Gottes Vermögen zum Bösen 3791734997, 9783791734996


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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Ein einführender Rundgang durch die Materie, oder: Wieso überhaupt eine Arbeit über den Begriff eines göttlichen Vermögens zum Bösen?
1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs
1.1.1. Deutschsprachige Diskurslandschaft
1.1.2. Englischsprachige Diskurslandschaft
1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände
1.2.1. Wilhelmv on Ockham
1.2.2. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
1.2.3. Hermann Krings
1.2.4. Warum die biblische Rede vom Zorn Gottes nicht untersucht wird
1.3. Gliederung der Studie
2. Das Unverständliche verständlich machen: Annäherung an den Begriff des Bösen
3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta
3.1. Die Begründung der Auswahl Ockhams als Fallbeispiel
3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick
3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham
3.3.1. I. Voraussetzung: Wider den Nezessitarismus
3.3.1.1. Die Pariser Lehrverurteilung von 1277
3.3.1.2. Platonismus und Aristotelismus im lateinischen Mittelalter
3.3.1.2.1. Antike Quellen
3.3.1.2.2. Rezeption in der arabischen Welt
3.3.1.2.3. Rezeption in der lateinischen Welt
3.3.2. II. Voraussetzung: Johannes Duns Scotus und die Kontingenz der Welt
3.3.3. Gott und die Möglichkeiten
3.3.4. Das göttliche Freiheitsvermögen
3.3.4.1. III. Voraussetzung: Die potentia Dei absoluta – Genealogie eines Begriffs
3.3.4.2. Der Gebrauch der potentia-Dei-Formel durch Wilhelm von Ockham
3.3.4.3. Hans Blumenberg und der Gott der Willkür
3.3.5. Die Grenzen der göttlichen Macht
3.3.6. Die potentia Dei absoluta und das Vermögen zum Bösen
3.4. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Wilhelm von Ockham, oder: Zwischen potentia Dei absoluta und Schuldfreiheit
4. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen
4.1. Die Begründung der Auswahl der Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände
4.2. Forschungsstand zur Freiheitsschrift
4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit
4.3.1. Menschliche Freiheit im Pantheismus
4.3.2. Der Begriff realer Freiheit
4.3.3. Der Begriff transzendentaler Freiheit
4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit, oder: Woher kommt das Vermögen zum Bösen?
4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung
4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, oder: Zwischen wesenhafter Liebe und dem Vermögen zum Guten und zum Bösen
5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit
5.1. Begründung der Auswahl der Freiheitsphilosophie von Hermann Krings und ein Forschungsüberblick
5.2. Werkgeschichtliche Verortung der Freiheitsphilosophie
5.2.1. Der mittelalterliche Ordo-Gedanke und der Freiheitsbegriff des Wilhelm von Ockham
5.2.2. Die Transzendentale Logik und der Übergang zur Freiheitsphilosophie
5.3. Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit45
5.3.1. Der Begriff realer Freiheit
5.3.2. Der Begriff praktischer Freiheit
5.3.3. Der Begriff transzendentaler Freiheit
5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings
5.4.1. Gott als der Begriff vollkommener Freiheit
5.4.2. Ontologische Gottesbegriffe als Abgrenzungsfolie
5.4.3. Das göttliche Vermögen zum Bösen anhand Krings’ Schelling-Rezeption
5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings, oder: Zwischen vollkommener Gutheit und dreidimensionaler Freiheit
6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele
6.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit
6.1.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham
6.1.2. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
6.1.3. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Hermann Krings
6.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit
6.2.1. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham
6.2.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
6.2.3. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Hermann Krings
6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen
6.3.1. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Wilhelm von Ockham
6.3.2. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
6.3.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Hermann Krings
7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur
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Gottes Vermögen zum Bösen

ratio fidei Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie Herausgegeben von Georg Essen, Klaus Müller, Thomas Pröpper (†), Magnus Striet und Saskia Wendel Band 86

Jonas Goehl

Gottes Vermögen zum Bösen Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ˇ 2024 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg Tel. 0941/920220 | [email protected] ISBN 978-3-7917-3499-6 Reihen-/Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Satz: Fotosatz Pfeifer, Krailling Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2024 eISBN 978-3-7917-7494-7 (pdf)

Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter www.verlag-pustet.de

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.

1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 2.

3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.3.1.

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Ein einführender Rundgang durch die Materie, oder: Wieso überhaupt eine Arbeit über den Begriff eines göttlichen Vermögens zum Bösen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verortung der Studie im Forschungsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschsprachige Diskurslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englischsprachige Diskurslandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung der Untersuchungsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Krings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum die biblische Rede vom Zorn Gottes nicht untersucht wird Gliederung der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 13 13 18 21 22 24 26 27 34

Das Unverständliche verständlich machen: Annäherung an den Begriff des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta . . . . . . . . . Die Begründung der Auswahl Ockhams als Fallbeispiel . . . . . . . . . . Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick . . . Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Voraussetzung: Wider den Nezessitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.1. Die Pariser Lehrverurteilung von 1277 . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2. Platonismus und Aristotelismus im lateinischen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2.1. Antike Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2.2. Rezeption in der arabischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2.3. Rezeption in der lateinischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. II. Voraussetzung: Johannes Duns Scotus und die Kontingenz der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Gott und die Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Das göttliche Freiheitsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.1. III. Voraussetzung: Die potentia Dei absoluta – Genealogie eines Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.2. Der Gebrauch der potentia-Dei-Formel durch Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4.3. Hans Blumenberg und der Gott der Willkür . . . . . . . . . .

46 46 47 54 55 55 58 58 64 66 72 78 85 85 94 99

Inhaltsverzeichnis

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3.3.5. Die Grenzen der göttlichen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6. Die potentia Dei absoluta und das Vermögen zum Bösen . . . . . . . . . 3.4. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Wilhelm von Ockham, oder: Zwischen potentia Dei absoluta und Schuldfreiheit . . . . . . . . . Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Begründung der Auswahl der Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Forschungsstand zur Freiheitsschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Menschliche Freiheit im Pantheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Der Begriff realer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Der Begriff transzendentaler Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit, oder: Woher kommt das Vermögen zum Bösen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung . . . . . . . . . . . . 4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, oder: Zwischen wesenhafter Liebe und dem Vermögen zum Guten und zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.

5. 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3.

Hermann Krings und die vollkommene Freiheit . . . . . . . . . . . . . Begründung der Auswahl der Freiheitsphilosophie von Hermann Krings und ein Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkgeschichtliche Verortung der Freiheitsphilosophie . . . . . . . . . . Der mittelalterliche Ordo-Gedanke und der Freiheitsbegriff des Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Transzendentale Logik und der Übergang zur Freiheitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit 45 . . . . . Der Begriff realer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff praktischer Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff transzendentaler Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gottesbegriff von Hermann Krings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gott als der Begriff vollkommener Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ontologische Gottesbegriffe als Abgrenzungsfolie . . . . . . . . . . . . . . Das göttliche Vermögen zum Bösen anhand Krings’ SchellingRezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 Krings, Reale Freiheit.

120

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Inhaltsverzeichnis

5.5.

6. 6.1. 6.1.1. 6.1.2.

Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings, oder: Zwischen vollkommener Gutheit und dreidimensionaler Freiheit

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Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham . . Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Hermann Krings . . . . . . Der Begriff der göttlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham . . . . . Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Hermann Krings . . . . . . . . . Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Hermann Krings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Systematische Reflexionen und ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.1.3. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.3.3.

7.

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2023 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen und für die Publikation geringfügig überarbeitet. Zuallererst möchte ich meinem Doktorvater und theologischen Lehrer Prof. Dr. Magnus Striet danken. Seine Theologie hat mich das Studium hinweg tief geprägt, und ohne ihn hätte ich der Theologie früh den Rücken gekehrt. Er hat stets darauf gepocht, dass Theologie die Grenzen der Vernunft als Leitplanken der eigenen Arbeit auszuweisen und sich moralisch sensibel die politischen Auswirkungen des eigenen Denkens vor Augen zu führen hat. Für seine Unterstützung, derer ich mich jederzeit gewiss fühlen durfte, sein Vertrauen in mich, sowie die wertschätzende Zusammenarbeit danke ich ihm ganz herzlich. Für die weit über das Anfertigen eines Zweitgutachtens hinausgehende Unterstützung möchte ich Prof. Dr. Armin Wildfeuer danken. Er war immer zu einer produktiven Diskussion bereit und hat mir viele hilfreiche Anstöße gegeben. Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Leppin danke ich für die Ermöglichung eines Forschungsaufenthaltes an der Yale University und für die anregenden Gespräche und Empfehlungen in diesem Kontext. Dem Cusanuswerk danke ich für die finanzielle und ideelle Unterstützung im Rahmen des gewährten Promotionsstipendiums. Den Herausgeberinnen und Herausgebern von ratio fidei danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe, und Rudolf Zwank vom Verlag Friedrich Pustet für die gute Zusammenarbeit. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Burckhardt-Stiftung und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau. Für die Korrekturarbeit, aber noch vielmehr für die über Jahre hinweg sehr gute, freundschaftliche Atmosphäre am Lehrstuhl möchte ich meinen Kolleginnen und Kollegen danken, namentlich Claudia Danzer, Dr. Ullrich Eibler und Dr. Benedikt Rediker sowie Elisa Golks, Angela Pinger, Hannes Rolfs, Daria Ronellenfitsch und Lea Vollrath. Ein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Willi Oberkrome. Nicht nur als sein akademischer Schüler, sondern auch als Freund kann ich aufgrund seiner wissenschaftlichen Expertise, seines breitgestreuten, tiefschürfenden und treuen Interesses sowie seinem Humor behaupten, dass man an der Universität für das Leben lernt. Zu guter Letzt möchte ich vier Menschen in besonderer Weise hervorheben: Für die lebenslange, mannigfaltige Unterstützung, das Interesse und das Vertrauen, ohne welche diese Arbeit in vielerlei Hinsicht niemals möglich gewesen wäre, möchte ich meinen Eltern, Gina und Arthur, von ganzem Herzen danken. Meinem Bruder Hanno möchte ich für die seit Kindesbeinen bestehende Vertrautheit und den beständigen Austausch danken. Meiner Frau Lea danke ich nicht nur für das Korrekturlesen der Arbeit und das Proben zahlreicher Rigorosa, sondern auch und

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Vorwort

vor allem für diverse Ablenkungen, die für das Entstehen einer solchen Arbeit von unschätzbarem Vorteil sind, und für den sicheren Heimathafen, der allen Stürmen trotzt. – Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Bonn, im November 2023

1. Ein einführender Rundgang durch die Materie, oder: Wieso überhaupt eine Arbeit über den Begriff eines göttlichen Vermögens zum Bösen? „Denn für Gott ist nichts unmöglich.“ (Lk 1,37) 1 Als „Schlüsselwort zu allem weiteren“ 2 markiert Hans Blumenberg in seiner Matthäuspassion diese Belehrung Marias durch den Engel während der Verkündigungsszene im Lukasevangelium. Nicht nur angesichts der Passion Jesu sei die Allmacht Gottes Stein des Anstoßes für die Hörerschaft der Bach’schen Vertonung der Matthäuspassion, sondern angesichts jedes einzelnen menschlichen Todes. Ob dieser Gott sein dürfe, sei die zentrale Frage in Anbetracht des biblischen Gottes, dessen Inkarnation nur dadurch zu erklären sei, dass er versucht habe, wiedergutzumachen, was er durch die Erprobung seiner Allmacht in Gestalt der Weltenschöpfung zu verantworten gehabt habe. 3 Soll die Vorstellung eines Gottes Trost spenden und Relevanz besitzen für Menschen, muss der Begriff philosophisch stringent formuliert sein und gedankliche Überzeugungskraft in existenziellen Situationen bieten. Die Achillesferse stellt dabei die Verhältnisbestimmung zu Leid und Tod dar. Hoffnungsvolles Vertrauen auf einen rettenden Gott wie im Psalm 34: „Nahe ist der HERR den zerbrochenen Herzen und dem zerschlagenen Geist bringt er Hilfe“ (Ps 34,19) steht dabei immer wieder kritischen Anfragen Verlorengeglaubter gegenüber wie der des Lenz’ Georg Büchners, der im Angesicht des Todes klagt: „[A]ber ich, wär’ ich allmächtig [...], ich würde retten“. 4 Dass philosophische Antwortversuche der Theodizee gescheitert sind, wie Immanuel Kant bereits 1791 konstatierte, demzufolge „unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei“ 5, ist weitgehend anerkannt. Damit einher geht die mittlerweile ebenfalls überwiegend akzeptierte Erkenntnis des Königsberger Philosophen, dass Beweise der Existenz Gottes aus philosophischer Perspektive nicht überzeugen, was gleichwohl nicht bedeutet, dass es nicht gute Gründe geben könnte, einen Gott zu postulieren. 6 Daher gilt es aus theologischer Perspektive, einen philosophisch konsistenten Gottesbegriff zu entwickeln, der sensibel ist gegenüber menschlichem Leid. 1 2 3 4 5 6

Bibelstellen werden zitiert nach der Einheitsübersetzung von 2016. Blumenberg, Matthäuspassion, 10. Vgl. Blumenberg, Matthäuspassion, 10–20. Büchner, Lenz, 156. Kant, MpVT, A 210. Vgl. Kant, KrV, B 620–658 / A 592–630. Vgl. für eine Kritik an Kants starkem Begründungsanspruch des religiösen Glaubens Rediker, Moral. Wie angesichts dieser Kritik trotz-

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

Wie aber, so lässt sich fragen, kann ein Gottesbegriff formuliert werden, der das Vermögen inkludiert, das Böse als Böses zu erkennen? Denn muss nicht der gedachte Gott selbst ein Vermögen zum Bösen besitzen, um überhaupt einen Begriff vom Bösen ausbilden zu können? Wie kann also die traditionelle Vorstellung eines gesetzgebenden und richtenden Gottes gedacht werden, wenn nicht das freiheitliche Vermögen zum Guten und zum Bösen und damit erst einhergehend das Wissen um das mögliche Böse als notwendige Bedingung der Möglichkeit angenommen wird? Außerdem gilt es, der Frage nachzugehen, ob darüber hinaus ein göttliches Vermögen zum Bösen gedacht werden muss, um erst in Abgrenzung dazu die moralische Vollkommenheit Gottes denken zu können, die traditionell in christlichen Theologien hervorgehoben wird. Vor dem Hintergrund dieser für den Begriff eines eschatologiefähigen Gottes elementaren, aber zugleich abgründigen Fragen, sollen im Folgenden die Möglichkeit, ein göttliches Vermögen zum Guten und zum Bösen zu denken, und deren Folgen für den Gottesbegriff erörtert werden. Dabei wird bereits in der Formulierung vorausgesetzt, welche Form das zu behandelnde Gottesbild besitzt. Bearbeitet wird der Begriff eines personalen und freien Gottes, der sich auf dem Boden biblischer Aussagen über einen geschichtsmächtigen Gott stehend weiß. In pantheistischen Konzepten existiert der Gedanke eines personalen Gottes nicht, weshalb auch über dessen freiheitliches Vermögen dort nicht weiter nachgedacht werden muss. Inwiefern panentheistische Konzepte, welche in den letzten Jahren an Attraktivität gewinnen und mit Begriffen wie ,Person‘ und ,Freiheit‘ ringen, ein göttliches Vermögen zum Guten und Bösen für den Gedanken eines moralischen Gottes benötigen, kann in dieser Arbeit nur partiell anhand eines Fallbeispiels beantwortet werden. Friedrich Wilhelm Joseph Schellings 1809 veröffentlichten panentheistischen Philosophische[n] Untersuchungen über die menschliche Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände 7 stellen neben Schriften von Wilhelm von Ockham und Hermann Krings den Kern des Quellenmaterials für diese Studie dar. Der historisch-systematische Vergleich ihrer Werke ermöglicht es, ihre Denkmuster und Argumentationsfiguren zu analysieren und dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erörtern. Auf der Basis dieser im Folgenden auszuführenden Untersuchungen lassen sich systematische Thesen für die Theologie formulieren. Die Studie versteht sich daher selbst als Debattenbeitrag und Einladung an theistische wie panentheistische Konzepte, in ein Gespräch zu kommen über das je eigene Freiheitsverständnis im Gottesbegriff und über die Frage, ob Moralität ohne eine freiheitliche Wahl zwischen Alternativen überhaupt gedacht werden kann.

7

dem mit Kant die religiöse Hoffnung rational verantwortet und plausibilisiert werden kann hat zuletzt Rediker, Fragilität, gezeigt. Vgl. Schelling, AA I, 17, 109–179.

1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs

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1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs 1.1.1. Deutschsprachige Diskurslandschaft Damit ist auch bereits der Diskursrahmen angedeutet, in welchem sich diese Studie verortet. Im deutschsprachigen Raum wird seit einigen Jahren intensiv um ein philosophisch tragfähiges und zugleich theologisch akzeptables Gottesbild gerungen. Diese Debatte kann gut zugänglich studiert werden, weshalb an dieser Stelle lediglich auf die jeweiligen Eckpunkte der Gotteskonzepte hingewiesen werden soll. Prominentester Vertreter eines panentheistischen Modells ist der Theologe und Religionsphilosoph Klaus Müller. Er vertritt die These eines sich durch die christliche Geschichte ziehenden „monistischen Tiefenstroms“ 8, den aufzunehmen lohnenswert sei, könne doch ein Panentheismus nicht nur die Frage der Theodizee beantworten, sondern auch Probleme der Letztbegründung und des monotheistischen Gewaltverdachts lösen. 9 Dabei orientiert er sich zum einen an Dieter Henrichs Bewusstseinstheorie. Dieser hat sich aufgrund seiner langjährigen Beschäftigung mit menschlichem Selbstbewusstsein auf eine dieses Selbstbewusstsein hervorbringende und stabilisierende Einheit berufen, die mit jenem ursprünglichen, die Welt emanierenden Grund identifiziert werden könne. 10 Im Hintergrund von Müllers Theologie steht zum anderen das „dipolare“ 11 Gottesbild des US-Amerikaners Charles Hartshorne, das detailliert von Julia Enxing aufgearbeitet worden ist. 12 Hartshorne hat in Anlehnung an Alfred North Whitehead und Charles Sanders Peirce den Begriff eines zweipoligen Gottes entwickelt. Zum einen, so Hartshorne, gebe es in Gott den absoluten, unwandelbaren, alle Wirklichkeit umfassenden Pol. Zum anderen existiere der relationale Pol, der es dem personalen, göttlichen Wesen ermögliche, in ein Verhältnis zu allen aus dem Absoluten hervorgegangenen und in dessen alles umfassender Wirklichkeit bleibenden Entitäten zu treten. 13 Hartshorne versuchte damit, die Menschen und die Welt als Teil eines größeren Ganzen zu fassen, zugleich aber deren Freiheit und Eigenständigkeit zu bewahren. So könnten 8 Müller, Tiefenstrom. 9 Vgl. Müller, Gott jenseits von Gott, 434–450; Müller, Monotheismus, bes. 16 f.; Müller, Gewalt und Wahrheit, bes. 74. 10 Henrich, Denken und Selbstsein, bes. 249–266; Henrich, Selbstbewusstsein und Gottesgedanke. 11 Enxing, Gott im Werden, 67. 12 Vgl. Enxing, Gott im Werden. Für Müllers Bezugnahmen vgl. exemplarisch Müller, Monotheismus; Müller, Gott jenseits von Gott, bes. 436–447. Ein ähnliches, zweipoliges Gottesbild entwickelt auf der Basis des Panentheismus K. C. F. Krauses Benedikt Paul Göcke. Vgl. ders, Alles in Gott, bes. 136–199; ders., Gott leidet. Eine aktuelle Übersicht zu historischen Panentheismus-Prozessen findet sich bei Nitsche, Panentheismusfrage. 13 Vgl. Enxing, Gott im Werden, 295 f.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

Menschen in Freiheit auf das lockende Werben Gottes und dessen Eingriffe in die Welt reagieren. 14 Als Teil des Ganzen hätten die Menschen außerdem die Macht, auch das Ganze partiell zu verändern. Müller hat in diesem Kontext von der „Feedback-Schleife“ 15 zwischen Gott und Welt gesprochen. Abgesehen von der Frage, ob die menschliche Freiheit in diesem Konzept tatsächlich als formal unbedingte konsequent gedacht werden kann, zeitigt dieses Modell weitere bedenkenswerte Folgen. Eine das Individuum achtende Eschatologie integrierte Hartshorne nach eigener Aussage nicht in seine Lehre. Der einzelne Mensch sterbe und bleibe lediglich als vergangenes Teil im Gedächtnis des Ganzen. 16 Kritik daran wurde insbesondere von der Pröpper-Schule geäußert. Deren Konzepte sehen sich aus eschatologischen Gründen dem biblischen Bild eines personalen, geschichtsmächtigen Gottes verpflichtet. Der Münsteraner Theologe Thomas Pröpper verweist auf die moralische Relevanz eines Gottes, der es vermag, ,die Tränen abzuwischen‘ (nach Offb 21,4) und plädiert für eine Theologie, die die „Menschenwürde der Leidenden“ in den Fokus rücke. 17 Dieser Ansatz dürfe jedoch nicht in der Anklage stecken bleiben, sondern müsse ein konstruktives theologisches Denkangebot machen, das trotz der Gewissheit des Scheiterns einer philosophischen Theodizee systematisch kongruent sei. 18 Ihren philosophischen Ansatzpunkt findet diese Theologie in der Rezeption Kants durch Hermann Krings. Von Krings’ Gedanken der formal unbedingten menschlichen Freiheit ausgehend, wird der Begriff eines personalen Gottes formuliert, der die menschliche Freiheit nicht einschränkt, sondern als seinsollend affirmiert und achtet. 19 Daher wird strikt auf ein Gottesverständnis gepocht, das die Differenz von Absolutem und Endlichem nicht verschwimmen lasse. 20 Diese Differenz gelte es, so Ma14 15 16 17

Vgl. Enxing, Gott im Werden, 179. Müller, Paradigmenwechsel zum Panentheismus, 37. Vgl. Enxing, Gott im Werden, 195, 205 f. Pröpper, Fragende und Gefragte, 267. Vgl. exemplarisch die Schriften von Johann Baptist Metz, auf den Pröpper sich in dieser Schrift explizit beruft und der in der deutschsprachigen katholischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg emphatisch auf eine „Theodizee-empfindliche Gottesrede“ gedrängt hat. Vgl. hierzu die gleichnamige Schrift Metz, Theodizeeempfindliche Gottesrede; Metz, Memoria passionis. 18 Vgl. Pröpper, Fragende und Gefragte zugleich, 270–275. 19 Vgl. zu Krings’ Philosophie und seinen theologischen Ansätzen Kap. 5. Pröpper hat vielfach direkt Bezug genommen auf Krings. Detailliert lassen sich die Bezüge in Pröpper, Theologische Anthropologie I und II studieren. Eine direkte Auseinandersetzung findet statt in Pröpper, Theologische Anthropologie I, 512–530. Aber auch in zuvor veröffentlichten Schriften lassen sich die theologischen Auswirkungen der Rezeption von Krings’ Gedanken nachvollziehen. Vgl. exemplarisch Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip, bes. 17–21; Pröpper, Gott hat auf uns gehofft, wo Folgen für den ökumenischen Dialog ausgeführt werden. Vgl. für Literatur seiner Schüler und Schülerinnen Anm. 69. 20 Vgl. Striet, Antimonistische Einsprüche, 119, 124.

1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs

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gnus Striet, auch noch für das eschatologische Geschehen aufrechtzuerhalten. Dann wird „in der Idee Gottes eine Freiheit postuliert, die die Freiheit von Opfern und Tätern uneingeschränkt achtet, und doch durch die Macht ihrer Liebe die Täter dazu in Freiheit ermächtigt, um Verzeihung zu bitten, und es den Opfern trotz des erlittenen Leides ermöglicht, die Verzeihung zu gewähren.“ 21

Trotz der bestehenden Differenzen wird sowohl auf der panentheistischen als auch auf der theistischen Seite ein personaler Freiheitsbegriff für Gott in Anspruch genommen. Bemerkenswert offen bleibt dabei aber die Frage, wie genau der Begriff göttlicher Freiheit gedacht werden soll. Um es mit Worten der gegenwärtigen Debatte um den Freiheitsbegriff zu formulieren: Wird der Begriff göttlicher Freiheit libertarisch oder kompatibilistisch verstanden? 22 Konkret gefasst: Welches Moralitätsverständnis wird angelegt, wenn eine „Feedback-Schleife“ 23 zwischen Mensch und Gott gedacht und eine „Freundschaft mit Gott“ 24 postuliert wird? Oder um es noch einmal mit den Worten von Thomas Pröpper zu formulieren: „Was heißt denn und wie ist es möglich, vom Gott der Liebe zu sprechen?“ 25 Es soll dabei im Folgenden nicht um eine trinitarische Ausgestaltung des Begriffs der Liebe gehen. Zu diesem Thema gibt es vielfältige Literatur. 26 Immer wieder wurde dabei die wesenhafte Stellung der Liebe im Gottesbegriff hervorgehoben. 27 Die Fraglichkeit des Liebesbegriffs wurde dabei durchaus erkannt. So notiert Otto Hermann Pesch: „Entscheidend ist, dass Liebe als theologischer Grundbegriff streng 21 Striet, Versuch über die Auflehnung, 75. 22 Zur Diskussion um einen angemessenen menschlichen und göttlichen Freiheitsbegriff in der Theologie vgl. die Sammelbände Höhn u. a., Analytische und kontinentale Theologie; Nitsche/Remenyi, Problemfall Offenbarung; Stosch u. a., Streit um die Freiheit. Vgl. darüber hinaus Lerch, Selbstmitteilung Gottes; Striet, Antimonistische Einsprüche; Striet, Ernstfall Freiheit; Wendel, In Freiheit glauben. 23 Müller, Paradigmenwechsel zum Panentheismus, 37. 24 Pröpper, Theologische Anthropologie I, 655. 25 Pröpper, Fragende und Gefragte zugleich, 271. 26 Da die Fülle theologischer Traktate zur Trinitätslehre mittlerweile schier unübersichtlich geworden ist, werden hier nur exemplarisch Werke genannt, die konkret für den Kontext der Arbeit eine Rolle spielen. Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis, 430–543; Pannenberg, Systematische Theologie, 283–364, für die Diskussion der 1970er- und 1980er-Jahre. Für gegenwärtige Versuche vgl. Lerch, Selbstmitteilung Gottes, 140–442; Langenfeld, Frei im Geist. 27 Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis, 433: Jüngel warnt, man solle sich davor „hüten, Gott und Liebe in dem Sinn ontologisch zu differenzieren, daß Gottes Sein eben doch nicht durch Liebe definiert ist. [...] Es geht aber in der christlichen Theologie nicht primär um einen Gott, der Liebe hat, sondern um den Gott, der Liebe ist.“ In jüngster Zeit betont diesen Sachverhalt beispielsweise Wendel, Wunsch, 26, die von „jener unbedingten Liebe, die Gott selbst ist“ spricht. Klaus von Stosch, Relational Theism, 77, erklärt die Setzung „God is love“ mit folgenden Worten: „God is not a free agent who sometimes decides to love and who has to reflect whether she wants to love somebody or whether this person is not worth being loved. God is unconditional love and always acts as love.“

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

mit der Wirklichkeit Gottes gleichgesetzt wird, der sich von Ewigkeit her in Freiheit als Liebe bestimmt“. 28Aber auch Pesch unterlässt es, diese Freiheit in ihrer Struktur näher zu beschreiben. Es gilt daher weiterhin, die Frage zu beantworten, wie die Freiheit eines Gottes, der sich „als Liebe bestimmt“, definiert werden muss. Ist die freiheitliche Bestimmung als Liebe denkbar, ohne ein Wahlvermögen anzunehmen, das sich auch anders hätte entscheiden können? Aaron Langenfeld hat diese Perspektive in seiner Dissertation zumindest tangiert. Er soll an dieser Stelle deswegen ausführlicher zitiert werden. In seiner Auseinandersetzung mit den Freiheitsbestimmungen Pröppers und deren Folgen für eine christliche Soteriologie hält er fest: „Offenbarungstheologisch ist doch festzuhalten, dass, wenn Gott sich wesenhaft als Liebe offenbart, diese Liebe zum Bestimmungsgrund auch der Freiheit Gottes benannt werden muss.“ 29 Entscheidend ist die Reihenfolge, die Langenfeld benennt. Die Liebe wird als Natur Gottes gesetzt, die nicht selbst aus Freiheit entspringt, sondern nachfolgend die Freiheit Gottes einrahmt. Die dabei angedeutete Möglichkeit, den Begriffsgehalt der Freiheit als Freiheit zu verlieren, sieht Langenfeld, weshalb er sofort hinzufügt: „Ist aber die Liebe Gottes, die sich aus der geglaubten Offenbarung in Christus als Wesensbestimmung Gottes erschließen lässt, Bestimmungsgrund der Freiheit Gottes, dann bedeutet das nicht, dass Gottes Freiheit geleugnet werden muss, indem man seinem Heils- und Liebeshandeln Notwendigkeit unterstellte. Es bedeutet vielmehr, dass der Begriff der Freiheit in Bezug auf Gott nichts anderes als unbedingte Entschiedenheit zum Heil der Menschen meinen kann.“ 30

Wie aber, lässt sich rückfragen, ist eine „unbedingte Entschiedenheit“ zu denken, wenn zuvor kein Entscheidungsspielraum existierte? Lässt sich Freiheit tatsächlich noch als Freiheit bestimmen, wenn sie nur als Vermögen zum Guten definiert ist? Oder, anders formuliert: Wird der Terminus ,Freiheit‘ nicht äquivok genutzt, wenn dem Menschen ein Vermögen zum Guten und zum Bösen unterstellt, im Gottesbegriff aber lediglich ein Vermögen zum Guten als Freiheit bestimmt wird? Langenfeld scheint die Problematik zu erkennen, denn er fügt erklärend hinzu: „Nun mag eingewandt werden, dass zugegeben werden kann, dass sich Gottes Freiheit zwar realiter nicht anders vollziehen kann als in der Wesensentsprechung der Liebe, die prinzipielle Möglichkeit des Widerspruchs aber im Begriff transzendentaler Freiheit, die auch für Gott gelte, festgehalten werden muss. Hier stellt sich mir allerdings die Frage, inwiefern diese Bestimmung sinnvoll sein könnte. Wenn Gottes Wesen als schlechthin unbedingte Liebe gedacht wird, was mir aus christlicher Perspektive zwingend scheint, dann kann Gottes Freiheit nicht anders denn als unbedingte Entschiedenheit für diese Liebe gedacht werden und das heißt zugleich, dass die Frage nach einer Möglichkeitsbedingung dieser Entschiedenheit hier schlicht entfällt. Denn ,Gott‘ ist ja gerade nicht als die ,Fähigkeit zur Selbstbestimmung‘ zu denken, sondern allenfalls als Selbstbestimmtheit selbst“. 31 28 29 30 31

Pesch, Liebe, 501. Langenfeld, Schweigen brechen, 259. Langenfeld, Schweigen brechen, 259. Langenfeld, Schweigen brechen, 260. Herv. im Text durch J. G. Ähnlich argumentiert Jan-

1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs

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Dabei geht es Langenfeld im Kern um eine soteriologische Dimension: „Denn wie könnte man sich von einem Gott erlöst wissen, dem die prinzipielle Möglichkeit des Widerrufs offensteht?“ 32 Ob diese soteriologische Problematik „zwingend“ 33 einen Gottesbegriff nach sich zieht, in dem Begriffe wie ,Liebe‘, ,Freiheit‘, ,Entschiedenheit‘ und ,Selbstbestimmheit‘ homonyme Definitionen erfahren, ist zweifelhaft. Dabei kann die Fragilität, die ein Vermögen zum Guten und zum Bösen in den Gottesbegriff eintragen würde, nicht geleugnet werden. Der Begriff eines Gottes, der sich jederzeit anders entscheiden könnte, bietet weniger Gewissheit als die Vorstellung eines notwendigerweise den Menschen liebenden Gottes. Diese einzuräumende, bleibende soteriologische Ungewissheit, die der Begriff eines radikal autonomen Gottes mit sich bringt, gilt es jedoch in ein Verhältnis zu den äquivoken Begriffsbestimmungen zu stellen. Verlieren oben genannte Termini wie ,Liebe‘ und ,Entschiedenheit‘ nicht ihre zentrale Bedeutung, wenn als Bedingung ihrer Möglichkeit nicht mehr Freiheit als das Vermögen des Anderskönnens vorausgesetzt wird? Und wie lässt sich ein Gottesbegriff noch verstehen, wenn die dafür herangezogenen Begriffe einen anderen Bedeutungsgehalt zugesprochen bekommen? Ist es also zu rechtfertigen, den Begriffsgehalt derart zu modifizieren? Anstelle weiterer Fragen soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einen Gottesbegriff auszubilden, der sich dem biblischen Zeugnis verpflichtet weiß und explizit das freiheitliche Vermögen zum Guten und Bösen inkludiert. Denn mit Otfried Höffe gilt es zu konstatieren, dass „das Böse – freilich nicht als Wirklichkeit, sondern bloß als Möglichkeit – zum Kern der Freiheit [gehört], und jede Theorie der Freiheit, die nicht das Böse thematisiert, [...] als unzureichende Frei-

Heiner Tück, Der Zorn, 401 f., wenn er schreibt: „Der Satz ,Gott ist die Liebe‘ erhält damit seine semantische Kontur vom Leben und Sterben Jesu her. Er darf durch die Aussagen über Zorn und Gericht nicht wieder verdunkelt werden, als könne die Offenbarung der unwiderruflich für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes doch wieder abgeschwächt oder gar zurückgenommen werden.“ Wie aber lässt sich diese Aussage in Einklang bringen mit der wenige Zeilen später folgenden Bemerkung „Gottes Nicht-gleichgültig-Bleiben gegenüber Unrecht und Leid liegt seine freie und souveräne Selbstbestimmung voraus“? Bedeutet dies nicht in letzter Konsequenz, dass Gott auch hätte gleichgültig bleiben können gegenüber dem menschlichen Leid? Und falls er diese Fähigkeit zur Entscheidung gehabt haben sollte, so lässt sich daran anschließend fragen, wieso er sie verloren haben sollte? Wenn er sie aber nicht verloren haben sollte, sondern sich immer wieder dazu bestimmt, sich vom Leid auf der Welt betreffen zu lassen, inkludiert das die andauernde Fähigkeit, auch gleichgültig bleiben zu können – es aber nicht zu wollen. Darauf hat feinsinnig bereits Magnus Striet hingewiesen: „Akzentuiert man die vollkommene Freiheit Gottes, so ist Güte nicht mehr als notwendiger Wesensvollzug, sondern als freiwillige Selbstaktualisierung einer Freiheit als Güte zu begreifen. [...] [D]ie Möglichkeit eines Gottes, der sich nicht als vollkommene Güte aktualisiert, ist dann nicht mehr prinzipiell auszuschließen.“ (Ders., Kommunikative Vernunft und Theodizee, 249 f.) 32 Langenfeld, Schweigen brechen, 260. 33 Langenfeld, Schweigen brechen, 260.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

heitstheorie gelten [muss].“ 34 Denn ist nicht erst eine Person, die sowohl das Vermögen zum Guten als auch zum Bösen besitzt, der Moral fähig und lassen sich nicht erst solche Taten als sittlich gut auszeichnen, die einer reflexiven Wahl- und Handlungsfreiheit entspringen? Wenn nicht von einem notwendig guten Gott ausgegangen – was sofort die Frage nach dem Begriffsgehalt nach sich ziehen müsste –, sondern das Konzept eines freien und moralischen Gottes entwickelt werden soll, steht die Frage im Raum, welche Konsequenzen eine Unterstellung von Wahl- und Handlungsfreiheit auf den Gottesbegriff hätte. Es gilt also, Höffes Theorie nicht allein auf den Begriff des Menschen, sondern auch auf den Gottesbegriff anzuwenden.

1.1.2. Englischsprachige Diskurslandschaft Bevor dies geschehen kann, muss jedoch noch auf ein zweites, in Deutschland bislang weitestgehend unbeachtetes Diskursfeld hingewiesen werden. Das abgründig erscheinende Unterfangen, das Vermögen zum Bösen in den Gottesbegriff inkludieren zu wollen, wurde im angelsächsischen Diskurs in den letzten Jahren unregelmäßig diskutiert. Den Anfang machte der an der University of California lehrende Philosophieprofessor Nelson Pike mit einem Zeitschriftenartikel im Jahr 1969. Darin behauptet er, dass der Titel ,Gott‘ notwendigerweise mit den Prädikaten „perfectly good, omnipotent, omniscient“ einhergehe. 35 Er führt aus, dass, wenn Thomas von Aquin in seiner Summa theologica behaupte, dass Gott nicht sündigen könne, es mehrere Verständnismöglichkeiten dieser Annahme gebe. Erstens könne es bedeuten, dass eine sündigende Person nicht Gott sei. Außerdem sei die Interpretation möglich, dass Gott die Fähigkeit zur Sünde nicht besitze. Schließlich sei es denkbar, dass Gott zwar das Vermögen zu sündigen besitze, davon aber ganz bewusst keinen Gebrauch mache. 36 Der letzten Möglichkeit schließt sich Pike an. Wenn Gott zugleich als allmächtig und moralisch perfekt gedacht werden solle, müsse er das Vermögen zur Sünde besitzen, dieses Vermögen aber in seiner reflexiven Wahlfreiheit gezielt nicht anwenden. 37 Die Irritationen, die diese These auslöste, werden an dem vielstimmigen Kanon sichtbar, der Pike bis heute gegenübersteht. 1973 versuchte sich der zum Katholizismus konvertierte britische Philosoph Peter Geach an einer semantischen Ausdifferenzierung des göttlichen Vermögens. Er formuliert sein Anliegen wie folgt: „I shall use the word ,almighty‘ to express God’s power over all things, and I shall take 34 35 36 37

Höffe, Ein Thema wiedergewinnen, 25. Pike, Omnipotence, 208. Vgl. Pike, Omnipotence, 215 f. Vgl. Pike, Omnipotence, 216. Der Begriff der Sünde müsste, wenn er mit dem Vermögen zum Bösen identifiziert und auf Gott übertragen werden würde, noch einmal neu diskutiert werden, was an dieser Stelle nicht möglich ist.

1.1. Verortung der Studie im Forschungsdiskurs

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,omnipotence‘ to mean ability to do everything.“ 38 Gott besitze nicht das Vermögen, „[to] do so-and-so“ 39, da er weder Selbstwidersprüchliches hervorbringen, noch ein gegebenes Versprechen brechen könne. 40 Er hält fest: „These distinct applications of ,can‘ are distinct only for finite and changeable agents, not for a God whose action is universal and whose mind and character and design are unchangeable“. 41 Der Gottesbegriff beinhaltet Geachs Ansicht nach also weder eine kontingente noch eine umfassende Wahl- und Handlungsfreiheit, da er immer bereits Gesetzmäßigkeiten der Logik unterliege und in Ewigkeit notwendig auszuführende Entscheidung vollziehe. Diese Ansicht vertieft er in seinem Artikel An Irrelevance of Omnipotence. Wie der Titel bereits veranschaulicht, sei der Begriff der Omnipotenz in der christlichen Theologie nicht notwendig und ermögliche darüber hinaus keinerlei „reasonable and coherent interpretation“. 42 Ein häufig bemühtes Argument gegen die Integration des Vermögens zum Bösen in den Gottesbegriff ist das der notwendigen Charaktereigenschaften Gottes. Gott ist in diesem Denken ein notwendigerweise allmächtiges, allwissendes und moralisch perfektes Wesen. Dabei wird sowohl der Einklang von göttlicher Allwissenheit und menschlicher Freiheit bemüht, wie auch der zwischen göttlicher Allmacht und der notwendigen moralischen Perfektion. Dies lässt sich bei Alvin Plantinga studieren, der in seinem Buch The Nature of Necessity zu folgendem Schluss kommt: „[H]ence there actually exists a being who is omnipotent, omniscient, and morally perfect and who exists and has these properties in every world. What shall we say to these arguments? Clearly they are valid; and hence they show that if it is even possible that God, so thought of, exists, then it is true and necessarily true that he does.“ 43

Um die moralische Perfektion nicht zu gefährden, argumentiert er, dass für das „natural evil“ nicht Gott, sondern „non-human persons“ beziehungsweise von Gott Abgefallene wie Satan verantwortlich sein könnten. 44 Damit könne sowohl das natürliche Übel als auch das moralisch Böse auf moralisches Fehlverhalten nichtgöttlicher Personen zurückgeführt werden. Auch Laura Garcia hält ein göttliches Vermögen zum Bösen angesichts einer dem Gottesbegriff notwendig inhärenten moralischen Perfektion für „repugnant.“ 45 Moralisches Fehlverhalten sei auf eine Charakterschwäche zurückzuführen, somit sei „being morally defective [...] not a free choice property“. 46 Da Gott keine Charakterschwäche haben könne, sei ein Vermögen zum Bösen seinerseits unmöglich. 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Geach, Omnipotence, 7. Geach, Omnipotence, 12. Geach, Omnipotence, 12, 16. Geach, Omnipotence, 17. Geach, Irrelevance, 327. Plantinga, Nature of Necessity, 216. Plantinga, God, Freedom and Evil, 58. Garcia, Essential Moral Perfection, 140. Garcia, Essential Moral Perfection, 140.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

Die Argumentationsstrategie, Gottes Freiheit ausschließlich als Freiheit zum Guten zu bestimmen, darin jedoch keine Einschränkung der Freiheit zu verstehen, sondern Perfektion, haben in jüngster Zeit William Rowe und Paul Franks ausgebaut. Rowe führt aus: „Therefore, since it is logically impossible for God to choose to do evil, it is not in God’s power to choose to do evil. And since it is not in God’s power to choose to do evil, it cannot be that God’s choice not to do evil is a free choice. If God chooses not to do evil, he so chooses of necessity, not freely.“ 47

Das Argument ist zirkulär aufgebaut. Da es logisch unmöglich sei, dass Gott das Böse wähle, müsse ihm das Vermögen für selbiges fehlen. Er wähle folglich aus Notwendigkeit heraus nicht das Böse. Aus dieser Logik heraus wird unterstellt, dass, weil Gott sich nicht für das Böse entscheide, er auch kein Vermögen zum Bösen besitzen könne. Diesem Prinzip folgt auch der an der Yale University lehrende Paul Franks. Zu behaupten, Gottes Handeln sei von seinen Wertvorstellungen geprägt, sei falsch, so Franks. Denn Gott sei von seinem Wesen determiniert, das wiederum seine Wertvorstellungen präge und somit sein Handeln bestimme. Er hält fest: „Perfect intentional conformance to the moral law simply follows from his perfection.“ 48 Im Kontrast dazu wurde Pikes Gedankengang auch positiv rezipiert. Dabei wird der gesetzgebende Wille Gottes, der selbst nicht determiniert sei, hervorgehoben. So erklärt Benjamin Gibbs in direkter Widerrede zu Geach 1975: „He does only what is good and right, not because he lacks the ability to do anything else but because he wills not to do anything else.“ 49 Auch der britische Philosoph Jonathan Harrison ging mehrfach auf Geach ein und kritisierte dessen semantische Differenzierung von ,almightiness‘ und ,omnipotence‘ als nicht zielführend. Einen Gottesbegriff zu entwickeln, der das Vermögen inkludiere, Gutes und Böses tun zu können, ziehe nicht den Automatismus eines bösen Gottes nach sich. Im Gegenteil könne angenommen werden, dass ein als frei bestimmter Gott bewusst moralisch gut handle und sich in Freiheit zum sittlich Guten entscheide. 50 Vertieft wurde das Argument der göttlichen Freiheit von Theodore Guleserian, der über 30 Jahre hinweg mehrfach in die Debatte eingriff und sich klar positionierte. Er wendet sich insbesondere gegen Plantingas Monographie The Nature of Necessity und stellt heraus, dass man im Gottesbegriff keine anderen moralischen Maßstäbe implementieren sollte als gegenüber Menschen und dies auch nicht sinnvoll begründbar sei. Er weist außerdem darauf hin, dass wenn jemand eine Eigenschaft wesenhaft besitze, dieser die Eigenschaft nicht in moralischer Verantwortung ausüben könne, da er

47 48 49 50

Rowe, Can God be free, 26. Franks, Divine Freedom, 117. Gibbs, Can God do evil, 466. Vgl. Harrison, Geach on Harrison; Harrison, God’s Alleged Ability.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

21

nicht die Fähigkeit besitze, sich frei dazu zu verhalten. 51 Wollte man also moralische Perfektion in den Gottesbegriff integrieren, könne dies nicht in Form einer notwendigen Charaktereigenschaft geschehen, sondern lediglich als menschliche Hoffnungsperspektive darauf, dass Gott sich in seiner Freiheit zur moralischen Perfektion bestimme. Auch für den Gottesbegriff gelte, dass ein positiver Freiheitsbegriff über die reine Nicht-Existenz von äußeren Hindernissen hinausgehen müsse. Erst die innere Wahlfreiheit und die reflexive Selbstbestimmung vervollständige den Freiheitsbegriff: „In any case, I believe it can be persuasively argued [...] that no being can be essentially morally perfect on the grounds that moral perfection requires freedom and moral freedom requires the power to do otherwise“. 52 Dieser kurze Überblick konnte veranschaulichen, dass das in Deutschland noch weitgehend brachliegende Feld des göttlichen Vermögens zum Bösen im englischsprachigen Raum seit mittlerweile vier Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird. Zwei Merkwürdigkeiten innerhalb der dortigen Diskussion sollen an dieser Stelle herausgestellt werden. Zum einen zeigt der von Laura Garcia genutzte Begriff ,repugnant‘, der mit ,widerlich‘ und ,abstoßend‘ übersetzt werden kann, dass die Vertreter und Vertreterinnen eines nezessitaristischen Gottesbildes meist traditionell-dogmatisch argumentieren. Der Gottesbegriff ist klassischerweise mit den Prädikaten der notwendig wesenszugehörigen Allmacht, Allwissenheit und moralischer Perfektion verbunden. Die Vorstellung, dass Wahl- und Handlungsfreiheit im moralisch vollumfänglichen Sinne in den Gottesbegriff integriert werden könnten, schreckt angesichts der vorzunehmenden Modifikation ab. Zum anderen fällt auf, dass sowohl die Vertreterinnen und Vertreter eines Nezessitarismus als auch jene, die den freien Willen Gottes betonen, kaum historisch-systematisch argumentieren. Einzig Thomas von Aquin wird im Diskurs partiell herangezogen, ansonsten verläuft die Diskussion auf analytisch-logischer Ebene. 53

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände An dieser Stelle setzt die nachfolgende Studie an. Innerhalb der christlichen Religionsphilosophie wurde die Frage nach einem göttlichen Vermögen zum Bösen bemerkenswert schnell ablehnend beschieden, weil die göttliche Allmacht in den 51 Vgl. Guleserian, Moral Perfection, 233 f. 52 Guleserian, God and Possible Worlds, 236. Vgl. Guleserian, Divine Freedom, 357. 53 Eine Ausnahme stellt Robert Brown dar, der neben Thomas von Aquin unter anderem auch Schellings Freiheitsschrift wenigstens punktuell heranzieht, diese aber falsch wiedergibt, wenn er schreibt: „God is free to will howsoever he wishes, is even free to will moral evil contrary to their well-being.“ (Brown, God’s Ability, 14.) Vgl. Brown, Resources in Schelling, 11 f.

22

1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

Grenzen der moralischen Perfektion diese als unmöglich und unnötig erscheinen ließ. Mit Wilhelm von Ockham, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hermann Krings lassen sich aber Ausnahmen finden, die sich dem Themenkomplex aus jeweils verschiedenen Perspektiven und Interessen annäherten. Zwar lehnten auch sie den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen ab, dennoch setzten sie sich mit der Frage auseinander und entwickelten zu studierende Argumentationslinien. Anhand ihrer Texte wird ein historischer Vergleich vorgenommen, der es ermöglicht, unterschiedliche Argumentationsstrategien zu untersuchen und, darauf aufbauend, systematische Folgen aufzuzeigen. Es soll dabei nicht jeweils ein eigener Beitrag zur genuinen Ockham-, Schelling- oder Krings-Forschung geleistet werden. Stattdessen werden die Texte der drei Autoren herangezogen, um eine systematische Antwort auf ein theologisches Problem zu finden. Der historische Zugang ermöglicht eine fundierte Auseinandersetzung mit bisherigen Konzepten zum Thema. Dabei darf nicht nur deskriptiv auf Denkmuster hingewiesen werden, sondern diese müssen sowohl vor dem historischen Hintergrund als auch werkimmanent in ihren Argumentationsstrategien kritisch analysiert werden. Des Weiteren bietet eine systematische Untersuchung den Vorteil, einen Überblick über historisch bedingt unterschiedliche Perspektiven zu erhalten, die teilweise zeitlich weit auseinanderliegen. Hierfür wird eine Einordnung der genannten Personen in ihren jeweiligen geschichtlichen Hintergrund unabdingbar sein. Zugleich können Gemeinsamkeiten beispielsweise in den Argumentationsmustern aufgezeigt werden. Im Vergleich zur vertieften Untersuchung einer einzigen Person und deren philosophische Konzepte wird es hierdurch möglich, einen Gedanken auf der historischen Ebene systematisch zu analysieren. Die Erarbeitung der historischen Stellungnahmen wird in chronologischer Reihenfolge erfolgen, um mögliche gedankliche Beziehungsverhältnisse aufzuzeigen. Nachfolgend soll ein kurzer, einführender Überblick über die drei Fallbeispiele gegeben werden.

1.2.1. Wilhelm von Ockham Zu Beginn des 14. Jahrhunderts diskutierte Wilhelm von Ockham (ca. 1288– 1347) die Frage nach einem göttlichen Vermögen zum Bösen im Zusammenhang mit seiner Unterteilung der göttlichen Allmacht in die Kategorien der potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata. Ockham unterzog die bereits vor ihm entwickelten Begriffe einer kritischen Analyse und entwickelte ein Gottesbild, das sich insbesondere gegen eine nezessitaristische Spielart des Aristotelismus aus dem arabischen Raum richtete, sich aber auch von dem Konzept von Johannes Duns Scotus, der oftmals als Wegbereiter Ockhams genannt wird, unterschied. Dabei stellt die dezidierte Erweiterung des göttlichen Freiheitsspielraums eine bemerkenswerte Neuerung und folgenreiche Akzentuierung dar.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

23

Sein Gotteskonzept stellte er nicht in einer einzigen Schrift konzentriert dar, sondern führte es peu a` peu in seinem Gesamtwerk aus. Die ausführlichsten Stellen zur Unterscheidung der potentia Dei absoluta und der potentia Dei ordinata befinden sich in seiner theologischen Schrift Quodlibeta septem und im in München verfassten politischen Opus Nonaginta dierum sowie dem Tractatus Contra Benedictum. 54 An diesen Texten wird geprüft werden, ob der von Hans Blumenberg prominent vorgetragene Vorwurf, der Gott Ockhams wähle und verwerfe „in dem weitesten Horizont der widerspruchslosen Möglichkeiten [...], ohne daß das Resultat Rechenschaft über die Kriterien seines Willens ablegt“ 55, aufrechtzuerhalten ist. Der Vorwurf Blumenbergs ist insbesondere in älterer Literatur immer wieder zu finden. So sind beispielsweise Anita Garvens, Lucian Freppert und Jürgen Miethke der Ansicht, dass der göttlichen Macht bei Ockham keine relevanten Grenzen gesetzt seien. Zwar erkennen sie alle das von Ockham für den Gottesbegriff veranschlagte Widerspruchsprinzip an, ohne aber dessen ausgeführte Differenzierung zu beachten. 56 In den letzten Jahren wurde diese These vielfach relativiert. Zum einen stehen dieser Position rationalistische Ansätze gegenüber. So argumentieren Linwood Urban und Rega Wood für die Unterordnung Gottes unter für alle einsehbare und für alle geltende Gesetze. Diese Gesetze kann Gott ihnen zufolge auch in seiner potentia absoluta nicht umgehen. 57 Zum anderen lässt sich eine dritte Gruppe um David W. Clark, Marilyn McCord Adams und Hubert Schröcker ausmachen, die einen Mittelweg beschreiten, indem sie ebenfalls auf unumstößliche und von Ockham konkret ausgeführte Gesetze verweisen, die durch das Widerspruchsprinzip geschützt und damit auch für Gott unwiderruflich gelten würden. Zugleich heben sie hervor, dass der Handlungsspielraum Gottes durch Ockham in einer neuartigen Weise geweitet wurde. So lege Gott nach Ockham nicht nur fest, was als gut und was als böse zu gelten habe, sondern er könne auch gegenüber seinem kreierten ordo stets anders handeln, als er dies gemäß der potentia ordinata tun sollte. 58 Die Literaturgrundlage zu Ockham ist zweifelsohne, insbesondere im englisch- und deutschsprachigen Raum, vielschichtig. Ein Großteil der Literatur zu Ockham ist im Zuge der 1986 abgeschlossenen Veröffentlichung der kritischen Ausgabe seiner philosophischen und theologischen Werke durch das Franciscan Institute der St. Bonaventura University entstanden. Aber auch in jüngerer Zeit ist mit der Studie zum Verhältnis der Allmacht Gottes zum Kontradiktionsprinzip von Hubert Schrö54 Vgl. Ockham, Quodl. (OTh IX); Ockham, Nonaginta (OP II); Ockham, Contra Benedictum (OP III, 157–322). 55 Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 176. 56 Vgl. Garvens, Die Grundlagen, bes. 248; Freppert, The Basis of Morality, 82 f., 174–179; Miethke, Sozialphilosophie, bes. 305, 325. 57 Vgl. Urban, Theological Ethics, bes. 320; Wood, Gebot, bes. 48 f. 58 Vgl. Clark, Voluntarism, bes. 85; Mc Adams, Ockham on Will, bes. 266; Schröcker, Verhältnis, bes. 98.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

cker ein relevantes Werk erschienen, das nicht nur das Allmachtskonzept innerhalb Ockhams Theologie verortet, sondern auch der zeitgenössischen Diskussion um dieses nachgeht. 59 Ockhams Antwort auf die Frage nach der Denkmöglichkeit eines göttlichen Vermögens zum Bösen systematisch zu diskutieren und kritisch weiterzudenken, stellt dabei jedoch ein zu füllendes Desiderat dar. Aufbauend auf den benannten Studien soll der Freiheitsbegriff im Gotteskonzept von Ockham überprüft und das ihm inhärente Spannungsverhältnis der beiden potentia-Kategorien analysiert werden. Im Fokus wird die Analyse des Allmachtbegriffs stehen, den Ockham nutzte. Welche Konsequenzen zog er aus der Begriffsdefinition für sein Gottesbild? Benannte er Grenzen des göttlichen Vermögens und wenn ja, aus welcher Begründungsstruktur heraus? Anhand dieser Fragen wird es möglich sein, nicht nur dem Vorwurf des Willkürmoments im Gottesbild Ockhams kritisch zu begegnen, sondern auch eine erste Antwort auf die Frage nach einem freien Selbstverhältnis in einem christlichen Gottesbegriff zu erhalten. Mit dem Fokus auf das Vermögen zum Bösen werden die Grenzen der Konzeption des englischen Theologen aufgezeigt werden. Denn Ockham weitete zwar mit seiner Kategorie der potentia Dei absoluta den terminologischen Wahl- und Handlungsspielraum der göttlichen Freiheit in einem bis dato unbekannten Ausmaß aus. Gleichwohl negierte er aber die Möglichkeit eines göttlichen Vermögens zum Bösen, obwohl sie, so die auszuarbeitende These, in seiner Theologie kohärent denkbar gewesen wäre. Ist dieser Grundstein gelegt, kann in einem weiteren Schritt durch den Vergleich die göttliche Freiheitskonzeption Ockhams in einem größeren historisch-systematischen Kontext verortet werden.

1.2.2. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling An zweiter Stelle soll Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) untersucht werden. Über Schelling wurden in den letzten Jahren zahlreiche philosophische und philologische Studien veröffentlicht. 60 Doch für die Theologie gilt noch im59 Vgl. Schröcker, Verhältnis. 60 Auch zu diesem Aspekt ist eine erschöpfende Darstellung an dieser Stelle nicht möglich. Stattdessen seien exemplarisch Arbeiten zur Auseinandersetzung Schellings mit dem Begriff des Bösen genannt. Zum einen gibt es Studien, die biographisch die Wandlung des schwäbischen Philosophen im Umgang mit dem Begriff des Bösen nachvollziehen. So beschäftigt sich Theodor Schwarz, Malum morale, mit der Genese des Freiheitsbegriffs beim frühen und mittleren Schelling, und Roswitha Dörendahl, Abgrund der Freiheit, zeichnet in ihrer Promotion bei Lore Hühn den philosophiegeschichtlichen Hintergrund des Schelling’schen Freiheitsverständnisses nach. Mit Hühn ist einer der Schwerpunkte der deutschsprachigen Schelling-Forschung benannt. Sie hat sich unter anderem mit der Rezeptionsgeschichte des Schelling’schen Ansatzes zum Bösen bei Schopenhauer und Heidegger beschäftigt. Vgl. Hühn, Die intelligible Tat; Hühn, Heidegger – Schelling. Mit Thomas Buchheim lässt sich der zweite große Forschungsstandort zu Schelling in München verorten. Zu Schellings Be-

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

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mer die 2010 von Magnus Striet geäußerte Kritik an einer mangelnden Beschäftigung mit Schelling. 61 Der fehlende historisch-systematische Vergleich des göttlichen Freiheitsbegriff Schellings stellt dabei ein Desiderat dar, das es insbesondere aus theologischer Perspektive anzugehen lohnt. Um Schelling für die Theologie fruchtbar zu machen und einem solchen Vergleich unterziehen zu können, ist eine historisch-systematische Analyse vonnöten, die seine Freiheitsphilosophie unter dem dezidierten Fokus untersucht, welche Folgen die Übertragung des Schelling’schen Freiheitsvermögens des Menschen auf den Gottesbegriff haben würde. Dabei bietet insbesondere Schellings Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände viel Potential. Nachdem er in den Jahren 1801 bis 1806, welche oftmals als Phase der Identitätsphilosophie beschrieben werden, die menschliche Freiheit als im Einklang mit der absoluten Freiheit – Gott – stehend und gar teilweise die menschliche Freiheit als nicht existent bestimmt hatte, wandte er sich nach erheblicher Kritik in seiner 1809 publizierten Schrift davon ab. 62 In Ergänzung zum Idealismus und dessen rein formellem Freiheitsbegriff, möchte er einen „reale[n] und lebendige[n] Begriff“ 63 von Freiheit begründen. Nun definiert er reale menschliche Freiheit als „Vermögen des Guten und des Bösen“. 64 Das Böse taucht hier also nicht, wie in der theologischen Tradition lange vorherrschend, als ontologischer Mangel auf, sondern wird dezidiert als positives Vermögen menschlicher Freiheit genannt. Die menschliche Freiheit zeichnet sich folglich nicht nur durch ein Vermögen zum Guten aus, sondern durch die Wahlmöglichkeit, den Eigenwillen oder den Universalwillen zu priorisieren. Auf der Suche nach der Bedingung der Möglichkeit von moralisch Bösem gibt Schelling sich nicht mit der These einer Erbsünde zufrieden, sondern versucht, die menschliche Freiheit in einem göttlichen Schöpfungsrahmen zu verankern. Die Bedingung der Möglichkeit von Bösem macht er dabei in Gott fest. Gleichwohl verneint auch Schelling den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen, und konstatiert, „Gott als Geist [...] ist die reinste Liebe: in der Liebe aber kann nie ein Willen zum Bösen sein“. 65 Die Tatsache, dass Schelling das menschliche und das göttliche Freiheitsvermögen mit unterschiedlichen Definitionen bestimmte, zieht die Frage nach den Grün-

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schäftigung mit dem Phänomen des Bösen vgl. Buchheim, Zelebration des Bösen; Buchheim, Reelle Unterscheidung; Buchheim, Begriff der menschlichen Freiheit. Vgl. Striet, Nachwort. Diese Kritik äußerte auch schon 1983 Möller, Schelling. Ansätze im theologischen Raum zu Schelling bieten auf evangelischer Seite Danz, Natur in Gott; Hermanni, Das Böse; Hermanni, Die letzte Entlastung; Hermanni, Gott und Notwendigkeit. Von katholischer Seite aus gilt es besonders die Studien zur Spätphilosophie Schellings von Meier-Hamidi, Transzendenz der Vernunft; Wintzek, Ermächtigung und Entmächtigung, hervorzuheben. Vgl. Höfele, Wollen und Lassen, 81–85. Schelling, AA I, 17, 125. Schelling, AA I, 17, 125. Schelling, AA I, 17, 144.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

den hierfür nach sich. In einem ersten Schritt gilt es, den Begriff menschlicher Freiheit zu analysieren. Danach hat im direkten Vergleich eine Untersuchung des göttlichen Freiheitskonzeptes zu erfolgen: Welcher Freiheitsgehalt existiert in Schellings Gottesbild, aus welchen Gründen legte er an den Gottesbegriff andere Maßstäbe an, und in welchem Verhältnis stehen der Grund des Bösen in Gott und das nicht existente göttliche Vermögen zum Bösen? Mithilfe dieses Vorgehens kann Schellings Argumentationsstruktur nachvollzogen, kritisch beleuchtet und für die systematische Fragestellung fruchtbar gemacht werden.

1.2.3. Hermann Krings Hermann Krings (1913–2004), Vertreter einer modernen Transzendentalphilosophie, stellt das dritte Fallbeispiel dar. Seine Arbeit zeichnet sich durch einen dezidiert freiheitphilosophischen Ansatz aus. Im Gefolge von Kant und Fichte entwickelte er einen dreischichtigen Begriff menschlicher Freiheit. Als Bedingung der Möglichkeit von realer und praktischer Freiheit eröffnete er die Dimension transzendentaler Freiheit. Der reale Kampf um freiheitsachtende Gesetze könne, so Krings, mit dem von Ockham herausgearbeiteten Wissen um die Kontingenz von Ordnungen und mit dem von Kant formulierten Vermögen, sich selbst handlungsleitende Maximen aufzuerlegen, die jederzeit zum allgemeinen Gesetz werden könnten, erklärt werden. Wieso aber überhaupt Regeln sein sollten, sei erst vor dem Hintergrund einer transzendental-reduktiv erschlossenen Dimension von Freiheit denkbar, in welcher sich Freiheit nicht nur selbst als Freiheit wolle, sondern auch andere Freiheit in ihrer Freiheit affirmiere und damit Freiheit als oberste Norm setze. 66 Von diesem Ansatz ausgehend, öffnete er seine Philosophie für die Theologie, indem er die Frage, zumindest in einem ersten Schritt, zu beantworten suchte, welches Gottesbild seinem Freiheitsverständnis entsprechen würde. Gott fasste Krings dabei nicht als ontologische Entität auf, sondern als jene vollkommene Freiheit, auf die menschliche Freiheit ausgerichtet sei. Er beließ es jedoch nicht bei dieser Abstraktion, sondern bestimmte seinen Gottesbegriff als Parallele zum biblischen Gottesbild. Gott müsse als jenes Wesen gedacht werden, das sich freiheitlich für andere Freiheit öffne und einen Bund schließe mit anderer, auf Gott reagierender Freiheit. Aus dieser proklamierten Wahlfreiheit darf nach Krings jedoch kein Vermögen zum Bösen abgeleitet werden, denn das „hieße, den Begriff Gottes annullieren.“ 67 Hier wird die Kritik an Krings ansetzen und nicht nur seine Freiheitsbegriffe, sondern auch seinen Gottesbegriff hinterfragen. Erneut wird die Frage gestellt werden müs66 Vgl. bes. Krings, Reale Freiheit. 67 Krings, Freiheit Gottes, 178. Diese Meinung vertreten in Auseinandersetzung mit Schelling im Übrigen auch Philosophen wie Buchheim, Freispruch, bes. 382, und Halfwassen, Das Böse, 84.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

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sen, wieso Krings eine Übertragung des Begriffs menschlicher Freiheit auf den Gottesbegriff (partiell) ablehnte. Darüber hinaus gilt es, den Kontext zu beachten, in dem Krings die Aussage, wonach es unmöglich sei, ein göttliches Vermögen zum Bösen zu denken, getätigt hat. Sie entstammt einem Artikel des Philosophen über Schellings Freiheitsschrift. Als langjähriger Vorsitzender der Schelling-Kommission zur historisch-kritischen Edition der Schriften des deutschen Philosophen beschäftigte er sich intensiv mit Schellings Gottesbegriff und schloss sich diesem in vielfacher Hinsicht an. Krings wird somit nicht nur primär als eigenständiges Fallbeispiel in den Blick genommen, sondern auch insofern sekundär eine Rolle spielen, als er sowohl Schriften Ockhams als auch Schellings selbst untersucht hat. Die Art und Weise, wie er deren Schriften rezipierte, kann eine Antwort auf die Frage geben, wie Krings den Begriff göttlicher Freiheit selbst ausgestaltete. Sie erlaubt aber auch noch einmal einen zusammenfassenden Blick auf den historisch unterschiedlichen Umgang mit der Vorstellung eines göttlichen Vermögens zum Bösen. Krings’ Werk wird, aufgrund der linearen Ausarbeitung seines Freiheitsbegriffs und dessen Folgen, in seiner Breite in den Blick genommen werden. Besonders seine Aufsatzsammlung System und Freiheit 68 lässt sich für die Untersuchung fruchtbar machen. Da Krings außerdem bisher nur wenig rezipiert worden ist, zeigt diese Arbeit auch die reichhaltigen Potentiale seiner Schriften für die Theologie auf. 69

1.2.4. Warum die biblische Rede vom Zorn Gottes nicht untersucht wird Es lässt sich die Frage stellen, wieso in einer Arbeit über die dunklen Seiten des Freiheitsgehalts im Gottesbegriff nicht auf biblische Texte als Gegenstand der Analyse zurückgegriffen wird. Dies hat verschiedene Gründe, die nachfolgend erläutert werden. Zweifelsfrei existieren in den heiligen Schriften des Judentums und des 68 Vgl. Krings, System und Freiheit. 69 Aus dem philosophischen Bereich lassen sich besonders die Festschrift zu Krings’ 65. Geburtstag hervorheben, welche sich aus unterschiedlicher Perspektive mit dessen Freiheitsphilosophie auseinandergesetzt hat (Vgl. Baumgartner, Prinzip Freiheit), sowie die Untersuchungen Armin Wildfeuers (Vgl. Wildfeuer, Ordnung aus Freiheit; Wildfeuer, Fragilität von Ordnungen). In der Theologie hat sich insbesondere die Pröpper-Schule den Ansatz von Krings zu eigen gemacht. Vgl. grundlegend Pröpper, Theologische Anthropologie I und II, bes. 488–656; Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Für subjektphilosophische Folgen vgl. exemplarisch Striet, Das Ich, bes. 237–306; Wendel, Affektiv, bes. 274–281. Daran anknüpfende christologische Denkfiguren hat Essen, Die Freiheit Jesu, entwickelt. Vgl. auch Essen, Christologie. Vgl. für eschatologische Konsequenzen exemplarisch Striet, Versuch über die Auflehnung. Die theologischen Folgen dieses Transfers wurden mittlerweile breit diskutiert vgl. Wendel, Göttliche Offenbarung; Wendel, In Freiheit glauben, sowie für einen Literaturüberblick Lerch, Offenbarung und Freiheit.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

Christentums Texte, welche nicht nur Gewalt inkludieren, sondern auch vom gewalttätigen und zornigen Gott sprechen. Seit Jahrhunderten wird um den richtigen Umgang mit diesen gerungen. Bereits im 2. Jahrhundert plädierte Markion für die Kanonisierung allein des Lukasevangeliums und der paulinischen Briefe mit dem Argument, dass diese vom guten Erlösergott sprechen würden, während die restlichen Texte, insbesondere jene des Alten Testaments, einen Schöpfergott bewerben würden, der für die leidvolle Existenz der Welt verantwortlich zeichne. 70 Diese antijüdische Rhetorik wurde in zweifacher Hinsicht aufgegriffen und tradiert. Einerseits hatte Markion zwar mit seinen Vorschlägen zum christlichen Kanon in der Großkirche keinen Erfolg, gleichwohl setzte sich in der Theologie in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Ideen griechischer Philosophie das Bild eines apathischen Gottes durch, das wenig Gemeinsamkeiten mit den Vorstellungen der hebräischen Bibel hatte. 71 Andererseits wurde mitunter die dezidiert antijüdische Stoßrichtung Markions übernommen, wie sich beispielsweise am einflussreichen evangelischen Theologen Adolf von Harnack studieren lässt. 72 Vor wenigen Jahren wurde die Debatte um das richtige christliche Gottesbild durch den Beitrag Jan Assmanns zum Gewaltpotential des Monotheismus um eine weitere Facette ergänzt. Der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler warf Judentum und Christentum vor, gewaltlegitimierende Texte zum Kanon erhoben zu haben und sie nicht ausreichend zu historisieren. 73 Daraufhin sind aus dem Fachbereich der evangelischen wie der katholischen Exegese zahlreiche Arbeiten zum Bild des zornigen Gottes entstanden. Im Folgenden werden zentrale Argumente daraus vorgestellt, die zugleich als erstes Puzzleteil der Antwort auf die Frage fungieren, wieso in dieser Studie biblische Texte nicht eigens als Untersuchungsgegenstand herangezogen werden. Als zentrales Argument aller exegetischen Arbeiten darf sicherlich die Historisierung der Texte gelten. Ohne eine historisch-kritische Einordnung der theologi70 Vgl. Kinzig, Harnack, Marcion. 71 Dies hat bereits 1909 Pohlenz, Vom Zorne Gottes, bes. 128, nachgewiesen. Es soll hiermit nicht dem alten Vorwurf der Hellenisierung des Christentums das Wort geredet werden. Erst einmal lässt sich insbesondere für die ersten Jahrhunderte des Christentums lediglich sachlich-nüchtern eine wechselseitige Beeinflussung differenter Weltanschauungen, die sich dabei nie monolithisch gegenüberstanden, feststellen. Wollte das junge Christentum insbesondere bei den Eliten des römischen Reiches attraktiv sein, musste es sich mit gegenwärtigen philosophischen Modellen konstruktiv auseinandersetzen. Vgl. zum Umgang mit dem Terminus der „Hellenisierung des Christentums“ das gleichnamige Buch von Christoph Markschies, bes. 110–121. 72 Vgl. für die Verbindungslinien zwischen Markion und Harnack Kinzig, Harnack, Marcion. 73 Im Zuge dieser Debatte publizierte Assmann diverse Schriften. Den Anstoß gab Assmann, Moses der Ägypter, bes. 245–282. Vgl. für einen Überblick der Reaktionen auf Assmanns These den Sammelband von Walter, Das Gewaltpotential. Darin enthalten sind sowohl ein die Thesen zusammenfassender Artikel von Assmann, Monotheismus, bes. 20, 25 f., wie auch auf ihn reagierende Stellungnahmen aus der Theologie.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

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schen Aussagen lassen sich diese nicht verstehen. Was mittlerweile wissenschaftlicher Konsens ist, ist deshalb eigens hervorzuheben, weil die Rezeption jahrhundertelang ohne eine solche arbeitete und gerade auch dadurch antijüdische Interpretationen ermöglichte. Auf der Grundlage dieser elementaren Einsicht lassen sich weitere Erkenntnisse festhalten: 1. Insbesondere die Texte, welche kollektive Leiderfahrungen verarbeiteten, nutzten das Theologumenon vom Zorn Gottes als retrospektives Interpretationswerkzeug. So wurden entsprechende Klagelieder wie auch das Deuteronomistische Geschichtswerk vor dem Hintergrund der Zerstörung Jerusalems 587/6 v. Chr. geschrieben. Die assyrische Einnahme Samarias 722 v. Chr. wird in den verschriftlichten kollektiven Psalmen vorausgesetzt. In diesen Texten wurde demnach ein Umgang mit leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit gesucht und mit der Frage gerungen, wie ein Gottglaube aufrechtzuerhalten sei angesichts der dramatischen Einschnitte für das Alltagsleben, aber auch für Kulthandlungen und den religiösen Glauben. 74 2. Nicht akzeptiert wurden mögliche Vorstellungen von einer Niederlage JHWHs gegenüber anderen Göttern oder die unwiderrufliche Verwerfung Israels durch JHWH. Durchgesetzt hat sich stattdessen der Gedanke der Schuld des Volkes Israel vor Gott. Dieser Deutung zufolge zürnt Gott legitimierweise angesichts des Fehlverhaltens der Israeliten gegenüber ihrem Bündnispartner. Damit konnte zum einen eine Antwort gegeben werden auf die Frage nach den Gründen der Zerstörung des Tempels und des Exodus. Zum anderen wurde versichert, dass JHWH nicht willkürlich, sondern begründet agiere. Der Zorn Gottes wurde als gerechte Reaktion auf das Fehlverhalten der Israeliten interpretiert. 75 3. Dass diese Interpretation nicht ungefragt akzeptiert und das postulierte Handeln Gottes hinterfragt wurde, zeigen die oft mit den Reden über den Zorn Gottes einhergehenden Bekenntnisse zur Liebe Gottes. So wurde versichert, dass der Zorn Gottes nur von temporärer Dauer sei, während seine Gnade ewig währe. Beispielhaft verdeutlicht das die sogenannte Gnadenformel in Ex 34,6 f. Gott erscheint hier als gerecht, insofern er Schuld nicht einfach ignoriere. Aber seinem Überprüfen der Schuld „bis zur dritten und vierten Generation“ wird seine Langmut und sein Bewahren von „Huld und Treue [...] tausend Generationen“ gegenübergestellt. Darüber hinaus bringen Textpassagen den Glauben zum Ausdruck, dass Gott „Wohlgefallen daran [habe], gütig zu sein“ (Mi 7,18), und selbst darüber klage, seinen „Herzensliebling“ preiszugeben (Jer 12,7). Außerdem werden Vorstellungen, die JHWH als Subjekt von Gewalt deklarieren, 74 Vgl. Jeremias, Zorn Gottes, bes. 185 f.; Hartenstein, Zorniger und gewalttätiger Gott, 92– 95; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, 169 f. 75 Biblische Beispiele lassen sich bei Amos, Jesaja und Jeremia finden. Vgl. Jeremias, Zorn Gottes, 188 f.; Wagner, Das Böse, bes. 32–36; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, 152; Miggelbrink, Der zornige Gott, 15–26.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

tendenziell in jüngeren Texten seltener benutzt. Im Fokus steht nun der menschenzugewandte, friedliebende Gott. 76 4. Ein theologisches Kernelement der Psalmen, welches sich mit Bildern von Zorn und Rache verbindet, ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Mittlerweile konnte vielfach gezeigt werden, dass beispielsweise die sogenannten Rachepsalmen meist nicht von einem Rache ankündigenden Gott reden, sondern vielmehr die individuelle Bitte an Gott richten, Gerechtigkeit walten zu lassen. Auch hier muss der jeweilige Kontext beachtet werden. In Psalm 94 beispielsweise wird der „Gott der Vergeltung“ angerufen mit den Worten „HERR, du Gott der Vergeltung, erscheine! Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt den Stolzen ihr Tun!“ (Ps 94,1 f.) Erich Zenger hat darauf hingewiesen, dass hier jener Gott angerufen wird, der sich in der Geschichte Israels als rettender Gott erwiesen hat. In einer leidvollen irdischen Situation wird die Hoffnung auf diesen Gott gesetzt. 77 Es kann nicht geleugnet werden, dass manche Sprachbilder heute trotz des nachvollziehbaren Wunsches nach Gerechtigkeit irritieren. Am Ende des 94. Psalms wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, Gott werde „die Übeltäter [...] vernichten“ (Ps 94,17–23). Unabhängig von der theologischen Bedeutung muss hierbei beachtet werden, was nicht gesagt wird. Denn es fehlt sowohl der Bericht, dass die betende Person gewalttätige Selbstjustiz gegenüber den sogenannten ,Frevlern‘ ausgeübt hätte, noch dass sie dies in Zukunft vorhabe zu tun. Der Wunsch nach Gerechtigkeit wird an Gott gerichtet und die erhoffte Gerechtigkeit herstellende Handlung ausgelagert. Die zivilisierende Wirkung dieses Vorgangs sollte nicht unterschätzt werden. 78 5. Gleichwohl existieren weiterhin Textpassagen, die einer Erklärung bedürfen. Ein zusätzlich hilfreiches Element für die Interpretation hat Dirk Sager geliefert. 79 Er hat nachgewiesen, dass die verschiedentlich vorkommende Rede vom Zerbrechen menschlicher Gliedmaßen nicht als Hoffnung auf faktische Gewalt durch Menschen oder Gott interpretiert werden darf, sondern als metaphorische Ein76 Vgl. Jeremias, Zorn Gottes, 121–159; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, 149; Janowski, Ein Gott, der straft, 57–59, 147–174; Scholz, Von Gewalt zur Gewaltüberwindung, 468 f.; Zenger, Gewalt als Preis, bes. 42–57. Betont werden soll, dass es keine lineare Entwicklung von gewaltvollen hin zu gewaltlosen JHWH-Vorstellungen gegeben hat, sondern sich auch in späteren Texten Gewaltvorstellungen finden lassen, die JHWH als Subjekt der Gewalt denken. So sind die Deuterojesaja- und Tritojesaja-Schichten friedlicher als noch die erste Jesaja-Schicht, dagegen sind jüngere Texte wie das Nahum-Buch oder die sogenannte Offenbarung des Johannes gewaltverherrlichend. 77 Vgl. Zenger, Gott der Rache, 137–141. 78 Vgl. Janowski, Ein Gott, der straft, bes. 199–202; Hartenstein, Zorniger und gewalttätiger Gott, 96 f.; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, bes. 129–136; Irsigler, Gottesbilder, 1199 f., der zusätzlich die abschreckende Wirkung solcher Texte hervorhebt. Das Bild vom Gerechtigkeit herstellenden Gott sollte unerwünschtes Verhalten der Menschen seines Erachtens prophylaktisch verhindern. 79 Vgl. Sager, Die Leidtragenden, 133–135.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

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dämmung von gegnerischer Gewalt verstanden werden muss. Zwar wird im dritten Psalm Gott dafür gerühmt, den Feinden „den Kiefer zerschmettert“ und „die Zähne zerbrochen“ zu haben (Ps 3,8) und der zehnte Psalm drückt den Wunsch aus, Gott möge den „Arm des Frevlers und des Bösen“ zerbrechen (Ps 10,15). Auch Hiob rühmt sich mit den Worten: „Ich zerschmetterte des Bösen Kiefer“ (Ijob 29,17). Folgendes Sprichwort rückt diese Sprache jedoch in ein anderes Licht: „Mit Geduld wird ein Vorgesetzter umgestimmt, / sanfte Zunge bricht Knochen.“ (Spr 25,15) Die Rede vom Zerschmettern und Brechen der Körperteile entpuppt sich somit als metaphorische Rede. Es gilt, unerwünschtem Verhalten entgegenzuwirken, nicht aber reale Gewalt hierfür anzuwenden. 6. Aus diesen Ergebnissen wurde von exegetischer Seite konsensual geschlossen, dass sich die Bilder vom Zorn und von der Liebe Gottes für die Menschen in alttestamentlicher Zeit kohärenter verbinden ließen, als das in der griechischen Philosophie möglich schien. Trotz aller durch große zeitliche und situative Unterschiede bestehenden Differenzen in den Gottesbildern lässt sich demnach eine zentrale theologische Grundeinsicht der Hebräischen Bibel festhalten. Die Menschen hofften auf einen Gott, der der Welt und den Menschen zugewandt ist, sich von der Geschichte betreffen lässt und auf sie reagiert. Getragen wurde diese Hoffnung von dem Gedanken der freien göttlichen Hinwendung zu den Menschen; des Gottes, der als der aus Sklaverei und Not rettende Gott erfahren wurde. Insbesondere in Zeiten höchster Not wurde dieser Gott in dem Glauben angerufen, dass er allein es vermöge, Gerechtigkeit herzustellen. Zu dieser Gerechtigkeitsvorstellung gehörte auch die Rede vom Zorn Gottes und die Aufforderung zur Vergeltung, die mitunter mit gewaltvollen Bildern einherging. Sie war weniger Ausdruck des Glaubens an einen tyrannischen, drakonischen Herrscher, als vielmehr Ausdruck der Hoffnung auf einen Gott, der die Opfer der Geschichte nicht ignorant übergehen wird, sondern für Gerechtigkeit sorgen kann. Dass einige rhetorische Bilder in diesem Zusammenhang heutzutage bleibend irritieren, wird in den exegetischen Studien ebenfalls weitestgehend konsensual konstatiert. 80 Aus dieser Erkenntnisfülle aus exegetischen Untersuchungen der letzten Jahre lässt sich für diesen Arbeitskontext Folgendes festhalten: In den Schriften des Alten Testaments lassen sich vielfach Passagen finden, in denen Gott für Gewalt verantwortlich gemacht oder zu dieser aufgefordert wird. Ein Verständnis dieser Textstellen ist ohne eine historisch-kritische Exegese nicht möglich. Mit deren Hilfe ist es in den letzten Jahren gelungen, zahlreiche Irritationen auszuräumen und Sprachbilder historisch und linguistisch zu kontextualisieren. Daraus hervorgegangen ist die Einsicht in das Ringen der Menschen, die zunehmend versuchten, ihre Lebenswelt 80 Vgl. Gross, Zorn Gottes, bes. 13, 17; Zenger, Gott der Rache, 141–143; Janowski, Ein Gott, der straft, 342; Jeremias, Zorn Gottes, 192; Dietrich/Link, Die dunklen Seiten Gottes, 105, 142, 149.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

mit einem Glauben an einen einzigen Gott konsistent in Verbindung zu setzen. Dabei spielte die Hoffnung auf einen liebenden Gott, der aus Ungerechtigkeit und Not retten kann, die zentrale Rolle. In diesem Kontext muss hervorgehoben werden, dass nicht nur im Alten Testament von Gottes Zorn die Rede ist, sondern auch im Römerbrief des Neuen Testaments in markanter Weise, weshalb sich eine widerstreitende Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament erübrigt. 81 In all diesen Texten wurde stets um das Verhältnis eines einzigen Gottes zu Liebe und Gewalt, zu Gerechtigkeit und Zorn gerungen. Dass Gerechtigkeitsvorstellungen, die mitunter weit über 2000 Jahre alt sind, nicht mit den heutigen, zentraleuropäischen Werten identisch sind und daher einige genutzte Bilder heutzutage weiterhin Irritation auslösen, soll eigens betont werden, dürfte aber aus historischer Perspektive wenig überraschen. Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, wonach „[i]n Wahrheit [...] der Titel Gott in diesen Diskursen immer nur als Ortsangabe für das Depot menschlicher Zornersparnisse und gefrorener Rachewünsche zu verstehen [sei]. Der zornige Gott ist nichts als der Verwalter irdischer Ressentimentguthaben, die in ihm selbst oder bei seiner nachgeordneten diabolischen Exekutive aufbewahrt werden, um für eine spätere Abhebung parat zu sein. Die Guthaben entstehen einerseits durch gehemmte Zornimpulse, deren Ausagieren äußere Umstände verhinderte, zum anderen durch moralische Akte wie Racheverzicht und Vergebung.“ 82

Darauf lässt sich in dreifacher Weise reagieren. Erstens ist die These, dass menschliche Rachewünsche auf die Vorstellungen eines Gottes projiziert werden, spätestens seit der projektionstheoretischen Religionskritik Ludwig Feuerbachs nicht weiter überraschend. Zweitens muss auf die bereits benannte befriedende Wirkung hingewiesen werden, die eine Bitte um Gerechtigkeit an den geglaubten Gott erzielt, anstatt dass der betende Mensch sein Gegenüber mit realer Gewalt angeht. Dass unabhängig von der ursprünglichen Intention biblische Textpassagen in ihrer Rezeptionsgeschichte zu Gewalt geführt haben, ist selbstverständlich unumwunden zu konstatieren. Drittens gilt es aus theologischer Perspektive noch einmal zu betonen, dass das Bild vom zornigen Gott die menschliche Hoffnung auf Gerechtigkeit in der Not zum Ausdruck bringt. Die Vorstellung eines gerechten Gottes lässt sich wiederum einbinden in den größeren Kontext der Idee eines menschenzugewandten, liebenden Gottes. Zuwendung erwächst den Menschen aber aus der Freiheit Gottes. In den Texten des Alten Testaments wird bereits die Vorstellung reflektiert, dass Gott frei ist, sich den Menschen liebend zuzuwenden, sich aber auch zürnend von ihnen abzuwenden. Vielfach Ausdruck gefunden hat die Erfahrung der Gottverlassenheit und dem daraus resultierenden Ringen mit dem eigenen Gottesbild in den Psalmen. Dort wurde die Idee gewagt, dass dieser Gott nicht ein apathischer, sondern ein emotional einge81 Vgl. Theobald, Gottes Barmherzigkeit, bes. 174–177. 82 Sloterdijk, Zorn und Zeit, 161.

1.2. Begründung der Untersuchungsgegenstände

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bundener Gott sein könnte. Dass dabei Anthropomorphismen verwendet wurden, war in der damaligen Zeit unproblematisch. Mit Hubert Irsigler lässt sich festhalten: „Was aber dem menschlichen Adressaten unbestimmt und unbestimmbar erscheint, das ist in der Selbstkundgabe der Gottheit in Ex 3,14 Ausdruck ihrer unverfügbaren Freiheit und Souveränität, mit anderen Worten: Ausdruck der freien Selbstbestimmung Gottes, sich so oder anders zu verhalten.“ 83 Geschlossen werden soll dieses Kapitel mit zwei Schlussfolgerungen. Erstens lassen sich wie gesehen zentrale Merkmale des biblischen Gottesbildes ausmachen. Gleichwohl ist es nicht möglich, stellvertretend für das Gottesbild des Alten Testaments ein oder zwei Bibelstellen auszuwählen und diese im Rahmen einer historisch-systematischen Studie, wie es diese Arbeit sein soll, angemessen zu bearbeiten. Daher muss der Verweis auf die exzellenten und mitunter sehr umfangreichen Arbeiten aus den exegetischen Fachbereichen der letzten Jahre ausreichen. Zweitens haben eben diese aufzeigen können, dass in den Schriften des Alten Testaments weitreichende Reflexionen zum Gottesbegriff angestellt worden sind. Entwickelt wurden Vorstellungen eines weltzugewandten Gottes, der sich in Freiheit zum Bund mit den Menschen entschlossen hat, an deren Geschichte partizipiert und sich beeinflussen lässt. Gleichwohl wurde die schmerzhafte Erfahrung der Abwesenheit Gottes schriftlich verarbeitet, beziehungsweise mit deren Möglichkeit gerechnet. Die dialogeröffnende Anfrage an die Disziplin der Exegese lautet daher, ob in den Zeiten der Entstehung der biblischen Texte möglicherweise tatsächlich der Gedanke eines göttlichen Vermögens zum Bösen gewagt wurde. Zorn und Strafen wurden zwar als Ausdruck göttlicher Gerechtigkeit gedeutet, mit dem jeweils vorherrschenden Gottesbild wurde aber ernsthaft gerungen, insbesondere angesichts der Tempelzerstörung, des Exils und individuellen Erfahrungen der Gottverlassenheit. Die abschließende These lautet daher, dass hinter diesen biblischen Bildern durchaus, wenn auch nicht dezidiert und ausführlich schriftlich reflektiert, der Gedanke stehen könnte, dass dieser Gott, der sich nicht notwendig, sondern in Freiheit den Menschen liebend öffnet, es auch vermag, sich den Menschen gegenüber zu verschließen, und sich somit in einer als moralisch böse qualifizierten Art und Weise zu verhalten.

83 Irsigler, Namensfrage, 77. Einen bemerkenswerten Ausdruck findet die Idee der göttlichen Selbstbestimmung darüber hinaus beispielweise in Joel 2,14, wenn im Anschluss an den Anruf zur menschlichen Umkehr darauf hingewiesen wird, dass Gott „vielleicht“ umkehren und Reue zeigen werde. Hier scheint der Gedanke angedeutet zu sein, dass Gott sich in Freiheit für einen Bund mit den Menschen entschlossen hat und den Menschen in Freiheit, und somit vor dem Hintergrund von Alternativen, die Treue hält.

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1. Ein einführender Rundgang durch die Materie

1.3. Gliederung der Studie Vor dem aufgezeichneten, im Hintergrund stehenden Forschungsdiskurs können im Folgenden die skizzierten Untersuchungsgegenstände studiert werden. Zum besseren Verständnis und aufgrund der mitunter erfolgenden gegenseitigen Rückbezüge innerhalb der Quellen werden die Werke von (3.) Ockham, (4.) Schelling und (5.). Krings in chronologischer Reihenfolge untersucht werden. Vorab ist (2.) eine kurze Abhandlung zum Begriff des Bösen notwendig, um eine Arbeitsgrundlage zu definieren, auf deren Basis der schillernde Terminus in dieser Studie verwendet und verstanden wird. Diese Definition gilt selbstverständlich im Rahmen der jeweiligen Quellenstudien dann nicht, wenn eine eigene Bestimmung durch die drei genannten Personen sichtbar wird. Folglich entsteht im Laufe der Arbeit eine Synopse, die anhand von historischen Beispielen aufzeigt, mit welcher Methodik und aus welchen Gründen der Gedanke eines göttlichen Vermögens zum Bösen abgelehnt wurde und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Argumentationsmustern bestehen. Damit wird eine eklatante Lücke im theologischen Denken geschlossen und die Möglichkeit eröffnet, systematisch Folgen aufzuzeigen, die der Gedanke eines göttlichen Selbstverhältnisses haben könnte. Diese Überlegungen können darüber hinaus für den internationalen Dialog fruchtbar gemacht werden. Die zu entwickelnde These lautet, dass nur der Begriff eines personalen Gottes, dessen Freiheit sich durch das Vermögen zum Guten und zum Bösen auszeichnet, Moralität beanspruchen kann. Nur wenn im Gottesbegriff ein freies Verhältnis sich selbst gegenüber verankert ist, kann gehofft werden, dass der geglaubte Gott die existierende Möglichkeit des Bösen bewusst ablehnt und deswegen als moralisch vollkommen bezeichnet werden kann.

