Ereignisse meines Lebens vielleicht mehr als eine bloße Täuschung sehen und darum dann auch in dem, freilich so oft und so sehr vom Aberglauben und Fanatismus missbrauchten Glaubensbekenntnisse zusammen­ stimmen: dass es wohl tausend Dinge gebe möge zwischen Himmel und Erde, von denen sich unsere Philosophie nichts träumen lässt, indem sie durch Grundsätze der Wissenschaft weder bewiesen noch widerlegt werden können. Nicht bewiesen und im objektiv-gültigen Sinne gerechtfertiget als Wahrheit; aber auch nicht widerlegt als bloßer Schein und als bloße Täuschung. – Was ist aber auch überall Wahrheit und was ist Schein und Täu­ schung für den Menschen? – Ist denn alle Wahrheit – die erkennbare, fürs Wissen gegebene und dem Wissen zugängliche Wahrheit – im Grunde mehr als etwas lediglich Subjektives, bestehend in bloßen Verhältnissen und Beziehungen zum menschlichen Erkenntnis- und Wissensprinzip, wie diesen Prinzipien unseres geistigen Organismus zufolge die Wahrheit empfangen und gefasst und wie sie ins System des menschlichen Wissens kann aufgenommen werden? Wahrheit in der bloßen Erscheinung ist freilich objektiv gültige Wahrheit, aber dann doch nur relativ, vom menschlichen Standpunkt und mit menschlichem Geistesauge betrachtet, aufgefasst vom menschlichen Sinne, und vom menschlichen Verstande zu seinem Erkennen und Wissen gebildet. Menschliche Wahrheiten an sich sind also | ein 75v allgemeiner und beständiger Schein,186 der nur dann für mehr als einen bloßen und leeren Schein gelten kann, sofern das relativ Wahre in der bloßen Erscheinung sich bezieht auf ein absolut Wahres und Reales an sich, das über der Sphäre alles menschlichen Erkennens und Wissens hinausliegt. Wie es nur für den Menschen überhaupt menschliche Wahrheit gibt;187 – Wahrheit, wie sie erscheint und dem menschlichen Geistesauge erscheinen kann im Gegensatze mit dem Scheine und der Täuschung, so kann es auch für den Menschen als Individuum betrachtet, Wahrheit geben, subjektive Wahrheit in der individuellen Bedeutung des Wortes, die sich als Wahrheit nicht mitteilen und für andere geltend machen lässt, weil sie im Prinzip der Individualität des einzelnen Subjekts, seiner eigensten Sinnes- und

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Denkart – seiner Empfindungs- und Handlungsweise – gegründet ist. Aus dieser Quelle der Individualität entsprungen, kann die Wahrheit nur dem eigensten Sinne und Gefühle erscheinen, und von diesem von der Täuschung und dem leeren Scheine unterschieden, und es kann auch alles Fürwahrhalten dieser Art kein Wissen, sondern nur ein Glauben188 genannt werden; aber freilich auch nur ein Glauben von bloß individueller Gestalt und Gewicht für das einzelne Subjekt nach Maßgabe seiner eigensten Sinnes- und Empfindungsweise. Das über dieses Wahre urteilende und entscheidende Subjekt wird daher immer nur sagen können: Ich bin gewiss, aber nicht: Die Sache ist gewiss, oder auch nur in irgendeinem Grade mehr oder weniger wahrschein­ lich.189

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Siehe dazu unten LG 11v. [F. H. Jacobi], Jacobi an Fichte [Sendschreiben], Hamburg: Perthes 1799. Möglicherweise wurde Jäsche durch die Klopstock’sche Grabanlage, von der er den Leitspruch des Epitaphs übernahm, auch zur Pyramidenform des geplanten Grabmals inspiriert. Ein zeitgenössisches Buch widmet der Linde auf Klopstocks Grab ein eigenes Kapitel. Sie ist die Überlebende der zwei Linden, die auf das Grab von Klopstocks erster Frau und kongenialen Freundin, der Schriftstellerin Margareta (genannt Meta) Klopstock, geb. Moller (geb. 1728, verheiratet mit Klopstock seit 1754, gestorben 28. November 1958), gepflanzt wurden. Diese Linde sei zur Zeit von Klopstocks Tod nicht nur »weit umher der schönste Baum« gewesen, sie habe auch »unentweihet von der Axt und Scheere; vom Wipfel herab bis zur Fläche ihrer untersten sich über das Grab wölbenden Zweige eine natür­ liche Pyramidalform« gehabt. Diese »Lindenpyramide« sei dann leider aus Anlass der Beerdigung Klopstocks durch »die rohe Faust des Todtengräbers […] ver­ stümmelt« worden (F. J. Meyer, Skizzen zu einem Gemälde von Hamburg, Bd. 2, Heft 5, Hamburg: Nestler 1803, 120–21). Karl Morgenstern (1770–1852, ab 1802 ordentlicher Professor der Ästhetik, Eloquenz und altklassischen Philologie in Dorpat, langjähriger Direktor der Universitätsbibliothek (siehe DBBL, 528), der engste Vertraute Jäsches aus der Dorpater Fakultät in Bezug auf den Tod Sallys, hatte am 18. Dezember 1806 in einer Vorlesung »bey Bekanntmachung der Preisaufgaben für die Studierenden der Kaiserl. Universität zu Dorpat« über Klopstock vorgetragen und dabei aus Meyers Skizzen zitiert (siehe K. Morgen­ stern, Klopstock: Eine Vorlesung, Dorpat: Grenzius 1807, 42, En. 22). Es ist denk­ bar, dass Jäsche über Morgenstern Kenntnis von Meyers Darstellung in den Skizzen erlangte und durch sie angeregt wurde, eine (etwas dauerhaftere) Pyra­ mide für Sallys und sein eigenes Grab zu konzipieren. Der Vers »Saat von Gott gesät, dem Tag der Garben zu reifen« stammt aus Klop­ stocks Messias (XI, 845; HKA Werke IV.2:23). Margareta Klopstock ordnete an, ihn mit weiteren Versen aus dem Messias auf ihren Sarg schreiben zu lassen (siehe [F. G. Klopstock, Hg.], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, Ham­ burg: Bohn 1759, LXXVIII). Klopstock nahm ihn dann als Inschrift auf dem Grabstein, der das gemeinsame Grab für ihn selbst, der bei der Geburt des ersten Kindes verstorbenen Margareta und des dabei ebenfalls verstorbenen einzigen Kindes aus ihrer Ehe zieren sollte (siehe ebd. LXXXIV = HKA Werke IX.1:189– 90): »Sie [Margareta] ist noch nicht an der Stelle begraben, wo ich einmal bey Ihr zu ruhen wünsche. Ich will unser Grab in Ottensen, oder auf einem andern Dorfkirchhofe weiter an der Elbe hinauf, machen lassen. […] Auf den in die Höhe gerichteten Grabstein sollen zwo unordentlich übereinander liegende Weizengar­ ben gemacht werden. Unter diesen steht: ›Saat, von Gott gesät, dem Tage der Garben zu reifen!‹ In der Mitte des Grabsteins: ›Margareta Klopstock erwartet

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da, wo der Tod nicht ist, ihren Freund, ihren Geliebten, ihren Mann, den sie so sehr liebt! und von dem sie so sehr geliebt wird! Aber hier aus diesem Grabe wollen wir mit einander auferstehn, du, mein Klopstock, und ich, und unser Sohn, den ich dir nicht gebähren konnte.‹« Der Vers findet sich somit zweimal in Mar­ gareta Klopstocks Hinterlaßnen Schriften, aus denen Karl Morgenstern Jäsche am Tag der Begräbnisfeier für Sally vorgelesen hatte (siehe LG 41r–v). Morgenstern zitierte ihn zudem in seinem Klopstockvortrag vom 18. Dezember 1806, bei dem Jäsche vermutlich anwesend war (Morgenstern, Klopstock, 23). Auf der Graban­ lage in Ottensen erhielten Klopstock und Margareta zwei verschiedene Grab­ steine. Auf Margaretas Grabstein steht der von Klopstock bestimmte Text, auf Klopstocks eigenem Grabstein steht ebenfalls zuoberst der Satz »Saat von Gott gesät, dem Tage der Garben zu reifen«, gefolgt von einer Inschrift, die Graf Fried­ rich Leopold zu Stolberg (1750–1819) verfasst haben soll (siehe F. J. Meyer, Darstellungen aus Nord-Deutschland, Hamburg: Hoffmann und Campe 1816, 121–23; siehe auch F. J. Meyer, Klopstocks Gedächtnis-Feier, Hamburg: Nestler 1803, 36, 49). Siehe die dritte und letzte Strophe des Gedichts Liebe in [Aloys Wilhelm Schrei­ ber], Tagebuch der Mainzer Schaubühne, [Mainz]: [s.n.] 1788, 192: »Wir lieben uns! Mag unser Leben schwinden, / Die Liebe hüllt das Grab nicht ein; / Wir lieben uns! und werden dort uns finden, / Und stets vereint und glüklich sein.« Ob Schreiber das Gedicht selbst verfasste, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Siehe zu deutlich später überlieferten Varianten auch E. K. Blümml, »Das Volkslied ›Ich liebe dich, so lang’ ich leben werde‹. (Eine literatur- und musikhistorische Studie)«, in Zeitschrift des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde 3 (1906) 177–90. Vgl. auch die ähnliche fünfte und letzte Strophe des anonym überlieferten Gedichts Die Liebenden in P. Köster, Venus, Amor, und Hymen, oder: Der Tempel der Liebe. Eine Anthologie der herrlichsten Dichtungen über Liebe und eheliches Glück, Quedlinburg und Leipzig: Basse 1830, 170: »Wir lieben uns! mag unser Leben schwinden, / Die Liebe hüllt das Grab nicht ein; / Wir lieben uns und werden dort uns finden, / Und ewig uns der Liebe freu’n.« Sarah (Sally) Jäsche wurde im Juli 1774 geboren, als zweite Tochter von George Straker »of Newcastle, afterwards of Memel, East Prussia, subsequently of Walker; […] died 23rd December, 1805, aged 67«, und Sarah Straker, »daughter of Joseph Bulman of Newcastle, married at St. Nicholas’, Newcastle, 28th June 1765; died 7th Dec., 1805« (H. H. E. Craster, A History of Northumberland, vol. 10: The Parish of Corbridge, Newcastle-upon-Tyne: Andrew Reid 1914, 162). Siehe zu George Straker und seiner Familie auch R. Welford, Men of Mark ’Twixt Tyne and Tweed, vol. 3, London: Scott 1895, 458–59: »George Straker, a strong-minded Novocastrian […,] master mariner, who during the latter half of the last century, resided in St. Anne’s chapelry, at the east end of Newcastle. He commanded a vessel – possibly his own – that traded between the Tyne and the Baltic, and appears to have been a reputable and well-to-do citizen. Frequent voyages to the great timber port of Memel brought him into close connection with the leading merchants of that place, and in course of time he migrated thither, taking his family with him and establishing himself in business as a shipowner and wood exporter. Later in life, he came back to the Tyne, pitched his tent at Walker, and, it is supposed, died there. His family consisted of three sons and two daughters. […]

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Sarah, the younger daughter, born in July, 1774, was united to a Russian professor at Memel, named Yakish.« Bei »Yakish« handelt es sich um G. B. Jäsche. Links oberhalb Juli 1762 in Klammern u. St. eingefügt. Vgl. Lk 6,45. Zur Bezeichnung der verstorbenen Sally als Schutzgeist oder -engel siehe auch LG 19v, 27r, 32v. Der Gedanke, dass die verstorbene Ehefrau der Schutzengel des Witwers werden könnte, begegnet in Margareta Klopstocks Hinterlaßnen Schrif­ ten, aus denen Karl Morgenstern Jäsche am Tage des Begräbnisses von Sally vor­ gelesen hatte. Im Brief an Johann Andreas Cramer (1723–88, Hofprediger zu Kopenhagen) schrieb Klopstock am 5. Dezember 1758, er habe zu Margareta vor der für sie tödlich verlaufenen Operation, das heißt, vor dem Versuch, sie mit »Instrumenten« von ihrem Sohn zu entbinden, gesagt: »Sey mein Schutzengel, wenn es unser Gott zulässt! – ›Du bist der meinige gewesen!‹ sagte sie. – Sey mein Schutzengel, wiederholte ich, wenn es unser Gott zulässt; wenn es unser Gott zulässt! – ›Wer wollte das nicht seyn?‹, sagte sie« ([Klopstock], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, XXXXV [= HKA Briefe III:107–108]). Ebd. 38 (= HKA Werke IX.1:192) schreibt Klopstock: »[…] so hätte ich Dich also bey unserm Abschiede vielleicht nicht vergebens gebeten, mein Schutzengel zu seyn«. Das Motiv von Margareta als Klopstocks Schutzengel taucht ferner im Brief an Gottfried Benedict Funk (siehe En. 111) vom 12. Dezember 1758 (siehe HKA Briefe III:115) auf. Zur Vorstellung, dass Verstorbene Schutzengel sein können, siehe z. B. E. W. Dedekind, »Die Engel und die zur Engelwürde erhabenen Geister der Vollendeten sind Schutzgeister der Menschen. Vorgetragen am Michaelistage 1791,« in ders., Geisternähe und Geisterwirkung oder über die Wahrscheinlichkeit daß Geister der Verstorbenen den Lebenden sowohl nahe seyn, als auch auf sie wir­ ken können. Einige Versuche, 2. Aufl., Hannover: Hahn 1793, 83–100, worin Dedekind nicht nur behauptet, dass »auch die Geister der Verstorbenen um die Zurückgebliebenen sich bekümmern, sie beachten, sie beschützen und überhaupt zu ihrem Besten auf sie wirken – daß die Geister der Vollendeten Schutzgeister der Menschen sind« (ebd. 96), sondern auch, »daß es eigentliche Bestimmung, eigentliches Geschäft des menschlichen Geistes nach dem Tod bleiben muß, als ein wohlthuender Schutzgeist fortzuwirken« (ebd. 97), und zwar dies insbeson­ dere hinsichtlich der im Menschen, die ihnen im Leben nahegestanden sind. Dedekind begründet dies mit 1 Kor 13,8 (»die Liebe höret nimmer auf«): »Und so bedarfs auch wol nicht mehr der Frage: ob die vollendeten Unsrigen sich noch um uns bekümmern, uns noch beschützen, uns noch helfen, für uns noch wirken Wollen werden. Denn, um wen sollten sie sich doch wol mehr bekümmern, wen mehr beschützen, wem mehr helfen, für wen noch lieber wirken wollen, als für die, die durch ein Band, das mit dem Tode nicht zerrissen nur verstärkt werden konnte, so unauflösbar fest an sie geschlungen wurden, für die, mit deren Wohl das ihrige so innig einst zusammenhing und die als Menschen – ja die als Gatten, als Kinder, als Vater, als Mutter, als Bruder, als Schwester und als Vertraute ihres Herzens – vor allen anderen Wesen, auf welche sie auch sonst wirken können, die Nächsten ihnen wurden, die Nächsten ihnen bleiben müssen?« (ebd. 98–99). Die Ansicht, dass Menschen zu Engeln werden könnten, wurde durch Emanuel Swedenborg (1688–1772) bekannt. Er lehrte sogar, dass alle Engel früher einmal Menschen waren, weshalb er auch schrieb, die Erde sei die »Pflanzschule des Himmels« (E. Swedenborg, Himmel und Hölle nach Gesehenem und Gehörtem,

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hg. von H.-J. Hube, Wiesbaden: Marix 2005 [lat. EA De coelo et eius mirabilibus, et de inferno, 1758], 185). ihn: Jäsches Geist. Er: der Glaube. Den »räsonierenden« oder »vernünftelnden« Verstand, der in die »Sphäre« der Vernunft, das heißt des »Unbedingten und […] Uebernatürlichen« vordringen will, kritisiert Jäsche 1813 ausführlicher (siehe Jäsche, »Die Philosophie des vernünftelnden Verstandes«, 6–7). der neuere Sokrates: Immanuel Kant. – meine] . Meine Die Mutter Sallys starb am 7., der Vater am 23. Dezember 1805 (siehe En. 6). Zu neuzeitlichen Vorstellungen einer Wiedervereinigung der Ehegatten, Ver­ wandten und Freunde siehe B. Lang, C. McDannell, Der Himmel: Eine Kultur­ geschichte des ewigen Lebens, Frankfurt: Suhrkamp 1990 [engl. EA Heaven: A History, 1988], 284–99 und En. 60 und 63. Siehe J. C. Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Wien: Bauer 1811, 3:1765: »Nach einer, vermuthlich von den Schnecken entlehnten Figur, bedeutet das Mittelwort eingezogen, und das Hauptwort die Eingezogenheit, diejenige Eigenschaft, da man im Gebrauche des gesellschaftli­ chen Vergnügens einen hohen Grad der Mäßigkeit beobachtet, sich des Umgan­ ges mit andern entschlägt. Er lebt sehr eingezogen, er kommt nicht viel aus dem Hause; ingleichen, er lebt einsam, ohne vielen Umgang. Ein eingezogenes Leben führen. Ein eingezogenes Frauenzimmer. Sich eingezogen halten, wenig unter die Leute gehen. Ich wundere mich über ihre Eingezogenheit.« Richard Emanuel Jäsche wurde am 20. Januar 1823 im Alter von zwanzig Jahren begraben (siehe Jäsches Brief an Morgenstern vom 19. Januar 1823 [digitales Faksimilie unter http://hdl.handle.net/10062/3917, besucht 5. September 2021]; Morgenstern, Jäsche, 36). Sein genaues Geburtsdatum konnte nicht ermit­ telt werden. Siehe En. 6. Morgenstern schreibt von einer Familienreise »nach England im Jahr 1806 und zurück über Schweden« (Morgenstern, Jäsche, 6). Das wird bestätigt durch einen Brief Jäsches aus Riga an Morgenstern vom 18. Mai 1806, in dem er schreibt, er habe mit seiner Frau im Hotel eine Danziger Freundin, eine Madame Simpson, getroffen: »Sie hat Lust uns nach London nachzu [sic] kommen u. mit uns die Rückreise zu machen« (digitales Faksimilie unter http://hdl.handle.net/10062 /2336, besucht 6. April 2021). Jäsche zitiert hier die erste Strophe von Klopstocks Gedicht Die Auferstehung (1759) (HKA Werke III.1:54). Mittler: Jesus von Nazareth. Christian Fürchtegott Gellert (1715–69), führender Dichter und Schriftsteller der Aufklärung in Deutschland, Professor für Poesie, Beredsamkeit und Moral in Leipzig. Die Wendung »Aussichten in die Ewigkeit« figuriert als Titel eines seinerzeit bekannten Werkes Lavaters über das Leben nach dem Tode (siehe J. C. Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Joh. Georg[e] Zimmermann, Königl. Großbrittannischen Leibarzt in Hannover, 4 Bde., mehrere Auflagen, Zürich: Orell, Geßner [ab 1770 auch Füeßlin] 1768–78.

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Endnoten-Apparat 25 C. F. Gellert, »Trost des ewigen Lebens,« in ders., Gesammelte Schriften, hg. von B. Witte, 7 Bde., Berlin: de Gruyter 1988–2008, 2:189, Z. 15–16. 26 C. F. Gellert, »Vom Tode«, in ders., Gesammelte Schriften, 2:158, Z. 16–17. 27 Wahrscheinlich Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), Professor für Philosophie und für Theologie, »der erfolgreichste Prediger der späten Aufklärung« (C.-E. Schott, »Reinhard, Franz Volkmar«, in NDB 21:354). 28 Der genaue Titel fand sich im Verzeichnis der Predigten Reinhards nicht (siehe J. B. Stapf, Repertorium sämmtlicher Predigt-Sammlungen des Herrn Dr. F.-V. Rein­ hard, 2. Aufl., Sulzbach: Seidel 1828). Eine Reinhard’sche Predigt ähnlichen Titels ist »Wie heilig und wichtig ein wirksames Andenken an diejenigen, unsrer Voll­ endeten seyn muß, die unsrer Achtung werth sind« (F. V. Reinhard, Predigten im Jahr 1796 bey dem Churfürstl. Sächsischen Evangelischen Hofgottesdienste zu Dres­ den gehalten, Sulzbach: Seidel 1797, 123–43). 29 Siehe auch Morgenstern, Jäsche, 7: »Unser Freund [d.i. Jäsche] war in seiner Kindheit schwächlich und kränklich, so dass man ihm auch keine lange Lebens­ frist prophezeite, und musste nach damals beliebter Methode vielerlei Arznei einnehmen. Indess wuchs der Knabe doch heran, und nahm zu an Gesundheit und Leibesstärke durch Abhärtung, Einfachheit der Lebensart und Kost, und durch mannigfaltige mit den Spiel- und Schul-Kameraden im Freien angestellte Leibes­ übungen.« 30 Siehe Morgenstern, Jäsche, 8: »Sein Vater, ein orthodoxer Theolog nach damaliger strenger Observanz, führte ihn fleissig und eifrig an zum Studium des Hebräi­ schen […]. Schon als Knabe von neun bis zehn Jahren las er die Hebräische Bibel und konnte leichte Stücke davon übersetzen«. Morgenstern schildert ebd. auch Jäsches große »Neigung zum Predigerstande« im Kindesalter: »Als Knabe von etwa sieben bis acht Jahren hielt er zuweilen, aufgefordert von kleinen Gesell­ schaften, die seine Mutter zu besuchen kamen, in das geistliche Costüm des Vaters gekleidet, Predigten, wie sie ihm der kindliche oder vielmehr kindische Genius eingab, und zwar hinter der Spanischen Wand, um ja unsichtbar zu bleiben, und war dafür von seinem andächtigen Auditorium mit Naschwerk regalirt.« Jäsches Vater, Christian Traugott Jäsche (1730–89), war Pfarrer und Rektor der örtlichen Bürgerschule (siehe M. Wolfes, »Jäsche, Gottlob Benjamin«, in Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, hg. von T. Bautz, Bd. 16, Herzberg: Bautz 1999, 793–807. 31 Vgl. Phil 4,7: »Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft […].« (Lutherbibel 2017). Oben spricht Jäsche vom räsonierenden Verstand (siehe LG 5r–v mit En. 12). 32 Siehe zu Philosophie als Wissenschaftslehre Jäsche, Einleitung zu einer Architek­ tonik der Wissenschaften, 15 (§ 24): Die Philosophie sei »die Wissenschaft der Vernunfterkenntnisse aus blossen Begriffen«, und zwar nicht nur das »System« des ganzen »discursiv apodiktischen« Wissens dieser Art, sondern »auch noch eine philosophische Fundamental-Lehre unter dem Namen der Transcendental-Phi­ losophie oder allgemeinen philosophisch-anthropologischen Wissenschaftslehre zu Erforschung und Begründung (Deduction) alles apodiktischen Wissens über­ haupt und des philosophischen insbesondere«. 33 Siehe [Jacobi], Jacobi an Fichte, 21–22: »Im menschlichen Geiste muß alsdann ein höherer Ort, als der Ort des wißenschaftlichen Wißens angenommen werden, und es wird von jenem auf diesen herab gesehen: ›der höchste Standpunkt der

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Speculation ist‹ dann nicht ›der Standpunkt der Wahrheit.‹« Vgl. dazu J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena: Gabler 1798, 10: »So nemlich erscheine ich mir selbst im Finden; es ist hier nur um eine Exposition der blossen Thatsache des Bewusstseyns, keineswegs aber darum zu thun, wie es sich in der Wahrheit, d.i. von dem höchsten Standpunkte der Speculation aus, verhalten möge«. Zum facettenreichen Begriff der Spekulation siehe S. Ebbersmeyer, »Spekulation«, in HWPh 9:1355–72. Bei Jäsche steht der Terminus anscheinend für ein diskursives Denken, das auf Wissen auf der Basis von Vernunftgründen abzielt, im Gegensatz zu einem unmittelbaren Wissen, das Jacobi als Glaube bezeichnet (siehe zu Jacobi B. Sandkaulen, Jacobis Philosophie: Über den Widerspruch zwischen System und Freiheit, Hamburg: Meiner 2019, 33–53). Vgl. Jäsche, »Ansichten des Pantheismus«, 2:332: »Ueberhaupt möchte wol die Entdeckung: daß alle und jede Philosophie, die des Glaubens sich schämt und mit Geringschätzung und Wegwerfung des Glaubens, Alles, was nur Glaubenssache seyn kann, dem Glauben entreißen, und aus Vermessenheit und von dialektischen Blendwerken getäuscht der Wissenschaft und Theorie vindiciren will, über die­ sem Bestreben der unvermeidlichen Gefahr sich aussezt, entweder dem Unglau­ ben oder dem Aberglauben und einem schwärmerischen Mysticismus in die Hände zu fallen – diese Entdeckung, meinen wir, dürfte wol die beste Warnung für jeden speculativen Denker seyn, von allem positiven Gebrauche der Ideen zum Behuf der Construczion einer Wissenschaft des Alls, abzustehen, und, gestüzt auf das Recht einer unvermeidlichen menschlichen Unwissenheit, mit Kant lieber das Wissen einzuschränken, um dem, schon von der Speculazion als vernünftig und nothwendig begründeten und befestigten, und zugleich von dem Herzen und Gewissen geweihten und geheiligten Glauben an Gott, an Freyheit und Unsterb­ lichkeit Platz zu machen.« Vgl. auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1787), AA 3:18–19: »Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal anneh­ men, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung über­ schwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, sol­ cher Grundsätze bedienen muß, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:548–49: »[W]enn gleich Metaphysik nicht die Grundfeste der Religion sein kann, so müsse sie doch jeder­ zeit als die Schutzwehr derselben stehen bleiben«. Die Rede von der bzw. den ›neueren (deutschen) Schulphilosophie(en)‹ findet sich in dem Jäsche bekannten Buch Friedrich Köppens Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts (Hamburg: Perthes 1803) 1, 5–6, 21. Sie bezieht sich dort auf den Deutschen Idealismus und insbesondere auf Schelling. Zu Köppen siehe En. 39. Siehe dazu [Jacobi], Jacobi an Fichte, 25–26: »[I]ch begreife ihn nicht, den Jubel über die Entdeckung, daß es nur Wahrheiten, aber nicht Wahres gebe; begreife nicht jene allerreinste Wahrheits-Liebe, die des Wahren selbst nicht mehr bedarf