2. Das Unverständliche verständlich machen: Annäherung an den Begriff des Bösen Bevor die genannten Philosophen mithilfe des Analysekriteriums eines göttlichen Vermögens zum Bösen näher untersucht werden, müssen der Begriff des Bösen definiert und methodische Grenzen gesteckt werden. Denn nur eine definitorische Ausbuchstabierung des Begriffs kann eine wirksame Beschäftigung mit dem Phänomen des Bösen ermöglichen. Gleichwohl werden im Folgenden keine ethischen Handlungsanweisungen für den menschlichen Alltag entwickelt, sondern die Definition des moralisch Bösen genutzt, um den Begriff eines personalen und freien Gottes auf seine theoretischen Prämissen hin zu befragen. Die Definition des moralisch Bösen wird dabei von zwei Vorüberlegungen eingerahmt. Zum einen stellt sich die Frage nach den Bewertungskriterien, anhand derer Handlungen oder Ereignisse als böse beurteilt werden. Zum anderen wird eine historische Skizze alternative Interpretationsangebote aufzeigen. Im Folgenden soll allein das moralisch Böse im Fokus stehen. 1 Untersucht wird das moralische Böse als eine aus Willens- und Handlungsfreiheit entspringende evaluativ zu bewertende Tat. Denn wenn von einem Vermögen zum Bösen die Rede ist, wird personale Willens- und Handlungsfreiheit vorausgesetzt. 2 Das be1

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Zum Begriff des Bösen sind insbesondere aus philosophiehistorischer Perspektive in den letzten Jahren einige Werke entstanden. Vgl. exemplarisch Neiman, Das Böse denken; Wolf, Das Böse. Die Sinnhaftigkeit einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Begriff des Bösen haben Cole, Myth of evil, 23, und Donhauser, Das Böse bleibt, bes. 251–255, in Zweifel gezogen, da kein analytischer Mehrwert ersichtlich sei. Vor der Gefahr, die von einer wissenschaftlichen Abwendung ausgehe, warnen beispielsweise Luke Russell und Zachary Goldberg. Beide weisen darauf hin, dass der Begriff ,böse‘ sowohl in Mythen als auch heutzutage noch von Menschen als Analysekriterium genutzt werde, um Erfahrungen zu verarbeiten. Es sei daher falsch, den Begriff als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Stattdessen gelte es zu untersuchen, welche Phänomene und Handlungsmuster mit dem Begriff beschrieben würden, um nachfolgend auf Zuschreibungen dieser Art im gesellschaftlichen Zusammenleben reagieren zu können. Vgl. Russell, Being Evil, bes. 1–21; Goldberg, Das Böse konzipieren, 148–152. Intensiv mit dem Phänomen und verschiedenen Deutungsansätzen des Bösen hat sich außerdem Ingolf Dalferth beschäftigt. Vgl. seine drei zu diesem Thema publizierten Monographien: Dalferth, Das Böse; Dalferth, Leiden und Böses; Dalferth, Malum. Zuletzt sei auf einen bemerkenswerten interdisziplinären Sammelband hingewiesen der von Jörg Noller herausgegeben worden ist. Vgl. Noller, Über das Böse. Damit wird jenen naturalistischen Tendenzen widersprochen, bei denen sich aufgrund neuronaler Abläufe im menschlichen Gehirn gegen Willens- und Handlungsfreiheit und stattdessen für einen Determinismus ausgesprochen wird. Davon abgesehen, dass die biochemischen Ansätze vielfach zurecht als unzureichend zurückgewiesen wurden, erklären sie doch neuronale Prozesse, die den philosophischen Erkenntnissen über die menschliche Freiheit argumentativ nicht im Wege stehen, wären die Folgen, die ein angenommener Determinismus auf unsere Gesellschaftsstruktur, beispielhaft sei hier auf das Justizwesen verwiesen, ra-

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2. Annäherung an den Begriff des Bösen

deutet, dass Menschen nicht kausalursächlich von inneren oder äußeren Umständen determiniert sind. Stattdessen sind sie in der Lage, sich in Freiheit als freie Personen zu bestimmen und sich zu Sachverhalten sowie Entscheidungen zu verhalten. Faktisch sind Menschen stets in ihre Umwelt eingebunden, was aufgrund von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umständen zu emotionalem Druck und zu Zwängen führen kann, die Entscheidungen möglicherweise beeinflussen. Außerdem gilt weiterhin die pointierte Beobachtung Sartres, dass der Mensch „verurteilt [sei], frei zu sein [...], weil er sich nicht selbst erschaffen hat“. 3 Aber auch zu diesen kontingenten Fakten kann sich das sich seiner Freiheit bewusste Individuum dank seines Vernunftvermögens begründet verhalten. Dabei werden sowohl vom handelnden Individuum Bewertungen der jeweils vorgefundenen Situation vorgenommen, als auch von außenstehenden Personen in Bezug auf die Handlungen jenes Individuums. Um den Begriff des Bösen in diesen Kontext einordnen zu können, hilft folgende von Herbert Schnädelbach vorgenommene Kategorisierung: Schnädelbach unterscheidet bei der Betrachtung einer Situation zwischen Urteilen und Bewertungen. Urteile könnten wahr und unwahr sein und bezögen sich auf eine Tatsache, zum Beispiel auf die Farbe eines Stiftes. Bewertungen hingegen würden das Objekt in ein Verhältnis zu anderen Objekten stellen und anhand bestimmter Wertmaßstäbe bewerten. Dabei müsse noch einmal zwischen normativen und evaluativen Bewertungen differenziert werden. Während normative Beurteilungen Handlungen in Bezug auf festgelegte Normen als richtig und falsch kategorisieren würden, orientierten sich evaluative Bewertungen an postulierten Standards. Erst auf dieser Ebene lasse sich mit den Kategorien von Gut und Böse arbeiten. 4 Nun stellt sich die Frage, wer nach welchen Kriterien festlegt, was als gut und böse gilt. Über Jahrhunderte hinweg wurde eine natürliche evaluative Wertordnung veranschlagt, welche von Gott festgelegt worden sei. Seit Immanuel Kant (1724–1804) ist die epistemologische Sicherheit jedoch abhandengekommen. Es kann einen Gott geben, der ein Gesetz erlassen hat. Gewusst werden kann aber weder das eine, noch das andere. Nur der, „welcher bis zur Kenntnis der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt“, könne, so Kant, einen Gott beweisen und ihn in Bezug auf sein Verhältnis zu dieser Welt rechtfertigen; „eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann.“ 5 Lediglich hoffen können Menschen auf einen Gott und ihn aus moralischen Gründen als obersten Gesetzgeber und „einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhan-

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dikal. Vgl. für einen einführenden Überblick der Positionen den Sammelband von Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit. Sartre, Existentialismus, 16. Vgl. Schnädelbach, Werte und Wertungen, 252–256. Kant, MpVT, A211.

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ges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postulier[en].“ 6 Daher müssen Beurteilungskriterien, sowohl evaluativer als auch normativer Art, in soziokulturell bedingten und damit historisch kontingenten Diskursräumen getroffen und als verbindlich festgelegt werden und erlangen hieraus ihre Geltung. Immer bereits vergesellschaftete Menschen legen folglich nicht nur fest, welche Regeln subjektiv für sie selbst gelten, sondern handeln diskursiv aus, was allgemeinverbindlich als richtig und falsch gelten soll, und wie mithilfe der Kategorien von Gut und Böse ein sinnstiftender Orientierungsmaßstab etabliert werden kann. Moralisch-evaluative und normative Maßstäbe zu entwickeln, um in sozialen Gruppen einen Ordnungsrahmen auszubilden, in welchem Freiheit bestmöglich gelebt werden kann, ist daher eine genuin menschliche Aufgabe, die es immer wieder neu in diskursiven Aushandlungsprozessen zu realisieren gilt. 7 Die zweite Vorüberlegung betrifft die differenten historischen Konzepte des Bösen. Die Geschichte der Philosophie bietet zahlreiche, historisch bedingte Herangehensweisen und Definitionsversuche des Begriffs des Bösen. Dabei lassen sich zwei übergreifende Systeme unterscheiden: zum einen die Privationstheorie, welche das Böse als Mangel versteht, und zum anderen deren Kritik, in welcher die eigenständige Positivität des Malums herausgestellt wird. Die Privationstheorie lässt sich auf Platon (ca. 428–348) zurückführen und war bis zum 17. Jahrhundert der wirkmächtigste Erklärungsansatz des Malums in der europäischen Geistesgeschichte. Grundlegend ist der Gedanke, dass das Sein qualitativ gut sei und das Böse ein Mangel an Sein darstelle. Besonders einflussreich wurde für die christliche Theologie Augustinus’ (354–430) Interpretation dieser Logik, wonach das physische Übel als göttliche Strafe für das moralische Übel des menschlichen Abfalls von Gott als dem wahren Sein zu interpretieren ist. Verantwortlich für Krankheit und Leid seien Adam und Eva, die im Paradies mit Gott gebrochen und diese Sünde weitervererbt hätten. 8 Der Mensch ist diesem Modell zufolge willentlich aus einer gesollten Ordnung ausgebrochen und entfernt sich damit vom wahrhaft Guten und der genuinen Bestimmung des Menschen. Er verfehlt also die ihm von Gott vorgegebene Norm. Dass in letzter Konsequenz auch Augustinus’ Modell nicht davor gefeit ist, Anfragen an Gott nach dem Ursprung des Bösen zuzulassen, was Augustinus peinlichst zu vermeiden suchte, kann an dieser Stelle nicht eingehender diskutiert werden. 9 6 7

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Kant, KpV, A 225. Vgl. zum Umgang mit dem Gedanken eines göttlichen Gesetzes Striet, Ius divinum. Vgl. zur Theorie solcher Aushandlungsprozesse Forst, Die noumenale Republik; Habermas, Einbeziehung des Anderen; Honneth, Recht der Freiheit; Nagl-Docekal, Innere Freiheit, bes. 79–150. Vgl. Augustinus, libero arbitrio I, 1, 1–3; Augustinus, De moribus II, 3, 5. Vgl. hierfür Müller, Zwischen Privation und Perversion, bes. 80, 90 f. Einen einführenden Überblick zu verschiedenen Positionen zum Bösen im Laufe der Geschichte bietet Schäfer,

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Diese Theorie geriet in der europäischen Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert in die Kritik. Immanuel Kant monierte, dass Vertreter der Privationstheorie fälschlicherweise annehmen würden, positive Prädikate eines Dinges könnten sich nicht widersprechen, sondern nur ein Prädikat und deren Negation. Das Böse als offensichtlicher Widerspruch zum Guten muss demnach eine Negation oder zumindest eine Privation des Guten sein. Kant wies darauf hin, dass dabei nur die logische Ebene betrachtet werde und die Schlussfolgerung der Privationstheorie auch für den Begriff eines Dinges zutreffend sei. Innerhalb eines Begriffs könnten nicht zwei sich widersprechende Prädikate einem Ding zugeschrieben werden. Außer Acht gelassen werde dabei aber, dass ungeachtet der menschlichen Begriffsbestimmung die realen Prädikate eines Dinges sich durchaus widersprechen könnten. So müsse beispielsweise, „[w]enn ein Schiff im freien Meer wirklich durch Morgenwind getrieben wird, und es kommt nicht von der Stelle, wenigstens nicht so viel, als der Wind dazu Grund enthält [...] ein Seestrom ihm entgegenstreichen“. 10 Dementsprechend sei sowohl das physische als auch das moralische Böse eine dem physischen und moralischen Guten widersprechende Realität und nicht bloß ein logischer Mangel an Gutem. 11 Nach Kant darf also das Böse, und zwar weder verstanden als physisches Leiden, noch als ein personales Vermögen, als reiner Mangel interpretiert werden. Stattdessen stelle es eine reale dem Guten gegenüberstehenden Wirklichkeit dar. In seiner Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 12 definierte Kant das Böse als eine der menschlichen Freiheit zur Verfügung stehende Alternative, die ihre eigene Realität besitzt und ihre eigenen Gründe aufweist, nicht also lediglich als ein Mangel des Guten. 1793, zwölf Jahre nach der Veröffentlichung seiner ersten Kritik, der Kritik der reinen Vernunft 13, griff der Königsberger Philosoph die gewonnenen Erkenntnisse seiner Kritiken auf, vertiefte die Diskussion um das menschlichen Freiheitsvermögen angesichts des menschlichen „Hange[s] zum Bösen“ 14 und eröffnete neue Perspektiven durch seine Auseinandersetzung mit Kernelementen der christlichen Offenbarungsreligion. Im ersten Stück des Buches schrieb Kant „[ü]ber das radikale Böse in der menschlichen Natur“ 15 und die dort vorgenommenen Betrachtungen ermöglichen eine tragfähige Definition des Bösen für diese Arbeit.

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Einführung. Einen historischen Blick auf die Privationstheorie bietet Schönberger, Existenz des Nichtigen. Eine zeitgenössische Spielart der Privationstheorie führt Enders, Über das (Un-)Wesen, vor. Kant, Neg. Größ., A 16 f. Vgl. zur Kritik an der Privationslehre Hermanni, Positivität des Malum. Vgl. Kant, RGV. Vgl. Kant, KrV. Kant, RGV, B 20 / A 18. Kant, RGV, BA 3.

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Kant hat vor allem in der Kritik der praktischen Vernunft 16 und der Grundlegung der Metaphysik der Sitten in der Annahme eines idealen Akteurs davon gesprochen, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ seien. 17 „Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus, durch bloße Zergliederung ihres Begriffs.“ 18 Diese These rief scharfe Kritik hervor, beispielsweise von Carl Leonhard Reinhold. 19 Denn der Frage, wie sich die Aussage von der subjektiv zu verantwortenden und zurechenbaren bösen Handlung mit dem scharf abgegrenzten Freiheitsverständnis Kants verbinden lasse, blieb der Königsberger die Antwort vorerst schuldig. Eine Zuspitzung erfuhr das Konzept Kants in der Fortführung durch Carl Christian Eberhard Schmid in seinem Versuch einer Moralphilosophie, in dem er schrieb, dass Menschen „[a]lso [...] keine Freyheit, keinen ursprünglich innern Bestimmungsgrund [hätten], das Böse zu wollen. In dieser Rücksicht sind wir bloß abhängig.“ 20 In Abgrenzung zu diesem Traktat 21 nahm Kant eine Neujustierung seiner Lehre vor und widmete dem menschlichen Vermögen zum Bösen in seiner Religionsschrift das erste Kapitel. Darin schreibt er: „Mithin kann in keinem die Willkür sich durch Neigungen bestimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe, sondern nur in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d. i. in einer Maxime, der Grund des Bösen liegen. [...] Denn wenn dieser Grund zuletzt selbst keine Maxime mehr, sondern ein bloßer Naturtrieb wäre: so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Naturursachen zurückgeführt werden können: welches ihr aber widerspricht.“ 22

Es ist Kant wichtig, dass auch böse Handlungen auf den freien Entschluss des Menschen zurückzuführen sind und nicht auf reine äußere Determinanten. Würde das moralisch Böse rein auf ,Naturtriebe‘ zurückgeführt werden, könnte der Mensch für solche Handlungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden, und der Begriff des moralisch Bösen wäre obsolet. Der Mensch wählt demnach dank seines freiheitlichen Vermögens sowohl moralisch gute als auch moralisch böse Handlungen. Damit ist aber noch nicht erklärt, wieso der Mensch überhaupt das Böse wählt. Um diese Frage zu beantworten, müssen von Kant angestellte Vorbemerkungen skizziert werden. Kant spricht von drei Anlagen innerhalb der allgemeinen menschlichen Natur. Zum einen gebe es die „Anlage für die Tierheit des Menschen“, worunter die „physische [...] und bloß mechanische [...] Selbstliebe“ zu verstehen und wozu keine 16 17 18 19

Vgl. Kant, KpV. Kant, GMS, BA 98. Kant, GMS, BA 98. Reinhold reagierte insbesondere in seinen Briefen über die Kantischen Philosophie auf Kants Thesen. 20 Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, 341. 21 Vgl. Noller, Bestimmung des Willens, 184 f. 22 Kant, RGV, BA 7.

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Vernunft notwendig sei. 23 In der zweiten Anlage meint er „die physische [...], aber doch vergleichende [...] Selbstliebe (wozu Vernunft erfordert wird)“ 24 zu erkennen. Zwar würden alle Anlagen die Befolgung des Guten befördern, aber erst die dritte sei jene, die den Menschen als Persönlichkeit auszeichne. Es „ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“. 25 Sie allein habe die „für sich selbst praktische, d. i. unbedingt gesetzgebende Vernunft zur Wurzel“. 26 Diese Anlagen müssten unterschieden werden von einem Hang. Ein Hang sei im Gegensatz zu einer Anlage auf die freie Entscheidung des Menschen zurückzuführen. Zwar verliere sich sein Ursprung im Dunklen der transzendentalen Freiheitstat des Menschen, weshalb er oft als angeboren erachtet würde, „aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn er böse ist) als von dem Menschen selbst sich zugezogen gedacht werden kann.“ 27 „Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d. i. zum moralisch Bösen die Rede; welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurteilt werden kann, in dem subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß, und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also, als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird.“ 28

Kant nimmt also an, dass jeder Mensch, egal wie sich dieser faktisch verhält, einen Hang zum Bösen besitzt. Zwar kann dessen Genealogie nicht bis zum Letzten nachverfolgt werden, trotzdem unterstellt ihm Kant einen „Vernunftursprung“ 29, da er in der freien Wahl des Menschen gründe. Da aber jeder Mensch zugleich als natürliche Anlage „die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ 30 in sich spüre, sei es an ihm selbst, kraft seiner Freiheit sich für oder gegen das Sittengesetz zu entscheiden. Mit dieser These, dass der Mensch sich in seiner Willkür frei zum Sittengesetz verhalten könne, geht Kant über seine vorherigen Bestimmungen hinaus. Zu beobachten ist in diesem Kontext die Verwendung eines zweifachen Vernunftbegriffs in der Religionsschrift: Zum einen jene rein praktische Vernunft, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten dargelegt hat, derentwegen der Wille sich stets dem Sittengesetz als oberste Triebfeder verschreibe und sich pflichtgemäß verhalte. Zum anderen beschreibt Kant jenes Vernunftvermögen, mit dem sich die menschliche Willkür trotz Ein23 24 25 26 27 28 29 30

Kant, RGV, B 16 / A 14. Kant, RGV, B 17 / A 15. Kant, RGV, B 18 / A 16. Kant, RGV, B 20 / A 17. Kant, RGV, B 21 / A 18. Kant, RGV, B 21 / A 18 f. Kant, RGV, B 46 / A 42. Kant, RGV, B 18 / A 16.

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sicht in das Sittengesetz dem moralisch Guten widersetze und Triebfedern der Selbstliebe priorisiere. Diese Unterscheidung entspricht der Kategorisierung in Willen und Willkür. Der Begriff des Willens wird im Zusammenhang mit dem moralisch Bösen auffällig selten benutzt, da dieser von Kant weiterhin als ideale Willensbestimmung interpretiert wird, in dem Sinne, als dass der menschliche Wille sich kraft der rein praktischen Vernunft immer durch das Sittengesetz bestimme und somit autonome Entscheidungen treffe. Die Willkür benennt Kant in der Religionsschrift als jenes freie, rational begründende Vermögen, sich entweder zum Guten oder zum Bösen entscheiden zu können. Autonom ist der Mensch bei Kant nur, wenn er dem Sittengesetz gemäß handelt. Frei hingegen ist er auch in seiner Entscheidung zum Bösen. Der Mensch sieht sich Kant zufolge verschiedenen Triebfedern gegenübergestellt, die wegen seiner natürlichen Anlagen auf ihn einwirken und die er in eine handlungsanweisende Hierarchie zu bringen hat. „Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt“. 31 Dementsprechend seien moralisch böse Taten nicht auf eine „gleichsam boshafte [...] Vernunft“ zurückzuführen, „gleich als ob diese das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen, und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen könne; das ist schlechterdings unmöglich.“ 32 Kant unterstellt jedem Menschen das permanente Wissen um das moralisch Gute und Richtige durch Gewahrsein des Sittengesetzes. Die daraus resultierende Pflicht gänzlich nicht zu spüren, sei unmöglich. Daher, und auch weil die Sinnlichkeit des Menschen nicht als Begründung des Bösen allein hinreichend sei, müsse eine freie vom Menschen durchgeführte Hierarchisierung der unterschiedlichen Triebfedern angenommen werden. Triebfedern, die den Menschen wider das Sittengesetz handeln lassen würden, seien beispielsweise „Ehrbegierde, Selbstliebe“. 33 Diese könnten, wenn der Mensch sie dem Sittengesetz vorziehe und sich dem kategorischen Imperativ verschließe, zu verschiedenen Graden des Bösen führen. Auf der untersten Stufe nennt Kant die „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“, die mit der oft vernommenen Klage zu identifizieren sei: „Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt“. 34 Hierbei nehme der Mensch das Sittengesetz zwar in seine Handlungsmaxime auf, ordne sie aber anderen Triebfedern unter. Auf einer zweiten Stufe könne man die „Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen“ 35 beobachten. Wirklich böse Handlungen seien aber erst jene, bei denen der Mensch sich 31 Kant, RGV, B 34 / A 30. Neben der Begrifflichkeit des radikal Bösen übernimmt Schelling später dieses Prinzip der hierarchischen Ordnung der Triebfedern in seine Freiheitsschrift. Vgl. Schulte, Radikal böse, 197; Nonnenmacher, Vernunft und Glaube, 227 f. 32 Kant, RGV, B 31 f. / A28. 33 Kant, RGV, B 24 / A22. 34 Kant, RGV, B 22 / A 19. 35 Kant, RGV, B 21 / A19.

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in Anbetracht verschiedener Triebfedern bewusst für eine böse Maxime entscheide und diese der Befolgung des Sittengesetzes gezielt überordne. Erst hier könne man von einer „Bösartigkeit [...] des menschlichen Herzens“ 36 sprechen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle nochmals der Vernunftursprung des Bösen. Der Mensch bringt Gründe auf, aufgrund derer er sich entscheidet. Dies verdeutlicht der Begriff des ,Vernünftelns‘, den Kant mehrfach nutzt. In seiner Anthropologie führt er diesbezüglich aus: „Vernünftelei (ohne gesunde Vernunft) ist ein dem Endzweck vorbeigehender Gebrauch der Vernunft, teils aus Unvermögen, teils aus Verfehlung des Gesichtspunkts. Mit Vernunft rasen heißt: der Form seiner Gedanken nach zwar nach Prinzipien verfahren, der Materie aber, oder dem Zwecke nach, die diesem gerade entgegengesetzten Mittel anwenden.“ 37

Das moralisch Gute sei also mit der Befolgung des Sittengesetzes und der Orientierung am kategorischen Imperativ zu identifizieren – was von Kant explizit der reinen Übereinstimmung des Handelns mit dem positiven Gesetz vorgeordnet wird, da legales Handeln auch unmoralische Triebfedern haben könne. Demgegenüber könne das moralisch Böse als die wissentlich-willentliche Überordnung der Selbstliebe, oder anderer nicht auf die Einhaltung des moralischen Gesetzes gerichteter Triebfedern, über das – jedem Menschen per natürlicher Anlage einsehbaren – Sittengesetz, bezeichnet werden. Oder, um eine Formulierung Otfried Höffes in Anlehnung an Kant zu nutzen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb zu denken möglich, was ohne Einschränkung für böse könnte gehalten werden, als allein ein böser Wille.“ 38 Der Mensch vermag es nach Kant folglich, aufgrund seines Vernunftvermögens Handlungsmaximen abzuwägen und in eine hierarchische Ordnung zu bringen und dabei für oder wider das Sittengesetz zu handeln. Er handelt somit stets begründet, also aufgrund von Maximen, die er sich selbst setzt. Zurückzuführen seien alle Handlungen des Menschen auf eine Meta-Maxime, die Gesinnung. Auch diese setze der Mensch in selbstreflexiver Weise. Und im Gegensatz zu Schellings Ausführungen in seiner Freiheitsschrift hält Kant diese für veränderlich. Aus eigener Kraft vermöge es der Mensch, seine Gesinnung zu revolutionieren: „Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt), notwendig, und daher auch dem Menschen möglich sein muss. Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiermit einen neuen Menschen anzieht): so ist er fern, dem Prinzip und der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch“. 39

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Kant, RGV, B 22 / A 19. Kant, Anth., BA 121. Höffe, Königliche Völker, 94. Kant, RGV, B 54 / A 51.

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Schelling wird 1809 – so viel sei angedeutet – von einer außerzeitlichen, ursprünglichen Tat des Menschen sprechen, in welcher dieser sich frei zum Guten oder Bösen entscheide, die Entscheidung aber während seines irdischen Lebens nicht mehr modifizieren oder rückgängig machen könne. 40 Gemäß Kant kann sich der Mensch in Ansehung des Sittengesetzes und unter Beachtung sonstiger Triebfedern innerhalb der irdischen Kategorien von Raum und Zeit bewusst für eine gute oder böse Gesinnung beziehungsweise für gute oder böse Handlungen entscheiden. Er ist demgemäß weder von inneren noch äußeren Ursachen determiniert, sondern bestimmt sich selbstreflexiv und trägt somit die Verantwortung für seine Taten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kant in seiner Religionsschrift seine Freiheitsdefinition um ein zurechenbares Vermögen zum Bösen erweitert. Ihm zufolge besitzt jeder Mensch die Fähigkeit, das Sittengesetz einzusehen und zu achten. Die Achtung des Sittengesetzes ist jedoch keine Notwendigkeit, welche aus dem bloßen Vernunftvermögen folgen würde. Jeder Mensch kann in Freiheit Handlungsmaximen wählen, die entweder dem Sittengesetz entsprechen, oder sich diesem widersetzen. Für letzteres nimmt Kant nicht eine böse Vernunft an, sondern hält es für möglich, dass der Mensch mit der einen Vernunft sich auch unvernünftig verhalten und sich in Ansehung des Sittengesetzes gegen dieses entscheiden kann. Priorisiert er in vollem Bewusstsein und gezielt eine dem Sittengesetz widersprechende Handlungsmaxime und setzt diese in Taten um, kann man nach Kant vom moralischen Bösen sprechen. An Kants in der Religionsschrift ausgearbeitete Gedanken anknüpfend, soll folgende Definition des moralisch Bösen – mehr kann und soll an dieser Stelle nicht geleistet werden – für diese Arbeit gelten. Alle Menschen sind wesenhaft – von möglichen Ausnahmen aufgrund geistiger Einschränkungen abgesehen – mit der Anlage zur Achtung des Sittengesetzes ausgestattet. Das moralische Gesetz ist jedoch, über Kant hinausgehend, stets in historisch bedingte soziokulturelle Kontexte eingebunden und kann sich somit je nach Ort und Zeit unterscheiden. Damit ist auch die inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs des Bösen faktisch kontingent. Gleichwohl können formale Kriterien aufgestellt werden, die eine universale Geltung beanspruchen. Das moralisch Böse soll hier, auf Kants dritte Stufe des Bösen fußend, als „wissentlich-willentliche [...] Grausamkeit“ 41, die die Würde eines Menschen bewusst verletzt, postuliert werden. Unter der Würde des Menschen ist seine physische und psychische Unversehrtheit zu verstehen, die das Recht jedes Einzelnen auf Selbstgesetzgebung einrahmt. Zwar mag es illegale Taten geben, die gemäß der Systematik Kants als Gebrechlichkeit oder Unlauterbarkeit eingestuft werden können. Als Definition des moralisch Bösen wird jedoch erst die wissentlich-willentliche Grausamkeit eingestuft. Verantwortung tragen Täter oder Täterin für eine solche Verletzung der Freiheit anderer insofern, als dass ein freies, selbstre40 Vgl. Schelling, AA I, 17, 154–156. 41 Höffe, Königliche Völker, 97.

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flexives Vermögen zum Guten und Bösen unterstellt wird. Durch die menschliche Willens- und Handlungsfreiheit ist es jedem Menschen möglich, in Anbetracht des moralischen Gesetzes, sich zu diesem zu verhalten und entweder der inneren Pflicht zur Befolgung desselben nachzukommen, oder sich einer Maxime zu unterwerfen, die die Beförderung der egoistischen Lustbefriedigung als Ziel ausgibt und dabei Verletzungen der Selbstzwecklichkeit anderer nicht nur in Kauf nimmt, sondern bewusst anstrebt. Zugrunde gelegt werden kann eine Gesinnung, die als oberste moralische Ausrichtung des Menschen verstanden werden soll. Aber auch diese nimmt der Mensch in einem Akt des freien Vermögens ein. Die ursprüngliche Entscheidung zugunsten einer bestimmten Gesinnungshaltung kann zwar auf transzendentaler Ebene nicht gänzlich zurückverfolgt werden und daher muss, um einen infiniten Regress zu vermeiden, eine erste Freiheitstat gesetzt werden. Aber diese Entscheidung wird empirisch betrachtet nicht im luftleeren, sondern im sozial beeinflussten Raum getroffen, und der Mensch muss sich zu den dortigen Einflüssen verhalten. Resümierend handelt der Mensch in freier Reflexion eines Sittengesetzes nach bestimmten Maximen, die er selbst zu verantworten hat. Entweder gibt er sich Gesetze unter der Prämisse, dass diese stets allgemeines Gesetz werden könnten, oder er stellt die Eigenliebe ins Zentrum seiner Handlungen. Dabei kann es dann zu oben beschriebenen moralisch bösen Vollzügen kommen, die in der Verantwortung des je individuellen freien Vermögens liegen. Betont werden soll angesichts des Vernunftursprungs des menschlichen Vermögens zum Bösen und der raum-zeit-bedingten Ausgestaltung des Sittengesetzes, dass keine bloße Willkürfreiheit, im Sinne der Gleichgültigkeit gegenüber moralischen Normen, nahegelegt werden soll. Ein ius divinum einzusehen, ist menschlichen Erkenntnisvermögen nicht möglich. Es bleibt lediglich, aus moralischen Gründen einen Gott zu postulieren und darauf zu hoffen, dass dessen Gesetz sich mit dem von Menschen aufgestellten obersten moralischen Gesetz abgleichen lässt. Gleichwohl ist es Menschen möglich, ein Sittengesetz zu leben, das universale Geltung beanspruchen kann. Dabei wird von einem realen Vermögen der Selbstbestimmung des Menschen ausgegangen, dem sowohl der Weg des moralisch Guten als auch des moralisch Bösen offensteht. Jeder Mensch trägt somit – trotz seiner Eingebundenheit in soziokulturelle Kontexte und Abhängigkeit von diesen – die Verantwortung für sein Handeln und kann entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. Als sittliche Freiheit wird Autonomie verstanden, die allein auf der praktischen Vernunft gründet, was bedeutet, dass sie sich an selbstgegebenen Gesetzen orientiert, die stets zum allgemeinen Gesetz werden könnten, und somit die Freiheit des je anderen respektiert und sogar proaktiv fördert. Eine erste Entscheidung zur moralisch evaluativen Tat verliert sich im Dunkel der menschlichen Freiheit. Jedoch kann aus der transzendentalen Logik heraus eine Freiheit angenommen werden, die sich in einer gründenden Tat als Freiheit reflektiert und als obersten Maßstab moralischen Handelns Freiheit setzt und damit andere Freiheit affirmiert, oder aber andere Freiheit verweigert, sich lediglich

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selbst die Nächste ist. Die aus dieser Freiheit hervorgehenden Taten können als moralisch böse qualifiziert werden. 42

42 Dieser Gedanke baut auf Hermann Krings auf, dessen Freiheitstheorie in Kap. 5 genauer dargelegt wird. Vgl. vorerst zum Krings’schen Konzept transzendentaler Freiheit Krings, Reale Freiheit, bes. 61–68. Zum theoretischen Hintergrund Krings, Transzendentale Logik.

3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta 3.1. Die Begründung der Auswahl Ockhams als Fallbeispiel Die erste historische Stichprobe für die Frage, welche Freiheitsdefinition an den Gottesbegriff angelegt und ob dabei die Definition menschlicher Freiheit übertragen wird, stellt in dieser Arbeit Wilhelm von Ockham dar. Der Mitte der 1280erJahre im kleinen Ort Ockham, in der Grafschaft Surrey bei London, geborene Franziskanermönch nimmt in der Theologiegeschichte einen skandalumwitterten Platz ein. Vielfach wurde ihm vorgeworfen, er habe das Bild eines Willkürgottes entworfen, das dem Menschen jedes Vertrauen in eine natürliche Weltordnung genommen und die Möglichkeit eines ethischen Systems zerstört habe. 1 Im Folgenden wird zu diesem Thema Stellung genommen. Es geht aber nicht um eine Verteidigung Wilhelm von Ockhams, sondern um eine Analyse des Begriffs göttlicher Freiheit. Inkludiert das Ockham’sche Verständnis von Gott, „dessen Wirken“, so Blumenberg, „die Annahme immanenter Gesetze nicht zuläßt und der alle ,rationalen‘ Konstanten in Frage stellt“, 2 auch ein Vermögen zum Bösen? Gerade aufgrund dieser Vorwürfe soll Ockhams Verständnis der göttlichen Freiheit in dieser Arbeit analysiert und auf seine Grenzen hin untersucht werden. Um das Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff Ockhams zu ergründen, wird zuerst eine Einführung in die Ethik Ockhams gegeben (3.2.). Hiervon ausgehend kann dann der Begriff Gottes und der Begriff göttlicher Freiheit studiert werden (3.3.). Dafür sind wiederum drei historische Einbettungen notwendig. Erstens ist Ockham nicht ohne die Diskussionen um den arabischen Aristotelismus zu verstehen, wie er im 13. Jahrhundert in die lateinische Welt importiert wurde (3.3.1.). Das System einer notwendig in ihrem So-Sein aus Gott emanierten Ordnung, in welchem Gott nicht als personales Wesen gedacht wurde, sondern als schlechthinniges Sein, das sich mit Notwendigkeit vollzieht, stellte bedenkenswerte Anfragen an die Theologie. Johannes Duns Scotus konstituierte Antwortversuche, die Ockham in seinem Denken maßgeblich beeinflussten und daher als zweite relevante Bedingung untersucht werden (3.3.2.). Außerdem haben drittens die für Ockham so wichtigen Termini der potentia Dei absoluta und der potentia Dei ordinata eine Vorgeschichte, die betrachtet werden muss, um den Stellenwert der Begriffe in Ockhams Denken verstehen zu können (3.3.4.1.). Vor diesem Hintergrund wird 1

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Anschuldigungen dieser Art lassen sich hauptsächlich in der älteren Forschung finden. Vgl. exemplarisch Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, bes. 176; Garvens, Die Grundlagen, 262–264, bes. 248; Iserloh, Gnade und Eucharistie, 71. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 188.

3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick

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schlussendlich der Begriff göttlicher Freiheit in seinem Potential und in seinen Grenzen einsichtig werden (3.3.4.–3.3.6.).

3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick Die ethischen Positionen Ockhams sind Streitpunkt vieler Debatten. Ein Grund hierfür ist das Fehlen einer elaborierten systematischen Ethik in dessen Werk. Um jedoch den Gedanken eines Vermögens zum Bösen im Gottesbegriff eruieren zu können, ist eine Betrachtung der Ethik Ockhams unumgänglich. Hierfür müssen verschiedene Versatzstücke aus den diversen Werken Ockhams zusammengesetzt werden. Einen Autonomiebegriff, wie Kant ihn später anlegen wird, kennt Wilhelm von Ockham nicht. Stattdessen geht er von einer engen Verzahnung von Erst- und Zweitursache, namentlich Gott und dem Menschen, aus. Die Erstursache kann nach Ockham grundsätzlich immer ohne die Zweitursache wirken und alle Akte sind letztlich auf Gott als Erstursache zurückzuführen. 3 Somit ist es unmöglich, dass der Mensch autonom handelt. Auch kann der Mensch Gott nicht zu einer bestimmten Handlung zwingen. Er ist stets darauf angewiesen, dass Gott frei als Erstursache wirkt. 4 Laut Ockham ist also jeder menschliche Akt als eine Synthese von freier Erst- und Zweitursache zu denken. Gleichwohl bekennt Ockham, dass auch der Mensch einen freien Willen habe. Gott sei es möglich, alle Akte allein hervorzubringen, außer jene des freien menschlichen Willens. 5 Denn nur wenn ein freier Wille des Menschen angenommen werde, könne auch von einer moralisch guten oder schlechten Tat gesprochen werden: „Des Weiteren ist kein Akt tugendhaft oder bösartig, wenn er nicht freiwillig geschieht und in der Macht des Willens steht, da ,eine Sünde sogar freiwillig ist etc.‘“. 6 Freiheit meint nach Ockham also,

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Vgl. Ockham, Quodl. VI, qu. 6 (OTh IX, 605,20–21): „[O]mnem effectum quem potest Deus mediante causa secunda, potest immediate per se“. Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 45, qu. un. (OTh IV, 668,18–20): „Ergo simpliciter nulla causa secunda potest in aliquem effectum nisi concurrente immediate causa prima simpliciter, scilicet Deo.“ Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 254,19–20): „Praeterea omnis actus alius a voluntate potest fieri a solo Deo, et per consequens non est necessario virtuosus creaturae rationali.“ Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 254,26–28): „Praeterea nullus actus est virtuosus nec vitiosus nisi sit voluntarius et in potestate voluntatis, quia peccatum adeo est voluntarium etc.“ Vgl. für eine historische Verortung dieser bemerkenswert klaren Aussage Flasch, Freiheit des Willens.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

die Möglichkeit zu haben, nicht nur etwas, was die Vernunft vorhält, zu tun oder nicht zu tun, sondern auch das Gegenteil des Angeratenen zu realisieren. Dabei gesteht Ockham zu, dass Neigungen im Menschen den Willen beeinflussen können. Nichtsdestotrotz verteidigt er die Willensfreiheit als ein freies Sich-Verhalten-Können – auch zu eben diesen Neigungen. 7 Die Möglichkeit der moralischen Bewertung einer menschlichen Handlung ist demzufolge stets auf die Bedingung des freien Willens des Menschen zurückzuführen, weshalb der Mensch für seine Taten Rechenschaft abzulegen hat und in die Verantwortung genommen werden kann. Die zweite Bedingung für eine moralisch qualifizierte Handlung, die Ockham explizit benennt, ist die Vernunft. In einer Abhandlung über die Sünde schreibt er, dass von Sünde nur bei jenen Menschen gesprochen werden könne, die mit einem nicht durch geistige Beeinträchtigungen eingeschränkten Vernunftvermögen ausgestattet seien. 8 Nur in jenem Fall also, in dem ein Mensch, ausgestattet mit Vernunft und einem freien Willensvermögen, einen Akt vollzieht, den er aufgrund seiner Zurechenbarkeit auch nicht oder anders hätte vollziehen können, ist eine moralische Evaluation dieser Handlung möglich. Um einen Akt mithilfe moralischer Kriterien bewerten zu können, muss nach Ockham außerdem die Bedingung erfüllt sein, dass der Akteur Gesetzen untersteht, die er einzuhalten hat und die er brechen kann. 9 Grundlegend kann man feststellen, dass Ockhams Ethik zwei Ebenen ethischer Grundsätze kennt. Es lassen sich zum einen positive Gesetze ausmachen, die Ockham auf Menschen oder Gott als Gesetzgeber zurückführt. Zum anderen nennt er Prinzipien, die entweder durch Erfahrung eindeutig erkennbar seien, oder „principia per se nota“, 10 die also selbstevident seien. Letztere sind aristotelisches Traditionsgut. Ockham führt hiervon mehrere an, die sich wiederum in zwei Kategorien differenzieren lassen. Zum einen kennt Ockham rein formal gehaltene Prinzipien, wie beispielsweise den Grundsatz, dass „alles Tugendhafte getan werden, und alles Nicht-Tugendhafte gemieden werden soll“. 11 Ockham nennt aber auch inhaltlich ausgestaltete Kriterien, so zum Beispiel die Pflicht, dass jedem Wohltäter wiederum

7 Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 16 (OTh VII, 359,6–8): „[P]otest voluntas ex sua libertate – sine omni alia determinatione actuali vel habituali – actum illum vel eius oppositum elicere vel non elicere.“ Vgl. McCord Adams, Ockham on Will, 254–257. 8 Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 195,18–20): „Nec est [peccatum] privatio alicuius actus recti et convenientis, quia talis potest esse in carente usu rationis, puta in furioso qui tunc non peccat.“ 9 Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 198,12–13): „Obligatio igitur facit aliquem peccatorem vel non peccatorem.“ 10 Ockham, Quodl. II, qu. 14 (OTh IX, 177,25). 11 Ockham, Quodl. II, qu. 14 (OTh IX, 177,26–27): „[O]mne honestum est faciendum, et omne inhonestum est fugiendum“.

3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick

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Wohltaten zu erbringen seien, 12 und Notleidenden beizustehen sei. 13 Die „recta ratio“, 14 also die rechte Vernunft des Menschen fordere dazu auf, diese Grundsätze einzuhalten. Von ihr ergeht nach Ockham der Anspruch des Sollens an den Menschen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. In welchem Verhältnis die positiven und die nicht-positiven ethischen Prinzipien zueinanderstehen, ist die zentrale Frage für die Bewertung der Ethik Ockhams. In der Forschung haben sich dabei drei Lager gebildet. Die eine Position deklariert Ockhams Ethik als Voluntarismus. 15 Argumentiert wird dabei hauptsächlich mit dem Verweis darauf, dass Gott dank seiner potentia absoluta an keinerlei Ordnung gebunden sei und jederzeit in die bisherige Ordnung eingreifen, oder neue Ordnungen erlassen könne. Menschen sei vor diesem Hintergrund keinerlei Sicherheit geboten. Sie seien dem Gutdünken Gottes hilflos ausgeliefert. So schreibt Anita Garvens: „Hierzu muß vorweggenommen werden, was erst die Darlegung seiner material-ethischen Lehren deutlich aufweisen wird, daß nämlich die Begriffe Gut und Böse von Ockham positivistisch bestimmt werden dadurch, daß er sie lediglich als Ausdruck momentaner Entscheidungen des göttlichen Willens betrachtet, der die letzte Norm des sittlichen Handelns darstellt. Das Sittengesetz hat seinen Grund nicht mehr in der unendlichen Güte, Weisheit und Heiligkeit Gottes, an der alles Geschaffene teil hätte, wie der gemäßigte Realismus es auffaßte, sondern es ist ein vom unergründlichen göttlichen Willen festgesetzte augenblicklich geltende Norm, die aber jederzeit verändert werden kann. Gut und Böse sind demnach Begriffe, die durchaus relativistisch gefaßt sind. Ist aber das oberste Sittengesetz in diesem Sinn ein bloß positives Gebot, dann können – grundsätzlich wenigstens – auch die subjektiven Prinzipien für das sittliche Handeln, welches sich ja nach dem Willen Gottes richten soll und dessen Inhalt kennen muß, nicht die Elemente einer evidenten und notwendig allgemeingültigen Wissenschaft liefern. Denn die Wahrheit ihrer Urteile ist stets bedingt durch das jeweils bestehende göttliche Gebot, an das Gott in keiner Weise gebunden ist, das er also jederzeit aufheben kann.“ 16

Für diesen Argumentationsgang sprechen auf den ersten Blick Beispiele Ockhams wie seine Ausführung zur biblischen Textstelle über die Beraubung der Ägypter. Zwar sei Diebstahl grundsätzlich verboten, so erläutert Ockham, wenn Gott diesen aber befehle, wie er es gegenüber den Israeliten in Ägypten getan habe, dann sei er 12 Vgl. Ockham, Qu. var., qu. 6, art. 10 (OTh VIII, 281,222–225): „Et haec procedit ex principiis per se notis ut hic: ,omni benefactori est benefaciendum; sed quilibet liberans aliquem a morte est benefactor; igitur omni tali est benefaciendum‘.“ 13 Vgl. Ockham, Qu. var., qu. 8 (OTh VIII, 423,310–311): „[O]mni indigenti extrema necessitate est benefaciendum ne pereat“. 14 Ockham, Quodl, IV, qu. 6 (OTh IX, 325,66–67). 15 Vgl. Freppert, The Basis of Morality, 81 f.; Garvens, Die Grundlagen; Miethke, Sozialphilosophie, 305–325. McGrade, Natural Law, ist der Ansicht, dass Gott auch das Gegenteil von vom Widerspruchsprinzip geschützten Prinzipien unter anderen Umständen als denen der geltenden Ordnung befehligen könne, bewertet dies aber nicht negativ, sondern pocht darauf, auf Gott zu vertrauen, dass dieser so etwas nicht tun werde. 16 Garvens, Die Grundlagen, 248.

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gut, da Gott nichts Böses tun könne oder wolle. 17 Die Kategorien Gut und Böse hängen dabei vollständig vom Willen Gottes ab. Daraus folgert Lucian Freppert, dass „the highest norm of morality [...] the will of God“ sei, 18 und Jürgen Miethke ist der Überzeugung, der Mensch bedürfe zur freien Selbstbestimmung „der recta ratio als seiner regula [...], die ihm das göttliche Gebot als das dem Willen selbst äußerliches Prinzip der Sittlichkeit vorhält“. 19 In dieser Deutung werden die principia per se nota auf Gott zurückgeführt. Bestärkt wird diese Lesart durch den Verweis auf das formale principium per se notum; dass der einzige schlechthin tugendhafte Akt die Gottesliebe sei. Die principia per se nota würden also auf Gott als das höchste Gut und den höchsten Gesetzgeber verweisen, der kraft seiner potentia absoluta jederzeit die gegenwärtige Ordnung durchbrechen und neue Gesetze erlassen könnte. 20 Demgegenüber steht die Deutung der Ethik Ockhams als eine rationalistische. Autoren wie Linwood Urban und Rega Wood setzen die beiden Ebenen der positiven und nicht-positiven Gesetze in ein anderes Verhältnis. Ihnen zufolge sind die principia per se nota vom Widerspruchsprinzip geschützt, was bedeute, dass sie auch von Gott nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden könnten. 21 Da Gott außerdem von Ockham ein Vernunftvermögen zugestanden bekommen habe, sei davon auszugehen, dass Gott sich ebenfalls an die principia per se nota zu halten habe, denn auch für ihn gelte dann, dass er das Gute tun und das Böse lassen solle. Das Prinzip ,Wohltätern Wohltaten zu erweisen‘ wird meist mit dem Hinweis, dass Gott keine Wohltäter habe, als für diesen Kontext irrelevant eingeschätzt. 22 Die vom Widerspruchsprinzip geschützten ethischen Prinzipien stellen demnach für Gott durchaus Grenzen dar, jedoch sind diese, so die einhellige Forschungsmeinung, nicht besonders limitierend. Die benannten Forscher und Forscherinnen ordnen nun jedoch Gott nicht einfach den principia per se nota unter, sondern sehen ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Auch sie erkennen an, dass die Prinzipien auf Gott als das höchste Gut verweisen würden. Ockham schreibt diesbezüglich zu Beginn seines Sentenzenkommentars in enger Anlehnung an Aristoteles, dass das vollkommen Gute das sei, was ausschließ17 Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 47, qu. un. (OTh IV, 685,8–12): „Ad primum principale dico quod spoliare Aegyptios non fuit malum, immo fuit bonum. Et ideo Deus praecipiendo spoliare Aegyptios non pracepit malum, nec filii Israel peccaverunt in spoliando, nisi illi qui malo animo, non praecise obediendo divino praecepto, spoliaverint.“ Der vollständige Argumentationsgang befindet sich bei Ockham, Sent. I, dist. 47, qu. un. (OTh IV, 680,5– 685,13). 18 Freppert, The Basis of Morality, 176. 19 Miethke, Sozialphilosophie, 347. 20 Vgl. Freppert, The Basis of Morality, 174–179; Garvens, Die Grundlagen, 377; Miethke, Sozialphilosophie, 307, 324 f. 21 Vgl. Urban, Theological Ethics, 320; Wood, Gebot, 48 f. 22 Vgl. Urban, Theological Ethics, 325 f. Dem stimmen auch Clark, Voluntarism, 85; Schröcker, Verhältnis, 98, zu.

3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick

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lich um seiner selbst willen und mehr als alles andere geliebt werden solle. Dies sei allein auf Gott zutreffend, alles andere sei ihm untergeordnet. 23 Urban und Wood weisen aber darauf hin, dass Gott als höchstes Gut geliebt werden solle, weil die rechte Vernunft dies fordere. Denn der schlechthin tugendhafte Akt bei Ockham sei die Gottesliebe. Gott solle also nicht aufgrund eines göttlichen Gebotes beziehungsweise allein aufgrund der göttlichen Autorität geliebt werden, sondern aufgrund der von der recta ratio bedingten Einsicht in die Tugendhaftigkeit dieses Aktes. Urban erklärt dies wie folgt: „Rather he [Ockham] argues that since ,no act is perfectly virtuous unless it is in conformity with right reason‘, one ought to obey the will of God because right reason demands it.“ 24 Gott wird also von Ockham als das höchste Sein und somit als das höchste Gut akzeptiert. Nach Urban und Wood setzt Ockham die beiden Ebenen der Ethik in ein aufeinander verweisendes Verhältnis. Die rechte Vernunft verweise auf Gott als das höchste Gut und da nur ein Akt, der in Übereinstimmung mit der Vernunft vollzogen werde, tugendhaft sei, müsse der Mensch Gottes Gesetzen gehorchen. Der entscheidende Schutz vor einem Gott der Willkür sei der Hinweis auf die Unaufhebbarkeit der principia per se nota. Auch Gott könne nicht einen Widerspruch dieser fordern, im Gegenteil wolle er, dass der Mensch der recta ratio folge. Eine dritte Gruppe versucht sich an einem Mittelweg. Exemplarisch können hierfür David W. Clark, Marilyn McCord Adams und Hubert Schröcker genannt werden. Sie heben in Abgrenzung zur voluntaristischen Deutung die Stellung der Vernunft hervor, welche den Menschen Einsicht in ethische Prinzipien ermögliche, und betonen, dass für diese Einsicht keine Offenbarung notwendig sei. Gleichwohl schwächt McCord Adams den Schutz ab, den die principia per se nota durch den Satz des Widerspruchs genießen würden, indem sie erklärt, Ockham habe die Möglichkeit aufrechterhalten, dass Gott entgegen dieser Prinzipien befehligen könne. Sie führt hierfür das Beispiel des Gotteshasses an, das Ockham in seinem Sentenzenkommentar eingeführt hat. 25 Wenn Gott befehligen könne, dass ein Mensch 23 Vgl. Ockham, Sent. I, d. 1, qu. 1 (OTh I, 375,21–378,1): „Similiter, finis ultimus non est ad aliquid aliud referibilis, sed Deus est simpliciter finis ultimus [...] omne aliud a Deo potest esse obiectum usus ordinati. [...] Quia tunc aliquid amatur tamquam finis ultimus quando acceptatur aliquid tamquam magis amandum omni alio vel tamquam magis amatum omni alio, quodcumque ostenderetur sibi amandum [...] Unde dicit sic I Ethicorum, cap. 8: ,Perfectius autem dicimus quod secundum seipsum est persequibile eo quod propter alterum; et quod nunquam propter aliud eligibile, his quae secundum seipsa et propter hoc eligibilibus. Et simpliciter utique perfectum quod secundum seipsum eligibile semper et nunquam propter aliud.‘“ 24 Urban, Theological Ethics, 342. Vgl. Wood, Göttliches Gebot, 44. 25 Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 16 (OTh VII 352,5–10). Dieses Beispiel ist umstritten. Für manche ist es der ultimative Beweis für das Willkürsystem, das Ockham errichtet habe. Andere verweisen darauf, dass es nur einmal zu Beginn von Ockhams akademischer Karriere niedergeschrieben worden ist und später in den Quodlibeta septem nur noch in differenzierter und abgeschwächter Form auftaucht. Da das Beispiel selbst an späterer Stelle noch ein-

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

ihn hassen solle, zugleich aber das schlechthin tugendhafte Gebot die Gottesliebe fordere, bedeute dies, so McCord Adams, den „breakdown of Ockham’s ideal of the moral life as one in which at the highest degrees of virtue agents freely commit themselves to do whatever right reason dictates for right reason’s sake or whatever God commands for God’s sake, or both, and do so to a heroic degree at the cost of advantage or life.“ 26

Clark und Schröcker haben versucht, die jeweiligen Aussprüche Ockhams miteinander in Beziehung zu setzen und davon gesprochen, dass diese durchaus miteinander harmonieren würden. Während die principia per se nota formal die ethischen Normen abstecken würden, würden diese durch die göttlichen Anordnungen gefüllt. 27 Eine eigene Position soll in dieser Arbeit mit dem konkreten Fokus auf das göttliche Vermögen zum Bösen erarbeitet werden. Dazu muss im Folgenden ein intensiver Blick auf den Begriff der göttlichen Freiheit gerichtet werden. An dieser Stelle kann lediglich festgehalten werden, dass die Ethik Ockhams umstritten ist. Der Mensch vermag es nach Ockham, aufgrund seiner Vernunftbegabung, seiner Willensfreiheit und der Existenz von Gesetzen, sich zu diesen Gesetzen zu verhalten und damit normativ qualifizierbare Handlungen zu vollziehen. Dabei unterschied Ockham zwischen positiven menschlichen Gesetzen, göttlichen Gesetzen und principia per se nota. In welchem Verhältnis insbesondere die Gesetze Gottes und die allgemein, aufgrund der menschlichen Vernunftbegabung einsehbaren Gesetze zueinanderstehen; ob sie letztlich alle Gottes Willen unterliegen, ob Gott im Gegenteil den Prinzipien der Vernunft untersteht, oder ob Gott und die principia per se nota in ein fruchtbares Wechselverhältnis zueinander gebracht werden können, ist in der Forschung bis heute Kern der Diskussionen. Die entscheidende Frage, um das Problem zu lösen, lautet, inwieweit sich Ockham von der aristotelischen Interpretation entfernte und stattdessen das göttliche Freiheitsvermögen als Argument in der Debatte zu stärken gedachte. Als Überleitung zum Gegenstand des göttlichen Freiheitsvermögen eignet sich ein vorerst letzter Blick auf die menschliche Freiheit, genauer auf das Vermögen des Papstes. Im sechsten Quodlibet nimmt Ockham den Papst insofern aus dem Gehorsam gegenüber positiven Geset-

mal diskutiert wird, wird an dieser Stelle nur auf die Forschungskontroverse verwiesen. Vgl. Freppert, The Basis of Morality, 124 f., Schröcker, Verhältnis, 115; Wood, Gebot, 51, die die Meinung vertreten, dass dieser frühen, singulären Äußerung Ockhams nicht zu viel Gewicht beigemessen werden dürfe, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Ockham sie später nicht wieder aufgegriffen habe. Clark, Voluntarism, 78 f. und McCord Adams, Ockham on Will, 266, erkennen in der Aufforderung zum Gotteshass die Reichweite der göttlichen Allmacht. 26 McCord Adams, Ockham on Will, 266. 27 Vgl. Clark, Voluntarism, 85. Schröcker, Verhältnis, 98, schließt sich dieser Gangart an.

3.2. Die Ethik Wilhelms von Ockham und ein Forschungsüberblick

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zen aus, als er schreibt: „Ebenso kann ja der Papst nach den von ihm angeordneten Rechten manches nicht, was er gleichwohl absolut kann.“ 28 Bemerkenswert hieran ist zweierlei. Zum einen wird der Papst mit Machtbefugnissen ausgestattet dargestellt, die es ihm erlauben, über den Gesetzen zu stehen. Zum anderen fällt die begriffliche Differenzierung zwischen absoluten Machtmöglichkeiten und jenen, die sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegen, auf. Noch interessanter ist dies allerdings, wenn man die Sätze betrachtet, die der Beschreibung der päpstlichen Machtfülle vorausgehen. So heißt es dort: „Vielmehr ist diese Unterscheidung so zu verstehen, daß ,etwas können’ manchmal im Blick auf die von Gott angeordneten und erlassenen Gesetze verstanden wird. Dann wird gesagt, Gott könne das gemäß der anordnungsgemäßen Macht tun. Anders wird ,können‘ in folgendem Sinne verstanden: als ,alles machen können‘, was nicht impliziert, daß ein Widerspruch entstünde – unabhängig davon, ob Gott angeordnet hat, daß er dies tun werde oder nicht. Denn Gott kann, gemäß dem Sentenzenmeister, Buch 1, Distinctio 43, vieles machen, was er jedoch nicht machen will.“ 29

Nicht nur wird die göttliche Macht mit der Macht des Papstes exemplifiziert, sondern auch die Macht Gottes wird begrifflich unterschieden zwischen einer potentia ordinata und einer potentia absoluta. Zwar ist umstritten, wann genau Ockham seine Quodlibeta septem verfasst hat, ob noch in seiner Zeit als Ausbilder am Franziskanerkonvent in London von circa 1320 bis 1324, wohin er nach seiner Studienzeit an der jungen, aufstrebenden Universität Oxford ging, 30 oder bereits in Avignon, wo er von 1324 bis 1328 auf ein Urteil im gegen ihn angestoßenen Häresieprozess wartete. 31 Gleichwohl steht fest, dass er die Schrift und die darin enthaltene positive Sichtweise des Papstes noch vor der Eskalation der Streitigkeiten über das franziskanische Armutsverständnis formulierte, in dessen Zuge er an der Seite des Ordensgenerals Michael von Cesena aus Avignon floh, exkommuniziert wurde und bei dem frisch zum Kaiser gekrönten aber ebenfalls exkommunizierten Ludwig 28 Zit. n. Ockham, Texte, 69; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,29–30): „Sicut Papa aliqua non potest secundum iura statuta ab eo, quae tamen absolute potest.“ 29 Zit. n. Ockham, Texte, 69; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,22–29): „Sed est sic intelligenda quod ,posse aliquid’ quandoque accipitur secundum leges ordinatas et institutas a Deo, et illa dicitur Deus posse facere de potentia ordinata. Aliter accipitur ,posse’ pro posse facere omne illud quod non includit contradictionem fieri, sive Deus ordinaverit se hoc facturum sive non, quia multa potest Deus facere quae non vult facere, secundum Magistrum Sententiarum, lib. I, d. 43; et illa dicitur Deus posse de potentia absoluta.“ 30 Umstritten ist ebenfalls, wieso er die Universität frühzeitig verließ, worauf sein späterer Titel ,Venerabilis inceptor‘ hinweist. Der Titel des ehrwürdigen Beginners weist darauf hin, dass er nie die offizielle Lehrerlaubnis erhalten hat und somit kein ,magister actu regens‘ wurde. Möglicherweise spielte hier bereits der Konflikt mit dem seit 1317 amtierenden Universitätskanzler Lutterell eine Rolle, der 1323 vom König die Erlaubnis erhielt, mit einer Anklageschrift gegen Ockham nach Avignon zum Papst zu reisen. Vgl. Beckmann, Ockham, 19– 24; Leppin, Ockham, 105–111. 31 Vgl. zur Diskussion Leppin, Ockham, 139–144.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

,dem Bayer‘ in München Unterschlupf fand, wo Ockham 1347 verstarb. 32 In München schrieb er hauptsächlich kirchenpolitische Schriften, wobei er seine Theologie und Philosophie immer wieder einflocht, und äußerte sich nicht nur kritisch über die seiner Meinung nach häretischen Päpste Johannes XXII. und Benedikt XII., sondern auch über die grundsätzliche Stellung des Papstamtes innerhalb der Kirche und der Welt. 33 Um die begriffliche Differenzierung der potentia Dei zu verstehen, sind im Folgenden zwei Schritte notwendig. Zum einen wird eine Einordnung der Person Wilhelms von Ockham und seiner Positionen in den historischen Hintergrund und die Streitigkeiten seiner Zeit vollzogen. Dabei gilt es zu beachten, von welchen Gedanken er sich abzugrenzen versuchte und welche Meinungen er zu widerlegen gedachte. Zum anderen soll eine Genealogie des Begriffs ,potentia absoluta‘ erfolgen. Denn erst wenn sowohl die Person als auch die Begriffskonstruktionen historisch verordnet sind, ist ein weiterführendes Verstehen möglich. Daran anschließend kann eine Werkanalyse erfolgen, welche den systematischen Gehalt der potentia Dei-Termini erschließt.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham Ockham wurde oft als Schüler des Johannes Duns Scotus (ca. 1266–1308) an der Universität Oxford verstanden. Mittlerweile konnte nachgewiesen werden, dass Duns Scotus Oxford verließ, bevor Ockham dort sein Studium aufnahm. 34 Nichtsdestotrotz hatten Duns Scotus’ Schriften insbesondere in Oxford einen großen Einfluss auf die Studenten, die um 1300 dort studierten. Der aus Schottland stammende Theologe hatte in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie, wie sie 1277 in ihrer von griechischen und arabischen Kommentatoren modifizierten Art in Paris verurteilt worden war, die Grenzen der Übertragbarkeit des nezessitaristischen Weltbildes auf das christliche personale Gottesbild der Bibel aufgezeigt, ohne dabei die Philosophie als solche zu negieren. Im Gegenteil suchte er gerade mithilfe der Philosophie Argumente für seine eigene Position zu finden. Diesem 32 Vgl. Leppin, Ockham, 181–192. Zur Diskussion um den lange Zeit umstrittenen Todeszeitpunkt Ockhams vgl. G´al, 1347. 33 Seine wichtigsten politische Schriften sind das Opus nonaginta dierum (Vgl. Ockham, Nonaginta), der Dialogus (Vgl. Ockham Dialogus. Die kritische Edition ist im Entstehen begriffen und online einsehbar), die Traktate Contra Ioannem (Vgl. Ockham, Contra Ioannem) und Contra Benedictum (Vgl. Ockham, Contra Benedictum) sowie seine Breviloquium de potestate papae (Vgl. Ockham, Breviloquium). Vgl. zu diesen Werken Leppin, Ockham, 205–263. 34 Vgl. Leppin, Ockham, 24 f.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Weg schloss sich der junge englische Franziskanermönch Wilhelm von Ockham an. 35 Seine differente Schwerpunktsetzung mit einem elaborierten Fokus auf Logik und Sprachphilosophie führte dazu, dass er im 20. Jahrhundert lange Zeit hauptsächlich als Vorläufer Analytischer Philosophie interpretiert wurde. 36 Mittlerweile wird zunehmend das religionsphilosophische Potential Ockhams wertgeschätzt und für eine solche Perspektive wird er im Folgenden herangezogen. 37 Wilhelm von Ockham vertrat ein personales Gottesbild. Das Ziel der Theologie Ockhams bestand im Anschluss an Duns Scotus darin, aufzuzeigen, dass der mit Vernunft und Willen ausgestattete Gott ad extra frei sei, kontingente Handlungen zu vollziehen, und er die Welt nicht aus Notwendigkeit, sondern aus einem freien Willensentschluss heraus geschaffen habe. Um diesen Problemkomplex zu verstehen, ist ein kurzer Überblick über die Rezeption von Platonismus und Aristotelismus im Mittelalter sinnvoll.

3.3.1. I. Voraussetzung: Wider den Nezessitarismus 3.3.1.1. Die Pariser Lehrverurteilung von 1277 Wilhelm von Ockham gehörte zu Beginn des 14. Jahrhunderts einer Generation von Studenten an, die sich intensiv mit den Folgen der Pariser Lehrverurteilungen von 1277 auseinandersetzte. Der Bischof von Paris, Stephan Tempier, hatte noch einmal versucht, die Autonomie der artes-Fakultät, in der Philosophie gelehrt und dabei hauptsächlich Aristoteles gelesen wurde, einzuschränken und ihr den Platz als ,Magd der Theologie‘ zuzuweisen. Konkret verurteilte Tempier in 219 Thesen Theorien, die mit der christlichen Weltdeutung nicht vereinbar schienen. So richtete er sich beispielsweise gegen den Gedanken, es habe nie einen ersten Menschen gegeben, sondern der Zyklus der Fortpflanzung finde in und von Ewigkeit her statt. 38 Die gleiche Stoßrichtung verfolgt er in These 21, wo geschrieben steht: „Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus Notwendigkeit. Und alles Zukünftige, das sein wird, wird aus Notwendigkeit sein. Alles, was nicht sein wird, kann unmöglich sein. Blickt man auf alle Ursachen, geschieht nichts kontingenterweise – Dies ist ein Irrtum, weil das Zu-

35 Vgl. zu seiner Lektüre der Schriften des Johannes Duns Scotus Courtenay, Academic. 36 Vgl. Beckmann, Ockham, 186–191, der selbst einen hauptsächlich philosophischen Zugang wählt und dabei theologische Rezeptionen Ockhams in den letzten Jahrzehnten ausblendet. 37 Für eine religionsphilosophische Perspektive auf Ockham vgl. Bannach, Macht Gottes; Courtenay, Capacity; Goldstein, Nominalismus; Leppin, Ockham, 280–287; Meier, Ich glaube; Schröcker, Verhältnis. Die Theologie Ockhams wurde tiefschürfend untersucht von Leppin, Geglaubte Wahrheit. 38 Vgl. Flasch, Aufklärung, 106, These 9: „Quod non fuit primus homo, nec erit ultimus, immo semper fuit et semper erit generatio hominis ex homine.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta sammenspiel der Ursachen den Zufall ausmacht, wie Boethius im Buch Über den Trost der Philosophie sagt.“ 39

Zwar hatte auch Aristoteles keinen strikten Naturdeterminismus gelehrt, aber der arabische Gelehrte Avicenna (ca. 980–1037) hatte dessen Kosmologie deterministisch fortentwickelt und stand damit dem christlichen Schöpfungsglauben diametral gegenüber. Nicht ein freier, personaler Gott, wie er in den Schöpfungsgeschichten des Genesis-Buches gezeichnet worden war, habe demnach die Welt geschaffen, sondern die Welt müsse als Produkt eines notwendig sich vollziehenden Emanationsprozesses verstanden werden, der sich vom höchsten, absoluten Sein anteilig abstufend entwickle. 40 Die Idee eines allmächtigen Gottes, der die Welt in Freiheit erschaffen habe, ließ sich weder mit dem Gedanken der notwendigen Ewigkeit der Welt noch mit dem der Ewigkeit der Menschen verbinden. In diesem Sinne positionierte sich der Bischof auch mit den Thesen 34 und 53 klar für eine Handlungsfreiheit Gottes, indem sie sich gegen die Annahme richteten, dass Gott notwendigerweise die eine existierende Welt in ihrem Da- und So-Sein geschaffen habe. 41 Mit der Lehrverurteilung von 1277 wurde somit ein scharfer Kontrast zwischen christlicher Weltanschauung und Aristotelismus etabliert, der eine gedankliche Synthese, wie sie noch Thomas von Aquin versucht hatte, nicht mehr zuließ. Das bedeutet nicht, dass sich nun Fideismus und Philosophie gegenübergestanden hätten, wie beispielsweise der Verweis von Tempier auf Boethius in Ablehnung eines Nezessitarismus zeigt: „Dies ist ein Irrtum, weil das Zusammenspiel der Ursachen den Zufall ausmacht, wie Boethius im Buch Über den Trost der Philosophie sagt.“ 42 Der Bischof glaubte sich im Besitz der Wahrheit und unterfütterte seine Argumente dabei mit Boethius. Er versuchte aufzuzeigen, dass auch aus philosophischer Perspektive das Christentum dem ,heidnischen‘ Gedankengut überlegen sei. Diese Argumentation war dabei nicht neu. Bereits in der Spätantike hatten christliche Autoren versucht, ihre Religion anhand von rationalen Argumenten insbesondere bei den intellektuellen Eliten attraktiv zu machen. Wie der Verweis von Tempier exemplarisch zeigt, wurde Boethius (480–524) mit seiner Melange aus neuplatoni-

39 Flasch, Aufklärung, 117, These 21: „Quod nichil fit a casu, sed omnia de necessitate eveniunt, et, quod omnia futura, que erunt, de necessitate erunt, et que non erunt, impossibile est esse, et quod nichil fit contingenter, considerando omnes causas. – Error, quia concursus causarum est de diffinitione casualis, ut dicit Boethius libro de Consolatione.“ 40 Vgl. Flasch, Einführung, 276–281. 41 Vgl. Flasch, Aufklärung, 131, These 34: „Quod prima causa non posset plures mundos facere.“ und 152, These 53: „Quod Deum necesse est facere, quicquid inmediate fit ab ipso. – Error, sive intelligatur de necessitate coactionis, quia tollit libertatem, sive de necessitate inmutabilitatis, quia ponit impotentiam aliter faciendi.“ 42 Flasch, Aufklärung, 117, These 21: „Error, quia concursus causarum est de diffinitione casualis, ut dicit Boethius libro de Consolatione.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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schen und aristotelischen Argumenten für diese Verbindung einer der Hauptgewährsmänner christlicher Theologie im Mittelalter. 43 Dieses Spannungsfeld verschärfte sich im 12. und 13. Jahrhundert noch aus zwei weiteren Gründen. Zum einen entstanden im Kontext der Urbanisierung an verschiedenen Orten in Europa Universitäten. Einem Studium der Jurisprudenz, der Theologie oder der Medizin ging dabei stets ein Studium der Philosophie an der ,Artisten‘-Fakultät voran. Zwar hatte die Philosophie dadurch nur die Position einer Art Grundlagenstudium inne, zugleich aber konnte keines der anderen Fächer mehr ohne die Perspektive der Philosophie unterrichtet werden. Angesichts der potenzierten Aristoteles-Rezeption seit dem 13. Jahrhundert – 1240 waren seine Schriften erstmals vollständig ins Lateinische übersetzt worden – bestand das sechsjährige Studium der artes zunehmend aus Aristoteles. Lange Zeit hatte man lediglich Kenntnis der von Boethius übersetzten logischen Schriften des Aristoteles gehabt. Durch den mit den Kreuzzügen einhergehenden Kulturtransfer kam es aber zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert insbesondere auf lateinischer Seite zu einem außerordentlichen Wissenszuwachs. Im arabischen Raum konnten vor allem durch die Eroberung Persiens und Ägyptens große Wissensbestände erschlossen und übersetzt werden. So existierten dort bereits in der Mitte des 10. Jahrhunderts nicht nur große Bibliotheken medizinischen Wissens, sondern auch alle aristotelischen Texte sowie zahlreiche Kommentare auf Arabisch. Aristoteles’ Werk stieß in der aufstrebenden lateinischen Welt des 13. Jahrhunderts auf großes Interesse. Seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse waren bei Ärzten wie Seefahrern gefragt und boten einen größeren Antworthorizont als das enge augustinische Weltbild. Vorlesungen über Aristoteles’ Naturphilosophie und Metaphysik sind erstmals an der Pariser ,Artisten‘-Fakultät zu Beginn des 13. Jahrhunderts greifbar, wo es 1210 und 1215 auch bereits zu den ersten Lehrverboten kam. Denn schnell wurden die Konfliktpotentiale sichtbar zwischen einer auf der Bibel basierenden Weltdeutung und den auf der antiken griechischen Philosophie beruhenden Weltanschauungen. 44 Es ging daher in der Folge an den Universitäten darum, aus philosophischer Perspektive die Stärke der christlichen Theologie aufzuzeigen. Im Vordergrund stand nun weniger die (Re-)Konvertierung von Juden und Muslimen durch apologetische Schriften, wie sich noch im 13. Jahrhundert angesichts der Kreuzzüge und der Reconquista relevant schien, was in Schriften wie der Summe gegen die Heiden 45 von Thomas von Aquin sichtbar wird. Stattdessen ging es um eine argumentative Stärkung eines christlichen Weltbildes mithilfe der Philosophie. 46 43 Vgl. zur Rezeption von Boethius im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Glei/Kaminski/ Lebsanft, Boethius Christianus. 44 Vgl. Flasch, Einführung, 255–267. 45 Vgl. Thomas, ScG. 46 Vgl. Courtenay, Nominalism, 58.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Dass die Ereignisse von 1277, die zwar nur für Paris galten, gleichwohl an weiteren Universitäten Wirkung zeigten, darf angenommen werden, wenn man die zentrale Stellung der Universität von Paris bedenkt, die diese in den Bereichen Philosophie und Theologie im lateinischen Europa des Hochmittelalters besaß. Jahrzehntelang sandten insbesondere die seit dem 13. Jahrhundert aufstrebenden Orden der Dominikaner und der Franziskaner ihren Nachwuchs nach Paris. 47 Von dort wiederum gab es zahlreiche persönliche Verbindungen zu Ordensniederlassungen wie Köln oder Oxford. Die ebenfalls im 12. Jahrhundert entstandene Universität Oxford, die gegenüber Paris den Vorteil besaß, dass sie unabhängiger vom Bischof agieren konnte, da dieser nicht vor Ort weilte, und deshalb freier Aristoteles diskutieren konnte, orientierte sich lange ausschließlich an den Debatten in Paris. Erst gegen Anfang des 14. Jahrhundert kam es zu einer Emanzipation gegenüber dem Kontinent, die noch nicht vollständig erklärt werden konnte. Jedoch steht zu vermuten, dass der 13 Jahre lang in Oxford lernende und lehrende Pariser Magister Johannes Duns Scotus, der mit seiner Lehre die Oxforder Debatten inhaltlich dominierte, dazu beitrug. 48 Die Generation des jungen Wilhelm von Ockham ging nicht mehr nach Paris, sondern wurde direkt nach Oxford geschickt und setzte sich dort mit dem Aristotelismus und der Replik des Duns Scotus auseinander. 3.3.1.2. Platonismus und Aristotelismus im lateinischen Mittelalter Dass der Bischof von Paris sich sieben Jahre, nachdem er schon einmal einige aristotelische Lehrmeinungen verurteilt hatte, bemüßigt fühlte, 1277 weitere 219 Thesen als Häresie auszuweisen, veranschaulicht, welchen Rang Aristoteles im 13. Jahrhundert an den Universitäten eingenommen hatte. Da jedoch die Quellenkritik noch nicht die Ausprägung erfahren hatte, wie sie aus dem Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts bekannt ist, erfolgte sowohl die Rezeption im arabischen wie auch im lateinisch-christlichen Raum meist in Form einer Synthese von platonischen, neuplatonischen und aristotelischen Texten. Um die Konflikte verstehen zu können, welche sich an den theologischen Fakultäten abspielten und in die auch Wilhelm von Ockham durch seine Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus eingriff, ist eine kurze Skizze der für diesen Kontext wichtigsten Passagen des Platonismus und Aristotelismus vonnöten. Auch Schellings und Krings’ Schriften werden vor diesem Hintergrund besser verständlich. 3.3.1.2.1. Antike Quellen Aus dem Konglomerat der Texte Platons erzielte in der lateinischen Christenheit bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts hinein insbesondere der Timaios 49 eine große 47 Vgl. Flasch, Einführung, 152–254. 48 Vgl. Leppin, Ockham, 25. 49 Vgl. Platon, Timaios.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Wirkung. 50 Hierin entwarf Platon einen dualistischen Mythos der Weltentstehung. Der aus Notwendigkeit existierenden Materie stellte er den guten Schöpfergott gegenüber, der aus dem sich ihm bietenden Material das Bestmögliche geschaffen habe. „Alles dies also, wie es damals in dieser Weise aus Notwendigkeit zu seiner Natur gekommen ist, nahm der Erschaffer des Schönsten und Besten, als er den sich selbst genügenden und vollkommensten Gott (den Kosmos) erzeugte, indem er sich als Helfer dafür zwar der Ursachen bediente, selbst aber in allem Werdenden als der gute Baumeister fungierte. Deshalb muss man ja zwei Arten von Ursachen deutlich trennen, das Notwendige und das Göttliche“. 51

Orientierung erhält der Demiurg nach Platon durch das Reich der Ideen. Die Welt sowie alle sich auf ihr befindenden endlichen Wesen, beispielsweise der Mensch, seien Abbild eines perfekten Urbildes. So, wie es ein objektiv absolut Gutes gebe, existiere ein vollkommen schönes und perfektes Urbild jeder endlichen, defizitären Erscheinung. 52 Diese dem Demiurgen offenbaren Ideen habe er mittels der vorgegebenen Materie in der kosmologischen Ordnung bestmöglich umgesetzt. Damit ist zugleich die Basis einer Theodizee geschaffen, die eine breite Rezeption beispielsweise in den dualistischen Weltanschauungen der gnostischen Strömungen erfuhr. Die Attraktivität dieses Dualismus machten sie zeitweise zu einer der größten Konkurrentinnen des jungen Christentums, was sich in der Biographie des Augustinus wie in einem Brennglas widerspiegelt. 53 Denn wenn es eine aus Notwendigkeit existierende Materie gibt, lässt sich die Frage ,Unde malum?‘ scheinbar einfach beantworten und postulieren, „dass die Gottheit nicht von allem Ursache ist, sondern nur von dem Guten.“ 54 50 Vgl. Schäfer, Die Schlange, 122. Abgesehen von der direkten Rezeption der Timaios-Schrift in der christlichen Theologie und ihrer indirekten Tradierung über neuplatonische Schriften lohnt es sich, auch auf weniger bekannte, aber umso bemerkenswertere Rezeptionslinien hinzuweisen. So können als eine der frühesten Exemplare einer Synthese von biblischen und platonischen Texten die Versuche Philons von Alexandrien (ca. 15 v. Chr.–40 n. Chr.) gelten. Vgl. hierzu Schäfer, Die Schlange, 177–215. Dieser resümiert: „Philon wollte die biblische Schöpfungstheologie im Lichte der platonischen Ideenlehre neu verstehen und für ein gebildetes Publikum zugänglich machen. Auch er geriet dadurch in Widersprüche zu seiner biblischen Grundlage, die sich in wichtigen Punkten seiner philosophischen Prämissen entzog. Platons Timaios sollte seine größten Erfolge später in einem christlich geprägten Umfeld feiern. Philon sollte im Judentum verdrängt und vergessen werden [...], während seine philosophische Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts im Lichte des Timaios ebenfalls in der christlichen Theologie überlebte.“ (215) 51 Platon, Timaios, 68e. 52 Vgl. Platon, Timaios, 52a–c. Die Literatur zur Rezeption der platonischen Ideenlehre ist mittlerweile genauso zahlreich und vielfältig wie die Wirkungsgeschichte selbst. Vgl. für einen Überblick Horn/Müller/Söder, Platon-Handbuch, 400–544. 53 Vgl. zur Biographie des Augustinus und dessen Auseinandersetzung mit dem Manichäismus Flasch, Augustin. 54 Platon, Politeia, 380d. Vgl. zu Platons Umgang mit dem Begriff des Bösen Brisson, Evil; Cherniss, Sources; Jantzen, Problem.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Gleichwohl entwarf bereits Platon selbst Alternativen zu diesem Dualismus des Timaios. Ob er selbst mit den offenbleibenden Fragen eines solchen Konzeptes haderte, lässt sich nicht mehr nachweisen. Sein Ringen um eine systematische Erklärung der Weltentstehung, die zugleich eine Genealogie des Bösen enthält, lässt sich mit dem zehnten Buch der Nomoi veranschaulichen. Dort kontrastiert er die notwendige Ewigkeit der Materie mit der Aussage „daß uns die Seele früher als der Körper entstanden sei“. 55 Die Annahme, dass Materie immer bereits existiere, verabschiedet Platon somit. Dadurch taucht folgerichtig wieder die Frage auf, wie es denn nun mit dem Bösen zu halten sei und Platon führt aus, „daß die Seele die Ursache des Guten und Schlechten, des Schönen und Häßlichen, des Gerechten und Ungerechten, und alles so sich Entgegenstehenden sei“. 56 Der bestimmte Artikel lässt darauf schließen, dass Platon eine monistische Welterklärung einem etwaig ausgestalten Dualismus vorzieht. Allein eine Ursache ist für jegliche Gegensätze verantwortlich zu machen. Seine Rezeption wäre vermutlich deutlich weniger kontrovers verlaufen, wenn er nicht bereits wenige Zeilen später diesen Monismus wieder in Frage gestellt hätte. Er geht, nachdem er den Vorrang der Seele gegenüber der Materie erklärt hat, noch einmal auf die Anzahl der Seelen ein, welche ursprünglich anzusetzen seien: „Eine oder mehrere? Mehrere, will ich statt eurer erwidern. Weniger als zwei dürfen wir wohl nicht annehmen, eine wohltätige und eine das Gegenteil zu bewirken vermögende.“ 57 Diese sich widersprechenden und unsystematisch bleibenden Ansätze Platons führten im Laufe der Philosophiegeschichte zu zahlreichen Interpretationen, Rezeptionen und Kritiken. Davon werden im Folgenden für die christliche Rezeption zentrale Theorien kurz angeführt. Sein Schüler Aristoteles (384–322) war sein wohl wirkmächtigster Rezipient und Kritiker. Er erfuhr insbesondere mit seiner Lehre eines unbewegten Bewegers durch die Integration in die neuplatonische Systematik Plotins und dann besonders durch das Interesse an einer umfassenden Welterklärung im lateinischen Hochmittelalter eine breite Rezeption. Der Gründer des Neuplatonismus, Plotin (ca. 204–269), wurde für die christliche Platon-Rezeption der lateinischen Welt durch seine Prägung der Werke von Augustinus und Pseudo-Dionysius Areopagita (5./6. Jahrhundert) wichtig. Der Großteil der Werke von Platon und Aristoteles wurde aber erst durch die Übersetzung aus dem arabischen Sprachraum seit dem 13. Jahrhundert in der lateinischen Welt bekannt. Aristoteles wird fälschlicherweise dem vermeintlichen Idealisten Platon oftmals als Realist entgegengestellt. An dieser Stelle sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten nur im Kontext der Kosmologie thematisiert werden. Mit der spekulativen Lehre Platons über die Weltentstehung setzte sich Aristoteles in seiner Metaphysik kritisch auseinander. Dabei verwirft er nicht nur das platonische Gottesbild eines 55 Platon, Nomoi, 896c. 56 Platon, Nomoi, 896d. 57 Platon, Nomoi, 896e.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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personalen Demiurgen, sondern wählt auch eine andere Herangehensweise. Er möchte „zeigen, daß es notwendig eine ewige unbewegte Wesenheit geben muß. Denn die Wesenheiten sind von dem Seienden das Erste, und wenn alle vergänglich sind, so ist alles vergänglich. Unmöglich aber kann die Bewegung (k´ınesis) entstehen oder vergehen; denn sie war immer. Ebensowenig die Zeit (chr´onos); denn das Früher und Später ist selbst nicht möglich, wenn es keine Zeit gibt.“ 58

Von den irdischen Bewegungen ausgehend und diesen Bereich der Physik übersteigend, soll eine Meta-Physik eine spekulative Letztbegründung für die empirischen Einzelerkenntnisse bieten. Aristoteles geht davon aus, dass jedes Lebewesen nach einem wesensimmanenten Telos strebe. Um einen infiniten Regress zu vermeiden, etabliert Aristoteles den Gedanken eines höchsten Guts, das allen relativen Gütern vorausgehe. Diese erste Ursache denkt er als einen alles bewegenden, aber selbst unbewegten, vollkommen wirklichen und daher nicht-stofflichen, intelligiblen Geist, der auf die einzig potenzfreie, reine Tätigkeit seiende Wesenheit gerichtet sei, nämlich sich selbst. 59 Dieser unbewegte Beweger sei das „Prinzip nämlich und das Erste von allem Seienden [...] es bringt die erste, ewige und einige Bewegung hervor.“ 60 Dieser Prozess wird von Aristoteles als intelligibles „Denken des Denkens“ 61 beschrieben. Der unbewegte Beweger des Aristoteles ist aber nicht personaler Schöpfer der Welt, sondern Zweck allen Seins und dadurch Ursache. Er wird als Ziel allen Strebens verstanden, als das „Erstrebte (orekt´on), und auch das Gedachte“ sowie das „Schöne“, das „bewegt, ohne bewegt zu werden.“ 62 Denn indem alle belebten, wie auch unbelebten Dinge nach einem relativen Gut strebten, würden sie teilhaben am höchsten Gut und in letzter Konsequenz nach diesem streben. 63 Das Verständnis des Höchsten als Ziel allen Strebens wird im Verlauf dieser Arbeit bei Augustinus und Thomas von Aquin erneut auftauchen. Zugleich ist der Kontrast zum christlichen Weltbild angesichts des ewigen, notwendigen Bewegungsprozesses, der nicht als bewusster Akt eines mit Willens- und Handlungsfreiheit ausgestatteten Schöpfergottes gedacht wird, offensichtlich. Otfried Höffe hat diese Differenz treffend beschrieben: „Eine derartige Theologie heißt in der Aufklärungsepoche Deismus. Ihm zufolge ist Gott ein nichtpersönliches Wesen, das weder in den Lauf der Natur eingreift noch durch eine Offenbarung spricht. Unter dem Einfluß der Stoa, des Christentums und des Islam wird man an

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Aristoteles, Metaphysik, 1071b4–8. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1073a3–13. Aristoteles, Metaphysik, 1073a23–25. Aristoteles, Metaphysik, 1074b34. Aristoteles, Metaphysik, 1072a26, 1071a35. Vgl. Naeve, Naturteleologie bei Aristoteles, 21–107, bes. 49–53.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta Aristoteles’ Theologie zwar theistische Korrekturen vornehmen, Aristoteles selber werden sie aber nicht gerecht; bestenfalls laufen sie auf eine Replatonisierung hinaus.“ 64

Eben jene Rezeptionen von Aristoteles sind in dieser Arbeit von Belang. Denn im Mittelalter wurde Aristoteles nicht in Reinform gelesen, sondern bereits von arabischen Philosophen mit Platon und Plotin harmonisiert. 65 Plotin ist der bekannteste Vertreter des sogenannten Neuplatonismus der Spätantike. Er verstand sich selbst als strenger Interpret Platons, implementierte aber bereits aristotelische Theoreme in sein System. Insbesondere durch die Rezeption Augustinus’ und Boethius’ prägten seine Gedanken die christliche Theologie über Jahrhunderte hinweg. 66 Plotin bot hierbei mit seiner spekulativen Weiterentwicklung der Lehren Platons zahlreiche Anknüpfungspunkte. Während Platon die Frage nach dem Ursprung noch zögerlich und mehrdeutig beantwortete, entwarf sein spätantiker Interpret einen strikten Monismus. Er übernahm die platonische Begrifflichkeit des vollkommenen Guten, kennzeichnete es jedoch nicht als höchste Idee, sondern transzendierte noch den Ideenkosmos und identifizierte es mit dem absolut Einen, das Grund von allem sei. Dieses absolut Eine-Gute sei streng einfach und transzendiere jegliche Kategorien. Weder positive noch negative Aussagen würden es angemessen beschreiben. Es sei lediglich möglich, sich diesem absolut Einfachen in „übertragenem Sinne“ 67 sprachlich anzunähern. Aber selbst Beschreibungen wie ,das absolut Einfache ist‘ sind demnach in letzter Konsequenz bereits ein Zuviel an Zuschreibung, da das Eine jedes Sein transzendiere. Die Problematik, wie aus dieser differenzlosen Einheit überhaupt Vielheit entstehen können soll, glaubt Plotin mit dem Verweis auf eine vor Liebe überquellende Emanation überwunden zu haben. 68 Alles Sein geht ihm zufolge in einem linearen Abstufungsprozess aus dem vollkommenen Sein hervor, bis hin zum reinen Seinsmangel – der Materie. „Das so Entstandene aber wendete sich zu Jenem zurück und wurde von ihm befruchtet, und indem es entstand, blickte es auf Jenes hin; und das ist der GEIST. [...] Und diese aus der Wesenheit des Geistes hervorgehende Wirksamkeit ist die SEELE; sie ist das geworden indem jener beharrte, wie ja auch der Geist wurde indem das vor ihm beharrte. Die Seele dagegen schafft nun ohne zu beharren, sie zeugt vielmehr ihr Nachbild indem sie sich bewegt. [...] So läuft also dieser Prozeß vom Urgrund her bis zum Untersten hin, und jede einzelne Stufe ver-

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Höffe, Aristoteles, 159. Vgl. Schäfer, Die Schlange, 163. Vgl. zur christlichen Rezeption des Neuplatonismus Beierwaltes, Griechische Metaphysik. Hager, Plotin, 144. Vgl. Plotin, Schriften, 9, 23 f. An diesen Gedanken der nur mangelhaften Annäherung an das absolute Eine über den Weg der menschlichen Sprache knüpften später Vertreter und Vertreterinnen der christlichen Mystik wie Meister Eckhart und Theresa von Avila an. Vgl. zu einer Auseinandersetzung mit der negativen Theologie Striet, Offenbares Geheimnis. 68 Vgl. Plotin, Schriften, 11,1–3; Zum lange Zeit nicht erkannten Problem des Übergangs vgl. Mensching, Das Allgemeine, 18–39, bes. 25.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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bleibt dabei immer auf dem ihr eigenen Sitz, während das Erzeugte eine andere Stelle, und zwar eine niedrigere erhält.“ 69

Nun stellt sich auch hier die Frage nach dem Ursprung des Bösen, deren Beantwortung auf christliche Theologen wie Augustinus und Pseudo-Dionysius Areopagita großen Einfluss hatte. Als letzte Abstufung des Emanationsprozesses stelle die Materie keine Wirklichkeit, sondern reine Potentialität dar. Sie ,sei‘ ausschließlich Seinsmangel und lasse sich höheren Stufen qualitativ nicht mehr angleichen. Schwache Einzelseelen könnten nun der Versuchung unterliegen, nicht nach (geistig) Höherem zu streben, sondern sich der Materie hinzugeben. 70 Damit ist die Materie in Plotins Sichtweise Ausgangspunkt des Bösen als Privation und letzte Stufe der Seinsabfolge, das Böse selbst wird aber erst durch die versuchte Seele aktiviert. Ob hiermit wirklich eine gelungene Theodizee präsentiert wurde, wie Christian Schäfer meint, kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden, bleibt aber zumindest fragwürdig. 71 Faktisch aber übernahm der in Mailand mit dem Neuplatonismus in Kontakt kommende Augustinus diese Theorie weitestgehend und inkludierte sie in sein wirkmächtiges Verständnis des Gott-Welt-Verhältnisses. Darüber hinaus übernahm er „vom Neuplatonismus die Ausrichtung auf die Transzendenz des Absoluten, die Überzeugung vom Primat des Geistes als der eigentlichen und höchsten Wirklichkeit sowie eine geistbezogene, intellektualistische Sicht des Menschen und der Welt.“ 72 Auch wenn man nicht so weit geht und wie Arthur Whitehead die europäische Philosophiegeschichte als eine „Reihe von Fußnoten zu Platon“ 73 bezeichnen möchte, lässt sich doch zusammenfassend festhalten, dass Platon und Aristoteles einflussreiche Theorien aufstellten, die in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche philosophische und theologische Lehren prägten. Plotin hatte versucht, die beiden Systeme zu synthetisieren und damit nicht nur eine Denkmöglichkeit geboten, wie sich das Sein prozessual entwickelt haben könnte, sondern ebenfalls einen Weg für den geistbegabten Menschen aufgezeigt, sich vom Körperlichen zu lösen und intellektualistisch dem geglaubten Einen wieder anzunähern. Bereits in der Antike gab es Versuche von christlicher Seite aus, die metaphysischen Konzepte zu übernehmen. Diese Synthesen wurden für die Theologien der nachfolgenden Jahrhunderte

69 Plotin, Schriften, 11,3–6. 70 Vgl. Plotin, Schriften, 6; Schäfer, Unde malum, 156–169. 71 Vgl. Schäfer, Unde malum, 169. Für eine Erörterung des möglichen Erfolgs der plotinischen Theodizee müsste – ganz abgesehen vom geltenden kantischen Diktum, dass alle philosophischen Theodizeen aufgrund der mangelnden Einsicht der menschlichen Vernunft gescheitert sind – unter anderem das Freiheitverständnis, das Plotin innerhalb des sich mit Notwendigkeit vollziehenden Emanationsprozesses dem Menschen zuspricht, geprüft werden. 72 Halfwassen, Plotin, 165. 73 Whitehead, Prozeß und Realität, 91.