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[…]. Psyche weiß nun das Geheimniß, das ihre Neugier so lange unerträglich folterte; sie weiß nun, die Seelige! Alles außer ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht einmal von Etwas; sondern, ein Gespenst an sich: ein reales Nichts; ein Nichts der Realität.« Siehe dazu [Jacobi], Jacobi an Fichte, 48–49: Wenn der Mensch Gott nicht (vor)fände, müsste er ihn »erfinden können«. »Dann wäre Gott nur ein Gedanke des Endlichen, ein eingebildetes, und mit nichten das Höchste, allein in sich bestehende Wesen, von allen anderen Wesen der freye Urheber, der Anfang und das Ende. So verhält es sich nicht, und darum verliert der Mensch sich selbst, so bald er widerstrebt sich in Gott, als seinem Urheber, auf eine seiner Vernunft unbegreifliche Weise zu finden, so bald er sich in sich allein begründen will. Alles löset sich ihm dann allmählich auf in sein eigenes Nichts. Eine solche Wahl aber hat der Mensch; diese Einzige: das Nichts oder einen Gott. Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott; das heißt: er macht zu Gott ein Gespenst; denn es ist unmöglich, wenn kein Gott ist, daß nicht der Mensch und alles was ihn umgiebt blos Gespenst sei. Ich wiederhole: Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott. Es giebt kein drittes. Finde ich Gott nicht – so, daß ich ihn setzen muß: Ein Selbstseyn – außer mir, vor mir, über mir, so bin ich selbst, Kraft meiner Ichheit, ganz und gar was so genannt wird«. Der Theologe und Philosoph Friedrich Köppen (1775–1858) lehrte an den Uni­ versitäten Landshut und Erlangen. Er stand Jacobi nahe (siehe C. von Prantl, »Köppen, Friedrich«, in ADB 16:698–99). Siehe Jäsche später zur zentralen Rolle der Freiheit: »Wenn nun aber nach Kant, […] der Begriff der Freyheit unter den reinen Vernunftideen: Gott, Freyheit und Unsterblichkeit, […] der einzige Begriff des Uebersinnlichen ist, welcher seine objective Realität (vermittelst der Causalität. die in ihm gedacht wird) an der Natur, durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweiset, und eben dadurch die Verknüpfung der beyden andern mit der Natur, aller drey aber unter einander zu einer Religion möglich macht; und wenn wir hiernach (an der Freyheit) ein Princip in uns haben, welches die Idee des Uebersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns, zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntniß zu bestimmen vermögend ist […]« (Jäsche, »Ansichten des Pantheismus«, 2:331). Siehe Köppen, Schellings Lehre, 194: »Darum ist alles was die Persönlichkeit erhebt, der Glaube an Freyheit, an Gott als Intelligenz, als Schöpfer der Welt, nach dem Schellingischen Systeme kein Erheben, sondern ein Niedersinken; eine in sich grundlose Ehrenrettung des Scheins, ein unphilosophisches Hangen an der Individualität. Gegen das Glauben und Festhalten eigener und fremder Persönlichkeit muß dieses System eifern«. Bei Köppen heißt es wörtlich: »So lange die Menschheit noch wahre sittliche Energie besitzt, widersteht sie den Wirkungen einer solchen Philosophie, und läßt sich den Glauben an Gott und den eigenen Geist nicht aus dem Herzen reißen« (Schellings Lehre, 201). war] am Rand: diesen jenem, als jenen diesem und das Dichten und Trachten nach ungewisser und vergänglicher Unsterblichkeit; nicht um als eine leuchtende und erwärmende Sonne am literarischen Himmel der Mitwelt und Nachwelt zu nützen, sondern nur, um als ein glänzender Stern da zu stehen, und

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dieses glänzenden Schimmers wegen von der Mitwelt und Nachwelt beschaut und bewundert zu werden. diesen] diesen als Bei Goethe heißt es: »Was ist das Heiligste? das, was heut und ewig die Geister / Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.« (J. W. Goethe, »Das Heilige und Heiligste«, in F. Schiller [Hg.], Musenalmanach für das Jahr 1797, Tübingen: Cotta 1797, 41). Vgl. 1 Joh 5,4: »Denn alles, was von Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat«; Joh 16,33: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« (Lutherbibel 2017). Siehe den Untertitel »Morgengedanken« (LG 1r). da] und da so] Vor und oberhalb so ein kurzes eingefügtes, unleserliches Wort. des] von dem du: Jäsche redet sich hier selbst an. »Non omnis moriar« ist der Wahlspruch eines lithographierten Bildes Jäsches (siehe Morgenstern, Jäsche, 40). Das Portrait scheint aus dem Jahr 1830 zu stam­ men (siehe http://hdl.handle.net/10062/53561, besucht 29. März 2022), die Lithographie mit Motto ist von 1837 (siehe http://hdl.handle.net/10062/ 4088, besucht 29. März 2022). Jäsche zitiert die letzten beiden Zeilen von Klopstocks Ode Das Wiedersehn (1797) (HKA Werke I.1:553). Klopstock spricht hier seine 39 Jahre zuvor verstorbene Ehefrau, Margareta Klopstock an (zu Margareta Klopstock siehe S. 46 sowie En. 3, 4 und 9). I…: Wohl Jäsches Kollege Heinrich Friedrich Isenflamm (1771–1828), der von 1803–10 Professor für Anatomie, Physiologie und gerichtliche Medizin in Dor­ pat war. Isenflamm heiratete 1795 Susanne Friederike Regina Simon (geb. 1777), die bereits 1802 starb (siehe E. Gurlt, »Isenflamm, Heinrich Friedrich,« in ADB 14:632–34; H. Röhrich, »Isenflamm, Heinrich Friedrich«, in NDB 10:195). Er hatte demnach »vor Jahren« wie Jäsche früh seine Frau verloren. Zu Isenflamms medizinischer Ausrichtung würde passen, daß er anscheinend erst nach Sallys Tod auf den Plan trat, also offensichtlich nicht – wie vermutlich Deutsch (siehe unten En. 55) – mit ihrer Behandlung betraut war. Vgl. auch ein nur teilweise, ohne Datum erhaltener Brief von Jäsche an Morgenstern, wahrscheinlich ganz kurz vor Sallys Tod: »Freund Isenflamm, dem ichs auftrug, wird Ihnen Alles gesagt haben, wie wenig zu hoffen, und wieviel zu fürchten ist« (digitales Faksi­ milie unter http://hdl.handle.net/10062/2336, besucht 7. April 2021). D.: Vermutlich Jäsches Kollege Christian Friedrich Deutsch (1768–1843), 1804 oder 1805–33 ordentlicher Professor in Dorpat, zunächst der Entbindungs- und Tierarzneikunst, seit 1820 der Geburtshilfe und der Krankheiten der Frauen und Kinder (siehe T. H. Beise, Die Kaiserliche Universität Dorpat während der ersten fünfzig Jahre ihres Bestehens und Wirkens: Denkschrift zum Jubelfeste an 12ten und 13ten December 1852, Dorpat: Schünmann und Mattiesen, 48, 109; R. Kobert, Historische Studien aus dem Pharmakologischen Institute der Kaiserlichen Universiät Dorpat, Bd. 3, Halle a. S.: Tausch & Grosse 1893, 86; K. T. Hermann, »Dr. Christian Friedrich von Deutsch«, in Neuer Nekrolog der Deutschen, Bd. 21, Weimar: Voigt 1845, 505–11; DBBL, 166). Siehe auch den Brief von Deutsch

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an Morgenstern zum Tode von Jäsche: »Sie erwähnen zugleich das Hinscheiden unseres gemeinschaftlichen Freundes Jäsche, dem Sie, wie ich mir [habe] erzählen lassen, noch eine trefliche Grabrede gehalten, was Gott Ihnen lohne« (digitales Faksimile unter http://hdl.handle.net/10062/4041, besucht 5. Septemer 2021). sie: die Phantasie. es: das ›An-Sich‹. Siehe etwa F. H. Jacobi, Woldemar: Erster Teil, Neue verbesserte Auflage, Königs­ berg: Nicolovius 1796, 255: »[D]a handelt er aus Vernunft, die das Leben des Geistes – Gefühl der Gottheit und ihrer Kraft ist.« hier: im irdischen Leben. Siehe den Brief vom 5. Dezember 1758 von Gottfried Benedict Funk (siehe En. 111) an Klopstock: »[W]er verehrt, wer liebt den Sänger des Messias, den Christ, den Freund, – den Verlobten des verklärten Engels, mehr als …« ([Klopstock], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, XXXX [= HKA Briefe III:112]). Klop­ stock antwortete am 12. Dezember 1758: »Ihr Ausdruck, mein liebster Funk, daß ich der Verlobte eines Engels bin (vielleicht meines jetzigen Schutzengels, denn darum bat ich sie zuletzt), oder vielmehr dieser süße Gedanke hat mich sehr erfrischt« (HKA Briefe III:115). Zur Vorstellung einer Ehe mit einem verstorbe­ nen Menschen siehe auch den bekannten Fall des Pfarrers von Steintal im Elsaß, Johann Friedrich Oberlin (1740–1826), und seiner Frau Salome, geb. Witter (1747–83). Ihr Verhältnis nach dem Tod von Salome, das von zahlreichen nach­ todlichen Begegnungen geprägt war, bezeichnete Alfons Rosenberg als »Geister­ ehe« (siehe A. Rosenberg, J. F. Oberlin: Die Bleibstätten der Toten, Bietigheim: Turm 1975, 127–51). Jäsches Vorstellung von seiner Verbindung zur verstorbenen Sally wäre allerdings treffender mit ›Engelsehe‹ bezeichnet, wenn sich dieser Ausdruck nicht bereits als Synonym für die sogenannte Josefsehe (enthaltsame Ehe aus religiösen Gründen) in Gebrauch befände. Gemeint ist Peter Emanuel Pott in Danzig (um 1750–1808), siehe Morgenstern, Jäsche, 33: »Denn hier im Hause des Schwagers seines Freundes Peter Emanuel Pott, des Engländers Richard Cowle Esq., der ihn auf seinem schönen und überaus reizend gelegenen Landsitze, Silberhammer genannt, freundschaftlich aufgenommen, führte ihm die Hand der gütigen Vorsehung seine erste unver­ gessliche Gattin zu, welche in diesem Hause als Gesellschafterin der Mutter des Herrn Cowle lebte, Sally Straker aus Newcastle upon Tyne«. hier: im irdischen Leben. Nach Swedenborg werden Ehegatten, die einander in echter ehelicher Liebe geliebt haben »durch den Tod des einen von beiden nicht getrennt, weil der Geist des verstorbenen Menschen immerfort den Geist des noch hier lebenden umgibt (cohabitat), und zwar bis zu dessen Tode, wo sie dann erneut zusammenkommen, sich wieder vereinen und sich zärtlicher lieben als zuvor, weil sie jetzt in der geis­ tigen Welt sind« (E. Swedenborg, Deliciae sapientiae de amore coniugali, Amster­ dam: s. n. 1768, § 321.7; dt. nach E. Swedenborg: Die eheliche Liebe, übers. von F. Horn, https://swedenborg-verlag.ch/db/swebib/Swe-Werke/Deutsch/P118E L/P118EL_FH.pdf, besucht 8. April 2021, 268). Siehe auch das Gedicht Nähe des Todten von Justinus Kerner (1786–1862): »Wohl müßt’ ich herzlich weinen, / Herz! wärst du wirklich todt, / Und könnt’ mich nichts mehr einen / Mit dir in Freud’ und Not // Doch, sieh, seit du gestorben / (Weiß nicht, wie mir geschah), / Hab’ ich dich erst erworben, Herz, bist du erst mir nah. // Nicht Berg’

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und Tale trennen, / O Herz! mich mehr von dir, / Leis darf ich dich nur nen­ nen, / Da bist du schon bei mir; // Dann legt sich schnell die Welle / Im Herzen stürmischtrüb, / Und in mir wird es helle / Und um mich alles lieb. // Die Andern nicht begreifen / Was Sel’ges ich ersah! / Was die nicht schauen, greifen, / Das ist für sie nicht da. // Die wissen nichts von Drüben, / Die wissen nur von hier, / Nicht wie sich Geister lieben, / Doch, Herz! – das wissen wir!« (J. Ker­ ner, Die lyrischen Gedichte, 5. Aufl., Stuttgart: Cotta 1854, 15–16). Sally starb am 7. Februar 1808, 14 Tage später war also der 21. Februar 1808. Eigentlicher Text: Hier wohl im Sinne der Grundlage oder des Ausgangspunkts der Ausführungen Jäsches, vgl. Adelung, Wörterbuch 4:562: »Textus, die Worte eines Schriftstellers, zum Unterschiede von der Auslegung derselben, oder so fern sie zum Grunde einer Erklärung dienen; in welchem Verstande, besonders die biblischen Stellen, über welche geprediget wird, Texte heissen.« wo eine … wieder] wo eine gemäßigte Temperatur der Seele weder allzu – ihr wieder und zerflossen] und zerflossen mit Einfügungszeichen am Rand, aber kein entspre­ chendes Zeichen im Text. ohne diese … müssen] am Rand wie hätte auch das so zart und so tief fühlende Gattin- und Mutterherz den Gedanken die – zu ertragen vermocht; – es wäre unter der Zentnerlast dieses Gedankens – mir] Dir Wahrscheinlich Anspielung auf die Englandreise der Familie (vgl. Morgenstern, Jäsche, 6), von der Jäsche anscheinend vorzeitig heimkehren musste. Im Satz »Gräme, härme Dich nicht …« spricht wohl Sally, denn sie muss es gewesen sein, die wieder »auf dem Wege so großer und augenscheinlicher Todesgefah­ ren« wieder zu ihm geführt wurde. Jäsche war auf der Rückfahrt von England vorausgefahren und vermutlich längst an Land, als sie die Rückfahrt antrat. Folgt man dieser Deutung, dann würde Jäsche in dem am Seitenrand vermutlich nachträglich eingefügten Nebensatz »die Dir von wütenden Orkanen tobenden Meereswellen gedroht« nur versehentlich die Rolle des sprechenden Subjekts ein­ nehmen. M.: Karl Morgenstern (1770–1852), zeitlebens einer der engsten Freunde Jäsches, siehe En. 3. In einem undatierten Brief Jäsches an Morgenstern (digitales Faksimile unter http://dspace.utlib.ee/dspace/bitstream/handle/10062/2336/jaesche%2018 08.pdf?sequence=44, besucht 5. September 2021), offensichtlich sehr kurz vor Sallys Tod verfasst, heißt es: »Mein Glaube an eine Geister Welt, das ist der Trost den ich in mir selbst finde.« Von evangelischer Seite wurde zum Beispiel gegen Schelling vorgebracht, dass er »das System des Spinoza angenommen habe« und »daß eine Fortdauer der menschlichen Seele nach dem Tode nach Schellings Naturphilosophie gar nicht angenommen werden könne« (Predigersynoden der Generalinspektion Wolfen­ büttel 1807, Synodalbericht Engelnstedt, 21. Oktober 1806; Synodalbericht Lich­ tenberg, 18. Juli 1806, ad 2, in: Landeskirchenarchiv Braunschweig IS 196, zitiert nach D. Sawicki, Leben mit den Toten: Geisterglauben und die Entstehung des Spi­ ritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn: Schöningh 2002, 121–22). wie] wie Bouterwek.