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wegweisend, auch wenn Differenzen nicht immer verdeckt werden konnten, was im Folgenden sichtbar werden wird. 3.3.1.2.2. Rezeption in der arabischen Welt Platonische, aristotelische und neuplatonische Schriften waren durch die Übersetzung syrischer, nestorianischer Christen, die am persischen Hof arbeiteten, in die persische Kultur übernommen und durch die arabischen Eroberungen im 7. Jahrhundert in das Arabische übersetzt worden. Dadurch existierten in den zahl- und umfangreichen Bibliotheken der arabischen Welt in der Mitte des 10. Jahrhunderts neben Schriften von Hippokrates und Galen auch philosophische Texte, unter anderen das gesamte Werk von Aristoteles. 74 Inspiriert von dem neuplatonischen Aristoteleskommentar des Al-Farabi (gest. 950) versuchte sich der Arzt Avicenna an einer auf Aristoteles basierenden Metaphysik. Avicenna beeinflusste damit die Geschichte des Aristotelismus für Jahrhunderte, setzten sich doch nicht nur arabische Philosophen wie Averroes mit ihm auseinander, sondern auch christliche Theologen wie Thomas von Aquin. Avicenna orientiert sich an der neuplatonisch-aristotelischen Seinsgenealogie und setzt das schlechthin Notwendige an erste Stelle. 75 Dieses als Gott kennzeichnend, nimmt er an, dass dem obersten Sein außerdem Attribute wie das vollkommen Gute und zugleich das vollkommen einfache Eine zuzuschreiben seien. Das Eine erkenne notwendigerweise sich selbst und zugleich alle jene Entitäten, die aus ihm hinausflössen, nicht jedoch in ihrer individuellen Bestimmtheit, sondern in der ihnen zugrundeliegenden ideellen Allgemeinheit. 76 Es erkenne sich also als Prinzip alles Seienden. Nun bleibe das Eine auch in der Selbstreflexion vollkommene Identität, bringe aber in Ewigkeit eine erste Intelligenz hervor. Diese Intelligenz wiederum enthalte in sich die vollständige Schöpfungsordnung und bringe nun die zweite Intelligenz hervor, die dann selbst wiederum Ursache der nachfolgenden Stufe sei. 77 Bereits Avicenna ringt mit der Frage, inwiefern Gott und erste Intelligenz zu unterscheiden seien, beziehungsweise wie das Hervorgehen der ersten Intelligenz aus Gott zu erklären sei, und schon er scheitert in letzter Konsequenz an einer Erklärung. 78 In seiner Antwort unterscheidet er zwischen der essentia und der 74 Vgl. Flasch, Einführung, 263 f. Zur Rolle syrischer Christen in der Rezeption griechischer Philosophie vgl. Brock, Syriac Translation; Bruns, Aristoteles-Rezeption; Strohmaier, Griechische Philosophen, bes. 165–174. 75 Vgl. zum Notwendigkeitsbegriff von Avicenna Benevich, Essentialität. 76 Vgl. Avicenna, Metaphysik VIII, cap. 6. 77 Vgl. Avicenna, Metaphysik VIII, cap. 7. 78 Die Diskussionen von Einheit und Differenz in der gegenwärtigen deutschsprachigen katholischen Theologie, die sich in Themenkomplexen wie der Theismus–Panentheismus-Debatte, jener über Kompatibilismus und Inkompatibilismus, oder auch jener über den Ursprung von Selbstbewusstsein widerspiegeln, ähneln diesen Problemstellungen in frappierender Weise. Vgl. zur gegenwärtigen Debatte Kapitel 1.1.1.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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existentia von Dingen. Während die Washeit der Entitäten immer bereits notwendig von Gott erkannt würde, bedeute dies nicht, dass sie auch immer bereits gleich ewig mit Gott existiere. Hierfür brauche Gott erst die aus ihm unmittelbar emanierende Intelligenz, die zwar gleich ewig, aber auf logischer Ebene von ihm abhängig und somit später sei. 79 Damit entwickelt Avicenna eine Metaphysik, die in neuplatonischer Manier und entsprechenden Begrifflichkeiten wie jener der Emanation einen intelligiblen Prozess der Kosmologie darbietet. Dabei wird zwar ein Begriff von Gott als dem schlechthinnigen Sein gesetzt, jedoch nicht ein personales Wesen mit freien Handlungsmöglichkeiten gedacht. Einen freien Willen, verstanden als Selbstgesetzgebung unter der Prämisse von Wahlmöglichkeiten, kennt diese Theorie nicht. Der freie göttliche Wille besteht hier nur als Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen. Erkenntnis- und Emanationsprozess vollziehen sich mit strikter Notwendigkeit. Bereits Klaus Bannach hat darauf hingewiesen, dass neben Avicenna auch zahlreiche christliche Scholastiker auf (neu-)platonische Deutungsmuster zurückgriffen, wenn es galt, die Weltentstehung zu erklären, da Aristoteles keine „eigentliche Kosmogonie“ entwickelt hatte. 80 Avicennas Wirkungsgrad für das christliche Mittelalter lässt sich an den Thesen von 1277 veranschaulichen. Exemplarisch seien die Thesen 43, 44 und 53 genannt. In den beiden erstgenannten Thesen wird die Lehre verurteilt, dass aus Gott keine Vielheit hervorgehen könne ohne die Vermittlung einer anderen Ursache. 81 Das zielt auf den Gedanken Avicennas, dass aus dem absolut einfachen Einen nur eines hervorgehen könne und erst aus diesem dann weiteres. In der 53. These wird der Nezessitarismus angegriffen, der zum Glauben führe, dass „[a]lles, was unmittelbar von Gott bewirkt wird, [...] er mit Notwendigkeit tun“ müsse. 82 Doch nicht nur Avicenna stand im Hintergrund der Pariser Lehrverurteilung. Auch der Philosoph Averroes, der im 12. Jahrhundert im muslimischen Teil der iberischen Halbinsel lebte und wirkte, wurde mit seinen Thesen verurteilt. Er galt als strenger Kommentator des Aristoteles und war deutlich schwerer in den christlichen Glauben zu integrieren als Avicenna, den er aufgrund seiner neuplatonischen Färbung des Aristoteles scharf attackierte. Er kritisierte wie sein persischer Vorgänger einen freien, personalen Schöpfergott, und sprach sich stattdessen für die Ewigkeit der Welt aus. Außerdem behauptete er, der menschliche Intellekt erkenne nur das Allgemeine, welches das Wesen des Individuums sei. Auch gebe es nur eine ein79 Vgl. Bannach, Macht Gottes, 102. 80 Bannach, Macht Gottes, 55. 81 Vgl. Flasch, Aufklärung, 142, These 43: „Quod primum principium non potest esse causa diversorum factorum hic inferius, nisi mediantibus aliis causis, eo quod nullum transmutans diversimode transmutat, nisi transmutatum.“ und 143, These 44: „Quod ab uno primo agente non potest esse multitudo effectuum.“ 82 Flasch, Aufklärung, 152, These 53: „Quod Deum necesse est facere, quicquid inmediate fit ab ipso.“

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zige Substanz. Dieser allein könne man Sein zusprechen, alles andere stelle lediglich Akzidentien dar, ohne eigenen ontologischen Status. Diese Betonung des Allgemeinen stieß insbesondere dort auf Kritik, wo man die Unsterblichkeit der einzelnen Seele angegriffen sah, ließ der Gedanke des einen allgemeinen, ewigen Intellekts doch scheinbar eine solche nicht zu. 83 Sowohl Avicenna als auch Averroes fanden resümierend im Zuge der Übersetzung des Kulturtransfers ihren Weg von der arabischen in die christlich-lateinische Welt. Dort stießen sie aufgrund ihres Nezessitarismus auf erhebliche Kritik. Gemeinsamer Nenner der beiden Philosophen ist der Gedanke des notwendigen ontologischen Prozesses, der sich in Linearität vom obersten schlechthin notwendigen Sein abwärts vollziehe. Dem Bild eines personalen, in Freiheit wandelbaren Gottes stand dieses Konzept diametral gegenüber. Mit seinem radikalen Plädoyer für die Philosophie als wahrem Zugang zur Welt und seiner Kritik am rein metaphorischen Charakter der Volksreligionen, die weder die Allgemeinheit des Intellekts, noch die Ewigkeit der Welt ausreichend herausstelle, ließ sich Averroes aber noch weniger gut integrieren als Avicenna, und zwar im Christentum wie auch im Islam. 84 Avicenna stellte für die christliche Rezeption ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten dar, das Werk des Thomas von Aquin veranschaulicht aber exemplarisch, dass Bemühungen existierten, eine Integration in christliches Gedankengut zu vollziehen. 85 3.3.1.2.3. Rezeption in der lateinischen Welt Wie bereits angedeutet, prägte der Neuplatonismus über Jahrhunderte die christliche Theologie. Im Folgenden soll aus diesem philosophischen Konglomerat ein 83 Vgl. Flasch, Einführung, 285–288; Leaman, Averroes, 13–116. Auch diese Befürchtung spiegelt sich in den Lehrverurteilungen von 1277 wider, genauer in den Thesen 115 bis 127. Vgl. Flasch, Aufklärung, 191–202. 84 Auch aufgrund der politisch angespannten Situation auf der iberischen Halbinsel im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert, die den Wunsch nach einer stabilisierenden Funktion der Religion laut werden ließ, wurden Averroes’ religionskritische Schriften im Jahr 1195 verboten. (Vgl. Flasch, Einführung, 284–288.) Gleichwohl gab es auch insbesondere in der lateinischen Welt eine positive Rezeption. Personen wie Siger von Brabant und Boethius von Dacien waren hierbei Vordenker und fanden unter dem Sammelbegriff der Averroisten zahlreiche Nachfolger. (Vgl. Leaman, Averroes, 163–178.) 85 Nicht zu vernachlässigen ist angesichts des Wirkungsgrades und des beispielhaften Rezeptionsweges der Aristoteles zugeschriebene sogenannte Liber de causis. Dieser aus arabischer Feder stammende Kommentar des Werks des Neuplatonikers Proklos enthielt Paraphrasen verschiedener neuplatonischer Schriften. Zusammen mit Übersetzungen aristotelischer Texte gelangte das Werk an europäische Universitäten und erhielt als Ergänzung der Metaphysik einen festen Platz in den Curricula. Bis in den 1270er-Jahren die fälschlich zugeschriebene Autorenschaft aufgedeckt werden konnte, hatte es der neuplatonischen Synthese von Platonismus und Aristotelismus mit christlichen Denkansätzen bereits erheblichen Vorschub geleistet und die immense Anzahl von Handschriften und Kommentaren zeigt, dass das Interesse daran auch darüber hinaus erhalten blieb. (Vgl. Schnarr, Liber de causis.)

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Aspekt herausgegriffen werden, der für das lateinische Mittelalter von zentraler Bedeutung war. Von Hermann Krings als „Leitgedanken“ der Epoche ausgemacht 86, stellte der ordo den metaphysischen Begründungshorizont dar, vor dem sich theologische und gesellschaftspolitische Theorien zu beweisen hatten. Mit dem Nominalismus in Gestalt des Wilhelm von Ockham hätten dann, so zumindest lange Zeit das Urteil der Forschung, „Willkür“ 87 und „selbstherrliches Denken“ 88 Einzug erhalten, was die Menschheit nicht nur in die Neuzeit katapultiert 89, sondern mindestens auch die Reformation verschuldet habe 90. Damit Wilhelm von Ockham in seinem historischen Kontext korrekt verortet werden kann und um seine Lehre erörtern zu können, ist daher eine vorausgehende Analyse des Ordo-Begriffs sinnvoll. Dabei sollen weniger die detaillierte Genealogie und die diffizilen Unterschiede zwischen den einzelnen Personen im Zentrum stehen als vielmehr das Grundkonzept in seiner Systematik. Augustinus setzte mit seiner Definition in seiner Schrift De civitate Dei Maßstäbe: „Ordnung ist die Verteilung der gleichen und ungleichen Dinge, die jedem seinen Platz zuweist.“ 91 Die Ordnung wurde als jene Zusammenstellung von verschiedenen Dingen beschrieben, in welcher alles einen bestimmten, ihm zukommenden Standort zugewiesen bekommen habe. In dieser Definition verknüpfte Augustinus biblische Aussagen mit griechischer Philosophie. Zum einen existierten die biblischen Schöpfungsmythen, denen zufolge Gott das Tohuwabohu geordnet und die Menschen geformt habe. 92 Außerdem galt das Wort aus dem Buch der Weisheit: „Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.“ (Weish 11,20) Zum anderen implementierte Augustinus das in Mailand erworbene Wissen über den Neuplatonismus. Platon hat mit seiner Aussage, dass der Demiurg die Unordnung geordnet habe, da Ordnung besser sei als Unordnung, die Philosophie über viele Jahrhunderte hinweg geprägt. Anstelle des platonischen Demiurgen übernahm bei Augustinus der christliche Gott die Rolle des Schöpfers. Dieser schuf nach Augustinus im Gegensatz zum Demiurgen ex nihilo, also voraussetzungslos. Hierbei spielte die göttliche Weisheit die zentrale Rolle unter den Eigenschaften Gottes: „Daher muß jede Ordnung durch die Weisheit eines Verständigen geschehen.“ 93 Durch die göttliche Weisheit schien die Sinnhaftigkeit der gestifteten Ordnung gesichert. Die 86 87 88 89 90

Krings, Ordo, XII. Iserloh, Gnade und Eucharistie, 71. Iserloh, Gnade und Eucharistie, 74. Vgl. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 158–161. Vgl. Iserloh, Gnade und Eucharistie. Bereits der Titel „Gnade und Eucharistie in der philosophischen Theologie des Wilhelm von Ockham. Ihre Bedeutung für die Ursachen der Reformation“ ist wegweisend. 91 Augustinus, Civitate Dei XIX, 13: „Ordo est parium dispariumque rerum sua cuique loca tribuens dispositio.“ 92 Vgl. Gen 1,1–2,25. 93 Thomas, ScG II, 24: „[O]mnis ordinatio per sapientiam alicuius intelligentis fiat.“

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Macht Gottes spielte in diesem Diskurs nur eine periphere Rolle, wurde doch nicht daran gezweifelt, dass Gott etwas Gewolltes umsetzen könne. 94 Die göttliche Vernunft, so die gängige Vorstellung, habe in Reflexion des göttlichen Wesens die ewigen Ideen der Dinge erkannt und der göttliche Wille habe diese aktualisiert. Bis Duns Scotus am Ende des 13. Jahrhunderts den Begriff der ,möglichen Welt‘ prägte, indem er ein neues Kontingenzverständnis ausarbeitete, dominierte die Annahme, dass Gott, verstanden als das höchste Gut und das höchste Sein, eine Welt geschaffen habe, und zwar eine seinem Wesen entsprechende, sinnvolle und geordnete Welt. Dass Gott eine sinnlose Welt geschaffen haben könnte, stand nicht zur Debatte. „Den Dingen, die er aus dem Nichts erschaffen hatte, gab er zu sein, aber nicht vollkommen zu sein, sowie er es ist; und dem einen gab er mehr zu sein, dem anderen weniger und so ordnete er die Wesenheiten der Natur stufenweise.“ 95 Hier taucht bei Augustinus das neuplatonische Kontinuitätsprinzip wieder auf. Auch Thomas von Aquin übernimmt dies in sein Schöpfungsmodell und betont: „Aus dem bisher Gesagten aber läßt sich offensichtlich erkennen, daß die Dinge in ihrer Anordnung durch die göttliche Vorsehung einem Vernunftgrund folgen.“ 96 Und wenige Zeilen später führt er aus: „Weil aber notwendig jede geschaffene Substanz hinter der Vollkommenheit der göttlichen Gutheit zurückbleibt, mußte in den Dingen, damit ihnen die Ähnlichkeit der göttlichen Gutheit vollkommener mitgeteilt werde, Verschiedenheit herrschen, so daß durch das Verschiedene in verschiedener Weise vollkommener dargestellt wurde, was von irgendeinem einzigen Ding nicht vollkommen dargestellt werden kann“. 97

Damit war auch zugleich das metaphysische Übel als notwendiger Bestandteil der göttlichen Ordnung erklärt. Eine Abkehr von dieser Ordnung wurde von Augustinus wie auch von Thomas als moralisches Übel identifiziert, worauf gerechterweise die göttliche Bestrafung folge, jedoch nicht um die Kränkung Gottes auszugleichen, sondern um die Ordnung wieder auszubalancieren. 98 94 Hervorzuheben ist dies insbesondere angesichts des Stellenwertes der Macht Gottes in Ockhams Schriften. Näher dargestellt wird dieser Aspekt in Kapitel 3.3.4. Die Genealogie des Begriffs der potentia Dei wird im Kapitel 3.3.4.1. näher untersucht. 95 Augustinus, Civitate Dei, XII, 2: „[R]ebus, quas ex nihilo creavit, esse dedit, sed non summe esse, sicut est ipse; et aliis dedit esse amplius, aliis minus, atque ita naturas essentiarum gradibus ordinavit“. 96 Thomas, ScG III 2, 97: „Ex his autem quae praemissa sunt, manifeste videri potest quod ea quae sunt per divinam providentiam dispensata, sequuntur aliquam rationem.“ 97 Thomas, ScG III 2, 97: „Quia vero omnem creatam substantiam a perfectione divinae bonitatis deficere necesse est, ut perfectius divinae bonitatis similitudo rebus communicaretur, oportuit esse diversitatem in rebus, ut quod perfecte ab uno aliquo repraesentari non potest, per diversa diversimode perfectiori modo repraesentaretur“. 98 Vgl. Anselm, Cur deus homo I, 12 (Opera omnia II, 69–71). Im genauen Verständnis der menschlichen Abkehr von der göttlichen Ordnung zeigen sich Unterschiede. Während Augustinus stärker den aktiven Part des Menschen betonte und von einer corruptio oder perver-

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Im Thomas-Zitat klingt ebenfalls bereits das Endziel der Ordnung an. Nicht ein einziges Seiendes könne Vollkommenheit erreichen, sondern nur im geordneten Zusammenspiel der Einzelteile sei das finis ultimus zu erreichen. Auf Gott könnten sich die einzelnen Seienden jedoch nicht selbstständig ausrichten, sondern dies geschehe durch die göttliche providentia. 99 In seiner Vorsehung ordne Gott die einzelnen Teile und setze sie zueinander in Beziehung. Er statte sie mit einem eigenen Zweck und Streben aus. Darüber hinaus aber ordne er den Gesamtzusammenhang, den Kosmos auf ein letztes Ziel hin: Gott. 100 In diesem Kontext lassen sich vor allem bei Thomas immer wieder aristotelische Momente finden. Das ontologische Streben, das jeder Entität innewohne, geht nach Thomas auf eine Bewegung zurück, eine Bewegung, die immer bereits teleologisch strukturiert ist. Thomas macht sich dabei das aristotelische Bild vom Feldherrn zunutze, auf den das gesamte Heer hingeordnet sei. In seiner Metaphysik fragt Aristoteles, auf welche Weise die Natur des Alls das Gute enthalte, und antwortet mit folgenden Worten: „Doch wohl auf beide Arten zugleich, wie dies bei dem Heer der Fall ist; denn für dieses liegt das Gute (t´o eˆu) sowohl in der Ordnung als auch im Feldherrn, und mehr noch in diesem. Denn nicht er ist durch die Ordnung, sondern die Ordnung durch ihn.“ 101 Thomas übertrug das Bild des Feldherrn als Kern und Fixpunkt des Heeres auf Gott. Von ihm geschaffen, sei die gesamte Schöpfung auf ihn ausgerichtet worden und strebe nach ihm als dem höchsten Gut. 102 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die philosophische Synthese des Neuplatonismus für das Christentum ein breites Tableau darbot, den Glauben in ein rationales System zu überführen. Besonders die platonische Strömung bot zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten und wurde unter anderen von Augustinus dankbar aufgenommen. Dabei bedingten sich Metaphysik und politische Philosophie gegenseitig. Der Neuplatonismus bot die Möglichkeit, ein hierarchisches Gesellschaftssystem philosophisch zu legitimieren. Nicht das Individuum, geschweige denn seine Fähigkeit auf Selbstgesetzgebung, standen im Fokus, sondern das Allgemeine und die Einheit. Von Wert war das Einzelne hauptsächlich als Teil des Gesamtgefüges, das als in sich geordnet gedacht wurde und aus dessen Ordnung es nicht auszubrechen galt. In einem solchen Fall durfte das Individuum entweder vom weltlichen oder geistigen Herrscher, als Stellvertreter Gottes, sanktioniert werden. 103 Zugleich bedingte die gesellschaftspolitische Realität philosophische Theo-

99 100 101 102 103

sio sprach, interpretierte Thomas den Akt passiver als confusio. Vgl. hierzu Krings, Ordo, 91–93. Vgl. Thomas, STh I, qu. 22.2: „Sed necesse est dicere omnia divinae providentiae subjacere, non in universali, sed etiam in singulari.“ Vgl. Krings, Ordo, 78–84. Aristoteles, Metaphysik, 1075a12–15. Vgl. Thomas, ScG III 1, 64. Vgl. für den Einfluss des Neuplatonismus auf die politischen Systeme der Zeit Mensching, Das Allgemeine, 40–58.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

rien. Der Neuplatonismus und die hierarchische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft bildeten lange Zeit eine gut funktionierende Melange. Aristoteles’ Werk lag in der Mitte des 13. Jahrhunderts vollständig in das Lateinische übersetzt vor, und seine Themenvielfalt bot nicht nur metaphysische und politische, sondern auch naturwissenschaftliche Ansätze. Insbesondere in den Jahrzehnten der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde daraufhin versucht, seine Lehren in das bisherige platonisch-augustinische Weltwissen einzubauen. Albertus Magnus (ca. 1200–1280) kommt das Verdienst zu, der Philosophie als eigenständige Disziplin den Weg bereitet zu haben. Er kommentierte zahlreiche Werke des Aristoteles und etablierte die Auseinandersetzung mit dem Philosophen an der Universität. Er versuchte sich weniger, wie sein Schüler Thomas von Aquin, an einer Synthese von Aristoteles und der bisherigen Theologie, sondern billigte der Philosophie einen eigenen Weltzugang zu und strebte eine Naturwissenschaft an, die nicht auf göttliche Eingriffe vertraute. 104 Der ebenfalls dem Dominikanerorden zugehörige Thomas von Aquin (1225– 1274) weichte die von seinem Lehrer vorgenommene Scheidung der Disziplinen auf und versuchte die christliche Schöpfungslehre einerseits zu verteidigen und sie zugleich in eine fruchtbare Synthese mit den nun bekannten arabischen und griechischen Schriften zu bringen. Dass ihm diese Verbindung nicht immer in kohärenter Weise gelang, wird im Folgenden anhand zweier Komplexe der Schöpfungslehre aufgezeigt werden. Deren Korrektur nahmen sich Theologen wie Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham an. Gegen Aristoteles verteidigt Thomas den Gedanken, dass die Welt einen Schöpfer benötige. Gleichwohl sucht er dessen Nähe, wenn er die Schaffung der Welt in Ewigkeit betont. 105 Den Schöpfungsprozess lehrt Thomas in neuplatonischem Duktus und mit großer Ähnlichkeit zu Avicenna. Die formal aus sich bestehende notwendige Möglichkeit des Möglichen existiere unabhängig von Gott, müsse aber, um aktualisiert zu werden, von Gott erkannt und gewollt werden. 106 Gott erkenne notwendigerweise alle Möglichkeiten – und zwar, weil die Ideen Gottes mit seinem Wesen in eins fallen würden, indem er sich selbst erkenne. In diesem Erkenntnisakt erkenne Gott alle Potentialitäten, zugleich aber, dass nur Gott selbst als Vollkommenheit dem göttlichen Wollen entsprechen könne. Gott wolle daher sich selbst als finis ultimus. Aus den möglichen Einzeldingen wähle er nun bestimmte zur Aktualisierung aus, aber nur als auf ihn selbst Hinstrebende. 107 Hierbei wird die Unmittelbarkeit und die Kontingenz der Entitäten fraglich. Unmittelbar, so Thomas in seiner Summe gegen die Heiden, erkenne Gott sich selbst, und zwar als Ursache von allem. Dadurch erkenne er zugleich, was aus ihm 104 105 106 107

Vgl. Flasch, Einführung, 317–324. Vgl. Flasch, Einführung, 338. Vgl. Honnefelder, Woher, 174–176. Vgl. Thomas, ScG I, 73–79.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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sukzessiv, vermittelt durch verschiedene Instanzen, folge. Er wisse also um jede Einzelheit, aber zugleich darum, dass er sie nicht unmittelbar hervorbringe, sondern vermittelt durch den ordo causarum. Diesen bringe er unmittelbar hervor, indem er sich selbst als Ziel erkenne. Die einzelnen Entitäten, die auf Gott hinstreben, gehen demnach nur mittelbar auf Gott zurück, und haben stets eine unmittelbare Zweitursache. Bei der Frage, ob ein Einzelding kontingent sei, hängt die Antwort nach Thomas davon ab, ob die Ursache selbst kontingent oder notwendig sei. Letztlich gingen alle Resultate auf Gottes notwendiges und unveränderliches Wissen zurück. Faktisch bedinge der Seinszustand der Zweitursache aber die Kontingenz der einzelnen Entität. 108 Problematisch ist diese Theorie insofern, als dass Thomas davon ausgeht, dass Gott in Ewigkeit den Schöpfungsakt vollziehe, also sich selbst erkenne und mit Notwendigkeit als finis ultimus ausmache, zugleich alles andere erkenne und in Freiheit Möglichkeiten wähle und ausschließe. Hier zeigen sich zentrale Schwierigkeiten im Syntheseversuch von biblischem Gottesbild und neuplatonischaristotelischem Nezessitarismus. Um die Sicherheit des ordo nicht zu gefährden, hält Thomas am Gedanken fest, Gott habe in Ewigkeit in einem einzigen, unveränderlichen Akt die Welt durch die Erkenntnis seiner selbst erschaffen. Er betont dabei als Zugeständnis an die griechisch-arabische Welterklärung die Notwendigkeit des göttlichen Sich-selbst-Wollens als summum bonum, die mit der freien Wahl der Welt und ihrer Einzelheiten in einem einzigen Akt koexistiere. Letzteres darf er nicht aufgeben, wenn er nicht den Charakter des freien Schöpfergottes negieren möchte. Dementsprechend hebt er auch die Freiheit Gottes hervor, die aber bei genauerer Betrachtung einen ambivalenten Charakter aufweist. Ad intra vollzieht sich Gott bei Thomas mit Notwendigkeit, ad extra spricht Thomas ihm zwar eine Wahlfreiheit in Bezug auf die erkannten Dinge zu, aber da Gott als das schlechthin Gute nur das Gute wollen könne, besteht auch hier nur eine Freiheit zum Guten. 109 Erneut werden dabei die Anleihen der platonisch-aristotelischen Vorstellung eines autarken Gottes sichtbar. Solche theoretischen Unzulänglichkeiten werden in Thomas’ umfangreichem Werk immer wieder deutlich. Ob werkimmanente Kohärenz Ziel seines Schaffens war, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Zu konstatieren ist, dass Thomas einen der bemerkenswertesten Integrationsversuche von neuplatonisch-aristotelischem Denken in die christliche Weltdeutung schuf, mit all den damit einhergehenden Problemen. Dass diese Risse eine eingehende Beschäftigung erforderten, sahen bereits Zeitgenossen wie Heinrich von Gent. 110 Eine Lösung des Problems aber ermöglichten erst die Ansätze von Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham.

108 109 110

Vgl. Bannach, Macht Gottes, 127–131. Vgl. Thomas, ScG I, 74, 80. Vgl. zu den Lösungsversuchen Heinrichs von Gent Bannach, Macht Gottes, 135–154; Courtenay, Capacity, 98–100; Schröcker, Verhältnis, 213–275.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

3.3.2. II. Voraussetzung: Johannes Duns Scotus und die Kontingenz der Welt Die theologischen Entwürfe des Albertus Magnus, des Thomas von Aquin und des Heinrich von Gent genau studiert hatte der im schottischen Duns geborene Johannes Duns Scotus. Geprägt von den Schriften des Aristoteles und dessen griechischen und arabischen Kommentatoren und aus Kritik an der Unzulänglichkeit der bisherigen lateinischen Antwort- und Syntheseversuche entwickelte Duns Scotus im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert bahnbrechende Gedanken. Er sah, dass schon Aristoteles eine Kontingenz angenommen und auch Thomas eine solche in sein Modell zu integrieren versucht hatte, sich dabei aber beide in einen Widerspruch verstrickt hatten. Denn wenn man, so Duns Scotus, ein in sich notwendiges absolutes Wesen annehme, das sich notwendigerweise vollziehe und dabei Seiendes hervorbringe, könne nicht zugleich die These vertreten werden, dass bestimmte Dinge kontingenten Ursprungs seien. Entweder ein absolut notwendiges Wesen bringe mit Notwendigkeit anderes hervor, dann könnten auch Sekundärursachen nicht kontingent handeln, sondern nur notwendigerweise, 111 oder aber man gehe von Kontingenz aus, dann aber sei diese bereits auf die erste Ursache zurückzuführen. 112

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Thomas von Aquin vertrat in Anlehnung an Avicenna die These, dass Gott mit Notwendigkeit den ordo causarum hervorbringe, der als Einheit wiederum die Vielheit der Individuen beinhalte, die in Abhängigkeit von ihrer direkten Ursache kontingent sein könnten. Während also Gott als die Erstursache notwendigerweise erschaffe, könnten Zweit- oder Drittursachen je nach eigener Seinsweise kontingente Dinge hervorbringen. Dies hat Thomas am Beispiel der Entstehung der Blüte eines Baumes veranschaulicht. Vgl. Thomas, Sent. I, dist. 38, qu. 1, art. 5: „[S]ed neutrum horum removet scientiam contingentium a deo et de primo quidem satis manifeste potest accipi. Quandoque enim sunt causae multae ordinatae, effectus ultimus non sequitur causam primam in necessitate et contingentia, sed causam proximam; quia virtus causae primae recipitur in causa secunda secundum modum causae secundae. Effectus enim ille non procedit a causa prima nisi secundum quod virtus causae primae recipitur in secunda causa: ut patet in floritione arboris cujus causa remota est motus solis, proxima autem virtus generativa plantae. Floritio autem potest impediri per impedimentum virtutis generativae, quamvis motus solis invariabilis sit. Similiter etiam scientia dei est invariabilis causa omnium; sed effectus producuntur ab ipso per operationes secundarum causarum; et ideo mediantibus causis secundis necessariis, producit effectus necessarios, ut motum solis et hujusmodi; sed mediantibus causis secundis contingentibus producit effectus contingentes.“ Vgl. Scotus, Ord. I, dist. 8, p. 2, qu. un., n. 281–282 (ed. Vat. IV, 313–314): „[A]liquid contingenter fit in entibus, igitur prima causa contingenter causat. [...] [S]i prima causa necessario se habet ad causam proximam sibi, sit illud b, – b igitur necessario movetur a prima causa; b autem eodem modo quo movetur a prima causa, movet proximam sibi, – igitur b necessario causat movendo c, et c movendo d, et sic in omnibus causis procedendo nihil contingenter erit si prima causa necessario causat.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Weitere Probleme, die aus der Annahme einer notwendig sich vollziehenden, ersten Ursache entstünden, bezögen sich auf die Frage ,Unde malum?‘. Denn wenn die Prämisse gelte, dass das höchste Wesen vollkommen gut sei und daher auch nur Gutes hervorbringen könne, stelle sich die Frage, woher das Böse komme. Halte man an der Formel der creatio ex nihilo fest, dann müsse auch das Böse auf dieses erste Wesen zurückzuführen sein, was aber einen Widerspruch darstelle, wenn man zugleich daran festhalte, dass das vollkommen Gute notwendigerweise Gutes, und zwar ausschließlich Gutes, hervorbringe. 113 Den letzten Problemkomplex diagnostiziert Duns Scotus in der Art und Weise des Hervorgehens der Seienden. Die griechisch-arabische Welterklärung laufe auf einen nezessitaristischen Monismus hinaus, 114 denn der in diesem Modell postulierte Gott habe keinen Willen, um frei zuerst das eine und dann das andere, oder gar das eine anstatt des anderen zu wählen. Dieser dem Gesetz der Notwendigkeit unterliegende Gott schaffe alles Mögliche in einem einzigen außerzeitlichen Moment. In Bezug auf die Welt könne dann nicht die Rede sein von einem temporären Werden, sondern nur von einem ewigen Sein. 115 Kontingenz aber, so Duns Scotus, sei in der Welt erfahrbar. Daher müsse man von dieser Kontingenz aus den Gottesbegriff bestimmen. Um die scotischen Argumente gegen den Nezessitarismus zu verstehen, ist es sinnvoll, den differenzierten Möglichkeitsbegriff zu analysieren, den Duns Scotus ausarbeitet. Er unterscheidet hierfür zwischen der logischen und der realen Möglichkeit. Der Begriff der logischen Möglichkeit sage aus, dass etwas in dem Sinne möglich sei, dass es widerspruchsfrei denkbar sei. Die reale Möglichkeit aber sei darüber hinaus auf eine Wirkursache angewiesen, die die reine Möglichkeit Wirklichkeit werden lasse. 116 Denke man Gott als das aus sich selbst heraus notwendige Wesen, dann komme ihm nur eine logische Möglichkeit zu, denn Gott sei immer bereits Wirklichkeit und niemals reale Möglichkeit. Entitäten jedoch, die auf eine andere Wirkursache angewiesen seien, um Wirklichkeit zu werden, seien nicht nur logisch, sondern auch real möglich. Dieses reale Möglichsein kommt demnach nur Kontingentem zu. Denn den Kontingenzbegriff interpretiert Duns Scotus nicht mehr nur als Sein angesichts der Möglichkeit des Nicht-Seins. Er versteht Kontingenz neu als Seinsweise eines von externer Seite aktualisierten Seienden, dem nicht nur Sein anstelle von Nicht-Sein zukomme, sondern darüber hinaus auch Sein an113 114 115 116

Vgl. Scotus, Ord. I, dist. 8, p. 2, qu. un., n. 283–285 (ed. Vat. IV, 314 f.). Vgl. Honnefelder, Scientia, 79. Vgl. Scotus, Ord. I, dist. 8, p. 2, qu. un., n. 290 f. (ed. Vat. IV, 317–321). Scotus, Ord. I, dist. 2, p. 2, qu. 1–4, n. 262 (ed. Vat, II, 282): „[P]ossibile logicum differt a possibili reali, sicut patet per Philosophum V Metaphysicae cap. De potentia. Possibile logicum est modus compositionis formatae ab intellectu cuius termini non includunt contradictionem, et ita possibilis est haec propositio: ,Deus esse‘, ,Deum posse produci’ et ,Deum esse Deum‘; sed possibile reale est quod accipitur ab aliqua potentia in re sicut a potentia inhaerente alicui vel terminate ad illud sicut ad terminum.“ Vgl. Scotus, Lect. I, d. 2, p. 2, q. 1–4, n. 188.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

stelle eines anderen real möglichen Nicht-Seienden. Gott als das immer bereits Wirkliche komme keine Kontingenz zu. Alles andere aber existiere in der Weise der Kontingenz, da es aus dem Zustand des real Möglichen herausgehoben worden und nun – und erst in diesem Moment ist von Kontingenz zu sprechen – wirklich sei. 117 Zusammenfassend unterscheidet Duns Scotus die folgenden drei Möglichkeitsarten: 1. Die logische Möglichkeit, die nur der Widerspruchslosigkeit unterliegt. 2. Die reale Möglichkeit, in dem Sinne, dass eine widerspruchsfrei denkbare Entität im Zustand des noch nur Möglichen existiert, da sie formal notwendigerweise möglich ist, aber ihrer Verwirklichung harrt. 3. Die aus der logischen und realen Möglichkeit hervorgehende kontingente Möglichkeit, insofern sie explizit auf eine von ihr verschiedene Wirkursache angewiesen ist und somit dem notwendigen Sein, das aus sich selbst heraus wirklich ist und niemals nur möglich, gegenübersteht. 118 Mithilfe dieser Begriffsdifferenzierung sprengt Duns Scotus den Rahmen der arabisch-aristotelischen Kosmologie. Der Annahme, dass das göttliche Wesen die in ihm existierenden Möglichkeiten erkenne, indem er sich selbst erkenne und sie dann notwendigerweise alle aktualisiere, ist damit eine Alternative gegenübergestellt, die es zu denken ermöglicht, dass dem christlichen personalen Gott Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Zwar geht auch Duns Scotus davon aus, dass Gott kraft seiner Vernunft durch die Erkenntnis seiner selbst alle widerspruchsfreien Möglichkeiten erkenne. Aber die sich Gott bietenden Möglichkeiten bestehen in diesem Modell formal unabhängig von Gott aus sich selbst heraus. Gott wählt dabei in freier Selbstbestimmung formal widerspruchsfreie Potentiale aus, die er aktualisieren möchte. 119 Ludger Honnefelder konnte aufzeigen, dass sich hier der von Leibniz und anderen später genutzte Begriff der ,möglichen Welt‘ ursprünglich verankern lässt. 120 117

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119 120

Vgl. Scotus, Ord I, d. 2, p. 1, q. 1–2, n. 86 (ed. Vat. II, 178): „Ad secundum dico quod non voco hic contingens quodcumque non-necessarium vel non-sempiternum, sed cuius oppositum posset fieri quando illud fit; ideo dixi ,aliquid contingenter causatur‘, et non ,aliquid est contingens‘.“ Vgl. Scotus, Met. IX, q. 2. n. 21: „Ista potentia tripliciter accipitur. Uno modo opponitur impossibili, non quidem ut dicit modum compositionis, sicut in secondo membro distinctionis, sed ut dicit dispositionem alicuius incomplexi; quemadmodum secundum Aristotelem V huius cap. ,De falso‘, aliqua ratio dicitur in se falsa, quia contradictionem includit. Et sic ,possibile‘ convertitur cum toto ente, nam nihil est ens cuius ratio contradictionem includit. – Alio modo sumitur potentia ut opponitur necessario, et sic loquitur Avicenna de possibili, I Metapysicae suae; et sic dicitur ,necesse‘ quod ex se habet entitatem indefectibilem, ,ens possibile‘ quod defectibilem. – Tertio modo strictissime sumitur potentia metaphysica, prout non stat cum actu circa idem. Et sic loquitur Aristoteles cap. 5, ubi notificat actum, quod ,actus est quando res est, non ita sicut in potentia‘.“ Vgl. Honnefelder, Scientia, 70 f.; Honnefelder, Scotus, 19–21. Vgl. Honnefelder, Begriff.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Gemäß dem augustinischen Diktum „potuit [...], sed noluit“ 121 gilt für den Gott des Duns Scotus, dass – positiv gewendet – er mehr realisieren und auswählen kann, als er es tatsächlich tut. Duns Scotus verlagert den Blickpunkt dabei vom bisher im Mittelpunkt stehenden Intellekt Gottes zum Willen Gottes, mithilfe dessen Gott eine kontingente Welt erschaffen könne. Damit betont er zugleich das Personsein Gottes. Kein unbewegter Beweger ist die notwendig sich vollziehende erste Ursache. Stattdessen besteht das Gottesbild des Duns Scotus aus einem personalen Gott, der mit Vernunft und Willen ausgestattet ist. Dank des Willens könne Gott nun auch seinem eigenen Verstand gegenüber frei wählen. Nicht jede erkannte Möglichkeit müsse realisiert werden, sondern der Wille wähle gezielt Möglichkeiten aus und wäge ab. Wobei die Freiheit des göttlichen Willens von Duns Scotus in zweifacher Weise eingeschränkt wird. Denn Gott sei nur, so der franziskanische Theologe, ad extra frei, also nur in Bezug auf äußere Geschehnisse. Ad intra hingegen herrsche Notwendigkeit. Hier vollziehe sich der Wille gemäß dem göttlichen Wesen. Eine weitere Einschränkung bringt der Verweis mit sich, dass nach Duns Scotus Gott zwar nach außen hin kontingent schaffen und agieren könne, jedoch nur im Rahmen des Guten. Denn der Wille Gottes sei stets auf das Gute ausgerichtet und könne daher nur Gutes hervorbringen. 122 Den Hintergrund dieser These bildet die Annahme, dass Gott wesenhaft gut sei. Dieser Gedanke wurde nicht begründet, sondern galt konsensual. Weiterhin nimmt Duns Scotus an, dass der göttliche Wille identisch sei mit dem Wesen Gottes und in Ewigkeit das Wesen selbst als Objekt wolle, denn der Wille wolle wesenhaft das Gute, und das höchste Gut sei das Wesen Gottes. 123 Die Neuerung besteht darin, dass Duns Scotus das Wollen des Guten nicht mehr als naturales Streben versteht, sondern sich der Wille in Freiheit an das erkannte Gute binde. 124 Wenn Duns Scotus jedoch erklärt, dass Gottes Wesen, Willen und Verstand vollkommen identisch seien, und Gott notwendig das unbedingte und vollkommene Gute sei, dann lässt sich zumindest kritisch anfragen, ob Duns Scotus in diesem Modell dem göttlichen Willen tatsächlich noch Wahlfreiheit zugesteht. Ad intra besteht nach Duns Scotus keinerlei Spielraum für freie Entscheidungen. Ad extra wählt der Wille zwar zwischen verschiedenen ihm vom Ver121 122 123

124

Augustinus, De natura, VII, 8. Vgl. Honnefelder, Scientia, 81–89. Vgl. Scotus, Ord. I, d. 10, q. un., n. 48 (ed. Vat. IV, 359): „[V]oluntas infinita non potest esse non recta; nec potest non esse in actu, quia tunc esset potentialis: igitur necessario est in actu recto. Non autem omne ,velle‘ est praecise rectum quia est ab illa voluntate solum, quasi nihil sit volendum ex se sed tantum quia est volitum ab illa voluntate; essentia enim divina, quae est primum obiectum illius voluntatis, est ex se volenda: igitur voluntas illa de necessitate est in actu recto volendi illud obiectum quod est ex se recte volendum, et sicut ex necessitate est principium volendi, ita ex necessitate est principium producendi amorem illius.“ Vgl. Honnefelder, Scotus, 29–34.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

stand angebotenen Möglichkeiten. Die Möglichkeit aber, etwas dem Guten Widersprechendes – Böses – zu wollen, existiert im Scotischen Gottesbegriff nicht – sie ist innerhalb dieses Kontextes nicht denkbar. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung ist ein weiteres Argument von Duns Scotus in seiner Auseinandersetzung mit aristotelischem Gedankengut von Bedeutung. Er übernimmt den aristotelischen Gedanken der Unveränderlichkeit Gottes und hält aufgrund dieses Gedankens an Gott selbst als primärem Erkenntnisobjekt fest. 125 Zwar verwirft er den platonischen Gedanken, dass nicht Einzeldinge, sondern immer nur allgemeine Ideen erkannt würden von Gott und betont stattdessen die unmittelbare Erkenntnis Gottes der Singularitäten. Die Ideen ordnet er dabei als Reflexionsprodukte der göttlichen Erkenntnis an zweiter Stelle nach. Aber die Spuren eines autarken, auf sich selbst bezogenen Gottes sind nicht zu leugnen, wenn Duns Scotus erklärt, dass Gott primär sich selbst erkenne und sich selbst als das unbedingt Gute wolle. 126 Der Verdacht, dass auch in Duns Scotus’ Modell die Schöpfung der Welt weiterhin nur bedingt und mittelbar gewolltes Produkt Gottes ist, bleibt bestehen. Denn Gott erkennt zwar nach Duns Scotus direkt die Potentiale, ohne zuerst die allgemeinen Ideen einzusehen, aber unmittelbar denkt und erkennt Gott allein sich selbst. Ein weiteres Indiz für die Probleme, welche Duns Scotus die aristotelischen Denkkonzepte bereiten, ist die Temporalität des göttlichen Handelns. Gott, so Duns Scotus, erkenne, wähle und schaffe in einem einzigen, vorzeitigen Moment. 127 Auch hier obsiegt die Sorge vor einer Veränderlichkeit Gottes. Denn würde ein zeitliches Handeln nicht die Wandelbarkeit Gottes bedeuten? Genau dieses Konzept wird Wilhelm von Ockham einige Jahre später als unzulänglich kritisieren und Duns Scotus’ Konzept dort transformieren, wo der Schotte die aristotelischen Überbleibsel selbst nicht mehr zu modifizieren wusste. Ockham hielt am Begriff der Unveränderlichkeit fest, gab ihm jedoch einen neuen Inhalt. Damit ermöglichte er zum einen den Gedanken, dass Gott sich selbst treu bleibt, indem er seine Handlungen an einem bestimmten Maßstab ausrichtet und zugleich in Zeitlichkeit und sukzessive handeln kann und zum anderen, dass Gott nicht mehr primär egozentrisch sich selbst denkt, sondern dass Gott unmittelbar Singularitäten erkennen und hervorbringen kann. 125

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Auch diese Annahme war damals intellektueller Konsens. Wilhelm von Ockham brach schließlich mit der These, dass die einzelne Entität kein primäres Erkenntnisobjekt Gottes sein könne. Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 3 (OTh IV, 444–462). Vgl. Scotus, Ord. II, dist. 1, qu. 1, n. 29 (ed. Vat. VII, 16): „[O]rdo naturae accipitur comparando obiecta ad intellectum et voluntatem divinam, quia comparando essentiam suam ad intellectum et voluntatem eius – quae est primum obiectum in se intellectus sui et voluntatis suae – est primum instans naturae, et comparando alia obiecta, quae sunt secundaria, ad intellectum et voluntatem divinam, quae non sunt ex se obiecta sed producta per intellectum et voluntatem in esse obiecti, est secundum instans naturae.“ Vgl. Honnefelder, Scientia, 91–94.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Das historische Verdienst Duns Scotus’ lässt sich resümierend an folgender Textpassage veranschaulichen. Die Pariser Lehrverbote von 1277 vor Augen zeigt Duns Scotus die Probleme auf, die eine nezessitaristische Weltdeutung für einen christlichen Offenbarungsglauben haben: „Etwas wird kontingent verursacht; also verursacht die Erstursache kontingent; folglich verursacht sie willentlich. Beweis der ersten Folge: jede beliebige Zweitursache verursacht, soweit sie von der ersten bewegt wird; falls also die erste notwendigerweise bewegt, wird eine beliebige andere notwendigerweise bewegt und etwas Beliebiges notwendigerweise verursacht. Wenn also irgendeine Zweitursache kontingent bewegt und die Erstursache kontingent bewegen wird, weil die Zweitursache sich nicht bewegt, wenn nicht durch die Wirkkraft der Erstursache, die von sich selbst bewegt wird. Beweis der zweiten Folge: Es gibt kein kontingentes Prinzip einer Tätigkeit außer den Willen oder etwas den Willen Begleitendes, weil jedes beliebige Andere aus der Notwendigkeit der Natur handelt und somit nicht kontingent; also etc.“ 128

Von erfahrbarer Kontingenz ausgehend, schließt Duns Scotus auf einen personalen, mit Vernunft und Willen ausgestatteten Gott, der zumindest ad extra kontingent handle. Denn der göttliche Wille wähle die ihm vom Verstand angebotenen logischen und realen Möglichkeiten in Freiheit aus und aktualisiere sie. Mit diesem Konzept ist der Gedanke grundgelegt, dass die Welt nicht das notwendige Produkt eines sich notwendig vollziehenden unbewegten Bewegers, sondern die bewusste Wahl eines personalen, frei handelnden Gottes sein könnte. Die inhärente Tragik des Scotischen Denkens liegt darin, dass er die Probleme des griechisch-arabischen Nezessitarismus präzise erkannte, die logischen Grundlagen eines personalen, freien Gottesbildes aufstellte und die Folgen der göttlichen Freiheit skizzierte, diese aber mit seinem Festhalten an aristotelischen Prämissen nicht mehr konsequent zu denken wusste. Vor dem ausgeführten ideengeschichtlichen Hintergrund lässt sich im Folgenden das Gottesbild des Wilhelm von Ockham analysieren. Dafür wird zuerst die differente Schwerpunktsetzung gegenüber Duns Scotus aufgezeigt und erörtert (3.3.3.). Nicht mehr die Frage nach dem Verhältnis von Gott und den Möglichkeiten stand im Mittelpunkt, stattdessen rückte bei Ockham die logisch betrachtet nächste Ebene in den Fokus, indem er nach den zeitlichen Bedingungen des göttlichen Handelns und dessen Bezug zur individuellen Entität fragte, stets in Abgrenzung zu einem nezessitaristischen Gottesbild. Dieser Aspekt wird ergänzt durch eine Analy128

Scotus, Ord. I, dist. 2, p. 2, q. 1–2, 79–81 (ed. Vat. II, 176 f.): „Item, aliquid causatur contingenter; ergo prima causa contingenter causat, ergo volens causat. Probatio primae consequentiae; quaelibet causa secunda causat in quantum movetur a prima; ergo si prima necessario movet, quaelibet alia necessario movetur et quidlibet necessario causatur; igitur si aliqua causa secunda contingenter movet, et prima contingenter movebit, quia non causat causa secunda nisi in virtute primae causae in quantum movetur ab ipsa. Probatio secundae consequentiae: nullum est principium contingenter operandi nisi voluntas vel aliquid concomitans voluntatem, quia quodlibet aliud agit ex necessitate naturae, et ita non contingenter, ergo etc.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

se des Begriffs des göttlichen Vermögens bei Ockham (3.3.4.). In diesem Kontext werden anschließend die von Ockham benannten Grenzen der göttlichen Macht sichtbar werden (3.3.5.) und schlussendlich die Frage nach dem Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff Ockhams beantwortet werden können (3.3.6.).

3.3.3. Gott und die Möglichkeiten Der Möglichkeitsbegriff, den Ockham seinem Gottesbild vorausschickt, wurde von einigen Forschern als unterkomplex kritisiert. 129 Denn im Gegensatz zum diffizilen Ansatz des Duns Scotus und seiner Theorie der verschiedenen Möglichkeiten, die formal betrachtet aus sich selbst heraus existieren und dann von Gott zur Verwirklichung ausgewählt werden können, ist Ockhams Ansatz simpler gehalten. Das könnte aber daran liegen, dass Ockhams Fokus ein anderer war. Duns Scotus betrieb Grundlagenarbeit, um im Kontrast zum nezessitaristischen Weltbild Kontingenz als Sein angesichts anderer Seinsmöglichkeiten denken zu können, und damit die Welt als freie Wahl Gottes zu begreifen. Ockham kannte dessen Schriften, setzte sich intensiv mit ihnen auseinander, legte aber einen anderen Schwerpunkt. Bei seiner Analyse des Begriffs göttlicher Freiheit rückt das Bild der Allmacht Gottes in den Mittelpunkt. Zwar ist auch hierfür eine begriffliche Bestimmung des Konzepts der Möglichkeiten nötig, dies geschieht aber als Hintergrund des im Folgenden zu analysierenden Begriffs der potentia Dei. So stellt er scheinbar lapidar fest, dass nicht die Rede sein könne von der logisch früheren Existenz der logischen und realen Möglichkeit des Geschöpfes gegenüber der göttlichen Erkenntnis und Auswahl des Möglichen. Gottes Vermögen, ein Mögliches zu erkennen und zur Verwirklichung auszuwählen, ist nach Ockham gleichwertiger Teil eines Vexierbildes, dessen Gegenpart das Möglichsein des Geschöpfs widerspiegelt. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken und sinnvollerweise lässt sich weder von einer temporären noch von einer logischen Reihenfolge sprechen. Ockham unterteilt den Begriff des Möglichseins in drei Verständnisbereiche. Zum einen sei das Mögliche das, was wirklich existiere. 130 Wirklichkeit ist also immer auch Möglichkeit, insofern, als dass alles Wirkliche immer auch möglich sein muss. Eine zweite mögliche Sprechweise sieht Ockham darin, dass das Mögliche das Potential ist, das realisiert werden kann, aber momentan noch nur möglich ist. 131 In einer dritten Bedeutung grenzt Ockham das Mögliche vom Unmöglichen ab. Das Mögliche könne sowohl das

129 130 131

Vgl. Schröcker, Verhältnis, 440; Honnefelder, Ockham, 267. Vgl. Ockham, In. Per. II, cap. 7, § 6 (OPh II 483,27 f.): „[U]no modo dicitur ,possibile‘ illud quod est actu.“ Vgl. Ockham, In. Per. II, cap. 7, § 6 (OPh II 483,28 f.): „Alio modo dicitur ,possibile‘ illud quod non est actu sed sibi non repugnat esse actu.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Nur-Mögliche sein als auch das bereits Verwirklichte. 132 Alle Seinsweisen eint die logische Widerspruchslosigkeit, die der Unmöglichkeit nicht zukommt. Das Verhältnis von Gott und Möglichkeit betrachtet Ockham nun im Vergleich zu Duns Scotus primär nicht auf ontologischer Ebene, sondern aus einer logischen Perspektive. Er fragt, ob es zuerst Gott zukomme, das Unmögliche nicht machen zu können, oder zuerst dem Unmöglichen, von Gott nicht gemacht werden zu können. 133 Seine Antwort fällt bemerkenswert aus. Weder komme es Gott aus natürlicher oder temporärer Perspektive zuerst zu, das Unmögliche nicht machen zu können, noch komme es der Unmöglichkeit zuerst zu, nicht gemacht werden zu können. 134 Um etwaige Fragen auszuräumen, fügte er direkt im Anschluss hinzu, dass dieses Gedankenspiel ebenso für Gott und die Möglichkeit durchgeführt werden könne, denn auch hier bestehe eine natürliche Interdependenz. Weder komme es Gott vorher zu, das Mögliche zu schaffen, noch der Möglichkeit, geschaffen zu werden, bevor sie von Gott tatsächlich geschaffen werde. 135 Die Frage, was der Grund des Möglichseins oder des Unmöglichseins sein könnte, wird dabei nicht weiter beachtet. Relevanter erscheint ihm die Analyse des konkreten Schöpfungshandelns Gottes. Er kritisiert, dass noch Duns Scotus behauptet habe, dass Gott primär sich selbst erkenne und erst im Medium der Selbsterkenntnis anderes erkenne und zur Verwirklichung auswähle. Ockham hält dem ein radikales Plädoyer für die unmittelbare Erkenntnis des Singulären entgegen: „Wenn in ein und demselben Erkenntnisakt völlig unterschiedslos mehreres erkannt wird, dann wird nicht eines davon eher erkannt als das übrige. Nun aber wird [...] in einem völlig einheitlichen und identischen Erkenntnisakt Gott selbst und die Kreatur erkannt. Folglich ist die göttliche Selbsterkenntnis nicht ursprünglicher als die Erkenntnis der Kreatur. Deshalb meine ich: wiewohl ein einzelner Erkenntnisgegenstand ontisch früher sein kann als ein anderer – wegen seiner Natur, seiner Vollkommenheit oder auch seiner Ursprünglichkeit – so ist dennoch die Erkenntnis eines Gegenstandes nicht ,früher‘ als die eines anderen, wie immer man ,früher‘ versteht“. 136 132 133 134

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136

Vgl. Ockham, In. Per. II, cap. 7, § 6 (OPh II 483,29 f.): „Alio modo dicitur ,possibile‘ illud quod non est impossibile.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 43, qu. 2 (OTh IV 640,16–17): „Secundo quaero utrum prius conveniat Deo non posse facere impossibile quam impossibili non posse fieri a Deo.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 43, qu. 2 (OTh IV 649,1–6): „Et quando quaeritur an primo conveniat Deo non posse facere impossibile quam conveniat impossibili non posse fieri a Deo, dico quod non prius convenit Deo non posse facere impossibile quam convenit impossibili non posse fieri a Deo. Nec etiam prius convenit impossibili non posse fieri quam Deo non posse facere impossibile.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 43, qu. 2 (OTh IV 649,6–8): „Et eodem modo dico de affirmativis quod non prius convenit Deo posse facere possibile vel creaturam quam creaturae posse fieri a Deo“. Zit. n. Bannach, Macht Gottes, 190; Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 3 (OTh IV 455,20– 456,5): „[Q]uando una et eadem intellectione omnino indistincta intelliguntur plura, non prius intelligitur unum quam reliquum; sed eadem intellectione omnino intelligitur Deus

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Zum einen erkennt Gott nach Ockham unmittelbar sich selbst und die Kreatur. Zwar sei Gott selbst der vollkommenste erkennbare Gegenstand, dies bedeute aber nicht, dass dieser Erkenntnisprozess der göttlichen Erkenntnis anderer Dinge logisch oder zeitlich vorausgehe. 137 Zum anderen akzentuiert er die unmittelbare Erkenntnis der Einzeldinge. Hier ist keine Rede mehr davon, dass die allgemeine Idee zuerst erkannt werde und Singularitäten erst sekundär aus diesem Erkenntnisakt hervorgingen. Gott erkennt nach Ockham unmittelbar und gleichzeitig sich selbst und das einzelne Andere. Diese Schwerpunktsetzung geht auf Ockhams Lehre über die Universalien zurück. Die Auseinandersetzungen um den Status des Allgemeinen zogen sich über Jahrhunderte und können hier nicht in ihrer Gesamtheit nachvollzogen werden. 138 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Vertreter des im lateinischen Mittelalter omnipräsenten Platonismus den ontologisch prioritären Status des Allgemeinen gegenüber dem Singulären hervorhoben. Sie beharrten darauf, dass Allgemeinheiten wie ,die Gerechtigkeit‘ oder ,der Mensch‘ eine eigene Realität zukomme. Jan Beckmann hat die Folgen dessen pointiert zusammengefasst: „Führt der extreme Universalienrealismus (Platonismus) zum Problem der Weltverdopplung, so führt der gemäßigte Universalienrealismus (Aristotelismus) zur Zerstörung der Einheit des individuell Seienden.“ 139 Dies mag in dieser Vereinfachung zugespitzt wirken, beschreibt die problematische Grundtendenz aber präzise. Vertreter eines starken Universalienrealismus schrieben Allgemeinheiten eine eigenständige Realität zu, die unabhängig von den ihnen zugehörigen Singularitäten existieren würden. Stimmen eines schwachen Universalienrealismus gingen weniger weit, glauben aber, dass jede Singularität eine Teilrealität der Universalie beinhalte. Die Universalie ist demnach realer Teil jeder ihr zugehörigen Singularität. Ockham erkennt, dass auch Duns Scotus Vertreter eines gemäßigten Universalienrealismus gewesen ist und kritisiert diesen dezidiert. Das Allgemeine, so Ockham, sei ein Produkt des Denkens. Zwar beziehe sich der allgemeine Begriff zeichenhaft auf eine oder mehr real existierende Singularitäten. Jedoch sei es ein Fehlschluss, von der begrifflich gebildeten Allgemeinheit auf eine in ihrer Universalität eigenständig existierende Entität zu schließen. Um ein real existierendes Wesen zu

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et creatura; igitur non prius origine intelligitur Deus quam creatura. Unde dico quod quamvis obiectum unum sit prius alio obiecto, tam natura quam perfectione quam etiam origine, tamen intellectio unius obiecti nulla prioritate imaginabili est prior intellectione alterius obiecti, quia est eadem omnino sine omni distinctione imaginabili.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 3 (OTh IV 455,1–6): „Istis suppositis dico primo quod Deus est primum obiectum primitate perfectionis; secundo quod non est primum primitate adaequationis, illo modo quo loquitur Philosophus de primitate, I Posteriorum, tertio quod est primum primitate adaequationis secundum perfectionem; quarto quod non est primum primitate originis.“ Vgl. für einen Überblick zum Universalienstreit des Mittelalters Libera, Universalienstreit; Mensching, Das Allgemeine und den Quellenband von Wöhler, Texte. Beckmann, Ockham, 113.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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beschreiben, bilde der Mensch Begriffe aus. Dabei ließen sich Begriffe als Prädikation von Eigenschaften eines Wesens auf mehrere Singularitäten übertragen. Daraus könne man aber nicht folgern, dass der Universalie eine Teilrealität in den verschiedenen Singularitäten, geschweige denn eine gänzlich eigenständige Realität zukomme. „Die Universalien sind keine Substanzen noch gehören sie zur Substanz des Einzeldinges; sie deklarieren vielmehr lediglich die Substanz der Dinge wie Zeichen.“ 140 Die Allgemeinbegriffe sind nach Ockham also – nicht mehr, aber auch nicht weniger – prädikative Zeichen von real existierenden Singularitäten. Die Vertreter eines Universalienrealismus begingen den Fehler, dass sie von gebildeten Allgemeinbegriffen auf deren reale Existenz schließen würden. Tatsächlich, so bekennt Ockham, seien Allgemeinbegriffe in einer Wissenschaft notwendig. Ohne diese wäre es nicht möglich, sich in einer kontingenten Welt zu bewegen und sich auf Kategorisierungen und Gesetzmäßigkeiten verlassen zu können. 141 Aber „das von 140

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Zit. n. Beckmann, Ockham, 107; Ockham, Sent. I, dist. 2, qu. 7 (OTh II, 254): „Igitur universalia non sunt substantiae, nec de substantia alicuius rei, sed tantum declarant substantias rerum sicut signa.“ Dies sei bereits als erster Hinweis genannt auf die später näher zu erläuternden Vorwürfe Blumenbergs, dass aufgrund von Ockhams Gottesbild den Menschen das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeiten der Welt verloren gegangen sei. Ockhams Kritik am Universalienverständnis hatte große Auswirkungen auf sein Wissenschaftsverständnis. Wurde bis dahin Wissenschaft stets als unmittelbare Auseinandersetzung mit real existierenden Dingen verstanden, stellt Ockham nun um. Bezugsgegenstand in Wissenschaften seien stets real existierende Entitäten. Unmittelbarer Gegenstand von Forschenden seien aber Sätze über real existierende Dinge und nicht diese Dinge selbst. Nur im Medium der Sprache könnten Menschen sich der Wirklichkeit nähern. Dabei dürfe nicht der Fehler begangen werden, zu glauben, dass aufgrund ausgebildeter Allgemeinbegriffe solche auch als Entitäten real existieren würden. Die Begriffe supponierten, so Ockham, lediglich für reale Singularitäten. Sorgen um die Funktionsfähigkeit von Wissenschaft seien nicht nötig, da auch mit einer Wissenschaft und konkret auch einer Metaphysik, die nicht mehr Sach-, sondern „Satzwissenschaft“ (Beckmann, Ockham, 130) sei, notwendig gültige Wahrheiten zu konstatieren seien. Zwar könnten aufgrund einer kontingenten Welt keine irdischen Notwendigkeiten festgestellt werden, nichtsdestotrotz seien notwendige Aussagen über kontingente Sachverhalte möglich. Auch die Theologie versteht er als Wissenschaft, obwohl er zugesteht, dass sie weniger Evidenz aufweisen könne als andere Wissenschaften. Sich am aristotelischen Erkenntnismodell orientierend stellt er die Theologie mit den fünf aristotelischen Vernunfttugenden gleich und hebt hervor, dass sie (mindestens) gleichwertige Gewissheit fördern könne. Denn zum einen arbeite auch die Theologie mit durch die Vernunft überprüfbaren Sätzen, zum anderen überschreite sie die von der Evidenz abgesteckten Grenzen der Philosophie, da sie aufgrund des durch die Taufe gegebenen Glaubens Gewissheiten erlangen könne. Insofern sei sie zwar nicht im strengen Sinne Wissenschaft, aber gleichwohl zeige sie Wahrheit auf. Vgl. zum Wissenschaftsverständnis Ockhams Beckmann, Ockham, 127–137; Leppin, Ockham, 47–53 und ausführlich zum Hintergrund der Auseinandersetzungen um den Wissenschaftsstatus der Theologie Leppin, Folgen; Leppin, Geglaubte Wahrheit, bes. 59–97. Vgl. zur Diskussion um die Erkenntnistheorie Ockhams Boehner, Realistic Conceptualism, der für den Nominalismus Ockhams den Begriff des „Realistic Conceptualism“ geprägt hat.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

sich her Singuläre, [sei] auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht etwas Universales“. 142 Jede Realität existiere als Singularität. Um sich in der kontingenten Welt zurecht zu finden, ordne der Mensch diese und kategorisiere sie in gedachten Allgemeinbegriffen, die zeichenhaft für verschiedene Singularitäten stünden. Auf diesem Gedanken basierend formuliert Ockham die Unmittelbarkeit des schöpferischen Handelns Gottes. Weder erkenne Gott allgemeine Ideen, aus denen Singularitäten folgten, noch primär sich selbst als jede Singularität beinhaltendes Medium. Gott erkenne die möglichen Singularitäten unmittelbar. Dabei gibt Ockham den Ideenbegriff nicht vollständig auf, ändert aber dessen Sinn merklich. Er begreift den Terminus ,Idee‘ als Modell der möglichen Singularitäten. Ideen sind demgemäß nicht Teil des göttlichen Wesens, die Gott durch die Selbsterkenntnis ausmacht und zur Verwirklichung bringt, sondern besitzen Modellcharakter von zu verwirklichenden Möglichkeiten, die die göttliche Vernunft erkennt. Ideen weisen somit weniger Identität mit Gott als vielmehr mit den einzelnen Möglichkeiten auf. Wobei auch der Idee kein eigenes Sein zuzusprechen sei, sondern der Terminus ,Idee‘ rein begrifflicher Natur sei und neben sich selbst zeichenhaft für den Inhalt und damit das kontingente Sein supponiere: „Die Idee ist etwas, das von jemand [sic.], der mit Vernunft begabt ist und voraussetzungslos-schöpferisch handelt, erkannt wird. Die in solcher Weise erkannte Idee vor Augen, kann der schöpferisch Handelnde das in der Idee Erkannte in das wirkliche Sein überführen.“ 143 Diese Lehre führt er in direkter Auseinandersetzung mit Heinrich von Gents Ideenlehre aus, trifft damit aber ein weit größeres Publikum. Denn das Problem, die Einheit Gottes zu erklären, an der Vielfalt der Geschöpfe festzuhalten und zugleich die Ideen als Erkenntnisobjekt Gottes zu postulieren, beschäftigte zahlreiche Theologen über Jahrhunderte hinweg. In seinem Sentenzenkommentar verurteilt Ockham die Ansicht, dass an der Einheit Gottes festgehalten und zugleich erklärt werden könne, dass die Ideen Bestandteil des göttlichen Wesens seien. Es habe unterschiedliche Versuche gegeben zu zeigen, dass Gottes Wesen mit den Ideen iden-

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Er bringt damit die Meinung zum Ausdruck, dass Ockham zwar den Universalien keine reale Existenz zugeschrieben, aber auch nicht das Gegenteil behauptet habe, nämlich dass die Universalien keinerlei Bezug zu einem Objekt in der Wirklichkeit besäßen. Ockham ist nach Boehner von Konzepten ausgegangen, die der Verstand in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Moment der Erkenntnis ausbilde. Die Universalien seien somit gedanklicher Natur, besäßen gleichwohl immer einen Bezug zu realen Objekten. Vgl. zur Diskussion, ob Ockhams Gedanken ein Individualismus-Konzept zugrunde liegt, und wenn ja welches, McCord Adams, Ockham’s Individualisms. Zit. n. Beckmann, Ockham, 113; Ockham, Sent. I, dist. 2, qu. 7 (OTh II, 244,2–3): „[R]es de se singularis nullo modo nec sub aliquo conceptu est universalis“. Zit. n. Bannach, Macht Gottes, 229. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 486,2–4): „[I]dea est aliquid cognitum a principio effectivo intellectuali ad quod ipsum activum aspiciens potest aliquid in esse reali producere.“ Vgl. ausführlich zur Stellung der Ideen zwischen Gott und der Schöpfung Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 479–507).

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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tisch und trotzdem einheitlich sei, beispielsweise wenn erklärt worden sei, dass die Ideen von Gott und untereinander nur vom Verstand unterschieden würden, realiter aber identisch seien; diese Erklärungsmodelle seien aber alle unzulänglich. 144 Denn entweder sei etwas real identisch oder verschieden; beides zugleich sei nicht möglich. Wenn erklärt werde, dass der Unterschied lediglich im Verstand existiere, dann müsse dies ernst genommen werden, denn diese kognitive Separierung habe keinerlei Auswirkung auf das reale Sein des Gegenstandes. Die real existierende Einheit vollziehe keine ontologische Scheidung durch Operationen, die im Verstand stattfinden würden. Gott existiere als eine Einheit, und sei nicht zugleich identisch mit einer Mehrzahl von Ideen. 145 Es müsse daher genauer untersucht werden, was mit dem Begriff der Ideen ausgedrückt werde. Mit seinem von Seneca entlehnten Modellbegriff einer Idee ermöglicht Ockham den Gedanken, dass Gott als Einheit gedacht wird und dabei nicht mit den Ideen identisch ist, da die Ideen für mögliche Wesen supponieren, die vom göttlichen Intellekt erkannt und zur Verwirklichung ausgewählt würden. 146 „[D]er so umschriebene Ideenbegriff kommt weder dem göttlichen Wesen selbst zu, noch irgend einem respectus rationis, sondern der Kreatur selbst.“ 147 Damit ist das oben aufgeführte Zitat Ockhams über die unmittelbare und gleichzeitige Erkenntnis Gottes von sich selbst und einzelnen Anderen verständlich. Gott erkennt nach Ockham nicht primär sich selbst und damit zugleich die mit ihm identischen aber per Intellekt als different erkannten Ideen von möglichen Kreaturen, welche dementsprechend immer nur mittelbar eingesehen werden. Stattdessen bildet Gott in diesem Konzept eine eigene Einheit und erkennt die von ihm verschiedenen Ideen als Modelle von möglichen Entitäten, welche er in Freiheit wählen und aktualisieren kann. Diesem Prozess geht dabei keine Selbsterkenntnis Gottes voraus, sondern Gott erkennt gleichzeitig sich selbst als Schöpfer kontingenter Singularitäten und die diesen zugrunde liegenden Möglichkeiten. Eine genauere Analyse ist zudem im Hinblick auf die Temporalität der unmittelbaren Erkenntnis zu leisten, wofür es hilfreich ist, noch einmal auf Duns Scotus zu144

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Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 487,16–18): „Sed ista et consimilia superius sufficienter improbantur, ubi ostenditur quod impossibile est aliqua esse idem realiter et tamen differe ratione.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 487,19–488,2): „Similiter, si divina essentia est realiter plures ideae, quaero: aut idea est praecise divina essentia, aut est divina essentia et aliquid aliud, – scilicet respectus rationis secundum istos. Si primum, igitur essentia divina est plures divinae essentiae si sint plures ideae. Si detur secundum, ergo divina essentia non est idea.“ Vgl. Bannach, Macht Gottes, 229–231, Klocker, Divine Freedom, 253 f.; Schröcker, Verhältnis, 433. Seneca wird von Ockham explizit erwähnt in Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 486,19– 487,3). Zit. n. Bannach, Macht Gottes, 230. Ockham, Sent. I, dist. 35, qu. 5 (OTh IV, 487,4–6): „dico quod ista descriptio non convenit ipsi divinae essentiae, nec alicui respectui rationis, sed ipsimet creaturae.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

rückzublicken, um ihm Ockham gegenüberzustellen. Duns Scotus hielt am aristotelischen Begriff der Unveränderlichkeit Gottes fest und verstand diesen dahingehend, dass Gott in einem einzigen vorzeitlichen Moment gehandelt und festgelegt habe, was in Zukunft gemäß der in Gott präexistenten Ordnung geschehen werde. Zwar habe Gott in diesem Moment kontingent gehandelt und aus den ihm im Verstand dargebotenen Möglichkeiten frei ausgewählt. Um die Unveränderlichkeit Gottes aber nicht der zeitlichen Veränderung zu unterwerfen, da er darin einen Widerspruch auszumachen glaubte, beharrte Duns Scotus auf der Vorstellung, dass Gott nur in einem einzigen Moment entschieden und gehandelt und den nachfolgenden zeitlichen Prozess dabei determiniert habe. 148 Ockham erkennt die aristotelischen Überbleibsel und kritisiert diese als inkonsequente Hinterlassenschaft beim Versuch ein kohärentes Gottesbild zu etablieren, das einen personalen und freien Gott bietet. Dabei insistiert er in bewusstem Gegensatz zum griechisch-arabischen Nezessitarismus auf einen unmittelbaren Bezug von Gott zu den Singularitäten. Wenn Gott, so Ockham, ein individuelles Wesen unmittelbar aus dem Nichts hervorbringe und erhalte, dann müsse er in einer – noch zu ermittelnden – Art und Weise in Zeitlichkeit handeln können. Die Zeitlichkeit Gottes wurde im Mittelalter vielfach behandelt. Meistens schloss man sich dem Konzept von Boethius an, der die Ewigkeit Gottes nicht als unendliche Zeitfolge, sondern als Gegenwärtigkeit aller Zeitpunkte in einem einzigen ewigen Moment dachte. Ockham bricht mit diesem Konzept. Er denkt Gott als notwendig existent in jedem einzelnen Moment. 149 Zugleich hält er am Begriff der Unveränderlichkeit Gottes fest und macht diese sowohl für das Wesen als auch für den Willen Gottes geltend. 150 Diese Befunde lassen sich kohärent miteinander verbinden. Hierfür muss auf den Begriff der potentia Dei absoluta vorgegriffen werden. Dieser bezeichnet nach Ockham die Macht Gottes, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft anders handeln zu können, als er es faktisch tue. Gott kann zwar nach Ockham nicht die Vergangenheit nachträglich verändern, aber könnte in der jeweiligen Gegenwart stets auch anders handeln, als er dies gemäß der geltenden Ordnung macht. 151 Wenn Ockham nun das neuplatonische Ideal aufgreift und davon spricht, dass Gottes Wesen und Gottes Willen unveränderlich seien, dann kann 148 149 150 151

Vgl. Honnefelder, Scientia, 91–94. Ockham führte diese Gedanken in Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit von Engeln aus. Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 8 (OTh V 159,18–160,12). Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 8, qu. 7 (OTh III 258–261). Um Missverständnisse auszuschließen, soll an dieser Stelle bereits hervorgehoben werden, dass Ockham trotz der zwei Begrifflichkeiten von potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata keine zwei Mächte in Gott zum Ausdruck bringen möchte. Er spricht lediglich von zwei Perspektiven der einen Macht Gottes und unterscheidet das faktische Handeln Gottes vom Horizont der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Gottes. Vgl. für detaillierte Ausführungen zu diesem Komplex das nachfolgende Kapitel 3.3.4. zum göttlichen Freiheitsvermögen.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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dies vor dem Konzept der potentia Dei absoluta nur meinen, dass darauf vertraut werden kann, dass Gottes Wille unverändert bleibt und er sich an die von ihm etablierte Ordnung halten wird – und sich darin Gottes Vollkommenheit zeigt. Zwar könnte Gott immer auch anders handeln, gleichwohl lässt sich auf seinen einmal gefassten Beschluss vertrauen. Ockham hält zwar an der immutabilitas Dei fest, versteht die Unveränderlichkeit aber nicht als Widerspruch zu einem zeitlichen Handeln Gottes, sondern als göttliche Treue zu sich selbst in seinen Handlungen. Damit ist die Möglichkeit eröffnet, zeitliche Vollzüge in den Gottesbegriff zu integrieren, ohne dass die Unveränderlichkeit Schaden nehmen würde. Zugleich können damit bisherige logische Probleme gelöst werden. Ockham bietet eine konsistente Antwort auf die Frage, wie man die zeitlich interpretierte Unveränderlichkeit Gottes mit dessen zunehmendem Wissen durch die Schöpfung zusammendenken könne. Er transformiert den Begriff der immutabilitas und vermag es damit, einen einzigen Erkenntnisakt Gottes zu denken, der aber den Bedingungen der Zeit unterliegt. Gott erkenne nicht in einem ewigen Moment alles zeitlich Wirkliche in simultaner Gegenwart. Im Gegenteil vollziehe sich der eine Erkenntnisakt Gottes in zeitlicher Sukzession. Zwar existiere Gott in Ewigkeit, diese Ewigkeit sei aber nicht als statischer Moment zu begreifen, sondern als eine Existenz in temporalen Dimensionen. 152 Unter der Prämisse, dass sowohl das Erkennen als auch das Handeln Gottes in Zeitlichkeit vollzogen werden, kann das sich verändernde Wissen Gottes problemlos mit der Unveränderlichkeit Gottes, als Treue interpretiert, kombiniert werden. Der sich (und seiner Schöpfung) treu bleibende Gott erkennt, schöpft und handelt nach Ockham in zeitlichen Vollzügen. Die dabei realisierbaren Möglichkeiten sind unmittelbar von der göttlichen Vernunft erkannt und stellen sich ihr als modellhafte Ideen der jeweiligen Singularitäten dar. Wie die göttlichen Vollzüge genauer zu verstehen sind, soll im Folgenden durch die Analyse des potentia-absoluta-Konzepts untersucht werden.

3.3.4. Das göttliche Freiheitsvermögen 3.3.4.1. III. Voraussetzung: Die potentia Dei absoluta – Genealogie eines Begriffs Es konnte gezeigt werden, dass das die intellektuelle Welt dominierende Ordo-Konzept vor allem auf der Annahme beruhte, dass Gott in seiner umfassenden Vernunft und Weisheit die Welt sinnvoll geordnet habe. Die Rede von der Freiheit Gottes drückte dabei hauptsächlich die Freiheit von äußeren Hindernissen aus, was den Gedanken erlaubte, dass Gott sich seinem Wesen entsprechend vollziehe und einen dem ordo gemäßen Kosmos wähle. Die Macht Gottes spielte dabei lange eine unter152

Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 11 (OT V, 236,24–237,3): „Tamen quando dicitur ,Deus mensuratur aeternitate‘, nihil aliud intelligitur nisi quod durationem Dei mensuramus toto tempore in actu et in potentia, quia scilicet cuilibet parti temporis coexsistit necessario.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

geordnete Rolle. Den Wandel zu beschreiben, den der Begriff vollzog, bis er bei Wilhelm von Ockham zu einer zentralen Denkfigur wurde, ist Anliegen dieses Kapitels. Die für diese Arbeit relevanten ersten Aussagen lassen sich erneut bei Augustinus und Boethius finden. 153 Augustinus ist von einem exegetisches Interesse geleitet, wenn er in Untersuchung der Frage, ob Jesus den Verrat Judas’ hätte verhindern können, antwortet: „er konnte [...], aber er wollte nicht“ 154. Auch wenn diese Bestimmung noch keinen spekulativ-grundsätzlichen Charakter über die potentia Dei darstellte, hatte Augustinus damit einen Meilenstein gesetzt, an dem sich später immer wieder orientiert werden sollte. Ein besseres Verständnis der Unterscheidung von Können und Wollen wird sichtbar, wenn man seinen Satz „ohne Zweifel vermochte er es zu tun durch seine Macht, aber er vermochte es nicht zu tun in Gerechtigkeit“ 155 aus der Analyse der Sodom-und-Gomorrha-Erzählung betrachtet. Gott könne demnach mehr tun als er wolle, aber er handle nur nach seinem Willen, der sich stets am Kriterium der Gerechtigkeit orientiere. Gott schlägt demnach Möglichkeiten aus, um das Ziel der Gerechtigkeit zu erreichen. Einen anderen Weg ging Boethius. In seinem Buch Trost der Philosophie denkt er darüber nach, wieso Gott das Böse nicht tun könne, obwohl die Menschen dazu fähig seien. Hatten die Menschen Gott etwas voraus? Seine Antwort ist neuplatonischen Charakters und lautet: Da das Böse Nicht-Sein ,sei‘, stelle es auch kein positives Vermögen dar, das Böse tun zu können. Da Gott das vollkommene Sein und das vollkommene Gute sei, habe Gott kein Vermögen zum Bösen, was aber keinen Mangel darstelle, sondern im Gegenteil Ausdruck seiner Vollkommenheit sei: „Wenn also der, der nur des Guten mächtig ist, alles kann, die aber, die auch des 153

154 155

Auch in biblischen Zeiten wurde über die Macht Gottes gesprochen. Die Prädikation Gottes als omnipotens leitet sich von den Übersetzungen der Bibel ab. Während in der Hebräischen Bibel der Gottesname el shaddai benutzt wurde, ging dessen Bedeutung schon im antiken Judentum unter und wurde dann in der Septuaginta als pantokrator übersetzt. Auch wenn die genaue Bedeutung von el shaddai bis heute nicht geklärt werden konnte, fällt auf, dass die Übersetzung als (umfassende, oder gar grenzenlose) Allmacht bei den verschiedenen sich gegenüberstehenden Ansätzen kaum noch vertreten wird. Stattdessen überwiegen Interpretationen, die darin den schützenden und bewahrenden Gott ausgedrückt sehen. Der griechische Terminus pantokrator, was mit ,All-Herrscher‘ übersetzt werden kann, spiegelt die Tendenz wider, JHWH als alleinigen Gott zu präsentieren, der nicht mehr nur über klar abgegrenzte Bereiche herrscht, sondern über alles. Dabei steht aber nicht die personale Allmacht, sondern die umfassende Herrschaft im Fokus. Erst in der lateinischen Übersetzung mit omnipotens kommt die Bedeutung der Allmacht eindeutig zum Tragen. Trotzdem ließen umfangreiche spekulative Deutungen dieses Begriffs als tatsächliche Allmacht Jahrhunderte auf sich warten, wie in diesem Kapitel sichtbar wird. Zur Unterscheidung und Genealogie der biblische Machtbegriffe vgl. Bauke-Ruegg, Allmacht, 331–384. Augustinus, De natura, VII, 8: „[P]otuit [...], sed noluit“. Augustinus, Contra Gaudentium I, XXX, 35: „[S]ine dubio poterat per potentiam, sed non poterat per iustitiam.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Schlechten mächtig sind, nicht alles können, so ist offenbar, daß eben die, welche das Schlechte können, weniger vermögen.“ 156 Das Fehlen weiterer Beiträge zu dieser Fragestellung für über 500 Jahre veranschaulicht, dass die Frage nach der Macht Gottes von keiner besonderen Relevanz war. Gott schien alles tun zu können, was zum Erhalt der stabilen Weltordnung nötig war, weshalb sich weitere Überlegungen erübrigten. Ein zentrales Moment in der Begriffsgenealogie der potentia Dei sind die Einlassungen von Petrus Abaelard (1079–1142) in den 1130/40er-Jahren. Er radikalisiert den Charakter der Unveränderlichkeit Gottes und weitet ihn aus: Was Gott einmal gewusst, gewollt und getan habe, sei nicht veränderlich – genau das und nichts anderes wisse, wolle und tue er immer. Hinter dieser Behauptung stehen sprachtheoretische Überlegungen. Abaelard vertritt die Position, dass ein Wort unabhängig von Tempus, Genus und Kasus eine gleichbleibende Bedeutung habe. So könnten sich Begrifflichkeiten im Laufe der Zeit verändern, der dahinterstehende Sinngehalt bleibe stets derselbe. Dieses Modell überträgt er auf Gott: Weil bei Gott Wesen, Wollen und Wissen identisch seien, könne man für alle drei Ebenen postulieren, dass sie durch die Zeit hindurch unverändert blieben. 157 Da außerdem Gott vollständige Aktualität sei, kein Rest an Potentialität vorhanden sei, so Abaelards Folgerungen, gelte die These: „Gott kann nichts anderes tun, als das, was er tut und nichts anderes unterlassen, als das, was er unterlässt.“ 158 Damit widerspricht er den geltenden Theorien, nach denen Gott, wie schon Augustinus behauptet hatte, mehr tun könne, als er tun wolle. Abaelard postuliert, in Sorge um die Vollkommenheit Gottes, dass Handeln und Wollen Gottes identisch seien und er immer tue, was er tun könne. Die Aussage ,potuit, sed noluit‘ ergibt nach Abaelard in Bezug auf Gott keinen Sinn, ist falsch. Bei Gott drücke der Begriff ,können‘ immer zugleich den Inhalt des Begriffs ,wollen‘ aus. Die Wellen des intellektuellen Aufruhrs, die diese Überlegungen verursachten, sind nicht nur an seiner Verurteilung als Häretiker und der Verbrennung seiner Werke abzulesen, sondern auch an den zahlreichen Reaktionen, die sich bis in das 13. Jahrhundert hinein nachverfolgen lassen. Einen der wirkmächtigsten Gegenvorschläge entwickelte Petrus Lombardus (ca. 1100–1160), dessen Sentenzenwerk „das erfolgreichste Lehrbuch [...] in der Geschichte der Theologie“ gewesen ist, da Vorlesungen darüber bis in das 16. Jahrhundert hinein von allen Theologiestudenten gehört und von angehenden Doktoranden gehalten werden mussten. 159 Darin stimmt er Abaelard zwar in dessen Gedanken über die Zeitlichkeit und Unveränderlichkeit Gottes zu, kehrt aber zur Po156

157 158 159

Boethius, Trost IV, 2. p.: „Cum igitur bonorum tantummodo potens possit omnia, non vero queant omnia potentes etiam malorum, eosdem, qui mala possunt, minus posse manifestum est.“ Vgl. Courtenay, Capacity, 44–50. Zit. n. Courtenay, Capacity, 44: „Deus non potest facere nisi quod facit, nec dimittere nisi quod dimittit.“ Leppin, Ockham, 37.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

tentialität, wie sie Augustinus eröffnet hatte, zurück. Es gelte: ,potuit, sed noluit‘. Gott bleibe bei seiner einmal getroffenen Entscheidung, habe aber – und das ist der entscheidende Unterschied zu Abaelard – Wahlmöglichkeiten. 160 Auch weil diese Position sich in den nächsten Jahrzehnten durchsetzen und festigen konnte, verschoben sich die Fragestellungen. Wenn Gott mehr tun kann, als er tun will und tut, stellt sich die Frage nach dem Begriff der Möglichkeiten. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts rückten in diesem Kontext Wundererklärungen in den Fokus. Dass es Wunder gebe, stand nicht zur Debatte, stattdessen galt es zu erklären, wie es möglich sei, dass Gott in einer rational geordneten Welt Wunder wirken und folglich in das geordnete System eingreifen könne. Innerhalb dieser Debatte wurde der Möglichkeitsbegriff ausdifferenziert. So versuchte man sich beispielsweise an einer Antwort, die sich auf den Möglichkeitshorizont der irdischen Wesenheiten konzentrierte. Deren Spielraum unterscheide sich je nach Kontext, in der natürlichen Ordnung sei der Reaktionsradius ein anderer als bei einem göttlichen Eingriff. Für letztere Situation wurde der Begriff der potentia oboedientialis geprägt. Mit ihm glaubte man, biblische Narrative erklären zu können, wie beispielsweise, dass die Rippe Adams Eva habe hervorbringen können, während dies normalerweise einer Rippe nicht möglich sei. 161 Mit Beginn des 13. Jahrhunderts bildeten sich in diesem Kontext für Gott die Begriffe der potentia absoluta und der potentia ordinata aus. Zwar variierten die genauen Definitionen, als gemeinsamen Nenner lässt sich aber erneut der Augustinische Satz des ,potuit, sed noluit‘ ausmachen. Die potentia ordinata bezog sich auf jene Entscheidungen, die Gott – vor aller und zugleich für alle Zeit – einmalig getroffen habe. Die potentia absoluta deckte Möglichkeiten ab, die sich Gott theoretisch als widerspruchsfrei darböten, die er aber nicht ausgewählt habe. Konsens war, dass beide Begriffe sich auf die eine Macht Gottes bezogen und jene lediglich aus zwei Perspektiven beschrieben. Des Weiteren ist ein Prozess zu beachten, der sich erst unabhängig von den spekulativen Debatten über Macht und Möglichkeiten Gottes vollzog, dann aber seinen Niederschlag insbesondere bei Johannes Duns Scotus fand. Im kanonischen Recht wurde im 13. Jahrhundert festgelegt, dass der Papst dank seiner plenitudo potestatis über den Gesetzen stehe. Dadurch dass ihm die Macht zukomme, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, besitze er eine potentia extraordinaria. 162 Darüber hin160

161 162

Vgl. Lombardus, Sent. I, d. 43, c. un., p. 10: „Potest ergo Deus aliud facere quam facit; et tamen, si aliud faceret, alius ipse non esset. Et potest aliud velle quam vult, et tamen eius voluntas nec alia, nec nova, nec mutabilis aliquo modo esse potest. Etsi enim possit velle quod nunquam voluit, non tamen noviter nec nova voluntate, sed sempiterna tantum velle potest; potest enim velle quod potest ab aeterno voluisse. Habet enim potentiam volendi et nunc et ab aeterno; quod tamen nec modo vult, nec ab aeterno voluit.“ Vgl. zur Gegenüberstellung von Abaelard und Lombardus Boh, Sentences, bes. 194–200. Vgl. Courtenay, Capacity, 69–71. Zum historischen Hintergrund dieser rechtsdefinitorischen Neuregelungen vgl. Leppin, Ockham, 124–132; Herbers, Papsttum, 172–224.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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aus entscheide er selbst, ob er sich freiwillig den Gesetzen unterwerfe, was dann die de iure geregelte potentia ordinata meine. Dabei wurden neue begriffliche Schwerpunkte gesetzt. Die potentia-Begriffe meinten hier eine bestimmte Art und Weise des Handelns, während in der theologischen Debatte bis dato Konsens war, dass mit der potentia absoluta lediglich der Horizont der Möglichkeiten benannt war, Gott aber immer de potentia ordinata handle. Inwiefern die Gefahren einer Übertragung der kanonischen Definition auf die theologische Debatte den Zeitgenossen bewusst waren, lässt sich schwer abschätzen. Einerseits zeigen sich noch bei Ockham Spuren der kanonischen Interpretation – wobei sich seine Position ändern sollte –, wenn er im sechsten Quodlibet die Macht Gottes mit jener des Papstes vergleicht und betont: „Ebenso kann ja der Papst nach den von ihm angeordneten Rechten manches nicht, was er gleichwohl absolut kann.“ 163 Der Papst wurde von Ockham als irdisches Beispiel für die göttliche übergesetzliche Macht herangezogen. Ob er die potentia absoluta in diesem Beispiel als Handlungsart oder als Möglichkeitshorizont interpretierte, bleibt unklar. Festzustellen ist, dass Ockham diesen Vergleich nach seinem Gerichtsprozess in Avignon nicht mehr anstellte, was dafür spricht, dass er ein willkürliches Handeln des Papstes zuvor nicht als realistische Möglichkeit in den Blick genommen hatte, das Verfahren ihn aber dazu brachte, den Vergleich nicht mehr heranzuziehen, und er fortan die absolute Macht Gottes immer expliziter traditionell als Horizont der Möglichkeiten interpretierte. Andererseits schreckte Bonaventura (1221– 1274) angesichts der möglichen Willkürinterpretation der kanonischen potentiaabsoluta-Definition zurück. Er kritisierte, dass Böses zu tun ein Unvermögen darstelle, weshalb es Gott, dem vollkommenen Guten, positiverweise nicht zukomme, und das Sprechen darüber sinnlos und zu unterlassen sei. Gott habe alles, was seiner Natur entspreche, also das Gute, gemacht. Mehr sei zu diesem Thema nicht zu sagen. 164 Rückblickend lässt sich festhalten, dass die Diskussionen um die (All-)Macht Gottes bis zum 13. Jahrhundert, wenn überhaupt, nur in einem sehr begrenzten Diskurs stattfinden. Der Fokus auf den von Gott geschaffenen vernünftigen ordo ließ eine Auseinandersetzung mit der Macht Gottes als wenig fruchtbringend erscheinen. Das wird durch die spärlichen Aussagen verdeutlicht, die sich bis zum 11. Jahrhundert finden lassen. Zwar hatten Augustinus und Boethius wichtige Grundlagen geschaffen, die später immer wieder explizit oder implizit aufgegriffen wurden. Eine grundlegende Debatte konnte dadurch aber nicht angestoßen werden. 163 164

Zit. n. Ockham, Texte, 69; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,29–30): „Sicut Papa aliqua non potest secundum iura statua ab eo, quae tamen absolute potest.“ Vgl. Bonaventura, Sent. I, dist. 43, art. 1, qu. 4, dub. 7: „Aliqui distinguunt hic potentiam Dei dupliciter, dicentes Deum posse aut de potentia absoluta, et sic potest Iudam salvare et Petrum damnare, aut de potentia ordinata, et sic non potest. – Sed haec distinctio non videtur esse conveniens, quia nihil potest Deus, quod non possit ordinate. Posse enim inordinate facere est non posse, sicut posse peccare et posse mentiri.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Mitverantwortlich hierfür war der starke Einfluss des Neuplatonismus, der als vernünftiges System der Welterklärung in die christliche Offenbarungslehre zu integrieren versucht wurde, aber erstens keinen Platz zum Denken von Kontingenz bot und zweitens einem personalen Gott keine autonome Freiheit zugestand. In den Fällen, in denen im 11. und 12. Jahrhundert über die göttliche Macht nachgedacht wurde, beliefen sich die Diskussionen auf spezielle exegetische Probleme und auf Wundererklärungen, die aber ebenfalls meist als Ausdruck der von Ewigkeit her geordneten Macht Gottes verstanden wurden. Erst im 13. Jahrhundert kam es unter drei Prämissen zu bahnbrechenden Änderungen. Eine weniger gewichtige, aber doch bemerkenswerte Grundlage stellte der weitgehend vorhandene intellektuelle Konsens dar, dass Gott mehr tun könne, als er tun wolle. Damit war der Raum eröffnet für ausschöpfbare Potentialität. Der zweite Aspekt, der in den Blick genommen werden muss, ist die Modifikation des kanonischen Rechts. Dem Papst wurde nun eine potentia absoluta zugeschrieben, die ihm ermöglichte, über den Gesetzen zu stehen und sich freiwillig an Gesetze zu binden. Tue er letzteres, handle er daraufhin innerhalb des gesetzlichen Rahmens gemäß der potentia ordinata. Wolle er aber Vorschriften ändern oder neue Gesetze erlassen, sei ihm dies kraft seiner plenitudo potestatis jederzeit möglich, ohne Gesetze zu brechen. Damit wurde das traditionelle Verständnis der potentia-Differenzierung verändert. Wurde die potentia absoluta bisher lediglich als Möglichkeitsfeld verstanden, war sie nun eine bestimmte Art und Weise des Handelns. Übertragen auf Gott stellte sie neue – mitunter als abgründig und gefährlich wahrgenommene – Fragen: In welchen Fällen handelt Gott auf welche Art und Weise? Können Menschen darauf vertrauen, dass Gott sich stets an die erlassenen Gesetze halten wird? Diese und andere Fragen wurden aber erst vor dem Hintergrund der dritten Prämisse virulent. Angesichts des arabisch-lateinischen Kulturtransfers und der vollständigen Übersetzung der Werke des Aristoteles und zahlreicher seiner Kommentatoren stand dem christlichen Weltbild nun plötzlich ein Weltbild gegenüber, dass vehement einen Nezessitarismus vertrat und dabei auf reine Vernunfterklärungen pochte. Zum einen wurde von christlicher Seite der Anspruch erhoben, das eigene System als das Vernünftigere darzustellen und zu diesem Zweck wurden auch aristotelische Interpretamente integriert; zum anderen wurde deutlich, dass der Nezessitarismus – konsequent ausbuchstabiert – jegliche Hoffnung auf einen freien, eschatologiefähigen Gott zunichte machen würde. Bevor nun vor dem umfangreich gezeichneten ideengeschichtlichen Hintergrund Wilhelm von Ockhams Schriften analysiert werden können, muss noch ein letzter Schritt gegangen werden. Denn wie bereits angedeutet, musste sich Johannes Duns Scotus nicht nur zu den griechisch-arabischen Schriften und deren Inhalt verhalten, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in lateinischer Sprache vorlagen. Auch die kirchenrechtliche Neufassung der potentia absoluta und der potentia ordinata standen ihm klar vor Augen. Diese Umbruchsituation wird an der unterschiedlichen Nutzung der Konzepte im Werk von Duns Scotus sichtbar. Wil-

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liam Courtenay hat nachgezeichnet, dass Duns Scotus mitunter die potentia absoluta als Möglichkeitshorizont Gottes ausdeutete, beispielsweise wenn er darauf bestand, dass Gott diese Weltordnung gewählt habe, ihm dabei aber andere Möglichkeiten offen gestanden hätten. 165 Besonders aber an jenen Stellen, an denen Duns Scotus die potentia absoluta definiert, zeigt sich eindeutig der Einschlag der kanonischen Interpretation: „Bei jedem vernünftig und willentlich handelnden Akteur, der in Übereinstimmung mit einem rechtmäßigen und gerechten Gesetz agieren kann, dies aber nicht aus Notwendigkeit heraus tun muss, kann man zwischen seiner anordnungsgemäßen Macht und seiner absoluten Macht unterscheiden. Der Grund liegt darin, dass er entweder in Übereinstimmung mit einem rechtmäßigen und gerechten Gesetz agieren kann und dies dann gemäß seiner anordnungsgemäßen Macht tut (anordnungsgemäß ist sie insofern, als dass es ein Prinzip ist, etwas in Übereinstimmung mit einem rechtmäßigen oder einem gerechten Gesetz zu tun), oder an einem solchen Gesetz vorbei beziehungsweise gegen ein solches Gesetz handeln kann, wobei seine absolute Macht dann die anordnungsgemäße Macht übersteigt. Und deswegen unterscheidet man nicht nur bei Gott zwischen absoluter und anordnungsgemäßer Macht, sondern bei jedem freien Akteur, der entweder gemäß den Bestimmungen eines gerechten Gesetzes handeln, oder am Gesetz vorbei beziehungsweise gegen es agieren kann. Deswegen sprechen die Juristen davon, dass jemand de facto handeln könne, also gemäß seiner absoluten Macht, oder aber de jure, also gemäß der anordnungsgemäßen Macht.“ 166

Bei jedem freien und vernunftbegabten Akteur – nicht nur bei Gott –, der sich entweder an Gesetze halten oder gegen sie verstoßen könne, gilt es demnach zu unterscheiden zwischen der potentia absoluta und der potentia ordinata. Die potentia ordinata steht für das gesetzmäßige Handeln. Darüber hinaus kann, Duns Scotus zufolge, jede freie Person auch gegen das Gesetz verstoßen oder außerhalb der Grenzen eines Gesetzes handeln, was er dann de potentia absoluta tue. All jene Menschen, denen es nicht obliegt, an der Gesetzgebung teilzunehmen, brechen nach Duns Scotus das Recht und dürfen entsprechend bestraft werden, wenn sie gemäß ihrer absoluten Macht handeln. Sie handeln dann inordinate. Ein menschlicher Gesetzgeber könne aber genau wie Gott nie ungeordnet handeln, da er über den Gesetzen stehe. Sobald er außerhalb des bestehenden Rechts handle, schaffe er neues Recht. 167 Da165 166

167

Vgl. Courtenay, Capacity, 100 f. Scotus, Ord. I, dist. 44, qu. un., n. 3 (ed. Vat. VI, 363 f.): „In omni agente per intellectum et voluntatem, potente conformiter agere legi rectae et tamen non necessario conformiter agere legi rectae, est distinguere potentiam ordinatam a potentia absoluta; et ratio huius est, quia potest agere conformiter illi legi rectae, et tunc secundum potentiam ordinatam (ordinata enim est in quantum est principium exsequendi aliqua conformiter legi rectae), et potest agere praeter illam legem vel contra eam, et in hoc est potentia absoluta, excedens potentiam ordinatam. Et ideo non tantum in Deo, sed in omni agent libere – qui potest agere secundum dictamen legis rectae et praeter talem legem vel contra eam – est distinguere inter potentiam ordinatam et absolutam; ideo dicunt iuristae quod aliquis hoc potest facere de facto, hoc est de potentia sua absoluta, – vel de iure, hoc est de potentia ordinata secundum iura.“ Vgl. Scotus, Ord. I, dist. 44, qu. un., n. 7 (ed. Vat. VI, 365 f.): „Deus ergo, agere potens

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

mit gilt in beachtenswerter Univozität für Gott und den menschlichen Gesetzgeber, dass sie immer geordnet handeln. Entweder vollzieht sich ihr Handeln de potentia ordinata, was Duns Scotus auch als Handlungsform de iure ausweist, oder aber sie agieren de potentia absoluta und damit de facto. Damit war exakt die kanonische Definition der potentia-Termini als Art und Weise des Handelns in das theologische Denken übernommen. So definiert bestanden zwei Schwierigkeiten: Nicht nur konnte das genannte Zitat derart verstanden werden, als habe Gott zwei verschiedene Mächte. Sondern damit war auch der Möglichkeit der Willkür im Gottesbegriff Tür und Tor geöffnet, solange keine klaren Kriterien für das Handeln de potentia absoluta bestimmt wurden. Wie bereits angedeutet, lässt sich die zeitgenössische Unsicherheit über die korrekte Definition der potentia Dei bei Duns Scotus selbst aufzeigen, was auch die kontroverse Forschungsliteratur verständlich werden lässt. Erstens interpretiert Duns Scotus selbst die beiden potentia-Begriffe nicht immer auf identische Weise, sondern stellt die potentia absoluta einmal als Möglichkeitshorizont dar, vor dem Gott aber stets im Modus der potentia ordinata handle, und ein anderes Mal als konkrete Art des Handelns. Zweitens nutzt er auch den Begriff de facto teilweise für die potentia absoluta, teilweise für die potentia ordinata. 168 Eindeutig positioniert er sich in der Frage der Temporalität des göttlichen Handelns. Gott habe in einem einzigen Akt die gesamte Weltordnung geschaffen. Wünsche er sich Veränderung, könne er diese de potentia absoluta herbeiführen, dann ändere sich jedoch die gesamte Ordnung. Denn auf einzelne Ereignisse könne Gott nicht reagieren. Erneut wird die Zentralität des Unveränderlichkeitsdiktums sichtbar. Das im Gottesbegriff angelegte Freiheitsverständnis wird von Duns Scotus noch immer als Autarkie gedacht: Der selbstgenügsame Gott lässt sich nicht von

168

secundum illas rectas leges ut praefixae sunt ab eo, dicitur agere secundum potentiam ordinatam; ut autem potest multa agere quae non sunt secundum illas leges iam praefixas, sed praeter illas, dicitur eius potentia absoluta: quia enim Deus quodlibet potest agere quod non includit contradictionem, et omni modo potest agere qui non includit contradictionem (et tales sunt multi modi alii), ideo dicitur tunc agere secundum potentiam absolutam.“ Darauf hat Courtenay, Capacity, 113, hingewiesen. Im Gegensatz zum obigen Zitat, in welchem die potentia absoluta als Handeln de facto ausgewiesen wird, scheint Duns Scotus in Ord. I, d. 1, p. 1, q. 2, n. 38 f. (ed. Vat. II, 25) das Handeln de facto mit der potentia ordinata gleichzusetzen. Zu den unterschiedlichen Positionen innerhalb der Forschung vgl. Randi, Scotist Way, der nur die Gleichsetzung von potentia absoluta mit dem de-facto-Handeln bei Duns Scotus in den Blick nimmt und sie der Position Ockhams gegenüberstellt, der ein solches Handeln mit der potentia ordinata identifiziert habe, da er die potentia absoluta als Möglichkeitshorizont und nicht als Handlungsart interpretiert habe. Diese Position kritisiert Schröcker, Verhältnis, bes. 57–72, als pauschalisierend und versucht nachzuweisen, dass die Unterschiede in der Nutzung der verschiedenen Begriffe marginal seien, da der Umgang beider mit den Begriffen nicht eindeutig sei. Bannach, Macht Gottes, bes. 266–269, sieht den Hauptunterschied bei Duns Scotus’ und Ockhams Nutzung der potentia-Begriffe in der Frage der Temporalität des göttlichen Handelns.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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der Welt berühren und reagiert auch nicht auf sie. Er hat im ursprünglichen Schöpfungshandeln eine Weltordnung derart geschaffen, dass Eingriffe nicht nötig sind. Neben der Unveränderlichkeit fällt hierbei der Stellenwert des Ordo-Gedankens auf. Der primär sich selbst als das absolut Gute erkennende Gott habe sich selbst gewollt. Mittel zum Zweck sei dabei die kontingent gewählte Welt- und Heilsordnung gewesen. Gott habe sie bewusst ausgewählt und sie anderen Möglichkeiten vorgezogen. Demnach konnte er in einem Moment der Ewigkeit sowohl A als auch Nicht-A, beziehungsweise diese oder eine andere Weltordnung, wählen. Diese aber wurde als Ganze auserwählt und prädestiniert. 169 Dementsprechend interpretiert Duns Scotus auch die Vorstellung der Inkarnation Gottes nicht als zeitliche Reaktion auf den Sündenfall, sondern als von Gott von Ewigkeit vorherbestimmt. 170 Diese von Gott wohlgeordnete Welt brauche keinen göttlichen Eingriff. Alles, was danach aussehe, sei Schein. Denn wenn Gott in Zeitlichkeit Änderungen an der Weltordnung vornehme, widerspreche er damit seiner ursprünglichen Handlung, was angesichts der Unveränderlichkeit Gottes undenkbar sei. Der in Oxford, Paris und Köln lehrende Johannes Duns Scotus spiegelt aus heutiger Perspektive auf bemerkenswerte Weise die Umbruchsituation seiner Zeit wider. Vor dem Hintergrund der Pariser Lehrverbote des griechisch-arabischen Nezessitarismus und der kanonischen Modifikation des potentia-Begriffs erarbeitete er eine Potentialitätstheorie und einen Gottesbegriff, der wegweisend wurde für nachfolgende Generationen. Er diagnostizierte feingliedrig Probleme des Gedankens einer notwendigen Kosmogonie und bisheriger lateinischer Integrationsversuche einer solchen, auf dem Aristotelismus basierenden Kosmologie. Angesichts der Erfahrung von Kontingenz entwickelte er den Gedanken, dass bereits Gott selbst ad extra kontingent geschaffen haben müsse. Dabei habe Gott dank seines freien Willens aus der Menge der von der Vernunft notwendigerweise erkannten logischen und realen Möglichkeiten gezielt ausgewählt und damit kontingente Möglichkeiten Wirklichkeit werden lassen. Damit schuf Duns Scotus die Grundlage des Gedankens der möglichen Welten. Dank seiner potentia absoluta habe Gott in Freiheit von äußeren Einflüssen ein ordo schaffen können, an dessen Regeln und Gesetze er sich in freiwilliger Verpflichtung binde und somit de potentia ordinata handle. Auch wenn manche Textstellen daran zweifeln lassen, ist davon auszugehen, dass Duns Scotus diese begriffliche Unterscheidung nicht als tatsächliche Differenz zweier Mächte verstand, sondern als begriffliche Perspektivendifferenz.