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Endnoten-Apparat 75 Es handelt sich hier um den Philosophen, Schriftsteller und Literaturhistoriker Friedrich Bouterwek (1766–1828). Siehe zu Bouterwek T. Giesbers, »Debatte über philosophischen Realismus und Fundamentalphilosophie«, in G. Hartung (Hg.), Die Philosophie des 19. Jahrhunderts, Bd. 1/1, Basel: Schwabe 2020, 245– 60, hier 251–52; E. Henke, »Bouterwek, Friedrich«, in ADB 3:213–16. 76 Siehe F. Bouterwek, Idee einer Apodiktik: Ein Beytrag zur menschlichen Selbstver­ ständigung und zur Entscheidung des Streits über Metaphysik, kritische Philosophie und Skepticismus, Bd. 1, Halle: Renger 1799, 392–95, 398, 400–402: »[W]as ist das reine Resultat der transcendentalen Apodictik? Es ist negativer Spinozismus. […] Weil aber Spinoza am bestimmtesten die Wahrheit ausgedrückt hat, daß die einzelnen Dinge, die wir empfinden und wahrnehmen, nichts anderes als Körper (sinnliche und nach Belieben in mehrere Dinge zerlegbare Phänomene,) und Vorstellungsarten sind; so können wir das Resultat der transcendentalen Apodictik, die dasselbe lehrt, Spinozismus nennen [… Dieser] fällt [… jedoch] bloß transcendental aus […]. Der transcendentale Spinozismus der Apodictik ist ein negativer Spinozismus. Man würde ihn durchaus mißverstehen, wenn man ihn für etwas mehr hielte. Er entspringt nicht aus metaphysischer Einsicht, sondern aus der Anerkennung des absoluten Unvermögens der Vernunft, den letzten Grund aller Urtheile den Bedingungen eines Urtheils zu unterwerfen. Metaphysische Einsicht widerspricht, nach unsrer Apodictik, sich selbst: denn sofern unsre Einsicht auf Perceptionen beruht, ist sie bloß sinnlich; sofern sie auf Begriffen, und durch diese zuletzt auf dem Ideal-Princip beruht, ist sie bloßer Gedanke ohne Wissenschaften. Durch die Vereinigung der Sinnlichkeit mit der Vernunft entspringt das Wissen der Intelligenz, d.i.: das Wissen, daß wir etwas wissen, aber nichts weiter. Das absolute Real-Princip, auf dem alles Wissen beruht, liegt der Vernunft so wohl als der Sinnlichkeit zum Grunde. […] Das Absolute aber, das durch kein Merkmahl erkannt und in keiner Form beurtheilbar ist, ist überhaupt nicht beurtheilbar. Also ist es auch in Begriffen nicht anders als negativ ein Gegenstand der transcendentalen Speculation. Wir können die Schranken der Sinnlichkeit und des Verstandes nicht überspringen. Eben deswe­ gen aber dürfen wir auch nicht den Grund der Sinnlichkeit und des Verstandes innerhalb dieser Schranken aufsuchen wollen [… P]ositiver Spinozismus oder die Demonstration der Einheit der absoluten Realität [… ist] nicht mehr als ein metaphysischer Traum. […] Es gibt kein theoretisches Rettungsmittel gegen den Skepticismus als den negativen Spinozismus. Wer nur sein Daseyn als einfaches und thätiges Ich behauptet, wird billig gefragt, worauf er seine Behauptung gründet. Auf das Bewußtseyn kann er sie nicht gründen, und Schlüsse aus Formeln gelten hier nichts. Wer das Daseyn des Ich nicht ausschließlich, sondern außer dem Ich noch Dinge annimmt, hat das Bewußtseyn für sich und mit dem Bewußtseyn den natürlichen Menschenverstand. Aber der Skeptiker läßt in Sachen des absoluten Seyns mit Recht den Ausspruch des Bewußtseyns so wenig wie eine Demonstration aus Formeln gelten, um so weniger, da nach nothwendiger Denkart dem Bewußtseyn das Seyn überhaupt zum Grunde gelegt wird. Also bleibt nichts übrig, als Realität überhaupt zu behaupten, und zwar kraft dieser Realität selbst, die in uns ist, wie wir in ihr sind; das heißt: zu behaupten, daß wir von dem unendlichen Grunde aller Gründe überhaupt nicht das Geringste verstehen, aber bloß durch ihn etwas verstehen, unter andern dieses, daß alle Zersetzung des Wirklichen in Verschiedenheiten und Formen, in Subject und

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Object, in Naturkraft und Seelenkraft, u.s.w., immer nur unter Voraussetzung der absoluten und von allen unsern relativen Abtheilungen unabhängigen Realität möglich ist.« Das Subjekt von »vom Meere der Ewigkeit verschlungen« kann nicht »Ansicht« sein. Vom Sinn her ist es die individuelle Persönlichkeit. Zitat aus Friedrich Schillers Gedicht Hoffnung (1798) (F. Schiller, Gedichte: Erster Theil, Leipzig: Crusius 1800, 205). Möglicherweise u. a. Anspielung auf Johann Karl Wötzel (1765–1836), Doktor der Philosophie, und dessen 1804 erschienenes Buch Meiner Gattinn wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode, das 1805 mindestens drei weitere, überarbeitete Auflagen hatte und eine große Diskussion hervorrief (siehe dazu Sawicki, Leben mit den Toten, 115–28). Jäsches Lehrer Immanuel Kant machte den bekanntesten »Geisterseher« der Neuzeit, den schwedischen Universalgelehrten Emanuel Swedenborg und all­ gemein Wahrnehmungen von Verstorbenen lächerlich und pathologisierte sie sogar; siehe Kant, Träume eines Geistersehers (1766), AA 2:315–73; dazu H. Schwenke, »Swedenborg und Kant – Zur Schwierigkeit, transzendente Erfahrung zu verstehen«, in ders. (Hg.), Jenseits des Vertrauten: Facetten transzendenter Erfahrungen, Freiburg i. Br.: Alber 2018, 126–67. Betrügerische Geisterbeschwörungen, bei denen angebliche Verstorbene für die normalen Sinne wahrnehmbar wurden, erregten ab etwa 1770 größeres Aufse­ hen. Bekannte Akteure sind Johann Georg Schrepfer (auch: Schröpfer) (1738–74) und vor allem der sizilianische Hochstapler Guiseppe Balsamo (1743–95), der sich als Graf von Cagliostro ausgab. Schiller widmete dem Thema das Romanfrag­ ment Der Geisterseher (1787–89), Goethe das Drama Der Groß-Kophta (1792); zu Goethes Auseinandersetzung mit Cagliostro siehe Y. Wübben, »›[…] und dennoch spukt’s in Tegel.‹ Zu Goethes Cagliostro-Rezeption«, in Goethe-Jahrbuch 119 (2002) 96–119. Zu einer betrügerischen Geisterbeschwörung siehe den Fall­ bericht in C. B. Funk, Natürliche Magie oder Erklärung verschiedener Wahrsagerund Natürlicher Zauberkünste, Berlin: Nicolai 1783, 255–70. Schwärmerei: siehe Adelung, Wörterbuch, 3:1717: »Fertigkeit, verworrene Vor­ stellungen, d.i. Einbildungen, und undeutliche Vorstellungen, d.i. Empfindungen, zum Nachteile klarer und deutlicher Vorstellungen, zum Bestimmungsgrunde seiner Urteile und Handlungen zu machen. Die Schwärmerey in der Religion ist die Fertigkeit, Einbildungen und Empfindungen für göttliche Wirkungen und Wahrheiten anzunehmen, welche den Enthusiasmus und Fanatismus unter sich begreift, wovon der erstere eigentlich auf Einbildungen, und der letzte auf die Empfindungen geht.« selbst] und meine ganze Philosophische Ehre und Reputation selbst Siehe G. E. Lessing, »Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreyeinig­ keit«, in ders., Zur Geschichte und Litteratur: Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Zweyter Beytrag, Braunschweig: Waysenhaus 1773, 371–418, hier 407: »Man erkennet zu wohl, daß Leibnitz aus der Klasse der alltäglichen Philosophen nicht ist, in deren Kopf es so hell und zugleich so finster seyn kann, so viel Sinn neben so viel Unsinn so nachbarlich und friedlich hausen kann, daß sie bald englische Scharfsinnigkeit zeigen, und bald kindischen Blödsinn verrathen.« das] unleserlich, vermutlich ein darein ein d geschrieben.

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Endnoten-Apparat 86 1808. 87 Charlotte Sophie Oldekop, geborene von Sacken (siehe DBBL, 562). Den Namen Oldekop nennt Jäsches Brief an Morgenstern vom 16. Februar 1808: »Seit vor­ gestern Nachmittags bin ich mit meinem Richard – meine beiden jüngeren Kinder sind noch bei der Oldecopin zurückgeblieben – in unser ödes verwaistes Haus zurückgekehrt«. Siehe auch den Brief vom 19. Januar 1823 an Karl Morgen­ stern: »Sie waren es, lieber Morgenstern! welcher […] vor 15 Jahren […] in der Begräbnisstunde meiner verklärten Sally mit mir unter dem Geläute der Sterbe­ glocke in dem Garten meiner alten Freundin, der Pastorin Oldekop auf und nieder ging und den trauernden Freund durch Gespräche, die das Jenseits zum Gegen­ stande hatten, erheiterten und stärkten« (digitales Faksimile unter https://dspa ce.ut.ee/bitstream/handle/10062/7801/02_04_1815.pdf?sequence=5&isAllo wed=y, besucht 9. April 2021). Bei Pastor Oldekop handelt es sich um Theodor Oldekop. Dieser wurde in Dorpat (Tartu) 1724 geboren, besuchte das Gymnasium in Reval und wurde 1752 Prediger der estnischen Gemeinde zu Dorpat, wo er am 23. März 1806 starb (siehe Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland, bearbeitet von J. F. v. Recke und K. E. Napiersky, Bd. 3, Mitau: Steffenhagen 1831, 348). Er war Mentor des jungen Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–92) (siehe A. C. Leinder, K. A. Wurst, Unpopular virtues: The critical reception of J. M. R. Lenz, Columbia: Cam­ den House 1999, 3–4). 88 Wohl Karl Theodor von Oldekop, Sohn des Pastors Theodor Oldekop und der Charlotte Sophie Oldekop (siehe En. 87), geboren 1776 in Dorpat (Tartu), gestorben 1831 in Dubrovna (Gouv. Mogilev), ab 1795 Offizier im russischen Militärdienst, 1805 Adjutant des Generals von Essen, 1806 Oberst, Kommandeur und Flügeladjutant, 1812 Generalmajor, 1812–29 General du Jour verschiedener russ. Armeen, 1821 Generalleutnant (DBBL, 562). 89 »Gute Nacht«: Siehe LG 33r: »Zeichen und LosungsWort des vertrautesten und liebevollsten Einverständnisses unsrer Herzen, wenn wir im Leben mit einem Kusse der Liebe uns Gute Nacht! sagten.« 90 davor] am Rand der am Abend noch erhaltene und an den Finger gesteckte Ring [Ehering der verstorbenen Sally?]. 91 Demnach wurde LG 34v um den 7. April 1808 geschrieben. 92 Ein Mitglied der Familie von Manteuffel auf Zirau (Cīrava) bei Hasenpoth (Aiz­ pute) in Kurland (Lettland), nordöstlich von Libau (Liepāja), vielleicht Karl Ulrich von Manteuffel (1783–1855). Jäsche kannte diese Familie von seiner Hausleh­ rerzeit in Kurland (siehe Morgenstern, Jäsche, 28–29); 1804 und 1806 war er dort mit seiner Familie zu Besuch (siehe seine Briefe vom 24. Juli 1804 und 6. Dezember 1806 an Morgenstern, digitales Faksimile http://hdl.handle. net/10062/2336, besucht 9. April 2021). Die Mutter von Karl Ulrich, Charlotte Katharina von Manteuffel, geb. von Behr (1765–1815) bezeichnete er als seine »erste[], geistreichste[] und herzlichste[] Freundin« (Brief an Morgenstern vom 24. Juli 1804), vgl. auch Morgenstern, Jäsche, 28. 93 Geheimrat P. in D.: Peter Emanuel Pott in Danzig, siehe En. 61. 94 Charlotte Sophie Oldekop, siehe En. 87. 95 Bureau: Schreibtisch; Schreibpult mit Fächern (siehe Herders Conversations-Lexi­ kon, 5 Bde., Freiburg i. Breisgau: Herder’sche Verlagshandlung 1854–57, 1:723. 96 Mt 5,8.

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Endnoten-Apparat 97 Prof. G.: David Hieronymus Grindel (1776–1836) war 1804–14 Professor der Chemie und Pharmazie in Dorpat und dort 1810–12 Rektor. Grindel heiratete 1802 Viktoria Regina Wolleyd aus Königsberg. Sie starb am 1. Januar 1808 in Dorpat im Alter von 24 Jahren. Grindel hatte also »soeben erst ein gleiches Schicksal [wie Jäsche] erlebt«. Im Brief vom 16. Februar 1808 an Karl Morgen­ stern spricht Jäsche von »meinem Leidensgenossen Grindel« (digitales Faksimile http://hdl.handle.net/10062/2336, besucht 10. April 2021) (siehe DBBL, 260–61; V. Past, H. Tankler, Die Chemie an der Universität Tartu/Dorpat, Tartu: [Tartu Ülikool] 2007, 13–25; 63–72; E. Seuberlich, »Liv- und Estlands älteste Apotheken«, in Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertums­ kunde der Ostseeprovinzen Russlands aus dem Jahre 1911, Riga: Häcker 1913, 39– 164, zu Grindel ebd. 88). 98 Siehe dazu auch Morgenstern, Jäsche, 9–10: »Nicht zu übergehen·ist, beim Ueberblick der ersten Jugendzeit im väterlichen Hause bis zum funfzehnten Jahre, ein Umstand, der bei ihm bedeutenden und bleibenden Einfluss gehabt hat auf Weckung und Ausbildung des Sinnes und Geschmacks für die Musik und auf die in dieser Kunst früh erworbene Fertigkeit, namentlich im Choralspiel auf der Orgel. Jäsche’s Vater bewohnte als Rector der Stadtschule mit seinem einzigen Collegen, dem Cantor und Organisten, der zugleich zweiter Schullehrer war, Ein Haus, die für Beide bestimmte Amtswohnung. Der damalige Cantor und Organist Namens Ay, ein geschickter, auch mit der Theorie nicht unbekannter Tonkünstler, vornehmlich in der Choral- und Kirchenmusik bewandert, wünschte seinen zweiten Sohn, fast gleichen Alters mit unserm Freunde, von dessen Vater in den Elementarkenntnissen der gelehrten Sprachen unterrichtet, und erbot sich, dafür dessen Sohne zugleich mit dem seinigen, Unterricht in der Tonkunst zu erteilen. Dieser Unterricht fing schon vor seinem zehnten Jahre an, ja vielleicht bereits noch viel früher. Das Instrument welches er lernte, war das Clavier, und der allererste Unterricht darauf das Choralspiel, so dass er gleich anfangs mit den Elementen und den ersten Grundregeln des Generalbasses bekannt wurde. Von da schrieb sich her sein entschiedener Geschmack für die Musik, besonders für Kirchenmusik und Orgelspiel. Er konnte die meisten Choräle nach der alten, einfachen Melodie auswendig, und fand immer viel Vergnügen daran, sie zu spielen, zumal auf den grossen Orgeln die er in Bresslau kennen lernte.« 99 Das Lied Vom Tode – Meine Lebenszeit verstreicht findet sich in Gellert, Gesam­ melte Schriften, 2:158–59. 100Siehe En. 25. 101 Siehe En. 21. 102 Siehe En. 88. 103 Freund G…: Vermutlich David Hieronymus Grindel, siehe En. 97. 104 Von Blätter bis finden werden am Rand mit Bleistift angestrichen. 105 Siehe auch Jäsches Brief vom 16. Februar 1808 an Karl Morgenstern: »[W]ie fühle ich jetzt mehr als jemals das Bedürfniß, Ihnen, dem Geistes und Herzens Ver­ wandten, meine klärsten lebendigsten Ideen und Empfindungen mitzutheilen […]. Aber vor der Welt will und muß ich stumm bleiben. Gefühle dieser Art sind still und verschloßen wie die Gräber, aus denen nur leise Seufzer und Töne auf­ steigen, nur den geweihten Ohren der Vertrauten vernehmbar« (digitales Faksi­ milie http://hdl.handle.net/10062/2336, besucht 7. April 2021). 106 länger: bei längerem Verbleib.

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Endnoten-Apparat 107 haben] hatte 108 M.: Karl Morgenstern, siehe En. 3. 109 Klopstock, Messias 17, 202–204 (HKA Werke IV.1:197). 110 Zu Margareta Klopstock siehe S. 46 sowie En. 3, 4 und 9. 111 Der Pädagoge Gottfried Benedict Funk (1734–1814), Doktor der Theologie und Philosophie, war ab 1756 Hauslehrer in Kopenhagen, wo er mit Klopstock bekannt wurde, ab 1769 Subrektor, ab 1771 Rektor der Domschule zu Magdeburg, ab 1785 Konsistorialrat (siehe K. Janicke, »Funk, Gottfried Benedict«, in ADB 8:201–202). An der Domschule zu Magdeburg förderte er Karl Morgenstern. 112 M.s: Karl Morgensterns, siehe zu Morgenstern En. 3. 113 Gemeint ist der Brief von Funk an Klopstock vom 18. Dezember 1758 ([Klop­ stock], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, LXIV–LXXIV = HKA III:117–23). 114 Margareta Klopstock wurde gewöhnlich ›Meta‹ genannt (siehe S. 46). 115 Siehe dazu Meyer, Skizzen, 2:134–35. Der Band war Morgenstern bekannt (siehe En. 3). Danach hatte Klopstock auf dem Sterbebett Erfahrungen, die man heute als sogenannte Sterbebettvisionen einstufen würde; siehe dazu W. Barrett, Deathbed visions: How the dead talk to the dying, Guildford, UK: White Crow 2011 [EA 1926]; K. Osis, E. Haraldsson, Der Tod – ein neuer Anfang: Visionen und Erfahrungen an der Schwelle des Seins, Freiburg i. Br.: Bauer 1987 [engl. EA At the hour of death, 1977]; P. Fenwick, H. Lovelace, S. Brayne, »Comfort for the dying: Five year retrospective and one year prospective studies of end of life experiences«, in Archives of Gerontology and Geriatrics 51 (2010) 173– 79; P. Fenwick, S. Brayne, »End-of-life Experiences: Reaching out for compassion, communication, and connection-meaning of deathbed visions and coincidences«, in American Journal of Hospice and Palliative Medicine 28 (2011) 7–15; A. Fountain, A. Kellehear, »On prevalence disparities in recent empirical studies of deathbed visions«, in Journal of Palliative Care 28 (2012) 113–15. Klopstock berichtete nämlich »Träume, die ihm seine verstorbenen Freunde darstellten«. Diese »Träume« erzählte er »mit sichtbarer Heiterkeit und Freude«. »Einmal war ihm der leztverstorbene grosse Bernstorff in einer zahlreichen Gesellschaft unvermuthet, und wie er sagte, in einem Anzug, dessen Pracht und idealische Form er nicht zu beschreiben vermögte, erschienen, hätte ihm freundlich die Hand gereicht, und gesagt: Kommen Sie mit mir!« Die positiven Wirkungen dieser »Träume« und die unbeschreibliche »Pracht« und »idealische Form« des Anzugs von Bernstorff sprechen dafür, dass es sich um Sterbebettvisionen und nicht um gewöhnliche Träume handelt. Der »leztverstorbene grosse Bernstorff« dürfte wohl Graf Andreas Peter von Bernstorff (1735–97) sein und nicht dessen weitaus früher verstorbener Onkel und Freund Klopstocks, Graf Johann Hartwig Ernst von Bernstorff (1713–72). Klopstock lernte A. P. von Bernstorff bereits 1751 kennen und nahm Anteil an dessen Krankheit und Tod (siehe HKA III.2:531). 116 absprechen: Hier im Sinne von ›ein negatives Urteil sprechen‹. Siehe zu diesem Gebrauch J. Grimm, W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig: S. Hirzel 1854, 124: »über eine sache absprechen, aburteilen: Justus Möser war geneigter die verschiedenen seiten eines gegenstandes ins licht zu stellen als über ihn abzu­ sprechen.« 117 besondere Blätter: wohl der systematisch-philosophische Teil des Manuskripts (LG 45r–75v).

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Endnoten-Apparat 118 In] Doch über dies alles auf dem folgenden Blatte. In 119 Die zitierte Passage (Messias XVII, 459–82) lautet genau und vollständig: »Fins­ ter und scharf war Sebida’s Blick. Er saß auf dem Moosstein, / Und ihm glühte von Denken die Stirn: Ich, der der Gewißheit / Lang’ entsagt hat in Dingen des künf­ tigen Schicksals, dem Zweifel, /Wie er das Herz auch belaste, sich lange schon unterworfen, / Ich soll glauben, der Pilger etliche, die ich vor Kurzem / Hier noch sahe, Sterbliche sah, die seyn Erstandne? / Die erscheinen? und soll nicht glauben, der sehenden Seele / Werd’, indem sie Gedanken von Auferstehung entflammen, / Durch Vorstellung getäuscht, der Wirklichkeit mangelt? Erscheint denn, / Todte, dem forschenden Untersucher, der Wesen vom Bilde / Sondert, erscheinet, Todte, die leben! Denn Wirklichkeit kenn’ ich, / Leben auch! Ich schau’ um mich her, und ich flehe vergebens! / Japhet, ein Pilger aus Tenedos, kam heran zu dem Zweifler, / Stand, von der Helle des unbewölkten Mondes umgeben, / Nahe vor ihm und sprach mit ihm, von der doppelten Täuschung / Bald der gewähnten Gewißheit und bald des ergrübelten Zweifels, / Alles, nachdem der Geist zu der Überzeugung sich neige / Oder wider sie sich sträube. Der Weisere köhre / Dinge sich aus und Beschaffenheiten der Dinge, die sichtbar / Vor ihm lägen, und die er zu übersehen vermöchte: / Böten aber sich ihm aus weiteren Kreisen der Kenntniß / Andere dar, so erforschet’ er sie, wie die aus den engern, / Sähe wie sonst, verdrehte bei Überschauung des Höhern / Nicht den Blick und täuschte sich nicht durch ergrübelte Zweifel.« (HKA Werke IV.2:204). 120 Georg Christoph Lichtenberg (1742–99), Mathematiker, Physiker, Schriftsteller, Aufklärer; 1770 Professor für Mathematik in Göttingen, dort seit 1775 Professor für Physik (siehe W. Proß, C. Priesner, »Lichtenberg, Georg Christoph«, in NDB 14:449–64. 121 Siehe [G. C. Lichtenberg], Georg Christoph Lichtenberg’s vermischte Schriften, hg. von L. C. Lichtenberg und F. Kries, Göttingen: Dieterich 1800, 1:12: »Ich hielt mir ein Zettelchen, worauf ich gewöhnlich schrieb, was ich für eine besondere mir von Gott erwiesene Gnade ansah, und nicht anders erklären zu können glaubte. Bey meinem inbrünstigen Gebet sagte ich zuweilen: o lieber Gott, etwas aufs Zettelchen!« Aus dem Kontext dieser Schilderung scheint hervorzugehen, daß Lichtenberg zur Zeit dieser Gewohnheit im Knabenalter war. 122 Vgl. auch Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), AA 5:233, in Bezug auf die Erzeugung der Normalidee durch die Einbildungskraft: »wer kann der Natur ihr Geheimniß gänzlich ablocken?« 123 Siehe zur Normalidee Kant, Kritik der Urteilskraft, § 17 (Vom Ideale der Schön­ heit), AA 5:233–34: Die »ästhetische Normalidee« ist »eine einzelne Anschau­ ung (der Einbildungskraft), die das Richtmaß seiner [d.h. des Menschen] Beur­ theilung als eines zu einer besonderen Tierspecies gehörigen Dinges vorstellt […;] sie ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet; sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen […] Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung«. 124 Nach Tetens sind »sinnliche Abstrakta« oder »allgemeine Bilder« als »selbst gemachte einfache Vorstellungen« »wahre Geschöpfe der Dichtkraft«. Sie stel­ len die »Vereinigung mehrerer Eindrücke« dar, »die einzeln genommen nicht vollkommen das sind, was das allgemeine Bild ist« (J. N. Tetens, Philosophische

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Endnoten-Apparat Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung, 2 Bde., Leipzig: Weidmann und Reich 1777, 1:132). 125 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:233–34. 126 Ab »Einbildungskraft« nahezu wörtlich nach Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:234. Die Stelle lautet im Zusammenhang: »Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die Vergleichungsweise zu schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Gränzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die Statur für einen schönen Mann. (Man könnte ebendasselbe mechanisch heraus bekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addirte, und die Summe durch tausend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut eben dieses durch einen dynamischen Effekt, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des innern Sinnes entspringt.)« 127 Zur ›bildenden Dichtkraft‹ siehe Tetens, Philosophische Versuche, 1:115–41. 128 Siehe Tetens, Philosophische Versuche, 1:117: »Die gewöhnliche Erklärungsart von dem Entstehen der Fiktionen scheint mir auch bey den gemeinsten Beyspielen von Dichtung unhinlänglich zu seyn, um alles das völlig zu begreifen, was die Dichtungskraft in ihnen hervorbringt«; ebd. 116: »Die Psychologen erklären gemeiniglich das Dichten durch ein bloßes Zerteilen und Wiederzusammensetzten der Vorstellungen, die in den Empfindungen aufgenommen, und wieder hervor­ gezogen sind. Aber soll dieß das eigene der Fictionen ganz ausmachen? Wenn es so ist, so ist auch das Dichten nichts anders als ein bloßes Stellversetzen der Phantasmen; so werden dadurch keine neue für unser Bewußtseyn einfache Formen entstehen können.« 129 Jäsche hörte im Winter 1791/92 Kants Vorlesungen über Metaphysik und Anthropologie (Morgenstern, Jäsche, 26). In der Vorlesungsnachschrift von Graf Heinrich zu Dohna-Wundlacken (1773–1843) fehlt allerdings eine Bemerkung über die Unbegreiflichkeit der Einbildungskraft und Phantasie (siehe I. Kant, Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu Dohna-Wundlacken, hg. von A. Kowalew­ ski, München: Rösl 1924, 106–10, Manuskriptseiten 40–44). Im führenden Kant-Lexikon heißt es aber: »Über sein [d.i. Kants] ganzes Werk verstreut finden sich Bemerkungen, in denen Kant betont, dass die Wirkungsweise der Einbildungskraft etwas Dunkles und Rätselhaftes an sich habe« (J. H. Zammito, Red., »Einbildungskraft«, in Willascheck, Kant-Lexikon, 460–66, hier 460). 130 Vgl. Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:342: »Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne.« Vgl. auch Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA 7:190. Die tatsächliche Quelle dieses Diktums ist Heraklit: »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene« (DK 22 [12] B 89).