169

170

Vgl. Scotus, Lect. I, dist 40, qu. 1, n. 6 (ed. Vat. XVII, 512): „Quomodo autem ille qui est praedestinatus posset damnari, patet ex quaestione praecedente, quia voluntas divina praecedit obiectum, et ideo in eodem instanti aeternitatis in quo vult obiectum et aliquem salvari, potest nolle illud et potest velle in eodem ipsum damnari. Et ideo in eodem instanti aeternitatis in quo aliquis est praedestinatus, potest esse reprobatus, sicut patet ex quaestione praecedente.“ Vgl. Bannach, Macht Gottes, 254.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Gleichwohl unsicherer scheint er in Bezug auf das Verständnis der potentia absoluta gewesen zu sein, was sich in seiner unterschiedlichen Definition zum einen als Horizont der Möglichkeiten, zum anderen – kanonisch interpretiert – als spezifische Art und Weise einer Handlung widerspiegelt. Zwar legte Duns Scotus Wert darauf, dass Gott nie inordinate handle, mit der Interpretation der potentia absoluta als der der potentia ordinata entgegengesetzten Handlungsart eröffnete er jedoch Kritikern die Möglichkeit, diesem Gottesbild ein Willkürmoment vorzuwerfen. Diese Probleme sehend kehrte Wilhelm von Ockham zum traditionellen Verständnis der potentia absoluta als Horizont der Möglichkeiten zurück – was ihn vor dem Vorwurf des Willkürgottes jedoch nicht schützen konnte. Ockham erkannte scharfsinnig jene Momente, die in Duns Scotus’ Konzept weiterhin aristotelischen Geist atmeten und von denen sich dieser trotz aller Versuche, die Kontingenz der Welt und die Freiheit Gottes zu verteidigen, nicht hatte lösen können. So hielt Duns Scotus beispielsweise weiterhin an der Unveränderlichkeit Gottes fest, in dem Sinne, als dass Gott nur einmal vor aller Zeit habe handeln können und in diesem einen Akt die Welt mit all ihren temporären Veränderungen erschaffen habe, da Handlungen innerhalb der Zeit und der geltenden Ordnung Gottes wesenhaften Unveränderlichkeit schaden würden. Resümierend lässt sich festhalten, dass Johannes Duns Scotus eine zentrale Rolle in der lateinischen Auseinandersetzung mit dem griechisch-arabischen Nezessitarismus spielte, er selbst jedoch nur Wege bahnte, die nachfolgende Generationen begingen und ausbesserten. 3.3.4.2. Der Gebrauch der potentia-Dei-Formel durch Wilhelm von Ockham Ockham kannte die kanonische Interpretation der potentia-Dei-Formel, übernahm sie aber nicht, sondern kehrte zum traditionellen Verständnis der potentia Dei absoluta als Möglichkeitshorizont zurück. Dies kann an verschiedenen Beispielen sichtbar gemacht werden, die sich hauptsächlich dadurch unterscheiden, dass Ockham sie im Laufe seines Lebens immer klarer formulierte und präzisierte. Hubert Schröcker mutmaßt, dass dies direkt mit Ereignissen in Ockhams Biographie in Zusammenhang stehe. Habe Ockham zu Beginn seiner akademischen Tätigkeit eine Erklärung der begrifflichen Unterscheidung aufgrund des allgemeinen Gebrauchs der Termini nicht für nötig erachtet, habe er sich mit zunehmenden Vorwürfen und der Kritik an seinen Äußerungen dazu genötigt gesehen. 171 Aufgrund der systematischen Kohärenz von Ockhams Definitions- und Abgrenzungsversuchen wird im Folgenden aber keine strikte zeitliche Linearität in der Analyse von Ockhams Schriften verfolgt; vielmehr geht es darum, den systematischen Kern des Begriffsverständnisses Ockhams aufzuzeigen. Im sechsten Quodlibet setzt Ockham sich anhand verschiedener Beispiele ausführlich mit der Frage nach dem Vermögen Gottes auseinander: 171

Vgl. Schröcker, Verhältnis, 32 f.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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„Zum ersten Punkt sage ich, daß Gott gewisse Dinge nach seiner anordnungsgemäßen Macht tun kann und einige nach seiner absoluten Macht. Diese Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, als gebe es in Gott real zwei Mächte, deren eine anordnungsgemäß ist und die andere absolut. Denn in Gott gibt es nach außen nur eine einzige Macht, die ganz und gar mit Gott selbst identisch ist. Die Unterscheidung ist aber auch nicht so zu verstehen, daß Gott manches anordnungsgemäß machen kann, manches hingegen absolut und nicht anordnungsgemäß. Denn Gott kann nichts nicht-anordnungsgemäß machen.“ 172

In diesem Zitat wird die eindeutige Abgrenzung zu möglichen Missinterpretationen angesichts des kanonischen potentia-Verständnisses sichtbar. Ockham möchte die Unterscheidung als rein begriffliche Differenzierung verstanden wissen. Es handle sich nicht um zwei real verschiedene Mächte Gottes, sondern es gehe um eine Macht, die aus zwei Perspektiven betrachtet werden könne. Sie könne zum einen als absolute Macht verstanden werden, zugleich aber dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass Gott nie absolut und nicht-anordungsgemäß handle. Damit widerspricht er der kanonischen Sichtweise. Gott handelt nach Ockham immer gemäß der potentia ordinata. Damit stellt sich die Frage, wie genau die begriffliche Differenzierung zu verstehen ist. Ockham führt weiter aus: „Vielmehr ist diese Unterscheidung so zu verstehen, daß ,etwas können‘ manchmal im Blick auf die von Gott angeordneten und erlassenen Gesetze verstanden wird. Dann wird gesagt, Gott könne das gemäß der anordnungsgemäßen Macht tun. Anders wird ,können‘ im folgenden Sinne verstanden: als ,alles machen können‘, was nicht impliziert, daß ein Widerspruch entstünde – unabhängig davon, ob Gott angeordnet hat, daß er dies tun werde oder nicht. Denn Gott kann, gemäß dem Sentenzenmeister, Buch 1, Distinctio 43, vieles machen, was er jedoch nicht machen will. Hiervon heißt es, das mache Gott gemäß der absoluten Macht. Ebenso kann ja der Papst nach den von ihm angeordneten Rechten manches nicht, weil er gleichwohl absolut kann.“ 173

Hier scheint die angesprochene kanonische Interpretation durch. Der Papst wird als irdisches Beispiel des göttlichen Vermögens herangezogen. 174 Gleichwohl übernimmt Ockham, wie oben gesehen, nicht die Interpretation der potentia absoluta 172

173

174

Zit. n. Ockham, Texte, 69; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 585,14–586,21): „Circa primum dico quod quaedam potest Deus facere de potentia ordinata et aliqua de potentia absoluta. Haec distinctio non est sic intelligenda quod in Deo sint realiter duae potentiae quarum una sit ordinata et alia absoluta, quia unica potentia est in Deo ad extra, quae omni modo est ipse Deus. Nec sic est intelligenda quod aliqua potest Deus ordinate facere, et aliqua potest absolute et non ordinate, quia Deus nihil potest facere inordinate.“ Zit. n. Ockham, Texte, 69; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,22–30): „Sed est sic intelligenda quod ,posse aliquid‘ quandoque accipitur secundum leges ordinatas et institutas a Deo, et illa dicitur Deus posse facere de potentia ordinata. Aliter accipitur ,posse‘ pro posse facere omne illud quod non includit contradictionem fieri, sive Deus ordinaverit se hoc facturum sive non, quia multa potest Deus facere quae non vult facere, secundum Magistrum Sententiarum, lib. I, d. 43; et illa dicitur Deus posse de potentia absoluta. Sicut Papa aliqua non potest secundum iura statua ab eo, quae tamen absolute potest.“ Das spricht dafür, dass die Quodlibeta septem noch vor dem Gerichtsprozess in Avignon geschrieben wurden.

3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

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als Handlungsart und -weise. Stattdessen akzentuiert er, dass Gott de potentia absoluta anders hätte handeln können, als er es faktisch getan hat, tut oder tun wird. Gott steht dementsprechend eine Bandbreite an Möglichkeiten zur Verfügung, aus welcher er gezielt bestimmte Möglichkeiten auswählt. Der Ockham’sche Gebrauch des potentia-absoluta-Begriffs umfasst also den Gedanken, dass Gott erstens nicht notwendigerweise handelt, womit Ockham nezessitaristischen Weltbildern widerspricht, und Gott zweitens auch nicht nur das tun konnte, was er getan hat beziehungsweise tut und in Zukunft tun wird, wie es Petrus Abaelard behauptet hatte, sondern – Ockham bezieht sich explizit auf Petrus Lombardus, der als „Sentenzenmeister“ 175 betitelt wird, – Gott aus einer Vielzahl an Möglichkeiten frei ausgewählt und Potentiale verwirklicht hat. Hierbei wird der Augustinische Grundsatz ,potuit, sed noluit‘ wieder sichtbar, wenn auch in deutlich differenzierter Art und Weise und auf einer nicht mehr rein exegetischen, sondern logisch-spekulativen Ebene. Um diese abstrakten Ausführungen zu verdeutlichen, führt Ockham mehrere Beispiele im sechsten Quodlibet an. In der ersten Frage beschäftigt sich Ockham mit dem Komplex der Gnade: „Kann ein Mensch ohne geschaffene Liebe erlöst werden?“ 176 Im Hintergrund steht dabei die im Mittelalter im Anschluss an Augustinus vielfach diskutierte Frage, ob auch Menschen ohne die Taufe erlöst werden können. 177 Ockhams Meinung ist eindeutig: „Nun ist ja Gottes Macht jetzt dieselbe wie früher, und es gab einst manche, die ungetauft in das Reich Gottes eingingen – das ist bei den beschnittenen Knaben zur Zeit des Gesetzes offenkundig, die gestorben waren, ehe sie den Verstandesgebrauch besaßen. So ist das auch jetzt möglich. Und doch ist das, was damals nach den damals erlassenen Gesetzen möglich war, jetzt nach den jetzt erlassenen Gesetzen nicht möglich. Absolut ist es gleichwohl möglich.“ 178

Hier lassen sich zweierlei Ebenen ausmachen. Zum einen gelte es, so Ockham, die göttliche Macht aus absoluter und anordnungsgemäßer Perspektive zu betrachten. Absolut gesehen seien mehr Dinge möglich als durch die anordnungsgemäße Macht. Das Wort ,anordnungsgemäß‘ beziehungsweise ,ordinata‘ zeigt dabei auf, 175 176 177

178

Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,27 f.): „Magistrum Sententiarum“. Zit. n. Ockham, Texte, 67; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 585,3): „Utrum homo possit salvari sine caritate creata.“ Augustinus hat diese Frage durch seine verschiedenen Positionierungen zur Frage der menschlichen Willensfreiheit und der göttlichen Prädestination, die seine Rezipienten im Mittelalter noch nicht zeitlich zu trennen wussten, merklich verkompliziert. Vgl. Flasch, Augustin; Flasch, Logik des Schreckens. Zit. n. Ockham, Texte, 71; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 586,33–39): „Cum enim Deus sit aequalis potentiae nunc sicut prius, et aliquando aliqui introierunt regnum Dei sine omni baptismo, sicut patet de pueris circumcisis tempore Legis defunctis antequam haberent usum rationis, et nunc est hoc possibile. Sed tamen illud quod tunc erat possibile secundum leges tunc institutas, nunc non est possibile secundum legem iam institutam, licet absolute sit possibile.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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dass sich die Macht hierbei auf eine bestehende Ordnung bezieht, der gemäß weniger Dinge erlaubt und insofern innerhalb des Gesetzes möglich sind als vor dem absoluten Möglichkeitshorizont betrachtet zur Disposition stehen. Außerdem reagiert Ockham auf historisch existente Unterschiede, indem er zwei sich unterscheidende Gesetze ausmacht, die in historisch differenten Zeiträumen existiert haben. Vor Etablierung der christlichen (Kind-)Taufe, so Ockham, seien Menschen ebenfalls bereits von Gott errettet worden. Ockham erklärt die vergangenen Taten Gottes aber nicht mit der absoluten Macht Gottes, womit zugleich behauptet worden wäre, dass das eine in der Gegenwart existierende Gesetz immer bereits gegolten und Gott es dank seiner absoluten Macht für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft gesetzt hätte. Stattdessen anerkennt Ockham die existierenden historischen Differenzen und behauptet, dass Gott unterschiedliche Gesetze in die eine Ordnung integriert habe. Somit habe Gott immer gemäß seiner potentia ordinata, also innerhalb der bestehenden Ordnung gehandelt. Zwar bestünden seit dem Neuen Bund andere Gesetze, dies sei aber kein Grund, an der göttlichen Ordnung oder seiner Macht zu zweifeln. Um eine mögliche menschliche Unsicherheit zu nehmen, die über den Gedanken entstehen könnte, dass Gott jederzeit gemäß seiner potentia absoluta anders handeln könnte – und hier verbinden sich die oben getrennt aufgeführten Ebenen wieder – hebt Ockham die Treue Gottes hervor. Gott hält sich an die von ihm erlassenen Gesetze. Zwar könnte das nicht als wahre Aussage gewusst werden, würde damit doch die Zukunft festgelegt und somit Gott die Freiheit genommen werden, in Zukunft anders handeln zu können. Gleichwohl sei am Glauben festzuhalten, dass Gott sich an die von ihm erlassenen Gesetze halte. 179 Bei der Interpretation dieser Texte ist es wichtig, die historischen Umstände im Blick zu behalten. Ockham ist weniger darum bemüht, sich von dem Bild eines grenzenlos freien Gottes abzugrenzen, als vielmehr darum, gegenüber dem arabischen Aristotelismus den Gedanken eines personalen und freien Gottes zu verteidigen. In diesem Sinne sind seine Aussagen zu lesen, wie beispielweise: „In Bezug auf den zweiten Artikel behaupte ich, dass wenn man von absoluter Notwendigkeit spricht, Gott nicht aus Notwendigkeit heraus einen aus geschaffener Liebe hervorgebrachten Akt akzeptiert. Vielmehr vermag er es aufgrund seiner absoluten Macht, diesen Akt nicht zu akzeptieren; ,nicht akzeptieren‘ verstanden als jemandem nicht das ewige Leben geben wollen.“ 180 179

180

Vgl. Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 591,47–53): „Secundo dico quod de necessitate acceptat actum elicitum ex caritate, loquendo de necessitate ex suppositione, quia haec consequentia est necessaria: Deus ordinavit et instituit per leges iam datas quod talis actus sic elicitus sit acceptandus, igitur Deus illum actum iam elicitum acceptat; quia antecedens non potest esse verum sine consequente, et tamen tam antecedens quam consequens est simpliciter contingens.“ Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 590,27–31): „Circa secundum dico quod Deus non de necessitate acceptat actum elicitum ex caritate creata, loquendo de necessitate absoluta,

3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

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Ockham möchte sein Gottesbild partout von jeglichen absoluten Notwendigkeiten, denen Gott gegenüberstehen könnte, freihalten. „Außerdem kann etwas, das (ursächlich) handelt, ohne auf eine ganz bestimmte Reihenfolge und Anordnung der Seinswirklichkeiten festgelegt zu sein, diese Seinswirklichkeiten auch nach einer anderen Ordnung hervorbringen. Gott aber ist ein Wesen, das in dieser Weise handelt; also kann er jemandem, der ein gutes Werk tut, das ewige Leben ohne eine derartige Gnade geben.“ 181

Der Mensch dürfe also nicht davon ausgehen, dass Gott einer vorgeordneten Macht gemäß handle. Er unterliege in Bezug auf Handlungen ad extra keinerlei Zwängen. 182 Somit könne er in der Gegenwart anders agieren, als er das in der Vergangenheit getan habe, und auch in Zukunft anders handeln, als er dies momentan tue. Immer wieder handelt Ockham das am Beispiel der Erlösung ab und insistiert darauf, dass Gott zwar entschieden habe, dass die Menschen durch den gnadenhaften Akt der Taufe gerettet werden würden, dies aber keine absolute Notwendigkeit darstelle, denn ad extra unterliege Gott keinerlei Notwendigkeiten. 183 Zur begrifflichen Unterscheidung führt er den Terminus der „bedingten Notwendigkeit“ ein und erläutert, diese liege vor, „wenn ein Konditionalsatz notwendig ist, obwohl sowohl die Bedingung als auch die Folge kontingent sind“. 184 Ockham exemplifiziert das am Beispiel des seines Erachtens bedingt notwendigen Satzes „‘Wenn Petrus prädestiniert ist, dann wird Petrus gerettet werden‘“, da dieser Satz wahr sei, ob-

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sed potest de potentia sua absoluta illum actum non acceptare, accipiendo ,non acceptare‘ pro non velle dare alicui vitam aeternam.“ Zit. n. Ockham, Texte, 71; Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 587,49–52): „Praeterea agens quod non determinatur ad certum cursum et ordinem rerum, secundum alium ordinem res illas producere potest; sed Deus est tale agens; igitur potest dare vitam aeternam alicui facienti bonum opus, sine tali gratia.“ Ockham spricht, wenn er die Allmacht Gottes thematisiert, in den meisten Fälle über den Bereich ,ad extra‘. Dieser Hinweis aber lässt aufhorchen und daher soll an dieser Stelle kurz auf den Bereich ,ad intra‘ eingegangen werden. Die Trinität ist für Ockham zwar nicht aus der Vernunft heraus ableitbar, aufgrund der Offenbarung aber eine notwendige Wahrheit, deren Gegenteil einen Widerspruch beinhalten würde (Vgl. Quodl. II, qu. 3 (OTh IX 119,44–54)). Außerdem sei sowohl die Zeugung des Sohnes (Vgl. Sent. I, dist. 6, qu. un. (OTh III 96,9–10)) als auch die Hauchung des Geistes (Vgl. Sent. I, dist. 10, qu. 2 (OTh III 340,19–21)) ein notwendiger innergöttlicher Vorgang. Diese Vorgänge seien der göttlichen Allmacht entzogen, beziehe diese sich doch nur auf machbare Dinge (Vgl. Sent. I, dist. 20, qu. un. (OTh IV 29,20–21)) und weder der Sohn noch der Geist seien im strengen Sinne gemacht worden. Ockham stützt sich dabei explizit auf traditionelle Argumente, beispielsweise von Augustinus (Vgl. Sent. I, dist. 20, qu. un. (OTh IV 30,2–6)). Vgl. Schröcker, Verhältnis, 162–200, bes. 162–169. Neben dem sechsten Quodlibet geht Ockham der Frage in Sent. I, dist. 41 (OTh IV, 597– 610) intensiv nach. Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 590,19–21): „Necessitas ex suppositione est quando aliqua condicionalis est necessaria, quamvis tam antecedens quam consequens sit contingens.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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gleich sowohl Bedingung als auch Folge an sich kontingent seien. 185 Denn weder die Bedingung, dass Petrus prädestiniert sei, stelle eine absolute Notwendigkeit dar, noch sei die Folge, dass Petrus gerettet werde, eine absolute Notwendigkeit. Unter der gegebenen Prämisse aber, dass Gott ein Gesetz erlassen habe, wonach Petrus gerettet werde, wenn er prädestiniert sei, sei der Aussagegehalt notwendig. Mit dem Begriff der bedingten Notwendigkeit versucht Ockham, die Treue Gottes in sein Konzept zu integrieren: Sobald Gott ein Gesetz erlassen hat, können Menschen darauf vertrauen, dass er es befolgt. Das ist eine entscheidende Einsicht, die viele Kritiker und Kritikerinnen oft übersehen haben. Ockhams Gottesbild umfasst nicht nur den Begriff der absoluten Macht, die vermeintlich grenzenlos ist – was Ockham explizit von sich weist –, sondern auch den Begriff der anordnungsgemäßen Macht. Ockham bekräftigt immer wieder, dass aufgrund der Treue Gottes darauf zu vertrauen sei, dass sich dieser an die von ihm erlassenen Gesetze halte. Diese mögen sich gemäß der einen, in Ewigkeit von Gott erlassenen Ordnung im Verlauf der Zeit verändern, nichtsdestotrotz kann, Ockham zufolge, darauf vertraut werden, dass Gott sich an das geltende Gesetz hält. Sein Fokus liegt nicht auf der Abwehr eines Willkürgottes, der damals nicht zur Debatte stand, sondern auf der vernünftigen Verteidigung eines personalen Gottesbildes angesichts der Herausforderungen eines griechisch-arabischen Nezessitarismus. Vor diesem Hintergrund müssen die Aussagen Ockhams gelesen werden, mit welchen er versucht, sein Gottesbild dezidiert von Momenten externer Notwendigkeiten frei zu halten und zugleich ein vertrauenswürdiges und stabiles Gott-Welt-Verhältnis denkbar zu machen. Diese These soll im Folgenden noch einmal argumentativ gestärkt werden, indem die Deutung eines Ockham’schen Willkürgottes, exemplarisch dargestellt bei Hans Blumenberg, gegenübergestellt und überprüft wird. 3.3.4.3. Hans Blumenberg und der Gott der Willkür Hans Blumenberg macht in Ockhams Weltbild den Zusammenbruch des Mittelalters und in Ockhams Gottesbild die reine Willkür aus. Er kritisiert, dass der „theologische Absolutismus [...] dem Menschen den Einblick in die Rationalität der Schöpfung [verweigere]“. 186 In „ihrer Sorge um die unendliche Macht und die absolute Freiheit ihres Gottes“ habe die spätmittelalterliche christliche Religion „die Bedingungen selbst zerstört [...], die sie für das Weltverhältnis des Menschen vorgegeben hatte“. 187 Blumenberg sucht nach der „Legitimität der Neuzeit“ und macht als Hauptkriterium dieser Epoche die Selbstbehauptung des Menschen gegenüber 185

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Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 590,21–23): „Sicut haec est necessaria ,si Petrus est praedestinatus Petrus salvabitur‘, et tamen tam antecedens quam consequens est contingens.“ Vgl. zum Wissensbegriff Ockhams und dessen Methode des Wissenserwerbs Beckmann, Ockham, 48–62, 135–149. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 172. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 134.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

einem Kosmos aus, der nicht mehr als wohlgeordneter Ausdruck der göttlich vorgegebenen Ordnung verstanden worden sei. 188 In Form der Naturwissenschaften und der Philosophie hätten die Menschen versucht, Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Natur auszumachen, nachdem ihnen die Gewissheit des göttlichen ordo abhandengekommen sei. Verantwortlich für diese Unsicherheit sei die Geisteshaltung des Nominalismus und dessen wichtigsten Vertreters Wilhelms von Ockham gewesen: „[E]rst dadurch, daß der Nominalismus die Destruktion des human verläßlichen Kosmos radikal genug besorgt hatte, konnte die mechanistische Naturphilosophie als Instrumentarium der Selbstbehauptung ergriffen werden.“ 189 Vollzogen worden sei diese Destruktion durch Modifikationen am bestehenden Gottesbild. „Der Gott, der nur dem logischen Prinzip des Widerspruchs unterworfen ist, ist zugleich der Gott, der sich selbst zu widersprechen vermag, dessen Schöpfung nicht den Willen zur Vernichtung ausschließt, der über jeder Gegenwart als Ungewißheit der Zukunft steht, also letztlich der Gott, dessen Wirken die Annahme immanenter Gesetze nicht zuläßt und der alle ,rationalen‘ Konstanten in Frage stellt.“ 190

Das Problem an diesem Gotteskonzept ist nach Blumenberg, dass die Handlungen dieses Gottes, der keinerlei Gesetzmäßigkeiten unterliege, von Menschen nicht nachvollzogen werden könnten. Aus dem Gefühl der Verlorenheit heraus seien Menschen daraufhin dazu übergegangen, die Natur in bestimmte, dem menschlichen Vernunftvermögen entspringende Kategorien einzuteilen und sie entsprechend zu ordnen und zu bearbeiten. Diese Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Manche Passagen in Ockhams Werken zur Allmacht Gottes haben tatsächlich für große Unruhe gesorgt, was sich anhand seiner Auseinandersetzung mit den Päpsten Johannes XXII. (ca. 1245–1334) und Benedikt XII. (ca. 1285–1342) zeigen lässt. 191 In den Streitschriften Opus Nonaginta Dierum und Contra Benedictum geht Ockham auf gegen

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Vgl. hierzu den gewinnbringend zu lesenden Ansatz von Steffens, Auf Umwegen, 58–88, diese Theorie Blumenbergs in dessen Biographie einzubetten und vor dem Hintergrund von Blumenbergs Leben auszudeuten. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 175. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, 188. Die ursprünglich rein akademischen Ansichten Ockhams wurden während seiner Zeit in Avignon mit aktuellen kirchenpolitischen Fragen um den sogenannten Armutsstreit des Franziskanerordens verknüpft. Ockham wurde damit konfrontiert, als der Ordensgeneral der Franziskaner, Michael von Cesena, im selben Konvent Unterschlupf fand. Ursprünglich eine ordensinterne Debatte um die Armut Jesu und seiner Jünger und den daraus folgenden Besitzansprüchen des Ordens, nahm sie schnell Züge einer Grundsatzdebatte über die Armut Jesu und die rechtmäßige Interpretation der Bibel an, in die sich auch Papst Johannes XXII. einmischte. Vor dem Hintergrund dieser Debatte sind die Schriften Ockhams zu lesen, die er in München verfasste und in denen zu beobachten ist, wie theologische Theorie und kirchenpolitische Praxis wechselseitig aufeinander wirkten. Vgl. zum Armutsstreit Leppin, Ockham, 172–181.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

101

ihn vorgebrachte Anschuldigungen ein. Diese Vorwürfe mögen zugespitzt sein, haben ihn möglicherweise bewusst falsch interpretiert, nichtsdestotrotz zeigen sie anschaulich den Empörungsgrad angesichts der von Ockham entwickelten Thesen. Die päpstlichen Argumente sind nur in Form der Wiedergabe durch Ockham überliefert, gleichwohl lassen sich daran entscheidende Argumente aufzeigen. Johannes XXII., so Ockham in seinem Traktat Contra Benedictum, habe in einer Predigt verkündet: „Sowie es daher unmöglich ist, dass Gott veränderlich sei, weil er dann nicht mehr Gott wäre, so ist es unmöglich, dass er die Dinge, welche er aus seiner potentia ordinata heraus macht, anders machen kann als er es macht. Und daher ist es unmöglich, dass er einen Menschen errettet de potentia absoluta ohne das Sakrament der Taufe und ohne, dass die Liebe in ihm wohnt, weil es so angeordnet war von Ewigkeit her aus seiner potentia ordinata heraus, die dasselbe ist, was Gott ist, und nicht verändert werden kann [...] Daher machen gewisse Leute einen Unterschied und sagen, dass Gott vieles kann durch die potentia absoluta, was er aus seiner potentia ordinata heraus nicht vermag. Aber das ist falsch und irreführend, weil die absolute und die anordnungsgemäße Macht Gottes identisch sind und nicht voneinander unterschieden werden können, wenn nicht alleine durch das Wort, sowie Simon und Petrus, wenn derselbe Mensch mit beiden Namen angerufen wird.“ 192

Johannes XXII. glaubt, nach Ockhams Darstellung, dass Ockham zwei Mächte in Gott annimmt, zum einen die absolute und zum anderen die anordnungsgemäße Macht. Entsprechend dieser Differenzierung könne Gott, so die Angst des Papstes, auf zwei unterschiedliche Art und Weisen handeln, womit geltende Gesetze keinerlei Gewissheit mehr bieten würden. Damit ist präzise jene Angst beschrieben, die Blumenberg der spätmittelalterlichen Leserschaft von Ockhams Schriften unterstellt, wie an einem weiteren Beispiel aufgezeigt werden kann: „Wenn also Gott de potentia absoluta etwas anderen tun könnte, als er de potentia ordinata tut, würde daraus folgen, dass die Wirkung der potentia ordinata von Gott selbst zunichte gemacht und verändert werden könnte und er dann nicht allmächtig wäre. Es würde auch folgen, dass Gott in sich selbst nicht nur veränderbar wäre, sondern im Gegensatz zu sich selbst und seiner Macht stehen würde und dann nicht Gott wäre.“ 193 192

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Ockham, Contra Benedictum (OP III, 230,29–231,8): „Unde sicut impossibile est Deum esse mutabilem, quia tunc non esset Deus, ita impossibile est quod illa, quae de sua ordinata potentia facit, (possit aliter facere quam facit). Et ideo impossibile est quod salvaret hominem de absoluta potentia sine sacramento baptismi et sine habitu caritatis, quia sic ordinatum fuit ab aeterno de (Dei) potentia ordinata, quae idem est quod Deus, et mutari non potest. [...] Unde distinguunt quidam et dicunt, quod multa potest Deus de potentia absoluta, quae non potest nec facit de potentia ordinata. Sed istud est falsum et erroneum, quia potentia Dei absoluta et ordinata idem sunt et non distinguuntur ab invicem, nisi solo nomine, sicut Simon et Petrus, quando idem homo utroque nomine appellatur.“ Ockham, Contra Benedictum (OP III, 231,21–25): „(Si ergo Deus de) potentia absoluta posset aliquid facere aliud quam faciat de potentia ordinata, sequeretur quod effectus potentiae ordinatae posset a Deo frustrari et mutari, et tunc non esset omnipotens. Sequeretur etiam quod Deus in se ipso non solum esset mutabilis, sed sibi ipsi et suae potentiae contrarius, et tunc non esset Deus.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Der Gott, der auf zwei Arten handeln kann und nur auf eine Weise Gesetzen folgt, die er dank seiner zweiten Macht verwerfen kann, ist für den Menschen nicht mehr nachvollziehbar und muss sich den Vorwurf der Willkür gefallen lassen. Mit dieser Feststellung haben sowohl Johannes XXII. als auch Blumenberg recht. Die entscheidende Frage ist aber, ob diese Kritik die Theologie Ockhams trifft. Die negativ ausfallende Antwort soll im Folgenden begründet werden. Ockham prononciert explizit, dass es in Gott nur eine einzige Macht gebe. 194 Diese Macht könne aber aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Auf sprachlicher Ebene könne man dann von zwei Machtdimensionen sprechen, was jedoch nicht zwei differenten, sich gegenüberstehenden Mächten entspreche, sondern lediglich darstellen solle, dass Gott in seinem Handeln frei sei (potentia absoluta) und sich dank dieser Freiheit vor dem Horizont der Möglichkeiten für einige davon entscheide und diese verwirkliche. Im Rahmen des Verwirklichten agiere Gott gemäß der von ihm erlassenen Gesetze und innerhalb des von ihm festgelegten Rahmens, was mit dem Begriff der potentia ordinata beschrieben werden könne. Ockham betont zwar immer wieder, dass Gott auch anders handeln könnte und ohne Kenntnis des historischen Hintergrundes mag diese Vehemenz überraschen. Aber angesichts der intellektuellen Herausforderung des Aristotelismus erscheint seine Bestimmtheit vielmehr als konsequente Erläuterung seines Begriffs eines personalen und freien Gottes. Die zunehmend ausführlichere Darstellung seiner Argumente spricht dafür, dass Ockham erkannt hatte, dass seine Thesen auf Unverständnis und Kritik stießen. Nichtsdestotrotz hielt er an seinen Leitgedanken fest und versuchte diese mit Beispielen zu erläutern. Entscheidend für Blumenbergs Lesart ist, wie Jürgen Goldstein zeigen konnte, dessen methodische Vorgehensweise. Im Versuch, die Legitimität der Neuzeit aufzuzeigen, suchte Blumenberg nach geistesgeschichtlichen Brüchen, die den Neuanfang der Neuzeit markieren konnten, wie ihn protestantische Forscher des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zur Selbstlegitimierung sowie solche katholischer Provenienz zur Abgrenzung genutzt hatten. 195 Blumenberg erörterte dabei zu wenig den historischen Hintergrund, vor dem Ockham lebte und schrieb und missverstand dessen Ausführungen daher. Er interpretierte die rein sprachliche Differenzierung des potentia-Begriffs als faktische Trennung und entmachtete die potentia ordinata angesichts der scheinbar grenzenlosen Allmacht Gottes. Mit einer solchen Allmacht war eine Sollbruchstelle gefunden, mit welcher Blumenberg seine These der Legitimität der Neuzeit begründen konnte. Goldstein hält fest: „Mit Hilfe von neuzeit194 195

Vgl. das oben bereits analysierte Zitat aus Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 585,14– 586,21). Vgl. zur unterschiedlichen Bewertung der Neuzeit aus katholischer und protestantischer Perspektive neben dem Sammelband von Holzem/Leppin, Martin Luther; Blum, Luther, bes. 137–182; Lehmann, Luthergedächtnis, bes. 126–137; Oberkrome, ,Ewiger Deutscher‘.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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lichen Kriterien wird die Krise des Mittelalters diagnostiziert, auf die die Neuzeit die Antwort sein soll.“ 196 Gleichwohl besitzt die These Blumenbergs, dass das Konzept Ockhams eines freien Gottes, der immer auch anders handeln könnte, ein verunsicherndes Moment aufweist, Plausibilität. Es ist nicht abzustreiten, dass dieser Gottesbegriff eine Fragilität beinhaltet, die der Begriff eines vor aller Zeit festgelegten und unveränderlichen Kosmos durch einen autarken Gott nicht kennt. Spuren einer solchen Verunsicherung angesichts des Ockham’schen Gottesbildes lassen sich auch bei Martin Luther finden. Er hatte Ockham durch die Schule von Gabriel Biel kennengelernt und sein aus dem Ringen um den richtigen Gottesbegriff hervorgegangener deus absconditus weist Züge der göttlichen Allmacht bei Ockham auf. 197 Bis zu einem gewissen Grad ist diese Verunsicherung wohl nicht auszuräumen, gleichwohl soll im Folgenden noch einmal verdeutlicht werden, dass Ockham keinen Gott der Willkür postulierte, was ihm nicht nur Blumenberg, sondern über Jahrzehnte hinweg viele Personen vorwarfen, wenn sie sich denn überhaupt mit ihm beschäftigten. Protestantische Forscher wie Adolf von Harnack verurteilten Ockham am Ende des 19. Jahrhunderts scharf als Vertreter jenes dunklen Teils des Mittelalters, von dem sich Luther abgewendet habe. 198 Im Zuge der Neuscholastik und dem starken Fokus auf Thomas von Aquin im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Ockham in der katholischen Theologie als Abweichler dargestellt, der mitverantwortlich gewesen sei für den Niedergang der ,hohen‘ Theologie. Wenn auch unter anderen Vorzeichen, so stellte noch Erwin Iserloh in den 1950er-Jahren Ockhams Lehren als „Wurzeln einer theologischen Haltung [...], die einerseits zur Ablehnung der Messe führte, andererseits zu ihrer gültigen Verteidigung nicht fähig waren“ dar. 199 Er kritisierte Ockhams „destruktive Wirkung“ 200 durch seinen Gott der „Willkür“ 201 und die „Zerreißung des Seinszusammenhangs von verdienstlicher Tat und Lohn, von Sünde und Strafe, von der Erhebung in die Gottesgemeinschaft durch die Gnade und deren Erfüllung in der ewigen Seligkeit.“ 202 Nicht zu bestreiten ist, dass Ockham seine potentia-Lehre immer wieder am Beispiel der Gnade ausgeführt hat. Aus seinen Lehren aber einen willkürlichen Gott herauszulesen, auf den die Menschen nicht mehr vertrauen könnten, entspricht nicht der Intention Ockhams. Dies soll exemplarisch an einer Textstelle verdeutlicht werden, in welcher Ockham explizit über Gnade, Schuld und Erlösung des Menschen spricht: 196 197 198 199 200 201 202

Goldstein, Nominalismus, 39. Vgl. Goldstein, Nominalismus, 191, 197. Vgl. Leppin, Ockham, 278 f.; Bannach, Macht Gottes, 415. Vgl. Leppin, Ockham, 282. Iserloh, Gnade und Eucharistie, V. Iserloh, Gnade und Eucharistie, 133. Iserloh, Gnade und Eucharistie, 71. Iserloh, Gnade und Eucharistie, 132.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

„Angesichts der Unterscheidung von Gottes absoluter Macht und Gottes anordnungsgemäßer Macht, lautet meine Antwort auf die Frage, erstens, dass Gott aufgrund seiner absoluten Macht, wenn es ihm beliebt, sowohl die ursprüngliche als auch die aktuelle Schuld erlassen kann ohne Einflößung der geschaffenen Gnade. [...] Des Weiteren besteht kein Widerspruch darin, dass Gott ihn [den Sünder] in jenem Moment das ewige Leben schenkt, in dem er es vermag, ihm Gnade zu gewähren.“ 203

Ockham möchte keine Willkürherrschaft Gottes begründen, vor der sich kein Mensch mehr sicher fühlen kann. Er hat eine gänzlich andere Perspektive. Er möchte primär die Freiheit im Gottesbegriff verteidigen. Mit der Betonung der Allmacht Gottes, zeigt Ockham die Wahlmöglichkeiten Gottes auf. Gott hat demgemäß das Vermögen, anders zu handeln. Er kann unter den Bedingungen der Zeit kontingente Entscheidungen fällen. Damit richtet sich Ockham sowohl gegen die 1277 in Paris verurteilten nezessitaristischen Gottesvorstellungen als auch gegen Duns Scotus, der ihm zwar gedanklich den Weg geebnet, dabei aber Hindernisse wie den Begriff der ,Unveränderlichkeit Gottes‘ selbst nicht mehr überwunden hat, was Ockham nun nachholt. Denn er verwirft diesen Terminus nicht, sondern transformiert ihn, was wenige Zeilen nach den oben zitierten Sätzen deutlich wird: „Drittens erkläre ich, dass gemäß der schon von Gott erlassenen Gesetze, Gott weder Schuld noch Strafe erlassen kann ohne eine Einflößung von Gnade, und das kann nur durch die Heilige Schrift bewiesen werden.“ 204 Aus diesen wenigen Sätzen aus dem Contra Benedictum werden die Kernpunkte der Gotteslehre Ockhams ersichtlich. Nach Ockham handelt Gott immer de potentia ordinata. Gott habe Gesetze erlassen, an die er sich aus freiem Entschluss halte. Dies ermöglicht zwar den Gedanken, dass Gott auch anders handeln könnte, was Ockham sogar mehrmals explizit hervorhebt. Damit versucht er aber lediglich aufzuzeigen, dass Gott nicht notwendigerweise so handle, wie er handle, sondern dass Gott unter den Bedingungen der Zeit kontingente Akte setze, somit immer auch anders hätte handeln können, sich aber ganz bewusst für die bestehende Ordnung entschieden habe und sich in seinem Handeln an den bestehenden Gesetzen orientiere. Der Terminus der potentia absoluta fungiert dabei als theoretischer Aufweis des Horizonts der Möglichkeiten, der durch verschiedene Beispiele abgeschritten wird. Damit grenzt sich Ockham auch von der im 13. Jahrhundert entwickelten kanonischen Begriffsdefinition der potentia-Differenz, wie sie unter anderem von Johannes Duns Scotus verwendet worden war, ab. 203

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Ockham, Quodl. VI, qu. 4 (OTh IX, 596,13–597,30): „Ad istam quaestionem, praesupposita una distinctione de potentia Dei absoluta et ordinata, dico primo quod Deus de potentia sua absoluta potest, si sibi placeat, omnem culpam tam originalem quam actualem remittere sine infusione gratiae creatae. [...] nec multo magis est aliqua contradictio quin in illo instanti in quo potest sibi dare gratiam, acceptet eum ad vitam aeternam“. Ockham, Quodl. VI, qu. 4 (OTh IX 598,68–70): „Tertio dico quod secundum leges iam ordinatas a Deo non potest Deus remittere culpam nec poenam sine infusione gratiae, et hoc solum potest probari per Scripturam Sacram.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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„Gott war und ist fähig, viele Dinge zu tun, die er nicht getan hat und nicht tut, und er wäre in der Lage viele Dinge nicht zu tun, die er tut; deswegen hätten viele Dinge auf eine andere Art und Weise geschehen können und können es noch immer, als sie geschehen sind und geschehen; und folgerichtig geschehen nicht alle Dinge notwendigerweise, sondern viele geschehen kontingenterweise.“ 205

3.3.5. Die Grenzen der göttlichen Macht Um dem Komplex der Willensfreiheit und dem Gottesbegriff Ockhams gerecht zu werden, muss die Frage gestellt werden, welche Grenzen Ockham in den Begriff der göttlichen Freiheit und seiner (All-)Macht inkludierte. In zwei zitierten Sätzen ist bereits das Widerspruchsprinzip als Grenze der göttlichen Allmacht bei Ockham genannt worden. So könne Gott nur das tun, was keinen Widerspruch beinhalte. 206 Diese Aussage wird von Ockham nicht weiter begründet. Zur damaligen Zeit stand sie aber auch nicht zur Debatte. Dass das Kontradiktionsprinzip eine natürliche Grenze der göttlichen Macht darstelle, war Konsens. 207 Bemerkenswert ist bei Ockham, dass dieses Prinzip weit weniger formal gehalten ist, als zu vermuten wäre. Formale Grenzen liegen beispielsweise neben der basalen Aussage, dass Gott nicht zugleich A und Nicht-A wollen oder gebieten könne, 208 darin, dass Tiere, die bestimmte Eigenschaften aufweisen würden, einer bestimmten Art angehörten. 209 Die Artenordnung der Tiere sei dabei durch göttliche Eingriffe geschützt, da bei205

206 207 208

209

Ockham, Nonaginta 95 (OP II, 719,156–160): „Deus potuit et potest multa facere, quae non fecit nec facit, et posset multa non facere, quae facit; ergo multa potuerunt et possent aliter evenire quam evenerint et eveniant; et per consequens non omnia eveniunt de necessitate, sed plura contingenter.“ Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 7 (OTh V 134,20–21): „Deus non potest facere quod duo contradictoria sint vera in eodem instanti.“ Vgl. Schröcker, Verhältnis, 85. Dieser Grundsatz des Widerspruchsprinzips wurde erstmals von Aristoteles aufgestellt. Ockham übertrug es konsequent auf den Status des Seins, der menschlichen Erkenntnis und der Semantik. Weder könne etwas Widersprüchliches existieren, noch könne so etwas erkannt oder ausgesagt werden. Dies gelte sowohl für den Menschen als auch für Gott. (Vgl. Beckmann, Ockham, 40 f.) Meier, Ich glaube, 166 f., hat Schröcker kritisiert und ihm vorgeworfen, dass er die Geltung des Widerspruchsprinzips im Gottesbegriff aufheben wolle und moniere, dass Ockham daran festgehalten habe. Das trifft nur bedingt zu. Tatsächlich kritisiert Schröcker, Verhältnis, 507 f., dass Ockham seine vom Kontradiktionsprinzip geschützten Grundsätze nicht begründet und „von Gottes Macht zu gering denkt“, wenn diese vom Widerspruchsprinzip eingeschränkt würde, gleichwohl bezieht er sich explizit auf die inhaltlichen Kriterien Ockhams, die – wie gezeigt werden konnte – weit über formale Grenzen hinausgehen. Diese inhaltlichen Kriterien wiederum übersieht Meier. Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 44, qu. un. (OTh IV, 650,1): „[H]omo ex se est non-asinus.“ Vgl. ausführlicher dazu: Ockham, Sent. I, dist. 44, qu. un. (OTh IV, 649,18–650,6).

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

spielsweise eine Chimäre, ein Mischwesen zweier Arten, einen Widerspruch darstelle. 210 Des Weiteren könne Gott notwendige Aussagen nicht falsch sein lassen. 211 Ockham kennt aber auch inhaltlich gefüllte Kriterien, die, weil deren Gegenteil einen Widerspruch bedeuten würde, dem göttlichen Vermögen entzogen seien. Zum Beispiel sei es Gott nicht möglich, einem Menschen die Fähigkeit des Lachens zu nehmen, 212 und auch real existierende Universalien herzustellen, sei für Gott nicht möglich, da sie widersprüchlich wären. 213 Außerdem könne Gott nicht die Vergangenheit ändern. Was einmal geschehen sei, könne von Gott nicht ungeschehen gemacht werden. 214 Neben diesen Limitierungen schränkt Ockham den göttlichen Machtbereich aber auch durch ethische Prinzipien ein. Wie bereits ausgeführt, nennt Ockham mehrere solcher seiner Meinung nach jedem vernunftbegabten Wesen aus sich heraus einsehbaren moralischen Grundsätze. Sie sollen an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Zum einen betreffen die principia per se nota den Grundsatz, dass „alles Tugendhafte getan werden, und alles Nicht-Tugenhafte gemieden werden soll“. 215 Ockham rechnet aber auch die beiden Pflichten dazu, dass jedem Wohltäter Wohltaten zu erbringen seien, 216 und Notleidenden beizustehen sei. 217 Diese Prinzipien unterliegen ihm zufolge einzig dem Kontradiktionsprinzip, es sind also keine menschlichen oder göttlichen Gesetze, die geändert werden könnten. Sie gelten notwendigerweise aus sich selbst heraus. Ockham erklärt zwar nicht, wieso gerade diese Prinzipien einzig dem 210

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Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 9, qu. 3 (OTh III 304, 4–7): „Tum quia aliqua ordinantur secundum perfectionem et eodem modo secundum causalitatem, omni ente rationis circumscripto, – etiam si ens rationis ita includeret contradictionem sicut chimera.“ Vgl. Ockham, Br. sum., Prol. (OPh VI 6,39–42): „Alio modo dicitur ,necessarium‘ illud quod non potest esse falsum, licet possit non esse; et sic aliqua propositio est necessaria sicut ista quae est scita; nec Deus potest earn facere falsam“. Vgl. Ockham, S. l. I, cap. 24 (OPh I 79,24–28): „Et sic ,risibile‘ est proprium homini; sie enim competit omni homini et soli et semper quod Deus non posset facere aliquem hominem exsistere quin ille esset risibilis, quia vere posset ridere, ita quod non includeret contradictionem ipsum ridere, et per consequens esset risibilis; hoc enim voco risibile.“ Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 2, qu. 6 (OTh II 180,12–16): „Confirmatur secundo, quia illud quod nec etiam per potentiam divinam potest communicari pluribus, non est realiter commune; sed quacumque re demonstrata, illa per potentiam divinam non potest communicari pluribus, quia est realiter singularis; igitur nulla res est realiter et positive communis.“ Vgl. Ockham, S. l. I, cap. 59 (OPh I 190,69–70): „[P]ropositio talis de praeterito est necessaria, ita quod Deus non potest facere quin hoc fuerit, ex quo fuit.“ Ockham, Quodl. II, qu. 14 (OTh IX, 177,26–27): „[O]mne honestum est faciendum, et omne inhonestum est fugiendum“. Vgl. Ockham, Qu. var., qu. 6, art. 10 (OTh VIII, 281,222–225): „Et haec procedit ex principiis per se notis ut hic: ,omni benefactori est benefaciendum; sed quilibet liberans aliquem a morte est benefactor; igitur omni tali est benefaciendum‘.“ Vgl. Ockham, Qu. var., qu. 8 (OTh VIII, 423,310–311): „[O]mni indigenti extrema necessitate est benefaciendum ne pereat“.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Widerspruchsprinzip unterliegen, aber klar ist, dass sie damit dem göttlichen Handlungsbereich entzogen sind. Er hebt explizit hervor, dass Gott weder Widersprüchliches machen könne, noch solches machen wolle, und diese Einschränkung somit keine wirkliche Einschränkung darstelle. Diese Argumentationsform erinnert an klassische Argumente, mit denen die Unfähigkeit Gottes, das Böse zu tun, rechtfertigt wurde. 218 Gleichwohl sind der göttlichen Allmacht hiermit klare Grenzen gesetzt. Bestimmte ethische Prinzipien gelten ewig und aus sich heraus, ohne dass Gott darauf Einfluss hätte. Hieran zeigt sich der historische Einfluss auf Ockham. Vor dem Hintergrund einer Tradition schreibend, die jahrhundertelang davon ausging, dass Gott Ideen umsetze, die immer bereits existierten, versucht er, Freiheit in den Gottesbegriff einzuschreiben, ohne sich dabei vollständig von diesen etablierten Gedanken lösen zu können. Über die Frage, ob Gott demgemäß etwas befehlen könne, das einem principium per se notum entgegenstehe, wurde in der Forschung viel diskutiert. Philotheus Boehner und Marilyn McCord Adams vertreten die Ansicht, dass Gott einen solchen Akt befehligen könne, da seine Allmacht einzig formalen Grenzen des Kontradiktionsprinzips unterworfen sei und er somit nicht A und zugleich Nicht-A fordern könne. Die Möglichkeit, dass Gott einen Akt befehle, der den präpositiven Moralmaßstäben widerspreche, bestehe aufgrund seiner Allmacht. 219 Zwar verteidigt Boehner Ockham gegen den Vorwurf, Moralmaßstäbe seien abhängig von der jeweiligen Perspektive, indem er auf den unumstößlichen Maßstab Gottes verweist. Auch McCord Adams steht Ockham wohlwollend gegenüber, denn sie erklärt, die Liebe Gottes wolle stets das Beste für die Menschen und verhindere somit den theoretisch möglichen moralischen „‘break down‘“. 220 Gleichwohl bestehen beide darauf, dass Gottes Macht und dessen moralische Maßstäbe fundamentaler Natur seien und somit auch „non-positive morality“ 221 Gottes Geboten unterläge. Ein vielzitiertes Beispiel in diesem Kontext ist das des göttlichen Befehls des Gotteshasses. Ockham führt es in seinem Sentenzenkommentar an; und die Tatsache, dass es 1326 in Avignon Bestandteil der Anklageschrift gegen Ockham war, veranschaulicht die Kritik, die diese Stelle bereits zeitgenössisch hervorgerufen hat. 222 Zur Stelle im Sentenzenkommentar herrscht wiederum mittlerweile weitgehend Konsens, dass die dort getätigten Aussagen nicht nur später nicht mehr aufgegrif218 219 220 221 222

Vgl. Ockham, Quodl. II, qu. 9 (OTh IX 155,117–119): „Sed voluntas Dei non est sic defectibilis, nec potest efficaciter velle aliquod impossibile includens contradictionem“. Vgl. Boehner, Recent Presentation, 454; McCord Adams, Structure, 34 f. McCord Adams, Structure, 34 f. McCord Adams, Structure, 34 f. Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 16 (OTh VII 352,5–10): „Praeterea, omnis voluntas potest se conformare praecepto divino. Sed Deus potest praecipere quod voluntas creata odiat eum, igitur voluntas creata potest hoc facere. Praeterea, omne quod potest esse actus rectus in via, et in patria. Sed odire Deum potest esse actus rectus in via, puta si praecipiatur a Deo, igitur in patria.“ Vgl. zur zeitgenössischen Kritik Pelzer, 51 articles, 254.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

fen, sondern möglicherweise sogar widerrufen worden sind. 223 In der 14. Frage des dritten Quodlibet wird eine zumindest ähnliche Frage verhandelt, nämlich die, ob es möglich sei, dass Gott den Menschen die Nicht-Liebe Gottes befehligen könne. Zuerst wird dort deklariert, dass die Gottesliebe der höchstmögliche tugendhafte Akt sei. 224 Dieser Akt sei „notwendigerweise tugendhaft“, 225 wobei dies nur so zu verstehen sei, dass der Akt der Gottesliebe niemals nicht-tugendhaft sein könne. Da der Akt kontingenter Natur sei und auf den freien Willen des Menschen zurückgehe, könne nicht behauptet werden, der Akt sei unbedingt notwendig. Aber unter den Bedingungen der existierenden göttlichen Ordnung und der Existenz eines freien, menschlichen Willens könne über den Akt der Gottesliebe ausgesagt werden, dass er der höchstmögliche tugendhafte Akt sei. 226 Gegen seine eigene Argumentation führt Ockham dann die Frage an, ob Gott befehligen könne, dass ein Mensch für eine begrenzte Zeit so sehr in seine Studien vertieft sein solle, dass er darüber die Liebe zu Gott vergessen könne. 227 Hier ist genau auf die benutzte Sprache Ockhams zu achten. Er differenziert zwei verschiedene Arten der Gottesliebe. Wenn man die Gottesliebe als eine alles übersteigende Liebe auffasse (dilectio Dei super omnia), dann entstehe bei diesem göttlichen Befehl ein Widerspruch. Denn dann würde der Gott über alles liebende Mensch, der liebe, wovon Gott wolle, dass es geliebt werde, zugleich Gott lieben und ihn aufgrund seines Befehls nicht lieben. Dies aber sei widersprüchlich und daher nicht möglich. 228 223 224

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Vgl. Schröcker, Verhältnis, 115; Wood, Gebot, 51; Freppert, The Basis of Morality, 124 f. Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 255,60–256,67): „Tertio dico quod ille actus necessario virtuosus modo praedicto est actus voluntatis, quia actus quo diligitur Deus super omnia et propter se, est huiusmodi; nam iste actus sic est virtuosus quod non potest esse vitiosus, nec potest iste actus causari a voluntate creata nisi sit virtuosus; tum quia quilibet pro loco et tempore obligatur ad diligendum Deum super omnia, et per consequens iste actus non potest esse vitiosus; tum quia iste actus est primus omnium actuum bonorum.“ Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 255,60): „necessario virtuosus“. Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 254,36–255,45): „Circa affirmativam exponentem dico primo quod de virtute sermonis nullus actus est necessario virtuosus. Hoc probatur, tum quia nullus actus necessario est, et per consequens non est necessario virtuosus [...] Tamen aliter potest intelligi actum esse necessario virtuosum, ita scilicet quod non possit esse vitiosus stante praecepto divino; similiter non potest causari a voluntate creata nisi sit virtuosus.“ Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 256,74–77): „Si dicis quod Deus potest praecipere quod pro aliquo tempore non diligatur ipse, quia potest praecipere quod intellectus sit sic intentus circa studium et voluntas similiter, ut nihil possit pro illo tempore de Deo cogitare.“ Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 256,83–257,91): „Respondeo: si Deus posset hoc praecipere, sicut videtur quod potest sine contradictione, dico tunc quod voluntas non potest pro tunc talem actum elicere; quia ex hoc ipso quod talem actum eliceret, Deum diligeret super omnia, et per consequens impleret praeceptum divinum, quia hoc est diligere Deum super omnia: diligere quidquid Deus vult diligi; et ex hoc ipso quod sic diligeret,

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Dies entspricht übrigens auch jenem Konzept, das Ockham als notwendig tugendhaften Akt wenige Zeilen zuvor kennzeichnet. Die notwendig tugendhaft Liebe (dilectio) zu Gott könne also von Gott nicht verboten werden. Diese Argumentation wird durch zwei weitere Stellen bei Ockham unterstützt. Zum einen ist Ockham der Meinung, dass Gott nichts in sich Widersprüchliches befehligen könne. 229 Zum anderen sichert er den Menschen in seinem moralischen Handeln dahingehend ab, dass er die Meinung zum Ausdruck bringt, keinem Menschen könne Unmögliches befohlen werden. 230 Verstehe man die Liebe in diesem Moment aber als rein affektive Zuneigung (amor simplex et naturalis), dann sei es möglich, dass der Mensch dem göttlichen Befehl aus Liebe (dilectio) zu Gott heraus nachkomme, und eine bestimmte Zeit lang Gott keine affektive Zuneigung (amor) entgegenbringe, da er so sehr in seine Studien vertieft sei. 231 Diese Differenzierung mag als Haarspalterei wahrgenommen werden. Sie veranschaulicht aber das Ringen Ockhams um das Verhältnis eines vernünftigen Begriffs eines freien, personalen Gottes zu einer auf Vernunftmaßstäben beruhenden Ethik. Vor dem Hintergrund dieses Beispiels widersprechen Wood und Schröcker der Ansicht Boehners und McCord Adams’, dass Gott einen Widerspruch zu einem principium per se notum befehligen könne. Schröcker erklärt: „[W]enn ich Ockhams Sorgfalt bedenke, mit der er ausschließt, daß Gott widersprüchliche Gebote erläßt oder ein Mensch zu Unmöglichem oder zur Sünde verpflichtet wird, und mit der er auch die versteckten Widersprüche dem Wirkungsbereich der göttlichen Allmacht entzieht, neige ich zur Vermutung, daß der ,Venerabilis Inceptor‘ das moralische Subjekt aus unvereinbaren Verpflichtungen gerettet und Gott die Fähigkeit abgesprochen hätte, ein Verhalten im Widerspruch zu einem ethischen ,principium per se notum‘ zu gebieten.“ 232

Ein weiterer Konflikt in der Bewertung der Ethik Ockhams betrifft die Frage, ob Gott selbst die principia per se nota anwenden muss, er ihnen also unterliegt. Hierbei stehen sich zwei unterschiedliche Meinungen Ockhams konträr gegenüber. Zum einen lassen sich diese vom Kontradiktionsprinzip geschützten Sätze, Ockham zufolge, nicht von Gott modifizieren, gelten allgemein und somit theoretisch auch für Gott. Zum anderen postuliert Ockham, Gott sei niemandes Schuldner. 233

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non faceret praeceptum divinum per casum; et per consequens sic diligendo, Deum diligeret et non diligeret, faceret praeceptum Dei et non faceret.“ Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 15 (OTh V, 353,10–11): „Nec stante primo praecepto potest sibi Deus oppositum praecipere.“ Vgl. Ockham, Qu. var., qu. 7, art. 3 (OTh VIII 370,671): „[N]ullus obligator ad impossibile“. Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 257,91–94): „Posset tamen Deum diligere simplici amore et naturali, qui non est dilectio Dei super omnia, sicut posito quod aliquis non credat Deum esse, non potest eum diligere, quia nihil potest diligi nisi quod est vel potest esse.“ Vgl. Schröcker, Verhältnis, 115–117. Schröcker, Verhältnis, 107; Vgl. Wood, Gebot, 51. Vgl. Ockham, Quodl. III, qu. 4 (OTh IX, 219,107–108): „Deus non peccat, quia non tenetur ad oppositum, cum nullius debitor sit.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Inwiefern der Gott Ockhams diesen Regeln selbst unterworfen ist, ist, wie bereits erwähnt, in der Forschung umstritten. Jene Fraktion, die Ockham einen Willkürgott vorwirft, ordnet die principia per se nota dem göttlichen Willen unter und macht in ihnen keine Grenze der göttlichen Allmacht aus. 234 Eine weitere Gruppe erachtet das Kontradiktionsprinzip als unveränderliche Grenze. Dabei lässt sich noch einmal differenzieren zwischen jenen, die die Meinung vertreten, dass formale Sätze wie, das Tugendhafte sei zu tun und das Nichttugendhafte zu meiden, problemlos mit der Souveränität Gottes zu verbinden seien, da Gott wiederum derjenige sei, der das Gute und das Böse inhaltlich ausbuchstabiere. 235 Wieder andere halten diese Feststellung aber für ungenügend, gibt es doch auch inhaltlich gefüllte Prinzipien wie die Forderung, Wohltätern Wohltaten zu erweisen und Menschen aus extremer Not zu retten. Gleichwohl gestehen beispielsweise Schröcker und Urban zu, dass Gott auch hier keinen strengen Pflichten unterliege, da zum einen niemand Gott Wohltaten erbringe, auf die Gott reagieren müsse, und zum anderen der Begriff der Not bei Gott eine andere – im Angesicht von Leben und Tod eine stark relativierte – Bedeutung annehme. 236 Angesichts dieser inhaltlich ausbuchstabierten Prinzipien, ist der letztgenannten Gruppe darin zuzustimmen, dass der Verweis auf die Harmonie zwischen formalen principia per se nota und der Nicht-Existenz göttlicher Pflichten zu kurz greift. Zu hinterfragen ist aber, ob Gott durch die inhaltlich gefüllten Gebote tatsächlich keine Pflichten auferlegt sind. Wenn die principia per se nota allen vernunftbegabten Wesen einsehbar sind und man annimmt, dass Ockham in seinem Gottesbegriff nicht nur einen personalen, sondern selbstbestimmten und vernunftbegabten Gott entworfen hat, dann bleibt fraglich, wieso diese Pflichten nicht für Gott gelten sollten. Zwar erklärt Ockham, dass Gott niemandes Schuldner sei. Zugleich aber hebt er immer wieder hervor, dass das Kontradiktionsprinzip unumstößlich sei und die davon geschützten Grundsätze entsprechend gelten würden. Somit scheint tatsächlich ein Widerspruch in Ockhams Lehre zu existieren. Die Lösung des Problems zeigt sich, wenn man in Betracht zieht, dass Ockham den Satz, dass Gott niemandes Schuldner sei, auf andere personale Wesen bezogen hat. Ihm ging es hierbei darum, dass Menschen nicht aufgrund von erworbenen Verdiensten Ansprüche auf Gott erheben dürften. Diese These wird unterstrichen von seinen zahlreichen Beispielen über die Gnade. Im Rahmen der geltenden Gesetze wird Gott, nach Ockham, getaufte Menschen erlösen. Nichtsdestotrotz dürften Menschen darin keinen absolut notwendigen Zusammenhang sehen. Gott unterwerfe sich dieser von ihm erlassenen Regelung freiwillig und könne aus der Perspektive der potentia absoluta betrachtet jederzeit auch anders handeln. Die These, dass Gott niemandes Schuld234 235 236

Vgl. Freppert, The Basis of Morality, 174–179; Garvens, Die Grundlagen, 377; McCord Adams, Ockham on Will, 266; Miethke, Sozialphilosophie, 307, 324 f. Vgl. Clark, Voluntarism, bes. 85; Wood, Göttliches Gebot, 46–48, 53 f. Vgl. Schröcker, Verhältnis, 104; Urban, Theological Ethics, 314 f.

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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ner sei, ist demnach also nicht so zu verstehen, als sei Gott den principia per se nota etwas schuldig. Er bezieht sich nur auf den möglichen Gedanken, Gott sei Menschen etwas, genauer die Erlösung, schuldig. Damit versucht er, sich vor dem Vorwurf des Pelagianismus zu schützen. Pelagius wurde so interpretiert, dass Gott Menschen aufgrund ihrer Verdienste erlösen müsse. Davon möchte sich Ockham dezidiert abgrenzen. Außerdem übernimmt er zwar das aus aristotelischer Tradition stammende Prinzip, Wohltätern Wohltaten zukommen zu lassen, möchte es aber nur für Menschen gelten lassen und aufzeigen, dass Gott keine Wohltäter habe, denen er etwas schuldig sein könnte. 237 Wie das Erfüllen der Pflicht, Menschen aus extremer Not herauszuhelfen, genau zu verstehen ist, wird von Ockham nicht beantwortet. Im Sinne Ockhams könnte man argumentieren, dass Gott diese Pflicht frei affirmiert und aus Liebe zum Menschen heraus, jedoch in einer für den Menschen nicht immer ersichtlichen Weise, erfüllt. Der Hinweis, dass Gott der Pflicht zur Rettung aus der Not nachkomme, ist aber – mindestens aus heutiger Perspektive – äußert fragil, zieht er doch sofort die Frage nach sich, wo Gott denn in der Not sei und welche Qualität eine Hilfe, die von den Hilfesuchenden nicht wahrgenommen werde, besitze. Um diese Frage aus der Perspektive des Wilhelm von Ockham beantworten zu können, muss zuerst erörtert werden, was denn das Gute und das Böse, das sowohl Menschen als auch Gott tun beziehungsweise meiden sollen, sein soll. Festhalten lässt sich an dieser Stelle, dass Ockhams Gottesbegriff klare Grenzen durch das Kontradiktionsprinzip aufweist, das nicht nur logische und formale Grundsätze schützt, sondern auch konkrete, inhaltlich gefüllte Pflichten mit sich bringt, die auch für Gott gelten, wenn sie auch wenig konkrete Auswirkungen auf ihn haben mögen. Positiven Gesetzen gegenüber ist Gott nach Ockham in letzter Konsequenz vollkommen frei und unterliegt keinen absoluten Notwendigkeiten. Gleichwohl formuliert Ockham bedingte Notwendigkeiten, denen Gott unterliege, sobald er eine Ordnung gestiftet habe. Dies kann als vertrauensstiftende Maßnahme interpretiert werden, welche Ockham seiner Leserschaft anbietet.

3.3.6. Die potentia Dei absoluta und das Vermögen zum Bösen Ockham hat das moralisch Böse als das Pflichtwidrige definiert. 238 Eine Definition des moralisch Guten aber hat er nicht vorgelegt. 239 Man könnte anschließend an 237 238 239

Vgl. Leppin, Ockham, 152; Urban, Theological Ethics, 333. Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 3–4 (OTh V, 59,4–5): „[M]alum nihil aliud est quam facere aliquid ad cuius oppositum faciendum aliquis obligatur“. Abgesehen vom moralisch Guten kennt Ockham andere Dimensionen des Guten. Zum einen unterscheidet er das moralische beziehungsweise ehrenhafte Gute und das erfreuliche, sowie das nützliche Gute. (Vgl. Ockham, Qu. var, qu. 8 (OTh VIII, 442,743–745): „‘[B]onum‘ accipitur dupliciter. Uno modo pro bono ut dividitur in bonum honestum,

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

die Definition des moralisch Bösen das moralisch Gute als das Pflichtgemäße bestimmen, jedoch nur unter dem Vorbehalt, dass sich hierfür bei Ockham kein direkter Beleg finden lässt. Zu fragen wäre außerdem, was denn die Pflichten seien, an die man sich halten solle. Für die Menschen gilt nach Ockham eine Mischung aus principia per se nota, göttlichen und menschlichen Gesetzen. Was aber gilt für Gott? Wenn Ockham behauptet, dass Gott niemandes Schuldner sei, stellt sich die Frage, ob die Definition des moralisch Guten und Bösen bei Gott über das Kriterium der Pflicht überhaupt sinnvoll ist. Die Aussage, Gott sei niemandes Schuldner, wurde bereits analysiert und auf das Verhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen zurückgeführt. Die vom Widerspruchsprinzip gedeckten principia per se nota markieren eine Grenze für Gott, die Ockham aber nicht als Pflicht für Gott, sondern als logisch notwendig zu denkenden Rahmen interpretiert. Das schließt nicht aus, dass Gott die principia per se nota anerkennt und befolgt, wenn sie auch praktisch nicht immer konkrete Auswirkungen haben mögen. Wenn man weiterhin bedenkt, dass Ockham dafür plädiert, dass Gott stets nur de potentia ordinata handle und die potentia absoluta als Möglichkeitshorizont der göttlichen Freiheit interpretiert werden solle, könnte man folgern, dass auch Gottes Handlungen am Kriterium des Pflichtgemäßen gemessen werden dürfen. Dann agiert Gott zum einen stets unter Berücksichtigung der principia per se nota und zum anderen hält er sich selbst an die Gesetze, die er erlassen hat. Dann setzen sich die Pflichten aus einer Mischung zusammen von an sich existierenden, von allen – Menschen und Gott – per Intellekt einsehbaren Vernunfttugenden und von Gott erlassenen Moralmaßstäben und Gesetzen. Kann Gott also böse handeln? Um diese Frage zu beantworten, sei an dieser Stelle zuerst nochmal ein Blick auf die menschliche Möglichkeit einer als böse qualifizierten Tat geworfen. Ob ein Mensch moralisch böse handeln kann, hängt nach Ockham von drei Komponenten ab. Erstens müsse der handelnde Akteur im Besitz eines freien Willens sein. 240 Eine weitere Bedingung sei die Vernunftbegabung des Akteurs. 241 Zuletzt benötige

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utile et delectabile“.) Darüber hinaus kommt dem Guten bei Ockham aber auch eine transzendentale Dimension zu, insofern es das Seiende bezeichnet. Es ist jedoch nicht mit dem Begriff ,ens‘ gleichzusetzen, da es nach Ockham darüber hinaus den Willen des Seienden inkludiert. Das Gute ist daher in diesem Sinne das, was gewollt werden kann. (Vgl. Ockham, S. l. I, cap. 10 (OPh I 38,92–94): „‘Bonum‘ etiam, quod est convertibile cum ,ente‘, significat idem, quod haec oratio ,aliquid secundum rectam rationem volibile vel diligibile‘.“) Im Anschluss an Leon Baudry hat sich demgemäß eine Dreiteilung der Begriffsdeutung des Guten bei Ockham etabliert: das moralisch Gute, das natürliche Gute und das transzendentale Gute. Vgl. Baudry, Lexique philosophique, 31–33, 142 f.; Schröcker, Verhältnis, 122. Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 226, 20): „[P]eccatum est in potestate voluntatis“. Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 195,18–20): „Nec est [peccatum] privatio alicuius actus recti et convenientis, quia talis potest esse in carente usu rationis, puta in furioso qui tunc non peccat.“

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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es ein Gebot, gegen das verstoßen werden könne. Seien diese drei Bedingungen gegeben, es existiere also ein geltendes Gesetz und ein Mensch verstoße im Vollbesitz seiner Vernunft bewusst und willentlich gegen das Gesetz, könne man von einer moralisch bösen Tat oder einer Sünde sprechen. 242 Sowohl ein Vernunftvermögen als auch einen freien Willen hat Ockham auch Gott unterstellt. Insbesondere der freie Wille kann als Kulminationspunkt der Ockham’schen Theologie bezeichnet werden. Die Unterscheidung von potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata veranschaulicht das deutlich, wie bereits dargelegt werden konnte. Gott das Vernunftvermögen abzusprechen, war im 14. Jahrhundert ein undenkbarer Akt. Dass Gott vernünftig sei, war ein allgemeingültiges Postulat. Diesen Rahmen sprengte auch Ockham nicht, was wiederum seine ausführliche Erörterung des Kontradiktionsprinzips, das von Gott nicht nivelliert werden könne und das ethische Prinzipien enthalte, die auch Gott nicht umgehen könne, zeigen. Diese beiden Aspekte würden also darauf schließen lassen, dass Gott moralisch böse agieren kann. In Bezug auf die dritte Komponente schränkt Ockham diese Möglichkeit aber ein, wenn auch differenzierter als es auf den ersten Blick scheinen mag. Bemerkenswert ist das Fehlen der klassischen Begründungsstruktur für das göttliche Unvermögen zum moralisch Bösen. Traditionell wurde auf die wesenhafte Perfektion verwiesen, die das Unvermögen Gottes zum Bösen nach sich ziehe, was aber nicht als Mangel betrachtet wurde, sondern im Gegenteil als Hinweis auf die Vollkommenheit Gottes. 243 Gleichwohl nimmt Ockham das dazugehörige Argument, dass Gott das summum bonum sei, in seine Lehre mit auf. Gott ist nach Ockham der Inbegriff des Guten. 244 Er begründet aber das göttliche Unvermögen zum

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Den Unterschied zwischen einer moralisch bösen Tat und einer Sünde hat Ockham nicht explizit herausgestellt, gleichwohl lassen sich Differenzen erkennen. Da Ockham zwischen den Normen der recta ratio und den göttlichen Gesetzen unterscheidet, lässt sich festhalten, dass Ockham Verstöße gegen die principia per se nota als nicht tugendhaft ablehnt. Eine Sünde ist für Ockham aber mit einer zeitlichen Strafe durch Gott verbunden (Vgl. Ockham, Qu. var., q. 8 (OTh VIII, 428–9)). Da Gott nach Ockham de potentia absoluta frei ist in Bezug auf mögliche Strafen, ist es denkbar, dass Gott Regelverstöße gegen die principia per se nota nicht bestraft. Gleichwohl geben Ockhams Ausführungen keinen Grund daran zu zweifeln, dass de potentia ordinata Gott alles moralisch Böse auch als Sünde bestrafe. Vgl. Clark, Voluntarism, 79; McCord Adams, Structure, 26; Schröcker, Verhältnis, 125 f. Vgl. exemplarisch Boethius, Trost IV, 2. p. In seinem Sentenzenkommentar (Sent. I, dist. 17, qu. un. (OTh III 464,16–19)) schreibt Ockham noch davon, dass Gott notwendigerweise das Gute liebe. Damit ist aber ein Vermögen zum Bösen theoretisch noch nicht ausgeschlossen. Später nutzt er dieses Argumentationsmuster nicht mehr, sondern begründet das Unvermögen Gottes zum Bösen mit dem ausgeführten Argument, Gott sei niemandes Schuldner. Vgl. Ockham, Sent. I, d. 1, qu. 5 (OTh I 464, 3–5): „Ad confirmationem concedo quod ex puris naturalibus possumus cognoscere istam propositionem ,Deus est summum bonum‘“; Ockham, Quodl. I, q. 1 (OTh IX 1,17–2,20): „[D]ico quod hoc nomen ,Deus‘

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

moralisch Bösen nicht mit der Vollkommenheit Gottes, sondern mit der Freiheit Gottes von Pflichten und Gesetzen. Ockham postuliert, dass Gott niemandes Schuldner sei, beziehungsweise er keinen Verpflichtungen unterliege. 245 Da aber das moralisch Böse nur angesichts einer zu erfüllenden Pflicht bestehen könne, scheint Gott für Ockham nicht des moralisch Bösen fähig zu sein. Gleichwohl gibt Ockham in der Summa Logicae die Meinung wieder, dass Gott eine Sünde machen (facit) könne, ohne diese zu negieren. 246 Zum Verständnis dieser Textstelle, die Ockham nicht ausführlicher erklärt, müssen erneut seine Aussagen über das Zusammenwirken von Erst- und Zweitursache aufgerufen werden. Nach Ockham handelt kein Mensch autonom, sondern immer nur in Verbindung mit dem göttlichen Willen. Der Mensch könne Gott nicht zwingen, so Ockham, sondern sei auf die freiwillige Mithilfe Gottes angewiesen. Gleichwohl sei der Mensch keine Marionette, denn um eine Tat moralisch bewerten zu können, benötige es vonseiten des Menschen Vernunftbegabung und einen freien Willen. In einer menschlichen Tat kulminieren demnach stets der freie göttliche Wille und der freie menschliche Wille. Die sich aus heutiger Perspektive dabei ergebenden Probleme der Autonomie sah Ockham noch nicht und postulierte daher, dass innerhalb dieser Synthese die Verantwortungsbereiche unterschieden werden müssten. Die Stelle in der Summa Logicae lässt sich folgendermaßen interpretieren: Während Gott keinerlei Verpflichtungen unterliegt und somit nicht die Verantwortung für moralisch böse Taten tragen kann, steht der Mensch stets unter einzuhaltenden Gesetzen, gegen die er verstoßen kann und wofür er dann die Verantwortung zu tragen hat. Gott vermag es demgemäß also, als Erstursache eine Sünde zu kreieren, nicht aber selbst zu sündigen, denn sündigen können nur Personen, die Gesetzen unterstehen, also Menschen. Da aber Ockham Gott bei jeder Tat des Menschen inkludiert denkt, muss er ihn auch in ein Verhältnis zur sündigen Tat des Menschen setzen. Er spricht ihm als Erstursache eine Wirkkraft zu, die jedoch nicht für die Sünde selbst verantwortlich gemacht werden dürfe. 247 Gott trage also in keinerlei Hinsicht für eine Sünde die Verantwortung, er könne – trotz seiner Allmacht – nicht moralisch böse handeln, denn er unterliege keinerlei Verpflichtungen – niemandem gegenüber. Alles, was er mache, sei gut und gerecht. 248

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potest habere diversas descriptiones: una est quod Deus est aliquid nobilius et melius omni alio a se; alia descriptio est quod Deus est illud quo nihil est melius nec perfectius.“ Vgl. Ockham, Sent. II, qu. 3–4 (OTh V 59, 5–7): „Quae obligatio non cadit in Deo, quia ipse ad nihil faciendum obligatur.“ Vgl. Ockham, S. l. III-4, cap. 6 (OPh I, 773,71–774,76): „Similiter, secundum opinionem aliquorum ista est distinguenda ,Deus facit peccatum‘, eo quod potest accipi proprie, et tunc non plus denotatur nisi quod Deus facit aliquid quod est peccatum. Et sic concederent eam, quia ponunt quod aliquis actus positivus est vere peccatum, sicut odire aliquem contra praeceptum divinum est peccatum.“ Vgl. Schröcker, Verhältnis, 132–137. Darunter fällt bei Ockham – traditionell – auch die göttliche Strafe der Menschen, die zwar aus menschlicher Perspektive moralisch verwerflich wirken könne, es aber nicht sei,

3.3. Der Gottesbegriff Wilhelms von Ockham

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Abschließend soll die Argumentation Ockhams zum göttlichen Unvermögen zum Bösen kritisch bewertet werden. Im Vergleich zu vorherigen Theologen zeichnet sich Ockham durch einen kritischen Mut aus, in den Gottesbegriff einen großen freiheitstheoretischen Spielraum zu integrieren, was insbesondere seine häufige Nutzung der potentia-Differenz ausweist. Ein theologisches Ziel Ockhams besteht darin, aufzuzeigen, dass im Gegensatz zum griechisch-arabischen Nezessitarismus ein personales Gottesbild und die Kontingenz der Welt philosophisch kohärent gedacht und zugleich christliche Kerngedanken aufrechterhalten werden können. Dafür greift er auf die etablierte Definition der potentia absoluta als Möglichkeitshorizont des göttlichen Handelns zurück und vermeidet damit zugleich die willküranfällige kanonische Interpretation. Gott handelt nach Ockham vernunftbegabt und ausgestattet mit einem freien Willen nach selbstgesteckten Kriterien und erlassenen Gesetzen. Das drückt Ockham mit dem Terminus der potentia ordinata aus. Gott handle nie inordinate, was eine freie Bindung an den von ihm selbst gesteckten Rahmen inkludiere, und verfolge einen gewählten Weg, der vor dem Hintergrund der potentia absoluta-Perspektive auch hätte unterbrochen werden beziehungsweise anders hätte verlaufen können. Damit konstituiert er einen Gottesbegriff, der explizit einen Willkürgott zurückweist, zumal durch das Kontradiktionsprinzip klare Grenzen gesteckt werden, und zugleich konsequent einen personalen und freien Gott denkbar werden lässt. Die Kritik an Ockham, die hier geäußert werden soll, adressiert hauptsächlich seine fehlende kohärente Vollendung des eingeschlagenen Weges. Ein freier und vernunftbegabter Mensch zeichnet sich nach Ockham gerade dadurch aus, dass er zwischen Alternativen entscheiden und im Bewusstsein des Gesetzes moralisch qualifizierbare Handlungen vollziehen kann. 249 Ockham überträgt sowohl den Vernunft- als auch den Willensbegriff in sein Gottesbild, behauptet aber, dass Gott nicht böse handeln könne, sondern nur der Mensch. Denn der Mensch unterstehe Gesetzen und Pflichten, was für Gott nicht gelte. Dies wirft zwei Fragen auf. Erstens etabliert Ockham im Gottesbegriff durchaus Grenzen der göttlichen Macht durch die vom Kontradiktionsprinzip geschützten Grundsätze. Ein ethisches Prinzip dieser Kategorie lautet, dass das Böse gemieden werden solle. Es konnte gezeigt werden, dass dies von Ockham auch für den vernünftigen Gott als geltend gedacht wird. Außerdem kann Gott nicht das Gegenteil, dass das Böse nicht gemieden werden solle, als geltendes Recht aufstellen. Die Forderung des Sollens ist aber nur dann sinnvoll, wenn sie ein Vermögen der Person, für welche die Gesetze gelten, voraussetzt, das Gegenteil des Gesollten zu verwirklichen. Indirekt etabliert Ockham also ein solches Vermögen im Gottesprinzip, obgleich er dies ent-

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sondern im Gegenteil die gerechte Antwort auf ein menschliches Vergehen darstelle. Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 48, qu. un. (OTh IV 687,20–21): „[Q]uaedam sunt volita a Deo propter malum culpae praecedens in alio cuius est poena.“ Vgl. Ockham, Quodl. I, qu. 16 (OTh IX, 88,25–28): „Potest tamen evidenter cognosci per experientiam, per hoc quod homo experitur quod quantumcumque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas hoc velle vel non velle vel nolle.“

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

weder nicht sieht oder mit dem Verweis, dass Gott keinen Gesetzen unterstehe, negiert. Zweitens behauptet Ockham, dass Menschen Gott vertrauen dürften, dass er den eingeschlagenen Weg seiner Ordnung zu Ende gehen und er Menschen und seinen erlassenen Gesetzen treu bleiben werde. Mit diesem Argument wehrt er sich gegen den Willkürvorwurf. Sein Gottesbegriff enthält zwar das freiheitliche Vermögen, jederzeit anders zu handeln, und Menschen dürften nicht erwarten, dass Gott aus Notwendigkeit heraus Handlungen vollziehe, denn Gott handle immer in Freiheit und unter der Bedingung, auch anders handeln zu können. Daraus folgt aber für Ockham gerade nicht, dass Gott zum willkürlichen Tyrannen wird, dessen Handlungen für Menschen nicht mehr einsehbar sind. Sein Gottesbegriff ist deutlich fragiler als beispielsweise noch jener von Thomas von Aquin, der einen starken Ordo-Begriff im Zentrum seiner Theologie ausformuliert und damit Notwendigkeiten in den Gottesbegriff implementiert hat. Nichtsdestotrotz formuliert Ockham einen Gottesbegriff, der einen treuen und verlässlichen Partner der Menschen etabliert. Fraglich bleibt angesichts dieser zahlreichen zur Verfügung gestellten Werkzeuge, wieso Ockham nicht konsequent weiterdenkt, und den Begriff eines Gottes ausbildet, der sich im Rahmen seiner Vernunft und aus Liebe zu den Menschen den Gesetzen seines etablierten ordo freiwillig unterwirft und damit analog zu den Menschen gewissen moralischen Kriterien unterliegt und dementsprechend auch moralisch böse handeln kann. Denn Ockham stellt zugleich ausreichend Material zur Verfügung, dass aus diesem Begriff nicht der Gedanke eines bösen Gottes erwächst. Der geglaubte Gott hält dem Menschen de potentia ordinata die Treue, und zwar als ganz bewusste Entscheidung angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten, die de potentia absoluta zur Verfügung stehen. Damit kann der Begriff eines Gottes ausgebildet werden, der theoretisch moralisch fehlbar ist, sich aber faktisch immer – und das ist ein entscheidender Unterschied zwischen Gott und Mensch – moralisch gut verhält. Er hat das Vermögen zum Bösen, er nutzt es aber aus freier Entscheidung heraus nicht. Ockham stellt hierfür ausreichend theoretisches Werkzeug zur Verfügung – und darin liegt sein historisches Verdienst –, hat daraus aber selbst nicht mit letzter Konsequenz die Folgen gezogen, sondern an einem neuplatonisch grundierten Gottesbild festgehalten, in dem Gott als vollkommenes Gutes gedacht wird, ohne dass ,gut‘ hierbei eine moralische Qualifikation darstellen würde – diese wäre nur vor der Alternative des moralisch Bösen denkbar.

3.4. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Wilhelm von Ockham, oder: Zwischen potentia Dei absoluta und Schuldfreiheit Das Ziel des vorangegangenen Kapitels bestand in der Analyse des Gottesbegriffs des Wilhelm von Ockham, um die Frage zu beantworten, ob in diesem ein gött-

3.4. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Wilhelm von Ockham

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liches Vermögen zum Bösen gedacht werden kann. Dabei wurde sichtbar, dass Ockham ohne den historischen Hintergrund des Platonismus und Aristotelismus und der Genealogie der potentia-Dei-Begriffe nicht zu verstehen ist. Einen entscheidenden historischen Einschnitt stellte die Pariser Lehrverurteilung von 1277 dar, in welcher 219 Thesen des arabischen Aristotelismus und dessen christlicher Rezeption verboten wurden. In dessen Lehre von der Notwendigkeit der Welt und der Unendlichkeit eines allgemeinen Intellekts sah man zentrale christliche Dogmen substanziell bedroht. Gleichwohl war der Aristotelismus zu dieser Zeit bereits ein viel beachtetes Wissensreservoir, mit dessen Hilfe an den Universitäten die Lücken des augustinischen Weltwissens geschlossen werden sollten. Seine Metaphysik, die meist mit (neu-)platonischen Texten synthetisiert gelesen wurde, stand jedoch an theologischen Fakultäten zunehmend in der Kritik. Während Thomas von Aquin sich noch um eine Harmonisierung von Aristotelismus und christlicher Theologie bemüht hatte, eröffnete Johannes Duns Scotus mit seinem Denkmodell der möglichen Welt neue Horizonte. Wilhelm von Ockham folgt ihm auf diesem Weg des Denkens von metaphysischer Kontingenz und rückt konsequent den Gedanken der Freiheit des personalen Gottes in den Mittelpunkt seiner Theologie. Dabei nutzt er die bereits zuvor etablierte Unterscheidung von potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata, um die göttliche Freiheit denken zu können. Er knüpft an die im 13. Jahrhundert etablierte, spekulative Begriffsverwendung an, verabschiedet jedoch die von Duns Scotus genutzte kanonische Interpretation. Zudem misst er den Begriffen eine neue Bedeutung bei und bringt sie explizit gegen den griechisch-arabischen Nezessitarismus in Stellung. Sein Verständnis des Terminus der potentia Dei absoluta wurde von vielen als Ermöglichung des Begriffs eines Willkürgottes gefürchtet und verunglimpft. Mittlerweile hat sich die Sicht auf ihn in der Forschung gewandelt und auch in dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass Ockham keinen Willkürgott vorsieht und sogar Barrieren etabliert, die seinen Gottesbegriff vor einem solchen Vorwurf schützen sollen. So mag zwar zu konstatieren sein, dass „auch wenn der nominalistische Gott nicht einfach ein Willkürgott ist, sondern Gottes ,facere de potentia absoluta‘ ob seiner Güte immer auch ein ,facere de potentia ordinata‘ sein wird, so ist doch der menschlichen Vernunft die Gewissheit genommen, dass die Welt immer und ausnahmslos als Ordnungszusammenhang erschaffen ist.“ 250 Nachdem jahrhundertelang der Gedanke des von der göttlichen Weisheit wohlgeordneten Kosmos als Abbild der ewigen, innergöttlichen Ordnung präsentiert worden war, trägt Ockhams Fokus auf den freien Willen Gottes ein bis dahin nicht gekanntes Moment an möglicher Fragilität in das GottWelt-Verhältnis ein. Gleichwohl ist festzuhalten, dass Ockham der göttlichen Allmacht klare Grenzen setzt. Erstens übernimmt er nicht die kanonische Interpretation der potentia absoluta als spezielle Art und Weise einer Handlung, die die grenzenlose, übergesetzliche 250

Wildfeuer, Fragilität von Ordnungen, 18.