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Endnoten-Apparat 131 Freund und Amtsgenosse P.: Der Physiker und Naturforscher Georg Friedrich (von) Parrot, 1767 geboren in Mömpelgard (heute Montbéliard), gestorben 1852 in Helsingfors, ab 1802 Professor der theoretischen und Experimental-Physik an der Universität Dorpat, um deren Ausbau er sich verdient machte; dort bereits 1802 Rektor, ab 1826 ordentlicher Akademiker an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (siehe P. F. von Stälin, »Parrot, Christoph Friedrich«, in ADB 25:184; DBBL, 579; Jäsche, Geschichte und Beschreibung der Feyerlichkeiten, 87). Morgenstern zitiert aus einer autobiographischen Notiz Jäsches: »Bald nach meiner Ankunft hieselbst [in Dorpat] traf ich mit Einem und dem Andern meiner ältesten Collegen zusammen, die schon vor mir oder mit mir zugleich angekommen waren. Unter diesen gedenke ich hier meines Collegen Parrot, als desjenigen unter meinen ersten und ältesten Amtsgenossen, der bald in der Folge mein herzlichster Freund wurde und es immer geblieben ist die ganze lange Zeit unsers akademischen Beisammenseyns hindurch; auch jezt noch als einen solchen sich beweist, nachdem das Schicksal uns von einander getrennt hat durch seine Berufung an die Petersburgische Akademie der Wissenschaften« (Morgenstern, Jäsche, 34–35). 132 Diese Erlebnisschilderung teilt Jäsche dann aber doch nicht mit. 133 Atonie: von griech. ἀτονία: Mattigkeit, Schlaffheit; normalerweise auf die Musku­ latur bezogen. 134 auszuheben: herauszuheben. 135 Wahrgenommenen] Wahrnehmenden 136 entzogen] sich entzogen 137 Palingenesie: Wiederhervorbringung, Wiedergeburt ([Brockhaus] Conversati­ ons-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit, in sechs Bänden, mit zwei Nachtragsbänden, Amsterdam u.a.: Im Kunst- und IndustrieComptoir 1809 / 1811, 8:192); von griech. πάλιν: wieder; und γένεσις: Entste­ hung. 138 sonst auch] doch das sonst auch 139 bei] bei gan[¿] 140 Nervenzuständen] Nerven Zuställen[¿] 141 Das Original enthält noch einen Einschub, in dem Kant anscheinend direkt auf Geistererscheinungen Bezug nimmt: »Allein Meinen: daß es reine, ohne Körper denkende, Geister im materiellen Univers gebe (wenn man nämlich gewisse dafür ausgegebene wirkliche Erscheinungen, wie billig, von der Hand weiset), heißt dichten, und ist gar keine Sache der Meinung, sondern eine bloße Idee, welche übrig bleibt, wenn man von einem denkenden Wesen alles Materielle wegnimmt, und ihm doch das Denken übrig läßt. Ob aber alsdann das Letztere (welches wir nur am Menschen, d.i. in Verbindung mit einem Körper, kennen) übrig bleibe, können wir nicht ausmachen« (Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:467–68). Siehe schon Kant, Träume eines Geistersehers, AA 2:351–52; siehe dazu auch Schwenke, »Swedenborg und Kant«, 140–41. 142 Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:468: »Ein solches Ding ist ein ver­ nünfteltes Wesen (ens rationis ratiocinantis), kein Vernunftwesen (ens rationis ratiocinatae), von welchem letzteren es doch möglich ist, die objektive Realität seines Begriffs […] hinreichend darzutun«.

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Endnoten-Apparat 143 Nicht wörtlich und verkürzt nach Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:467: »Gegen­ stände der bloßen Vernunftideen, die für das theoretische Erkenntniß gar nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargestellt werden können, sind sofern auch gar nicht erkennbare Dinge, mithin kann man in Ansehung ihrer nicht einmal meinen […]. Also sind Meinungssachen jederzeit Objecte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungserkenntniß (Gegenstände der Sinnenwelt), die aber nach dem bloßen Grade dieses Vermögens, den wir besitzen, für uns unmöglich ist. So ist der Äther der neuern Physiker, eine elastische, alle andere Materien durchdringende (mit ihnen innigst vermischte) Flüssigkeit, eine bloße Meinungs­ sache, immer doch noch von der Art, daß, wenn die äußern Sinne im höchsten Grade geschärft wären, er wahrgenommen werden könnte; der aber nie in irgend einer Beobachtung, oder Experimente, dargestellt werden kann. Vernünftige Bewohner anderer Planeten anzunehmen, ist eine Sache der Meinung; denn, wenn wir diesen näher kommen könnten, welches an sich möglich ist, würden wir, ob sie sind, oder nicht sind, durch Erfahrung ausmachen; aber wir werden ihnen niemals so nahe kommen, und so bleibt es beim Meinen«. 144 denn] evtl. auch: dann 145 getroffen: hier vermutlich geistig erfassen, erkennen. 146 Hier offenbar positiv als Wendepunkt gemeint, entsprechend dem damaligen Gebrauch: »Katastrophe [… ist] die Umwendung, die Veränderung, wird haupt­ sächlich bei Schauspielen gebraucht, wo die Fabel des Stücks nach vielen vor­ hergehenden Verwirrungen und Bedrängnissen auf einmal eine unerwartete erwünschte Wendung nimmt, wodurch die Zuschauer unvermuthet überrascht werden. Es wird dann nun das Wort auch bei andern Begebenheiten gebraucht, und könnte also ungefähr der Entscheidungspunkt, der Glückswechsel genannt werden« ([Brockhaus] Conversations-Lexikon 7:516). 147 Siehe dazu S. 44-45 und En. 158. 148 Charles Bonnet (1720–93) war ein Genfer Naturforscher und Philosoph. Unter anderem entdeckte er das Prinzip der Parthenogenese, formulierte die Katastro­ phentheorie der Evolution und beschrieb das nach ihm benannte Syndrom. Naturphilosophisch knüpfte er u.a. mit der Präformationslehre an Leibniz an. Bonnet war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien (siehe Red.: »Charles Bonnet«, in Encyclopedia Britannica, https://www.britannica.com/bi ography/Charles-Bonnet (besucht 28 September 2021); G. Luginbühl-Weber: »Bonnet, Charles«, in Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 06.04.2011, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015877/2011–04–06/, besucht am 28. September 2021; H.-J. Rheinberger, P. McLaughlin, »§ 18. Naturgeschichte«, in J. Rohbeck, H. Holzhey (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 2/1, Basel: Schwabe 2008, 380–424, hier 391–95. 149 Nach Bonnet besitzt jedes lebende Wesen einen unverweslichen Körper, der der Sitz des Gedächtnisses ist, so die Kontinuität des Individuums sichert und den Keim für dessen zukünftige Vervollkommnung darstellt. Siehe etwa C. Bonnet, La palingénésie philosophique ou idées sur l'état passé et sur l'état futur des êtres vivants, T. 1, Genève: Philibert et Chirol 1769, 45–46, in der Übersetzung von Lavater: »Man hat uns den Körper als ein Gefängniß, und die Seele als den Gefangenen vorgestellt, der nach seiner Befreyung seufzet. Diese geläufige Ver­ gleichung […lässt] sich […] wol auf den groben Körper anwenden, den wir sehen und greifen, und der der Herrschaft des Todes unterworfen ist. Allein, es giebt

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Endnoten-Apparat noch einen andern, der ihm nicht unterworfen, dessen unverweslicher Keim viel­ leicht schon itzt vorhanden ist, der sich zu seiner Zeit auswickeln, und den die Seele, zufolge der ausdrücklichsten und wiederhohltesten Ansprüche der Offen­ barung ewig bewohnen wird. Also nur der verwesliche Körper ist für die Seele ein Gefängniß und durchaus nicht der unverwesliche und herrliche Körper, wel­ chen die Offenbarung diesem entgegensetzt.« ([C. Bonnet], Herrn C. Bonnets Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen, übers. und mit Anm. hg. von J. C. Lavater, Zürich: Orell, Geßner, Füeßlin 1770, 59–60). Siehe auch ebd. 359: »Das gegenwärtige Leben ist der erste Ring an einer Kette, die sich in der Ewigkeit verliert. Der Mensch ist vermöge seiner Seele, die eine unteilbare Substanz ist, unsterblich. Er ist es auch vermöge des unvergänglichen Keimes, mit welchem jene vereiniget ist. […] Der Mensch wird also ewig ein vermischtes Wesen seyn; und, wie alles in dem Weltall in Verbindung ist, so bestimmt auch der gegenwärtige Zustand des Menschen seinen künftigen«; ebd. 499–500: »Ich habe […] gezeigt, wie wahrscheinlich es ist, daß die Thiere bestimmt sind, dereinst in einen andern Stand versetzt zu werden, der alle ihre Fähigkeiten vervollkommnen und veredeln wird. Ich habe hinlänglich zu verstehen gegeben, daß die physische Mittel dieser Vervollkomm­ nung in dem Thier wirklich da seyn, ja schon von dem Anfang der Dinge an darinn haben existieren können. Man versteht ja, daß ich von dem unzerstörbaren Keim rede, mit dem die Seele, wie ich es mir vorstelle, vereiniget ist, und von dem sie sich nicht sondern soll. Diese zu allen Zeiten mit diesem unsichtbaren Körper vereinigte Seele ist es, die nach meinem Lehrsatz, die wahre Person des Thiers ausmacht«; ebd. 567: »Damit also jedes vermischte Wesen in einem andern Zustand, durch natürliche Wege, die Empfindung von seiner eigenen Persönlich­ keit behalte, so ist nothwendig, daß seine Seele mit einer organischen Maschiene vereiniget bleibe, welche die Eindrücke der vorhergehenden Zustände, oder doch einige davon behalte. Nach einer richtigen Folgerung, muß also ferners die orga­ nische Maschiene, mit welcher die Seele nach dem Tode vereiniget bleibt, einige von denen Beziehungen behalten, die sie mit der alten Maschiene, von der sie abgesondert ist, unterhielt«; ebd. 357–58: »die neue philosophische Lehre von der zukünftigen Wiederherstellung und Vervollkommung aller organisierter und beseelter«. Vgl. auch R. Eisler, Philosophen-Lexikon: Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin: Mittler 1912, 71: Nach Bonnet besitze die Seele »einen ätherarti­ gen Leib als unverlierbares Organ, welches die Erinnerungen des Erdenlebens aufbewahrt. Mit diesem Ätherleib geht sie in andere Körper ein, worauf die ›Palingenesie‹, die Auferstehung der in der jetzigen Weltperiode verstorbenen Lebewesen in einer künftigen Weltperiode beruht«. Lavater hing selbst einer derartigen Lehre an, siehe seine Aussichten in die Ewigkeit, wonach »mit dem Tode des irdischen Körpers die Seele durch ihre eigene substantielle Kraft in einem feinen organisierten Cörper, der in dem gröbern Cörper eingehüllt ist, […] von der Hülfe des irdischen Cörpers sich losreisse« (Lavater, Aussichten in die Ewig­ keit, Th. 1, 3. Aufl. 1877, 177–78). Vgl. auch J. K. Wötzel, Meiner Gattinn wirkliche Erscheinung nach ihrem Tode: Eine wahre unlängst erfolgte Geschichte für Natur­ forscher zur unbefangenen Prüfung dargestellt, 4. Aufl. Leipzig: Jacobäer 1805, 139–201. 150 Siehe En. 137.