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3. Wilhelm von Ockham und die potentia Dei absoluta

Macht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringen sollte. Stattdessen meint die potentia absoluta für Ockham den theoretischen Möglichkeitshorizont, vor welchem der freie göttliche Wille eine Wahl vornehme und sich somit für einen Weg entscheide und Alternativen verwerfe. Das bedeutet, dass Ockhams Gott immer de potentia ordinata handelt. Zwar könne nicht gewusst werden, was in Zukunft passiere und wie sich Gott verhalten werde, aber Ockham insistiert darauf, dass Menschen Gottes Treue vertrauen dürften. Mit dem Terminus potentia Dei absoluta versucht Ockham lediglich, den Möglichkeitsbereich des freien Gottes zu stärken, angesichts eines sich aus Notwendigkeit vollziehenden höchsten Seins, das durch die Rezeption arabischer Schriften zur Verfügung stand. Ockham warnt vor letzterem und hebt immer wieder hervor, dass aus der Bibel oder der Tradition bekannte Regeln und Normen nicht aus Notwendigkeit heraus existierten, sondern kontingenterweise auf den freien Willensbeschluss Gottes zurückzuführen seien. Nichtsdestotrotz sei Gott nicht als willkürlicher Tyrann zu fürchten, sondern es dürfte darauf vertraut werden, dass Gott sich aus Liebe zu den Menschen an erlassene Gesetze halte, er also de potentia ordinata handle. Die potentia absoluta ist dabei für Ockham mehr ein theoretischer Behelf, um einen philosophisch kohärenten Gottesbegriff zu entwickeln, als eine praktisch relevante Eigenschaft Gottes, deren irdische Auswirkungen konkrete Folgen zeitigen würde. Die potentia Dei absoluta ist daher nicht als Stärkung einer göttlichen Willkür gedacht, sondern als Ressource des Freiheitsgehalts im Gottesbegriff, der zugleich an die Kontingenz menschlicher Erfahrung erinnert. Zweitens setzt Ockham der göttlichen Allmacht durch das Kontradiktionsprinzip klare Grenzen. Vom Widerspruchsprinzip vor einem göttlichen Eingriff geschützt sind für den Theologen nicht nur die Artenordnung und formale ethische Prinzipien, die jedem vernunftbegabten Wesen einsehbar seien, sondern auch konkrete moralische Forderungen. Diese Auswahl begründet Ockham nicht, sie zeigt aber, dass Ockhams Gott gerade keine grenzenlose Macht besitzt. Insofern mögen Ockhams Erläuterungen über die göttliche Freiheit ein Moment der Fraglichkeit in das kosmische Verständnis der Menschen implementieren. Wenn dies intendiert sein sollte, dann aber nicht zum Zwecke der Verunsicherung der Menschen, sondern zur philosophischen Vergewisserung der Denkmöglichkeit eines personalen Gottesbildes. Dies veranschaulicht auch seine Position zum göttlichen Vermögen zum Bösen. Ein ebensolches denkt Ockham als nicht möglich. Zwar argumentiert er vehement für die Freiheit Gottes und vergrößert deren Radius merklich, indem er beispielsweise die zeitliche Handlungsfähigkeit Gottes für möglich erklärt und den Begriff der Unveränderlichkeit Gottes als unverbrüchliche Treue sich selbst gegenüber im Wandel der Zeit ausdeutet. Ein Vermögen zum Bösen integriert er aber nicht in seinen Gottesbegriff. Denn, so Ockhams Argumentation, Gott sei niemandes Schuldner und habe keine Verpflichtungen, und da das moralisch Böse eine Pflichtwidrigkeit darstelle, könne Gott moralisch Böses nicht tun. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Ockham mehrere theoretische Werkzeuge zur Verfügung stellt, mit

3.4. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Wilhelm von Ockham

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denen ein Vermögen zum Bösen unproblematisch in den Gottesbegriff integriert werden könnte. Möchte man eine moralisch qualifizierbare Freiheitstat denken, muss man sowohl die Freiheit zum Guten als auch zum Bösen gedanklich eröffnen, und zwar bei jedem personalen Wesen. Noch heute wird gegen dieses Argument oft auf die Vollkommenheit und wesenhafte Gutheit Gottes verwiesen. Diese nimmt Ockham bei seiner Begründung, wieso Gott nicht böse handeln könne, aber nicht in Anspruch. Stattdessen verweist er auf die Nicht-Existenz von Pflichten Gottes gegenüber seinen Geschöpfen. Da er zugleich darauf insistiert, dass Gott zu vertrauen sei, da er sich an die erlassenen Gesetze halte und somit Verpflichtungen eingehe und einhalte, bleibt unverständlich, wieso Ockham nicht auch den letzten Schritt konsequent weitergeht und das göttliche Vermögen zum Bösen postuliert. Denn der Begriff eines personalen, freien Gottes muss, soll er nicht jenseits aller Moralität stehen, sowohl ein Vermögen zum Guten als auch zum Bösen beinhalten, zeichnet doch erst diese Alterität eine freie Handlung als moralisch gut aus. Mit dem Verweis auf die eingegangenen Pflichten des geglaubten Gottes angesichts der etablierten Ordnung, die dieser nicht aus Notwendigkeit, sondern aus freier Selbstbestimmung einhält, ist auch zugleich die Möglichkeit des sich moralisch verwerflich verhaltenden Gottes als rein theoretische Möglichkeit zur philosophischen Kohärenz aufgezeigt, die aber praktisch nicht zur Entfaltung kommen muss. Verstärkt wird dieses Argument durch den Verweis darauf, dass Ockham im Gottesbegriff das durch das Widerspruchsprinzip geschützte formale Prinzip denkt, dass das Böse gemieden werden soll. Denn angesichts der Ockham’schen Wertschätzung der principia per se nota und dem Konzept eines vernunftbegabten Gottes kann davon ausgegangen werden, dass Ockhams Gott nicht nur nicht das Gegenteil eines solchen Prinzips in geltendes Recht überführen kann, sondern diese Grundsätze auch für Gott gelten. Wenn dieser normative Anspruch, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, im Gottesbegriff integriert ist, muss auch das Vermögen gedacht werden, das Gute nicht zu tun und stattdessen das Böse zu realisieren. Die denkerischen Instrumentarien Ockhams ermöglichen folglich den Begriff eines mit dem Vermögen zum Bösen ausgestatteten personalen Gottes, der diese Möglichkeit in Freiheit bewusst nicht realisiert. Wilhelm von Ockham bereitet diese Denkmöglichkeit vor, nutzt die zur Verfügung gestellten theoretischen Werkzeuge aber selbst nicht.

4. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen 4.1. Die Begründung der Auswahl der Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände

„Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie [die Freiheit] ein Vermögen des Guten und des Bösen sey.“ 1 „Schlechthin freyer und bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dieß ist.“ 2

Die zweite historische Stichprobe soll bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling genommen werden. Der 1775 im württembergischen Leonberg geborene Philosoph setzte sich in seinem umfangreichen Œuvre mit der Frage auseinander, welche unbedingte Einheit der Philosophie Kants als begründendes Prinzip vorangestellt werden könne. 3 Wie auch seine Zeitgenossen Fichte (1762–1814) und Hegel (1770–1831) kritisierte Schelling, dass eine solch begründende Einheit dem kantischen System bislang fehle. Daraus ergeben sich weiterführende Fragen zum Verhältnis von Endlichem und Unendlichem, von Freiheit und System beziehungsweise von Freiheit und Notwendigkeit. Inwiefern Schellings Gesamtwerk dabei als Einheit verstanden werden kann, wurde mittlerweile viel diskutiert und soll hier nicht weiter vertieft werden. 4 Stattdessen wird, um den Leitgedanken 1 2 3 4

Schelling, AA I, 17, 125. Schelling, AA I, 17, 161. Für eine detaillierte Biographie vgl. Tilliette, Schelling. Eine kontextuell verortende Einführung in Schellings Philosophie bis zum Identitätssystem bietet Frank, Einführung. Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte die These vor, dass Schellings Philosophie besonders durch ihre Brüche hervorrage. Diese Anschuldigungen lassen sich auf Hegel und seine Schüler zurückführen und führten im Laufe der Jahrzehnte zu einer Unterteilung des Schelling’schen Denkens in mehrere Phasen. Noch Horst Fuhrmans spricht 1954 von zwei „Perioden“ beziehungsweise vier „Scheidungen“ die getroffen werden könnten. Habe Schelling von 1795–1800 seine Identitätsphilosophie vorbereitet, die er nachfolgend von 1800–1806 ausgebreitet habe, sei er 1806 davon abgerückt und habe eine christliche Philosophie entworfen, die ihren Höhepunkt in der Zeit seiner positiven Philosophie beziehungsweise der Philosophie der Offenbarung zwischen 1827 und 1854 gefunden habe. Zugleich betont Fuhrmans bereits die thematische Kontinuität, die alle Phasen verbinde. (Fuhrmans, Weltalter, 6.) Mit zunehmender Rezeption Schellings in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich das Urteil in der Forschung und akzentuiert wurden hauptsächlich die Kontinuitäten in Schellings Philosophie, welche die klassischen Epochengrenzen verschwimmen ließen. Friedrich Hermanni beispielsweise interpretiert die Philosophie Schel-

4.1 Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit 121

der Arbeit weiterzuverfolgen, seine sogenannte Freiheitsschrift in den Blick genommen. Seine 1809 veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände stellen Schellings elaborierteste Auseinandersetzung mit der menschlichen Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen dar. 5 In ihr findet sich das Wissen um die kantische Freiheitstheorie und zugleich das Ringen um einen christlichen Gottesbegriff angesichts eines ausdifferenzierten menschlichen Freiheitsbegriffs. Damit ist in herausragender Art und Weise der Boden bereitet für die Frage, ob und mit welchen Argumenten der Begriff menschlicher Freiheit auf den Begriff göttlicher Freiheit angewendet werden kann. Mit dem freiheitlichen Vermögen zum Bösen setzte Schelling sich bereits in seiner Magisterdissertation De malorum origine 6 1792 anhand einer Erörterung der Sündenfallgeschichte in Genesis 3 auseinander. Er orientierte sich dabei an dem kurz zuvor erschienenen Aufsatz von Kant Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur und versuchte einen Begriff des Bösen als Teil der menschlichen Freiheit mit dem Verständnis vom Bösen als dem notwendigen, zu überwindenden Widerpart des Guten zu vermitteln. Die Grenzen seines Begriffs eines malum morale blieben dabei aber noch bemerkenswert offen, was eine Unterscheidung zum malum physicum nicht immer leicht macht. Den Sündenfall interpretierte er als not-

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lings in seiner Studie zur Finalisierung des abendländischen Theodizeeprojekts in Schellings Denken als Fortentwicklung der Frage nach dem Verhältnis von Gottesbegriff und menschlichem Freiheitsverständnis. (Vgl. Hermanni, Die letzte Entlastung, 63.) Auch Walter Ehrhardt und Konrad Lindner wehren sich gegen einen vermeintlichen mit der Freiheitsschrift erfolgten Bruch in Schellings Werk. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit bzw. dessen Verhältnis zur Natur sei der Leitfaden, der sich durch Schellings Philosophie ziehe. (Vgl. Ehrhardt, Freiheit; Lindner, Natur und Freiheit.) Zuletzt sei der bemerkenswerte Ansatz von Birgit Sandkaulen genannt, die die Gemeinsamkeit der Schelling’schen Schriften gerade im Unvermögen sieht, einen umfassenden Begriff individueller Persönlichkeit zu entwickeln. (Vgl. Sandkaulen, Dieser und kein anderer, bes. 52 f.) Dass dieses Problemfeld weiterhin umstritten ist, zeigt die These Hans Michael Baumgartners und Harald Kortens, die mit der Freiheitsschrift einen inhaltlichen Bruch erkennen wollen. Sei es zuvor um die Vermittlung von Natur und Geist gegangen, habe Schelling in der Freiheitsschrift den Schwerpunkt erstmals auf den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit gerichtet. (Vgl. Baumgartner/Korten, Schelling, 20.) Klare Brüche macht ebenfalls Manfred Frank aus. (Vgl. Frank, Einführung, 7, 70, 104 f.) Bedacht werden muss in diesem Kontext, dass Schelling in der Freiheitsschrift meist nicht trennt zwischen einem malum morale, einem malum physicum und einem malum metaphysicum. Mitunter spricht er eindeutig vom menschlichen Vermögen zum Bösen, an anderen Stellen hingegen bleibt unklar, was er mit ,dem Bösen‘ und dessen Möglichkeit und Wirklichkeit meint. Um möglichst textgetreu zu arbeiten, werden solche sprachlichen Ungenauigkeiten in diesem Kapitel weitestgehend übernommen, und nur wo es für die Beantwortung der Forschungsfrage sinnvoll erscheint, Versuche angestellt, Differenzierungen einzuzeichnen. Vgl. zu dieser Kritik Höffe, Ein Thema wiedergewinnen. Vgl. Schelling, AA I, 1, 59–100.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

wendigen Übergang des Menschen in den Zustand der Freiheit. Auch wenn diese erste Auseinandersetzung mit dem Begriff des Bösen im Spannungsfeld von malum morale, malum physicum und malum metaphysicum nur bedingt tragfähig war, stellt sie einen Ansatzpunkt dar, der von Schelling später wieder aufgegriffen wurde. Zunächst jedoch rückte die Frage nach dem Bösen in den Hintergrund. Erst 1804 nahm sich Schelling in seiner Schrift Philosophie und Religion 7 erneut der Frage an, worin die Möglichkeit zum Bösen begründet werden könne und deutete den Sündenfall als Übergang vom Absoluten zur endlichen Welt. Einen Begriff realer Freiheit bildete er aber nicht aus. Stattdessen lag sein Fokus auf der Trennung des Absoluten vom Endlichen und er rang mit der Ausdeutung des Übergangs als freiheitlichem oder notwendigem Akt. 8 Die Frage, wie in einem pantheistischen Modell, das er zeitgenössischer Kritik zufolge zu etablieren versuchte, in welchem die Differenz von Subjekt und Objekt, von Gott und Welt nahezu aufgehoben sind, menschliche Freiheit noch denkbar und Übel sowie das malum morale als kontingente Fakten noch ernstzunehmend sind, führte zu jener Differenzierung, die in seiner Freiheitsschrift Niederschlag fand. 9 In seiner Freiheitsschrift differenzierte er nicht nur die Begrifflichkeiten von formaler und realer menschlicher Freiheit. Er ging auch der Frage nach der Bedingung

7 8

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Vgl. Schelling, AA I, 14, 273–325. Vgl. Schwarz, Malum morale, für eine detaillierte Analyse der Schelling’schen Ausdeutungspraktiken von menschlicher Freiheit und dem Vermögen zum Bösen von 1792–1809. Vgl. konkret zur Schrift Philosophie und Religion Schwarz, Malum morale, 32–44, 128–130. Das gefährliche Moment, das sich im Vorwurf des Pantheismus verbarg, war die Anschuldigung des Atheismus. Diese Verbindung hatte erstmals Friedrich Heinrich Jacobi im Deutungsstreit mit Moses Mendelssohn (1729–1786) über das Erbe Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) gezogen. Jacobi versuchte anhand von Briefen zu belegen, dass Lessing Anhänger der Lehre Spinozas gewesen sei. Diese damals noch relativ wenig bekannte Lehre wurde von Jacobi eingehend dargelegt und dann als Atheismus verworfen. Denn im Pantheismus Spinozas, so Jacobi, werde Gott nicht mehr theistisch als Person gedacht, sondern als identisch mit der Natur. Das habe zur Folge, dass ihm sowohl Vernunft als auch Wille abgesprochen würden und alles Endliche nur noch Ausdruck des Unendlichen und nicht mehr als selbstständige Einheit gedacht werden könne. Der Vorwurf des Atheismus traf um 1800 auch Fichte, der den Gottesbegriff erst sekundär personell auszugestalten versuchte, primär Gott als sittliche Weltordnung dachte. Jacobi gerierte sich auch in dieser Debatte als Verteidiger des Theismus, wobei er diesen nicht als dogmatisches Wissen über einen Gott verstanden wissen wollte, sondern der Ansicht war, dass Gott allein im Glauben erfassbar sei. Die Relevanz dieser Debatten lässt sich veranschaulichen, wenn man die Einleitung der Freiheitsschrift betrachtet, in welcher mehrfach explizit auf Spinoza Bezug genommen wird (vgl. Schelling, AA I, 17, 114–122). Die Entlassung Fichtes an der Universität in Jena als Resultat des Atheismus-Vorwurfs hat Anteil an Schellings Entscheidung gehabt, 1809 so dezidiert für ein personales Gottesverständnis einzutreten. Vgl. zum Atheismusstreit Binkelmann, Entstehungsgeschichte, 44–54; Danz, Atheismusstreit; Essen, Theismusstreit; Jacobs, Schelling im Deutschen Idealismus. Für eine ausführliche Analyse der intellektuellen Spannungen der Zeit vgl. Timm, Gott und die Freiheit.

4.1 Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit 123

der Möglichkeit von menschlicher Freiheit nach und machte diese in einem „Internen Dualismus“ 10 in Gott aus. Der Grund der Existenz Gottes liege in Gott selbst, sei aber von diesem relativ unterschieden als Grund von Existenz und somit nicht identisch mit der Existenz. Aus diesem Grund gehe der Mensch hervor und aufgrund seiner daraus resultierenden relativen Unabhängigkeit habe er im Vergleich zu Gott die Fähigkeit, die in sich wohnenden Prinzipien zu trennen, den Eigenüber den Universalwillen zu erheben und in dieser Prinzipienverkehrung das Vermögen zum Bösen. 11 Schelling erkannte, dass er daraus folgend, den Begriff des göttlichen Wesens genauer beleuchten müsste, um das Verhältnis der Begriffe Gott und das Böse zu klären, weshalb die Frage nach dem Wesen Gottes einen beträchtlichen Teil der Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit einnimmt. Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Schelling bei der Definition eines Begriffs von Gott zwischen plotinischen Denkmustern, dem personalen Verständnis von Gott als einem „moralischen Wesen[...]“ 12 und klassisch christlichen Lehrmeinungen von Gott als „wesentlich Liebe“ 13 lavierte. Es gelang ihm dabei nicht, so die auszuarbeitende These, dieses spannungsreiche Begriffsgeflecht auseinanderzudividieren. Anstatt sich für einen der Wege zu entscheiden, versuchte er mehrere zu begehen – was ihm misslang. Obwohl er immer wieder Versatzstücke eines personalen Gottesverständnisses aufwarf, indem er beispielsweise die Schöpfung nicht als „eine Begebenheit, sondern eine That“ 14 Gottes verstanden wissen wollte und Gott als „höchste Persönlichkeit“ 15 auszeichnete, verwarf er explizit den Gedanken einer Wahlmöglichkeit Gottes und betonte: „Wenn aber Gott wesentlich Liebe und Güte ist, so folgt auch das, was in ihm sittlich-nothwendig ist, mit einer wahrhaft metaphysischen Nothwendigkeit.“ 16 Um die Gedanken Schellings darzulegen, die zu benanntem Problem führen, und die These mit Argumenten zu untermauern, wird vorgegangen wie folgt: In einem ersten Schritt (4.3.) wird der Begriff menschlicher Freiheit analysiert, den Schelling in seiner Freiheitsschrift in die formale beziehungsweise transzendentale und die reale Freiheit unterteilte. Das reale Freiheitsvermögen zeichnete er durch die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen aus. Dieses aber wollte er nicht als formal unbedingt verstanden wissen, sondern als immer bereits in einem Verhältnis zu einem göttlichen Schöpfer stehend. Von hier aus wird (4.4.) nach dem Grund der menschlichen Freiheit zu fragen sein und den Bedingungen der Möglichkeit in Gott. Daran anschließend kann (4.5.) der Gottesbegriff und das darin inkludierte Freiheitsverständnis betrachtet, diskutiert und hinterfragt werden. Zuvor soll in 10 11 12 13 14 15 16

Hermanni, Die letzte Entlastung, 32. Schelling, AA I, 17, 131–135. Schelling, AA I, 17, 162. Schelling, AA I, 17, 163. Schelling, AA I, 17, 161. Schelling, AA I, 17, 160. Schelling, AA I, 17, 163.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

einem Forschungsüberblick (4.2.) gezeigt werden, dass die hier zu erörternde Frage bisher nicht gestellt oder verfolgt wurde.

4.2. Forschungsstand zur Freiheitsschrift In diesem Kapitel sollen für den Kontext der Arbeit besonders relevante Werke der Forschungsliteratur aufgeführt werden, zumal die gesamte Forschungsliteratur zur Schelling’schen Freiheitsschrift angesichts der mittlerweile erreichten Fülle eine eigene Arbeit wert wäre. Im Zentrum der Arbeiten steht meist der menschliche Freiheitsbegriff in seinen differenzierten Facetten. Grundlegende Arbeit wurde hierzu geleistet von Lore Hühn mit ihrer Analyse der transzendentalen Freiheit, die sich nach Schelling in einer intelligiblen Tat als tragische Selbstverfehlung vollziehe. Denn schon als ethischer Akt ausgewiesen, verstricke sich der Mensch in dieser unzeitlichen Tat in Schuld gegenüber Gott, analysiert Hühn. Das von Kant als zentrales Moment menschlicher Freiheit ausgewiesene Vermögen des voraussetzungslosen Anfangenkönnens, das Fichte im Motiv der ursprünglichen Tathandlung verarbeitet habe, sei für Schelling bereits sündhafte Selbstverfehlung menschlicher Freiheit, da der Mensch sein Sein-vor-Gott ignoriere und sein wolle wie Gott. Aus diesem Schuldzusammenhang könne sich der Mensch zeit seines Lebens tragischerweise nicht mehr lösen, vollzögen sich seine Freiheitsakte doch nicht mehr kontingent, sondern aus der Notwendigkeit der intelligiblen Tat heraus. 17 Von diesen Analysen ausgehend sind auch die beiden Werke ihrer Schülerinnen Roswitha Dörendahl und Lisa Egloff zu lesen. Dörendahl legt das Verständnis zugrunde, Schelling habe mit seinem Freiheitsbegriff das neuzeitliche Autonomieverständnis kritisiert. Aus dem Gedanken der sündhaften Verstrickung des selbstwidersprüchlichen Freiheitsbegriffs Kants und Fichtes, habe Schelling versucht, seinen Freiheitsbegriff zu universalisieren. Dieser müsse über menschliche Selbstbestimmung hinaus auch die Natur inkludieren und sich fundiert wissen in Gott. Belege hierfür sieht Dörendahl in der begrifflichen und ideellen Rezeption Jakob Böhmes und Friedrich Christoph Oetingers. 18 Diese Rezeptionslinien wurden zuvor bereits intensiv herausgearbeitet von Robert Brown, Marie-Elise Zovko und Donata Schoeller. 19 Egloff hat, wie Christoph Schulte vor ihr, eine Arbeit über das Freiheitsvermögen zum Bösen verfasst. Schulte konnte bereits 1988 die intensive Auseinandersetzung mit Kant in der Freiheitsschrift belegen. Ausgehend von dessen verschiedenen 17 Vgl. Hühn, Die intelligible Tat. 18 Vgl. Dörendahl, Abgrund der Freiheit. 19 Vgl. Brown, Later Philosophy; Zovko, Natur und Gott; Schoeller, Tat versus Sucht.

4.2. Forschungsstand zur Freiheitsschrift

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Definitionen zum menschlichen Vermögen zum Bösen habe Schelling, so Schulte, die menschliche Freiheit in ein Verhältnis zum Gottesbegriff zu setzen versucht. Somit habe er sich ausgehend vom menschlichen Vermögen zum Bösen, das sich einmalig und für alle Zeit in der intelligiblen Tat vollziehe, an einer Theodizee versucht. 20 Diese Erkenntnisse aufgreifend verortet Egloff Schellings Freiheitsschrift noch detaillierter innerhalb seines Gesamtwerks wie auch in der zeitgenössischen Diskussion um das Verhältnis von absoluter und endlicher Freiheit. 21 In diesem Kontext sind auch die zahlreichen Publikationen von Thomas Buchheim und die Promotionsschrift seines Schülers Jörg Noller zu lesen. Das literarische Potpourri von Buchheim erstreckt sich von Analysen zur menschlichen Freiheit und dessen zugrundeliegenden Personbegriff, über rezeptionsgeschichtliche Arbeiten zur Auseinandersetzung Schellings mit Leibniz, aber auch zur aufsehenerregenden Analyse der Freiheitsschrift durch Martin Heidegger, bis hin zur Frage nach dem Begriff des göttlichen Wesens. 22 In letztgenanntem Artikel legt er die von Schelling vorgenommene innere Differenz Gottes von Grund von Existenz und Existenz aus. Diese Unterscheidung, so Buchheim, dürfe nicht als Dualismus missverstanden werden. Stattdessen müsse sie als wesentliche Differenz von allem Leben interpretiert werden, die auf dem Grundsatz basiere, dass Gott wesenhaft Liebe sei. Zentrale Eigenschaft der Liebe sei das Aus-sich-herausgehen, womit nicht nur die Offenbarung Gottes, sondern auch dessen interne Differenz zu erklären seien. Was diese Definition Gottes als Liebe für das Freiheitsvermögen nach sich zieht, bleibt bei Buchheim aber offen. Noller geht noch einmal unter differenten Vorzeichen dem Verhältnis des kantischen und des Schelling’schen Freiheitsbegriffs nach und setzt sich dabei insbesondere in der Bewertung des kantischen Freiheitsbegriffs und der Zielrichtung der Schelling’schen Auseinandersetzung mit diesem von Schulte ab. 23 Gleichwohl sieht auch er in der Freiheitsschrift hauptsächlich einen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte um einen tragfähigen Freiheitsbegriff nach Kant. 24 Eine zentrale Rolle in der Debatte um das Verhältnis der Begriffe menschlicher und göttlicher Freiheit nimmt Friedrich Hermanni ein. In seiner Dissertation von 1993 deutet er wie auch Schulte die Freiheitsschrift insbesondere als Rechtfertigung Gottes angesichts des menschlichen Vermögens zum Bösen. Er lobt Schelling dafür, dass er eine Alternative zur lange Zeit vorherrschenden Privationstheorie gefunden 20 Vgl. Schulte, Radikal böse. 21 Vgl. Egloff, Das Böse als Vollzug. 22 Vgl. Buchheim, Begriff der menschlichen Freiheit; Buchheim, Schellings Personbegriff; Buchheim, Freispruch durch Geschichte; Buchheim, Risse im Gefüge des Seyns. 23 Noller kritisiert die Differenzierung Schultes in einen schwachen und einen starken Freiheitsbegriff bei Kant. Außerdem geht er nicht so weit, in Schellings Ansinnen einen Versuch, Kants Freiheitsbegriff theodizeekonform weiterzuentwickeln, auszumachen, sondern erkennt bei Schelling lediglich den Wunsch, das ungelöste Autonomieproblem im Rahmen menschlicher Freiheit zu lösen. (Vgl. Noller, Bestimmung des Willens, 25 f., 294 f.) 24 Vgl. Noller, Bestimmung des Willens.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

und das Böse mit einer eigenen Positivität als Freiheitsvollzug gedeutet habe. Des Weiteren sei es Schelling mit der Etablierung eines internen Dualismus in Gott gelungen, die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit zum Bösen in Gott zu verlagern, gleichwohl Gott nicht dafür verantwortlich zu machen, gehe doch das Vermögen aus dem Grund in Gott hervor und nicht aus Gott selbst. Trotzdem sei Schelling mit seiner Theodizee gescheitert, denn er habe in Anlehnung an Kant und Fichte von einer intelligiblen, außerzeitlichen Tat gesprochen, in welcher der Mensch sich vermeintlich zurechnungsfähig zum Bösen entschieden habe und somit die Schuld nicht nur für das moralische Böse, sondern auch für das physische und metaphysische Übel trage. Dies sei nicht nur eine „harmatologische Überforderung des Menschen“, sondern aufgrund der Außerzeitlichkeit der Tat und dem damit einhergehenden Fehlen des menschlichen Bewusstseins, das immer nur in den Kategorien von Raum und Zeit existiere, auch eine „Hypertrophie der Freiheit“. 25 Wenn aber die menschliche Freiheit damit überstrapaziert werde, so stelle sich erneut die Frage der Verantwortlichkeit Gottes. Mit dem Begriff göttlicher Freiheit haben sich Hermann Krings, Walter Jaeschke und Stefan Gerlach auseinandergesetzt. Krings versucht 1995 Schelling vor Missverständnissen zu verteidigen und hebt hervor, dass die göttliche Freiheit für Schelling im freien Heraustreten aus sich selbst bestehe. Zwar könne man sich dem Begriff göttlicher Freiheit nur über den Begriff menschlicher Freiheit annähern, jedoch „Gott eine Freiheit zum Bösen zu unterstellen hieße, den Begriff Gottes zu annullieren.“ 26 Leider unterlässt Krings es, an diesem Punkt weiterführende Argumente anzuführen für seine Position. Welche Folgen die Übertragung der Schelling’schen Freiheitsdefinition auf den Gottesbegriff hätte, bleibt somit unklar. Diese Position ist diskussionswürdig und zwar sowohl bei der Analyse Schellings als auch bei der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Krings selbst. Walter Jaeschke unterzieht 1996 Schellings Position einer scharfen Kritik. Schellings Versuch, in Reaktion auf den Pantheismusvorwurf Schlegels mit einem ausbalancierten Verhältnis zwischen der menschlichen Freiheit des Guten und des Bösen und einem personalen Gottesbegriff zu reagieren, sei in allen Belangen gescheitert, so Jaeschke. Sowohl dessen Methode, wie auch sein Begriff der Freiheit, des Bösen und der Begriff Gottes seien unzulänglich. 27 Außerdem gelte grundsätzlich: „die göttliche Freiheit [...] kann ja gerade nicht die sittliche Freiheit zum Guten und Bösen sein – man müßte denn Gott die Freiheit zum Bösen zuschreiben“ 28 – was für Jaeschke ein undenkbares Vorhaben zu sein scheint. Zuletzt sei an dieser Stelle noch der 2006 veröffentlichte Artikel sowie die 2019 publizierte Habilitationsschrift von Stefan Gerlach angeführt, der den Gedanken einer Freiheit Gottes durch das ge25 26 27 28

Hermanni, Akte Gottes, 124; Hermanni, Die letzte Entlastung. Krings, Freiheit Gottes, 176. Vgl. Jaeschke, Freiheit um Gottes Willen. Jaeschke, Freiheit um Gottes Willen, 205.

4.2. Forschungsstand zur Freiheitsschrift

127

samte Werk Schellings hindurch nachzeichnet. Für die Freiheitsschrift hält er zwei zentrale Aspekte fest. Zum einen habe Schelling den Begriff eines personalen Gottes vertreten. Zum anderen habe Schelling am Gedanken festgehalten, dass Gott aus seinem sittlichen Wesen heraus die Welt habe schaffen müssen und zwar in genau der Art und Weise wie er es getan habe – womit sich Schelling explizit von Leibniz abzugrenzen gedachte. 29 Damit sollte ein kleiner Einblick in die breite Forschungsdiskussion über Schelling und seine Freiheitsschrift ermöglicht worden sein. Auffällig an der Forschungsdebatte zu Schellings Freiheitsschrift ist das offene Desiderat im Kontext seines Gottesbegriffs. Immer wieder wird – Schelling affirmierend – darauf hingewiesen, ohne dies eingehender zu begründen, dass ein Freiheitsvermögen zum Bösen im Gottesbegriff undenkbar sei. Wird bedacht, dass Schelling selbst einen anthropomorphen Gottesbegriff mehrfach verteidigt hat, stellt sich jedoch die aus theologischer Perspektive bedeutsame Frage, mit welchen Gründen Schelling nicht auch seinen den Menschen zugeschriebenen Freiheitsbegriff auf seinen Gottesbegriff überträgt. 30 Dieses Vorgehen besser zu verstehen, wird eine Antwort auf die Forschungsfrage ermöglichen, welche Folgen das Einschreiben eines so gedachten Freiheitsverständnisses in einen personalen Gottesbegriff haben würde. Hierfür wird im Folgenden der Schelling’sche Begriff menschlicher Freiheit in drei Schritten analysiert. Denn zum einen ist zu beobachten, dass Schelling angesichts der zeitgenössischen Kritik darauf bedacht ist, seinen Begriff menschlicher Freiheit in ein panentheistisches System zu integrieren. Zum anderen lässt sich ein Unterschied markieren zwischen Schellings Begriff realer Freiheit, und deren Vollzug in der intelligiblen Tat des Menschen. Dabei lastet er die Wirklichkeit des Bösen vollständig der freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen und dessen Handeln an. Er erkennt jedoch, dass die Möglichkeit des Bösen damit noch nicht erklärt ist und verortet sie im Gottesbegriff. Um die Frage nach einem göttlichen Vermögen zum Bösen beantworten zu können, gilt es, die volitionale Differenzierung im Gottesbegriff sowie die Unterscheidung von göttlichem Grund von Existenz und Existenz genau zu unterscheiden. So wird es möglich, die Bedingung der 29 Vgl. Gerlach, Freiheit Gottes; Gerlach, Handlung bei Schelling, 93–104. 30 In einem Brief an Eschenmayer reagiert Schelling auf den Vorwurf des Anthropomorphismus und verteidigt ihn explizit: „Um Gott ja recht hoch und fern von allem Menschlichen zu stellen, nehmen Sie ihm sorgfältig alle verständigen und verständlichen Eigenschaften, Kräfte und Wirkungen ab. [...] Entweder überall keinen Anthropomorphismus, und dann auch keine Vorstellung von einem persönlichen, mit Bewußtseyn und Absicht handelnden Gott (welches ihn ja schon ganz menschlich macht), oder einen unbeschränkten Anthropomorphismus, eine durchgängige und (den einzigen Punkt des notwendigen Seyns ausgenommene) totale Vermenschlichung Gottes. [...] Sie sagen: Gott muß schlechterdings übermenschlich seyn. Wenn er nun aber menschlich seyn wollte, [...] wer dürfte etwas gegen ihn einwenden? [...] Wie sollte durch die Vorstellung seiner Endlichkeit ich ihn erniedrigen, wenn er doch sich selbst erniedrigt?“ (Schelling, SW VIII, 166–168.)

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Möglichkeit des Bösen im Konzept Schellings zu benennen und den Gehalt göttlicher Freiheit zu definieren.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit 4.3.1. Menschliche Freiheit im Pantheismus Schelling geht zu Beginn seiner Freiheitsschrift sofort in medias res und beklagt sich, dass noch immer Unkenrufe laut würden, denen zufolge „der Begriff der Freyheit mit dem System überhaupt unverträglich sey[...], und jede auf Einheit und Ganzheit Anspruch machende Philosophie auf Läugnung der Freyheit hinauslaufe[...]“. 31 Er konkretisiert seinen Vorwurf noch, wenn er spitz formuliert: „Bestimmter ausgedrückt wurde die nämliche Meynung in dem Satz: das einzig mögliche System der Vernunft sey Pantheismus, dieser aber unvermeidlich Fatalismus.“ 32 Tatsächlich hatte Schelling mitunter scharfe Kritik insbesondere von Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) und Friedrich Schlegel (1772–1829) ertragen müssen, die in seiner Identitätsphilosophie die Nihilierung des Unterschiedes von Gut und Böse, von Absolutem und Endlichem sowie Freiheit und Notwendigkeit sahen. Zwar sollte der Streit mit Jacobi erst 1811 mit dessen Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung eskalieren, doch bereits seit Schellings Rede Über das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur 33 in der in München neu gegründeten Akademie der Künste 1807 war das Verhältnis aufgrund philosophischer Differenzen angespannt. Jacobi meinte, in Schellings Rede dessen Naturphilosophie wiederzuerkennen, welche über das Mittel des göttlichen Wirkens in der Natur diese aufzuwerten versuche. 34 Schelling hatte in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslehre Fichtes bereits in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus in der Wissenschaftslehre 35 1796/97 von einer Entwicklung des Geistes gesprochen. In den darauffolgenden Jahren arbeitete er die Idee aus, dass, wenn man den Gedanken der Bewusstseinswerdung ernstnehme, nicht nur das voll entwickelte Selbstbewusstsein des menschlichen Ichs in den Blickpunkt genommen werden dürfe, sondern dieses als höchste Stufe – Schelling sprach von Potenz – eines Pro31 32 33 34

Schelling, AA I, 17, 111. Schelling, AA I, 17, 113. Vgl. Schelling, SW VII, 289–329. Die Freiheitsschrift wird oftmals als Reaktion auf Schlegels Schrift Ueber die Sprache und Weisheit der Inder interpretiert. (Vgl. Schlegel, KFSA 8, bes. 253.) Zu Jacobis Aversionen vgl. Jacobi, Von den göttlichen Dingen. Vgl. zum historischen Kontext außerdem Binkelmann, Entstehungsgeschichte, 46–50; Essen, Der Theismusstreit; Jacobs, Schelling im Deutschen Idealismus; Wenz, Von den göttlichen Dingen. 35 Vgl. Schelling, AA I, 4, 57–190.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

129

zesses verstanden werden müsse. Die niedrigste Potenz der Geistentwicklung findet sich nach Schelling in der Materie wieder, in welcher die Identität von Subjekt und Objekt bereits existiere, jedoch das Objekt exponiert sei. Hiervon entwickelt sich das Band zwischen Subjekt und Objekt weiter, bis zuletzt das Subjekt innerhalb dieser Synthese überwiegt, verwirklicht im Selbstbewusstsein. 36 Ein weiterer Streitpunkt war dabei die Rolle des Verstandes. Jacobi wertete diesen im Vergleich zur Vernunft ab und erklärte ihn zum willfährigen Mittel, zerrissen zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Es sei jederzeit möglich, dass sich der Verstand, getrübt von der Sinnlichkeit, sich dieser unterordne, statt sie, wie gedacht, zu regieren im Sinne der Vernunft. Schelling widersprach dieser Vorstellung durch eine Gleichsetzung des Verstandes mit dem freien Willen und hob die harmonische Beziehung zwischen Verstand und Vernunft hervor. Der Verstand sei eben jene Kraft, der allein es zukomme, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zu vermitteln und die Identität der beiden Relata zu verwirklichen. 37 Diese Aufwertung des Verstandes macht sich auch in der Freiheitsschrift bemerkbar. Dort benennt er den Verstand als ein zentrales Kriterium von Persönlichkeit. 38 Im Verstand erfolge 36 Der Übergang von diesen naturphilosophischen Überlegungen zu Schellings Identitätsphilosophie waren fließend. Gut nachzuvollziehen ist diese Entwicklung in Höfeles Exploration des Schelling’schen Willensbegriffs. (Vgl. Höfele, Wollen und Lassen.) Die Kritik Jacobis, dass in einem solchen System die menschliche Freiheit als eigenständig gegenüber dem Absoluten nicht mehr gewahrt werden könne, lässt sich in der heutigen Forschung vielfach wiederfinden. Vgl. Dörendahl, Abgrund der Freiheit, 104–108; Egloff, Das Böse als Vollzug, 191; Noller, Bestimmung des Willens, 297, 310 f. Portmann, Das Böse, betont insbesondere den Verlust des Bösen als Freiheitsvollzug in Schellings Natur- und Identitätsphilosophie. Ähnlich äußert sich auch Schwarz, Malum morale, bes. 113–130. 37 Vgl. Binkelmann, Entstehungsgeschichte, 46–50. 38 Vgl. Schelling, AA I, 17, 131 f.: „So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenslosem Gut verlangen, und sich ahndend bewegt [...]. Aber entsprechend der Sehnsucht, welche als der noch dunkle Grund die erste Regung göttlichen Daseyns ist, erzeugt sich in Gott selbst eine innre reflexive Vorstellung, durch welche, da sie keinen andern Gegenstand haben kann, als Gott, Gott sich selbst in einem Ebenbilde erblickt. Diese Vorstellung ist das erste, worin Gott, absolut betrachtet, verwirklicht ist, obgleich nur in ihm selbst; sie ist im Anfang bei Gott, und der in Gott gezeugte Gott selbst. Diese Vorstellung zugleich der Verstand – das Wort jener Sehnsucht, und der ewige Geist, der das Wort in sich und zugleich die unendliche Sehnsucht empfindet, von der Liebe bewogen, die er selbst ist, spricht das Wort aus, daß nun der Verstand mit der Sehnsucht zusammen freyschaffender und allmächtiger Wille wird und in der anfänglich regellosen Natur als in seinem Element oder Werkzeuge bildet. Die erste Wirkung des Verstandes in ihr ist die Scheidung der Kräfte, indem er nur dadurch die in ihr unbewußt, als in einem Saamen, aber noch nothwendig enthaltne Einheit zu entfalten vermag“. Vgl. hierzu außerdem Buchheim, Schellings Personbegriff. Sandkaulen, Dieser und kein anderer, kritisiert, dass Schelling zwar in der Freiheitsschrift das dringende Bedürfnis empfunden habe, sich gegenüber den Vorwürfen Jacbobis zu verteidigen und ein elaboriertes Konzept von Persönlichkeit zu entwickeln, damit aber aufgrund eines fehlenden Individualitätskonzepts gescheitert sei.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

jene Selbstreflexion, durch welche eine Person sich selbst bewusst werde, indem dieser die „Scheidung der Kräfte“ 39 hervorbringe und somit Differenz, aber auch die aller Differenz zugrundeliegende Einheit sichtbar mache. Mit der Aufwertung des Verstandes als wichtiges Movens der Persönlichkeit versucht Schelling zugleich aufzuzeigen, dass er mit seinem Identitätssystem keinen des Atheismus geziehenen Pantheismus vertrete, dem es beispielsweise am Begriff eines personalen Gottes mangele, sondern vermögend sei, die Persönlichkeit Gottes zu denken. 40 Damit tritt er am Anfang seiner Freiheitsschrift einem weiteren Kritiker entgegen. Friedrich Schlegel hatte 1808 in seiner Schrift Ueber die Sprache und Weisheit der Inder den Pantheismus als Endpunkt einer philosophiehistorischen Kette von „Entartung[en]“ 41 dargestellt: „Tiefer ist der menschliche Geist in der orientalischen Philosophie nicht herabgesunken, als bis zum Pantheismus, welcher der Moral eben so verderblich als der Materialismus, und zugleich auch für die Phantasie zerstörend ist.“ 42 Weder sei es möglich, in einem solchen System Individualität zu denken, noch den Unterschied von Gut und Böse zu markieren. Anstatt sich von Spinoza (1632–1677) zu distanzieren, verteidigt Schelling diesen zunächst. Weder sei die Behauptung der „völligen Identification Gottes mit den Dingen“ im Spinozismus zutreffend, noch der Vorwurf, „daß die Dinge nichts sind, daß dieses System alle Individualität aufhebt“. 43 Diesen Anschuldigungen liege ein falsches Verständnis des Identitätsgesetzes zugrunde. Spinoza lehre keine „Einerleiheit“ 44, sodass weder Individualität noch Freiheit angenommen werden könnten, sondern ein Grund-Folge-Verhältnis zwischen dem Ewigen und dem Individuum. Das Ewige sei Grund von allem, das heißt, das Abhängige „ist als ein Gewordenes nur durch ein Anderes und insofern abhängig“. 45 „Aber Abhängigkeit hebt Selbstständigkeit, hebt sogar Freyheit nicht auf.“ 46 Diese von Spinoza geschilderte Beziehung zwischen Gott und dem Endlichen sei folglich die einzig logische Möglichkeit, könne doch damit die Bedingtheit menschlichen Lebens und zugleich seine Freiheit gedacht werden: „So wenig widerspricht sich Immanenz in Gott und Freyheit, daß grade nur das Freye und so weit es frey ist, in Gott ist, das Unfreye und so weit es unfrey ist, nothwendig ausser Gott.“ 47 Schelling bekennt sich also noch in der Einleitung insofern zu Spinoza, als dass der Begriff formeller Freiheit mit dem Pantheismus nicht unvereinbar sei. Der Mensch ist nach Schelling stets von seinem Ursprung, Gott, abhängig, weshalb auch seine Freiheit diesem nicht 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Schelling, AA I, 17, 132. Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes wird in Kapitel 4.4. näher erläutert werden. Schlegel, KFSA 8, 219. Schlegel, KFSA 8, 253. Schelling, AA I, 17, 114, 117. Schelling, AA I, 17, 119. Schelling, AA I, 17, 119. Schelling, AA I, 17, 119. Schelling, AA I, 17, 120.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

131

konträr gegenüberstehe, sondern stattdessen ebenfalls nur aus diesem heraus zu erklären sei, im Bild des Grund-Folge-Verhältnisses. Das eigentliche Problem des Spinozismus sei nicht sein Pantheismus, sondern sein Realismus. Dem Philosophen sei es nicht gelungen aus einer „mechanische[n] Naturansicht“ 48 auszubrechen und ein lebendiges System zu entwickeln. „Der Fehler seines Systems liegt keineswegs darin, daß er die Dinge in Gott setzt, sondern darin daß es Dinge sind – in dem abstrakten Begriff der Weltwesen, ja der unendlichsten Substanz selber, die ihm eben auch ein Ding ist.“ 49 In diesem Verständnis würden Gott und die Natur als leblose Dinge verstanden. Freiheit, Personalität und Leben müssten demnach separiert von ihnen verstanden werden. Den Begriff formeller Freiheit ausgebildet und somit aufgezeigt zu haben, dass „‘Thätigkeit, Leben und Freyheit allein das wahrhaft Wirkliche seyen‘“, sei erst dem Idealismus gelungen, denn „bis zur Entdeckung des Idealismus fehlt der eigentliche Begriff der Freyheit in allen neuern Systemen, im Leibnitzischen so gut wie im Spinozischen“. 50 An anderer Stelle begründet Schelling diese Aussage noch einmal ausführlich: „Ueberhaupt erst der Idealismus hat die Lehre von der Freyheit in dasjenige Gebiet erhoben, wo sie allein verständlich ist. Das intelligible Wesen jedes Dings, und vorzüglich des Menschen, ist diesem zufolge ausser allem Kausalzusammenhang, wie ausser oder über aller Zeit. Es kann daher nie durch irgend etwas Vorhergehendes bestimmt seyn, indem es selbst vielmehr allem Andern, das in ihm ist oder wird, nicht sowohl der Zeit, als dem Begriff nach als absolute Einheit vorangeht“. 51

Damit zielt Schelling auf die kantische Freiheitsdefinition und deren Weiterentwicklung durch Fichte ab. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft die Idee der transzendentalen Freiheit entwickelt. Freiheit verstand er als ein unbedingtes, von Naturkausalitäten unabhängiges Anfangenkönnen, das aber theoretisch nicht beweisbar sei. 52 Erst die Erfahrung des Sollens, so die Analyse der Kritik der praktischen Vernunft, zeige auf, dass jeder Mensch durch das ihm inhärente Bewusstsein des Sittengesetzes frei sei zu tun, was getan werden solle. Damit war neben dem negativen Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit von äußeren Kausalitätsgesetzen, auch ein positiver Begriff von Freiheit als Autonomie gewonnen. Freiheit, wie sie Kant in seiner zweiten Kritik definiert, besteht im Vermögen der Selbstgesetzgebung. Jeder Mensch macht demnach die Erfahrung, dass er frei ist, seinen Willen allein von der praktischen Vernunft bestimmen zu lassen, er also Begründungsstrukturen in seinen Willen aufnimmt, die jederzeit – unabhängig von kontingenten Gründen – und für alle zum allgemeinen Gesetz werden könnten, indem allein 48 49 50 51 52

Schelling, AA I, 17, 122. Schelling, AA I, 17, 122. Schelling, AA I, 17, 118. Schelling, AA I, 17, 151. Vgl. Kant, KrV, B 831 / A 803.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

die Form des Gesetzes und nicht der materiale Gehalt der Maxime Bestimmungsgrund des Willens ist. 53 Damit waren eminente Fortschritte im Verständnis menschlicher Freiheit gewonnen worden, zugleich blieben Desiderate offen. Neben der Frage, wie das Vermögen zum Bösen gedacht werden könne, wenn zum einen der Wille mit der praktischen Vernunft selbst gleichgesetzt werde, zum anderen nicht angenommen werden solle, dass das malum morale Ausfluss einer rein der Sittlichkeit anzulastenden Heteronomie sei, diagnostiziert Schelling noch ein weiteres Problem. Ist Freiheit auf den ethisch-praktischen Bereich begrenzt, oder müsste nicht vielmehr gezeigt werden, „daß alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Dinge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe“? 54 Damit zielt Schelling auf die Gedanken Fichtes ab, die dieser auf der Suche nach dem einheitlichen Prinzip der kantischen Lehre formuliert hatte. Schelling führt aus: „Die freye Handlung folgt unmittelbar aus dem Intelligibeln des Menschen. Aber sie ist nothwendig eine bestimmte Handlung [...] Das etwa das intelligible Wesen aus purer lautrer Unbestimmtheit heraus ohne allen Grund sich selbst bestimmen sollte, führt auf das [...] System der Gleichgültigkeit der Willkühr zurück. Um sich selbst bestimmen zu können, müßte es in sich schon bestimmt seyn, nicht von außen freylich, welches seiner Natur widerspricht, auch nicht von innen durch irgend eine bloß zufällige oder empirische Nothwendigkeit [...], sondern es selber als sein Wesen, d. h. seine eigne Natur müßte ihm Bestimmung seyn. [...] Das intelligible Wesen kann daher, so gewiß es schlechthin frey und absolut handelt, so gewiß nur seiner eignen innern Natur gemäß handeln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit folgen, welche allein auch die absolute Freyheit ist: denn frey ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handeln, und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist. [...] Aber eben jene innere Nothwendigkeit ist selber die Freyheit; das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne That [...] sagt Fichte [...] Bewußtsein ist Selbstsetzen – aber das Ich ist nichts von diesem verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber.“ 55

Fichte setzte transzendentalphilosophisch begründend als zugrundeliegendes Subjekt der theoretischen und der praktischen Vernunft das Ich, das in einem ersten Akt sich seiner selbst reflexiv bewusst werde. Das Ich setzt sich demnach in einem freiheitlichen Akt selbst als Ich und reflektiert sich in seinem Handeln. Daraufhin 53 Vgl. Kant, KpV, A 54–A 61. In der Metaphysik der Sitten fasste Kant das später folgendermaßen zusammen: „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht, und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die, als Gesetze, eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür bestimmten und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben.“ (AB 18 f.) 54 Schelling, AA I, 17, 124. 55 Schelling, AA I, 17, 151 f.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

133

bilde es Begriffe für die Außenwelt aus. Schelling folgt Fichte in der Annahme, dass dem Begriff formeller Freiheit die transzendentalphilosophisch rekonstruierbare Selbstbestimmung des Ichs als Freiheit zugrunde liege. Denn wolle man Selbstbestimmung nicht im letzten Schritt doch wieder als Heteronomie ausweisen, müsse gezeigt werden, dass die Selbstbestimmung dem eigenen Wesen gemäß vollzogen werde. Die Vorstellung Fichtes aber, dass „allein die Ichheit alles“ sei, reiche nicht aus, vielmehr müsse gezeigt werden, dass „auch umgekehrt alles Ichheit sey.“ 56 Schelling wirft Fichte vor, dass dieser die Außenwelt zu reinen Scheinvorstellungen des absoluten Ichs degradiere. Es sei jedoch erforderlich zu zeigen, dass das kantische Ding an sich auch außerhalb des Ichs existiere und zwar nicht nur als Ding, sondern als lebendige Entität. Schelling setzt sich also mit seiner Kritik am Idealismus von zwei verschiedenen Wegen ab, die er beide aber unter dem Prinzip der Freiheit zusammenzuführen gedenkt. Zwar lobt er, dass es Kant erstmals gelungen sei, einen formalen Begriff von Freiheit zu entwickeln, kritisiert aber dessen Begrenztheit. Ein „reale[r] und lebendige[r] Begriff“ von Freiheit, gedacht als „Vermögen des Guten und des Bösen“, sei nämlich bisher nicht möglich. 57 Der idealistische Freiheitsbegriff bleibe allgemeiner Natur. 58 „Der Idealismus giebt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andrerseits den bloß formellen Begriff der Freyheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey. Dieses ist der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freyheit, die von jeher empfunden worden, und die nicht bloß dieses oder jenes System, sondern, mehr oder weniger, alle trifft: Am auffallendsten allerdings den Begriff der Immanenz; denn entweder wird ein wirkliches Böses zugegeben, so ist es unvermeidlich, das Böse in die unendliche Substanz oder den Urwillen selbst mitzusetzen, wodurch der Begriff eines allervollkommensten Wesens gänzlich zerstört wird; oder es muß auf irgend eine Weise die Realität des Bösen geläugnet werden, womit aber zugleich der reale Begriff von Freyheit verschwindet.“ 59

Zum anderen sei es, so Schelling, weder Kant noch Fichte gelungen, einen Freiheitsbegriff zu entwickeln, der über die praktische Vernunft des Menschen hinausgehe. Dies sei aber notwendig, wenn man menschliche Freiheit mit dem Begriff eines Gottes beziehungsweise dessen Allmacht zusammendenken wolle. 56 Schelling, AA I, 17, 124. 57 Schelling, AA I, 17, 125. 58 Noller sieht in Schellings Freiheitsschrift dementsprechend auch nicht den Versuch, Kants Freiheitslehre zu negieren, sondern kritisch weiterzuführen. (Vgl. Noller, Bestimmung des Willens, bes, 311.) Dörendahl interpretiert Schellings 1809 veröffentlichte Schrift ebenfalls als Kritik an der Freiheitsphilosophie von Kant und Fichte, sieht dessen Stoßrichtung aber weniger in der Frage nach dem freiheitlichen Vermögen zum Bösen, als vielmehr im Versuch, „eine ontologische Dimension der Freiheit geltend [zu machen], die ihrerseits die Freiheit des Subjekts sowohl wie die Freiheit der Natur umfasst und in der Freiheit Gottes fundieren soll“. (Dörendahl, Abgrund der Freiheit, 38.) 59 Schelling, AA I, 17, 125.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

„Durch die Freyheit wird eine dem Prinzip nach unbedingte Macht außer und neben der göttlichen behauptet, welche jenen Begriffen zufolge undenkbar ist. [...] Giebt es gegen diese Argumentation einen andern Ausweg, als den Menschen mit seiner Freyheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen, daß der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sey, und daß seine Thätigkeit selbst mit zum Leben Gottes gehöre?“ 60

Mit der Problematisierung des Verhältnisses von Autonomie und Theonomie knüpft Schelling auch an eigene, frühere Positionen kritisch an. Zum einen deutet er hier, im Unterschied zu seinen identitätsphilosophischen Spekulationen, die menschliche Freiheit als Ausdruck göttlicher Freiheit verstanden und somit deren Selbstständigkeit geleugnet hatten, eine eigenständige Freiheit des Menschen an, zugleich aber bindet er sie sofort wieder in ein größeres System zurück, wie er es in den Jahren zuvor immer wieder versucht hat. Mit seinem Verweis, dass sich mit dem Versuch, „aus Fürsorge, Gott ja recht weit von aller Natur zu entfernen [...], nichts ausrichten“ lasse, außerdem Gott „etwas Realeres, als eine bloße moralische Weltordnung [sei] [...] und ganz andre und lebendigere Bewegungskräfte in sich [habe], als ihm die dürftige Subtilität abstrakter Idealisten zuschreib[e]“ 61, polemisiert er nicht nur gegen Fichte, sondern rekurriert auf seine eigene Naturphilosophie. In dieser hatte er ungefähr zehn Jahre zuvor bereits die Natur nicht als minderwertigen Gegenstand des freiheitsbegabten Menschen, sondern als geistbewegtes Subjekt zu denken versucht. Schelling wirft zusammenfassend in der Einleitung ein Schlaglicht auf das komplexe nachfolgende Programm. In Bezug auf seine eigenen früheren Schriften und in Abwehrstellung gegen Jacobi und Friedrich Schlegel verteidigt er den Pantheismus als einzig denkbares System, in welchem die menschliche Freiheit und der Begriff von Gott zusammengedacht werden könnten. Gleichwohl gibt er implizit zuvor bezogene Positionen, bei welchen die menschliche Freiheit als Teil der göttlichen Freiheit geleugnet wurde, preis. Stattdessen möchte er auf der Basis der Arbeiten Kants den idealistischen Freiheitsbegriff zu einem Verständnis ausarbeiten, das die menschliche Freiheit als ein eigenständiges, positives Vermögen sowohl des Guten als auch des Bösen zu fassen vermag. Eine solche Synthese sei weder von Spinoza oder Leibniz, noch Kant und Fichte geleistet worden.

4.3.2. Der Begriff realer Freiheit Der „reale und lebendige Begriff“ von Freiheit ist nach Schelling, „daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey.“ 62 Was mit diesem Verständnis gemeint ist, 60 Schelling, AA I, 17, 113 f. 61 Schelling, AA I, 17, 128. 62 Schelling, AA I, 17, 125.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

135

soll im Folgenden aufgezeigt werden. Im Versuch, den formellen Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung näher zu bestimmen und real-individuell zu konkretisieren, markiert Schelling im Menschen einen unbestimmten Willen als zentrale Möglichkeit, um sich zum Guten und zum Bösen entscheiden zu können. „Jedes der auf die angezeigte Art in der Natur entstandnen Wesen hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im Grunde nur Ein und das nämliche ist, von den beyden möglichen Seiten betrachtet. Das erste Prinzip ist das, wodurch sie von Gott geschieden, oder wodurch sie im bloßen Grunde sind; [...] Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt, und dunkel ist, ist der Eigenwille der Kreatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommnen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben ist, (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist. Diesem Eigenwillen der Kreatur steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht, und als bloßes Werkzeug sich unterordnet. Wenn aber endlich durch fortschreitende Umwandlung und Scheidung aller Kräfte der innerste und tiefste Punkt der anfänglichen Dunkelheit in einem Wesen ganz in Licht verklärt ist: so ist der Wille desselben Wesens zwar, inwiefern es ein Einzelnes ist, ebenfalls ein Partikularwille, an sich aber, oder als das Centrum aller andern Partikularwillen, mit dem Urwillen oder dem Verstande Eins, so daß aus beiden jetzt ein einziges Ganzes wird.“ 63

Jedem irdischen Wesen kommt also nach Schelling ein Prinzip beziehungsweise ein Wille zu. Betrachtet man diesen aus zwei verschiedenen Perspektiven, kann man in ihm den Eigen- und den Universalwillen unterscheiden. Der Mensch als geistbegabtes Wesen ist vermögend, den Eigen- und den Universalwillen in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Seine Freiheit zeichnet sich gerade durch das Moment des Entscheidungsvermögens aus. Mit dieser These versucht Schelling an Kants Arbeiten zur menschlichen Freiheit anzuschließen. Schelling, bereits im Studium Leser der kantischen Schriften, macht in dessen Ausführungen zur Autonomiethese das Fehlen einer rationalen Erklärung des Menschen zum Bösen aus. Weder in seinen Kritiken, noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten konnte Kant erklären, wie ein freiheitliches Vermögen zum Bösen gedacht werden könne. Sich gegen das Sittengesetz zu entscheiden, machte Kant als Heteronomie aus. 64 Selbstbestimmung dachte Kant ausschließlich als vernünftiges Befolgen des Sittengesetzes. Erst in seinem Aufsatz Ueber das radikale Böse in der menschlichen Natur, der später als erster Teil der Schrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erschien, denkt Kant die Möglichkeit einer freien Entscheidung zum Bösen. Das moralisch Gute identifiziert Kant mit der Befolgung des Sittengesetzes und der Orientierung am kategorischen Imperativ – was von Kant explizit der reinen Übereinstimmung des Handelns mit dem positiven Gesetz vorgeordnet wird, da legales Handeln auch unmoralische Triebfedern haben könne. Das moralisch Böse versteht er als die wissentlich-willentliche Überordnung der Selbstliebe, oder anderer nicht auf die Einhaltung des moralischen Gesetzes gerichteter Triebfedern, 63 Schelling, AA I, 17, 133 f. 64 Vgl. Kant, KpV, A 40–45.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

über das – jedem Menschen per natürlicher Anlage einsehbare – Sittengesetz. 65 Der Mensch ist demnach frei, das Gute und das Böse zu realisieren, beziehungsweise das Sittengesetz oder die Selbstliebe zu priorisieren. Hieran knüpft Schelling in seiner Freiheitsschrift an. Trotz einiger Parallelen, wie beispielweise die Ähnlichkeit des kantischen Sittengesetz und des Universalwillens Schellings, sind gleichwohl klare Unterschiede auszumachen. Anders als Kant und Jacobi konnotiert Schelling den Begriff des Verstandes positiv: „Denn so hoch wir auch die Vernunft stellen, glauben wir doch z. B. nicht, daß jemand aus reiner Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein großer Mensch sei [...]. Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grunde, der also allerdings auch Grund der Erkenntnis seyn muß. Aber nur der Verstand ist es, der das in diesem Grunde verborgene und bloß potentialiter enthaltene herausbildet und zum Aktus erhebt.“ 66

Das ist eine bemerkenswerte Abgrenzung gegenüber Kant. Nicht aus Vernunft heraus ist ein Mensch nach Schelling tugendhaft. Die Vernunft kann nicht praktisch werden, sie ist für Schelling „nicht Thätigkeit [...], sondern die Indifferenz; das Maß und gleichsam der allgemeine Ort der Wahrheit“. 67 Demgegenüber stehe der Verstand. Der Verstand könne sich in ein Verhältnis setzen zur Vernunft. Diese Entscheidungsfähigkeit, mittels des Verstandes sich in ein Verhältnis zur praktischen Vernunft zu setzen, zeichnet für Schelling den freien Willen aus, den er als Willkür bezeichnet. Um das Vermögen zum Bösen erklären zu können, unterscheidet Schelling zwischen dem absoluten Willen und der Willkür, die als endliches, reflexives Moment des Willens erscheint, vermögend, sich angesichts unterschiedlicher Willenstendenzen zu entscheiden. Schelling negiert damit nicht die kantischen Erörterungen zu den Begriffen von Willen und praktischer Vernunft, sondern differenziert diese. Er setzt die praktische Vernunft mit dem Universalwillen gleich, der dem Menschen jederzeit bewusst sei. Darüber hinaus integriert er ein reflexiv-voluntatives Moment in das menschliche Freiheitsgeschehen, das zu denken ermöglicht, dass der Mensch sich frei in Ansehung der Vernunft zum Bösen entscheidet, indem er den Universalwillen dem Eigenwillen unterordnet. 68 Genau wie Kant es aufgrund der menschlichen Anlagen nicht für möglich hält, dass ein Mensch das Sittengesetz vollkommen ausblenden könne, ist auch Schelling der Überzeugung, dass der Universalwille nicht ausgeschaltet werden könne. Der Mensch vermag es, Schelling zufolge, den Eigen- oder den Universalwillen zu priorisieren. Einen der beiden in der Entscheidungsfindung vollständig aufzuheben, ist 65 66 67 68

Vgl. Kant, RGV B 18–22, 34 / A 15–A 20, 30. Schelling, AA I, 17, 177. Schelling AA I, 17, 178. Damit greift Schelling – nicht zum ersten Mal – in die Diskussion um den Willensbegriff zwischen Kant und Reinhold ein. Vgl. Höfele, Wollen und Lassen, 130–132; Noller, Bestimmung des Willens, 301–309.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

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nicht möglich. 69 Dieses Verständnis hängt mit Schellings Hinweis zusammen, dass es sich dabei um einen einzigen Willen im Menschen handle, der lediglich wie die zwei Seiten einer Medaille, zwei unterschiedliche Perspektiven ausweisen könne, aber ein Wesen besitze. Entscheide sich der Mensch dafür, den Eigenwillen zu priorisieren, sei dies nur in Reflexion des Universalwillens möglich und vice versa. „Die Selbstheit als solche ist Geist; oder, der Mensch ist Geist als ein selbstisches, besondres, (von Gott geschiedenes) Wesen, welche Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht. Dadurch aber, daß die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus dem Kreatürlichen in‘s Ueberkreatürliche gehoben, sie ist Wille, der sich selbst in der völligen Freyheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur ist. [...] Dadurch aber, daß sie den Geist hat, [...] kann die Selbstheit sich trennen von dem Licht, oder der Eigenwille kann streben, das, was er nur in der Identität mit dem Universalwillen ist, als Partikularwille zu seyn, das, was er nur ist, inwiefern er im Centro bleibt (so wie der ruhige Wille im stillen Grund der Natur ebendarum auch Universalwille ist, weil er im Grunde bleibt), auch in der Peripherie, oder als Geschöpf zu seyn“. 70

Durch das Vermögen, Eigen- oder Universalwille priorisieren zu können, hebt sich der Mensch für Schelling von anderen Lebewesen ab. Tiere sind alternativlos dem Universalwillen unterstellt. Der Mensch hingegen kann sich aus dem Zentrum erheben und Eigeninteressen folgen. Diese Bemerkung veranschaulicht den bleibenden Stellenwert seiner Naturphilosophie bei Schelling. Der Mensch ist nicht nur Geist und steht somit nicht nur in Opposition zur Natur wie es noch Kant und Fichte formulierten. Er beruft sich auf diese, wenn er vom Geistsein des Menschen spricht, der nicht nur Natur ist, aber eben – und das ist der entscheidende Unterschied – auch Natur. Der Mensch ist also ein geistbegabtes Wesen der Natur und unterscheidet sich von anderen Lebewesen durch eine Weiterentwicklung. Während diese „Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens“ 71 bleiben, ist der Mensch „auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freyes. Er steht am Scheidepunkt: was er auch wähle, es wird seine That seyn“. 72 Entscheidet sich der Mensch zum Bösen, priorisiert er also seinen Eigenwillen, „strebt [er] das Verhältniß der Prinzipien umzukehren“. 73 Die eigentliche in der Natur vorherrschende und den Worten Schelling zufolge auch für die Menschen vorgesehene Prinzipienrelation, in welcher der Eigenwille sich dem Universalwillen unterordnet, wird dann verkehrt. 74 Damit entstehe ein 69 Vgl. Hermanni, Die letzte Entlastung, 132–136; Nonnenmacher, Vernunft und Glaube, 227 f., der sich explizit auf Hermanni bezieht. 70 Schelling, AA I, 17, 135. 71 Schelling, AA I, 17, 135. 72 Schelling, AA I, 17, 143. 73 Schelling, AA I, 17, 136. 74 Diese Unterordnung des Eigen- unter den Universalwillen meint jedoch keine Aufhebung

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

„eignes, aber ein falsches Leben, ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe, und der Verderbniß. Das treffendste Gleichniß bietet hier die Krankheit dar, welche, als die durch den Mißbrauch der Freyheit in die Natur gekommene Unordnung, das wahre Gegenbild des Bösen oder der Sünde ist.“ 75

Bemerkenswert hierbei ist das Bild der Krankheit – aus mehreren Gründen. Zum einen spricht Schelling der Krankheit beziehungsweise dem Bösen ein eigenes Leben zu. Das Böse ist hier also entgegen klassischer Deutungen keine Privation, kein Mangel oder Nicht-Sein, sondern besitzt eine eigene Positivität. Gleichwohl sei es eine falsche Positivität, das Gegenteil des Guten. Die Metapher von der Krankheit nimmt Schelling explizit bekennend von Franz von Baader auf. Dieser hatte das Böse vor Schelling als eigene Positivität bezeichnet und wie Schelling selbst bemerkt als „Umkehrung der Prinzipien“. 76 Damit hat Schelling einen Weg gefunder Persönlichkeit wie Zovko, Natur und Gott, 216, ausführt. Der Eigenwille kann als Teil des Universalwillens von der Priorisierung des Universalwillens profitieren. Hier gilt es außerdem den historischen Hintergrund der Begrifflichkeiten Schellings zu bedenken. Der sich am Universalwillen orientierende Eigenwille ist an Kants Autonomiegedanken angelehnt. Auch von Kant ist nicht angedacht, dass der Mensch sich als selbstständiges Individuum auflöse, sobald er sich autonom bestimme – im Gegenteil, zeichnet sich für Kant der Mensch gerade durch die Selbstgesetzgebung als moralische Person aus. Zwar hebt Schelling stärker als Kant hervor, dass auch die Priorisierung des Eigenwillens ein positiver, rationaler Akt des Ichs darstellen könne. Deswegen kann aber – zumindest für die Freiheitsschrift – nicht behauptet werden, dass Schelling die Persönlichkeit des Menschen mit der Entscheidung, den Universalwillen zu priorisieren, aufzuheben gedenkt. Vgl. hierzu Buchheim, Begriff der menschlichen Freiheit, 196. Bedenkenswert ist die Vorstellung Piepers, Problem der Herkunft, 100, dass der Universalwille böse handle, wenn er den Partikularwillen übergehe. Auf politische Ereignisse übertragen, kann dem zugestimmt werden. Mehrheiten können sich in Ignoranz von Minderheiten an diesen vergehen. Auch eschatologisch kann dieser Gedanke fruchtbar gemacht werden. Auf diesen Kontext angewendet, könnte man das Gedankenspiel insofern weiterführen, als dass Gott den Menschen so sehr achtet, dass er ihn auch im Eschaton noch wertschätzt und auf die individuelle Versöhnung hofft, anstatt das Individuum im Versöhnungsprozess zu übergehen. Vgl. hierzu Striet, Versuch über die Auflehnung. Auf Schellings Darlegungen von 1809 übertragen, trifft diese Befürchtung aber nicht zu. Eschatologische Überlegungen sind lediglich peripher angedeutet und, wie oben bereits ausgeführt, deutet Schelling die Einordnung des Eigen- in den Universalwillen positiv im Sinne der Autonomie Kants. 75 Schelling, AA I, 17, 136. 76 Schelling, AA I, 17, 137: „Diesen allein richtigen Begriff des Bösen, nach welchem es auf einer positiven Verkehrtheit oder Umkehrung der Prinzipien beruht, hat in neueren Zeiten besonders Franz Baader wieder hervorgehoben und durch tiefsinnige physische Analogien, namentlich die der Krankheit, erläutert.“ Eine selbstbestimmte Veränderung der Verkehrtheit der Prinzipien hält Schelling in diesem Leben für nicht möglich. Zwar betont er, dass unter der Voraussetzung, dass der Mensch „dem guten Geist jene Einwirkung verstattet, sich ihm nicht positiv verschließt, [...] in jener anfänglichen Handlung, durch welche er dieser und kein andrer ist“, die Möglichkeit bestehe, dass „menschliche oder göttliche Hülfe – (einer Hülfe bedarf der Mensch immer) – ihn zu der Umwandlung ins Gute bestimme“. (Schelling, AA I, 17, 156.) Diese nur

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

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den, das Böse als positiven Freiheitsvollzug zu interpretieren, als Überordnung des Eigenwillens über den Universalwillen und damit den Ausbruch aus dem eigentlichen Prinzipienverhältnis, wie Schelling sagt, aus dem Zentrum in die Peripherie. Den freiheitlichen Charakter dieses Aktes verdeutlicht Schelling, wenn er betont, dass die „Partikularkrankheit“ nur dadurch entstehe, „dass das, was seine Freyheit oder sein Leben nur dafür hat, daß es im Ganzen bleibe, für sich zu seyn strebt.“ 77 Die Kenntlichmachung im obigen Zitat erfolgte aufgrund der Bemerkung Schellings, dass der Mensch seine Freiheit zu einem bestimmten Zweck, nämlich um im Ganzen zu bleiben, den Eigenwillen also dem Universalwillen unterzuordnen, bekommen habe. Der Aussagecharakter der Vergabe der Freiheit, versehen mit einem konkreten Ziel, deckt sich mit den Aussagen Schellings in der Einleitung der Freiheitsschrift, denen zufolge Gott und Mensch in einem Bedingungsverhältnis, im Sinne einer Grund-Folge-Relation, stehen. Der Mensch ist demnach, auch in seiner Freiheit und deren Zwecksetzung, abhängig von Gott. In diesem Zusammenhang gilt es zum anderen, den Hinweis Schellings zu beachten, dass die Krankheit beziehungsweise das Böse durch den „Mißbrauch der Freyheit“ 78 in die Welt gekommen sei. Hier werden klare Anleihen beim augustinischen Erbsündenkonstrukt genommen: Der Mensch missbraucht seine Freiheit, von der er weiß, dass sie ihm zu einem bestimmten Zweck geschenkt worden ist. Tatsächlich beleuchtet Schelling an späterer Stelle intensiv die Vorstellung einer erbsündlichen Tat. Bevor diese analysiert werden kann, sollen aber weitere Überlegungen zur Definition des Bösen angestellt werden. Um sein Verständnis vom Bösen hervorzuheben, grenzt sich Schelling von klassischen Konstruktionen ab: „Alle andern Erklärungen des Bösen lassen den Verstand und das sittliche Bewußtseyn gleich unbefriedigt. Sie beruhen im Grunde sämmtlich auf der Vernichtung des Bösen als positiven Gegensatzes und der Reduktion desselben auf das sogenannte malum metaphysicum, oder dem verneinenden Begriff der Unvollkommenheit der Kreatur.“ 79

Zuerst wird Leibniz Erklärung zum Bösen als notwendige, die Differenz zwischen Gott und Mensch wahrende, graduelle Abstufung der Vollkommenheit erläutert und kritisiert: „[S]o läuft das Böse [...] wieder auf etwas bloß Passives, auf Einschränkungen, Mangel, Beraubung hinaus, Begriffe, die der eigentlichen Natur des Bösen völlig widerstreiten. Denn schon die einfache Ueberlegung, daß es der Mensch, die vollkommenste aller sichtbaren Kreaturen ist, der des Bösen allein fähig ist, zeigt, daß der Grund desselben keineswegs in Mangel oder Beraubung liegen könne. Der Teufel nach der christlichen Ansicht war nicht die limitirteste Kreatur, sondern vielmehr die illimitierteste. Unvollkommenheit im allgemeinen in der intelligiblen Tat (Vgl. Kap 4.3.3.) bestehende Möglichkeit wird aber scharf begrenzt, denn „alle Umwandlung des Menschen vom Bösen zum Guten, und umgekehrt, [sei] für dieses Leben wenigstens“ (Schelling, AA I, 17, 155 f.) beschnitten. 77 Schelling, AA I, 17, 136. Herv. im Text durch J. G. 78 Schelling, AA I, 17, 136. 79 Schelling, AA I, 17, 137.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

metaphysischen Sinn ist nicht der gewöhnliche Charakter des Bösen, da es sich oft mit einer Vortrefflichkeit der einzelnen Kräfte vereinigt zeigt, die viel seltner das Gute begleitet. Der Grund des Bösen muß also nicht nur in etwas Positivem überhaupt, sondern eher in dem höchsten Positiven liegen, das die Natur enthält, wie es nach unsrer Ansicht allerdings der Fall ist, da er in dem offenbar gewordnen Centrum oder Urwillen des ersten Grundes liegt.“ 80

Zwei Aspekte an dieser Kritik stechen hervor. Zum einen baut Schelling seine Analyse auf einer empirischen Ebene auf. Er meint, ausmachen zu können, dass Menschen, denen als böse qualifizierte Taten zur Last gelegt werden, nicht aufgrund ihrer physischen oder psychischen Beschränktheit auffallen würden, sondern gerade durch ihre Unbegrenztheit beziehungsweise die hohe Qualität ihrer Fähigkeiten. Daran knüpft er die traditionelle ,Unde malum?‘-Frage an und stellt provokant die Möglichkeit in den Raum, dass der Grund des Bösen „in dem höchsten Positiven“ liegen könnte, „das die Natur enthält“. 81 Zum anderen argumentiert Schelling mit der christlichen Figur des Teufels. Diese benennt er als „illimitierste“ 82 und tatsächlich wurde über Jahrhunderte hinweg der Teufel als „Gott dieser Weltzeit“ (2 Kor 4,4) mit vielfältigen Möglichkeiten bedacht, in die Welt und die menschlichen Handlungen einzugreifen. Die Figur zeichnete sich in der klassischen Vorstellung gerade nicht durch einen Mangel an Fähigkeiten aus, sondern wurde als personaler, machtvoller Gegenspieler Gottes gedacht, der es historisch betrachtet vermochte, die Theodizeefrage – zumindest partiell – zu entschärfen. Bemerkenswert an Schellings Satz über den Teufel ist das Tempus des Verbs. Das Wort ,war‘ zeigt an, dass Schelling den Gedanken eines eigenständigen, personalen Teufels für nicht mehr glaubhaft erachtet und ihn als ein rein historisches Konzept verortet. Damit stellt sich die Frage nach dem Ursprung und der Verantwortung für das Böse in neuer Schärfe. 83 Bevor Schelling aber die Frage beantwortet, in welchem Verhältnis Gott zum Bösen steht, weist er weitere Definitionen des Bösen ab. Aus seiner gegen den Neuplatonismus gerichteten Vorstellung der eigenständigen Positivität des Bösen heraus, das aus einer willentlich vorgenommenen Umkehrung der Prinzipien hervorgeht, kritisiert Schelling den Gedanken, „daß ja eben die Disharmonie eine Privation sey, nämlich eine Beraubung der Einheit [...]. Denn es ist nicht die Trennung der Kräfte an sich Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben [...] Krankheit wird durch den Tod geendigt; und kein einzelner Ton für sich macht

80 81 82 83

Schelling, AA I, 17, 138 f. Schelling, AA I, 17, 139. Schelling, AA I, 17, 138. Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Geschichte des Teufels im abendländischen Denken die Studie von Flasch, Teufel und seine Engel. Vgl. zu Teufels Tod das gleichnamige Kapitel in Flasch, Teufel und seine Engel, 380–401. Wie sich die Bewertung des Bösen verändert hat – wobei folgende Arbeit mitnichten den Schlusspunkt der Debatte darstellt – sieht man an der Theorie Hannah Arendts über die Banalität des Bösen. Vgl. hierzu Arendt, Eichmann in Jerusalem und die Studie von Browning, Ordinary Men, welche als Quellenbeleg für Arendts These gelesen werden kann.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

141

eine Disharmonie aus. Aber eben jene falsche Einheit zu erklären, bedarf es etwas Positives, welches sonach im Bösen nothwendig angenommen werden muß, aber so lange unerklärbar bleiben wird, als nicht eine Wurzel der Freyheit in dem unabhängigen Grunde der Natur erkannt ist.“ 84

Aufgrund dieser anzunehmenden Freiheit seien auch zeitgenössische Vorstellungen falsch, die das Böse allein in der Vorherrschaft der Sinnlichkeit ausmachten, wie es beispielsweise Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft 85 formuliert hatte, wie Schelling pointiert und mit scharf formulierten Argumenten moniert: „Diese Vorstellung ist eine natürliche Folge der Lehre, nach welcher die Freyheit in der bloßen Herrschaft des intelligenten Prinzips über die sinnlichen Begierden und Neigungen besteht und das Gute aus reiner Vernunft kommt, wonach es begreiflicherweise für das Böse keine Freyheit gibt [...]; richtiger zu reden aber das Böse völlig aufgehoben wird. [...] Gesetzt aber, die Sinnlichkeit oder das leidende Verhalten gegen äußre Eindrücke brächte mit einer Art von Nothwendigkeit böse Handlungen hervor, so wäre der Menschen in diesen doch selbst nur leidend, d. h. das Böse hätte in Ansehung seiner, also subjektiv keine Bedeutung, und da das, was aus einer Bestimmung der Natur folgt, objektiv auch nicht böse seyn kann, hätte es überhaupt keine Bedeutung. Daß aber gesagt wird, das vernünftige Prinzip sey im Bösen unwirksam, ist auch an sich kein Grund. Denn warum übt es denn seine Macht nicht aus? Will es unwirksam seyn, so liegt der Grund des Bösen in diesem Willen und nicht in der Sinnlichkeit. Oder kann es die widerstrebende Macht der letzten auf keine Art überwinden: so ist hier bloß Schwäche und Mangel, aber nirgends ein Böses.“ 86

Als Zwischenfazit zum Schelling’schen Begriff realer Freiheit lässt sich festhalten, dass Schelling den kantischen Freiheitsbegriff zugrunde legt, um kritisch daran anknüpfend einen von ihm als „real[...]“ und „lebendig[...]“ 87 bezeichneten Begriff von Freiheit zu entwickeln. Reale menschliche Freiheit zeichnet sich nach Schelling durch das Vermögen zum Guten und zum Bösen aus. Im Gegensatz zu Tieren habe der Mensch Handlungsalternativen und könne zwischen diesen bewusst wählen. Entscheidet sich der Mensch zum Bösen, ist das nicht als Mangel des Guten zu verstehen und es stellt auch keinen Mangel an Sein dar, sondern dem Bösen wird von Schelling eine eigene Positivität zugesprochen. Näher beschrieben wird der Vollzug des Bösen als Priorisierung des Eigenwillens gegenüber dem Universalwillen. Dabei weist Schelling darauf hin, dass Eigen- und Universalwille nicht im Sinne eines strengen Dualismus zweier eigenständiger Entitäten zu verstehen seien. Im Gegen84 Schelling, AA I, 17, 140 f. 85 Kant, KpV, A 58 f.: „Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande. [...] Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anders, als das Objekt einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze“. 86 Schelling, AA I, 17, 141. 87 Schelling, AA I, 17, 125.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

teil sei von einem Willen auszugehen, der zwei Seiten aufweise und dabei jeweils eine Seite exponieren könne. „Der Preis, den Schelling dafür konsequent entrichtet und der für Kant allerdings unbezahlbar wäre, ist, dass der Universalwille oder das Bewusstsein des Sollens selbst in der beschriebenen Weise eine unhintergehbare Einheit mit dem Eigenwillen des natürlich entstammten Individuums bildet“. 88 Daran anschließend gilt es im Folgenden weitere Fragen zu beantworten: 1. Was wird als die Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Verkehrtheit der Prinzipien gedacht? Schelling spricht, wie bereits gesehen, vom Missbrauch der Freiheit, wodurch das Böse in die Welt gekommen sei. Daran schließt sich die Frage nach Raum und Zeit dieses menschlichen Vergehens an. Diesem Komplex soll im folgenden Kapitel 4.3.3. nachgegangen werden. 2. Darüber hinaus muss außerdem das Verhältnis von Mensch und Gott analysiert werden. Denn allein der Sachverhalt, dass Schelling den Menschen in eine Beziehung zu Gott setzt, zieht die Frage nach sich, in welchem Verhältnis Gott zum Bösen beziehungsweise Gott zum menschlichen Vermögen zum Bösen stehend gedacht wird. Überlegungen dieser Art werden in Kapitel 4.4. eingehender angestellt. 3. Wenn der Mensch seine Freiheit gegenüber Gott missbraucht, scheint diesem Vorgang eine klare – göttliche – Vorstellung von Gut und Böse zugrunde zu liegen. Denn wie sollte es denkbar sein, dass ein Mensch gegenüber Gott sündigt, wenn nicht mindestens der geglaubte Gott ein Verständnis davon haben soll, was gut und was böse ist? Wenn aber in das Gotteskonzept eine moralische Differenzierungsmöglichkeit inkludiert wird, sind damit bereits Implikationen im Gottesbegriff gesetzt. Der Schelling’sche Gottesbegriff und die damit einhergehenden Fragen nach der Personalität Gottes, dem Vermögen, Gut und Böse zu unterscheiden und Gesetze hierzu zu erlassen, sollen in Kapitel 4.5. erörtert werden.