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Endnoten-Apparat 151 krass: plump, grob (siehe J. Grimm, W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Leipzig: Hirzel 1873, 2069). 152 Jäsche bezieht sich wohl auf die Auferstehungslehre des Paulus, wonach der physische Leib nach dem Tod vergeht und die Toten mit einem neuen, pneuma­ tischen Leib auferweckt werden (siehe 1 Kor 15,35–44; Phil 3,20–21; dazu T. Engberg-Pedersen, Cosmology and self in the Apostle Paul: The material spirit, Oxford: Oxford University Press 2010, 19–37; M. D. Litwa, We are being trans­ formed: Deification in Paul’s soteriology, Berlin: de Gruyter 2012; H. Schwenke, Die Verwechslung der Welten: Auferstehung, Reich Gottes und Jenseitserfahrungen, Freiburg: Alber 2017, 128–30). Die »krasse …, auf bloßem Missverstande beruhende« Auferstehungslehre, dass nämlich der physische Körper wieder ins Leben zurückkehre, findet sich in den synoptischen Evangelien und der späteren christlichen Dogmatik, siehe Schwenke, Verwechslung der Welten, 71–79, 107–24 und die dort zitierte Literatur). Die Lehre eines sich nach dem Tod bildenden subtilen oder ätherischen Körpers begegnet auch in [Klopstock], Margareta Klopstocks Hinterlaßne Schriften, LXXVIII. Margareta Klopstock sah als Inschrift auf ihrem Sarg zwei Passagen aus dem elften Gesang des Messias vor. Die Seele des verstorbenen reuigen Schächers spricht zum ihrem toten (irdischen) Körper: »Schlummre denn, mein Gefährte des ersten Lebens, verwese, Saat von Gott gesät, dem Tage der Garben zu reifen!« Es heißt weiter: »Die Seele des Schächers redet weiter, indem ihr ätherischer Leib um sie wird« (ebd.; Hervorhebung H.S.). Innerhalb des Protestantismus postulierte schon Johann Conrad Dippel (1673– 1734) einen »geistlichen Leib« (A. Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn: Marcus 1884, 335); nach Friedrich Christoph Oetinger (1702–82) bildet sich »in dem natürlichen Leib ein zarter geistlicher Leib, ein verborgener siderischer oder ätherischer, ein eigener unverweslicher Leib« (zitiert nach C. A. Auberlen, Die Theosophie Friedrich Christoph Oetinger’s nach ihren Grundzügen: Ein Beitrag zur Dogmengeschichte und zur Philosophie, Tübingen: Fues 1847, 446); siehe zu weiteren Vertretern innerhalb des Protestantismus J. J. Poortman: Vehicles of consciousness. The concept of hylic pluralism (Ochêma), 4 vols., Utrecht: The Theosophical Society in the Netherlands 1978 [Niederl. EA 1954], 2:105–11. 153 Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:502: »Wo nicht etwa Ein­ bildungskraft schwärmen, sondern, unter der strengen Aufsicht der Vernunft, dichten soll, so muß immer vorher etwas völlig gewiß und nicht erdichtet, oder bloße Meinung sein, und das ist die Möglichkeit des Gegenstandes selbst. Als­ denn ist es wohl erlaubt, wegen der Wirklichkeit desselben, zur Meinung seine Zuflucht zu nehmen, die aber, um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden muß, und alsdenn Hypothese heißt.« 154 Gemeint ist der Mediziner und Philosoph Ernst Platner (1744–1818). Zur Lehre vom doppelten Seelenorgan siehe seine Neue Anthropologie für Aerzte und Welt­ weise: Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, Bd. 1, Leipzig: Crusius 1790, 71–77: »Es ist keine Hypothese, sondern eine eben so erweisliche, als begreifliche Wahrheit, daß in der menschlichen Natur ein zwiefaches Seelenorgan ist: nämlich ein geistiges, und ein thierisches […]. Das geistige Seelenorgan ist das wesentlichere und edlere, welches in der Seele diejenigen Weltvorstellungen erweckt, die sich unmittelbar beziehen auf den geistigen Trieb nach Gedankenbeschäftigung, und also auf das eigentliche

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Endnoten-Apparat geistige Leben und Daseyn der Seele; nämlich Sinnen- und Gedächtnißvorstel­ lungen von Subjekten, Eigenschaften und Verhältnissen der vorliegenden Welt; Allgemeinbegriffe, reine Wahrheiten, Grundsätze, Urtheile und Ueberzeugun­ gen der Vernunft; eingekleidet in Worte oder andere Ideenbilder. […] Das geistige Seelenorgan ist derjenige Teil des Nervengeistes, welcher enthalten ist in den Nerven der höhern Sinnen; und in den Werkzeugen der Phantasie, wiefern sich die Phantasie auf die höhern Sinnen bezieht […]. Das thierische Seelenorgan ist das unwesentlichere und unedlere, und erweckt in der Seele jene verworrenen, aus einer zahlenlosen Vielheit undeutlicher Gefühle zusammengesezten Vorstell­ ungen von dem Zustande, theils des thierischen Körpers überhaupt, theils seiner einzelnen Werkzeuge, und die von diesen Ideen abhangenden angenehmen, oder unangenehmen Empfindungen. Das thierische Seelenorgan ist derjenige Theil des Nervengeistes, welcher enthalten ist in den Nerven der niedern Sinnen; und in den Werkzeugen der Phantasie, wiefern sich die Phantasie auf die niedern Sinnen bezieht, und materielle Ideen hervorbringt, welche mittelbar oder unmittelbar davon abhangen. […] Wiefern alle Nerven und alle Gehirnfibern, mit einander zusammenhangen: sofern sind auch beyde Seelenorganen mit einander in Verbindung. Beyde Seelenorganen wirken unablässig in die Seele; und die Eindrücke von beyden fließen in der Seele stets unter einander. Daher ist in dem Menschen weder eine ganz reingeistige Vorstellung möglich, noch eine bloß thierische Empfindung. […] Obwohl beyde Seelenorganen Nervengeist genannt werden, so ist es doch wahrscheinlich, daß der Nervengeist, welcher das geistige Seelenorgan ausmacht, von einer weit edlern Beschaffenheit sey, als der, welcher das thierische Seelenorgan ausmacht. Vielleicht ist die Substanz des geistigen Seelenorgans des Menschen, das allerfeinste, unveränderlichste und unzerstörbarste Princip in dieser ganzen materiellen Welt. […] Aus den bisherigen Erläuterungen ergiebt sich die physische Möglichkeit, wie die Seele, getrennt von dem thierischen Körper und von dem ihm zugehörigen Seelenorgan, auch getrennt von den zusammengeseztern Werkzeugen der höhern Sinnen und der Phantasie, mit dem geistigen Seelenorgan, oder vielmehr mit dessen ursprünglichem, wesentlichem Theil verbunden bleiben, und früher oder später, durch den Lauf der Natur in ein anders Weltsystem fortgerückt werden, und da, entweder einen andern, diesen neuen Verhältnissen angemessenen Körper annehmen, oder ohne einen andern Körper, durch das geistige Seelenorgan, mit Bewußtseyn und mit Andenken an ihren vormaligen Zustand fortleben könne.« 155 In seiner Schrift Über das Organ der Seele, Königsberg: Nicolovius 1796, 32, § 28, favorisiert der Anatom, Anthropologe und Paläontologe Samuel Thomas (von) Sömmering (1755–1830) »die Flüssigkeit der Hirnhöhlen« als Organ der Seele. Dazu und zu Kants Auseinandersetzung mit Sömmering siehe W. Euler, »Die Suche nach dem Seelenorgan: Kants philosophische Analyse einer anatomischen Entdeckung Sömmerings«, in Kant-Studien 93 (2002) 453–80; M. Hagner, Homo cerebralis: Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin: Berlin Verlag 1997, 63–87. 156 des Daseins] von dem Dasein 157 Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:190: »So erkennen wir das Dasein einer alle Körper durchdringenden magnetischen Materie aus der Wahr­ nehmung des gezogenen Eisenfeiligs, obzwar eine unmittelbare Wahrnehmung dieses Stoffs uns nach der Beschaffenheit unserer Organen unmöglich ist. Denn

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Endnoten-Apparat überhaupt würden wir nach Gesetzen der Sinnlichkeit und dem Context unserer Wahrnehmungen, in einer Erfahrung auch auf die unmittelbare empirische Anschauung derselben stoßen, wenn unsere Sinnen feiner wären, deren Grobheit die Form möglicher Erfahrung überhaupt nichts angeht.« 158 Siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:189: »Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar, von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgend einer wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknüpfung in einer Erfahrung überhaupt darlegen.« ›Analo­ gien der Erfahrung‹ sind bei Kant notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Er sagt, dass »Erfahrung: […] nur durch die Vorstellung einer nothwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich« sei. Die Wahrneh­ mungen kämen in der Erfahrung jedoch aber »nur zufälliger Weise zu einander«. Die »Nothwendigkeit ihrer Verknüpfung« könne daher nicht »aus den Wahr­ nehmungen selbst […] erhellen«, sondern nur durch »a priori verknüpfende Begriffe geschehen« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:158–59). Analogien der Erfahrung sind die »oberste[n] synthetische[n] Urteile a priori des Erfahrungswissens«. Sie sind »Regeln«, »vermittels deren Erscheinungen gesucht werden können, die zu bereits gegebenen Erscheinungen in einem bestimmten Verhältnis, z. B. der Ursache-Wirkungsbeziehung, stehen«, und somit »Regeln ›nach welche[n] aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung […] entspringen soll‹ (KrV A 180 / B 222)« (C. Suhm, »Analogien der Erfahrung«, in Willascheck et al., Kant-Lexikon, 59–63, hier 59). Kant kennt drei Analogien der Erfahrung, das Prinzip der Substanzerhaltung, das Kausalprinzip und das Wechselwirkungs­ prinzip (siehe Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:162–85; Suhm, »Analogien der Erfahrung«). 159 Das bekannte Diktum Albrecht von Hallers (1708–77) »Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist« stammt aus seinem Gedicht Die Falschheit der menschlichen Tugenden (1730) (in [A. Haller], Albrecht von Hallers Gedichte, hg. von L. Hirzel, Frauenfeld: Huber 1882, 74, Z. 289). 160 Freund und College G.: David Hieronymus Grindel, siehe En. 97. 161 Siehe dazu En. 146. 162 Siehe LG 17v mit En. 58. 163 In J. G. Fichte, Grundlage der Gesammten Wissenschaftslehre und Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermö­ gen, Tübingen: Cotta 1802, 267, heißt es genau und vollständig: »Der Punkt, auf welchem wir uns selbst finden, wenn wir zuerst jenes Mittelvermögens der Freiheit mächtig werden, hängt nicht von uns ab, die Reihe, die wir von diesem Punkte aus in alle Ewigkeit beschreiben werden, in ihrer ganzen Ausdehnung gedacht, hängt völlig von uns ab.« 164 dem] das 165 Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:467: »[W]enn man nämlich gewisse dafür ausgegebene, wirkliche Erscheinungen, wie billig, von der Hand weiset« (siehe ausführlicher En. 141). 166 in Anspruch nehmen: hier am ehesten vor Gericht stellen, anklagen, vgl. etwa [J. W. v. Goethe], Goethe’s Werke, vollständige Ausgabe letzter Hand, Stuttgart: Cotta 1830, 31:151: »Fichte hatte […] über Gott und göttliche Dinge auf eine

159 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Endnoten-Apparat Weise sich zu äußern gewagt, welche den hergebrachten Ausdrücken über solche Geheimnisse zu widersprechen schien; er ward in Anspruch genommen, seine Vertheidigung besserte die Sache nicht«; Kant, Streit der Fakultäten (1798), AA 7:28: »Die philosophische Facultät kann also alle Lehren in Anspruch nehmen, um ihre Wahrheit der Prüfung zu unterwerfen.« 167 Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, AA 5:467: »[W]enn man nämlich gewisse dafür ausgegebene, wirkliche Erscheinungen, wie billig, von der Hand weiset« (siehe ausführlicher En. 141). 168 Hervorhebungen von Jäsche. Das Original lautet: »›[N]o testimony is sufficient to establish a miracle, unless the testimony be of such a kind, that its falsehood would be more miraculous, than the fact, which it endeavours to establish; and even in that case there is a mutual destruction of arguments, and the superior only gives us an assurance suitable to that degree of force, which remains, after deducting the inferior.‹ When anyone tells me, that he saw a dead man restored to life, I immediately consider with myself, whether it be more probable, that this person should either deceive or be deceived, or that the fact, which he relates, should really have happened. I weigh the one miracle against the other; and according to the superiority, which I discover, I pronounce my decision, and always reject the greater miracle« (D. Hume, An Enquiry concerning the human understanding, and an enquiry concerning the principles of morals, ed. by L. A. Selby-Bigge, Oxford: Clarendon 1894 [EA 1748], 115–16 [X, I, 91]). 169 hervorgezogen: hervorgehoben. 170 seiner] ihn 171 affektieren: »den Schein von etwas zu haben suchen« (Adelung, Wörter­ buch, 1:173). 172 phainomena] phänomenii[¿] 173 Ich bin von dem allen so gewiss: Ich bin mir dieses allen so gewiss. 174 hervorgezogen: siehe En. 169. 175 Klopstock, Messias XVII, 473–76: »[Japhet] sprach mit ihm, von der doppelten Täuschung / Bald der gewähnten Gewissheit, und bald des ergrübelten Zwei­ fels, / Alles, nachdem der Geist zu der Überzeugung sich neige, Oder wider sie sich sträube« (HKA Werke IV.2:204); vgl. LG 43v mit En. 119. 176 Freund I…: Heinrich Friedrich Isenflamm, siehe En. 54. 177 Zitat aus Schillers Gedicht Thekla. Eine Geisterstimme (1802) (F. Schiller, Gedichte, Zweyter Theil, Neue vom Verf. selbst besorgte Ausgabe, Leipzig: [Crusius] 1803, 26). 178 F. Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Veräch­ tern, 2. Aufl., Berlin: Realschulbuchhandlung 1806, 157 (Hervorhebungen Jäsche; nach »aufs Unendliche« lässt Jäsche »aufs Universum« aus). 179 Ungenaues Zitat von [Jacobi], Jacobi an Fichte, 48–49: »Das Nichts erwählend macht er sich zu Gott; das heißt: er macht zu Gott ein Gespenst; denn es ist unmöglich, wenn kein Gott ist, daß nicht der Mensch und alles was ihn umgiebt blos Gespenst sei.« Siehe ausführlicher En. 38. 180 Zum Zusammenhang zwischen Spinozismus und Fatalismus siehe auch Jäsche, »Ansichten des Pantheismus«, 1:182–83: »Und da endlich diese Lehre des Begrif­ fenseyns aller Dinge in Gott, nicht die Freyheit – keine Intelligenz mit Verstand und Willen, sondern eine verstandes- und willenlose Macht als Grund-Princip alles Wirklichen setzt, aus welcher alles Seyn mit Nothwendigkeit entspringt,