4.3.3. Der Begriff transzendentaler Freiheit „Aber eben wie nun im einzelnen Menschen die Entscheidung für Böses und Gutes vorgehe, dieß ist noch in gänzliches Dunkel gehüllt, und scheint eine besondre Untersuchung zu erfodern.“ 89

Nachdem das reale Freiheitsvermögen von Schelling als Vermögen zum Guten und zum Bösen bestimmt ist, kehrt er zum Begriff formeller Freiheit zurück. Für ihn steht fest, dass weder Zufälligkeit noch äußere Determinierung die menschliche Freiheit erklären können. Denn wenn Freiheit nur durch Zufälligkeit zu erklären 88 Buchheim, Begriff der menschlichen Freiheit, 197. 89 Schelling, AA I, 17, 150.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

143

sei, dann sei damit keinerlei Verständnisgewinn erzielt und Freiheit als Willensund Handlungsfreiheit müsse aufgrund fehlender Belege verworfen werden. Ebenso sei der Determinismus ein für die Vernunft unbefriedigender Erklärungsansatz, weil auch damit Freiheit nivelliert werde. Denn wenn alle menschlichen Handlungen von Ursachen bestimmt seien, die diesen zeitlich derart weit vorauslägen, dass kein Einfluss mehr auf sie genommen werden könne, dann könne der Freiheitsbegriff für diese humanen Vollzüge nicht mehr vernünftig vorausgesetzt werden. 90 Es bleibe also einzig die Möglichkeit der Selbstbestimmung als vernünftige Erklärung der freien Entscheidung zum Guten und zum Bösen übrig. Hier weiß Schelling wiederum auf Kant und Fichte zu verweisen. Beide hätten große Vorarbeit geleistet, jedoch Fragen offengelassen. Besonders der Gedanke Kants steht ihm dabei vor Augen, dass das „intelligible Wesen [...] ausser allem Kausalzusammenhang, wie ausser oder über aller Zeit“ 91 stehe. Kant hatte, transzendentalphilosophisch ansetzend, die These aufgestellt, dass der intelligible Mensch, wenn ihm Freiheit zugestanden werden solle, frei von äußeren Naturkausalitäten entscheiden können müsse. Zwar verliert sich der Moment des Anfangs der Freiheit nach Kant im Dunkel der menschlichen Erkenntnis, gleichwohl müsse ein unbedingtes Anfangenkönnen angenommen werden. Denn nur wenn der Mensch frei von Heteronomie und Zufälligkeit gedacht werde, könne man bei ihm die Freiheit annehmen, sich selbst zu bestimmen. 92 Diese transzendentale Freiheit ist die Voraussetzung der praktischen Freiheit. Wie aber diese ursprüngliche Selbstbestimmung gedacht werden könne, habe Kant nicht ausreichend beantwortet, so die zeitgenössische Kritik. Fichte legte daher dem kantischen Gedanken ein Ich zugrunde, das sich selbst außerhalb aller räumlichen und zeitlichen Kausalzusammenhänge selbst setzt, indem es sich allein durch sein eigenes Wesen bestimmen lässt. Diesen Gedanken greift Schelling auf und notiert: „Dies muß feststehen, auch in jener höheren Ansicht, daß die einzelne Handlung aus innerer Nothwendigkeit des freyen Wesens, und demnach selbst mit Nothwendigkeit erfolgt, die nur nicht, wie noch immer geschieht, mit der empirischen auf Zwang beruhenden, (die aber selber nur verhüllte Zufälligkeit ist), verwechselt werden muß. Aber was ist denn jene innere Nothwendigkeit des Wesens selber? Hier liegt der Punkt, bei welchem Nothwendigkeit und Freyheit vereinigt werden müssen, wenn sie überhaupt vereinbar sind. [...] [D]as Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigene That; [...] Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That; Bewußtseyn ist Selbstsetzen – aber das Ich ist nichts von diesem verschiedenes, sondern eben das Selbstsetzen selber.“ 93

Wie bereits angedeutet, hält Schelling Fichte aber vor, beim Ich stehen zu bleiben und dieses Stück Transzendentalphilosophie nicht mit einer Naturphilosophie zu90 91 92 93

Vgl. Schelling AA I, 17, 150 f. Schelling AA I, 17, 151. Vgl. Kant, KrV, B 561 / A 533. Schelling, AA I, 17, 152.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

sammenzuführen. Das transzendentale Ich, das sich selbst setze, müsse trotz aller Freiheit von kausalen Zusammenhängen in Raum und Zeit in den Gedanken einer göttlichen Schöpfung integriert werden. Schelling geht also ebenfalls von einer intelligiblen Tat des Menschen aus, integriert diese nun jedoch, anders als Kant und Fichte, in das Konzept einer göttlichen Kosmogonie. Bevor jedoch die Integration der intelligiblen Tat in die Kosmologie näher betrachtet werden kann, gilt es, die Konsequenzen des intelligiblen Freiheitsvollzugs für die Anthropologie auszuleuchten. Während Kant die Unerforschlichkeit des Vernunftursprungs des menschlichen Vermögens zum Bösen konstatierte, 94 versucht Schelling diesen näher zu beleuchten. „Die That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, gehört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Leben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit, (unergriffen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That. Durch sie reicht das Leben des Menschen bis an den Anfang der Schöpfung: daher er durch sie auch außer dem Erschaffnen, frey und selbst ewiger Anfang ist.“ 95

Die intelligible Tat ist nach Schelling folglich ein außerhalb des zeitlichen Rahmens stattfindender Vollzug. Das bedeutet, dass die Tat nicht zeitlich betrachtet vor allen anderen Entscheidungen vollzogen wird und die nachfolgenden Handlungen bestimmt, sondern ihnen auf logischer Ebene vorangeht. Sie zieht sich prozessual durch jede empirische Handlung und zwar gerade, weil sie als außerhalb der Zeit liegend gedacht eine metaphysische Dimension einnimmt. 96 Dass diese These konkrete Folgen nach sich zieht, zeigt Schelling selbst auf, wenn er exemplarisch ausführt: „Daß Judas ein Verräther Christi wurde, konnte weder er selbst, noch eine Kreatur ändern, und dennoch verrieth er Christum nicht gezwungen, sondern willig und mit völliger Freyheit.“ 97 Die Folgen der intelligiblen Tat sind demnach irreversibel. Der Mensch entscheidet sich in der intelligiblen Tat definitiv. Hier legt er selbst sein Wesen fest, das ihn durch alle Zeit bestimmt. Sowohl dem Gedanken der Freiheit von äußerem Zwang, als auch dem Anspruch der Selbstbestimmung scheint Schelling damit auf den ersten Blick genüge getan zu haben. Dieses Bild zieht jedoch eminente Probleme nach sich, die betrachtet werden müssen. Zum einen stellt sich die Frage, wie der Gehalt der realen Freiheit noch gefasst werden kann, wenn die Biographie eines Menschen außerhalb aller Zeit festgelegt wird. Zum anderen steht das Problem im Raum, wie eine moralisch verantwortbare Entscheidung außerhalb der Zeit getroffen werden kann. Bemerkenswert bleibt an Schellings Beispiel der Verweis auf Luthers Schrift De servo arbitrio, in welcher Luther die irdische Freiheit des Menschen in Bezug auf sein Seelenheil verwirft und 94 Vgl. Kant, RGV, B 46 / A 43. 95 Schelling, AA I, 17, 153. 96 Lore Hühn spricht von der „Allzeitlichkeit ihrer Gegenwart“ in Hühn, Die intelligible Tat, 58. 97 Schelling, AA I, 17, 153.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

145

die Entscheidung über die menschliche Erlösung gänzlich in die Hände Gottes legt, der vor der Geburt des Menschen dessen Zukunft prädestiniere. 98 Zwar äußert Schelling die Meinung, dass Luther den Zusammenhang von „Nothwendigkeit mit der Freyheit der Handlungen nicht auf die rechte Art begriffen“ 99 habe, denn Schelling möchte jeglichen Eindruck von Fremdbestimmung des Menschen in der intelligiblen Tat vermeiden. Deshalb erklärt er diesen Zusammenhang noch einmal ausführlich: „Die Urheber derselben [der Prädestination] empfanden, daß die Handlungen des Menschen von Ewigkeit bestimmt seyn müßten; aber sie suchten diese Bestimmung nicht in der ewigen, mit der Schöpfung gleichzeitigen, Handlung, die das Wesen des Menschen selbst ausmacht, sondern in einem absoluten, d. h. völlig grundlosen Rathschluß Gottes, durch welchen der eine zur Verdammniß, der andre zur Seligkeit vorherbestimmt worden, und hoben damit die Wurzel der Freyheit auf. Auch wir behaupten eine Prädestination, aber in ganz anderm Sinne, nämlich in diesem: wie der Mensch hier handelt, so hat er von Ewigkeit und schon im Anfang der Schöpfung gehandelt.“ 100

Trotzdem erkennt er berechtigte Übereinstimmungen seiner Vorstellungen mit jenen Luthers in Bezug auf die irdische Wahl- und Handlungsfreiheit des Menschen. Denn er führt abermals aus: „[I]ndem derjenige, welcher etwa, um eine unrechte Handlung zu entschuldigen sagt: So bin ich nun einmal, doch sich wohl bewußt ist, daß er durch seine Schuld so ist, so sehr er auch Recht hat, daß es ihm unmöglich gewesen, anders zu handeln.“ 101 Im irdischen Leben, im Gefüge von Raum und Zeit, ist es dem Menschen demnach nicht möglich, Alternativen zu jenem, einmal in transzendentaler Freiheit gewählten Weg zu wählen. Der Mensch prädestiniert sich in der intelligiblen Tat selbst. Nun wäre es voreilig, Schellings Freiheitskonzept damit als gescheitert zu erklären. Es gilt, den historisch-systematischen Hintergrund zu beachten. Diesen benennt Schelling selbst und wieder zeigt sich seine intensive Auseinandersetzung mit Kant und Fichte. „Nur jenes durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogne Böse kann daher das radikale Böse heissen, und bemerkenswerth ist, wie Kant, der sich zu einer transcendentalen alles menschliche Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben hatte, durch bloße treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urtheils in späteren Untersuchungen auf die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt, subjektiven, aller in die Sinne fallenden That vorangehenden Grundes der menschlichen Handlungen, der doch selbst wiederum ein Aktus der Freyheit seyn müsse, geleitet wurde: indeß Fichte, der den Begriff einer solchen That in der Spekulation erfaßt hatte, in der Sittenlehre wieder dem herrschenden Philanthropismus zufiel und jenes allem empirischen Handeln vorangehende Böse nur in der Trägheit der menschlichen Natur finden wollte.“ 102 98 99 100 101 102

Vgl. Luther, Willen. Schelling, AA I, 17, 153. Schelling, AA I, 17, 154. Schelling, AA I, 17, 154. Schelling, AA I, 17, 155.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Fichtes Lösungsversuch wird von Schelling als „Philanthropismus“ verunglimpft, der die menschliche Freiheit marginalisiere, indem er die Schwäche der menschlichen Natur für das Böse verantwortlich mache. Kant hingegen habe in seiner Religionsschrift erkannt, dass es eine ursprüngliche, freie Tat des Menschen geben müsse, die die einzelnen menschlichen Handlungen überwölbe. Damit spielt Schelling auf das Konzept der Gesinnung an, welche Kant den einzelnen Handlungen zugrunde legt. Zwar können nach Kant die einzelnen Gründe für die Ergreifung einer bestimmten Gesinnung nicht mehr erkannt werden, gleichwohl muss eine solche Tat angenommen werden, um die Freiheit des Menschen auch transzendentalphilosophisch tragfähig zu denken. 103 Ein hervorzuhebender Unterschied zwischen Kants und Schellings Verständnis der intelligiblen Tat sind die Folgen derselben. Kant akzentuiert zum Schluss des Ersten Stückes seiner Religionsschrift die Hoffnung, die der Menschen haben können müsse, seine einmal gewählte Gesinnung revolutionieren zu können. Zwar könne er über die Erfolgsaussichten keine Gewissheit erlangen, „aber auf den Weg, der dahin führt, und der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird, muß er hoffen können, durch eigene Kraftanwendung zu gelangen“. 104 Dieser hoffnungsvolle Gedanke Kants, der der Resignation des Menschen angesichts einer nicht verständlichen und irreversiblen einmaligen Entscheidung entgegenwirken sollte, warf bereits zeitgenössisch Fragen auf. Denn wie, so eine zentrale Anfrage, soll ein radikal böser Mensch seine Gesinnung verändern können? Konkreter: Wie ist zu denken, dass ein Mensch mit böser Gesinnung auf die Idee kommt, seine Gesinnung ändern zu wollen? Auf diese Problemanfragen reagiert Schelling mit seinem Entwurf der transzendentalen Freiheit. Der Mensch entscheidet sich in der intelligiblen Tat zum Guten oder zum Bösen und bestimmt damit sein Wesen, worüber er sich – wie Schelling im Beispiel über die Entschuldigung einer unrechten Handlung angibt – zeit seines Lebens bewusst ist. Damit scheint für Schelling das Problem der fehlenden realen Freiheit abgewandt. Denn jeder Mensch realisiere in allen seinen Freiheitsvollzügen bewusst seine einmal frei gewählte Gesinnung und könne damit als selbstbestimmt bezeichnet werden. In der Forschung wird dieser Annahme heute meist widersprochen. Christoph Schulte spricht von der „moral-philosophischen Unbrauchbarkeit“ 105 der Prädestinationslehre Schellings: „Denn, das haben schon die Lutheraner früh gegen Calvins Lehre geltend gemacht, eine außerweltliche Prädestination zum Guten und Bösen ohne innerweltliche Besserungs- oder Änderungsmöglichkeit hat einen fatalen und fatalistischen Desperationseffekt bei den Individuen zur Folge.“ 106

103 104 105 106

Vgl. Kant, RGV, BA 6 f. Kant, RGV, B 61 / A 57. Schulte, Radikal böse, 230. Schulte, Radikal böse, 230.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

147

Das Problem der fehlenden realen Freiheit, die Schelling explizit für sich beansprucht, kritisiert auch Friedrich Hermanni. Die Priorisierung des Eigenwillens gegenüber dem Universalwillen lasse sich bei Schelling, so Hermanni, entgegen dessen Meinung, nur als einmaliger Akt deuten. Nach der intelligiblen Tat sei keine „moralische[...] Entwicklung“ mehr möglich. 107 Daher bewertet Hermanni das Konzept Kants als überzeugender, denn darin sei trotz aller berechtigten Kritik eine Änderung der Gesinnung als Möglichkeit vorgesehen gewesen und damit ein Freiheitsvermögen aufrecht erhalten geblieben. Letzterem schließt sich Lore Hühn zwar nicht an, denn sie sieht insbesondere in den darauffolgenden Jahren wichtige Änderungen am Konzept der moralischen Entwicklungsfähigkeit durch Schelling vorgenommen. Gleichwohl stimmt sie der Kritik zu, dass Schelling den Fehler begangen habe, das Böse nicht nur als ein Element des menschlichen Freiheitsvermögens, sondern in Form des Vollzugs in der intelligiblen Tat als das gesamte Leben prägend darzustellen, wonach faktisch keine Möglichkeit mehr zum Guten bestehen könne, denn die intelligible Tat beeinflusse alle menschlichen Entscheidungen. Hühn spricht von einer „bedenklichen Zweideutigkeit“ des Bösen. 108 Ihr Schüler Philipp Höfele nimmt in seiner Dissertation Hühns Gedanken der Tragik auf, die der intelligiblen Tat Schellings inhärent sei. Dem menschlichen Wollen, das in der intelligiblen Tat aktiv werde, sei ein tragischer Kern zu eigen, analysiert Höfele, wenn aus diesem erstem Akt Notwendigkeit folge. Deutlich werde diese Tragik insbesondere daran, dass der Mensch, nachdem er das Prinzip des Bösen gewählt habe und sich von ihm leiten lasse, versuche, an die Stelle des Universalwillens den Eigenwillen zu setzen und damit sich selbst an die Stelle Gottes. Je stärker der Eigenwille versuche, den Universalwillen zu ersetzen, desto weiter entferne er sich von der ursprünglich gewünschten Einheit mit dem Universalwillen. 109 Damit ist der Bogen gespannt zur zweiten Einheit, die im Kontext der intelligiblen Tat Schellings analysiert werden muss. Es konnte bereits gezeigt werden, dass Schelling vom „Mißbrauch der Freyheit“ 110 spricht. Nun wurde außerdem sichtbar, dass dieser Missbrauch bereits in der intelligiblen Tat als vollzogen und daraufhin die sogenannte reale Freiheit des Menschen im zeitlichen Vollzug bestimmend gedacht werden muss. Noch einmal soll auf das Bild der Krankheit geschaut werden, das Schelling bemüht, um das Böse zu erklären. Er schreibt dazu: „Das treffendste Gleichniß bietet hier die Krankheit dar, welche, als die durch den Mißbrauch der Freyheit in die Natur gekommene Unordnung, das wahre Gegenbild

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Hermanni, Die letzte Entlastung, 153. Hühn, Die intelligible Tat, 76. Vgl. Höfele, Wollen und Lassen, 137. Kile, Die theologischen Grundlagen, 50–55, hat die Nähe des Schelling’schen Gedankens zur Lehre Böhmes herausgestellt, der ebenfalls den menschlichen Versuch, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen und somit sich selbst in das Zentrum zu stellen, als Kern des bösen Handelns ausgemacht habe. Schelling, AA I, 17, 136.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

des Bösen oder der Sünde ist.“ 111 Hervorzuheben ist zweierlei: Zum einen fällt die enge Verbindung zwischen malum physicum und malum morale auf. Verantwortlich für die Krankheit ist nach Schelling der kranke Organismus, beziehungsweise die kranke Person selbst. Denn die Krankheit sei erst durch den Missbrauch der Freiheit entstanden. Das augustinische Erbe ist nicht zu überhören. Physisches Übel ist demnach dem Menschen anzulasten, der sich in seiner Freiheit an Gott vergangen hat, der der Freiheit einen klaren Zweck zugrunde gelegt hatte. 112 Verbindet man diese Äußerungen nun mit den oben aufgeführten Zitaten über die sich in der intelligiblen Tat vollziehende Freiheit des Menschen, dann sind die Auswirkungen der Erbsündenlehre unübersehbar. Im Stil der zeitgenössischen Bibelexegese liest Schelling Gen 3,3 als Mythos, dessen Wahrheit philosophisch zu bergen sei. Die Paradieserzählung wird von ihm in den menschlichen Sündenfall transformiert, der sich in der intelligiblen Tat vollziehe. Damit nimmt Schelling ein zentrales Interpretament abendländischer Philosophiegeschichte wieder auf. Die menschliche Autonomiefreiheit ist entgegen der Stoßrichtung Kants und Fichtes, die die intelligible Tat als causa sui der unbedingten menschlichen Freiheit deuteten, nach Schelling Sünde. 113 Indem der Mensch sich als unbedingt verstehe, verstoße er gegen den göttlichen Zweck menschlicher Freiheit und versündige sich somit an Gott. Das menschliche Streben, den Partikularwillen immer weiter in die Peripherie zu treiben und über den Universalwillen zu stellen, spiegelt dementsprechend die Tragik der menschlichen Freiheit wider. Der Mensch verletzt nach Schelling bereits in der intelligiblen Tat den göttlich gesetzten Zweck seiner Freiheit und krankt daraufhin sein gesamtes Leben an dieser sündhaften Tiefenstruktur. 114 Über das für die Erbsündenlehre zentrale Element der Allge111 112

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114

Schelling, AA I, 17, 136. Diese enge Bindung von Leid und Schuld wird ebenfalls kritisiert von Hermanni, Akte Gottes, 124, der von einer „harmatologische[n] Überforderung des Menschen“ und einer „Hypertrophie der Freiheit“ spricht, insbesondere da dem Menschen die irdischen Übel angelastet würden, die er in einer vorbewussten, da zeit- und raumfreien, Tat vollzogen haben solle. Vgl. außerdem Schulte, Radikal böse, 238–241. Diesen Unterschied zwischen der Religionsschrift Kants und der Freiheitsschrift Schellings gilt es hier noch einmal gesondert hervorzuheben. Wie bereits angedeutet, hält Kant eine letzte Erklärung für die menschliche Entscheidung zum Bösen für nicht möglich. Schelling hingegen führt diese in der transzendentalen Tat auf eine Ablösung von Gott aufgrund eines Sein-Wollens wie Gott zurück. Während Schelling also zentrale Gedanken des Ersten Stücks der Religionsschrift Kants übernimmt, wie das positive Freiheitsvermögen zum Bösen und den Gedanken der möglichen Hierarchisierung der Prinzipien, reicht ihm die Unerforschlichkeit der Entscheidung zum Bösen als Erklärung nicht aus. Im Rahmen einer theologischen Kosmologie führt er die Wirklichkeit des Bösen auf das sündhafte Streben des Menschen zurück, sein zu wollen wie Gott. Vgl. zu Kants Lehre über die Herkunft des Bösen in der Religionsschrift Nonnenmacher, Kants Begriff des Bösen. Die Deutung der Tragik der menschlichen Freiheit als Sünde an Gott wird hauptsächlich von Lore Hühn vorgetragen. (Vgl. Hühn, Die intelligible Tat.) Dem entgegen steht die Deutung von Michael Theunissen, Ansatz, der in der Freiheitsschrift die positive Bestre-

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

149

meinheit des Falls herrscht in der Freiheitsschrift Unklarheit. Schelling nimmt keine biologische Vererbung an, spricht aber sowohl von dem allgemeinen Gefallensein, als auch von der individuellen Freiheit in der intelligiblen Tat. Zum einen „hat der Mensch sich von Ewigkeit in der Eigenheit und Selbstsucht ergriffen, und alle, die geboren werden, werden mit dem anhängenden finstern Prinzip des Bösen geboren“. 115 Schelling ist demnach der Meinung, dass der eine (Ur-)Mensch in Ewigkeit den Partikularwillen priorisiert habe, und fügt mit einem verbindenden „und“ an, dass alle Neugeborenen mit dem „Prinzip des Bösen“ geboren würden. Er nimmt also einen direkten Kausalzusammenhang zwischen der einen Sünde und dem allgemein angeborenen Prinzip des Bösen und damit ein Erbkonstrukt in Anspruch. Damit aber wäre die individuelle Freiheit eine ausschließliche und wesensnotwendige Freiheit zum Bösen, die in ihrer Allgemeinheit durch den Urmenschen vor aller Zeit besiegelt worden wäre. Dem Gedanken individueller Freiheit widerspricht außerdem die von Rousseau kommende und von Schelling aufgenommene Geschichtsphilosophie, 116 wonach die Geschichte mit einem „goldnen Weltalter“ begonnen habe, „einer Zeit seliger Unentschiedenheit, wo weder Gutes noch Böses war“. 117 Alsbald sei „den Menschen Verstand“ gekommen, es habe eine Zeit der „Verherrlichung der Natur“ geherrscht, die jedoch ins „Chaos“ übergegangen und schlussendlich in den „Streit des Guten und des Bösen“ gemündet sei. 118

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bung zu erkennen meint, die menschliche Freiheit als unabhängige Absolutheit Gott gegenüberzustellen. Der Sündenfall sei von Schelling als ein emanzipatorischer Akt beschrieben worden, der die Ablösung des Menschen von Gott umfasse. Die derivierte Absolutheit entkomme glücklicherweise ihrer Abhängigkeit. Argumentativ untermauert werde dies mit dem Hinweis Schellings, dass die Freiheit des Menschen nicht aus Gott direkt, sondern aus dem Grund in Gott entstamme. Dieser Argumentation wird im nachfolgenden Kapitel eingehender widersprochen. An dieser Stelle sei lediglich auf Hermanni, Die letzte Entlastung, und Schulte, Radikal Böse, verwiesen, die die Freiheitsschrift als Theodizee lesen, wonach die Freiheit deshalb in einem von Gott relativ separierten Grund begründet werde, um Gott aus der Verantwortung für das menschliche Vermögen zum Bösen zu nehmen. Vergauwen, Absolute und endliche Freiheit, 171, widerspricht der verbreiteten Lesart, die intelligible Tat mit dem christlichen Sündenfall zu parallelisieren. Seiner Meinung nach geht es Schelling unabhängig von einem christlichen Deutungsschema allein um das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Dieser Meinung wird im Verlauf dieses Kapitels widersprochen. Die Verweise Schellings auf christliche Interpretamente sind eindeutig und widersprechen nicht seinem Versuch, Freiheit und Notwendigkeit in ein denkbares Verhältnis zu setzen. Schelling, AA I, 17, 155. Rousseau entwickelte in seinem Diskurs über die Ungleichheit 1755 eine in Epochen unterteilte Geschichtsphilosophie, welche ausgehend vom tierisch-unschuldigen Zustand des Menschen in einen gerechten Zustand der Zivilisation mündet, in welchem Ungleichheiten auf Basis geltender Gesetze überwunden sind. (Vgl. Rousseau, Diskurs.) Diese Erzählung machte in der deutschen Aufklärung Schule und spiegelt sich unter anderen in Schriften Herders und Kants wider. Schelling, AA I, 17, 147. Schelling, AA I, 17, 147–149.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Diesen Aussagen steht die Vehemenz entgegen, mit welcher Schelling auf der Individualität der freien Entscheidung beharrt. „Nur jenes durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogene Böse kann daher das radikale Böse heissen“, dieses sei „in seinem Ursprung eigene That“. 119 Zudem behauptet Schelling, dass es nicht nur Menschen gebe, die sich zum Bösen, sondern auch Individuen, die sich zum Guten entschieden hätten. Denn „[e]ben so verhält es sich mit dem Guten, daß er nämlich nicht zufällig oder willkührlich gut, und dennoch so wenig gezwungen ist, daß vielmehr kein Zwang, ja selbst die Pforten der Hölle nicht im Stande wären, seine Gesinnung zu überwältigen.“ 120 Dass diese Bestimmung zum Guten bereits in der intelligiblen Tat erfolgt sei, hebt er explizit hervor: „[S]o hat der Mensch, der hier entschieden und bestimmt erscheint, in der ersten Schöpfung sich in bestimmter Gestalt ergriffen und wird als solcher, der er von Ewigkeit ist, geboren, indem durch jene That sogar die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation bestimmt ist.“ 121 Entweder aber jeder Mensch wird mit dem „anhängenden [...] Prinzip des Bösen“ 122 geboren, aufgrund der ewigen Tat des Urmenschen, oder aber jeder Mensch entscheidet sich individuell zum Guten oder zum Bösen, wobei auf die moralische Zurechenbarkeit dieser Handlung noch zurückzukommen ist. Wie diese individuelle Verantwortung mit der Allgemeinheit seiner Geschichtsphilosophie und mit der allgemeinen Entschiedenheit zum Bösen zu verbinden ist, beantwortet Schelling nicht. 123 Bei der Betrachtung der intelligiblen Tat Schellings taucht ein weiteres Problem auf. Denn Schelling deklariert die Tat als „außer aller Zeit“ liegend, was nicht meine, dass sie am Anfang der Zeit geschehe, sondern „durch die Zeit [...] hindurch als eine der Natur nach ewige That.“ 124 Da der nur in den Dimensionen von Raum und Zeit lebende Mensch außerhalb der Zeit auch kein Bewusstsein haben kann, schließt Schelling folgerichtig, dass die intelligible Tat dem Bewusstsein vorausgehe, „es erst macht“. 125 Zwar sei die Tat dem Menschen selbst stets bewusst und begleite ihn durch alle Zeit hindurch als Bestandteil seines Bewusstseins. Logisch betrachtet aber müsse sie außerhalb der Zeit und vorbewusst vorgestellt werden. Erst durch diese Tat werde der Mensch als bewusstes Leben ermöglicht. 119 120 121 122 123

124 125

Schelling, AA I, 17, 155. Schelling, AA I, 17, 153. Schelling, AA I, 17, 154. Schelling, AA I, 17, 155. Dieses Problem wurde bereits kritisch diskutiert von Bracken, Freiheit und Kausalität, 54 f., der wie Schulte, Radikal böse, 241–244, der Meinung ist, dass Schelling sich hierbei in Widersprüche verstricke. Theunissen, Ansatz, 185, bestreitet die Allgemeinheit des Falls und hält strikt an der Individualität der intelligiblen Tat fest. Hermanni argumentiert in seiner Schrift Letzte Entlastung, 252–254, dass dieser Widerspruch in der Spätphilosophie aufgehoben und von Schelling dahingehend beantwortet worden sei, dass ein allgemeiner Urmensch für alle sündige und diese Sünde in allen Menschen fortlebe. Schelling, AA I, 17, 153. Schelling, AA I, 17, 153.

4.3. Der Begriff menschlicher Freiheit

151

Wie aber, muss daran anschließend gefragt werden, soll gedacht werden können, dass der Mensch in einem zeitlosen und vorbewussten Zustand eine zurechenbare Tat vollzieht, die das gesamte Leben des Menschen prägt? Zumal diese eine Entscheidung nicht nur das menschliche moralische Verhalten bestimmt, und der Mensch sich im irdischen Rahmen nicht mehr anders verhalten kann, sondern auch „die Art und Beschaffenheit seiner Korporisation bestimmt ist“. 126 Physische und geistige Beeinträchtigungen wären folglich auf die Entscheidung des Menschen in der vorbewussten Tat zurückzuführen. Damit wird diese Tat moralisch überfordert. Nicht nur vollzieht der Mensch nach Schelling in einem „Leben vor diesem Leben“ 127 eine Entscheidung zum Guten oder zum Bösen, die irreversibel ist und kein reales Freiheitsvermögen mehr ermöglicht. Darüber hinaus ist in diesem Verständnis zumindest partiell auch physisches Leiden auf eine Tat zurückführen, die wie Schelling explizit formuliert, das menschliche Bewusstsein erst schafft, und somit unbewusst vollzogen wird. Dies aber widerspricht den Voraussetzungen einer Willens- und Handlungsfreiheit. Die für das reale Freiheitsvermögen implizit in Anschlag gebrachte Voraussetzung menschlichen Bewusstseins, mithilfe dessen der von Schelling hervorgehobene Verstand in den Kategorien von Raum und Zeit reflektieren und wählen und sich damit bewusst entscheiden kann, wird in Bezug auf die intelligible Tat vernachlässigt. 128 Resümierend kann festgehalten werden, dass das Konstrukt der intelligiblen Tat, das Anleihen bei Kant und Fichte macht, den einzigen Freiheitsvollzug des Menschen nach Schelling markiert, bei welchem er sich zum Guten und zum Bösen entscheiden kann. Um den von Kant in den Blick genommenen, sich im Dunklen verlierenden Anfang der menschlichen Freiheit zu beleuchten, konkretisiert Schelling die transzendentale Freiheit als jene, die den realen Vollzug der menschlichen Freiheit in einem unhintergehbaren Akt in Ewigkeit bestimmt. Die Tragik dieser Selbstbestimmung liegt in deren Unumstößlichkeit. Der Mensch – wobei Schelling die Frage, ob es sich hierbei um einen allgemeinen Urmenschen oder um den jeweils individuellen Menschen handelt, nicht widerspruchsfrei klären kann – entscheidet sich außerhalb der Zeit und vorbewusst zum Guten oder zum Bösen, und kann diese Auswahl in seinen irdischen Vollzügen nicht mehr revidieren. Zwar spricht Schelling selbst von einer realen Freiheit, die der Mensch in der Priorisierung der Willensprinzipien ergreifen kann. Gleichwohl bekennt er, dass der sich einmal vor aller Zeit bestimmte Mensch in seinem irdischen Leben nur dieser Bestimmung entsprechend verhalten könne. Aber nicht nur mit dieser vorbewusst und zeitlos geschehenden, aber das gesamte Leben prägenden Handlung überfor126 127 128

Schelling, AA I, 17, 154. Schelling, AA I, 17, 154. In seiner späteren Schrift Clara (Vgl. Schelling, Clara) und den Stuttgarter Privatvorlesungen (Vgl. Schelling AA II, 8) geht Schelling noch einen Schritt weiter und führt die Geistlosigkeit der Natur auf die menschliche Entscheidung zur Umkehrung der Prinzipien zurück. Vgl. für eine eingehende Analyse Hermanni, Letzte Entlastung, 229–240.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

dert Schelling das Modell der intelligiblen Tat, sondern auch mit den implementierten Folgen, die diese hat. Denn sie bestimmt nicht nur die moralischen Vollzüge des Menschen, sondern auch dessen „Korporisation“. 129 Die Tragik der Tat zeigt sich für Schelling darüber hinaus im menschlichen Bestreben den Universalwillen dem Eigenwillen unterzuordnen, sich dabei als Gott zu gerieren, und seine eigene Bedingtheit zu negieren. Indem der Mensch seine Freiheit zur Priorisierung des Eigenwillens nutze, versündige er sich an dem ihn tragenden Grund aller Vollzüge – Gott. Im Anschluss daran lassen sich zwei Fragen formulieren, die in den folgenden Kapiteln beantwortet werden sollen: 1. Weiterhin gilt es die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Bösen zu klären. Schelling schreibt, dass die Wirklichkeit des Bösen allein dem Menschen zuzuschreiben sei. Die Möglichkeit aber habe einen dem Menschen externen Grund. In welchem Verhältnis dieser Grund zu Gott steht, soll im nachfolgenden Kapitel 4.4. untersucht werden. 2. Gott wird von Schelling als Person gedacht, die die menschliche Freiheit mit einem bestimmten Zweck ausgestattet habe, gegen den der Mensch verstoßen könne. Indem er von der Sünde des Menschen spricht, deutet Schelling eine zugrunde liegende Wahrheit an, die nur aus Gott kommen kann. Dann aber muss Gott als eine Person gedacht werden, die zwischen Gut und Böse unterscheiden und somit einen Begriff von beidem entwickeln kann. Woher aber hat der gedachte Gott einen Begriff des Bösen, wenn nicht aus seinem eigenen (Freiheits-)Vermögen zum Bösen heraus? Wie soll ein Begriff von etwas ausgebildet werden, wenn nicht die grundsätzliche Möglichkeit hierzu als bestehend gedacht werden kann? Diesem Komplex wird in Kapitel 4.5. nachgegangen.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit, oder: Woher kommt das Vermögen zum Bösen?

„[E]ntweder wird ein wirkliches Böses zugegeben, so ist es unvermeidlich, das Böse in die unendliche Substanz oder den Urwillen selbst mitzusetzen, wodurch der Begriff eines allervollkommensten Wesens gänzlich zerstört wird; oder es muß auf irgend eine Weise die Realität des Bösen geläugnet werden, womit aber zugleich der reale Begriff von Freyheit verschwindet.“ 130

129 130

Schelling, AA I, 17, 154. Schelling, AA I, 17, 125.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit

153

Woher kommt die Möglichkeit des Bösen? Die Wirklichkeit des Bösen wird von Schelling auf das Freiheitsvermögen des Menschen zurückgeführt. Woher aber, so lautet nun die Frage, stammt das Böse in seinem Möglichsein? Das benannte Immanenz-Modell lehnt Schelling ab, denn weder die Möglichkeit, das Böse in Gott zu gründen, noch die Alternative, das Böse in seiner Realität zu leugnen, überzeugt ihn. Die Realität des Bösen hat Schelling eindrucksvoll als positives Freiheitsvermögen ausgewiesen. In Anbetracht dieser positiven Eigenständigkeit sei „nicht einzusehen, wie aus Gott, der als lautere Güte betrachtet wird, ein Vermögen zum Bösen folgen könne.“ 131 Auch über den Weg, dass Gott in allen menschlichen Handlungen wirke, lasse sich, so Schelling, kein Erfolg erzielen, denn man könne zwar behaupten, dass nur das Positive von Gott komme, damit sei das Böse aber nicht erklärt. Denn die Fragen, wie hier noch menschliche Freiheit gedacht werden solle, wenn doch Gott stets mitwirke und woher das Böse komme, wenn nicht letztlich ebenfalls aus Gott, könnten nicht überzeugend beantwortet werden. Das Böse daraus folgend lediglich als ontischen Mangel, nämlich als Ende des von Gott graduell abgestuft sich entwickelnden Seins darzustellen, lehnt Schelling als nicht zielführend ab. Denn weil jedes Sein aus Gott komme, auch das am wenigsten vollkommene, könne mit dieser Theorie Gott ebenfalls nicht rechtfertigt werden. 132 Im Hintergrund steht dabei also noch immer die Frage nach dem Verhältnis von Absolutem und Endlichem und der Vorwurf seiner Zeitgenossen wie Jacobi und Hegel, in Schellings Identitätssystem sei keine Differenz mehr denkbar. 133 Um dieses zentrale Problem zu lösen, macht sich Schelling Theorien zunutze, die er bereits in seiner Darstellung meines Systems der Philosophie 134 1801 entwickelt hat. Im Kontext seiner Naturphilosophie differenziert er zwischen dem Grund von Existenz und der Existenz selbst. Alles Lebendige sei bedingt. Jede Existenz besitze also einen von sich unterschiedenen Grund. Dieses Konzept macht Schelling nicht nur für Menschen, sondern auch für Gott geltend. Während der Grund der menschlichen Existenz außerhalb des Menschen liege, müsse sich der Grund göttlicher Existenz in Gott selbst befinden. „Da nichts vor oder außer Gott ist, so muß er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben.“ 135 Dies – das weiß Schelling – ist erst einmal keine neuartige Erkenntnis. Das von Spinoza sogenannte Causa-suiPrinzip wurde auch zuvor in ähnlicher Form gegen den Dualismus und in Verteidigung des Monotheismus in Anschlag gebracht. 136 Aber bisherige Philosophen „re131 132 133

134 135 136

Schelling, AA I, 17, 126. Vgl. Schelling, AA I, 17, 125 f. Hegels berühmte Rede in seiner Phänomenologie des Geistes von der Nacht, in der „alle Kühe schwarz sind“ gilt als Kritik an Schellings Identitätssystem. (Hegel, GW 9, 17.) Vgl. zum sachlichen Zusammenhang von Hegels Phänomenologie und Schellings Freiheitsschrift Schwab, Von der Negativität zum Ungrund. Vgl. Schelling, AA I, 10, 107–211. Schelling, AA I, 17, 129. Vgl. Spinoza, Ethik, 5: „Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentiam; sive

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

den von diesem Grund als einem bloßen Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und Wirklichem zu machen.“ 137 Mithilfe des Begriffspaares ,Grund von Existenz‘ und ,Existenz‘ versucht Schelling eine reale Differenz in Gott zu denken, die es nicht nur ermöglicht, einen Grund in Gott zu denken, dem Verantwortung zugesprochen werden kann, wo Gott selbst nicht belastet werden soll, sondern auch die Möglichkeit schafft, Gott als Person zu denken. Denn Personsein zeichnet sich für Schelling durch die Verbindung „eines Selbstständigen mit einer vom ihm unabhängigen Basis“ 138 aus. Gott soll als Person gedacht werden, um im Gott-Welt-Verhältnis Differenz denken und Gott von anderen Personen abgrenzen zu können. Aber Schelling trennt nicht derart, dass Gott und Welt als zwei sich gegenüberstehende Alteritäten gedacht würden. Er versucht dem Vorwurf der Indifferenz zu entkommen und zugleich einen möglichen Begriff des Pantheismus zu erhalten. Vor diesem Hintergrund ist seine Differenzierung im Gottesbegriff zu lesen, die den Grundstein für weitere Unterscheidungen darstellt. Die reale und nicht bloß logische Differenz zwischen Grund von Existenz und dem Wesen, sofern es existiert, erfüllt damit einen doppelten Zweck. Zum einen etabliert Schelling in seinem System eine grundlegende Differenz, die zugleich in der Einheit Gottes seiend gedacht wird. Gott wird damit als handlungsfähige, lebendige Person in einem System des Pantheismus gedacht. Zum anderen schafft er damit die Grundlage für seine Theodizee. 139 „Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur – in Gott; ein vom ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiednes Wesen. [...] Was übrigens jenes Vorhergehen betrifft, so ist es weder als Vorhergehen der Zeit nach, noch als Priorität des Wesens zu denken. In dem Zirkel daraus alles wird, ist es kein Widerspruch, daß das, wodurch das Eine erzeugt wird, selbst wieder von ihm erzeugt werde. Es ist hier kein Erstes und kein letztes, weil alles sich gegenseitig voraussetzt, keins das andere und doch nicht ohne das andre ist. Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existirenden voran geht: aber eben so ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht seyn könnte, wenn Gott nicht actu existirte.“ 140

Das Prinzip des Werdens in der Natur überträgt Schelling auf den Gottesbegriff. Er spricht nicht von einem ewigen Sein Gottes, sondern von einem Werden in Gott. In Gott existiere ein Grund von Existenz, der von der personalen Existenz Gottes real different sei. Nur aufgrund dieser Differenz könne von einem Leben Gottes ge-

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id, cujus natura non potest concipi nisi existens. / Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Essenz Existenz einschließt, anders formuliert das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.“ Schelling, AA I, 17, 129. Schelling, AA I, 17, 160. Vgl. Schelling, AA I, 17, 177: „Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Vgl. für die reelle, nicht bloß logische Differenz in Gott Buchheim, Reelle Unterscheidung. Schelling, AA I, 17, 130.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit

155

sprochen werden. Hierbei muss die Herkunft des Wortes ,existieren‘ ernst genommen werden. Schelling spielt mit dem lateinischen Sinn des Begriffs ex-(s)istere = heraustreten. Wie alle anderen Lebewesen müsse auch Gott als Leben einen Grund seiner Existenz haben. Das Werden sei in Gott aber als Zirkel zu verstehen, denn Gott als absoluter Anfang müsse immer bereits existieren. Der Grund der Existenz Gottes soll daher nicht außerhalb Gottes liegen und Gott erst hervorbringen, womit ein Anfang vor und außerhalb Gottes markiert wäre, sondern immer bereits in Gott. Den Gedanken einer Dualität in Gott, der Differenz einer Natur und der personalen, daraus hervorgehenden Existenz, übernimmt Schelling, wie auch schon die Vorstellung der eigenen Positivität des Bösen, von Jakob Böhme. 141 Der NaturBegriff zeigt an, dass Grund hier als Grundlage, als Fundament verstanden wird und nicht als rationaler Beweggrund, im Sinne eines Motivs. Das darf aber nicht über die gegenseitige Bedingtheit von Grund von Existenz und Existierendem in Gott hinwegtäuschen. Der Grund von Existenz ist keine unabhängige Ursache für Schelling, sondern setzt wiederum Gott als Absolutes voraus. 142 Denn Schelling ist streng darauf bedacht, einen Dualismus, der nur ein „System der Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft“ 143 wäre, zu vermeiden. Er versucht daher, mit einem Kunstgriff sowohl Gott als absoluten, einheitlichen Grund von Sein, als auch eine Differenz in Gott zu denken, um eine Theodizee zu ermöglichen. Es müsse „vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen, als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar, noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität; es kann nur als die absolute Indifferenz beyder bezeichnet werden.“ 144

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Böhmes naturphilosophische, mystische Gedanken lassen sich in der Freiheitsschrift häufig finden. Begriffe wie der ,Ungrund‘, die ,Natur in Gott‘, die ,Sehnsucht‘, die Gott ,gebäre‘, aber auch das Konzept des Dualismus, das sich immer wieder als notwendiger Gegensatz im Werden der Natur offenbare, lassen sich auf Böhme zurückführen. Vermittelt wurden Schelling Böhmes Gedanken durch Franz von Baader und den württembergischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger. Vgl. zur Schelling’schen Rezeption von Böhme, Oetinger und Baader Brown, Later Philosophy; Kile, Die theologischen Grundlagen; Schoeller, Tat versus Sucht; Schulze, Der Einfluß Boehmes; Zovko, Natur und Gott. Barbaric, Das reale Prinzip, hingegen hält den Einfluss von Böhme und Baader auf Schelling für überschätzt. Das heben auch Heidegger, Schelling, 187, 192 und Jantzen, Die Möglichkeit, 78, hervor. Die Schelling-Rezeption Heideggers ist mittlerweile zu einem eigenen Forschungsgegenstand geworden. Vgl. für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser exemplarisch Buchheim, Risse im Gefüge des Seyns; Höfele, Wollen und Lassen, bes. 293–438; Hühn/Jantzen, Heideggers Schelling-Seminar; Zoller, Schelling ohne Heidegger. Schelling, AA I, 17, 126. Schelling, AA I, 17, 170.

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4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Dieser Ungrund erinnert an Plotin. 145 Er transzendiert das Sein, geht jedem Prädikat voraus und ist somit nicht Identität, sondern reine Indifferenz. Diese Indifferenz darf nach Schelling jedoch nicht als Nicht-Sein missverstanden werden. 146 Der Ungrund transzendiere das Sein und jegliche Beschreibbarkeit, sei aber zugleich nicht Nichts, sondern nicht-beschreibbares ,Etwas‘. Schwierigkeiten entstehen bei der Erklärung des Übergangs vom prädikatlosen Ungrund zu etwas anderem: „Das Wesen des Grundes, wie das des Existirenden, kann nur das vor allem Grunde Vorhergehende seyn, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber nicht anders seyn, als indem er in zwey gleich ewige Anfänge auseinander geht, nicht daß er beyde zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eignes Wesen ist. Der Ungrund theilt sich aber in die zwey gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwey, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er theilt sich nur, damit Leben und Liebe sey und persönliche Existenz. Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Seyn bedürfen, sondern [...], dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnten und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere.“ 147

Schelling spricht davon, dass die Dualität aus dem Ungrund „[u]nmittelbar [...] hervorbr[e]ch[e]“. 148 Der Grund dieses Hervorbrechens wird lediglich angedeutet. Die Teilung des Ungrundes in zwei „gleich ewige[...] Anfänge“, 149 in denen er gleichermaßen vorhanden sei, erfolge, „damit“ die Dualität durch Liebe überwunden werden könne. 150 Liebe aber könne nur zwei selbstständige Entitäten verbinden, könne also im Ungrund nicht existieren. Das Ziel der Emanation ist demnach die Liebe. Obwohl Schelling hervorhebt, dass der Ungrund prädikatlos gedacht werden müsse, schreibt er diesem Ziele zu. Wie diese dort zu verorten sind, bleibt offen. Das erinnert an den, bereits erwähnten, überfließenden Ungrund Plotins, der einen solchen mit der Erklärung veranschlagte, gerade aufgrund der Prädikatlosigkeit des Ungrundes könne Sein aus diesem hervorgehen. 151 Von diesem sich bis und gerade in das Absolute hineinziehenden Spannungsgefüge von Freiheit und Notwendigkeit abgesehen, findet Schelling mit dieser Figur eine Möglichkeit, Gott als letzten 145

146 147 148 149 150 151

Die Schelling’sche Kenntnis plotinischer Texte lässt sich durch die Korrespondenz mit dem Hofbibliothekar Carl Josef Hieronymus Windischmann in Aschaffenburg nachweisen. Bereits Zeitgenossen spielten auf die Rezeptionslinie Plotin – Schelling an. Vgl. für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Plotin und Schelling Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, bes. 100–143; Beierwaltes, Das wahre Selbst, 182–227; Halfwassen, Spuren des Einen, 351–368; Leinkauf, Schelling und Plotin. Vgl. Schmidt-Biggemann, Grund und Ungrund, bes. 183, zu Böhme als Bindeglied von Plotin und Schelling. Vgl. Schelling, AA I, 17, 171: „[O]hne daß es deswegen ein Nichts oder ein Unding wäre.“ Schelling, AA I, 17, 171 f. Schelling, AA I, 17, 171. Schelling, AA I, 17, 172. Schelling, AA I, 17, 172. Vgl. oben 53 f.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit

157

Grund und absoluten Anfang zu denken. Die Dualität, mit deren Hilfe er den gedachten Gott von jeglicher Verbindung zum Bösen entlasten möchte, findet ihren Grund wiederum im Gottesbegriff selbst, der hier als Ungrund firmiert. Zwar benennt Schelling den Ungrund nicht selbst als Gott, gleichwohl identifiziert er ihn mit dem Absoluten, und erklärt, dass der Ungrund nicht außerhalb Gottes sein dürfe, wenn Gott nicht als von einer externen Instanz abhängig gedacht werden solle. Der Gottesbegriff ist also mit dem Konzept des Ungrundes zu identifizieren. Damit ist bereits an dieser Stelle absehbar, dass Schellings Theodizee nicht funktionieren kann. Er versucht das Problem zu lösen, verschiebt aber letztlich nur die logische Begründungsebene von Gott als Person auf den Ungrund. Durch eine nähere Betrachtung des Zusammenspiels der dualistischen Prinzipien in Gott, soll diese These im Folgenden mit weiteren Argumenten belegt werden. Der Grund in Gott müsse, schreibt Schelling, als „Sehnsucht“ gedacht werden, „die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären. [...] Sie will Gott, d. h. die unergründliche Einheit gebären, aber insofern ist in ihr selbst noch nicht die Einheit. Sie ist daher für sich betrachtet auch Wille, aber Wille, in dem kein Verstand ist, und darum auch nicht selbstständiger und vollkommener Wille, indem der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist.“ 152

Das Sein des Grundes wird von Schelling als Wollen bestimmt. Zugleich differenziert Schelling mehrere Willen in Gott. Der Wille des Grundes sei kein selbstreflexiver Wille, sondern bringe erst den Verstand in Gott hervor. Schelling spricht somit hier bereits von einem willentlichen Vorgang, dieser Wille wird aber zugleich als „blind“ bezeichnet und wie auch die intelligible Tat als ein vorbewusstes Hervorbringen. 153 Die sich regende Sehnsucht erzeuge „eine innre reflexive Vorstellung“, 154 und da sich dieser Prozess vollständig in Gott abspiele, könne die Reflexion sich nur auf Gott selbst richten, wonach sich Gott hier erstmals selbstreflexiv erkenne. „Die erste Wirkung des Verstandes in ihr ist die Scheidung der Kräfte, indem er nur dadurch die in ihr unbewußt, als in einem Saamen, aber doch nothwendig enthaltene Einheit zu entfalten vermag; so wie im Menschen in die dunkle Sehnsucht, etwas zu schaffen, dadurch Licht tritt, daß in dem chaotischen Gemenge der Gedanken, die alle zusammenhängen, jeder aber den andern hindert hervorzutreten, die Gedanken sich scheiden und nun die im Grunde verborgen liegende, alle unter sich befassende Einheit sich erhebt. [...] Weil nämlich dieses Wesen (der anfänglichen Natur) nichts anders ist, als der ewige Grund zur Existenz Gottes, so muß es in sich selbst, obwohl verschlossen, das Wesen Gottes, gleichsam als einen im Dunkel der Tiefe leuchtenden Lebensblick erhalten.“ 155

Der Schelling’schen Lehre über das Werden Gottes zufolge geht also aus einem blind verlaufenden Grund in Gott ein selbstreflexiver Wille des Verstandes hervor. 152 153 154 155

Schelling, AA I, 17, 130 f. Schelling, AA I, 17, 133. Schelling, AA I, 17, 132. Schelling, AA I, 17, 132.

158

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Dieser Wille ist vermögend, zu differenzieren und bewusst zu erkennen. In ihm könne, so Schelling, zum ersten Mal vom Gott in Gott gesprochen werden. Der vorherige Prozess spiele sich zwar immer bereits in Gott ab, denn würde er sich außerhalb Gottes vollziehen, wäre Gott von einer externen Entität abhängig. Gleichwohl könne erst im Moment der Selbstreflexion von Gott als selbstbewusstem Gott gesprochen werden. 156 Damit sind zwei Prinzipien in Gott genannt, deren Trennung es ermöglicht, den Ursprung des Bösen nicht direkt auf Gott selbst zurückzuführen. Um aber dem tatsächlich erfolgten Vorwurf zuvorzukommen, Gott würde demnach aus dem Dunklen, gar aus dem Teuflischen hervorgehen, setzt Schelling in Gott einen Ungrund, der jegliche Dualität transzendiere und in beiden Prinzipien gleich ewig und vollständig anwesend sei. 157 Dass Schelling damit das vermeintlich gelöste Problem der Theodizee wieder verschärft, sieht er entweder nicht, oder weiß es nicht mehr zu lösen. Das Bild des doppelten Prinzips transferiert Schelling in den Menschen hinein. Der Eigenwille der Kreatur sei auf den Willen des Grundes zurückzuführen und zeichne sich durch die fortbestehende Sehnsucht des Grundes aus, selbstständig zu sein. Dem gegenüber stehe der Universalwille. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen der Natur kommt es allein dem Menschen zu, sich in Freiheit zu diesem dualistischen Prinzipienverhältnis zu verhalten – denn „in ihm [...] allein hat Gott die Welt geliebt“, wie Schelling in Anspielung an Joh 3,16 vermerkt. 158 Ab diesem Punkt sei allein der Mensch für das Verhältnis von Eigen- und Universalwillen verantwortlich. Er ist nach Schelling mit jener Freiheit ausgestattet, durch welche er sich frei entscheiden könne, ob er im Zentrum bleibe, und damit Gottes Gebote erfülle, oder ob er als Selbstheit in die Peripherie strebe und sich somit von Gott löse. Somit ist Schelling zufolge allein dem Menschen die Verantwortung für die Wirklichkeit des Bösen zuzuschreiben. Die Möglichkeit des Bösen hingegen gründe im Grund von Gott. Dieser ist ein von Gott, als Geist der Liebe, verschiedenes Prinzip, das notwendige Voraussetzung für Gott als Geist der Liebe ist, weil erst der „ahndende[...]“ 159 Wille den Willen des Verstandes hervorbringe, der das im Grund wohnende Licht durch die Scheidung der Kräfte erkenne und damit erst den Willen der Liebe als die Einheit dieser 156

157

158 159

Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 110–118, konnte zeigen, dass der Gottesbegriff Schellings sowohl mit dem plotinischen Begriff des Einen als auch mit dessen Konzept des Geistes (Nous) korreliert. Während Plotin Selbstreflexion erst im Geist ansiedelte, erscheint diese Tätigkeit bei Schelling bereits im von ihm sogenannten Gott in Gott. Zugleich unterscheidet auch Schelling wie Plotin zwischen einer vermeintlich prädikatlosen und einer selbstreflexiven Ebene. Vgl. Schelling, AA I, 17, 131: „Die weibischen Klagen, daß so das Verstandlose zur Wurzel des Verstandes, die Nacht zum Anfang des Lichtes gemacht werde“. Sowohl Eschenmayer als auch Jacobi warfen Schelling vor, dass Gott damit vom Teufel abhängig gemacht werde. Vgl. dazu Dörendahl, Abgrund der Freiheit, 181–183. Schelling, AA I, 17, 134. Schelling, AA I, 17, 131.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit

159

beiden Prinzipien ermögliche. Der Grund von Existenz ist dabei keine externe Kraft, sondern gründet selbst im göttlichen Ungrund. 160 So kann Schelling formulieren: „Damit also das Böße nicht wäre, müßte Gott selbst nicht seyn.“ 161 Schelling gibt weiterhin an: „Warum nun Gott den Willen des Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe, haben wir ebenfalls bereits gezeigt. Es wäre dieß eben so viel, als daß Gott die Bedingung seiner Existenz, d. h. seine eigne Persönlichkeit aufhöbe.“ 162 Denn das Böse gehe aus dem Grund hervor, der Grund des Wesens des existierenden Gottes und der Kreaturen sei. Das Bedingungsverhältnis jedoch lässt aufhorchen. Die Möglichkeit der göttlichen Persönlichkeit soll in jener Instanz fundiert sein, die zugleich die Möglichkeit des Bösen hervorbringt. Die Möglichkeit des Bösen wird von Schelling somit im Absoluten verankert, soll aber nicht auf den selbstreflexiven, personalen Gott zurückzuführen sein. Der Zusammenhang zwischen Gott und dem Bösen ist in seiner dualistischen Struktur bemerkenswert. In diesem Zusammenhang muss noch eine in der Forschung vieldiskutierte Stelle angesprochen werden. Schelling führt aus: „Und zwar ist zu erklären nicht etwa, wie das Böse nur im einzelnen Menschen wirklich werde, sondern seine universelle Wirksamkeit, oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem Guten überall im Kampf liegendes Prinzip aus der Schöpfung habe hervorbrechen können. Da es unläugbar, wenigstens als allgemeiner Gegensatz, wirklich ist, so kann zwar zum voraus kein Zweifel seyn, daß es zur Offenbarung Gottes nothwendig gewesen [...]. Denn wenn Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beyder Prinzipien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des Menschen wirklich ist: so würde, wenn sie in diesem eben so unauflöslich wäre, als in Gott, der Mensch von Gott gar nicht unterschieden seyn; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe. Denn jedes Wesen kann nur in seinem Gegentheil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit. Wäre keine Zertrennung der Prinzipien, so könnte die Einheit ihre Allmacht nicht erweisen; wäre nicht Zwietracht, so könnte die Liebe nicht wirklich werden. Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Principien in ihm ist kein nothwendiges, sondern ein freyes. Er steht am Scheidepunkt: was er auch wähle, es wird seine That seyn: aber kann nicht in der Unentschiedenheit bleiben, weil Gott nothwendig sich offenbaren muß.“ 163

Mitunter wurde diese Stelle dahingehend interpretiert, dass die Wirklichkeit des Bösen Gott anzulasten sei, wogegen sich teilweise heftig gewehrt wurde. Die ersten beiden Sätze Schellings sind eindeutig. Das Böse als universell wirksames Prinzip sei notwendig, damit Gott sich als Liebe offenbaren könne. Wo kein Hass und kein Streit seien, könne Liebe sich nicht als Liebe zeigen. Zugleich betont Schelling direkt im Anschluss, dass der Mensch auf jenem Gipfel stehe, auf welchem er zwischen dem Guten und dem Bösen frei wählen könne. Christian Iber und Thomas Buchheim verweisen in ihrem Erklärungsansatz darauf, dass das universell wirksa160 161 162 163

Vgl. Schelling, AA I, 17, 132, 144. Schelling, AA I, 17, 167. Schelling, AA I, 17, 167. Schelling, AA I, 17, 143.

160

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

me Prinzip des Bösen als Versuchung verstanden werden müsse. 164 Dagegen könne sich jedoch der Mensch individuell wehren, indem er sich in seinem Freiheitsvermögen zum Guten entscheide. Dafür spricht die Akzentuierung Schellings der freien Wahl des Menschen. Der Mensch stehe im Gegensatz zum Tier am Scheidepunkt, an welchem er wählen könne, beziehungsweise wählen müsse. Friedrich Hermanni ist der Meinung, dass diese Stelle von Schelling selbst missverständlich geschrieben worden sei. Betrachte man den Gesamtzusammenhang seiner Schrift, dann müsse die „Zertrennung“ 165 der Prinzipien als Bedingung der Möglichkeit der göttlichen Offenbarung als „Zertrennlichkeit“ 166 interpretiert werden. Somit sei der Sündenfall des Menschen nicht als felix culpa zu werten, sondern als „tragischer Bruch“ und die göttliche Offenbarung als untrennbares Band der Liebe könne als Gegensatz zur Zertrennlichkeit der Prinzipien durch Regung des Grundes stattfinden. 167 Zugleich hebt Schelling explizit hervor, dass Gott nur „in seinem Gegentheil offenbar werden“ könne, „Liebe nur in Haß, Einheit in Streit“. 168 Wenn aber das Böse nicht notwendig wäre, sondern nur die Versuchung zum Bösen und der Mensch sich zum Guten entscheiden könnte, würden solche Sätze unverständlich bleiben. Als Voraussetzung, dass sich Gott als Liebe, was er nach Schelling wesenhaft ist, offenbart, ist demnach Hass und nicht die Möglichkeit und die Versuchung des Hasses notwendig. Außerdem spricht Schelling von der universellen Wirklichkeit des Bösen, das also bereits verwirklicht ist. Würde das Böse nur als Möglichkeit existieren, und sich die Menschen in ihrer Freiheit stets zum Guten entscheiden, würde sich Gott demnach nicht offenbaren können. 169 Die in der Forschung vertretenen scheinbaren Gegensätze treffen, so die zu erläuternde These, sowohl als auch auf Schellings Theorie zu. Der These Hermannis, dass Schelling sich an einer Theodizee versuche, indem er die Wirklichkeit des Bösen dem menschlichen Freiheitsvermögen anlaste, ist zuzustimmen. 170 Die These der Notwendigkeit des Bösen als Bedingung der Möglichkeit der göttlichen Offenbarung, wie sie Habermas und Fuhrmans vertreten, trifft jedoch für Schellings System ebenfalls zu. Dies soll noch einmal mit Bogenschlag zur intelligiblen Tat veranschaulicht werden. Schelling setzt in Auseinandersetzung mit Kant und Fichte seinem Begriff realer Freiheit eine intelligible Tat voraus, in welcher der Mensch 164 165 166 167 168 169

170

Vgl. Iber, Theodizeeproblematik, 154; Buchheim Begriff, 200 f. Schelling, AA I, 17, 143. Hermanni, Die letzte Entlastung, 245. Hermanni, Die letzte Entlastung, 245. Schelling, AA I, 17, 143. Diese Meinung vertreten Bracken, Freiheit und Kausalität, 50; Fuhrmans, Weltalter, 390 f.; Habermas, Das Absolute, 267–271; Marx, Das Wesen des Bösen, bes. 6; Vergauwen, Absolute und endliche Freiheit, 187 f. Dieser Aspekt wurde ausführlich ausgearbeitet von Schulte, Radikal böse; Hermanni, Die letzte Entlastung; Hermanni, Akte Gottes.

4.4. Der Ursprung der menschlichen Freiheit

161

sich in transzendentaler Freiheit selbst bestimmt. Denn für Schelling ist der Grund der Entscheidung zum Bösen noch nicht ausreichend erklärt. Wenn diese Entscheidung nicht allein mit der der Sinnlichkeit verfallenen Natur des Menschen erklärt oder als irrational abgetan werden solle, dann müsse dieser weiter nachgegangen werden. Daraus folgend entwickelt Schelling den Gedanken einer intelligiblen Tat, in welcher der Mensch sich in Freiheit zum Guten oder zum Bösen entscheide. Auch wenn seine Aussagen hierzu ambivalent geblieben sind, kann in Anbetracht seiner Wertlegung auf die individuelle Freiheit des Menschen davon ausgegangen werden, dass er versucht hat, diese jeweils als individuell neu zu entscheidende Wahl darzulegen. Jeder Mensch entscheidet sich demnach in einer außerzeitlichen Tat für das Gute oder das Böse, woraufhin das einmal gewählte Prinzip irreversibel alle irdischen Entscheidungen beeinflusst. Dass Schelling hiermit die reale Freiheit zunichte macht und das Vermögen zum Guten und zum Bösen als zwei real existierende Alteritäten auf die transzendentale sich in der intelligiblen Tat vollziehende Freiheit reduziert, wurde in der Forschung bereits vielfach kritisiert. In dem Versuch, ein Kriterium zu finden, an dem Menschen sich selbstbestimmt orientieren, um somit sowohl dem Vorwurf der Zufälligkeit als auch der äußeren Determiniertheit zuvorzukommen, verstrickt sich Schelling in das Problem, dass er die reale Freiheit zugunsten der einmaligen intelligiblen Selbstbestimmung aufhebt. Gleichwohl bleibt anzuerkennen, dass Schelling versucht hat, die Wirklichkeit des Bösen als positiven Gegensatz zum Guten aus dem Freiheitsvermögen des Menschen zu erklären. Der Mensch kann sich in seiner Freiheit für das Gute und das Böse entscheiden, ohne dass erstens dem Bösen ein privativer Charakter zugeschrieben wird und zweitens die Freiheit nur als Vermögen zum Bösen interpretiert werden könnte. Die Freiheit des Menschen zeichnet sich bei Schelling gerade durch das Vermögen aus, Entscheidungen angesichts verschiedener Möglichkeit treffen zu können, und zwar sowohl zugunsten des Allgemeinwohls, als auch zugunsten der Eigeninteressen. Aber nicht nur die Wahrung der menschlichen Selbstbestimmung ist für Schelling ein maßgeblicher Faktor in der Ausarbeit der intelligiblen Tat gewesen, sondern auch sein Anspruch einer Theodizee. In dem Versuch, die menschliche Autonomie nicht isoliert von Welt und Gott zu denken, integriert er diese in einen groß angelegten Versuch der Kosmologie. Das von Kant grundgelegte und von Fichte modifizierte Konzept der formal unbedingten Autonomie interpretiert er als sündhaften Missbrauch der von Gott kommenden menschlichen Freiheit. Der Mensch, der seine Freiheit von Gott bekommen habe, um sich bewusst für die Einheit mit Gott zu entscheiden, habe das Vermögen, sich von diesem mittels der Vernunft abzuwenden. Daraus resultiere die Wirklichkeit des Bösen. „Denn nicht die erregte Selbstheit an sich ist das Böse; sondern nur sofern sie sich gänzlich von ihrem Gegensatz, dem Licht oder dem Universalwillen losgerissen hat. Aber eben dieses Lossagen vom Guten ist erst die Sünde. Die aktivirte Selbstheit ist nothwendig zur Schärfe des Lebens, ohne sie wäre völliger Tod, ein Einschlummern des Guten; denn wo nicht Kampf

162

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

ist, da ist nicht Leben. Nur die Erweckung des Lebens also ist der Wille des Grundes nicht das Böse unmittelbar und an sich.“ 171

Um aber bereits die Möglichkeit des Bösen von Gott fernzuhalten, setzt er im Begriff Gottes einen Grund, welcher nicht nur Grund der göttlichen Existenz, sondern jeglicher Existenz sei. Gleichwohl ist und bleibt es eine für Schelling von Gott zu differenzierende Eigenheit. Seine Absichten sind dabei eindeutig. Als Bedingung der Möglichkeit von verwirklichter menschlicher Freiheit, die sich durch das Vermögen zum Bösen auszeichnet, macht Schelling den Grund in Gott aus. Er versucht, die menschliche Freiheit in ein System zu integrieren, zugleich aber Gott nicht mit dem Bösen zu belangen. Wie Schelling schreibt, geht die Möglichkeit des Bösen auf den Grund von Existenz zurück, die Wirklichkeit des Bösen auf den Menschen und dessen Freiheitsvermögen. Tragisch an seinem Versuch ist der nicht ausgeräumte Widerspruch. Die Möglichkeit des Bösen geht aus einer Dualität in Gott hervor, die Schelling explizit im Ungrund aufhebt, der zum einen jeglichem Sein und jeglichem Prädizieren vorausgeht, zugleich aber göttlich sein muss, soll nicht ein externer Grund angenommen werden, von welchem Gott abhängig gedacht wird. 172 Damit wird aber Gott wieder für die Möglichkeit des Bösen verantwortlich gemacht. 173 Ein weiterer Widerspruch wird angesichts der Aussagen Schellings über das mit einem Willen ausgestattete Personsein Gottes und Gott als „moralische[s] Wesen[...]“ 174 sichtbar. Denn zugleich kennt er Notwendigkeiten, auf die scheinbar auch der personale und freie Gott keinen Einfluss hat. Diese treten zutage, wenn Schelling einen Begriff Gottes als wesenhafte Liebe formuliert, in welchen das Böse nicht integriert werden könne, an anderer Stelle aber vom Bösen als notwendig existierendem Antagonisten spricht, ohne welchen Gott sich nicht als Liebe offenbaren könnte. Der Gottesbegriff gerät dabei in Widersprüchlichkeiten, die – so die im Folgenden zu überprüfende These – aus einem neuplatonischen Denkmuster herrühren, mit dessen nezessitaristischen Momenten der Begriff eines selbstbestimmt-freien Gottes nicht denkbar ist. An diesem Widerspruch 171 172 173

174

Schelling, AA I, 17, 165. In seinen nachfolgenden Schriften elaboriert Schelling an einer Präzisierung des Ungrundes. Vgl. Höfele, Wollen und Lassen, 149–289. Ein möglicher Widerspruch zur aufgestellten These könnte mit dem Hinweis erhoben werden, dass der göttliche Ungrund nicht mit dem von Schelling beschriebenen selbstreflexiven Gott gleichzusetzen sei. Das Werden Gottes mag attraktiv wirken, lässt aber wichtige Fragen offen. Wie ist zum Beispiel ein göttliches Werden vorstellbar, ohne in die platonischen Abgründe einer immer bereits existenten Materie zu gelangen, welche zwar für die Möglichkeit des Bösen verantwortlich gemacht, dann aber Gott nicht als ursprünglicher Anfang gedacht werden kann? Und besteht nicht gerade der Kern des Gottesbegriffs in Prädikaten wie der Unbedingtheit, der Unendlichkeit und der Absolutheit? Besteht nicht die einzige Lösung, um dieses Problem denkkonsistent zu bewältigen, in der Verlegung der Möglichkeit des Bösen in den Gottesbegriff, mit allen Folgen, die dann gedanklich auszutarieren sind? Schelling, AA I, 17, 162.

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung

163

scheitert Schellings Versuch, Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen mit seinen als notwendig postulierten Implikationen im Gottesbegriff in Einklang zu bringen.

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung Nachdem im letzten Kapitel der Fokus auf dem Schelling’schen Verständnis der menschlichen Freiheit und deren Bedingungen lag, soll nun der Begriff göttlicher Freiheit in den Blick genommen werden. Die Grundstruktur des Gottesbegriffs Schellings ist bereits sichtbar geworden. Schelling unterteilt in Gott volitionale Prinzipien, um zum einen dem Vorwurf des Indifferentismus zu entgehen und zum anderen eine Theodizee zu leisten. Einem sehnsüchtigen Willen des Grundes entspringe der selbstreflexive Wille im Willen, der erstmals Gott selbst als Gott erkenntlich mache und das zugrundeliegende „chaotische[...] Gemenge“ 175 scheide und kläre. Aus dieser Willensdualität bilde sich der Wille der Liebe aus, „freyschaffender und allmächtiger Wille“, 176 der den Willen des Grundes und den Willen im Willen, beziehungsweise Sehnsucht und Verstand, miteinander verbinde und mit dem Geist Gottes zu identifizieren sei. Die Liebe ist es, welche als teleologische Struktur dem Hervorgehen der beiden „gleich ewigen Anfänge“ 177 in Gott zugrunde gelegt wird. Denn Schelling fundiert den dualistischen Zirkel von Grund von Existenz und Existenz in Gott mit dem Prinzip des Ungrundes. Aus dieser nicht beschreibbaren Einheit der Indifferenz gehe jegliches Sein hervor. Sie stelle das anfängliche Fundament Gottes dar, aus welchem die innergöttliche Genese entspringe, sei jedoch nicht als externe Entität zu verstehen, sondern als göttliches Prinzip seiner selbst. Das Verhältnis von Ungrund und göttlicher Persönlichkeit, die sich gerade durch die selbstständige Einheit von dunkler Natur und daraus hervorgehendem Verstand auszeichne, und der in diesen Begriffen enthaltene Freiheitsgehalt werden im Folgenden näher betrachtet. „Die Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös, und wie beydes in der Schöpfung durcheinander wirkt, haben wir nun so viel wie möglich untersucht: aber noch ist die höchste Frage dieser ganzen Untersuchung zurück. Gott ist bis jetzt bloß betrachtet worden als sich selbst offenbarendes Wesen. Aber wie verhält er sich denn zu dieser Offenbarung als sittliches Wesen? Ist sie eine Handlung, die mit blinder und bewußtloser Nothwendigkeit erfolgt, oder ist sie eine freye und bewußte That? Und wenn sie das letzte ist, wie verhält sich Gott als sitt175

176 177

Schelling, AA I, 17, 132. Diese Struktur der Genese weist bemerkenswerte Parallelen zu Schellings Umgang mit der platonischen χωρα in seiner Timaeus-Schrift auf. Vgl. Krings, Genesis und Materie, bes. 127, 148. Schelling, AA I, 17, 132. Schelling, AA I, 17, 172.

164

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

liches Wesen zu dem Bösen, dessen Möglichkeit und Wirklichkeit von der Selbstoffenbarung abhängt? Hat er, wenn er diese gewollt, auch das Böse gewollt, und wie ist dieses Wollen mit der Heiligkeit und höchsten Vollkommenheit in ihm zu reimen, oder im gewöhnlichen Ausdruck, wie ist Gott wegen des Bösen zu rechtfertigen?“ 178

Schelling ist in Bezug auf die Frage der Freiheit Gottes scheinbar eindeutig: „Die Schöpfung ist keine Begebenheit, sondern eine That. Es giebt keine Erfolge aus allgemeinen Gesetzen, sondern Gott, d. h. die Person Gottes, ist das allgemeine Gesetz, und alles, was geschieht, geschieht vermöge der Persönlichkeit Gottes; nicht nach einer abstrakten Nothwendigkeit, die wir im Handeln nicht ertragen würden, geschweige Gott.“ 179

Der personal gedachte Gott Schellings unterliegt demnach keiner Notwendigkeit, sondern entscheidet sich frei und bewusst zur Schöpfung. Schelling zeigt auch sofort die Alternative auf, die aus einer sich blind vollziehenden Notwendigkeit folgen würde, wenn er schreibt, dass Menschen eine solche „im Handeln nicht ertragen würden“. Denn wenn sich die Welt in Notwendigkeit vollziehen würde, müsste eingestanden werden, dass menschliche Freiheit darin nicht als realisierbar gedacht werden kann. Freiheit wäre dann nur der Schein einer immer bereits notwendig angelegten Handlung. Der Blick auf die Welt aber offenbart für Schelling den physikotheologischen Beweis für die Freiheit der Schöpfungstat. Denn wenn eine zugrundeliegende Notwendigkeit angenommen werden würde, dann hätte der „geometrische Verstand“ die Natur anhand von Naturgesetzen längst entschlüsseln müssen. Im Gegenteil würden Menschen jeden Tag wieder „das irrationale Verhältniß der Natur“ zum Verstand erkennen. 180 Das meint nun jedoch nicht, dass Gott die Welt willkürlich geschaffen und eingerichtet hätte, sondern, wie Schelling in den Worten von Leibniz ausführt, dass Gott weder willkürlich noch mit absoluter Notwendigkeit gehandelt habe. Die Welt lasse sich auf eine freie Schöpfungstat zurückführen, weshalb Naturgesetze auszumachen seien und Orientierung möglich, die Natur aber nicht zur Gänze zu entschlüsseln sei. 181 Dieser anzunehmenden Schöpfungstat sei also ein personaler Gott vorauszusetzen, der sie in Freiheit und Bewusstsein zu verantworten habe und wenn „Persönlichkeit nach unsrer früheren Erklärung auf der Verbindung eines Selbstständigen mit einer von ihm unabhängigen Basis beruht, so nämlich, daß diese beyden sich ganz durchdringen und nur Ein Wesen sind: so ist Gott durch die Verbindung des idealen Prinzips in ihm mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grunde, da Basis und Existirendes in ihm sich nothwendig zu Einer absoluten Existenz vereinige, die höchste Persönlichkeit“. 182

Die Persönlichkeit Gottes zeichnet sich folglich gerade durch die Verbindung von Idealismus und Realismus aus, was Schelling direkt im Anschluss als entscheiden178 179 180 181 182

Schelling, AA I, 17, 160. Schelling, AA I, 17, 161. Schelling, AA I, 17, 161. Vgl. Schelling, AA I, 17, 162. Schelling, AA I, 17, 160.

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung

165

den Gegensatz zu Fichte, der einen rein ideellen Gottesbegriff gebildet habe, und zu Spinoza, dessen Gottesbegriff rein realer Natur gewesen sei, markiert. 183 „Allein weil in Gott ein unabhängiger Grund von Realität und daher zwei gleich ewige Anfänge der Selbstoffenbarung sind: so muß auch Gott nach seiner Freyheit in Beziehung auf beyde betrachtet werden. Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebähren, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird, und durch den Gott sich erst persönlich macht. Der Wille des Grundes kann daher nicht frey seyn in dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe ist. Er ist kein bewußter oder mit Reflexion verbundner Wille, obgleich auch kein völlig bewußtloser, der nach blinder mechanischer Nothwendigkeit sich bewegte, sondern mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust [...]. Schlechthin freyer und bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dieß ist: die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und That.“ 184

Damit sind entscheidende Verbindungen zwischen dem Schelling’schen Verständnis von Person und Freiheit Gottes gezogen. Erst die Verbindung von Existierendem und seinem Grund ergibt nach Schelling ein vollständiges Bild der Person. Im Unterschied zum Menschen habe Gott den Grund seiner Existenz in sich selbst. Ansonsten aber werden die Vorstellungen parallelisiert. Bemerkenswert ist die Trennung des Willensbegriffs vom Vernunftbegriff. Im Gegensatz zu Kant, Fichte, aber auch Hegel setzt Schelling hiermit die Verbindung von Willen und Vernunft sowie Verstand aus und behauptet einen sehnsüchtigen Willen, der sich nicht-bewusst vollziehe. Dieser könne auch nicht ausgelöscht werden, sondern sei notwendiger, da tragender Teil der Personalität Gottes. Der Wille der Liebe könne sich diesen Willen des Grundes zwar unterordnen, er könne aber nicht die Bedingung seiner eigenen Existenz aufheben, beziehungsweise habe Gott als Person auch kein Interesse daran, denn die Sehnsucht des Grundes sei notwendiger Bestandteil seiner selbst; „alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“ 185 und somit sei dieser Grund „Conditio sine qua non“ 186 der Persönlichkeit Gottes. „Schlechthin freyer [...] Wille“ 187 aber ist demnach erst der Wille der Liebe, der sich aus der Einheit von Sehnsucht und Verstand ergebe. Dieser könne als allmächtiger Wille bezeichnet werden, der in Freiheit schöpferisch tätig werde. Wobei er für die Schaffung der Welt auf den Grund seiner selbst angewiesen sei. Denn erst aus dem Zusammenspiel von sich offenbaren wollendem Willen der Liebe und dem in sich selbst zurückziehenden – dem menschlichen Eigenwillen gleichenden – Willen des Grundes erwüchsen Kreaturen, die somit aus Gott hervorgingen und zugleich einen von Gott unabhängigen Teil in sich trügen, der die Wirklichkeit des

183 184 185 186 187

Vgl. Schelling, AA I, 17, 161. Schelling, AA I, 17, 161. Schelling, AA I, 17, 177. Schelling, AA I, 17, 167. Schelling, AA I, 17, 161.

166

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Bösen ermögliche. 188 Die freie Schöpfungstat Gottes ist aber nicht in Leibniz’scher Manier als „Wahl zwischen mehreren möglichen Welten“ zu verstehen. Die „Vorstellung einer Berathschlagung Gottes mit sich selbst [...] [sei] eine grundlose und unhaltbare Vorstellung.“ 189 „Im Gegentheil, so bald nur die nähere Bestimmung einer sittlichen Nothwendigkeit hinzugefügt wird, ist ganz unläugbar der Satz: daß aus der göttlichen Natur alles mit absoluter Notwendigkeit folgt, daß alles, was Kraft derselben möglich ist, auch wirklich seyn muß, und was nicht wirklich ist, auch sittlich-unmöglich seyn muß.“ 190

Schelling versteht die göttlichen Handlungen als Vollzug wesenhafter Eigenschaften. Freie Taten dürfen demnach im Gottesbegriff nicht als selbstbestimmt gedacht werden, sondern insofern als notwendig, als Gott immer nur gemäß seiner Natur handeln könne. Sein Wesen sei „Liebe und Güte“, weshalb „das, was in ihm sittlich-nothwendig ist, mit einer wahrhaft metaphysischen Nothwendigkeit“ geschehe. 191 Hier kehren Motive wieder, die bereits Petrus Abaelard in der Diskussion um die potentia Dei genutzt hatte. Im Gottesbegriff wird ein Wesensgehalt postuliert, traditionell die vollkommene Güte, der die Freiheit Gottes einrahmt. Der geglaubte Gott handelt dann gemäß seinem Wesen, womit denkerische Möglichkeiten als Handlungsoptionen ausscheiden, was jedoch nicht als Mangel der göttlichen Allmacht dargestellt wird, sondern im Gegenteil aufgrund des wesenhaften Selbstvollzugs als Vollkommenheit. Denn im Rahmen des göttlichen Wesens werde alles wirklich, was möglich sei. Im Gottesbegriff können somit keine Wahlmöglichkeiten gedacht werden, denn Gott wägt, Schelling zufolge, nicht wie Menschen zwischen Alternativen, zwischen Gut und Böse, ab, sondern handelt wesenhaft gut. 192 Damit unterscheiden sich die Freiheitsdefinitionen Schellings in seiner 188

189 190 191 192

Vgl. Schelling, AA I, 17, 144 f.: „Der Wille der Liebe und der Wille des Grundes sind zwei verschiedne Willen, deren jeder für sich ist; aber der Wille der Liebe kann den Willen des Grundes nicht widerstehen, noch ihn aufheben, weil er sonst sich selbst widerstreben müßte. Denn der Grund muß wirken, damit die Liebe seyn könne, und er muß unabhängig von ihr wirken, damit sie reel existiere. [...] Der Grund ist nur ein Willen zur Offenbarung, aber eben, damit diese sey, muß er die Eigenheit und den Gegensatz hervorrufen. Der Wille der Liebe und der des Grundes werden also gerade dadurch Eins, daß sie geschieden sind, und von Anbeginn jeder für sich wirkt. Daher der Wille des Grundes gleich in der ersten Schöpfung den Eigenwillen der Kreatur mit erregt, damit, wenn nun der Geist als der Wille der Liebe aufgeht, dieser ein Widerstrebendes finde, darin er sich verwirklichen könne.“ Beide Zitate in Schelling, AA I, 17, 162. Schelling, AA I, 17, 162. Vgl. Buchheim, Freispruch; Hennigfeld, Schellings Philosophische Untersuchungen, 117 f. Schelling, AA I, 17, 163. Vgl. Kile, Die theologischen Grundlagen, 45, der dieses Motiv als Vergleichsmoment der Werke Schellings und Böhmes kennzeichnet. Vgl. Schelling, AA I, 17, 163: „[A]llein dies heißt die göttliche Freyheit durch einen Begriff behaupten wollen, der an sich falsch ist, und der bloß in unserm Verstand, aber nicht in Gott möglich ist, in welchem ein Absehen von seinem Wesen oder seinen Vollkommen-

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung

167

Anthropologie und in seiner Theologie fundamental. Das menschliche Wesen zeichnet sich bei Schelling gerade durch sein Vermögen zum Guten und zum Bösen aus, es besitzt also Wahl- und Handlungsfreiheit. Gott hingegen ist wesenhaft Liebe und Güte. Erst in einem zweiten Schritt wird der Freiheitsbegriff hinzugefügt, der nun nur noch als Vollzug der Güte, eingerahmt durch das Wesen Gottes, gedacht wird. Schelling erklärt diesen Unterschied mit der Willensdynamik in Gott und im Menschen. Im Menschen stünden Eigen- und Universalwillen in einem freien Verhältnis zueinander. Der Mensch als Geist könne diese Beziehung frei ordnen, dergestalt, dass er sowohl den Eigenwillen als auch den Universalwillen priorisieren könne. Zwar sei er von Gott immer bereits dazu angehalten, im Zentrum, also im Einklang mit dem göttlichen Gesetz zu bleiben. Aber als einzige Kreatur – und im Gegensatz zu Gott – besitzt der Mensch nach Schelling das Vermögen, den Universalwillen dem Eigenwillen unterzuordnen und somit in die Peripherie, in die radikale Eigenständigkeit zu streben – unabhängig davon, dass dies aufgrund der derivierten Absolutheit, als welcher der Mensch existiert, nach Schelling nie vollständig möglich ist. Im Gottesbegriff denkt Schelling ebenfalls eine differenzierte Willensstruktur. Jedoch existiert Gott als Person für Schelling als wesenhafte Liebe, was inkludiert, dass der Universalwille dem Willen des Grundes immer übergeordnet ist. Die Prinzipien, welche im Menschen auflösbar seien, seien in Gott „unauflöslich“. 193 Gott sei „als Geist die unzertrennliche Einheit beyder Prinzipien“. 194 Gott ist demnach notwendigerweise „moralische[s] Wesen[...]“, 195 was den Begriff der Moral hochgradig zweifelhaft werden lässt. Die Möglichkeit, sich zum Bösen zu entscheiden, existiert in diesem Gotteskonzept nicht, da dieser wesenhaft das Gute beziehungsweise die Liebe ist. Damit muss die zu Beginn des Kapitels getätigte Aussage, die Schöpfung sei nach Schelling eine freie auf die Person Gottes zurückzuführende Tat, korrigiert werden. Schelling versteht die Schöpfung tatsächlich als freies Handeln Gottes. Jedoch ist das Freiheitsverständnis, das Schelling in den Gottesbegriff implementiert, ein anderes, als jenes, das im Begriff menschlicher Freiheit ausformuliert ist. Gott kommt nach Schelling keine Wahlfreiheit zu. Stattdessen vollzieht er sich wesensgemäß. Ihm stehen nicht verschiedene Möglichkeiten offen, sondern seine Freiheit zeigt sich in seiner Offenbarung als Liebe. Er ist somit keiner externen Notwendigkeit unterworfen, aber einer inneren. 196

193 194 195 196

heiten wohl nicht gedacht werden kann.“ Bemerkenswert an der Aussage Schellings ist der Terminus ,wohl‘. Möchte man nicht lediglich von einer rhetorisch dienlichen Einfügung ausgehen, lässt sich ein möglicher Zweifel Schellings ausmachen, ob der Gottesbegriff nicht doch auf andere Art und Weise gedacht werden kann. Dieser Zweifel beziehungsweise diese Möglichkeit wird aber nicht ausgeführt, sondern bleibt als Andeutung – nicht mehr, aber auch nicht weniger – stehen. Schelling, AA I, 17, 134. Schelling, AA I, 17, 143. Schelling, AA I, 17, 162. Diese enge Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit im Gottesbegriff gibt Schelling in

168

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

Um diese innere Determination zu verstehen, gilt es, noch einmal einen Blick auf den Ursprung der göttlichen Genese zu werfen – auf den Ungrund. Der Urgrund, wie Schelling ihn auch nennt, ist jene Figur, die es ermöglicht, dass Schellings Modell weder in eine ursprüngliche Dualität fällt, schreibt er doch von den „zwey gleich ewigen Anfänge[n]“, 197 noch angenommen werden muss, dass Schelling Gott aus dem Bösen hervorgehen lässt, wie mitunter behauptet wurde. Der Ungrund ist das von Schelling zugrunde gelegte Prinzip, das jedes Sein transzendiere. Er ist die Indifferenz, die jedem Unterschied vorausgehe, ohne deswegen jedoch „ein Nichts oder ein Unding“ 198 zu sein. Auf die Ähnlichkeit zu Plotin wurde bereits verwiesen. Während Plotin aber für eine aus überfließender Liebe strömende Emanation plädierte, bleibt der Übergang bei Schelling weniger eindeutig. Schelling beschreibt den Übergang vom Ungrund zum Sein als Teilung, wobei sich der Ungrund dabei nicht selbst verliere oder halbiere, sondern in beiden Anfängen gleicherweise vollständig anwesend sei. Dies sei geschehen, „damit Leben und Liebe sey und persönliche Existenz.“ 199 Diese Attribute seien wie alle anderen Prädikate dem Ungrund nicht zuzuschreiben: „In dem Ungrund oder der Indifferenz ist freylich keine Persönlichkeit“ und auch keine „Liebe“. 200 Der Ungrund also trägt die Verantwortung für die „zwey gleich ewigen Anfänge“, 201 die er mit dem Ziel der Liebe gesetzt hat. Wie und warum aber stattet Schelling den Begriff des Ungrundes mit einer teleologischen Struktur aus, wenn dieser doch zugleich prädikatlos sein soll? Diese Schwierigkeit hat zu Kontroversen in der Forschung geführt. Thomas Buchheim plädiert dafür, dass im Ungrund Gott seinen Egoismus überwinde und die Möglichkeit für anderes Sein eröffne. In diesem Geschehen offenbare sich die „Pointe“ der Liebe. 202 Jens Halfwassen hält im Gegensatz dazu dezidiert fest: „Ge-

197 198 199 200 201 202

seiner Spätphilosophie auf. Dies lässt sich bereits in den Münchener Vorlesungen beobachten, insbesondere aber in seiner Berliner Vorlesung 1841/42, welche später als Philosophie der Offenbarung veröffentlicht wurde. Freiheit Gottes meint nun für Schelling nicht nur, die Möglichkeit der Schöpfung „als eine bloß mögliche bei sich zu behalten“ (SW XIII, 304), die Welt also nicht notwendigerweise geschaffen zu haben, sondern auch das Vermögen, sie nicht zu schaffen. Schelling geht sogar so weit zu behaupten, dass die Freiheit Gottes, um als vollständig gedacht werden zu können, auch die Möglichkeit beinhalten müsse, zu bestimmen, „dieser oder ein anderer zu sein“ (SW XIII, 269 f.), sich also radikal selbst bestimmen zu können und dabei auch Handlungen und Wünsche in eine hierarchische Ordnung bringen zu können, sodass Zwecke niederer Stufe scheinbar seinem Wesen widersprechen und doch tatsächlich höher geordneten Zielen dienen. (Vgl. SW XIII, 285.) Das Vermögen zum Bösen inkludiert Schelling aber auch hier nicht in den Gottesbegriff und hält grundsätzlich daran fest, dass Gottes Handlungen seinem Wesen als Liebe entsprechen. Vgl. Gerlach, Handlung bei Schelling, 104–125. Schelling, AA I, 17, 172. Schelling, AA I, 17, 171. Schelling, AA I, 17, 172. Schelling, AA I, 17, 172. Schelling, AA I, 17, 172. Buchheim, Schellings Personbegriff, 32.

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung

169

nau darin unterscheidet sich die menschliche Freiheit von der Freiheit Gottes, die als reine Güte die Möglichkeit einer Selbstbestimmung zum Bösen ausschließt.“ 203 „Absolute Freiheit meint keine Erfüllung einer Intention und kein Wollen, sondern gerade umgekehrt das Freisein von aller Intentionalität“. 204 Die göttliche Freiheit zeige sich demnach gerade in der „Transzendenz über das Sein.“ 205 Problematisch bleibt dabei zweierlei. Zum einen stellt sich die Frage, wie Schelling die transzendente Freiheit des Ungrundes mit der Handlungsfreiheit des göttlichen Geistes verbindet. Zum anderen muss dann geklärt werden, wie Schellings berühmter Satz „Wollen ist Urseyn“ 206 mit der Prädikatlosigkeit zusammen zu denken ist. Den spinozistischen Substanzbegriff transformierend, schreibt Schelling: „Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung.“ 207 Dem Sein liegt demnach eine Willensstruktur zugrunde, die jene von Kant und Fichte ausgebildeten Freiheitsprädikate umfasst, darüber hinaus aber auf jegliches Sein zu übertragen ist, womit auch der Natur ein Wollen vorausgeht. Dieses Wollen stellt die idealistische Grundfigur dar, welche nicht nur bereits der frühe Schelling, sondern auch Fichte und Hegel während ihres gesamten philosophischen Schaffens suchen. Das Urwollen ist das eine Prinzip, durch welches nicht nur das prozessuale Werden der Natur erklärt werden soll, sondern nun auch die Genese Gottes. Das eine Urwollen differenziert sich in Schellings Gottesbegriff, wie bereits mehrfach gezeigt, in verschiedene Potenzen von Willen. Philipp Höfele hat darauf verwiesen, dass dieses Willensmodell in Verbindung mit der Prädikatlosigkeit zu Problemen führt, für die Schelling erst in späteren Schriften Lösungsversuche anbieten konnte. 208 In der Freiheitsschrift entzögen sich sowohl der Begriff des Ungrundes, wie auch jener der Liebe „jeder Urteilsstruktur von vorneherein“, so Höfele. 209 Was in den Weltaltern ab 1811 explizit als „ewige Freyheit“, die sich gerade durch ihren „unbedingte[n][...] Zustand über allem Seyn“ 210 auszeichne, beschrieben wird und als „Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird“, 211 wird in der Freiheitschrift nur angedeutet. Der Ungrund wird 1809 zum einen als prädikatlos charakterisiert, 203 204 205 206 207 208

209 210 211

Halfwassen, Spuren des Einen, 353. Halfwassen, Spuren des Einen, 356. Halfwassen, Spuren des Einen, 353. Schelling, AA I, 17, 123. Schelling, AA I, 17, 123. Höfele, Wollen und Lassen, 144. Auch Halfwassen, Spuren des Einen, 357–361, sieht in der Freiheitsschrift lediglich einen Anfang markiert, der in Schellings Spätphilosophie ausgearbeitet worden sei. Höfele, Wollen und Lassen, 149. Schelling, WA I, 14. Schelling, WA I, 15.

170

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

zum anderen mit einem Urwollen versehen, das sich durch „Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit“ und „Selbstbejahung“ auszeichnet. 212 Der Ungrund ist demnach das Urprinzip schlechthin, jenes Über-Sein, das zeitlichen und räumlichen Kategorien vorausgeht. Trotz seiner von außen diagnostizierten Prädikatlosigkeit weist er inhärent einen Willen auf, der sich durch Selbstbejahung auszeichnet und zwei Willen hervorbringt, die eine teleologische Struktur der Liebe in sich tragen. Das in der Freiheitsschrift nicht näher ausgestaltete, jeglichem Dualismus vorausgehende Prinzip bringt eine Entwicklung hervor, in welcher sich im Zeichen der Liebe zwei selbstständig seiende Prinzipien miteinander verbinden. Dem gegenüber steht die Aussage Schellings im Kontext der Frage nach der Endabsicht der Schöpfung: „Hat überhaupt die Schöpfung eine Endabsicht und wenn dieß ist, warum diese nicht unmittelbar erreicht, warum ist das Vollkommne nicht gleich von Anfang? Es gibt darauf keine Antwort, als die schon gegebene: Weil Gott ein Leben ist, nicht bloß ein Seyn. Alles Leben aber hat ein Schicksal, und ist dem Leiden und Werden unterthan. Auch diesem also hat sich Gott freywillig unterworfen, schon da er zuerst, um persönlich zu werden, die Licht- und die finstre Welt schied. [...] Denn dieß ist die Endabsicht der Schöpfung, daß, was nicht für sich seyn könnte, für sich sey, indem es aus der Finsterniß, als einem von Gott unabhängigen Grunde, in’s Daseyn erhoben wird. [...] [D]amit [...] sie als unabhängig existierende wieder in ihm seyen. [...] Das Ende der Offenbarung ist daher die Ausstoßung des Bösen vom Guten, die Erklärung desselben als gänzlicher Unrealität. Dagegen wird das dem Grunde erhobene Gute zur ewigen Einheit mit dem ursprünglichen Guten verbunden“. 213

Vergleicht man diese Textstelle mit den Aussagen Schellings über den Ungrund lässt sich nicht nur dessen Ringen um einen angemessenen Gottesbegriff greifen, sondern auch sein Bild des Werden Gottes besser verstehen. Der in Gott diesen und dessen inhärentes Wirken begründende Ungrund ist mit Gott als dem Absoluten zu identifizieren. Zwar betont Schelling, dass der göttliche Ungrund noch keine Persönlichkeit sei; trotzdem lässt sich der Urwillen Gottes klarer prädizieren als Schelling dies vorgibt. Gott, folgt man Schellings Ausführungen, unterwirft sich zwecks der zu realisierenden, vollkommenen Liebe dem Werden. Diese Liebe sei das, „was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe“. 214 Die Liebe als Wesensprinzip Gottes ist somit das Movens der Geschichte, gleichwohl anfangs in der Indifferenz noch nicht vollkommen, sondern erst durch die Einheit von Differenz. Zu diesem Zweck offenbare sich Gott, deshalb lasse Gott den Grund in sich wirken, der die Möglichkeit des Bösen eröffne. Dass Gott das wesenhaft Gute in Ewigkeit sei, wird auch in der Rede Schellings über die Schöpfung deutlich. Er spricht vom „ursprünglichen Guten“. 215 Dieses ur212 213 214 215

Schelling, AA I, 17, 123. Schelling, AA I, 17, 168 f. Schelling, AA I, 17, 170. Schelling, AA I, 17, 168.

4.5. Der Begriff göttlicher Freiheit als Selbstoffenbarung

171

sprünglich Gute ist Gottes Wesen anscheinend auch schon im Ungrund. Das wird argumentativ unterstützt durch die Aussage, dass „Böses und Gutes durchaus keinen ursprünglichen Gegensatz, am allerwenigsten aber eine Dualität bilden. Dualität ist, wo sich wirklich zwey Wesen entgegenstehen. Das Böse aber ist kein Wesen, sondern ein Unwesen, das nur im Gegensatz eine Realität hat, nicht an sich.“ 216 Es wäre falsch, zu schlussfolgern, dass Schelling seine Aussage über die Positivität des Bösen hiermit wieder revidiere. Das Böse besitzt als zu ergreifende Alternative zum Guten eine eigene Wirklichkeit. Dies bestätigt Schelling, wenn er von der „Realität“ des Bösen spricht. Er behauptet aber, dass dem Bösen nur im Gegensatz zum Guten eine eigene Realität zukomme. Das entspricht der menschlichen Erfahrung, nach welcher Handlungen oder Erlebnisse als böse oder leidvoll in Relation zu guten, leidfreien und freudvollen Handlungen beziehungsweise Situationen qualifiziert werden. Bemerkenswert an der Aussage Schellings ist daher vor allem das Postulat des ursprünglich Guten, das dem Bösen vorausgehe, und somit bereits in einem Stadium als gut qualifiziert wird, indem noch keinerlei Alternative besteht, bevor also der Begriff vom Bösen ausgebildet worden sein kann. Während dem Bösen demnach nur durch die Relation zum Guten eine Realität zugesprochen werden kann, existiert das Gute in seiner Qualität immer bereits autark. Damit ist eine entscheidende Verbindung für das Freiheitsverständnis im Gottesbegriff vom Ungrund zu Gott als „höchste[r] Persönlichkeit“ 217 gezogen. Während der Ungrund seinstranszendent und Gott als Absolutes verstanden und gerade darin seine Freiheit ausgemacht wird, ist der dem Werden unterworfene personale Gott als Geist frei, insofern er sich aus innerer Notwendigkeit heraus als Liebe offenbart. Beide göttlichen Potenzen aber eint die Wesensbestimmung des ursprünglichen Gutseins beziehungsweise der Liebe. Der Ungrund ist resümierend für Schelling jenes ursprüngliche, allem Sein zugrundeliegende, es transzendierende und hervorbringende Prinzip, das noch nicht als selbstreflexiv göttliche Person bezeichnet werden kann, und doch göttlich ist, um die unbedingte Einheit Gottes zu wahren. Dieser Urgrund ist zwar Schelling zufolge weder Persönlichkeit noch Liebe als Verbindung zweier selbstständiger Potenzen, gleichwohl weist er einen Willen auf, der aus der Selbstaffirmation herausgeht und zwecksetzend „zwey gleich ewige Anfänge“ 218 hervorbringt. In Verbindung des Willens des Grundes und des verständigen, selbstreflexiven Willens im Willen geht der Geist hervor, der gleichgesetzt wird mit dem als allmächtig prädizierten Gott. Dieser ist wesenhaft die gewollte Liebe als Person. Diese Liebe existiert nach Schelling auch bereits im Ungrund, ohne jedoch selbstreflexiv ergriffen worden zu sein. Das neuplatonische Bild der überfließenden Liebe im Ungrund veranschaulicht Schellings Konstrukt, das in der Freiheitsschrift im Vergleich zu spä216 217 218

Schelling, AA I, 17, 173. Schelling, AA I, 17, 160. Schelling, AA I, 17, 172.

172

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

teren Schriften noch am Anfang steht, gut. Denn Schelling nimmt ein ursprüngliches Gutes an, das vor jeder Relation existiert. Damit unterscheidet sich das Verständnis vom Guten fundamental vom Begriff des Bösen. Zwar setzt Schelling neue Akzente durch die Akzentuierung einer eigenen Wirklichkeit des Bösen, diese ist jedoch immer nur aus dem Gegensatz zum Guten heraus möglich. Das Gute hingegen wird von Schelling als ursprünglich existent und als essenzielle Eigenschaft des göttlichen Wesens beschrieben, sowohl im Ungrund als auch im personalen Geistbegriff. Das Böse erscheint in Schellings Darstellung als relationaler Begriff, das Gute hingegen als autark. Der im Gottesbegriff implementierte Freiheitsgehalt zeichnet ein ambivalentes Bild. Zum einen macht Schelling am Schöpfungshandeln Gottes die Freiheit der göttlichen Person fest. Im Gegensatz zum menschlichen Vermögen, entweder das Gute oder das Böse wählen zu können, besteht die Freiheit Gottes in der Verwirklichung seines Wesens als Liebe in der Offenbarung. Wahlmöglichkeiten weist Schelling für den Begriff göttlichen Handelns dezidiert von sich. Gott als Person handelt demnach mit innerer Notwendigkeit gemäß seinem Wesen als Liebe. Zum anderen zeichnet sich der Freiheitsgehalt des Ungrundes durch das Transzendieren des Seins aus. Der Ungrund bringt Sein und Zeit erst hervor. Die Freiheit des Ungrundes besteht somit in der Herrschaft über das Sein. Dabei soll aber jeder Eindruck von willkürlichem Handeln vermieden werden. Den Ungrund beschreibt Schelling dezidiert als Nicht-Persönlichkeit, der jedoch einen sich selbst als Liebe wollenden Willen affirmiert. In der Beschreibung des Zusammenhangs seines Satzes „Wollen ist Urseyn“ 219 und dem prädikat- und intentionslosen Ungrund werden Lücken in den Ausführungen Schellings augenscheinlich, die er beispielsweise in den Weltaltern zu schließen versucht. Schlussfolgernd kann für die Freiheitsschrift festgehalten werden, dass der Ungrund als göttliches Fundament genutzt wird, der wesenhaft Liebe ist und aus dieser Liebe heraus Sein und Differenz hervorbringt, damit diese in vollendeter Liebe zusammengeführt werden können. Der Freiheitsgehalt des Ungrundes zeichnet sich durch Autarkie aus. Der Freiheitsbegriff der göttlichen Person besteht in der Offenbarung seiner selbst als Liebe. Gott wird in diesem Zusammenhang als moralisches Wesen bezeichnet, eine als Grundlage anzunehmende Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse wird jedoch von Schelling verneint. Beide Potenzen Gottes sind verbunden durch das ursprüngliche Wesensmerkmal der Liebe, welche Gott aus innerer Notwendigkeit vollzieht, was jedoch von Schelling nicht als Einschränkung, sondern als vollkommene Freiheit interpretiert wird.

219

Schelling, AA I, 17, 123.