160 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Endnoten-Apparat und durch welche die Ordnung und Verknüpfung der Dinge, welche mit der Ordnung und dem Zusammenhange der Begriffe einerley ist, auf eine ewige und schlechterdings nothwendige Weise bestimmt ist: so wird der Spinozismus unvermeidlich zum Fatalismus, wobey die Freyheit ohne Rettung verloren geht.« 181 sie] sich 182 Jäsche thematisiert bei seiner »Anwendung« der Gedanken Schleiermachers nicht, dass dessen Konzept des Übersinnlichen nicht auf endliche jenseitige Wesen wie verstorbene Personen in der »Geisterwelt« zielt, sondern auf ein unendliches Absolutes. 183 Kommerzium: Gemeinschaft i.S.v. Interaktion, wechselseitigem Einfluss (hier: zwischen irdischem Menschen und Geisterwelt). 184 Ms hat keine Klammer am Anfang dieses Absatzes und am Ende des nächsten, jedoch werden beide Absätze von einer langen Klammer am rechten Rand umfasst. 185 Anspielung auf [Jacobi], Jacobi an Fichte, 55: »Einmal mit einem Wunder sind alle Philosophieen, ohne Ausnahme, behaftet. Jede hat einen besonderen Ort, ihre heilige Stelle, wo das ihre, als das allein Wahre, jedes andere überflüßig machende Wunder zum Vorschein kommt.« 186 Vgl. Johann Heinrich Lamberts Wendung, dass »beständiger Schein für uns Wahrheit ist« (Brief vom 6. Oktober 1770 an Kant (Kant, Briefwechsel 1770, AA 10:108); siehe auch Kant, Prolegomena zu einer jeden Metaphysik, die als Wis­ senschaft wird auftreten können (1783) AA 4:376. 187 Zur intersubjektiven Dimension von Wahrheit bei Kant vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:531–32: Der »Grund« des »Führwahrhalten[s]« ist »objectiv hinreichend«, »[w]enn es für jedermann gültig ist, so fern er nur Ver­ nunft hat«. Die »Übereinstimmung aller Urtheile ungeachtet der Verschiedenheit der Subjecte untereinander« lasse »die Wahrheit des Urtheils« vermuten. Vgl. auch die von Jäsche herausgegebene Logik Kants: »[W]as ich weiß, [halte ich] für apodiktisch gewiß, d. i. für allgemein und objectiv nothwendig (für Alle geltend)« ([Kant], Immanuel Kants Logik (1800), AA 9:66–67). 188 Vgl. [Kant], Immanuel Kants Logik, AA 9:66–67, 70: »Das Glauben oder das Fürwahrhalten aus einem Grunde, der zwar objectiv unzureichend, aber subjectiv zureichend ist, bezieht sich auf Gegenstände, in Ansehung deren man nicht allein nichts wissen, sondern auch nichts meinen, ja auch nicht einmal Wahrschein­ lichkeit vorwenden, sondern bloß gewiß sein kann, daß es nicht widersprechend ist, sich dergleichen Gegenstände so zu denken, wie man sie sich denkt. […] Das Glauben giebt auch wegen der bloß subiectiven Gründe keine Überzeugung, die sich mittheilen läßt«; vgl. auch Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:533: Ist das »Fürwahrhalten […] nur subjectiv zureichend und wird zugleich für objec­ tiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben«. 189 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., AA 3:536–37: »die Überzeugung [dass ein Gott und ein zukünftiges Leben sei] ist nicht logische, sondern morali­ sche Gewißheit, und da sie auf subjectiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei, sondern: ich bin moralisch gewiß etc.«

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Personenregister

Adelung, J. C. 140, 146, 148, 160 Adorno, T. W. 30 Arbesmann, R. 25 Arcangel, D. 11, 14, 17–19, 21 Auberlen, C. A. 157 Augustinus, A. 25 Balsamo, G. (Graf von Calgio­ stro) 148 Barrett, W. 18 Bautz, T. 35, 141 Beise, T. H. 144 Benz, E. 25 Bernstorff, A. P. von 151 Bernstorff, J. H. E. von 151 Blümml, E. K. 138 Boccaccio, G. 14 Bonnet, C. 44, 113, 155, 156 Bouterwek, F. 43, 84, 146, 147 Brayne, S. 151 Buber, M. 19 Buhlman, W. 14 Bulman, J. 138 Cicero, M. T. 14 Cowe, R 37 Cowle, R. 145 Cramer, J. A. 139 Craster, H. H. E. 37 de Geymüller, H. 25, 26 Dedekind, E. W. 139 Deutsch, C. F. 69, 144

Dippel, J. C. 157 Dirven, A. 29 Dohna-Wundlacken, H. zu 153 Ebbersmeyer, S. 142 Eberhard, J. E. 35 Eisler, R. 156 Engberg-Pedersen, T. 157 Euler, W. 158 Evans, H. 15 Fenwick, P. 151 Fichte, J. G. 43, 119, 142, 159, 160 Forstreuter, K. 37 Fountain, A. 151 Franz von Assisi 23 Funk, C. B. 148 Funk, G. B. 38, 46, 47, 98, 139, 145, 151 Gabriel, M. 28 Gauggel, S. 28 Gause, F. 37 Gellert, C. F. 59, 140, 141, 150 Giesbers, T. 147 Goethe, J. W. 144, 148, 159 Greyson, B. 21, 29 Grimm, J. 151, 157 Grimm, W. 151, 157 Grindel, D. H. 92, 94, 116, 150, 159 Guggenheim, B. 14, 17, 18, 21 Guggenheim, J. 14, 17, 18, 21 Gurlt, E. 144

163 https://doi.org/10.5771/9783495999783 .

Personenregister

Hagner, M. 158 Haller, A. von 159 Haraldsson, E. 18, 20, 21, 151 Hartung, G. 147 Heathcote-James, H. 15 Henke, E. 147 Heraklit 153 Hergenröther, J. 24 Hermann. K. T. 144 Herrmann, M. 28 Hess, G. H. 37 Hess, Jeanette Henriette (geb. Jäsche) 37, 91 Hirzel, L. 159 Hoche, H.-U. 28 Höfer, J. 24 Holzhey, H. 30, 37, 155 Höpken, A. J. von 25, 26 Horn, F. 145 Hube, H.-J. 140 Hügli, A. 28 Hume, D. 122, 160 Isenflamm, H. F. 68, 144, 160 Jacobi, F. H. 43, 53, 61, 62, 71, 134, 137, 141–143, 145, 160, 161 Jaffé, A. 17 Janicke, K. 46, 151 Jäsche, Anna (geb. Sahmen) 36 Jäsche, August 36 Jäsche, Christian Traugott 61, 141, 150 Jäsche, George (I) 37, 91 Jäsche, George (II) 36 Jäsche, Gottlob Benjamin 11–16, 18–20, 27, 31, 35–47, 50, 53– 146, 148–150, 153, 154, 157, 160, 161 Jäsche, Immanuel 36

Jäsche, Julius 36 Jäsche, Karoline 36 Jäsche, Marie 36 Jäsche, Richard Emanuel 37, 57, 91–93, 140, 149 Jäsche, Sally (geb. Straker) 12, 15, 35–47, 53–65, 67–82, 91, 92, 95, 96, 98, 137–139, 144– 146, 149 Jesus von Nazareth 23, 140 Kant, I. 12, 23–25, 27, 28, 35–37, 44–47, 62, 102, 103, 111, 114, 115, 120, 140, 142, 143, 148, 152–155, 157–161 Kaulen, F. 24 Kellehear, A. 151 Kelly, E. W. 14 Kemmler, E. 36 Kerner, J. 145, 146 Klopstock, F. G. 46, 47, 59, 98, 137–140, 144, 145, 151, 157, 160 Klopstock, M. (geb. Moller) 46, 47, 98, 137, 139, 144, 151, 157 Kobert, R. 144 Köppen, F. 43, 62, 142, 143 Korczak, J. 31 Köster, P. 138 Kowalewski, A. 153 Kries, F. 152 Krollmann, Ch. 37 LaGrand, L. E. 17, 18, 21 Lang, A. 22 Lang, B. 140 Lavater, J. C. 140, 155, 156 Lazzari, A. 37 Leibniz, G. W. 35, 155 Leinder, A. C. 149 Lenz, J. M. R. 149 Lessing, G. E. 86, 148

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Personenregister

Lichtenberg, G. C. 101, 146, 152 Lichtenberg, L. C. 152 Litwa, M. D. 157 Lovelace, H. 151 Ludwig, G. 27 Luginbühl-Weber, G. 155 Manteuffel, C. K. von (geb. von Behr) 149 Manteuffel, K. U. von 149 Marcel, G. 28, 30, 31 Maria (Mutter Jesu) 23 Marx, W. 27 Mattiesen, E. 15 McDannell, C. 140 McLaughlin, P. 155 Meyer, F. J. 137, 138, 151 Mittelstraß, J. 27 Morgenstern, K. 35, 36, 38–40, 46, 47, 83, 96, 98, 99, 137–141, 144–146, 149–151, 153, 154 Mudroch, V. 37 Müthel, W. 36 Napiersky, K. E. 149 Niemann, U. 23 Oberlin, J. F. 145 Oberlin, S. (geb. Wittwer) 145 Oetinger, F. C. 157 Oldekop, C. S. (geb. von Sacken) 69, 87, 91, 93, 95, 149 Oldekop, K. T. von 88, 94 Oldekop, K. Th. von 149 Oldekop, T. 149 Oldekop, Th. 149 Osis, K. 18, 151 Parhomenko, E. 19, 37 Parrot, G. F. 104, 154 Past, V. 150

Paulus von Tarsus 19, 157 Petersdorff, E. von 24 Pfeiffer, W. M. 26 Pick, B. P. 35, 36 Platner, E. 114, 157 Platon 38 Poortman, J. J. 157 Pott, P. E. 37, 73, 74, 91, 145, 149 Prantl, C. von 37, 143 Priesner, C 152 Proß, W. 152 Pruner, J. E. 24 Rahner, K. 24 Recke, J. F. von 149 Refoulé, F. 24 Reinhard, F. V. 59, 141 Rheinberger, H.-J. 155 Ritschl, A. 157 Ritter, H. 37 Rivas, T. 29 Rohbeck, J. 155 Rosenberg, Alfons 145 Roth, G. 28 Ruffmann, K.-H. 37 Sandkaulen, B. 142 Sandkühler, H. J. 30 Sawicki, D. 12, 146, 148 Schelling, F. W. 43, 142, 143, 146 Scherer, G. 31 Schiller, F. 85, 128, 144, 148, 160 Schlachter, G. 25 Schleiermacher, F. 128, 160, 161 Schneider, K. 26 Schneider, P. K. 26 Schoene, W. 26 Schott, C.-E. 141 Schreiber, A. W. 138

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Personenregister

Schrepfer, J. G. 148 Schultz, G. J. von (Dr. Bertram) 36 Schwenke, H. 13–16, 19, 20, 23, 25, 26, 29, 30, 41, 148, 154, 157 Seide, A. 27 Selby-Bigge, L. A. 160 Seuberlich, E. 150 Sheridan, K. 18 Siddharta Gautama 23 Simon, S. F. R. 144 Simpson, Mme. 140 Smit, R. H. 29 Sommer, A. 30 Sömmering, S. T. (von) 158 Sparn, W. 28 Spinoza, B. 146 Stälin, P. F. von 154 Stapf, J. B. 141 Stolberg, F. L. zu 138 Straker, George 56–59, 138, 140 Straker, George (jun.) 91 Straker, Sarah (geb. Bulman) 56– 59, 138, 140 Stuhlmann-Laeisz, R. 36 Suhm, C. 159 Swedenborg, E. 23–26, 139, 145, 148 Tafel, J. F. E. 26

Tankler, H. 150 Teresa von Avila 23 Tetens, H. 27 Tetens, J. N. 103, 152, 153 Thraemer, E. 38 Tuxen, C. 26 Ufert, W. 36 van Lommel, P. 21, 22, 29 van Quekelberghe, R. 26 Voigt, G. B. 36 Wagner, M. 23 Wayenborgh, J.-P. 36 Welford, R. 37, 138 White, S. E. 18 Wilczyńska, S. 31 Willascheck, M. 35, 36, 153, 159 Wolf, F. A. 38 Wolfes, M. 35, 141 Wolff, Ch. 35 Wolleyd, V. R. 150 Wötzel, J. K. 11, 30, 148, 156 Wübben, Y. 148 Wuerth, J. 23 Wurst, K. A. 149 Yogananda, P. 18 Yukteswar Giri 18

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