4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von F. W. J. Schelling

173

4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, oder: Zwischen wesenhafter Liebe und dem Vermögen zum Guten und zum Bösen

„Aus diesem Grund ist auch jene Rede ganz richtig, daß, wer keinen Stoff noch Kräfte zum Bösen in sich hat, auch zum Guten untüchtig sey“. 220

Nachdem die unterschiedlichen Bereiche des Freiheitsbegriffs Schellings in seiner Freiheitsschrift von 1809 untersucht worden sind, soll an dieser Stelle in Form eines Resümees die Verbindung zur Forschungsfrage der Arbeit gezogen werden. Denkt Schelling im Gottesbegriff ein Vermögen zum Bösen – und wenn nicht, mit welcher Argumentation weist er diesen Gedanken ab? Die Freiheitsschrift wurde als Untersuchungsgegenstand herangezogen, weil Schelling hierin vor dem Hintergrund der kantischen Meilensteine den Begriff menschlicher Freiheit erweitert, ihn in das Modell eines Panentheismus zu integrieren versucht, und dabei auch über den Gottesbegriff und dessen Freiheitsgehalt nachdenkt. Im Zentrum steht für Schelling der Begriff des Bösen und die Frage, wie das Böse zu erklären sei, ohne es als Mangel oder Nicht-Sein geringzuschätzen und das menschliche Vermögen zum Bösen als bloßen Sieg der Sinnlichkeit über die Vernunft zu deklarieren. Sein Lösungsansatz ist bemerkenswert. Er interpretiert das Böse als Positivität, im Sinne einer eigenständigen Wirklichkeit. Zwar trennt er nicht scharf zwischen dem menschlichen Vermögen zum malum morale und dem malum physicum sowie dem malum metaphysicum. Oft bleibt aufgrund der fehlenden Nutzung der entsprechenden Termini unklar, welche Dimension des Bösen Schelling benennen möchte. Nichtsdestotrotz gilt es, die Vehemenz hervorzuheben, mit welcher er dem Bösen eine eigene, positive Wirklichkeit zuspricht. Diese Positivität darf nicht mit einem Qualitätsurteil verwechselt werden. Schelling unterscheidet klar zwischen Gut und Böse. Er versucht lediglich, das Böse im Gegensatz zum Guten als eigene Realität zu verstehen. Dies fällt insbesondere mit seiner Differenzierung des menschlichen Freiheitsvermögens auf. Als einzige Kreatur sei der Mensch fähig, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Dieses Vermögen führt Schelling auf eine Willenspluralität im Menschen zurück. Der Mensch vermöge es, sowohl den Universalwillen zu priorisieren als auch den Eigenwillen überzuordnen. Durch seinen Verstand könne der Mensch reflexiv entscheiden und frei das Verhältnis der Prinzipien zueinander wählen. Der freie Wille wird somit nicht mehr, wie es Schelling beispielsweise noch in den drei Kritiken Kants gelesen hatte, mit der Vernunft identifiziert, die, wenn sie sich nicht von der Sinnlichkeit beinträchtigen lasse, vernünftigerweise nur dem Sittengesetz 220

Schelling, AA I, 17, 165.

174

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

entsprechend handeln könne. Der freie menschliche Wille ist Schelling gemäß mittels des Verstandes in der Lage, wählen zu können, ob er seine Partikularinteressen dem Allgemeinwillen unterordnet, oder ob er moralisch böse handelt, indem er den Eigenwillen priorisiert und somit das Prinzipienverhältnis umkehrt. Die beiden Willensprinzipien im Menschen stellen dabei keine real getrennten Einheiten dar, sondern sind die zwei Seiten der einen Medaille des menschlichen Willens. Der Mensch zeichnet sich gerade durch seine Freiheit aus, sowohl das Gute als auch das Böse als zwei sich gegenüberstehende reale Alteritäten wählen zu können. Er hat das Vermögen zum Guten und zum Bösen. Welche Aufwertung des Vermögens zum Bösen Schelling vollzieht, lässt sich auch an seinem Beispiel des Teufels nachvollziehen. Dieser sei in der Vergangenheit nicht als die beschränkteste, sondern die „illimitierste“ 221 Kreatur und mit zahlreichen positiven Fähigkeiten gedacht worden. Faktisch hebt Schelling das reale Freiheitsvermögen des Menschen insofern wieder auf, als dass er eine sich außerhalb der Zeit ereignende, intelligible Tat annimmt, welche transtemporal wirksam das menschliche Handeln bestimmt. Ob Schelling dabei einen allgemeinen Sündenfall durch die Tat eines Urmenschen annimmt, oder die Entscheidung jedem einzelnen Menschen zuspricht, wird in der Freiheitsschrift nicht eindeutig geklärt. In jedem Fall setzt Schelling die intelligible Tat in einen göttlichen Schöpfungskontext. Damit wird die menschliche Freiheit nicht als formal unbedingt verstanden, sondern als immer bereits vor einem göttlichen Gesetz agierend. Die Tragik der menschlichen Freiheit besteht in ihrem vorbewussten Vollzug und ihrer aus der intelligiblen Tat hervorgehenden Unumkehrbarkeit, die den Menschen umso stärker von Gott entfernt, desto stärker er seinen Eigenwillen priorisiert. Aber nicht nur im Kontext der intelligiblen Tat wird Gott als Horizont erschlossen. Auch als Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des menschlichen Vermögens zum Bösen wird der Gottesbegriff gesetzt, wobei Schelling hier eine entscheidende Differenzierung vornimmt. Um Gott von der Verantwortlichkeit für das Leid auf der Welt zu entlasten, differenziert Schelling im Gottesbegriff mehrere Potenzen. Zum einen unterscheidet er zwischen dem Grund von Existenz und der Existenz der göttlichen Person. Zum anderen geht damit eine Willenstriplizität im Gottesbegriff einher. Aus dem lediglich ahnenden, sehnsüchtig mäandernden Willen des Grundes entspringe der selbstreflexive Wille im Willen, der Verstand. Dieser vermöge es, die Einheit der Willensdualität hervorzuheben. Erst diese Einheit von Natur und Verstand mache die Persönlichkeit beziehungsweise den Geist Gottes aus. Damit glaubt Schelling eine gelungene Theodizee geleistet zu haben und zugleich dem zeitgenössisch erhobenen Vorwurf des Indifferentismus des Pantheismus entkommen zu sein. Der personale Gott ist für Schelling nicht für die Möglichkeit des Bösen verantwortlich zu machen, habe er doch keinen Einfluss auf den Grund seiner selbst, den er für die Schöpfung wirken lassen müsse. Ganz davon ab221

Schelling, AA I, 17, 138.

4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von F. W. J. Schelling

175

gesehen, dass Schelling die Frage der Theodizee selbst wieder verschärft, indem er den Dualismus von Grund von Existenz und Existenz mit einen sogenannten Ungrund fundiert, stellt sich die Frage nach dem Freiheitsgehalt des Schelling’schen Gottesbegriffs. Schelling pocht darauf, dass Gott als Geist vollkommene Liebe sei. In der Liebe aber könne kein Wille zum Bösen sein. Er spricht von der Sittlichkeit Gottes und dem Freiheitsvermögen, die Schöpfung als Tat und nicht als notwendige Emanation zu realisieren. Zugleich weist Schelling die Liebe als zentrales Wesenselement Gottes aus, weshalb Gottes Freiheit nicht als Wahl- und Handlungsfreiheit verstanden werden dürfe, wie er am Beispiel der Schöpfung veranschaulicht. Die Welt, wie sie existiere, sei als sittliche Notwendigkeit dem Wesen Gottes entsprungen, denn dieser vollziehe sich als Liebe mit innerer Notwendigkeit. Es gibt in diesem Bild keinen Spielraum zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit; alles, was möglich ist, wird auch wirklich. An dieses essentialistische Gottesbild lassen sich Anfragen stellen: 1. Schelling verteidigt den Anthropomorphismus seines Gottesbildes. Wieso überträgt Schelling aber die Freiheitsdefinition nicht vom Begriff des Menschen auf den Gottesbegriff? 2. Wie definiert Schelling Sittlichkeit, wenn sie nicht aus einer freien Entscheidung entspringt, sondern wesensnotwendig ist? Verliert der Begriff der Sittlichkeit nicht seine Bedeutung, wenn er nicht mehr als Qualitätsmerkmal einer auf freier Wahl beruhenden Entscheidung, der immer auch die Möglichkeit des Unsittlichen offenstand, interpretiert wird? 3. Auch der Begriff der Liebe wird zweifelhaft. Ihm liegt in herausragender Weise das Verständnis der freien Affirmation des anderen zugrunde. Der geglaubte Gott Schellings ist wesenhaft Liebe, ohne dass er sich hierzu frei verhalten könnte, und zwar sowohl als Geist, als auch schon im Ungrund als Quelle des Anfangsetzens. Wie definiert Schelling den Begriff der Liebe, wenn er ihn als notwendiges Wesensmerkmal kennzeichnet, nicht aber mit einer Wahl- und Handlungsfreiheit einrahmt? 4. Daran anschließend muss nach dem Begriff von Freiheit gefragt werden. Schelling implementiert in den Gottesbegriff einen anderen Freiheitsgehalt als in den Begriff des Menschen. Begründet wird das an keiner Stelle. Wieso aber sollten an den Menschen und an den vom Menschen ausgebildeten Gottesbegriff ein unterschiedliches Freiheitsverständnis angelegt werden? Die menschliche Freiheit hat Schelling explizit als Vermögen zum Guten und zum Bösen beschrieben. Er nimmt demnach eine Wahl- und Handlungsfreiheit an. Um den Gottesbegriff von der Verantwortung für das Übel zu entlasten, weist er das Vermögen zum Bösen für Gott als Unmöglichkeit aus. Dabei gerät er in vielfache Widersprüche. a. Beispielsweise stellt sich die Frage, inwiefern Gott über den Grund verfügen kann. Schelling schreibt, dass erst der Geist vollkommen Gott sei. Dann aber

176

4. F. W. J. Schelling und das Vermögen des Guten und des Bösen

wäre der Grund wirklich unabhängig und Gott könnte als Geist, der wesensnotwendig Sittlichkeit sei (was als Begriff zusätzlich zu definieren wäre), keinen Begriff vom Bösen ausbilden. Das würde bedeuten, dass Gott von einer Art dunklen Materie, dem Grund als Grund Gottes und des Bösen, abhängig wäre. Oder aber, wie die Einheit des Ungrundes nahelegt, der Grund ist Teil Gottes und somit auch die Möglichkeit des Bösen. Dann aber muss beantwortet werden, wie das Absolute in seiner zirkulären Genese zusammenhängt und das Bewusste aus dem Unbewussten entspringt. Schelling erklärt dies mit dem Setzen zweier ewiger Anfänge durch den Ungrund aus einer wohl graduell weniger stark als im Geist ausgeprägten Liebe. Hier nun schließt sich wieder die Frage nach dem Freiheitsgehalt im Liebesbegriff an. b. Noch eine weitere Anfrage lässt sich in diesem Zusammenhang stellen, nämlich nach dem Verhältnis von Gut und Böse. Schelling weist diese Relation mehrfach als notwendig aus. So nennt er zum Beispiel das Böse eine notwendige Voraussetzung, damit Gott sich als das Gute offenbaren könne. An anderer Stelle stellt er die These auf, dass, „wer keinen Stoff noch Kräfte zum Bösen in sich hat, auch zum Guten untüchtig sey“. 222 Zugleich behauptet er, dass das Böse keinen ursprünglichen Selbststand aufweise, sondern nur in der Relation zum Guten Realität gewinne; das Gute sei hingegen eine Wirklichkeit, die ohne Relata existiere. Wieso aber bringt Schelling erneut zwei unterschiedliche Geltungsansprüche in Stellung, wenn er über den Begriff menschlicher Freiheit und über den Begriff göttlicher Freiheit spricht? Diese Widersprüche lassen sich auf ein Problem zurückführen, nämlich die Definition des Gottesbegriffs. Schelling implementiert neuplatonische Prädikate in den Gottesbegriff, die sich mit seinem realen Freiheitsbegriff nicht zusammenführen lassen. Insbesondere die Unwandelbarkeit und die wesensnotwendige Liebe und Güte werden Schelling zum Problem. Denn Schelling setzt im Gottesbegriff zuerst ein bestimmtes Wesensprädikat, zum Beispiel die Liebe, und erst danach einen Freiheitsbegriff, der, soll das zuerst gesetzte Prädikat der ontologischen Vollkommenheit nicht gefährdet werden, nur noch als Vollzug dieser Wesensdefinition erklärt werden kann. Anstatt Gott als eine ursprünglich freie Einheit zu denken, der Wahl- und Handlungsfreiheit zukommen und damit auch das Vermögen zum Guten und zum Bösen, vor welchem Gott sich reflexiv immer bewusst zum Guten entscheiden kann, hält er an einem Begriff von Gott als dem wesenhaft guten, unveränderlichen Absoluten fest. Um nicht historisch unredlich zu werden, muss darauf hingewiesen werden, dass Schelling sich mit der Verwendung der Prädikate der Unwandelbarkeit und der Liebe im Rahmen des zeitgenössisch ordentlichen Denkschemas bewegt. Angesichts seiner außerordentlichen Fortentwicklung des menschlichen Freiheitsbegriffs erstaunt aber die nicht erfolgte Übertragung auf den Got222

Schelling, AA I, 17, 165.

4.6. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von F. W. J. Schelling

177

tesbegriff. Schelling kommt das große Verdienst zu, einen erfahrungsgesättigten und theoretisch hinlänglichen Begriff von Wahl- und Handlungsfreiheit ausgebildet zu haben. Dass er diesen nicht auf seinen Gottesbegriff überträgt, scheitert an den neuplatonischen Altlasten, die es ihm nicht ermöglichen, seinen realen Freiheitsbegriff auch für den Gottesbegriff fruchtbar zu machen.

5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit 5.1. Begründung der Auswahl der Freiheitsphilosophie von Hermann Krings und ein Forschungsüberblick Die dritte historische Tiefenschürfung soll an Hermann Krings vorgenommen werden. Hermann Krings, geboren 1913, und als Philosophieprofessor in Saarbrücken und München tätig gewesen, besticht durch seinen Versuch der „Vermittlung von christlicher Theologie und neuzeitlichen [sic.] Freiheitsdenken“. 1 Im Rahmen seiner von Kant und Fichte kommenden Transzendentalphilosophie denkt er im Gottesbegriff „das die Freiheit Ermöglichende und das die Freiheit Erfüllende“ als „vollkommene Freiheit“. 2 Um diesen näher zu verstehen, muss seine Freiheitsphilosophie in ihren mannigfachen Facetten erschlossen werden. Krings versucht menschliche Freiheit als Faktum in ihrem Möglichsein zu erschließen und unterscheidet dabei drei Dimensionen der einen Freiheit. Der Begriff realer Freiheit kennzeichnet für ihn die „politischen, sozialen und persönlichen Freiheiten“, 3 die im Laufe der Geschichte in je unterschiedlichen zeitlichen und gesellschaftspolitischen Kontexten angestrebt worden seien. Der praktische Versuch, alte Ordnungen zu stürzen und neue Ordnungen zu etablieren, habe im Spätmittelalter, konkret in der Lehre des Wilhelm von Ockham, einen neuen theoretischen Unterbau erhalten, der geradezu von einer „quasi-kopernikanischen[n] Wende“ 4 sprechen lasse. Ockham ist für Krings der erste, der in begrifflich konsequenter Ausformulierung davon gesprochen hat, dass alle Ordnungen aus Freiheit geboren gedacht werden müssten. Keine Ordnung – auch keine ewige – könne nach Ockham vorgestellt werden, ohne dass in logischer Konsequenz ein ordnungsbegründender Wille hinzugedacht werden müsse. Diese praktische Freiheit, die sich im Vermögen ausdrücke, sich selbst Gesetze zu geben, sei, so Krings, in ihrer formalen Unbedingtheit in der Neuzeit zunehmend an die Stelle Gottes getreten und von Kant systematisiert worden. Kant habe zeigen können, dass der menschliche Wille es vermöge, sich „rein durch sich selbst als Vernunftwille“ zu bestimmen und damit Ordnung zu schaffen. 5 Die Frage nach der „vorausgesetzten unbedingten Aktualität des regelsetzenden Willens“ sei von Kant aber nicht beantwortet worden, wie Krings bemängelt. 6 1 2 3 4 5 6

Wildfeuer, Ordnung aus Freiheit, 35. Vgl. für einen biographischen Überblick Wildfeuer, Ordnung aus Freiheit; Jantzen, Hermann Krings. Krings/Simons, Gott, 639. Krings, Reale Freiheit, 41. Krings, Reale Freiheit, 51. Krings, Reale Freiheit, 56. Krings, Reale Freiheit, 57 f.

5.1. Zur Freiheitsphilosophie von Hermann Krings

179

Diese Einsicht führt Krings dazu, die Tiefenstruktur menschlicher Freiheit erneut zu analysieren. Er prägt den Begriff „transzendentale[r] Freiheit“ als jene unbedingte Affirmation von Freiheit durch Freiheit, welche durch ihren Entschluss praktische Freiheit erst ermögliche. 7 Damit praktische Freiheit in ihrem Möglichsein begriffen werde, müsse transzendentallogisch ein Entschluss von formal unbedingter Freiheit für Gehalt gedacht werden. Der einzig angemessene Gehalt von formal unbedingter Freiheit sei andere formal unbedingte Freiheit. Da menschliche Freiheit jedoch in ihrem materialen Endlichsein begrenzt sei, greife transzendentale immer auf vollkommene Freiheit aus, als den schlechthin erfüllenden Gehalt von Freiheit. 8 Diesen Begriff vollkommener Freiheit will Krings nicht als notwendigerweise identisch mit der religiösen Erfahrung von Gott verstanden wissen, er eröffnet jedoch explizit die Möglichkeit, mithilfe einer „weitere[n] und andersartige[n] Denkoperation“ 9 den Gottesbegriff mit diesen Freiheitskategorien zu denken. Denn er hält ihn für an den Begriff der Offenbarung anschlussfähig und zieht Parallelen zu Gottesvorstellungen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Dieser Begriff Gottes als vollkommene Freiheit und seine Nähe zu biblischen Gottesbildern soll im Folgenden eingehend untersucht werden. Dafür werden Krings’ Freiheitsdimensionen der transzendentallogischen Analyse erläutert und mit Kritik anderer Philosophinnen und Philosophen konfrontiert. Um seine Freiheitsphilosophie jedoch verstehen zu können, muss in einem ersten Schritt (5.2.) sein werkgeschichtlicher Kontext betrachtet werden, spiegelt sich seine Auseinandersetzung von christlicher Theologie und neuzeitlicher Philosophie doch sichtbar in seinen akademischen Schriften wider. Nach einer Dissertation über den mittelalterlichen Ordo-Begriff, der sowohl den menschlichen als auch den göttlichen Freiheitsbegriff absorbiert, näherte er sich über seine Habilitationsschrift zu Fragen und Aufgaben der Ontologie 10 der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Wissen im Anschluss an das Freiheitsdenken von Kant und Fichte an. Seine oftmals als Hauptwerk charakterisierte Transzendentale Logik 11 stellt dabei den sichtbaren Übergang zum transzendentalphilosophischen Denken dar, welches sich fortan in zahlreichen Aufsätzen zum Problem der Freiheitserfahrung und des Freiheitsbegriffs äußerte. Um seine vehemente Abwehr traditioneller philosophischer Gottesbegriffe zu verstehen, ist ein solch werkgeschichtlicher Blick unumgänglich. Sind dieser Kontext und seine Freiheitslehre (5.3.) erschlossen, wird es möglich sein, seine philosophischen Versuche zum Gottesbegriff (5.4.) zu erschließen. Diese beschränkten sich nicht nur auf den Begriff vollkommener Freiheit (5.4.1.) und die 7 8 9 10 11

Krings, Reale Freiheit, 62. Vgl. Krings/Simons, Gott, 636. Krings/Simons, Gott, 638. Vgl. Krings, Fragen und Aufgaben der Ontologie. Vgl. Krings, Transzendentale Logik.

180

5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

Abwehr klassischer Gotteskonzepte, wie jene der Ursache, der Substanz und des höchsten Wesens (5.4.2.). Darüber hinaus setzt er sich mit Schellings Gottesvorstellungen auseinander (5.4.3.) und tätigt die – angesichts seiner sonstigen Zurückhaltung gegenüber Aussagen über das göttliche Wesen bemerkenswerte – Einschätzung, dass „Gott eine Freiheit zum Bösen zu unterstellen hieße, den Begriff Gottes zu annullieren.“ 12 Vor diesem skizzierten Hintergrund werden der Gottesbegriff des Hermann Krings erschlossen und seine Argumente und Methoden in Bezug auf ein göttliches Vermögen zum Bösen beleuchtet. Sein Rekurs auf Ockham und Schelling wird anschließend ein resümierendes Vergleichskapitel ermöglichen. Diese Untersuchung ist, wie bereits anfangs angemerkt, auch insofern gewinnbringend, als dass bisher wenig Forschung zu Krings stattgefunden hat. Von philosophischer Seite aus gilt es besonders die 1979 zum 65. Geburtstag von Krings veröffentlichte Festschrift zu beachten, in welchem sich Kolleginnen und Kollegen, sowie – mittlerweile selbst namhafte – Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Perspektiven mit dessen Werk auseinandersetzten, sowie die Schriften Armin Wildfeuers. 13 Darüber hinaus erfolgte eine Rezeption Krings vor allem im deutschsprachigen Raum der Theologie. Thomas Pröpper und die von ihm ausgehende Schule rezipierten den Begriff der menschlichen Freiheit als formal unbedingte Freiheit und übernahmen jene Aufgabe, welche von Krings eröffnet wurde, aber aus rein transzendentallogischer Analyse nicht zu leisten war, nämlich den Begriffstransfer in das vielschichtige Feld der Theologie. 14 Dieser Aufgabe weiß sich auch die nachfolgende Untersuchung verpflichtet, wenn die Anfrage gestellt wird, ob der von Krings ausgebildete Gottesbegriff nicht gerade den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Guten und zum Bösen eröffnet und damit Krings mit Krings überholt werden kann.

12 Krings, Freiheit Gottes, 176. 13 Vgl. Baumgartner, Prinzip Freiheit; Wildfeuer, Fragilität von Ordnungen; Wildfeuer, Ordnung aus Freiheit. Vgl. außerdem Baxla, Genealogien der Moderne. 14 Vgl. Anm. 69 in Kapitel 1.2.3 und die folgende, dort ebenfalls genannte Literatur: Vgl. grundlegend Pröpper, Theologische Anthropologie I und II, bes. 488–656; Pröpper, Evangelium und freie Vernunft. Subjektphilosophische Folgen hat Striet, Das Ich, bes. 237–306; Wendel, Affektiv, aufgezeigt. Daran anknüpfende christologische Denkfiguren lassen sich bei Essen, Die Freiheit Jesu; Essen, Christologie studieren. Vgl. für eschatologische Konsequenzen exemplarisch Striet, Versuch über die Auflehnung. Die theologischen Folgen dieser Übertragung wurden mittlerweile breit diskutiert vgl. hierfür exemplarisch Wendel, In Freiheit glauben; Lerch, Selbstmitteilung Gottes, sowie für einen Literaturüberblick Lerch, Offenbarung und Freiheit.

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5.2. Werkgeschichtliche Verortung der Freiheitsphilosophie 5.2.1. Der mittelalterliche Ordo-Gedanke und der Freiheitsbegriff des Wilhelm von Ockham „[O]mnia in mensura, numero et pondere disposuisti“. 15

In seiner 1938 fertiggestellten und 1941 publizierten Dissertation beschäftigt sich Krings mit dem Ordo-Denken des Mittelalters. Die Ordnung, so Krings, sei der zentrale Gedanke des Mittelalters gewesen. Diesen in seiner Systematik zu erfassen, ist das erklärte Ziel von Krings. 16 Ordnung wurde seit Platon und Aristoteles als jene Kategorie verstanden, mit welcher sich das Sein als solches und das Weltgefüge als Ganzes erfassen lasse. 17 Im christlichen Denken, welches von Krings stellvertretend durch die Lehren von Augustinus, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Bonaventura analysiert wird, sei Gott als Urheber der Ordnung gedacht worden. Gemäß dem Satz aus dem biblischen Buch der Weisheit habe Gott, so der grundlegende Gedanke, alles Sein in Maß, Zahl und Gewicht beziehungsweise in Bezug auf den Seinsursprung, die Seinsgestalt und den Seinssinn geordnet. Jedes Seiende zeichne sich durch seine Relationalität aus und stehe in einem Ordnungsverhältnis zu anderem Seienden im Rahmen des Gesamtkosmos. Da der Mensch, so der mittelalterliche Gedanke, sich immer bereits in Ordnung vorfinde, müsse diese Ordnung von Gott ausgehen. 18 Krings kann also aufzeigen, dass Gott als Ursache der Ordnung gedacht wurde. Jedes Sein ist in diesem Konzept entsprechend der Ordnung auf ein Ziel, und zwar auf Gott selbst, ausgerichtet. Im Gotteskonzept wurde jedoch nicht der göttliche Wille in den Blick genommen, von dem die Ordnung potenziell ausgehen könnte, sondern seine Vernunft und Weisheit. Die Ordnung wurde als dem Wesen Gottes entsprechend gedacht, da eine zentrale Annahme lautete, dass ein Akteur immer nur etwas sich selbst Ähnliches schaffen könne. Entsprechend der innergöttlichen Ordnung sei auch die Ordnung der Welt geschaffen worden. „Die sapientia Gottes, nicht nur als Fülle der Erkenntnis, sondern auch als vollendetes Wissen um die 15 Zit. n. Krings, Ordnung, 251. 16 Später tatsächlich aufkommender Kritik, beispielsweise von Hübener, Ordnung, 1255, verwahrt sich Krings bereits in seiner Einleitung, wenn er anmerkt, dass er keine Entwicklungsgeschichte des Ordo-Gedankens zeichnen werde, sondern die systematische Dimension ausführe, welche bis zum Spätmittelalter in bemerkenswerter Einheit existiert habe. (Vgl. Krings, Ordo, XII.) 17 Vgl. zum Ordnungskonzept in der Antike Anzenbacher, Ordnung; Meinhardt, Ordnung, und zum Verhältnis von Theorie und Praxis von Ordnungskonzepten, vor allem des Neuplatonismus, Mensching, Das Allgemeine. 18 Vgl. Krings, Ordo, 1–3, 37, 55.

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Ordnung des Handelns, ist der absolute Formgrund des ordo.“ 19 Der Wille Gottes trete hinter der Weisheit zurück, er aktualisiere nur noch das Wissen um die Ordnung in reales Sein. 20 Die Freiheit Gottes war als Gedanke kaum relevant, denn die wesenhafte Übereinstimmung von Gott und Ordnung ließen ein Nachdenken über die Freiheit Gottes wenig fruchtbar erscheinen. Für Menschen galt im Umkehrschluss, dass sich ihre Freiheit gerade in der Anpassung an die göttlich gewirkte, ewige Ordnung zeige. Umso ordnungsgemäßer ein Mensch handle, desto freier sei er. 21 Als herausragenden Fürsprecher der göttlichen und menschlichen Willensfreiheit machte Krings später Wilhelm von Ockham aus. Zwar schrieb er den ersten eigenständigen Aufsatz über Ockham erst 1986, aber aus systematischen Gründen sollen die dort hervorgehobenen Erkenntnisse bereits an dieser Stelle in die Arbeit einfließen. Krings akzentuiert darin besonders die systematischen Folgen des bereits vor Ockham entworfenen, aber vom ihm entscheidend transformierten Begriffspaares von der potentia Dei absoluta und der potentia Dei ordinata. Dank diesem habe Ockham mit „denkerischer Konsequenz den Begriff der Freiheit Gottes“ entwickelt. 22 Die „Wende im Bewußtsein der Freiheit“ sei dabei „nicht eigentlich durch eine neue Thematik charakterisiert“ gewesen, sondern durch ebenjene Konsequenz, die Johannes Duns Scotus vorbereitet und Wilhelm von Ockham dann denkerisch vollzogen hätte. 23 Die potentia Dei absoluta sei als jeder Ordnung vorgeordnet gedacht worden. Denn, so ein entscheidender Gedanke, keine Ordnung existiere per se, sondern benötige immer einen ordnungsbegründenden Willen. Somit gelte: „Die Freiheit wird der Ordnung vorgeordnet – und entsprechend sind der Wille der Vernunft, die Macht der Weisheit vorgeordnet.“ 24 Krings bekennt, dass dies metaphysisch als Voluntarismus interpretiert und dann „mit Recht [...] bekämpft“ werden könne, aber aufgrund ebenjener Funktion der Ordnungsbegründung transzendentalphilosophisch als Bedingung der Möglichkeit von Ordnung interpretiert werden müsse. 25 Die absolute Macht Gottes dürfe nicht als Willkür missverstanden werden, sondern als je neu ordnungsbegründend. 19 Krings, Ordo, 51. 20 Vgl. Krings, Ordo, 30–55. 21 Dass ein solcher Gedanke von hoher praktischer Relevanz ist, kann nicht oft genug betont werden. Bereits im Denken der Stoa und des Mittel- und Neuplatonismus wurde Freiheit als Anpassung an die Ordnung verstanden. Für das Mittelalter wurde die Schrift De civitate Dei von Augustinus und dessen zugrundeliegende Theorie über die Willensfreiheit, exemplarisch nachzulesen in De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2 (Vgl. Flasch, Logik des Schreckens), von zentraler Bedeutung. Vgl. auch in diesem Kontext noch einmal Mensching, Das Allgemeine. 22 Krings, Woher kommt die Moderne, 21. 23 Krings, Woher kommt die Moderne, 20. 24 Krings, Woher kommt die Moderne, 21. Vgl. zur Genese von Ordnungsvorstellungen Wildfeuer, Theonomie und Autonomie. 25 Krings, Woher kommt die Moderne, 22.

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Außerdem ist Krings der Meinung, dass den Vertretern der via moderna des 14. Jahrhunderts bereits bewusst gewesen sei, dass dieses neue Verständnis von Freiheit in ihrer Priorität gegenüber jeglicher Ordnung konsequent auf den Menschen übertragen werden müsse. Auch die menschliche Freiheit müsse demnach in eine absolute und eine geordnete Dimension unterschieden und Freiheit als Vermögen der Begründung von Ordnung gedacht werden. Mit diesen Gedanken hält Krings den Boden der Moderne für bereitet, in welcher der Gedanke der Freiheit des Menschen immer stärker in den Fokus gerückt sei. Im Zuge der Säkularisierung sei der Gedanke der potentia Dei absoluta durch die menschliche Vernunft ersetzt worden. Der Mensch habe sich nun als ordnungsbegründend begriffen, was gleichwohl nicht als Willkürfreiheit verstanden werde dürfe, meine Willkür doch das Leugnen von Notwendigkeiten, denen der Mensch faktisch stets gegenüberstehe. Stattdessen setze sich der Mensch autonom in ein Verhältnis zu den vorgefundenen Gegebenheiten. 26

5.2.2. Die Transzendentale Logik und der Übergang zur Freiheitsphilosophie Beschäftigte sich Krings also in seiner Dissertation noch mit klassisch ontologischen Ordnungsvorstellungen und arbeitete in seiner Habilitationsschrift als Aufgabe der Ontologie die Frage nach der „Wahrheit des Seienden in seinem Seiendsein“ heraus, 27 verschob sich sein Fokus danach zunehmend. Bereits in seiner Dissertationsschrift hatte Krings die These aufgestellt, dass sich die „Urerfahrung von Ordnung“ im Denken vollziehe, und gerade im „Phänomen der Ordnung des Denkens“ manifestiere. 28 Als ein zentrales Ergebnis seines Nachdenkens über die Fragen und Aufgaben der Ontologie 29 lässt sich das Ziel des Denkens festhalten, „den Grund des Seienden als relationales, dynamischen Gefüge zu erkennen, zu wahren und bei gegebener Desintegration wiederherzustellen.“ 30 Das Denken als zentraler Wesensvollzug des Menschen rückte für Krings in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Bevor er aber Fichte auf dem Weg der „Erweiterung und Radikalisierung der Aufgabe der Transzendentalphilosophie über eine transzendentale Kritik der Vernunftvermögen hinaus zu einer Lehre von der transzendentalen Freiheit“ 31 folgte, beschäftigte er sich mit ebenjener transzendentalen Kritik des Vernunftvermögens 26 Vgl. Krings, Woher kommt die Moderne, 19, 23. Vgl. zum Krings’schen Konzept der Genese der Moderne Baxla, Genealogien der Moderne, 27–120. 27 Krings, Fragen und Aufgaben der Ontologie, 16. 28 Krings, Ordo, 8. 29 So lautet der Titel seiner Habilitationsschrift. Vgl. Krings, Fragen und Aufgaben der Ontologie. 30 Baumgartner, Hermann Krings, 331. 31 Krings, Erkennen und Denken, 9.

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und entwarf im Anschluss an Kant, Fichte und Husserl eine Transzendentale Logik des menschlichen Wissens. Die „Faktizität des Faktums“ problematisierend, fragt er dort nach der transzendentallogischen Herkunft von Aussagen. 32 Es geht Krings dabei nicht um eine formale Logik von Gesetzmäßigkeiten von Aussagen, sondern um einen transzendentallogischen Aufweis der Bedingung der Möglichkeit von Wissen. Während er mit Fichte versucht, Kants Theorien zu erweitern und ein transzendentales Ich herzuleiten, mit dem der Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft überwunden werden könne, geht er gleichwohl im Unterschied zu Fichte weniger vom „absolute[n] Zirkel des reinen Wissens und SichWissens“ 33 aus, als vielmehr transzendental-reduktiv von der Erfahrung der Eingebundenheit des Wissens in die Welt, um die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens auszuweisen. In einem ersten Schritt differenziert er im Prozess der Erkenntnis „erstens das Erkennende, zweitens das Erkannte, drittens das, was ,zwischen‘ dem Erkennenden und dem Erkannten ,ist‘ und das Medium ihrer relationalen Einheit bildet, das Erkennen im engeren Sinn, viertens eben diese Einheit von Erkennendem und Erkanntem im Erkennen oder das Erkennen im weiteren Sinn.“ 34

Aufgehellt wird dieser Prozess von Krings durch den Begriff der „in sich zurückgewendeten Transzendenz“. 35 In einem ersten Schritt greife das Erkennende über sich hinaus auf das andere, den Terminus, „jedoch nicht derart, daß das Fundamentum sich dabei zurückließe oder sich im anderen verlöre.“ 36 In einem zweiten Schritt sei es unter Wahrung der Differenz möglich, dass das Fundamentum mitsamt dem Terminus zu sich zurückkehre und damit in einem dritten Schritt eine „‘transzendentale Einheit‘ von Fundamentum und Terminus“ 37 ausgebildet werde. Das Erkennende öffnet sich folglich in einem ersten Schritt für Gehalt und erkennt im Transzendieren seiner selbst das andere. Dabei bleibt es nicht eindimensional stehen, sondern kehrt wieder zu sich zurück – es „retroszendiert“ 38 – und erkennt sich nun erst selbst als Erkennendes. „Kraft dieser [transzendentalen] Aktualität wird nicht nur schlechthin ein Erkanntes als Erkanntes konstituiert, sondern durch sie konstituiert sich auch allererst das Erkennende als Erkennendes“. 39 Möchte man sich nicht auf der Suche nach der ersten, ursprünglichen Einheit im infiniten Regress verlieren, muss, der Argumentation Krings’ zufolge, eine Einheit gesetzt werden, die Einheit „durch sich selbst“ ist und sich ursprünglich als Einheit 32 33 34 35 36 37 38 39

Krings, Transzendentale Logik, 20. Krings, Transzendentale Logik, 37. Krings, Transzendentale Logik, 49. Krings, Transzendentale Logik, 54. Krings, Transzendentale Logik, 54. Krings, Transzendentale Logik, 54. Krings, Transzendentale Logik, 54. Krings, Transzendentale Logik, 55.

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selbst aktualisiert. 40 Das bedeutet, dass angenommen werden muss, dass diese ursprüngliche Einheit immer bereits den Vorgang der Transzendenz und der Retroszendenz vollzogen hat, und zwar in sich selbst. Dieses „transzendentale Ich“ sei somit die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. 41 Damit hat für Krings die transzendentale Logik auf der Suche nach der ersten Möglichkeit von Erkenntnis ihr Ziel erreicht. Das transzendentale Ich, das im Gegensatz zur Metaphysik nicht als Wirkliches, sondern als rein Mögliches gedacht werde, müsse als allein durch sich selbst ermöglichter Grund und zugleich fundamental Ermöglichendes gedacht werden. Krings weist jedoch darauf hin, dass diesem transzendentalen Ich ein rein formaler Charakter zukomme. Sowohl seine Ursprünglichkeit als auch die „immanente reflexe Transzendenz“ seien formal. 42 Zum gehaltvollen Sein benötige das formale Ich den Übergang über sich hinaus auf einen „selbstseienden Gehalt“, das nun vom Fundament als „Terminus aktuiert“ werde. 43 Erst durch dieses Moment könne von einem „gehaltvollen Wirklichsein[...]“ 44 des Ichs gesprochen werden. Mit seiner Transzendentalen Logik hat Krings Wissen in seinem Möglichsein erschlossen, indem er von der realen Erfahrung ausgeht und transzendental reduktiv ein formal unbedingtes Ich als notwendig zu denkenden Ermöglichungsgrund von Erkenntnis ausmacht. Dieses formal unbedingte Ich werde aber erst durch das Öffnen für Gehalt und das Aktuieren eines Gehalts als Terminus selbst als wirkliches Ich konstituiert. Jenes Öffnen für Gehalt, das Krings auch als „Ent-schluß“ bezeichnet, erläutert er ausführlich in dem Artikel Wissen und Freiheit. 45 Die transzendentale Handlung, so Krings, müsse als ein Entschließen, als ein Sich-Öffnen für Gehalt des formal unbedingten Ich verstanden werden. Dass dieser Gedanke nicht nur Folgen für das Denken von Wissen hat, sondern auch für das Sein und für eine Anthropologie, ist für Krings nun eindeutig, weshalb er explizit eine „Freiheitslehre“ fordert, in welcher der „Begriff der transzendentalen Freiheit [...] als solcher zum Thema“ gemacht werden müsse. 46 Es kann festgehalten werden, dass Krings, nachdem er sich mit metaphysischen Ordnungsvorstellungen der mittelalterlichen Ontologie vertraut gemacht hatte, das Denken, nicht nur von Ordnung, sondern als solches in den Fokus seiner Arbeit rückte. Über das Verfahren der transzendentalen Logik machte er das Erkennen 40 Krings, Transzendentale Logik, 62. 41 Krings, Transzendentale Logik, 64. Dieter Henrich ist der wohl prominenteste zeitgenössische Kritiker dieses Konzepts und wirft der Reflexionstheorie Zirkularität vor. (Vgl. Henrich, Selbstbewußtsein, bes. 264–269.) Im Anschluss an diese Debatte und im Hinblick auf die Gottesfrage gab es unterschiedliche Versuche, einen Ausgleich zu finden. Vgl. Striet, Das Ich, bes. 280–290; Lerch, Monismus als Denkform. 42 Krings, Transzendentale Logik, 64. 43 Krings, Transzendentale Logik, 68. 44 Krings, Transzendentale Logik, 68. 45 Krings, Wissen und Freiheit, 152. 46 Krings, Wissen und Freiheit, 153.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

und das Wissen in ihrem Möglichsein begreifbar, indem er transzendental reduktiv vorgehend auf ein formal unbedingtes Ich schloss, dass als Bedingung der Möglichkeit von Wissen gedacht werden müsse. Dieses nicht mehr nur für den Bereich des Wissens fruchtbar zu machen, sondern für eine anthropologische Freiheitslehre ist die selbstgestellte Aufgabe der Krings’schen Schriften der nachfolgenden Jahre.

5.3. Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit 47 5.3.1. Der Begriff realer Freiheit Wie bereits in seiner Transzendentalen Logik geht Krings auch in seinen Artikeln zur Analyse des Freiheitsbegriffs von der Erfahrung, in anderen Worten von „reale[r] Freiheit“ 48 aus. Dieser Begriff inkludiere sowohl politische wie auch soziale und persönlichen Freiheiten. Menschen, so die grundlegende These von Krings, streben in ihrem Alltag nach Freiheit in unterschiedlichen Formen und in verschiedenem Ausmaß. Paradoxerweise würden jedoch, um gewonnene Freiheiten zu sichern, Ordnungssysteme etabliert werden, die Freiheit nicht nur sichern, sondern auch einschränken würden. Sei ein demokratischer Rechtsstaat etabliert, der politische Teilhabe ermögliche und zugleich Raum lasse für soziale und persönliche Freiheiten, begönnen die Diskussionen darüber, wo die Grenzen des Staates zu ziehen seien. Welche Momente des Lebens zählen zum Bereich der Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat und welche Aufgaben muss der Staat als zentrale Institution übernehmen, damit überhaupt erst Freiheitsräume für den einzelnen Menschen nutzbar werden? Reale Freiheit stellt sich demnach für Krings in einer Aporie dar. Zum einen könne sich Freiheit nur innerhalb eines Ordnungsrahmen realisieren. Zum anderen schränke dieses System Freiheit per Definition ein. 49 Im politischen Kontext gehe es daher permanent um das Austarieren von Aufbau und Reduktion systemischer Strukturen zum Schutz von Freiheitsrechten. Alle Versuche, die Freiheit zu objektivieren und sie als Ziel eines politisches Programms Wirklichkeit werden zu lassen, wie das in der Geschichte sowohl im Sozialismus versucht wie auch in anarchischen Strukturen propagiert worden sei, seien gescheitert, weil Freiheit gerade nicht ein herzustellendes Objekt sei. „So ist der Preis der Freiheit der Verzicht auf die Utopie von Freiheit.“ 50 Den Widerspruch von Freiheit 47 48 49 50

Krings, Reale Freiheit. Krings, Reale Freiheit, 41. Vgl. Krings, Beitrag zu einem ungelösten Problem, 28. Krings, Preis der Freiheit, 223.

5.3. Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit

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und System gilt es nach Krings auszuhalten, wenn Freiheit sein soll. Anstatt zu versuchen, den Widerspruch aufzulösen, müssten politische Strukturen jeweils in ihrer Sinnhaftigkeit reflektiert und entsprechend ausgestaltet werden. Dafür müsste sich jedes Individuum auf die Pluralität von Meinungen einlassen und die „Mühe der Begründungen“ auf sich nehmen. 51 Denn das gemeinschaftliche Leben, in welchem sich Freiheit realisiere, bringe die Notwendigkeit mit sich, die Freiheit des anderen zu respektieren und zu schützen, damit eigene Freiheit sein könne. Krings setzt also beim Faktum menschlicher Freiheit an, die stets nur unter soziokulturellen Gegebenheiten Wirklichkeit wird und analysiert dieses Faktum auf dessen Bedingungen der Möglichkeit hin.

5.3.2. Der Begriff praktischer Freiheit An dieser Stelle muss die zweite Dimension von Freiheit in den Blick genommen werden – die praktische Freiheit. Immer wieder auf Kant rekurrierend, weist Krings auf die sittliche Dimension von Freiheit hin. „Ein Handeln“, so Krings, „soll dann als sittlich bezeichnet werden, wenn seine Ordnungen und Regeln, deren Befolgung das Handeln als gut und recht qualifiziert, prinzipiell in praktischer Freiheit begründet sind.“ 52 Praktische Freiheit wird von ihm verstanden als „handlungsbegründende Freiheit“. 53 Krings zufolge wurde die Ordnung jahrhundertelang als unumstößlicher, ewiger, dem Wesen Gottes entsprechender Rahmen gedacht, dem sich der menschliche Wille unterordnen müsse. Ockham und Kant hätten dann in entscheidender Weise den Willen dem Gesetz vorgeordnet. Keine Ordnung könne danach als ewig gedacht werden. Alle Ordnungen seien kontingent, denn der „Wille ist frei, Ziele und Regeln zu setzen, Ordnungen zu begründen.“ 54 Was Ockham noch hauptsächlich für das Konzept Gottes diskutiert habe, sei von Kant in das Zentrum der Anthropologie gerückt worden. Der Mensch, so Kant, erfahre sich gegenüber dem unbedingten Sollensanspruch als vermögend, diesem zu folgen und selbst Regeln zu erlassen, die handlungsleitend sein könnten. 55 In der Kritik der praktischen Vernunft sei nun die Frage nach der Willensbestimmung in den Mittelpunkt gerückt: Wodurch soll sich der handlungsbegründende Wille leiten lassen? Kant habe die Frage mit Verweis auf den Willen als Vernunftwillen selbst beantwortet: „Der Wille, sofern er die Handlung als sittliche begründet, muß rein durch sich selbst als Vernunftwille bestimmt sein.“ 56 51 52 53 54 55 56

Krings, Preis der Freiheit, 226. Krings, Reale Freiheit, 55. Krings, Reale Freiheit, 53. Krings, Reale Freiheit, 53. Vgl. Kant, KPV, A 54. Krings, Reale Freiheit, 56.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

Krings moniert aber, dass man bei Kant auf die Frage nach der „vorausgesetzten unbedingten Aktualität des regelsetzenden Willens“ 57 keine Antwort erhalte. Dieses Problem erkennt er auch noch bei heutigen Ansätzen wie der Universalpragmatik von Habermas oder der transzendentalen Sprachpragmatik von Apel. Letztere würden die Anerkennung von universalen Geltungsansprüchen als apriorische Voraussetzung für einen Diskurs in Anspruch nehmen, würden aber nicht zu einer unbedingten Bedingung der Möglichkeit von sozialer Anerkennung von Geltungsansprüchen vordringen. 58 Was aber, so lautet die für Krings ausstehende Frage, „ist die Bedingung der Möglichkeit von Anerkennung und Geltung überhaupt?“ 59 Denn „[d]aß Regeln gesetzt sein sollen und nicht vielmehr Regeln nicht gesetzt sein sollen, das ist nicht durch die praktische Freiheit als solche begründet. Dieses kann nur durch eine unbedingte Instanz begründet sein, die über eine Kompetenz-Kompetenz verfügt.“ 60 „Wie kann oder muß [also] jene Aktualität gedacht werden, deren unbedingtes Setzen ein Apriori für die Konstitution der Handlung als Tat und für ihre Qualifikation als sittliche Tat ist?“ 61

5.3.3. Der Begriff transzendentaler Freiheit Diese Fragen führen Krings zum Begriff der „transzendentalen Freiheit“. 62 Damit Freiheit in ihrer Unbedingtheit adäquat gedacht und somit der Unbedingtheitsanspruch praktischer Freiheit aufrechterhalten werden kann, muss für Krings auf transzendentaler Ebene jener unbedingte Akt von Freiheit gedacht werden, der praktische Freiheit als regelsetzende Instanz erst aktualisiert. Dabei werden mehrere Aspekte vorausgesetzt. Erstens sei im Begriff der praktischen Freiheit bereits die „Affirmation eines Gehaltes“ impliziert, denn eine Regel zu setzen, schließe die Affirmation des Gehaltes der Regel bereits mit ein. Zweitens sei die „Affirmation einer regelbegreifenden und regelbefolgenden Instanz“ inkludiert. Denn eine Regel werde nicht aufgestellt, wenn nicht angenommen werde, dass jemand diese Regel verstehen und anwenden könne. Drittens müsse als Bedingung der Möglichkeit der Affirmation von Gehalt und Gegenüber ein sich selbst „als Freiheit“ affirmierender „Aktus“ angenommen werden. 63 Diese drei Bedingungen der Möglichkeit des regelsetzenden Akts praktischer Freiheit setzen nach Krings notwendigerweise eine transzendentale Dimension von Freiheit als unbedingte Affirmation voraus. Eine transzendentale Ebene als denkerisch notwendige, unbedingte Bedingung der 57 58 59 60 61 62 63

Krings, Reale Freiheit, 57 f. Vgl. Krings, Empirie und Apriori, bes. 80–85. Krings, Empirie und Apriori, 83. Krings, Empirie und Apriori, 96. Krings, Reale Freiheit, 58. Krings, Reale Freiheit, 61. Alle drei Zitate in Krings, Reale Freiheit, 60 f.

5.3. Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit

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Möglichkeit hatte Krings bereits in seiner Transzendentalen Logik konstruiert. Während er sie dort jedoch allein auf den Ursprung von Wissen und Erkenntnis bezog, denkt er sie nun in Bezug auf die menschliche Freiheit als Ganzes. Damit der Mensch sich in praktischer Freiheit in Autonomie Gesetze geben könne, müsse ein Akt gedacht werden, der als Bedingung der Möglichkeit von Regeln den Akt der Regelsetzung wie auch eine gesetzgeberische und eine regelanwendende Instanz affirmiere. Krings nimmt hierfür einen ersten, transzendentalen Akt an, in welchem sich das Subjekt als freies Subjekt setze. Um sich nicht im infiniten Regress zu verlieren, so lässt sich im Anschluss an seine Transzendentale Logik ausführen, muss ein unbedingter Akt gesetzt werden, der das Subjekt insoweit konstituiert, als dass das Subjekt sich im Prozess von Transzendenz und Retroszendenz erkennt und affirmiert. „Nicht ein ,Ich‘ ist der Grund des transzendentalen Aktes, sondern der transzendentale actus ist der Grund eines möglichen ,Wir‘ und ,Ich‘.“ 64 Damit ist der Blick erneut auf den Gehalt gelenkt, bleibt doch die Freiheit in ihrer Unbedingtheit rein formal. Der Gehalt dieses ersten, unbedingten Aktes muss nach Krings als Freiheit vorgestellt werden. Freiheit affirmiert sich demnach in transzendentallogischer Perspektive als Freiheit, indem sie sich für Gehalt, und zwar für andere Freiheit, öffnet; sie entschließt sich. Der einzig angemessene Gehalt von formal unbedingter Freiheit ist für Krings ebenfalls formal unbedingte Freiheit. 65 Als transzendentale Regel von Freiheit lässt sich folglich formuliert: Freiheit soll sein. In diesem Satz sind die drei zentralen Momente von transzendentaler Freiheit enthalten. Der erste, unbedingte Akt konstituiert das freie Subjekt, in dem es sich für Gehalt öffnet. Damit entsteht Differenz und das Subjekt erkennt sich selbst als Freiheit. Der einzig angemessene Gehalt von formal unbedingter Freiheit ist andere formal unbedingte Freiheit. Damit ist jener notwendige Affirmationsakt gedacht, der nach Krings als Bedingung der Möglichkeit von praktischer, regelsetzender Freiheit begriffen werden muss. 66 Dabei sollte darauf hingewiesen werden, dass Krings explizit vermerkt, dass das Sich-Öffnen für andere Freiheit keine Notwendigkeit darstelle, sondern selbst ein Akt der Freiheit sei. Der Gehalt selbst aber müsse Freiheit sein, wenn sich Freiheit in ihrer Unbedingtheit als Freiheit realisieren solle. Die transzendentale Freiheit ist also die „unbedingte Regel der Regelsetzung“. 67 „So wie die transzendentale Anerkennung von Freiheit als der Ursprung 64 Krings, Replik, 367 Anm. 12 (368). 65 Vgl. Krings, Reale Freiheit, 61 f. Diese These wurde von Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie I, 637–649, aufgenommen und in den deutschsprachigen theologischen Diskurs transferiert. Diese Exklusivität von formal unbedingter Freiheit als einzig angemessener Gehalt von anderer formal unbedingter Freiheit als unzulässig, solange sie a priori behauptet werde, hat zuletzt Langenfeld, Möglichkeit der Freiheit, 366 Anm. 129, kritisiert. 66 Vgl. auch Krings, Handbuchartikel Freiheit, bes. 116–124. Exemplarisch hat Riedel, Freiheit und Verantwortung, ein ethisches Konzept im Anschluss an Krings’ Freiheitsbegriff skizziert. 67 Krings, Replik, 369.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

des Guten, so müssen transzendentale Verweigerung und Entzug als der Ursprung des Bösen gedacht werden.“ 68 Erst mit diesem letzten Schritt wird nach Krings die menschliche Freiheit in ihrer Dreidimensionalität verständlich. Vor dem Hintergrund dieser Unbedingtheit werde ein sittliches Urteil über Gut und Böse möglich und somit auch ein gesellschaftspolitisch legitimes System von Sanktionen von sittlich als böse bewerteten Handlungen. 69 Mit diesem Hinweis schließt sich der Kreis der Überlegungen von Krings zur Freiheitsproblematik. Formal unbedingte Freiheit begründet ihm zufolge Systeme, die wiederum dazu gedacht sein sollten, reale Freiheit zu ermöglichen. Die Annahme einer notwendig zu denkenden transzendentalen Dimension von Freiheit hat Kritik nach sich gezogen. Annemarie Pieper wirft Krings vor, dass im Begriff der praktischen Freiheit bereits alle denkerisch notwendigen Momente enthalten seien. Mit Kierkegaard versucht sie aufzuzeigen, dass im Freiheitsbegriff keine drei Dimensionen zu unterscheiden seien und Krings selbst Dimensionen aufwerfe, die sich voneinander nicht mehr trennen ließen. Denn Krings würde keinen Unterschied zwischen den Begrifflichkeiten der transzendentalen und der praktischen Dimension von Freiheit erkennen lassen. Zum einen habe er behauptet, dass der transzendentale Akt präreflexiv verlaufe – er könne also nicht als theoretischer, sondern nur als praktischer Akt vorgestellt werden –, zum anderen habe er Termini verwendet, die dem Akt praktischer Freiheit entsprechen würden. Wenn aber sowohl transzendentale als auch praktische Freiheit sich durch „Anerkennung, Setzung, Entschluß, Wille, Unbedingtheit“ auszeichneten, dann könne entweder „Sprachäquivokation“ angenommen werden, oder aber – und das ist der von Pieper diagnostizierte zweite Kritikpunkt – die „Strukturen sind unendlich iterierbar.“ 70 „Denn was hindert die Reflexion daran, transzendentale Freiheit wiederum als begründungsbedürftig anzusehen und nach einer Freiheit zu fragen, die ihrerseits den Entschluß zur Anerkennung von Regelhaftigkeit überhaupt begründet usf.?“ 71 Den dritten Kritikpunkt hat auch Rudolf Malter später aufgeworfen. Pieper und Malter monieren, dass Krings auf der Ebene der transzendentalen Freiheit „andere Freiheit“ einführe und diese andere Freiheit sogar explizit als die „Freiheit ,des anderen‘ als Vernunftwesen“ bestimme. 72 „Wie soll man“, so Malter, „‘andere Freiheit‘ hypostaselos denken?“ 73 Außerdem kann, Pieper zufolge, auf transzendentaler Ebene „zwischen Freiheit und ,anderer‘ Freiheit nicht mehr bzw. noch gar nicht differenziert werden.“ 74

68 69 70 71 72 73 74

Krings, Reale Freiheit, 67. Vgl. Krings, Reale Freiheit, 67; Krings, Replik, 369 f. Pieper, Die Wahl der Freiheit, 79. Pieper, Die Wahl der Freiheit, 79. Krings, Handbuchartikel Freiheit, 124. Malter, Gott ist doch kein Wahn, 360. Pieper, Die Wahl der Freiheit, 79.

5.3. Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit

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Sowohl Malter als auch Pieper verweisen folglich auf eine Überfrachtung des Begriffs transzendentaler Freiheit. Auf die Frage nach der Erkennbarkeit anderer Freiheit auf transzendentaler Ebene reagiert Krings in seiner Replik im Rahmen seiner Festschrift nicht, gleichwohl repliziert er auf die ersten beiden Anfragen Piepers. Dort nimmt Krings gerade Kierkegaard, welchen Pieper gegen Krings ins Feld führt, für sich in Anspruch und weist auf dessen Differenzierung zwischen der „Freiheit der Wahl“ und der „Wahl der Freiheit“ hin, die von Pieper selbst hervorgehoben worden sei. 75 Diese Unterscheidung entspreche genau jener zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit. Praktische Freiheit sei die Wahl zwischen Gut und Böse. Um diese Wahl überhaupt treffen zu können, müsse eine transzendentale Wahl der Freiheit als eine unbedingte Affirmation der Freiheit gedacht werden. „Die transzendentale Freiheitslehre expliziert vielmehr das von Pieper genannte Selbstbegründungsverhältnis der sittlichen Freiheit.“ 76 Mithilfe eines letzten Verweises auf den Zusammenhang von transzendentaler Freiheit und Faktizität soll die Analyse der Freiheitsphilosophie ein erstes Fazit erfahren. Krings leugnet nicht, dass Menschen sich immer bereits in einer Welt vorfinden und sich dieser Welt gegenüber verhalten müssen. Das vorgefundene Gegebene oder auch abgeschlossene Ereignisse seien nicht revidierbar. Jedoch könnten Menschen sich zu diesem Erfahrenen verhalten. In diesem Akt des Sich-Verhaltens komme die menschliche Freiheit zum Ausdruck. „Der Begriff der transzendentalen Freiheit ist nicht ein Gegenbegriff zu dem der Faktizität, sondern bedeutet die Möglichkeit eines qualifizierten Verhältnisses zur Faktizität des Unverfügbaren.“ 77 Des Weiteren hebt Krings hervor: „Die transzendentale Freiheit ist nicht absolute Philosophie, sondern der Versuch zu begreifen, warum ein zeitliches und endliches Wesen wie der Mensch sich unbedingt in Verantwortung genommen weiß und warum er sein geschichtlich bedingtes und zeitlich endliches Handeln letztlich nicht anthropologisch oder historisch relativieren kann.“ 78

Krings begründet resümierend mit seiner transzendentallogischen Freiheitsphilosophie nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine dreidimensionale Theorie der menschlichen Freiheit. Er geht vom Begriff realer Freiheit aus, welcher sich für ihn vor allem in politischer und sozialer Handlungsfreiheit ausdrückt. Krings setzt also am Faktum menschlicher Freiheit an, die sich ausschließlich in soziokulturellen Rahmenbedingungen ausagiert. Von diesem Faktum ausgehend, fragt er in einem nächsten Schritt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Faktums. Den Ausgangspunkt stellt somit die reale Lebenswelt und die darin Wirklichkeit werdende menschliche Freiheit dar. Pieper und Malter kritisieren, dass Krings den Weg der reinen transzendentalen Analyse verlassen habe, wenn er nicht nur unbedingte Frei75 76 77 78

Pieper, Die Wahl der Freiheit, 75. Krings, Replik, 389. Krings, Replik, 397. Krings, Replik, 396.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

heit als Bedingung der Möglichkeit von praktischer Freiheit denke, sondern auf dieser Ebene bereits andere vernunftbegabte Wesen erkenne lasse. 79 Gegen diese Kritik lässt sich einwenden, dass die transzendentale Freiheit zwar als unbedingte Bedingung der Möglichkeit von sittlicher und realer Freiheit gedacht werden muss, dies aber nicht bedeutet, dass sie außerhalb von Zeit und Raum zu denken ist. Denn der Ausgangspunkt der transzendentalen Reduktion, bei welcher transzendentale Freiheit als Dimension gedacht wird, ist der irdische, in eine soziale Umwelt eingebundene, Mensch. Der transzendentale Akt des Sich-Öffnens vollzieht sich also immer bereits in der Welt, auch wenn er nicht empirisch greifbar, sondern nur transzendentallogisch einholbar ist. Die zweite Dimension, die der praktischen, regelbegründenden Freiheit, führt Krings mit Verweis auf Kant als Grundlage gesellschaftlicher Regeln beziehungsweise existierender politischer Systeme ein. Aber erst die transzendentale Freiheit als jene notwendig zu denkende Dimension von Freiheit, welche Freiheit und Regelhaftigkeit affirmiere, ermögliche in ihrer Unbedingtheit ein begründetes Urteil über Gut und Böse. Erst die unbedingte Dimension transzendentaler Freiheit könne erklären, wieso überhaupt Regeln sein sollten und nicht vielmehr keine Regeln. Transzendentale Freiheit kann nach Krings als unbedingter Akt des Entschlusses gedacht werden, in welcher nicht nur die eigene formale Freiheit, sondern auch die Freiheit des anderen als Gehalt von Freiheit affirmiert wird.

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings Mit dem Nachdenken über den Begriff des Gehalts von transzendentaler Freiheit gerät bei Krings auch der Gottesbegriff in den Blick, wobei er stets Wert darauf legt, dass der Name ,Gott‘ eine religiöse Erfahrung widerspiegle, die der philosophischen Reflexion vorgeordnet sei. Die Philosophie könne einzig mit ihren eigenen Methoden, beispielsweise der der Transzendentalphilosophie, die religiösen Erfahrungen reflektieren. 80 Sein Gottesbegriff soll nachfolgend in einem ersten Schritt skizziert werden (5.4.1.). Der Analyse zuträglich wird dabei die Untersuchung der von Krings immer wieder hervorgehobenen, expliziten Abgrenzung von klassischen Gottesbegriffen sein (5.4.2.). Dabei muss auch noch einmal die Rolle, die Krings Wilhelm von Ockham zuschreibt, betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund wird seine Rezeption von F. W. J. Schelling begreifbar werden, die selbst wiederum eine letzte Perspektive auf den von Krings ausgebildeten Gottesbegriff bieten wird (5.4.3.). 79 Vgl. Pieper, Wahl der Freiheit, 79; Malter, Gott ist doch kein Wahn, 360. 80 Vgl. Krings/Simons, Gott, 615 f.

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings

193

5.4.1. Gott als der Begriff vollkommener Freiheit Krings nähert sich dem Gottesbegriff explizit über den Begriff menschlicher Freiheit an. Mehrfach betont er, dass er nicht den klassischen Weg der „via eminentiae et analogiae“ 81 begehen möchte, sondern mithilfe der transzendentalen Analytik einen Begriff von Gott ausbilden werde. Das bedeutet für ihn die „begriffliche und logisch kontrollierte Zurückführung eines Gegebenen auf ein nicht Gegebenes [...], ohne welches das Gegebene nicht als möglich gedacht werden kann.“ 82 Er vollzieht also den soeben beschriebenen Prozess, der sich denkerisch von realen Freiheitserfahrungen auf die Dimension transzendentaler Freiheit als unbedingte Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung konstruierend bezieht, und versucht von diesem ausgehend einen Begriff von Gott auszubilden. Es konnte gezeigt werden, dass Krings im Begriff transzendentaler Freiheit die formale Unbedingtheit von der Gehaltlichkeit unterscheidet: „Freiheit als transzendentaler Entschluß ist um der Unbedingtheit willen an sich gehaltlos; ihre Gehaltlichkeit gewinnt sie durch den Terminus des transzendentalen Sichentschließens“. 83 Wolle die formale Unbedingtheit der Freiheit nicht rein formal und damit leer bleiben, sondern sich auch materialiter selbst bestimmen, müsse sie sich für Gehalt öffnen. Fraglich ist nun, wie dieser Gehalt ausgestaltet sein muss, um das „Kriterium, das gehaltlich Erfüllende der Selbstbestimmung zu sein“, 84 zu erfüllen. Auch dies wurde bereits angedeutet. Zwar gibt Krings zu, dass formal jeder beliebige Gehalt das Kriterium von Gehaltsein erfülle, aber damit sei noch nicht das Kriterium des gehaltlich Erfüllenden der Selbstbestimmung der Freiheit gewonnen. „Material erfüllend ist der Gehalt erst dadurch, daß er als Terminus in gleicher Weise durch das Moment der Unbedingtheit ausgezeichnet ist wie der Aktus des transzendentalen Entschlusses selbst.“ 85 Der erfüllende Gehalt von formal unbedingter Freiheit könne demnach nur ebenfalls formal unbedingte Freiheit sein. Freiheit müsse sich also, sofern sie als „eine sich als Freiheit setzende Freiheit“ verstanden werde, für andere Freiheit öffnen und diese affirmieren. 86 Denn nur andere Freiheit als Terminus der Selbstbestimmung von Freiheit könne zum erfüllenden Kriterium der Selbstbestimmung von Freiheit als Freiheit werden. Endliche Freiheit ist zwar formal unbedingt und erfüllt damit ein Teilkriterium von erfüllender Gehaltlichkeit. Krings spricht daher auch von der „realisierte[n] Freiheit im Kommerzium freier Wesen“, denn ohne dieses Kommerzium könne „Freiheit nicht vollständig gedacht werden.“ 87 81 82 83 84 85 86 87

Krings/Simons, Gott, 634; vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 176. Krings/Simons, Gott, 633; vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 171. Krings/Simons, Gott, 635. Krings/Simons, Gott, 635 f. Krings/Simons, Gott, 636. Krings/Simons, Gott, 636. Krings/Simons, Gott, 637. Vgl. auch Krings, Versuch Gott zu denken, 174: „Der erfüllende

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

Gleichwohl ist die endliche Freiheit aufgrund ihrer materialen Begrenztheit immer bereits limitiert. „Das Kommerzium freier Wesen weist insofern über sich hinaus; die Relation, durch die es konstituiert ist, verweist durch den ihr innewohnenden Charakter der Unbedingtheit strukturell auf unbedingte und vollkommene Freiheit als das schlechthin Erfüllende endlicher Freiheit. Das strukturelle Verweisen des Kommerziums der Freiheit auf vollkommene Freiheit gilt auch im umgekehrten Richtungssinn: das Sichöffnen einer Freiheit für andere Freiheit und deren Bejahung gewinnen nur dann die angemessene Offenheit, wenn sie durch den Bezug auf unbedingt-vollkommene Freiheit qualifiziert sind.“ 88

Freiheit realisiert sich zusammenfassend nur durch den Terminus anderer, formal unbedingter Freiheit. Im Kommerzium freier Wesen ist demnach für Krings Freiheit realisiert. Gleichwohl weist ihm zufolge nicht nur bereits das Sich-Öffnen einer Freiheit für andere Freiheit auf formal und material unbedingte, und somit vollkommene Freiheit hin, sondern auch das Kommerzium freier Wesen ist auf vollkommene Freiheit ausgelegt. Der Begriff der vollkommenen Freiheit ist für Krings ein notwendiger Begriff, ohne welchen Freiheit in ihrer transzendentalen Analyse nicht gedacht werden könne, denn nur „in bezug auf vollkommene Freiheit kann Freiheit das sein, was sie sein will.“ 89 Dieser Begriff vollkommener Freiheit ist für Krings nicht identisch mit Gott; er steht erst einmal für sich. Somit lässt sich innerhalb der Strukturanalyse menschlicher Freiheit kein notwendiger Gottesbegriff denken. Doch Krings vermerkt explizit – und damit wird der Raum für die Anschlussfähigkeit der Theologie geboten –, dass diese Analyse die Möglichkeit eröffne, „einen Begriff von Gott zu denken.“ 90 Und diese begrifflich eröffnete Möglichkeit, Gott zu denken, führt Krings selbst aus. Er bekennt, dass Gott, gedacht als vollkommene Freiheit, Ähnlichkeiten aufweise zu jenem Gottesbegriff, „der sich aus den Schriften des Alten und des Neuen Testaments gewinnen läßt.“ 91 Im Alten Testament wird Gott, Krings’ Meinung nach, gedacht als jener, der sich frei dem Volk Israels öffne und darauf warte, dass Israel antworte, indem es sich ebenfalls frei entschließe und auf das Wort Gottes einlasse. Bereits im Alten Testament lasse sich das Geschehen zwischen Gott und Mensch somit als ein Kommerzium freier Wesen interpretieren. Gott eröffne den Dialog, indem er sich für andere Freiheit öffne, und Israel reagiere durch seinen Entschluss auf die göttliche Gesprächseröffnung. Im Neuen Testament werde mit dem Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe auf transzendentale Freiheit rekurriert, denn es gehe nicht um neue Gebote, sondern um die Ebene der Regelbegründung. Somit zeige sich die Neue-

88 89 90 91

Inhalt der Freiheit kann, sofern er ihr der Form und Dignität nach nicht nachstehen soll, kein anderer sein als Freiheit.“ Krings/Simons, Gott, 637. Krings, Versuch Gott zu denken, 177; vgl. Krings/Simons, Gott, 637. Krings, Versuch Gott zu denken, 177. Krings, Versuch Gott zu denken, 179.

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings

195

rung des Neuen Testaments nicht in einem im Alten Testament nicht existenten Gebot, sondern in einer Verschiebung der Dimensionen. Im Neue Testament wird nach Krings nicht auf das Erlassen von neuen Gesetzen gedrängt, sondern es wird eine Perspektivenverschiebung angemahnt. Vor dem Hintergrund des unbedingten Entschlusses Gottes für die Menschen sollten sich diese für andere Menschen öffnen. Die Liebe für den Mitmenschen und das unbedingte Sich-Öffnen für diesen sollen sich demnach immer im Hinblick auf die vollkommene Freiheit Gottes vollziehen, die sowohl Ermöglichung endlicher Freiheit als auch Erfüllung dieser meint. Damit hat sich für Krings der im Kontext der transzendentallogischen Analyse von Freiheit gewonnene Begriff von vollkommener Freiheit für einen Offenbarungsbegriff als fruchtbar erwiesen. 92 Gott, gedacht als vollkommene Freiheit, offenbare sich für den Menschen durch sein transzendentales Sich-Öffnen für andere, formal unbedingte Freiheit. Vor diesem Hintergrund erschließen sich die Aussagen Krings’ über Ockhams Theologie in neuartiger Weise. Wie der Titel seines Artikels Woher kommt die Moderne? bereits andeutet, interpretiert Krings Ockham als Wegbereiter zentraler, in der neuzeitlichen Philosophie entwickelten Gedanken. Mit seiner Umstellung des Ordo-Denkens auf ein Freiheitsdenken habe Ockham eminent wichtige Weichen für das Denkens Kants, aber auch für Krings’ eigenes Denken gestellt. Denn Krings deutet Ockham vor dem Hintergrund seiner transzendentalphilosophischen Freiheitsanalysen. Ockham habe den Vorrang der Freiheit vor jeglicher Ordnung postuliert, Ordnung also aus Freiheit entspringend gedacht. Damit Ordnungen in Freiheit begründet werden können, so lässt sich im Anschluss an Krings weiterdenken, muss immer bereits die transzendentale Dimension von Freiheit mitgedacht werden. Das hat Ockham zwar selbst noch nicht explizit so formuliert. Gleichwohl lassen die Kategorien potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata genau diese Denkoperation als möglich erscheinen. Ein Handeln innerhalb eines bestehenden Ordnungsrahmens ist nur dann als frei zu denken, wenn die Ordnung als aus Freiheit entsprungen gedacht wird. Freiheit erhält damit mehrere Dimensionen: reale Freiheit und praktische Freiheit. Der Begriff praktischer Freiheit von Krings spiegelt sich im Begriff der potentia absoluta Ockhams wider. Die potentia absoluta wurde von letzterem als Horizont der Möglichkeiten interpretiert, vor welchem sich die potentia ordinata erst als frei denken lässt. Ockham wendete diese Begriffe vor allem im Kontext seines Gottdenkens an. Krings interpretiert die potentia absoluta als Deutungskategorie dafür, dass Gott nicht hilflos einer Ordnung gegenüberstehe, sondern diese in Freiheit begründe. Dafür muss nach Krings bereits die transzendentale Freiheit als Affirmation von regelsetzender und regelanwendender Freiheit gedanklich vorausgesetzt werden. Daher wehrt Krings den Gedanken einer metaphysischen Willkürfreiheit für den Gottesbegriff Ockhams ab und akzentuiert stattdessen die Möglichkeit, das Konzept transzendentalphilosophisch auszubuchs92 Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 179–181; Krings/Simons, Gott, 639.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

tabieren. 93 Die potentia Dei absoluta wird dabei als Bedingung der Möglichkeit von Ordnung gedacht. Zusammenfassend sieht Krings demnach in Ockhams Gotteslehre einen Vorläufer seiner eigenen Philosophie. Das Konzept der Unterscheidung von potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata, wie es Ockham nutzt, kann nach Krings transzendentalphilosophisch als Differenzierung von Freiheitdimensionen interpretiert werden und eröffnet somit die Möglichkeit, Freiheit nicht nur in ihrer realen und praktischen Dimension, sondern auch in ihrer transzendentalen Facette zu denken. In den Passagen über die theologische Ausdeutung des Begriffs vollkommener Freiheit greift Krings Ockhams gleichwohl nicht auf. Inwiefern sich die genannten Gedanken theologisch fruchtbar machen und zudem auf den Fragekomplex nach dem göttlichen Vermögen zum Bösen übertragen lassen, wird im nachfolgenden systematischen Teil aufgegriffen. Die positiven Aussagen von Krings über den Zusammenhang seines Begriffs vollkommener Freiheit und einem Gottesbegriff sind in quantitativer Hinsicht übersichtlich. Um den Gottesbegriff von Krings weiter zu erschließen, bietet es sich daher an, seine Abgrenzungen von anderen Gottesvorstellungen miteinzubeziehen.

5.4.2. Ontologische Gottesbegriffe als Abgrenzungsfolie Krings stellt klar, dass er sich einem Gottesbegriff nur „via reductionis“ 94 nähere. Diese Herangehensweise möchte er explizit als divergent zum nach ihm klassischen Weg des Gottdenkens der via eminentiae verstanden wissen. 95 Von der Antike bis in 93 Krings, Woher kommt die Moderne, 22. 94 Krings/Simons, Gott, 636. 95 Vor dem Hintergrund der strikten Distanzierung Krings’ von der „via eminentiae et analogiae“ (Krings/Simons, Gott, 634) muss der historischen Korrektheit wegen darauf hingewiesen werden, dass Krings noch 1964 in seinem Artikel Wie ist Analogie möglich? (Vgl. Krings, Analogie) die Analogie als einzig mögliche menschliche Denkform hervorgehoben und ihr den logisch primären Rang vor der Univozität zugewiesen hat. Krings erklärt dort: „Daraus ergibt sich, daß selbst dort, wo durch die logische Operation der Abstraktion die Univozität hergestellt und der univoke Begriff gerade als univoker festgehalten werden soll, sie nur in einem eingeschränkten Sinn, nicht aber als absolute Univozität erhalten bleibt – wofern nur überhaupt gedacht und gesprochen wird. Die Kehrseite der Univozität liegt also darin, daß der univoke Begriff in keinem wirklichen Urteil auftritt; denn im wirklichen Urteil auftretend, ist die Bedeutung jedes Begriffs je durch die Verhältnisse mitbestimmt.“ (105) Die Suche nach einem univoken Begriff, auf den sich alle weiteren Begriffsbestimmungen aufbauen lassen, hält er für aussichtlos. Er resümiert: „Dieser Begriff könnte nicht univok gesetzt werden, da die ratio nominis, die zu abstrahieren wäre, in diesem Fall gleich Null ist. Er könnte mithin auch nicht definiert werden (es sei denn, man ließe diese Bestimmung, daß er leere Formalität oder nichts bedeute, als eine solche gelten). Sein wirklicher Bedeutungsgehalt würde voll und ganz den Verhältnissen entstammen, in denen er zu anderen Begriffen im Urteil steht. Er wäre der analoge Begriff schlechthin. – Diesen Grenzfall stellt der Begriff ,sein‘ dar. [...] Der Begriff ,sein‘ ist analoger Begriff schlechthin.“ (106) Gegen diese Logik

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings

197

die Frühe Neuzeit hinein sei Gott mithilfe (neu-)platonischer oder aristotelischer Begrifflichkeiten bestimmt worden, wie ,Sein‘, ,Wesen‘ oder ,Substanz‘, indem vom Menschen ausgehend die Termini „bis zu einem inhaltlichen und formalen Primum“ extrapoliert worden seien. 96 Antike philosophische Methoden, eine erste Ursache oder das Sein zu denken, seien mit dem Gott der jüdisch-christlichen Tradition synthetisiert worden. Ziel dieser Methode sei es gewesen, Gott reflexiv als das „logische Maximum eines ontologischen Begriffs zu konzipieren“. 97 Stellvertretend für diesen Ansatz nennt Krings die Bestimmung Anselm von Canterburys: „aliquid quo nihil maius cogitari potest“. 98 Diese Syntheseleistung sei im Mittelalter noch kein Problem gewesen, in der Neuzeit jedoch zunehmend problematisiert worden. Denn der jüdisch-christliche Gott werde als personales Wesen gedacht und die „Beziehung zwischen Mensch und Gott als personale und geschichtliche verstanden“. 99 Wenn aber das Personkonzept in zentraler Weise Freiheit voraussetzt, dann kann, so hebt Krings hervor, Gott nicht als Kausalursache des freien Menschen gedacht werden. 100 Den Bruch mit der ontologischen Tradition markiert für Krings erst Kant. Der Königsberger Philosoph habe mit den traditionellen Gottesbeweisen gebrochen und Gott aus dem Bereich der Objektwissenschaft verwiesen. Es sei ihm zufolge nicht möglich, über eine Reihe von Begriffen der Ontologie die Existenz eines solch prädizierten Wesens – Gott genannt – zu beweisen. Was die theoretische Vernunft nicht leisten könne, vollbringe für Kant unter anderen Umständen die praktische Vernunft. Kant habe aus moralischen Gründen die Notwendigkeit Gottes als sitt-

96 97 98 99 100

hat Pannenberg, Systematische Theologie, 373 Anm. 14, darauf verwiesen, dass „[d]er auf der Grundlage heutiger Sprachphilosophie gern zur Verteidigung der thomistischen Analogielehre geltend gemachte Gesichtspunkt, daß die Eindeutigkeit des Begriffs sekundär sei gegenüber einer ursprünglicheren, Gleichheit und Verschiedenheit umgreifenden Sprachform [...] den analogen Begriff mit der analogen Wortbedeutung [verwechsle]. Sicherlich ist die partielle Unbestimmtheit, daher auch Plastizität und geschichtliche Wandelbarkeit der Wortbedeutungen im alltäglichen Sprachgebrauch sprachphilosophisch fundamental gegenüber der begrifflichen Festlegung des Wortes auf einen eindeutigen Wortsinn. Für alle argumentierende Erkenntnisbemühung aber ist die Verbegrifflichung der Sprache unentbehrlich, und Begriffe müssen univok sein. In der Geschichte der Verwendung und Ausarbeitung des Analogiebegriffs als Instrument der Erweiterung des Wissens ist darum auch die Annahme eines Kerns univoker Gemeinsamkeit bei aller Beobachtung analoger Verhältnisse entscheidend gewesen.“ Vgl. zur Kritik des Analogiedenkens des Weiteren Kapitel 5.5. Krings, Versuch Gott zu denken, 164. Krings, Versuch Gott zu denken, 165. Krings, Versuch Gott zu denken, 164. Krings/Simons, Gott, 617. Krings/Simons, Gott, 617: „Das Wesen und die Wirklichkeit von Personsein als Freiheit besteht gerade darin, daß Freiheit Grund ihrer selbst ist, wenn anders der Mensch nicht prinzipiell unverantwortlich für seine Entscheidungen oder zu diesen sogar schlechterdings unfähig sein soll. Freies Personsein steht unter der Bedingung seiner selbst und ist insofern Grund seiner selbst.“

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

lichen Urheber der Welt, der die Übereinstimmung von Naturgesetzen und moralischem Gesetz garantieren könne, postuliert. Er sei dabei von der menschlichen Freiheit ausgegangen und von ihr zu einem für die praktischen Vernunft notwendigen Begriff Gottes gekommen. Zwar arbeitet Krings nicht mit moralischen Postulaten, gleichwohl nimmt er explizit Kant für sich als Orientierung in Anspruch. Wie er möchte Krings keine Ontologie oder Metaphysik betreiben, sondern von der Freiheit des Menschen ausgehend zu einem Begriff Gottes kommen. 101 Nichtsdestotrotz grenzt sich Krings von Kant ab, indem er den Begriff der Person für Gott zurückweist. Dieser habe im Gegensatz zum in der Neuzeit leer gewordenen „Begriff eines ontologischen primum“ – weil dieser eine Erfahrung interpretiere, „welche der neuzeitliche Mensch nicht in der Art mache“ – den Vorzug, dass er die biblische Erfahrung der Interpersonalität fasse. 102 Betrachte man die Begriffsgeschichte, werde der Personbegriff jedoch problematisch. Krings führt dessen Herkunft auf die neuplatonischen Hypostasenlehre zurück, in welcher der Begriff „persona“ den Begriff der „Substanz im Hinblick auf einen bestimmten modus existendi und zwar den modus per se existens“ spezifizierend bestimme. 103 Darin erkennt Krings einen erheblichen Unterschied zum jüdisch-christlichen Gottesbild des Alten und Neuen Testaments. In der Neuzeit habe sich die Bestimmung des Personbegriffs zwar verändert. Mit diesem sei nun versucht worden, ein sittliches, vernunftbegabtes Individuum auf den Begriff zu bringen. Aber auch das Ergebnis dieser Transformation hält Krings für ungeeignet, um die Gotteserfahrung begrifflich zu reflektieren. „Musste der Objektbegriff wegen einer falschen Vergegenständlichung des Inhaltes der Gotteserfahrung zurückgewiesen werden, so der Subjektbegriff wegen einer falschen Moralisierung und Individualisierung dieses Inhalts.“ 104 Außerdem moniert Krings, dass sich Subjektsein durch Intersubjektivität auszeichne, Gott aber die Subjektrelation transzendiere. Krings grenzt sich folglich von verschiedenen klassischen Versuchen des Gottdenkens ab und möchte lediglich an den in kantischer Tradition stehenden Freiheitsbegriff anknüpfen, um die religiöse Erfahrung, wie sie sich im Alten und Neuen Testament widerspiegelt, reflexiv einzuholen. Sein Verwerfen ontologischer und metaphysischer Ansätze begründet er mit der menschlichen Freiheitserfahrung, die es nicht mehr zulasse, Gott als erste Ursache einer Kausalkette zu denken, an deren Ende der Mensch stehe. Dieser werde dadurch in unzulässiger Weise objektiviert. Das erklärt Krings’ vehementes Beharren, dass „[d]ie Idee der unbedingten und vollkommenen Freiheit [...] kein metaphysischer Begriff in dem Sinne [ist], daß durch ihn ein Objekt gefasst wäre, das über alle mögliche Anschauung 101 102 103 104

Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 166–171. Krings/Simons, Gott, 629 f. Krings/Simons, Gott, 631. Krings/Simons, Gott, 631.

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings

199

hinaus liegt. Es ist überhaupt nicht der Begriff eines Objekts, sondern der Begriff eines notwendig zu denkenden Momentes in einem aktualen Bezug.“ 105

Dieser Begriff ermöglicht nach Krings den Anschluss an Vorstellungen einer Offenbarung. Metaphysisches Denken in Begriffen von Substanz und Ursache lasse einen Offenbarungsgedanken nicht zu, und müsse nicht nur, aber auch deshalb verabschiedet werden.

5.4.3. Das göttliche Vermögen zum Bösen anhand Krings’ SchellingRezeption In einem Aufsatz zu Schelling setzt sich Krings konkret mit der Frage nach einem göttlichen Vermögen zum Bösen auseinander, weshalb dieser nun als letzte Facette des Krings’schen Gottesbegriffs untersucht werden soll. Krings hatte sich seit den 1950er-Jahren immer wieder mit Schelling beschäftigt und war von 1973 bis 2001 Vorsitzender der Kommission für die Edition der Historisch-kritischen SchellingAusgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 106 Im Rahmen einer Tagung zur Freiheitsschrift von Schelling analysiert Krings in einem 1995 publizierten Artikel die Freiheit Gottes, wie sie von Schelling 1809 dargestellt wurde. Krings macht zu Beginn darauf aufmerksam, dass er Schelling transzendentalphilosophisch lese. Schelling habe versucht, die Bedingungen der menschlichen Freiheit zu ergründen und dabei eine Prinzipienlehre entworfen, die nicht ontologisch, sondern transzendentallogisch zu interpretieren sei. 107 Dies wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn Krings nicht 1979 noch betont hätte, dass 105 106

107

Krings/Simons, Gott, 637. Die Breite der Auseinandersetzung von Krings mit Schelling, welche sich in Texten zu Schellings früher Beschäftigung mit Platon über dessen Natur- und Freiheitsphilosophie bis zu den Weltalter-Fragmenten widerspiegelt, kann hier nicht im Detail nachvollzogen werden und soll daher lediglich mit folgendem Zitat veranschaulicht werden: „Der positive Bezug Schellings auf den platonischen TIMAIOS hat entscheidend das naturphilosophische Konzept seiner ,spekulativen Physik‘ geprägt. Diese Prägung endet mit dem Dominantwerden des Identitätsdenkens. Eine Philosophie der absoluten Einheit widerspricht der Lehre von einem der göttlichen Vernunft entgegengesetzten Prinzip der Realität. Im BRUNO geht Schelling zu diesem ,Plato‘ auf Distanz. In ,Philosophie und Religion‘ ist der Bruch mit dem Materiebegriff des TIMAIOS vollzogen. Dieser Bruch bedeutet nicht, daß mit der Identitätsphilosophie für Schelling das Problem der ,Materie‘ endgültig gelöst ist. In der Freiheitsschrift kehrt es im Kontext einer philosophischen Lehre von Gott wieder in der Differenz von Existenz und ,Grund von Existenz‘ (SW VII 357). Es rückt nunmehr als das Problem des Bösen abermals in den Mittelpunkt und abermals mit einem Bezug auf Platon.“ (Krings, Genesis und Materie, 150 f.) Vgl. zu Krings’ Schelling-Rezeption außerdem: Krings, Prinzip der Existenz; Krings, Vorbemerkungen; Krings, Natur als Subjekt. Vgl. Krings, Freiheit Gottes, 178.

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„[e]ine ,metaphysische Erklärung‘ der transzendentalen Freiheit [...] in der Tat ein seltsames Unternehmen [wäre], für das die Geschichte der Philosophie nicht viele Fälle kennt, als deren letzte aber Schellings ,Untersuchen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände‘ von 1809 genannt zu werden verdienen.“ 108

Welche Gründe Krings dazu verleitet haben, seine Meinung zu ändern, bleibt vorerst unklar. Zum besseren Verständnis soll sein Argumentationsgang verfolgt werden. Mit der These, Schelling arbeite transzendentalphilosophisch, geht die Abwehr anderer Theorien einher, nämlich, dass Schelling zum einen mit metaphysischen Kategorien gearbeitet und zum anderen ein anthropomorphistisches Gottesbild entworfen habe. Zwar habe Schelling, führt Krings aus, von der Persönlichkeit Gottes gesprochen, aber damit habe dieser nur die Relation von etwas Selbstständigen mit einer unabhängigen Basis ausdrücken wollen. Dies ist nach Krings kein Anthropomorphismus, sondern im Kontext der Freiheitsschrift der Ausdruck für ein dynamisches Prinzip, wie es sich in Prozessen der Natur oder in Freiheitsprozessen abspiele. 109 Gott als Persönlichkeit zu denken, meine, ihn als Freiheit zu begreifen, „doch nicht im formalen Sinn einer absoluten Wahlfreiheit und objektiven Allmacht, sondern als ,Existenz‘, das heißt als das freie Heraustreten aus sich. Die Allmacht Gottes besteht darin, sich zu offenbaren.“ 110 Damit tätigt Krings entscheidende Aussagen über das Schelling’sche Gottesbild. Erstens versteht Krings die göttliche Freiheit, wie sie Schelling 1809 ausführt, nicht als Wahl- und Handlungsfreiheit, sondern als Offenbarung. Diese Lesart ähnelt der in Kapitel 4.5. vorgenommenen Interpretation. Tatsächlich spricht Schelling, wie gezeigt werden konnte, sowohl in Bezug auf die „zwei gleich ewige[n] Anfänge der Selbstoffenbarung“ 111 aus dem Ungrund, als auch in Bezug auf die Schöpfung explizit nicht von einer Wahlfreiheit Gottes, sondern einem dem Wesen Gottes – der Liebe – entsprechenden Vorgang. Aus sich herauszutreten und sich somit zu offenbaren, setzt Schelling im Gottesbegriff mit Freiheit gleich. Gleichwohl macht diese Interpretation aufmerksam. Wendet man den Blick zurück auf die Vorstellung der transzendentalen Freiheit, wie sie Krings entworfen und dem Gottesbild des Alten und Neuen Testaments gleichgestellt hat, bekommt der Begriff der Offenbarung eine zusätzliche Bedeutung. Die Freiheit Gottes von Schelling meint nach Krings das Heraustreten aus sich selbst. Die Ähnlichkeit zu Krings eigener Charakterisierung der transzendentalen Freiheit sind eindeutig. Diese beschreibt er mit den Worten: der erste, unbedingte Akt sei das Sich-Öffnen, das Ent-schließen. Der erste Akt stelle ein Ausgehen auf Gehalt hin dar. Krings interpretiert, so die weiter zu prüfende These, den Schelling der Freiheitsschrift als Vordenker seiner eigenen Ideen. 108 109 110 111

Krings, Replik, 368. Krings, Freiheit Gottes, 178 f. Krings, Freiheit Gottes, 180. Schelling, AA I, 17, 161.

5.4. Der Gottesbegriff von Hermann Krings

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Aufmerksam machen zweitens die Abgrenzungen, die Krings gegenüber dem Schelling’schen Gottdenken tätigt. Schelling denke Gott als Freiheit und damit explizit nicht als „ein Absolutes, aus dem alles ,mit logischer Nothwendigkeit‘ folgt“, nicht als „die Eine Substanz im Sinne Spinozas“ und auch nicht als „‘moralische Weltordnung‘“ im Sinne Fichtes. 112 Diese Aussagen belegt Krings jeweils mit Zitaten aus Schellings Text. Zugleich bestärken sie die These, dass Krings die Freiheitsschrift von 1809 als Vorläuferdokument seiner eigenen Freiheitslehre liest. Weiter bekräftigt wird die These dadurch, dass Krings im nächsten Abschnitt darauf verweist, dass der Grund in Gott „weder ein logischer, noch ein ontologischer, noch ein metaphysischer Begriff“ sei, sondern ein „transzendentaler Begriff“. 113 Aus diesem gehe Gott hervor, nicht in dem Sinne, dass der Grund verloren gehe, sondern dass der Grund in Gott bleibe, Gott aber willentlich aus sich heraustrete – verstanden als „‘Handlung und That‘“. 114 Dieser Hervorgang dürfe also nicht mit Kategorien der Notwendigkeit beschrieben werden, sondern als willentlicher Vorgang. Der Wille sei dabei die „unbedingte Bedingung jenes Aktus der Freiheit, durch den [...] Gott [...] sich offenbar wird als Gott“. 115 Der Wille in Gott könne nur einen Inhalt haben, nämlich die göttliche Existenz. Die innergöttliche Entwicklung wird von Krings erneut in seinen eigenen transzendentalphilosophischen Kategorien dargestellt: „In der ,Existenz‘ setzt sich Gott sich selbst entgegen und ist in dieser Entgegensetzung mit sich selbst Eines. [...] Gott will sich; und eben damit setzt er den Unterschied: das, was ein innergöttliches Außersich ist. Die Einheit Gottes hat die Struktur eines in sich zurückgewendeten Prozesses des Heraustretens.“ 116

Krings gibt den von Schelling vorgenommenen Gedanken des göttlichen Werdens als jenen Prozess wieder, den er selbst mit den Termini von Transzendenz und Retroszendenz charakterisiert hat. Die ursprüngliche Einheit muss demzufolge so gedacht werden, als habe sie immer bereits den Prozess des Ausgreifens des Erkennenden auf anderes beziehungsweise auf Erkanntes vollzogen, wodurch das Erkennende nicht nur den Terminus als Erkanntes ausmacht, sondern sich selbst als Erkennendes reflektiert. Dieser ursprüngliche Prozess muss nach Krings als transzendentaler Grund, als Bedingung der Möglichkeit weiteren Ausgreifens auf anderes gedacht werden. Anhand dieses Prozesses der göttlichen Genese weist Krings noch einmal die Freiheitsdimensionen, die Schelling in seinen Gottesbegriff implementiert, aus. Freiheit und Notwendigkeit sind bei Schelling, wie Krings hervorhebt, eng miteinander verbunden. Im Werden Gottes könne das Wollen nur die göttliche Exis112 113 114 115 116

Krings, Freiheit Gottes, 179 f. Krings, Freiheit Gottes, 180. Krings, Freiheit Gottes, 181. Krings, Freiheit Gottes, 181. Krings, Freiheit Gottes, 182.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

tenz als Inhalt haben. Freiheit und Notwendigkeit würden somit ineinandergreifen. Freiheit wird dabei nicht als Wahlfreiheit verstanden, auch wenn Krings erneut von der „Tat der Freiheit“ spricht – und zwar sowohl in Bezug auf den innergöttlichen Hervorgang wie auch in Bezug auf die Schöpfung der Welt. 117 Damit markiert er die Problematik des göttlichen Freiheitsbegriffs Schellings. Schelling erklärt mehrfach, dass der Wille des Grundes kein freier, selbstbestimmter Wille sei, zugleich aber auch nicht als blind und in Notwendigkeit sich vollziehend gedacht werden dürfe. Außerdem möchte Schelling die Schöpfung als Freiheitstat Gottes verstanden wissen, nicht aber als Ergebnis einer Wahlmöglichkeit, sondern als einzig mögliches Ergebnis der Selbstdarstellung göttlicher Liebe. Wenn Gott aus sich heraustritt und sich offenbart, kann es nach Schelling nicht mehrere mögliche Welten geben, aus denen Gott auswählt, sondern es existiert genau eine einzige Möglichkeit, in welcher sich die Liebe Gottes ausdrückt, und diese wird Wirklichkeit. 118 Krings sieht dies nicht als Problem an, sondern hebt vielmehr den „Vorteil“ hervor, den dieses Gottesbild biete. 119 Denn wenn Gott nicht mit den Kategorien von Wahl- und Handlungsfreiheit beschrieben werde, würden zahlreiche klassische Probleme, wie das der Frage der Willkür Gottes und der Theodizee, entfallen. Besondere Relevanz komme diesem Thema in Bezug auf die Schöpfung zu. Krings analysiert, dass Schelling Gott nicht als Baumeister der Welt verstanden habe. „Die Welt ist überhaupt nicht das Resultat eines Bewirkens oder Machens; sie geht vielmehr in einem Handeln hervor“ und zwar als Produkt „der göttlichen Selbstoffenbarkeit“. 120 Die Welt müsse verstanden werden als „fortwährende Darstellung der ,Existenz‘ Gottes.“ 121 Als zentralen Unterschied zwischen Gott und Welt in Schellings Konzept markiert Krings die Trennbarkeit der Prinzipien. Während die Möglichkeit in Gott nicht existiere, zeichne sich seine Schöpfung gerade durch dieses Vermögen aus. Krings stellt die Möglichkeit des Bösen dabei als notwendiges Moment jener Schöpfung Gottes dar, die nicht er selbst ist. Damit also Gott und Welt nicht identisch seien, müsse notwendigerweise in der Welt die Möglichkeit zum Bösen, in Form der Trennbarkeit der Prinzipien, existieren. Der Grund dafür, dass Schelling die Wirklichkeit des Bösen dem göttlichen Geschöpf anrechnet und nicht Gott, liegt nach Krings darin, dass Schelling die Theodizeefrage habe ausschalten wollen. In einer außerzeitlichen Tat habe jenes die Trennbarkeit der Prinzipien in die Wirklichkeit der Zertrennung überführt. 122 Damit rückt nun die zentrale Frage dieses Abschnitts ins Zentrum: Wie bewertet Krings die strikte Trennung Schellings von Gott und dem Vermögen zum Bösen? Krings führt aus: 117 118 119 120 121 122

Krings, Freiheit Gottes, 182. Vgl. Schelling, AA I, 17, 160–163. Krings, Freiheit Gottes, 176, 177. Krings, Freiheit Gottes, 183. Krings, Freiheit Gottes, 183. Vgl. Krings, Freiheit Gottes, 184–187.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings

203

„Wenn nur vom Wesen der menschlichen Freiheit her eine menschliche Rede von der Freiheit Gottes denkbar ist, dann stehen wir vor einer erheblichen methodischen Schwierigkeit; denn diesen, den realen und lebendigen Begriff der menschlichen Freiheit auf Gott zu übertragen ist a limine ausgeschlossen. Der Weg einer analogen Rede, auch der einer anthropomorphen Rede und erst recht die via eminentiae sind versperrt.“ 123

Krings lobt diese Sperrung als vorteilhaft. Traditionelle Probleme und „Friktionen“ zum Umgang mit Begriffen der „Allmacht oder der Allwissenheit Gottes“ würden entfallen, und für den „Begriff einer Rechtfertigung Gottes fehlt schlechthin der Ansatz.“ 124 Daher sei der Ansatz Schellings, Gottes Freiheit transzendentalphilosophisch zu erörtern und seine Freiheit als Heraustreten beziehungsweise Offenbarung zu interpretieren, sinnvoll. „Gott eine Freiheit zum Bösen zu unterstellen hieße, den Begriff Gottes annullieren.“ 125 Diese Aussage ist äußerst bemerkenswert und soll, da sie von Krings als eigene Meinung und nicht als Meinung Schellings referiert wird, im Gesamtkontext des Gottesbildes von Krings gelesen werden.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings, oder: Zwischen vollkommener Gutheit und dreidimensionaler Freiheit Die Untersuchung konnte zeigen, dass Krings aus seinem transzendentalphilosophischen Ansatz über die menschliche Freiheitsproblematik den Begriff vollkommener Freiheit entwickelt. Vollkommene Freiheit wird dabei gedacht als formal 123 124

125

Krings, Freiheit Gottes, 176. Krings, Freiheit Gottes, 177. Der These, dass eine Theodizee durch Schelling nicht mehr notwendig sei, muss widersprochen werden. Wie in den Kapiteln 4.3.3–4.5 aufgezeigt wurde, kann Schelling die Probleme der Theodizee nicht entkräften. Sein Konstrukt einer transzendentalen Tat, welche vorbewusst und außerhalb der Zeit stattgefunden haben soll, kann den Menschen gerade nicht verantwortlich machen für die Wirklichkeit des Bösen. Die transzendentale Tat prädestiniert die reale Freiheit des Menschen und kann zugleich dem Menschen nicht angelastet werden, wenn dieser dort unbewusst entschieden haben soll. Wenn nun nicht der Mensch für die Wirklichkeit des Bösen verantwortlich gemacht werden kann, stellt sich erneut die Frage nach der Verantwortung Gottes, der explizit als Schöpfer der Welt genannt wird. Hierzu sollen an dieser Stelle lediglich zwei Hinweise gegeben werden. Zum einen wurde jene Textstelle besprochen, in welcher Schelling das Böse als Notwendigkeit beschreibt, damit sich Gott als Liebe offenbaren könne. Zum anderen ist der Grund von Existenz in Gott, welcher für die Möglichkeit des Bösen in Gott verantwortlich gemacht wird, im göttlichen Ungrund fundiert. Diesen beschreibt Schelling zwar einerseits als prädikatlos, nennt aber andererseits ein Ziel, das dieser Ungrund verfolgt. Damit wird erneut fraglich, ob Schelling sich nicht doch Fragen der Theodizee gefallen lassen muss. Vgl. außerdem Hermanni, Die letzte Entlastung. Krings, Freiheit Gottes, 176.

204

5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

und material unbedingte Freiheit. Transzendentalphilosophisch ist nach Krings keine weitere Beschreibung möglich. Gleichwohl traut er sich, diesen Begriff, gedacht als erfüllender Gehalt menschlicher Freiheit, mit den Gottesbildern des Alten und Neues Testaments zu parallelisieren, um jene religiösen Erfahrungen in philosophischen Reflexionen über den Gottesbegriff zu systematisieren. Sowohl im Begriff vollkommener Freiheit als auch im Gottesbegriff insbesondere des Alten Testaments wird Gott ihm zufolge als der sich frei für Gehalt Eröffnende gedacht. Damit ist der Begriff der transzendentalen Freiheit eingeholt. Dementsprechend muss der einzig angemessene Gehalt der sich öffnenden Freiheit Gottes als andere formal unbedingte Freiheit gedacht werden – die menschliche Freiheit. Die menschliche Freiheit sei im Alten Testament, so führt Krings aus, im Volk Israel veranschaulicht, das auf das Wort Gottes reagiere, indem es sich ebenfalls öffne und zuhöre. 126 Gott wird demnach von ihm in den Kategorien der transzendentalen Freiheit als vollkommene Freiheit beschrieben. Mit dem Gedanken des göttlichen Öffnens für andere Freiheit hält Krings das Konzept der Offenbarung für denkbar. Darüber hinaus ist Krings streng darauf bedacht, Gott nicht in klassischen, ontologischen Dimensionen zu denken. Im oben analysierten Schelling-Artikel eröffnet Krings eine weitere Dimension seines Gottesbildes, wenn er – ohne weitere Ausführungen – feststellt, dass der Begriff Gottes annulliert werden würde, wenn man ein Vermögen zum Bösen integrieren würde. Aufgrund der streng systematischen Kohärenz, mit der Krings denkt, ist davon auszugehen, dass diese These nicht isoliert steht, sondern in den bisher entworfenen Gottesbegriff als vollkommene Freiheit integrierbar sein soll. In Krings’ Vergleich seines Gottesbegriffs mit dem biblischen ist nur die transzendentale Dimension von Freiheit in den Blick genommen worden, verstanden als das ursprünglich Öffnende für andere Freiheit. Es stellt sich die Frage, wie man sich das Öffnen für andere Freiheit, und – Krings geht weiter – für andere „Vernunftwesen“ 127 auf transzendentaler Ebene vorzustellen hat. Dabei lässt sich konstatieren, dass Krings die transzendentale Freiheit als personale Freiheit konstruiert und er die Dimension transzendentaler Freiheit mit ihren personalen Akten ohne weiteres auf den Gottesbegriff überträgt. Freiheit als personale Freiheit zu definieren ist vor dem Hintergrund einsichtig, dass Krings zuerst versucht, die menschliche Freiheit zu ergründen. Gleichwohl irritiert der Transfer insofern, als dass Krings immer wieder hervorhebt, dass die Übertragung von Prädikaten, die der Beschreibung des Menschen dienten, auf Gott unzulässig sei, und davor warnt, Gott als Person zu denken, „wegen einer falschen Moralisierung und Individualisierung“ 128 Gottes. Hierzu müssen zwei Anmerkungen aus philosophischer Perspektive gemacht werden. 126 127 128

Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 178 f. Krings, Handbuchartikel Freiheit, 124. Krings/Simons, Gott, 631.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings

205

Krings kritisiert erstens im Anschluss an Kant zurecht ein ontologisches Partizipationsdenken, in welchem Begriffe vom Menschen durch Extrapolation auf den Gottesbegriff übertragen wurden. Kant konnte aufzeigen, dass aus der Begriffsbildung eines höchsten Seins nicht notwendigerweise dessen Existenz gefolgert werden kann. Der Begriff korrespondiert nicht mit einer menschlichen Erfahrung, was den Begriffsgehalt entleert. 129 Daher ist die Folgerung Krings’ richtig, dass nicht hinter die kantische Erkenntnis zurückgegangen und, eine hierarchische Reihenfolge des Seins zugrunde legend, Begriffe analog auf den objektivierten Gott übertragen werden können. 1964 distanziert sich Krings in einem Artikel über die Analogizität des Denkens 130 noch von einem Univozitätsdenken, setzt es aber später stillschweigend voraus. Wegweisend für letzteres war Duns Scotus, wie mittlerweile mehrfach gezeigt werden konnte. 131 Dieser hob in Kritik am ontologisch-partizipatorischen Analogiedenken hervor, dass „alle analoge Prädikation ihrerseits schon eine univoke Grundlage erfordert und voraussetzt“. 132 Die Analogielehre baut auf dem neuplatonischen Gedanken der ontologisch-kausalen Partizipation aller Geschöpfe an Gott auf und setzt die Annahme voraus, dass auf dieser Basis von der menschlichen Vernunft unabhängig existierende Allgemeinbegriffe Rückschlüsse auf Gottes Wesen zuließen, durch die Extrapolation der Termini im Dreischritt von via affirmativa – via negativa – via eminentiae. Damit verlieren die Begriffe jedoch ihre Bestimmbarkeit und es droht Äquivokation. Das Problem der analogen Rede ist, dass „der Nachweis nicht gelungen [ist], daß die analoge Prädikation als ein eigenständiges Drittes zwischen univoker und äquivoker Aussageweise bzw. Begriffsform aufzufassen sei“. 133 Analoge Rede setzt immer bereits die Annahme der begrifflichen Univozität voraus. Denn Begriffe können nur äquivok oder univok gebildet werden. Entweder sie bleiben aufgrund ihrer Divergenz unverständlich, oder sie haben einen eindeutigen Kern. „Doch hebt diese neue Denkform die vorrangige Intention negativer Theologie, die Differenz zwischen Gott und seinen Geschöpfen und die Unverfügbarkeit Gottes denken zu wollen, keineswegs auf“, 134 wie Magnus Striet 129 130 131 132 133 134

Vgl. Kant, KrV, B 620–B 630 / A 592–A 602, bes. B 629 / A 601. Vgl. Krings, Analogie. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, bes. 373; Striet, Offenbares Geheimnis, bes. 126–151. Pannenberg, Systematische Theologie, 373 Anm. 14. Pannenberg, Systematische Theologie, 373 Anm. 14. Striet, Offenbares Geheimnis, 107. Vgl. auch Kreiner, Antlitz Gottes, 83–91. Dieses entscheidende Kriterium lässt sich auch als Anfrage an Saskia Wendel und Martin Breul formulieren. Wendel empfiehlt in ihrem Artikel Wunsch, 27, als „Gegengift gegen jede allzu anthropomorph sich gestaltende Rede von Gott“ die „Analogie“. Diese dürfe „nicht mehr ontologisch als ,analogia entis‘ aufgeladen, sondern allein als Sprachform verstanden“ werden. Wendel erklärt jedoch nicht, ob sie der analogen Rede einen univoken Begriffskern zugrunde legt, oder ob sie die Möglichkeit eines dritten Wegs zwischen Univozität und Äquivozität gefunden hat. Dieselbe Frage richtet sich an Martin Breul, der sich in Gottes

206

5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

aufgezeigt hat. Denn erst vor dem Hintergrund der Univozität von Begriffen lassen sich Unterschiede markieren. Erst mit der philosophisch reflektierten Glaubensannahme, dass vor allem ein univoker Seinsbegriff sowohl für den Menschen als auch für Gott zu gelten hat, ist eine Basis geschaffen, die es ermöglicht, Unterschiede begrifflich zu markieren. Denn der Seinsbegriff ist aufgrund seiner Prädikatlosigkeit die logisch notwendige, allgemein geltende Minimalbestimmung, auf welcher Bestimmungen erst möglich werden. Vor dieser philosophischen Einsicht muss sich jede theologische Rede von Gott als Glaubensaussage reflektieren. Der geglaubte Gott kann existieren, muss es aber nicht, und bewiesen werden kann seine Existenz weder über den kosmologischen oder den ontologischen Weg, geschweige denn mittels etwaiger anderer Verfahren, auch wenn es ein Bedürfnis der menschlichen Vernunft darstellt, „irgend ein Etwas (den Ungrund) als unbedingt notwendig existierend anzunehmen“. 135 Oder, wie Rainer Forst es formuliert: „Der vernünftige Glaube weiß, dass er ein Glaube ist.“ 136 Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass, auch wenn in glaubender Annahme der Selbstoffenbarung Gottes im Juden Jesus von Nazareth von diesem Gott Aussagen getroffen werden, nicht gewusst wird, ob ein Gott existiert, der mit diesen Prädikationen korrespondiert. Wenn geglaubt wird, dass sich Gott im Menschen selbst offenbart hat und damit die Möglichkeit verbürgt, dass die menschliche Vernunft Aussagen über sein Wesen tätigt, dann stellt sich erneut die Frage, in welcher Form von einem möglichen Gott die Rede sein könnte. 137 Daran anschließend lässt sich in einem zweiten Schritt fragen, ob im Krings’schen Gottdenken nicht auch die Dimensionen praktischer und realer Freiheit in den Gottesbegriff zu implementieren sind. Der Begriff vollkommener Freiheit, wie Krings ihn konstruiert, lässt diesen Gedanken zu. Vollkommene Freiheit enthält nicht nur formal unbedingte Freiheit, wie sie ebenfalls dem Menschen zukommt, sondern darüber hinaus material unbedingte Freiheit. Vollkommene Freiheit muss folglich alle drei Dimensionen von Freiheit beinhalten. Übertragen auf den Gottesbegriff bedeutet das, dass auch in Gott alle drei Freiheitsdimensionen gedacht werden müssen. Zwar führt Krings diesen Transfer nicht explizit durch, er darf jedoch im Anschluss an ihn gedacht werden. Dies beinhaltet, dass Gott als Per-

135 136 137

Geschichte, bes. 422–427, explizit an Wendel anschließt und am klassischen Dreischritt von „via affirmativa – via negativa – via eminentiae“ (426) festhalten möchte. Ähnlich äußert sich Klaus von Stosch, Relational Theism, wenn er seinen Artikel zu einem „attempt to defend an analogical concept of Divine free will and Divine action“ (92) erklärt und hervorhebt: „Hence I would say that there is no univocal way to conceive human and divine free will.“ (93) Kant, KdU B 341 / A 337. Forst, Normativität und Macht, 129. Vgl. zur möglichen Rede von Gott Striet, Offenbares Geheimnis, 152–264. Lerch, Selbstmitteilung Gottes, bes. 110–120 hat, Striet rezipierend, sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings

207

son gedacht wird, was Krings abweist. Wie bereits aufgezeigt, kommt aber auch Krings nicht ohne eine solche Annahme aus. Des Weiteren würde eine isolierte Dimension transzendentaler Freiheit in ihrem Begriffsgehalt sinnlos werden. Wenn sie nicht als unbedingte Bedingung von sittlicher und praktischer Freiheit gedacht werden würde, wäre sie nichts anderes als ein Ausdruck realer Freiheit, welche sich im Öffnen für andere Freiheit erschöpfen würde. Das bedeutet, dass in der transzendentalen Dimension von Freiheit der Grund gedacht werden muss, „warum etwas als gut und böse zu beurteilen ist.“ 138 „So wie die transzendentale Anerkennung von Freiheit als der Ursprung des Guten, so müssen transzendentale Verweigerung und Entzug als der Ursprung des Bösen gedacht werden.“ 139 Mit dieser Logik ist das Vermögen zum Guten und zum Bösen in den Gottesbegriff integriert. In Bezug auf das Verhältnis des gedachten Gottes zum Volk Israel kann in diesem Zusammenhang der Satz von Krings fruchtbar gemacht werden, dass „da die Kommunität auf eine Anerkennung aus Freiheit zurückgeht, auch das Böse möglich ist.“ 140 Zwar bezieht Krings diesen Satz auf eine menschliche Gemeinschaft. Er lässt sich aber problemlos auf den Gottesbegriff übertragen, insbesondere angesichts des von Krings gedachten dialogischen Verhältnisses von Gott und dem Volk Israel. Mithilfe der Kategorien von Krings kann so der Begriff eines freien und personalen Gottes gedacht werden. Die Freiheit besteht dabei aus den drei Dimensionen transzendentaler, praktischer und realer Freiheit. Dies inkludiert auch das Vermögen zum Bösen. Dann wird ein personaler und freier Gott gedacht, der sich in transzendentaler Freiheit entschlossen und für andere Freiheit geöffnet hat. Dieser Entschluss, gedacht als die Affirmation von Freiheit, inkludiert die Negation von notwendig zu denkenden Alternativen. Die transzendentale Affirmation von Freiheit im Gottesbegriff kann stringent als der Grund des Guten gedacht werden, der sich aber nur konsistent in Freiheitsdimensionen denken lässt, wenn die Möglichkeit der Negation, das Verschlossenbleiben, gedacht wird. Nur vor dem Hintergrund dieser Unbedingtheit lässt sich in einem nächsten Schritt praktische Freiheit als ordnungsbegründende Freiheit denken. An dieser Stelle gilt es noch einmal resümierend auf Krings’ Freiheitslehre zurückzublicken. Er entwickelt seine Freiheitslehre im Anschluss an Überlegungen zu einer transzendentallogischen Analyse von Wissen. Dabei setzt er ein transzendentales Ich als notwendig anzunehmende unbedingte Einheit. Diese Einheit müsse als unbedingte den Prozess der Selbstreflexion durch Transzendenz und Retroszendenz in sich bereits vollzogen haben. Denn erst wenn dieses formale Kriterium erfüllt sei, könne das Ich auf Gehalt ausgreifen und Erkenntnis über die Außenwelt gewinnen. Dieses Modell des transzendentalen Ich arbeitet er in seiner Freiheitslehre weiter aus. Dabei geht er von realen Freiheitserfahrungen und Befreiungskämpfen aus, um 138 139 140

Krings, Reale Freiheit, 67. Krings, Reale Freiheit, 67. Krings, Replik, 368.

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

von dort transzendentallogisch die Bedingungen der Möglichkeit von realer Freiheit zu ergründen. Wie schon in seiner Wissensanalyse zielt er dabei auf die Bedingung der Möglichkeit in ihrem Möglichsein und nicht in ihrem Wirklichsein ab. ,Wie ist das Faktum in seinem Faktischsein möglich?‘ lautet die leitende Frage. In enger Anbindung an Kant rekurriert er in einem ersten Schritt auf die ordnungsbegründende praktische Freiheit. Diese wird besonders vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Ordo-Gedanken relevant, der als kongruent mit dem göttlichen Wesen gedacht wurde und vor welchem der freie Wille seine Bedeutung verlor. Ordnung wird von Krings als aus unbedingter Freiheit entspringend gedacht. Als Vordenker benennt er hierfür Wilhelm von Ockham, der den Freiheitsbegriff, aus der potentia Dei absoluta kommend, begreifbar gemacht habe. Damit der Begriff dem Unbedingtheitsanspruch der Freiheit gerecht werde, müsse aber – auch über Kant hinausgehend – eine transzendentale, die Regelbegründung noch einmal affirmierende Dimension gedacht werden. Diese bezeichnet Krings als transzendentale Freiheit. Die notwendig zu setzende unbedingte Einheit öffnet sich dabei für Gehalt, wobei der einzig angemessene Gehalt ebenfalls formal unbedingte Freiheit ist. Das Kommerzium freier Menschen erfüllt damit das Kriterium von wirklicher Freiheit, bleibt aber in ihrer Materialität beschränkt. Daher strebt menschliche Freiheit in ihrer transzendentalen Dimension nach Krings immer bereits auf formal und material unbedingte, sprich vollkommene Freiheit. Krings markiert mit der Konstruktion des Begriffs vollkommener Freiheit das Ende der transzendentallogischen Analyse. Er eröffnet aber sogleich die Möglichkeit, über diese Methode hinausgehend, vom Begriff vollkommener Freiheit auf die religiöse Erfahrung, die mit dem Namen ,Gott‘ umschrieben wird, zu reflektieren. Krings vollzieht diesen Transfer im jüdisch-christlichen Kontext und erkennt markante Ähnlichkeiten zwischen seinem Gottesbegriff und dem Gottesbild des Alten und Neuen Testaments. Er entwickelt den Begriff eines sich öffnenden Gottes, dessen Wort eine Antwort in der Eröffnung des Volkes Israel auf diesen Gott hin findet. 141 Damit kann nach Krings ein Kommerzium von Freiheiten gedacht werden, das nicht Gefahr läuft, ontologischen Objektivationen bezichtigt zu werden. In der vorangegangenen Analyse sind jedoch Widersprüche in Krings’ Gottesbild sichtbar geworden. Zum einen in Bezug auf die Personalität Gottes, zum anderen, was dessen Vermögen betrifft. Krings pocht darauf, dass der Gottesbegriff strikt überpersonal gedacht werden müsse und keinerlei metaphysische Komponente aufweisen dürfe. Gleichwohl be141

Wollte man eine Schöpfungstheologie im Anschluss an Krings schreiben, müsste die Frage beantwortet werden, welche Freiheit dem Schöpfungsakt und den Geschöpfen zukommt. Denn Krings spricht vom notwendigen Ausgreifen auf externen Gehalt, damit Freiheit nicht formal bleibe, sondern wirklich werde. Überträgt man diesen Gedanken auf die Schöpfungsidee stellt sich die Frage, ob Gott die Welt aus Notwendigkeit geschaffen hat, damit die Möglichkeit eines freien Gegenübers existiert, auf das hin sich Gott öffnen kann und dass das Kriterium formal unbedingter Freiheit erfüllt.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings

209

schreibt er seinen in Anlehnung an das biblische Gottesbild entwickelten Gottesbegriff mit Termini, die eindeutig eine Person als Akteur voraussetzen. Das verwundert insofern nicht, als dass er die für das Konzept menschlicher Freiheit entworfene Dimension transzendentaler Freiheit auf den Gottesbegriff überträgt. Trotz seines (zeitlich früheren, aber später nicht korrigierten) Plädoyers für ein Analogiedenken, lässt sich ein solcher Transfer nur denken, indem ein univoker Kern des Freiheitsbegriffs vorausgesetzt wird. Darauf aufbauend lässt sich in einem zweiten Schritt auch ein Personbegriff auf das Gotteskonzept übertragen. Zum anderen wehrt Krings das Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff strikt ab, mit dem Hinweis, dass dadurch der Gottesbegriff annulliert würde. Dies zieht die Frage nach sich, was Krings für ein Gottesbild anlegt. Denn wie Krings selbst hervorhebt, gibt es nicht das eine christliche Gottesbild, sondern verschiedene Begriffskonzepte. Er denkt offenbar einen Gott, der dieses Vermögen nicht haben soll. Das Erklären dieser Aussage wird dadurch erschwert, dass Krings selbst keine Gründe nennt. Doch ein Blick zurück auf den Kontext seiner Schelling-Rezeption lässt Rückschlüsse zu. Krings liest die Freiheitsschrift aus dem Jahr 1809 in seinem Artikel von 1995 nicht mehr metaphysisch, sondern streng transzendentallogisch. Er elaboriert Schelling dabei als Vordenker seiner eigenen Transzendentalphilosophie. Was in vielen Bereichen als deckungsgleich interpretiert werden kann, weist jedoch verschiedene Lücken auf. So denkt Schelling selbst Gott personal, was daran sichtbar wird, dass er beispielsweise dezidiert eine eschatologische Perspektive entwirft, die ohne Kategorien personalen Handelns nicht denkbar wäre. Krings geht darauf nicht ein. In Bezug auf das göttliche Vermögen zum Bösen scheint sich Krings an Schelling zu orientieren und dessen Sicht zu übernehmen. Gott, so schreibt Schelling, sei wesenhaft Liebe, weshalb ein Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff nicht gedacht werden könne. Damit greift Schelling die traditionelle Vorstellung auf, dass es Gott in seiner Vollkommenheit nicht am Vermögen zum Bösen mangelt, sondern dass dieser Zustand gerade ein Ausdruck von Vollendung ist. Das absolut Eine ist wesenhaft das absolut Gute, schreibt Plotin. 142 Sicherlich ist der Gedanke, 142

Vgl. Plotin, Schriften, 11,1–3. Werner Beierwaltes schreibt in einem Vergleich zum Neuplatoniker Proklos und Pseudo-Dionysius Areopagita: „In der Reflexion auf Grund und Entfaltung der Wirklichkeit ist beiden [Proklos und Dionysius] gemeinsam die Annahme eines universalen, in sich transzendent bleibenden Ursprungs: des Einen oder Guten selbst, das mit dem Gott selbst [...] identisch gedacht werden muß; die sich aus dem Einen/Guten entfaltende Vielheit ist für beide gemäß Intensitätsgraden von Einheit und ,Mehr-oder Weniger-Sein‘ in sich gestuft, durch einen ursächlichen Zusammenhang als eine in sich relationale Einheit bestimmt. In der entfalteten Wirklichkeit gewinnt auch das Böse keinen eigenen ontologischen Stand; es ist nur im freien Handeln des Menschen durch Abwendung von dem, was in ihm jeweils verwirklicht werden soll, denkbar und ermöglicht.“ (Beierwaltes, Dionysios Areopagites, 52.) Wenn man den Einfluss von Dionysius bedenkt, den dieser im lateinischen Christentum erzeugt hat, können solche Identifikationen gar nicht überschätzt werden. Auch hierzu noch einmal Beierwaltes: „Für die Ge-

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5. Hermann Krings und die vollkommene Freiheit

Gott als gut zu denken, nicht erst durch Plotin aufgekommen. Aber der Neuplatonismus wurde mit seiner essentialistischen Ontologie und dank seiner Systematik im Christentum sehr wirkmächtig, auch bei Autoren, mit denen sich Krings auseinandersetzte und insbesondere bei Schelling. 143 Dieser Zusammenhang stellt keinen Beweis dar; auf ihn aufbauend lässt sich nichtsdestotrotz die These formulieren, dass Krings das göttliche Vermögen zum Bösen vor dem ihm geläufigen und partiell übernommenen Hintergrund der neuplatonischen Tradition abweist. In Schellings Gottesverständnis wird nicht die Freiheit priorisiert, sondern die ontologische Vollkommenheit. Letztere ist immer bereits wesentlich existent und die Freiheit dient nur noch dem Vollzug der Vollkommenheit. Vollkommenheit wird dabei nicht verstanden als eine moralische Vollkommenheit aus Freiheit, was einen dauerhaften und bewussten Vollzug von als gut qualifizierten Handlungen vor dem Hintergrund der realen Möglichkeit, böse handeln zu können, meint. Vollkommenheit wird stattdessen als ontologische Qualifikation interpretiert. Im Vergleich zum Freiheitsbegriff, wie ihn Krings in seiner Transzendentalphilosophie denkt, ist jener stark eingeschränkt. Krings übernimmt dieses Gottesbild trotzdem und gerät damit in einen Widerspruch. Zum einen denkt er Gott als transzendentale Freiheit. Diese ist seiner Meinung nach der unbedingte Grund von Gut und Böse durch das Sich-Öffnen oder das Verschlossenbleiben gegenüber anderer Freiheit, beziehungsweise durch die Affirmation oder Negation von anderer Freiheit. Zum anderen präsentiert er in Anlehnung an Schelling einen Begriff von Gott, der wesenhaft Liebe ist und in welchem der Freiheitsbegriff, verstanden als Vermögen zum Guten und zum Bösen, explizit nicht integriert werden darf, und damit fragwürdig wird. Es wäre problemlos möglich, den von Krings lediglich angedachten Gottesbegriff in den Dimensionen von transzendentaler, praktischer und realer Freiheit innerhalb eines Personkonzepts weiterzudenken. Insbesondere der von Krings untersuchte Wilhelm von Ockham bietet Anschlusspotential. Krings entwirft einen transzendental sich für die menschliche Freiheit öffnenden Gott und lobt an anderer Stelle die Möglichkeit, dank des mittelalterlichen Theologen das Konzept eines neuen Bundes denken zu können. Dieser Gedanke müsste auf der Ebene praktischer Freiheit angesiedelt werden und würde sich in einem nächsten

143

schichte einer ,platonisch‘ geprägten Theologie ist Dionysius deshalb so bedeutsam, weil er neuplatonisches Denken in einer bereits christlich umgeformten Gestalt an Spätere mit fast apostelgleicher Autorität bis in die Neuzeit vermittelte.“ (Beierwaltes, Einleitung, 23.) In seiner Dissertation beschäftigt sich Krings mit Augustinus, Bonaventura, Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Sein eigenes Gottesbild entwarf er, neben allgemeinen Angaben zum Alten und Neuen Testament, insbesondere in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Schelling. Daneben benannte er Wilhelm von Ockham als für ihn wichtigen Ideengeber. Die genannten fünf mittelalterliche Autoren waren alle – in unterschiedlichem Ausmaß – vom Neuplatonismus geprägt. Von den drei genannten idealistischen Philosophen, von denen für Krings’ Gottesbild besonders Schelling von Bedeutung ist, ist Schelling derjenige, der am intensivsten neuplatonische Texte studiert und aufgegriffen hat.

5.5. Kritische Würdigung des Gottesbegriffs von Hermann Krings

211

Schritt harmonisch mit dem von Krings ausgelobten Preis der Freiheit – der Treue 144 – verbinden lassen. Krings vollzieht diesen Schritt angesichts des damit einhergehenden Vermögens zum Bösen nicht und verwickelt sich – zumindest bezogen auf seinen Gottesbegriff – in Widersprüche.

144

Vgl. Krings, Preis der Freiheit, 229 f.

6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele Im Folgenden sollen zentrale inhaltliche Merkmale der untersuchten Autoren in Bezug auf den Begriff eines göttlichen Vermögens zum Bösen konzentriert vor Augen geführt werden. Dafür werden drei Schwerpunkte gesetzt und die Autoren jeweils unter einem inhaltlichen Fokus miteinander verglichen. Dies hat den Vorteil, dass nicht wie bisher die Autoren einzeln beleuchtet, sondern deren inhaltliche Aussagen einander gegenübergestellt werden, und somit ein systematischer Vergleich möglich ist. Dabei sind die großen zeitlichen Differenzen und die damit einhergehenden historischen Kontexte zu beachten; gleichwohl ist eine systematische Analyse möglich, die durch das folgende Format erleichtert wird. Die drei Untersuchungskategorien lauten: 1. Der Begriff der menschlichen Freiheit, 2. der Begriff der göttlichen Freiheit, 3. der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen.

6.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit 6.1.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham Wilhelm von Ockham sieht zu Beginn des 14. Jahrhunderts die menschliche Freiheit in enger Verbindung zu Gott stehen. Der Mensch kann seines Erachtens nur als Zweitursache handeln, während Gott stets Erstursache aller Handlungen sei. Gott benötige keine Zweitursache für seine Handlungen, der Mensch aber Gott als Erstursache, wobei der Mensch Gott nicht zum Mitwirken zwingen könne, sondern auf Gottes freie Partizipation hoffen müsse. Ockham möchte mit diesem Konzept menschliche Handlungsfreiheit nicht negieren. Im Gegenteil behauptet er, dass menschliche Handlungen nur dann moralisch qualifiziert werden könnten, wenn sie in Freiheit vollzogen würden. Er sieht dementsprechend keinen Widerspruch zwischen dem Postulat existierender menschlicher Freiheit und dem Zusammenwirken von Erst- und Zweitursache. 1 Dies zeigt sich am Beispiel der Sünde. Nach Ockham kann Gott zwar eine Sünde hervorbringen, aber nicht als Erstursache dafür verantwortlich gemacht werden. 2 Das sei so zu verstehen, dass die Erstursache als tragender Grund notwendi1 2

Vgl. Ockham, Quodl. VI, qu. 6 (OTh IX, 605,20–21); Ockham, Sent. I, dist. 45, qu. un. (OTh IV, 668,18–20); Ockham, Quodl. III, qu. 14 (OTh IX, 254,26–28). Vgl. Ockham, S. l. III-4, cap. 6 (OPh I, 773,71–774,76).

6.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit

213

gerweise an allen Vollzügen der Zweitursache beteiligt sei – also auch an einer moralisch verwerflichen Tat –, die Zweitursache aber trotzdem in Freiheit ihre Taten ausübe und dafür Verantwortung trage. Ein weiteres Kriterium, das erfüllt sein muss, damit eine menschliche Tat mithilfe der Kriterien von Gut und Böse bewertet werden kann, ist für Ockham die Vernunftbegabung des Menschen und die geistige Uneingeschränktheit, diese Vernunftbegabung vollständig ausüben zu können. Ohne Vernunftbegabung könnten Handlungen einer Person nicht vollumfänglich zugerechnet werden. Ein drittes Kriterium, das nicht für die menschliche Freiheit als solche Bedingung ist, aber von Ockham genannt wird, um eine Bewertung der Handlungen zu ermöglichen, ist die Existenz eines Gesetzes. Um eine menschliche Tat bewerten zu können, benötige es eine Richtschnur, an welcher Menschen sich orientieren und nach welcher Taten als ,gut‘ und ,böse‘ kategorisiert werden könnten. 3 Hierbei unterscheidet Ockham zwei Arten von Gesetzen. Zum einen kennt Ockham positive Gesetze. Diese könnten von Menschen aber auch von Gott in Freiheit erlassen werden. Zum anderen nennt Ockham Gesetze, die allgemein einsehbar seien und allen vernunftbegabten Wesen von der Vernunft vor Augen geführt würden – die principia per se nota. Über den Zusammenhang dieser beiden ethischen Säulen wird in der Forschung kontrovers diskutiert, auch weil Ockham keine systematische Ethik ausgearbeitet hat. 4 Festgehalten werden kann, dass die principia per se nota nach Ockham vom Prinzip des Widerspruchs gedeckt sind, was bedeutet, dass ihr Gegenteil nicht vollzogen werden könne, da dies einen Widerspruch darstellen würde. Diese Grundsätze sind zum einen formalen Inhalts und zielen beispielsweise darauf ab, dass das Gute getan und das Böse gemieden werden soll. Ockham zählt aber zum anderen auch material gefüllte Prinzipien auf, wie die Forderung, Wohltätern Wohltaten zu erweisen und Menschen in äußerster Not zu helfen. 5 Dass positive, von Menschen verabschiedete Gesetze diesen von der recta ratio vor Augen geführten Grundsätzen widersprechen können, wusste Ockham. Die interessantere Frage lautet daher, in welchem Verhältnis Gottes Gesetze und die principia per se nota bei ihm stehen. Um diese Frage beantworten zu können, muss die Freiheit Gottes in den Blick genommen werden, weshalb an dieser Stelle eine kurze Skizze als Antwort reichen muss. Die zwei ethischen Säulen stehen nach Ockham in einem engen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Da die principia per se nota vom Widerspruchsprinzip geschützt seien, könne auch Gott deren Gegenteil nicht als Gesetz erlassen. Es ist daher davon auszugehen, dass Ockham sich eine Übereinstimmung von den per 3 4 5

Vgl. Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 195,18–20); Ockham, Sent. IV, qu. 10–11 (OTh VII, 198,12–13). Vgl. Kap. 3.2. Vgl. Ockham, Quodl. II, qu. 14 (OTh IX, 177,26–27); Ockham, Qu. var., qu. 6, art. 10 (OTh VIII, 281,222–225); Ockham, Qu. var., qu. 8 (OTh VIII, 423,310–311).

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

Vernunft – und somit auch Gott – einsehbaren Grundsätzen und den göttlichen Gesetzen vorstellt, auch wenn er dies nie explizit ausführt. Dann würde sich denken lassen, dass beispielsweise der formale Rahmen, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, durch die principia per se nota vorgegeben ist, und es Gott überlassen bleibt, diesen Rahmen mit konkreten Gesetzen inhaltlich zu füllen, unter Berücksichtigung der genannten Forderungen, Wohltätern Wohltaten zu erweisen und Menschen in Not zu retten. 6 In Anbetracht dieses Gesetzeskonglomerats ist es nach Ockham möglich, menschliche Taten als gut oder böse zu bewerten – stets unter der Voraussetzung, dass der Mensch diese in Freiheit und kraft seiner Vernunft vollzogen hat.

6.1.2. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Der zeitliche Abstand von ungefähr 500 Jahren zwischen Wilhelm von Ockham und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und der damit einhergehende differente historische Kontext ist zu beachten, wenn man den jeweils beanspruchten Begriff menschlicher Freiheit vergleichen möchte. Schelling argumentiert im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vor den Schriften Kants und den damit einhergehenden Diskussionen. In dieser Arbeit wurde das Hauptaugenmerk auf seine 1809 veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände gerichtet. In diesen versucht er, menschliche Freiheit in das Konzept des Panentheismus zu integrieren, nachdem er in den Jahren zuvor scharf dafür kritisiert worden war, dass in seinem sogenannten Identitätssystem keinerlei Differenz mehr zwischen Freiheit und Notwendigkeit zu denken sei. Bei seiner Erörterung des Begriffs menschlicher Freiheit lassen sich drei Ebenen unterscheiden: die formale, die reale und die transzendentale Freiheit. Der ehemalige Tübinger Stiftsstudent schließt sich der formalen Freiheitsdefinition Kants und Fichtes an, denen zufolge Freiheit ein freies Anfangenkönnen unabhängig von zeitlichen Beschränkungen und Naturkausalitäten meint. Lobend hebt er hervor, dass diese Definition erst durch den Idealismus entwickelt worden sei, zugleich kritisiert er, dass ein positives Vermögen zum Bösen mit diesem Verständnis nicht erklärt werden könne. 7 Eine Definition realer Freiheit müsse Freiheit als ein „Vermögen des Guten und des Bösen“ 8 zum Ausdruck bringen, erklärt Schelling. Im Gegensatz zu einer jahrhundertealten Tradition, in welcher das Böse als Mangel definiert wurde, denkt Schelling das Böse als eine positive, eigenständige Realität. Der Mensch habe dank 6 7 8

Vgl. Clark, Voluntarism, 85; Schröcker, Verhältnis, 98. Vgl. Schelling, AA I, 17, 151, 125. Schelling, AA I, 17, 125.

6.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit

215

seines Verstandes und seines freien Willens die Wahl, sowohl das Gute als auch das Böse zu realisieren. Um diese Wahl besser zu verstehen, differenziert Schelling zwei Blickwinkel auf den menschlichen Willen. Er betont explizit, dass es keine zwei Willen im Menschen gebe. Aber der eine Wille des Menschen weise sowohl eine Dimension auf, die – wie Schelling es ausdrückt – vom Zentrum in die Peripherie treibe, und die er als Eigenwillen deklariert. Dieser Eigenwille versuche stets, die eigenen Interessen den Bedürfnissen und Wünschen anderer Menschen überzuordnen. Darüber hinaus existiere im Willen des Menschen aber auch die Dimension des Universalwillens, welcher, in Anlehnung an das kantische Sittengesetz, dem Menschen die Interessen aller vor Augen halte und auf die Realisierung verallgemeinerbarer Handlungsmaximen dränge. Kraft seines Verstandes – den Schelling im Gegensatz zu seinen Vorgängern aufwertet – vermöge es der Mensch, dabei den Eigenwillen oder den Universalwillen zu priorisieren und die beiden Dimensionen des Willens in eine entsprechende Hierarchie zu bringen. Allein das jeweilige Individuum bestimme somit, ob der Eigenwille oder der Universalwille priorisiert werde. 9 Aufmerksamkeit erregt in diesem Kontext die Formulierung Schellings, dass nur die Person vollkommen frei sei, die mit Notwendigkeit den Gesetzen des eigenen Wesens folge. Um den Gedanken der Selbstbestimmung bei Schelling besser zu verstehen, hilft die Analyse der transzendentalen Dimension von menschlicher Freiheit. In Anlehnung an die Tathandlung Fichtes und das transzendentale Anfangenkönnen Kants spricht Schelling davon, dass im Anfang der Schöpfung eine intelligible Tat des Menschen gedacht werden müsse. In dieser intelligiblen Tat habe sich der Mensch irreversibel für die Priorisierung des Eigenwillens oder des Universalwillens entschieden. Schelling möchte diese Tat jedoch nicht als eine zeitlich vorausgehende Handlung verstanden wissen, sondern als eine transtemporale, welche sich durch die Zeit hinweg aktualisiere. Er spricht deswegen auch von einer „ewige[n] That“. 10 Die Tragik dieses Denkelements liegt in dem Widerspruch, der hiermit in die Freiheitsphilosophie Schelling integriert wird. Der Mensch kann sich demnach nicht immer wieder neu für das Gute oder das Böse entscheiden, und entweder den Universalwillen oder den Eigenwillen priorisieren. Stattdessen lege er in einem außerhalb der Zeit stattfindenden Beschluss sein Wesen irreversibel fest. Der Begriff des Wesens umfasst dabei nach Schelling nicht nur die – kantisch gesprochen – Gesinnung, sondern auch die körperliche Verfasstheit des Menschen. Aus moralischer Perspektive wird die transzendentale Tat damit zu einem moralisch fragwürdigen Moment. Nicht erst in dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass die Freiheit des Menschen überfordert wird, wenn ihr eine irreversible Entscheidung unterstellt wird, welche sie außerhalb der Zeit getroffen haben soll und damit außerhalb von 9 Vgl. Schelling, AA I, 17, 133–135, 143. 10 Vgl. Schelling, AA I, 17, 153.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

jenen Bedingungen, die notwendig gedacht werden müssen, um ein menschliches Bewusstsein und ein zurechenbares Entscheidungsvermögen anzunehmen. 11 Der Mensch trägt also nach Schelling im irdischen Leben unter den Bedingungen von Raum und Zeit die Verantwortung für eine außerhalb der Zeit getroffene Entscheidung. Ob diese Entscheidung von jedem Menschen individuell oder von einem allgemeinen Urmenschen getroffen wird, bleibt in der Freiheitsschrift unklar. Darüber hinaus markiert Schelling einen Zweck der menschlichen Freiheit, der da lautet, im Zentrum mit Gott vereint zu bleiben und somit den Universalwillen zu priorisieren. Sobald der Mensch in die Peripherie strebe und der Eigenwille dominiere, widersetze sich der Mensch dem von Gott vorgesehen Zweck der menschlichen Freiheit. 12 Damit wird zusammenfassend deutlich, dass Schelling das große Verdienst zukommt, das Böse als eine positive und eigenständige Realität verstanden zu haben, und eine hinreichende Definition menschlicher Freiheit als dem Vermögen, sowohl das Gute als auch das Böse wählen zu können, aufgestellt zu haben. Gleichwohl hat er sich in schwer zu überwindende Widersprüche verstrickt, indem er die menschliche Freiheit mit der Formulierung einer unhintergehbaren und irreversiblen Selbstbestimmung in einer intelligiblen Tat überforderte. Nicht nur determiniert diese transtemporale und vorbewusst stattfindende Tat nach Schelling alle irdischen Vollzüge des Menschen. Darüber hinaus wird auch physisches Leid auf die Priorisierung des Eigenwillens in der intelligiblen Tat als Ergebnis der falschen Prinzipienrelation und damit dem sündhaften Vergehen gegenüber dem gedachten Gott zurückgeführt.

6.1.3. Der Begriff der menschlichen Freiheit bei Hermann Krings Hermann Krings, geboren 1913, stellt das dritte Fallbeispiel in dieser Arbeit dar. In seiner von Kant und Fichte kommenden Transzendentalphilosophie problematisiert er die Faktizität des Faktums menschlicher Freiheit. Er versucht, diese in ihrem Möglichsein zu erschließen, und entwickelt dabei ein dreidimensionales Bild von Freiheit. Er geht von der realen Freiheit des Menschen aus, wie sie sich exemplarisch im Kampf um politische, soziale und ökonomische Freiheit immer wieder neu darstelle. Dabei würden bestehende Ordnungssysteme kritisiert und neue Ordnungen gefordert werden – ein nicht zu überbrückender, aber um der Freiheit willen auszuhaltender Widerspruch. Freiheit kann sich nach Krings nur in Ordnungssystemen entfalten, die jedoch, um Freiheitsräume bestmöglich zu gewährleisten, selbst in Freiheit begründet sein müssen.

11 Vgl. Hermanni, Die letzte Entlastung, 229–240. 12 Vgl. Schelling, AA I, 17, 136.

6.1. Der Begriff der menschlichen Freiheit

217

Diese ordnungsbegründende Freiheit nennt Krings „praktische Freiheit“. 13 Sie ist aus systematischer Perspektive insofern relevant, als nach Krings von sittlicher Freiheit nur dann gesprochen werden kann, wenn eine Ordnung selbst in Freiheit gründet. Sich hierbei an Kant orientierend, nimmt Krings in Anspruch, dass der Mensch sich aufgrund seines Vernunftvermögens selbst Gesetze geben könne, die er reflexiv als allgemein gelten könnend ausgemacht habe. 14 In seiner Dissertation rekonstruiert Krings, dass über Jahrhunderte hinweg Gesetze als in einer ewigen, göttlichen Ordnung eingebettet verstanden wurden. 15 Wilhelm von Ockham stellt für ihn dabei einen zentralen Wendepunkt dar, habe dieser doch erstmals aufgezeigt, dass Gesetze – auch göttliche – als in Freiheit gründend gedacht werden müssten. 16 Kants Werk ist für ihn der zweite Meilenstein in dieser Entwicklung, insofern dieser die zuvor noch stark auf Gott als Denkobjekt fokussierten Überlegungen auf den Menschen und dessen Freiheitsvermögen übertragen habe. Freiheit habe nun nicht mehr bedeutet, sich in größtmöglicher Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz zu befinden, sondern aufgrund des reflexiven Vernunftvermögens unter dem Kriterium der Allgemeingültigkeit selbst Gesetze zu erlassen. Da seines Erachtens bisher aber niemand habe beantworten können, wieso Regeln überhaupt sein sollten, etabliert Krings in seinem Konzept eine dritte Ebene als jene unbedingte Instanz, die notwendig gedacht werden müsse, um den Prozess der Ordnungsbegründung affirmierend denken zu können. Um also praktische Freiheit denken zu können, macht Kring eine denkerisch notwendige, dritte Dimension von Freiheit aus, in welcher Freiheit sich selbst als Freiheit und eine andere Freiheit als regelbefolgende Instanz sowie den Gehalt der Regel als sein sollend affirmiere. 17 Für die gedankliche Konstruktion des transzendentalen Ich, welches als unbedingte Einheit angesetzt werden müsse, greift Krings auf Erkenntnisse aus seiner Transzendentalen Logik zurück. Darin wollte er die Bedingung der Möglichkeit von Wissen transzendentallogisch ergründen. Dabei kam er zu dem Schluss, dass eine unbedingte Einheit denkerisch anzusetzen sei, wolle man einen infiniten Regress vermeiden. Dieses transzendentale Ich habe sich im Verfahren der Transzendenz und der Retroszendenz mit sich selbst identifiziert und damit selbst begründet. Um den eigenen rein formalen Charakter zu überschreiten, greife dieses Ich in einem zweiten Schritt im gleichen Prinzip der Transzendenz über sich auf Gehalt aus, reflektiere – retroszendierend – sich selbst und das Objekt als unterschiedliche Entitäten und aktuiere damit das Erkannte als Terminus und sich selbst als Erkennendes. 18 13 14 15 16 17 18

Krings, Reale Freiheit, 40. Vgl. Krings, Reale Freiheit, 56. Vgl. Krings, Ordo. Vgl. Krings, Woher kommt die Moderne, bes. 21. Vgl. Krings, Reale Freiheit, 57 f. Vgl. Krings, Transzendentale Logik, 49–68.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

Dieses Modell lässt sich nun auf die Freiheitslehre übertragen. Nach Krings muss ein unbedingter Akt gedacht werden, in welchem das transzendentale Ich sich selbst in seiner Freiheit reflektiere und affirmiere. Um die rein formale Ebene zu überschreiten, öffne sich das Subjekt für Gehalt und affirmiere dabei andere Freiheit. Letzteres ist dabei nach Krings kein notwendiger Akt, denn das transzendentale Subjekt könne sich auch dazu entscheiden, verschlossen zu bleiben und damit andere Freiheit zu negieren. Wenn aber Freiheit in ihrer Wirklichkeit sein solle, dann müsse notwendigerweise ein Ausgreifen der ersten Einheit auf anderen Gehalt gedacht werden. Der einzig angemessene Gehalt von formal unbedingter Freiheit sei dabei andere formal unbedingte Freiheit. Sei dieser Gedanke reflektiv eingeholt, könne verstanden werden, wieso der Mensch sich in Freiheit Gesetze geben könne. 19 Um dies noch einmal prägnant zusammenzufassen, lässt sich festhalten, dass Krings die Faktizität des Faktums menschlicher Freiheit problematisierend die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit transzendentallogisch zu rekonstruieren versucht. Er differenziert dabei drei Dimensionen menschlicher Freiheit und geht von realer Freiheit aus, die sich tagtäglich in der Welt konkretisiert. Nachdem Kant zeigen konnte, wie sich regelbegründende Freiheit denken lässt, Krings’ Kritik zufolge aber diese selbst nicht noch einmal begründet hat, etabliert Krings den Gedanken einer transzendentalen Dimension von Freiheit, welche ordnungsbegründende Freiheit affirmiere. Um erklären zu können, wieso Regeln überhaupt sein sollen, muss nach Krings eine formale, unbedingte Freiheit angenommen werden, die sich in einem ursprünglichen Schritt für andere Freiheit entschließt und damit die logisch notwendig zu denkende Grundlage für die Kriterien von Gut und Böse darstellt. Somit verteidigt Krings wie auch Ockham und Schelling – wenn auch in verschieden ausgestalteter und ausdifferenzierter Form – den freien Willen des Menschen, ohne welchen eine menschliche Handlung nicht als gut oder böse bewertet werden könne. Alle drei betonen außerdem, dass ohne ein unterstelltes Vernunftvermögen des Menschen seine Taten nicht zurechenbar wären. Des Weiteren erkennen alle drei die Sinnhaftigkeit von in Freiheit begründeten Gesetzen an, die es einzuhalten gelte und vor deren Hintergrund erst die Kategorien von Gut und Böse ihren Sinngehalt entfalten würden. Es lassen sich aber auch markante Unterschiede feststellen, wenn man einmal über historisch bedingte Umstände hinwegsieht. Ockham nimmt eine notwendig wirkende Erstursache – Gott – bei jeder handelnden Zweitursache – dem Menschen – an. Schelling pocht zwar auf die Relevanz des freien Anfangenkönnens und das positive Vermögen zum Guten und zum Bösen, unterminiert seine eigene Leistung aber, wenn er das reale Freiheitsvermögen durch die transtemporal gewirkte intelligible Tat determiniert. Außerdem lassen sich Anfragen an sein Konzept des Panentheismus stellen, beispielsweise inwiefern es in 19 Vgl. Krings, Reale Freiheit, 58–62.

6.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit

219

diesem möglich ist, menschliche Freiheit zu denken. Denn Schelling erklärt, dass der Mensch das Vermögen zum Bösen habe, die menschliche Freiheit aber von Gott herrühre und mit dem Zweck versehen sei, in der Einheit mit Gott zu bleiben. Inwiefern menschliche Freiheit dabei als formal unbedingt gedacht werden kann, bleibt fragwürdig. Das Kriterium formal unbedingter Freiheit erfüllt erst Krings’ Konzept mit dem Gedanken einer unbedingten transzendentalen Freiheit. Gleichwohl kommt auch Krings, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, nicht ohne den Gedanken eines Gottes aus.

6.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit 6.2.1. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Wilhelm von Ockham Um das Gottesbild Wilhelm von Ockhams zu verstehen, wurden verschiedene Voraussetzungen analysiert, ohne welche man schnell dem falschen Eindruck unterliegen könnte, Ockham zeichne das Bild eines Willkürgottes. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass Ockham im Gegenteil die Freiheit Gottes und damit zentrale Bestandteile des christlichen Gottesbildes gegenüber einem arabisch-aristotelischen, nezessitaristischen Weltbild zu verteidigen sucht. Der von Avicenna und Averroes geprägte Aristotelismus geht von einer notwendigen Emanation der Welt aus dem einen und einfachen Absoluten aus, und kann weder Kontingenz noch die Unsterblichkeit einer individuellen Seele denken. Ockham ist nicht der erste, der die Risiken dieser Aristoteles-Interpretation für die christliche Theologie erkennt. 1277 verurteilte der Bischof von Paris Stephan Tempier 219 Thesen, die dieser Lehre zugeordnet worden waren. 20 Außerdem entwickelte Johannes Duns Scotus eine Generation vor Ockham seine Theorien hauptsächlich in Abgrenzung zum arabischen Aristotelismus. Ockham versteht Duns Scotus als Grundlage, welche er aber in relevanten Punkten modifiziert und weiterentwickelt. Nachdem die Freiheit Gottes als Denkgegenstand über Jahrhunderte hinweg in theologischen Traktaten kaum von Belang war, da angenommen worden war, dass Gott primär aufgrund seiner Weisheit die Welt gemäß dem ewigen ordo gut eingerichtet habe, gewann sie angesichts des Nezessitarismus an neuer Bedeutung. Ockham macht sich dabei die Differenzierung des Begriffs göttlicher Macht in die Kategorien potentia absoluta und potentia ordinata zunutze. Im 13. Jahrhundert wurden diese Termini im kanonischen Recht als zwei alternierende Handlungsweisen des Papstes verstanden, wodurch der Papst zum einen gemäß der von ihm etablier20 Vgl. Flasch, Aufklärung.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

ten Ordnung, also de potentia ordinata, handeln, zum anderen aber auch kraft seiner potentia absoluta entgegen der bestehenden Gesetze agieren könne. Dass diese Interpretation auch in den theologischen Debatten Spuren hinterließ, kann exemplarisch bei Duns Scotus beobachtet werden. 21 Hiervon distanziert sich Ockham. Ockham drückt mit dem Gottesbegriff ein personales Wesen aus, dessen Macht aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet sowohl als potentia absoluta als auch als potentia ordinata bezeichnet werden könne. Gott könne aber nicht entweder de potentia absoluta oder de potentia ordinata handeln. Vielmehr stellt die potentia absoluta für Ockham das theoretisch mögliche Spektrum der göttlichen Macht dar. 22 Er hebt dabei mehrfach hervor, dass die Menschen seines Erachtens darauf vertrauen dürften, dass Gott sich an die von ihm erlassene Ordnung halte – nicht aber aus Notwendigkeit, sondern in Freiheit. 23 Damit ist das zentrale Spannungsgefüge des Gottesbildes Ockhams angesprochen. Ihm zufolge hat Gott mehr Möglichkeiten als er verwirklicht. Gott vollziehe nicht notwendigerweise alle Möglichkeiten, sondern wähle in Freiheit bestimmte Optionen aus und lasse diese Realität werden. Gott habe sich dabei einmal für eine Weltordnung entschieden und diese realisiert. Historische Veränderungen werden somit von Ockham nicht als göttlicher Eingriff kraft seiner außerordentlichen Macht in die bestehende Ordnung interpretiert. Vielmehr habe Gott, so Ockham, eine Ordnung vorgesehen, zu der einzelne Veränderungen gehörten. Zugleich aber könne Gott in Zeitlichkeit handeln und somit jederzeit anders handeln als vorgesehen. Damit modifiziert Ockham das Theologumenon von der Unveränderlichkeit Gott. Er tut dies, wie dargestellt werden konnte, aber nicht, um Angst zu verbreiten und Gottes Willkür zu predigen. Stattdessen stärkt er in Opposition zu einem nezessitaristischen Weltverständnis den Begriff eines freien, personalen Gottes. Die Unveränderlichkeit Gottes bedeutet damit nach Ockham nicht, dass Gott zeitlichen Verläufen unberührt oder ohnmächtig gegenüberstünde, sondern dass Gott seinem Wesen unverändert treu bleibt, unabhängig davon, in welcher Form er im Zeitverlauf tätig wird. Auf diese Konstante und damit Gottes im Bundesschluss verbriefte Treue gegenüber den Menschen sei zu vertrauen – nicht, weil Gott dies notwendigerweise tun müsse, sondern weil er sich in Freiheit dazu entschieden habe. 24 Aufgrund der Beispiele, die Ockham vielfach anführt, in denen er argumentiert, dass Gott de potentia ordinata bestimmte Dinge nicht realisiere, die er theoretisch betrachtet de potentia absoluta aktualisieren könne, wurde ihm vielfach vorgeworfen, er habe einem Willkürgott das Wort geredet und damit jegliches Vertrauen in die Vernünftigkeit der Welt zerstört. Es gilt aber, in der Analyse von Ockhams Got21 Vgl. Courtenay, Capacity, 92–103; Scotus, Ord. I, dist. 44, qu. un., n. 3 (ed. Vat. VI, 363 f.). 22 Vgl. Ockham, Quodl. VI, qu. 1 (OTh IX, 585,14–586,29). 23 Vgl. Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 591,47–53). 24 Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 8, qu. 7 (OTh III 258–261); Ockham, Sent. II, qu. 11 (OT V, 236,24–237,3).

6.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit

221

tesbild den historischen Kontext zu bedenken. Ein Gott der Willkür war in jener Zeit keine diskutierte Denkfigur. Zur Debatte stand ein unter dem renommierten Namen des Aristoteles firmierender Nezessitarismus, der einen freien, personalen Gott zu denken unmöglich machte. Dagegen schreibt Ockham an. Deswegen hebt er immer wieder hervor, dass bestimmte Regeln gelten würden, aber nicht notwendigerweise, sondern weil Gott diese in Freiheit erlassen habe. Gott – so die Stoßrichtung Ockhams – handle nicht aus äußerer oder innerer Notwendigkeit beziehungsweise unter Zwang, sondern in Freiheit. Dass er darüber hinaus sein Gottesbild gegenüber dem Vorwurf der Willkür absichert, veranschaulichen die Grenzen, welche er im Gottesbegriff zieht. Nicht nur dürfen Menschen nach Ockham darauf vertrauen, dass Gott sich an die von ihm erlassenen Gesetze hält, auch wenn er dies in Freiheit und nicht aus Notwendigkeit tut. Darüber hinaus markiert Ockham durch das Prinzip des Widerspruchs klare Grenzen der göttlichen Macht. Der Satz des Widerspruchs besagt, dass es einen Widerspruch darstellen würde, das Gegenteil bestimmter Prinzipien zu realisieren, und somit unmöglich sei. Konkret nennt Ockham Grundsätze in Bezug auf die Artenordnung, dass beispielsweise ein Mensch ein Nicht-Esel sei und dass es unmöglich sei, eine Chimäre zu erschaffen oder einen Menschen, der nicht lachen könne, aber auch den Grundsatz, dass Gott nicht zugleich A und Nicht-A schaffen könne. 25 Darüber hinaus ist Ockham der Meinung, dass auch die genannten principia per se nota, also allgemein einsehbare ethische Prinzipien, vom Widerspruchsprinzip geschützt seien. Dabei können noch einmal formale und material gefüllte Grundsätze unterschieden werden. Zum einen gelte, dass das Gute getan und das Böse gemieden werden solle. Zum anderen solle Wohltätern immer Wohltaten erbracht werden und Menschen aus existenzieller Not gerettet werden. 26 Das bedeutet, dass auch Gott, vernunftbegabt und mit einem freien Willen ausgestattet, nach Ockham das Gegenteil dieser Grundsätze nicht realisieren kann und – so lässt sich angesichts des Versuchs Ockhams, streng logischen Prinzipien gerecht zu werden – schließen, auch keine Gesetze erlassen kann, denen zufolge Menschen gegen principia per se nota verstoßen sollen. Das göttliche Vermögen zum Bösen soll in einem weiteren Schritt analysiert werden. Vorerst lässt sich festhalten, dass Ockham den Begriff eines personalen, freien Gottes verteidigt gegen das nezessitaristische Weltbild des arabischen Aristotelismus. Seine Ausführungen zur göttlichen Macht dienen dabei der Unterstützung der These, dass Gott in Freiheit Gesetze erlassen habe und diese insofern kontingenter Natur seien, als Gott sie jederzeit aufheben könnte, wenn er dies wollte. Gleichwohl etabliert Ockham theoretische Sicherheitsnetze, damit dieses Gottes25 Vgl. Ockham, Sent. I, dist. 44, qu. un. (OTh IV, 650,1); Ockham, Sent. I, dist. 9, qu. 3 (OTh III 304, 4–7); Ockham, S. l. I, cap. 24 (OPh I 79,24–28). 26 Vgl. Ockham, Quodl. II, qu. 14 (OTh IX, 177,26–27); Ockham, Qu. var., qu. 6, art. 10 (OTh VIII, 281,222–225); Ockham, Qu. var., qu. 8 (OTh VIII, 423,310–311).

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

bild nicht zum Bild eines willkürlichen Tyrannen wird, sondern Vertrauenswürdigkeit für die Menschen bietet. So akzentuiert er nicht nur die Treue Gottes, sondern zieht mit dem Widerspruchsprinzip Grenzen, die nicht nur Grundsätze der Artenordnung, sondern auch ethische Regeln schützen sollen.

6.2.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Schelling definiert menschliche Freiheit als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen. Er überträgt dieses Verständnis aber nicht auf seinen Gottesbegriff. Freiheit bei Gott meint für ihn die freie Offenbarung seiner selbst. Um diese Aussage besser zu verstehen, muss die Differenzierung des Willens im Gottesbegriff Schellings verstanden werden. Schelling möchte Gott nicht als ein ewiges Sein, sondern als eine werdende Person, als ein Leben verstehen. Da er ,Person‘ als eine Verbindung von etwas Selbstständigem mit dessen unabhängiger Basis definiert, versucht er, diese Differenzierung auch im Gottesbegriff zu etablieren. Er unterscheidet daher zwischen einem Grund von Existenz und der Existenz Gottes. Der sehnsüchtig mäandernde Wille des Grundes bringe Verstand hervor und aus dieser Kombination erwachse Gott als Geist beziehungsweise als Person. 27 Während sich der Wille des Grundes noch blind vollziehe, könne der Wille der Liebe in der göttlichen Person als vollkommen frei verstanden werden. Freiheit umfasst nach Schelling dabei aber keine Wahlfreiheit, sondern meint den seinem Wesen entsprechenden Vollzug. Zwar beschreibt er Gott als ein moralisches Wesen, das aktiv tätig werden könne. Das beste Beispiel hierfür ist die Schöpfung, welche er explizit als Tat, und nicht als abstrakte Notwendigkeit verstanden wissen möchte. 28 Gleichwohl schränkt Schelling die göttliche Handlungsfähigkeit ein, indem er Leibniz scharf dafür kritisiert, dass dieser die These geäußert habe, Gott habe eine Wahlmöglichkeit und aus dieser heraus die beste aller möglichen Welten realisiert. Eine solche Wahlfreiheit weist Schelling dezidiert von sich. Nach seinem Verständnis kann sich Gott nur auf die Art und Weise offenbaren, die seinem Wesen entspricht. Da Gott als Person die vollkommene Liebe sei, könne Gott die Welt auch nur auf eine einzige, der göttlichen Liebe entsprechende Weise geschaffen haben. 29 Die Liebe taucht in Schellings Gottesbegriff aber nicht nur in Bezug auf die Kosmologie auf, sondern auch im Kontext der Genese Gottes. Denn Schelling lässt Gott als Person nicht einfach aus dem Grund von Existenz hervorgehen, sondern möchte diesen Grund wiederum in Gott eingebettet wissen. Damit versucht er der 27 Vgl. Schelling, AA I, 17, 160, 130–132. 28 Vgl. Schelling, AA I, 17, 161. 29 Vgl. Schelling, AA I, 17, 162.

6.2. Der Begriff der göttlichen Freiheit

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Kritik vorzubeugen, Gott sei in seinem Konzept aus einem ihm äußeren Grund hervorgegangen, womit es etwas geben würde, was Gott vorausginge. Die göttliche Genese ist demnach als ein Zirkel zu interpretieren: Der Grund von Existenz bringt auch in Gott die Existenz hervor, gleichwohl ist er immer bereits in das Absolute Gottes integriert und kann nicht ohne Gott gedacht werden. Um einen Dualismus zu vermeiden, nutzt Schelling die plotinische Figur des Urgrundes. Der „Ungrund“ 30, wie Schelling ihn auch nennt, ist die unbedingte göttliche Basis, die er setzt, um einen Dualismus oder eine Abhängigkeit Gottes von einer externen Entität gedanklich zu vermeiden. Der Ungrund ist somit Teil Gottes, wenngleich er eine in der Freiheitsschrift noch wenig definierte Rolle übernimmt. Schelling erklärt, dass der Ungrund prädikatlos sei, gleichwohl aber nicht nichts, sondern ein nicht beschreibbares Etwas. Aus diesem seien durch die Teilung des Ungrundes, wobei der Ungrund sich dabei gleichwohl selbst erhalte, die zwei gleich ewigen Anfänge Gottes hervorgegangen. Diesen Prozess stattet Schelling mit einem Telos aus. Das gesamte Leben Gottes dient seines Erachtens nach einzig dem Ziel der vollkommenen Liebe. Dieser Zustand sei nur zu erreichen, indem zwei eigenständige Entitäten zusammenkommen würden. 31 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ungrund noch einmal näher betrachten. Trotz der verkündeten Prädikatlosigkeit meint Schelling in ihm einen Willen ausmachen zu können, der als erstes Prinzip das Ziel des gesamten Lebens Gottes vorgibt: die vollkommene Liebe. Um diese Liebe zu realisieren, beginnt der Geburtsvorgang der göttlichen Person. In diese Prozessstruktur lässt sich auch die Schöpfung der Welt integrieren. In der Textstelle über die Notwendigkeit des Bösen deutet Schelling an, dass die Welt integrativer Bestandteil der göttlichen Geschichte sei, insofern das dort existierende Böse notwendige Voraussetzung sei, damit sich Gott kontrastierend als vollkommene Liebe offenbaren könne. 32 Damit werden auch die Aussagen über die notwendige Moralität Gottes verständlich, in deren Folge Gott die Welt nur in einer einzigen, nämlich dem göttlichen Wesen entsprechenden, Weise habe kreieren können. Es lässt sich schlussfolgern, dass Schelling in Anlehnung an den Neuplatonismus und seine Rezipienten, wie Böhme und Oetinger, Gott als das Absolute begreift, das eine Genese durchläuft, innerhalb welcher zwischen einem prädikatlosen Ungrund, verschiedenen Willen und Gott als Person differenziert werden kann. Zentrum dieses Gottesbegriffs ist die Liebe, welche als Kern und Telos das Wesen Gottes bestimmt und dem alle anderen Attribute untergeordnet sind. Die Freiheit Gottes wird von Schelling deswegen auch nicht wie beim Menschen als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen definiert, sondern als notwendige Realisierung der wesenhaften Liebe Gottes. Dabei werden Begriffe wie Moralität und Liebe fragwür30 Schelling, AA I, 17, 170. 31 Vgl. Schelling, AA I, 17, 170–172. 32 Vgl. Schelling, AA I, 17, 143.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

dig. Denn wenn Liebe der Freiheit vorausgeht und Moralität zur Notwendigkeit wird, dann erhalten sie im Gottesbegriff und im Begriff des Menschen äquivoke Bedeutungsinhalte. Wenn Liebe nicht aus Freiheit entstanden gedacht wird und Freiheit nur ein Vermögen zum Guten im vorgegebenen Rahmen der Liebe darstellt, dann stellt sich die Frage, was diese Begriffe ausdrücken sollen. Resümierend ist Schelling in Reaktion auf die zeitgenössische Kritik ein Panentheismus gelungen, der Differenz denken lässt. Er vermeidet einen Dualismus durch die Denkfigur des Ungrundes und kann eine Geschichte Gottes denken, in welche die Welt und die Menschen integrierbar sind. Zentrale Begriffe wie jener der Freiheit werden dabei aber fragwürdig. Nicht nur torpediert Schelling seinen Begriff realer Freiheit als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen durch den Gedanken einer determinierenden intelligiblen Tat, sondern er reduziert zudem den Begriff göttlicher Freiheit zu einem reinen Realisationswerkzeug der göttlichen Liebe.

6.2.3. Der Begriff der göttlichen Freiheit bei Hermann Krings Hermann Krings knüpft bei seinem Gottesbegriff explizit an Entwürfe Ockhams und Schellings an und interpretiert beide als wichtige Vorläufer seiner eigenen Konzepte. Er entwickelt seinen Gottesbegriff aus seiner transzendentalphilosophischen Freiheitslehre heraus. Als unbedingte Bedingung menschlicher Freiheit nennt Krings die Dimension der transzendentalen Freiheit. Diese meint für ihn das ursprüngliche Öffnen eines Subjekts für andere Freiheit und damit die Affirmation anderer Freiheit. Die bis dahin rein formale Freiheit würde sich mit diesem Schritt bewusst auf Gehalt hin öffnen, um durch die Selbstbestimmung anhand des Gehaltes Wirklichkeit zu werden. Der einzig angemessene Gehalt ist dabei für Krings andere formal unbedingte Freiheit. Den entscheidenden Schritt über die rein menschliche Freiheit hinaus, mit welchem diese Lehre für einen Gottesbegriff geöffnet wird, vollzieht er mit dem Begriff der „vollkommene[n] Freiheit“. 33 Vollkommene Freiheit meint die formal und material unbedingte Freiheit. Aufgrund der materialen Beschränktheit menschlicher Freiheit weist für ihn die Freiheit des einzelnen wie auch ein „Kommerzium freier Wesen“ 34 immer über sich hinaus auf vollkommene Freiheit. Die vollkommene Freiheit ist somit für Krings als notwendiger Hintergrund von menschlichen Freiheitsvollzügen im Nachdenken über solche stets zu bedenken. Die vollkommene Freiheit setzt Krings nicht direkt mit Gott gleich, bekennt aber, dass dieser Begriff offen für religiöse Erfahrungsgehalte wie Gott und Offenbarung sei. Dabei möchte sich Krings von klassischen metaphysischen Versuchen, 33 Krings/Simons, Gott, 637. 34 Krings/Simons, Gott, 637.

6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen

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Gott zu denken, abgrenzen, bei welchen Gott durch die Extrapolation menschlicher Attribute als Objekt erschlossen wurde. Er betont mehrfach, dass für ihn die via eminentiae wie auch die via analogiae nicht begehbar seien. Deshalb hält er auch die Vorstellung eines personalen Gottes für abwegig. 35 Der Gottesbegriff könne, so Krings, einzig transzendentallogisch als vollkommene Freiheit erschlossen werden. Trotz dieser Abgrenzungen zeigt Krings die seines Erachtens nach existierenden Anschlussmöglichkeiten im christlichen Gottesverständnis auf. Der Gottesbegriff des Alten und des Neuen Testaments weist ihm zufolge klare Parallelen zu seinem eigenen Gotteskonzept auf. Insbesondere im Alten Testament werde Gott als der sich für Menschen, beziehungsweise andere Freiheit, Öffnende vorgestellt. Daran schließt sich Krings mit seinem Begriff der vollkommenen Freiheit, genauer noch: der transzendentalen Freiheitsdimension an. Werde diese Kategorie auf den Gottesbegriff angewandt, könne Gott als die sich für andere Freiheit öffnende und damit diese affirmierende vollkommene Freiheit gedacht werden. 36 Mithilfe dieses Verweises auf den jüdisch-christlichen Gottesbegriff eröffnet Krings in seiner Freiheitsphilosophie eine Anschlussmöglichkeit für eine Theologie. Wie auch Ockham verteidigt Krings den Freiheitsgehalt im Gottesbegriff und weist diesem eine zentrale Position zu. Im Anschluss an Schelling versucht Krings, seinen Gottesbegriff ausgehend von der menschlichen Freiheit zu denken. Dabei ragt Krings mit seiner Radikalität, mit der er ontologische Kategorien für den Gottesbegriff zurückweist, aus dem Kreis der drei untersuchten Autoren heraus. Ihm zufolge ist es nur über die transzendentallogische Analyse menschlicher Freiheit möglich, einen Begriff von Gott zu bilden. Zugleich beschäftigt sich Krings am wenigsten intensiv mit einer Gotteslehre. Für eine kritische Analyse des freiheitlichen Vermögens zum Bösen im Gottesbegriff sind seine Ausführungen aber ausreichend, was im letzten Teil des Vergleichs aufgezeigt werden soll.

6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen 6.3.1. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Wilhelm von Ockham Wilhelm von Ockham lehnt den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen ab. Er begründet dies damit, dass die Kategorie des moralisch Bösen ein Gesetz voraussetze, welchem das handelnde Wesen unterstehe und das daher gegen dieses Gesetz verstoßen könne. Das Böse ist demnach ein Gesetzesverstoß. Da Gott nach 35 Vgl. Krings/Simons, Gott, 631, 634. 36 Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 179–181.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

Ockham niemandes Schuldner ist und sein kann, fehle ihm auch das Vermögen zum Bösen. 37 Darauf muss in dreifacher Weise eingegangen werden. Erstens argumentiert Ockham nicht mit dem traditionellen Verweis auf die Vollkommenheit Gottes, dem zufolge die Vollkommenheit durch ein Vermögen zum Bösen geschmälert werden würde, und das fehlende Vermögen zum Bösen daher keinen Mangel darstelle. Gleichwohl ist auch für Ockham in christlich-neuplatonischer Tradition Gott das höchste Gut. 38 Zur Begründung des fehlenden Vermögens zum Bösen nutzt er aber das Argument der fehlenden Schuld Gottes. Zweitens könnte gegen Ockham argumentiert werden, dass Gott dem Widerspruchsprinzip und somit einem Gesetz unterliege. Mit Ockham kann aber insofern widersprochen werden, als dass das Widerspruchsprinzip nicht als Gesetz verstanden wird, gegen das Gott verstoßen könne. Stattdessen wird es von ihm als eine unüberwindliche und allgemein geltende Hürde dargestellt. Da Ockham aber erklärt, dass die principia per se nota auch für den vernunftbegabten, freien Gott gelten würden und Gott deswegen nicht das Gegenteil des Gesollten anordnen könne, stellt sich die Frage, ob das Sollen nicht ein Vermögen zum Gesollten wie auch zum Nicht-Gesollten voraussetzt. Wenn nun ein solches Prinzip lautet, das Böse solle gemieden werden, dann muss sinnvollerweise bei jenem Akteur, an welchen das Gesetz ergeht, ein Vermögen zum Bösen gedacht werden. Wenn darüber hinaus Ockhams Ethik nicht als Voluntarismus interpretiert wird, sondern davon ausgegangen wird, dass Gott, Ockham zufolge, seine Gesetze in Übereinstimmung mit den auch für ihn geltenden principia per se nota erlässt, dann müsste folgerichtig die Forderung, das Böse zu meiden, das Vermögen Gottes voraussetzen, das Böse zu realisieren wie auch es nicht zu realisieren. Somit etabliert Ockham zumindest indirekt die Möglichkeit, ein Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff zu denken. Drittens bezieht sich die These Ockhams, dass Gott niemandes Schuldner sei, auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Es ist davon auszugehen, dass Ockham diese Aussage tätigt, um sein Gottesbild von Notwendigkeiten, Zwängen oder Verpflichtungen freizuhalten. Wenn Ockham aber die These formuliert, dass Menschen auf Gottes Treue vertrauen dürften, weil Gott sich in Freiheit an die von ihm erlassenen Gesetze halte, dann geht der gedachte Gott damit Bindungen ein, die er auch verletzen könnte. Zwar bindet er sich nach Ockham in Freiheit an diese Gesetze, man könnte aber argumentieren, dass Gott in dem Moment böse handelt, da er den Menschen untreu wird, indem er gegen Gesetze verstößt, deren Erhalt er den Menschen zugesichert hat. Denn wenn Menschen an einen Gott glauben, unter anderem weil dessen Treue ihnen gegenüber versichert wird, dann stiftet dieser gedachte Gott mit der Treuezusage einen Bund, dessen Regeln auch er zu brechen vermag. Wenn nun aber nur Regelbrüche des Menschen als böse bewertet werden 37 Vgl. Ockham, S. l. III-4, cap. 6 (OPh I, 773,71–774,76). 38 Vgl. Ockham, Sent. I, d. 1, qu. 5 (OTh I 464, 3–5); Ockham, Quodl. I, q. 1 (OTh IX 1,17–2,20).

6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen

227

dürften, Gottes Verstöße aber über jedes Urteil erhaben wären, dann müssten Anfragen gestellt werden, inwiefern ein solches Gottesbild nicht doch Züge von Willkür beinhaltet. Die spekulative Möglichkeit des göttlichen Vermögens zum Bösen, die in Ockhams Konzept kohärent denkbar wäre, sieht dieser nicht, oder lehnt sie bewusst ab. Für ihn steht fest – und er bewegt sich damit in traditionellen, neuplatonisch geprägten Denkkategorien –, dass Gott das absolut Gute ist, und der Gottesbegriff kein Vermögen zum Bösen enthalten kann.

6.3.2. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Auch Schelling lehnt den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen ab. Er gibt sogar explizit zu, dass die Integration des Bösen in den Gottesbegriff den Terminus des vollkommensten Wesens zerstören würde. 39 Hier lässt sich jene klassische Denkfigur ausmachen, welche durch den Neuplatonismus in die christliche Theologie integriert worden ist, was angesichts der Plotin-Lektüre Schellings nicht verwundern mag. 40 Schelling denkt Gott als Vollkommenheit und sieht diese durch ein Vermögen zum Bösen in Gefahr. Es gilt zu fragen, was den gefährdeten Begriff der Vollkommenheit auszeichnet. Vollkommene Freiheit in einem univoken Sinn kann nicht gemeint sein, da Schelling selbst aufzeigt, dass ein Freiheitsbegriff, der nicht das Vermögen zum Guten und zum Bösen beinhaltet, unvollkommen bleiben würde. Aus Schellings Schrift kann gefolgert werden, dass Vollkommenheit für ihn in neuplatonischem Duktus das schlechthin ontologisch Gute meint, das Quelle von Sein und Ziel allen Strebens sei. In Anlehnung an Plotin denkt Schelling einen Ungrund, der aus Liebe den göttlichen, und damit indirekt auch den weltlichen, Entstehungsprozess anstößt, um vollkommene Liebe zu realisieren. Gott ist Schelling zufolge wesensnotwendig Liebe und wird sich als diese offenbaren. 41 Das Böse wird dabei als destruktives Moment wahrgenommen und vom Gottesbegriff ferngehalten, zulasten des Freiheitsgehaltes im Gottesbegriff. Dabei ist sich Schelling bewusst, dass er den Gottesbegriff in ein Verhältnis zum Begriff des Bösen setzen muss. Für die Realität des Bösen macht er den Menschen mit seinem Vermögen zum Bösen verantwortlich. Dem Menschen sei es möglich, die beiden Willensprinzipien – den Eigenwillen und den Universalwillen – zu trennen und frei in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Mit der Überordnung des Ei39 Vgl. Schelling, AA I, 17, 125. 40 Vgl. zum neuplatonischen Einfluss auf Schelling Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, bes. 100–143; Beierwaltes, Das wahre Selbst, 182–227; Halfwassen, Spuren des Einen, 351–368; Leinkauf, Schelling und Plotin. 41 Vgl. Schelling, AA I, 17, 168.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

genwillens werde die Prinzipienrelation in eine falsche Hierarchie gebracht und das Böse aktualisiert. 42 Die Möglichkeit des Bösen ist damit aber nicht erklärt. Diese führt Schelling auf den Grund von Existenz in Gott zurück. Für die Schöpfung der Welt durch Gott hätten der göttliche Wille der Liebe und der Wille des Grundes zusammenarbeiten müssen. Denn der Wille des Grundes könne vom Willen der Liebe nicht ausgeschaltet werden, da dieser wiederum die Bedingung von dessen Existenz sei. Der dunkle, abgründige Wille des Grundes spiegle sich durch die Möglichkeit des Bösen im Eigenwillen des Menschen wider. Während aber im göttlichen Geist die Einheit von Eigenwillen und Universalwillen unzertrennlich sei, und das Böse somit in Gott keine Realität erlangen könne, sei dies im Menschen aufgrund der Trennbarkeit der Prinzipien möglich. 43 Die Absicht dieser Denkoperation ist klar ersichtlich. Schelling erkennt, dass er die Möglichkeit des Bösen nicht allein auf die Menschen oder die Welt zurückführen kann, wenn er zugleich einen göttlichen Schöpfer denkt. Nichtsdestotrotz möchte er Gott nicht für das Böse verantwortlich machen, weshalb er im Gottesbegriff zwischen der göttlichen Person und einer von ihr unabhängigen Basis differenziert. Der Basis wird die Verantwortung für die Möglichkeit des Bösen zugeschrieben, um so Gott als Person vor jeglichen Anfragen zu schützen. Schellings Theodizee misslingt jedoch aus zwei Gründen. Zum einen wird die menschliche Freiheit in der transtemporalen und vorbewussten intelligiblen Tat mit der Verantwortung für die Wirklichkeit des Bösen, das explizit auch physisches Leid inkludiere, überfordert. Zum anderen wird die Trennung im Gottesbegriff insofern fragwürdig, als Schelling den Grund von Existenz im Ungrund fundiert, der zwar nicht Gott als Person gleichgesetzt wird, jedoch auch nicht als externe Entität verstanden werden soll. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Schelling Gott wirklich von der Verantwortung für die Möglichkeit des Bösen freisprechen kann, oder ob er die Verantwortung nicht lediglich auf eine andere Ebene verschiebt – eine Ebene, die Schelling explizit als Teil Gottes verstanden wissen möchte. Aufgrund neuplatonischer Denkmuster aber darf das Böse als Möglichkeit des freiheitlichen Vermögens nicht in den Gottesbegriff Schellings integriert werden. Daher behauptet Schelling auch, dass die Verbindung von Eigenwillen und Universalwillen in Gott unzertrennlich sei, ohne dies zu begründen. Wären sie trennbar, wäre die Möglichkeit des Bösen in den Gottesbegriff inkludiert. Damit wird ein fragwürdiger Begriff von Vollkommenheit verteidigt und zugleich der Freiheitsgehalt im Gottesbegriff ausgehöhlt. Dies ist besonders vor dem historischen Verdienst Schellings bemerkenswert, menschliche Freiheit erstmals dezidiert als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen definiert zu haben, mit dem Hinweis, dass ein anderer Freiheitsbegriff unvollständig bleiben würde. Dem Begriff göttlicher Freiheit droht angesichts der von Schelling getätigten Verweise auf göttliche Handlungen 42 Vgl. Schelling, AA I, 17, 135 f. 43 Vgl. Schelling, AA I, 17, 131–133, 167.

6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen

229

und die Moralität Gottes und der zugleich fehlenden Grundlage eines Vermögens zum Guten und zum Bösen Äquivokation. 44

6.3.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen bei Hermann Krings Hermann Krings’ Ausführungen zum göttlichen Vermögen zum Bösen gehen aus seiner Auseinandersetzung mit der Freiheitsschrift Schellings hervor. 1979 kommentiert er diese nur knapp, indem er darauf hinweist, dass eine metaphysische Erklärung für transzendentale Freiheit wie Schelling sie in seiner Freiheitsschrift geleistet habe, ein merkwürdiges Unterfangen sei. 45 1995 beurteilt er diesen Text differenzierter und lobt Schelling für dessen transzendentalphilosophischen Ansatz. Schelling habe nicht den Fehler gemacht, menschliche Attribute auf den Gottesbegriff zu übertragen, so habe er beispielsweise Freiheit nicht als Wahl- und Handlungsfreiheit interpretiert, sondern als freies Heraustreten aus sich selbst. 46 Daran kann Krings direkt mit seiner Vorstellung der transzendentalen Freiheit als ein Entschließen für andere Freiheit anknüpfen. Darüber hinaus markiert Krings diese Gangart als Vorteil, da Probleme der Theodizee seines Erachtens entfallen würden. Wenn die Welt nicht als Produkt eines schöpferischen, personalen Gottes verstanden werde, der in Allmacht geschaffen habe, sondern stattdessen als Ergebnis der göttlichen Selbstoffenbarung, müsse auch keine Rechtfertigung Gottes geleistet werden. Von besonderer Relevanz ist in diesem Kontext die Aussage von Krings, dass der Begriff Gottes destruiert wäre, würde man Gott ein Vermögen zum Bösen unterstellen. 47 Diese Bemerkung begründet Krings nicht weiter. Sie lässt sich aber interpretieren. Die These, dass der Gottesbegriff durch die Inklusion eines Vermögens zum Bösen annulliert werden würde, erinnert auf frappierende Weise an die Aussage Schellings, dass der Begriff von Gott als vollkommenstes Wesen zerstört werden würde, würde man in ihn die Freiheit zum Bösen integrieren. Diese Parallele gewinnt vor der Tatsache an Relevanz, dass Krings diese These in einem Kontext formuliert, in welchem er Schelling dezidiert als Vorgänger seiner Transzendentalphilosophie heranzieht und ihn für dessen Gottesbegriff lobt. Daraus kann geschlossen werden, dass der neuplatonische Ursprung der These Schellings auch die Quelle der Überlegungen Krings darstellt. Ob sich Krings dieser Genealogie bewusst ist, kann nicht mit Sicherheit beantwortet, aber aufgrund seines profunden Wissens der Philosophiegeschichte angenommen werden. Folglich lässt sich festhalten, dass Krings, wie auch Schelling und Ockham, an dem neuplatonischen Gedanken der ontologi44 45 46 47

Vgl. Schelling, AA I, 17, 161–163. Vgl. Krings, Replik, 368. Vgl. Krings, Freiheit Gottes, 180. Vgl. Krings, Freiheit Gottes, 176.

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

schen Gutheit und Vollkommenheit Gottes als dem höchsten Gut festhält, auch wenn dadurch Widersprüche in seinem Gottesbegriff aufgeworfen werden. 48 Dies soll abschließend anhand dreier Gesichtspunkte aufgezeigt werden. Erstens entwickelt Krings seinen Gottesbegriff vom transzendentallogisch generierten Begriff der transzendentalen Freiheit. Er spricht von Gott als vollkommener Freiheit, differenziert diesen Begriff aber noch einmal in Momente, die zeigen, dass er den Terminus der transzendentalen Freiheit inkludiert. 49 Wenn er aber vom transzendentalen Öffnen Gottes für Gehalt und damit für andere Freiheit – die Freiheit des Menschen – spricht, lassen sich mehrere Anfragen stellen. Denn zweitens nutzt Krings damit Begriffe, die einen personalen Akteur voraussetzen. Damit begibt er sich in Opposition zu seiner Aussage, dass der Gottesbegriff nicht mit Elementen des Personbegriffs gebildet werden dürfe. 50 Des Weiteren müssen drittens, wenn der Begriff transzendentaler Freiheit im Gottesbegriff nicht einen äquivoken Charakter erhalten und damit gerade seinen Kerngedanken aufgeben soll, auch im Gottesbegriff die Dimensionen praktischer und realer Freiheit integriert werden. Diese würden sich – abgesehen von der Aussage über das göttliche Vermögen zum Bösen – kohärent in das entworfene Gottesbild von Krings einfügen lassen. Transzendentale Freiheit wird gedacht als notwendige Voraussetzung von praktischer und realer Freiheit und gewinnt ihren Sinngehalt erst als „vorausgesetzte [...] unbedingte [...] Aktualität des regelsetzenden Willens“. 51 Außerdem betont Krings selbst, dass eine Anerkennung von Freiheit nur vor der Alternative der Negation anderer Freiheit gedacht werden könne und damit die Grundlage darstelle, vor welcher die Kategorien von Gut und Böse erst gedacht werden könnten. Hier wäre dann zudem das Konzept des von Krings gelobten Wilhelm von Ockham integrierbar. Erst vor dem Gedanken einer Alternativen beinhaltenden potentia absoluta gewinnt die Affirmation von anderer Freiheit an moralischer Bedeutung. Ohne den Gedanken eines freien Entschlusses lässt sich, wie Krings selbst hervorhebt, die (Bundes-)Treue als Preis der Freiheit nicht wertschätzen. 52 Ist aber der Entschluss ein wesensnotwendiger, verliert er seine moralische Relevanz. Vor dieser Analyse lässt sich noch einmal vergleichend auf die untersuchten Konzepte zurückblicken. Es konnte gezeigt werden, dass in allen drei Systemen der Be48 Aufgrund der Melange von platonischen und aristotelischen Gedanken im Neuplatonismus und weil neuplatonische Schriften Ockham im 14. Jahrhundert mindestens durch Augustinus bekannt waren, und er außerdem Denkfiguren wie Gott als das summum bonum aufgenommen hat (Vgl. Ockham, Sent. I, d. 1, qu. 5 (OTh I 464, 3–5)), erscheint es legitim, allen drei Autoren eine intellektuelle – mehr oder minder große – Abhängigkeit zum Neuplatonismus zu bescheinigen. Vgl. außerdem Beierwaltes, Griechische Metaphysik, bes. 73. 49 Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 178 f. 50 Vgl. Krings/Simons, Gott, 630 f. 51 Krings, Reale Freiheit, 57 f. 52 Vgl. Krings, Preis der Freiheit, 229 f.

6.3. Der Begriff des göttlichen Vermögens zum Bösen

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griff Gottes als der Inbegriff des Guten, des summum bonum, aus der neuplatonischen Tradition übernommen, aber nicht nur ontologisch, sondern auch in moralischen Kategorien gedeutet wird. Dabei lassen sich an alle drei Autoren Fragen stellen, wie der Begriff des Guten gedacht werden kann: Wie soll das Gute gedacht werden können, wenn nicht in Abgrenzung zum Bösen? Wenn das Gute dem Bösen logisch vorausgeht, wie kann dann der Begriff des Guten ausgebildet werden? In Abgrenzung wozu kann etwas als gut bestimmt werden? Der gedachte Gott kann als das vollkommen Gute bezeichnet werden, aber dann muss zuvor bestimmt werden, unter welchen Voraussetzungen dies geschehen soll. Bedingung für diese Rede ist die Integration des Begriffs des Bösen in den Gottesbegriff, von welchem sich der Begriff des Guten unterscheidet. Nur wenn sich der gedachte Gott vor zwei divergenten Möglichkeiten stehend – nämlich dem Guten und dem Bösen – zum Guten bestimmt, kann er als moralisch gut qualifiziert werden. Andernfalls verliert das Kriterium seinen Sinn und wird belanglos. Die Tatsache, dass Ockham, Schelling und Krings Gott als das notwendig und vollkommen Gute bestimmen und die Integration eines Vermögens zum Bösen in dieses Konzept dezidiert ablehnen, erstaunt insbesondere vor deren in ihren historischen Kontexten jeweils radikal erscheinenden Freiheitsdefinitionen. Ockham stellt dem aristotelischen Nezessitarismus das Konzept eines Gottes gegenüber, das Kontingenz denken lässt, und zwar vor dem Hintergrund der Kategorie der göttlichen potentia absoluta. Ockham sieht, dass die geglaubte Bundeszusage Gottes erst vor einem ausformulierten Begriff göttlicher Freiheit ihren Wert gewinnt und Treue, als von Ockham modifiziertes Verständnis der traditionellen Kategorie der Unveränderlichkeit, erst unter der Prämisse einer Wahlfreiheit bedeutsam wird. Diese Wahlfreiheit verneint er aber im konkreten Bezug auf das göttliche Vermögen zum Bösen. Schelling kritisiert Kant und Fichte dafür, dass es ihren Freiheitsdefinitionen an Realitätsbezug mangle. Ein realer Begriff von Freiheit müsse als Vermögen zum Guten und zum Bösen verstanden werden. Ein Freiheitsbegriff, der nur das Vermögen zum Guten beinhaltet, greift ihm zufolge zu kurz. Außerdem verwirft er den neuplatonischen Privationsgedanken. Für ihn stellt das Böse eine real existierende Möglichkeit und keinen Seinsmangel dar. Trotz seiner Verteidigung eines anthropologischen Gottesbildes unterlässt er es aber, ein Vermögen zum Bösen in den Gottesbegriff zu integrieren und erklärt, dass andernfalls der Gottesbegriff zerstört werde. In dieser Annahme folgt ihm explizit Krings. Zwar inkludiert er in seine dreidimensionale Freiheitsanalyse des Menschen das Vermögen zum Bösen, auf den Gottesbegriff möchte er aber trotz anderer Transferleistungen diesen Moment von Freiheit nicht übertragen. Ockham, Krings und Schelling schreiben gegen einen defizitären Begriff menschlicher Freiheit und zumindest partiell auch gegen einen mangelhaften Freiheitsgehalt im Gottesbegriff an. Trotzdem verharren alle in essentialistischen Kategorien, sobald es um einen realen Freiheitsbegriff im Gotteskon-

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6. Inhaltlicher Vergleich der drei Fallbeispiele

zept geht, und weisen den Begriff eines göttlichen Vermögens zum Bösen zurück. Die moralische Qualifizierung des geglaubten Gottes als (vollkommen) gut wird damit fragwürdig.

7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick „Was heißt denn und wie ist es möglich, vom Gott der Liebe zu sprechen?“ 1

Nach dem inhaltlichen Vergleich der Theorien der untersuchten Theologen und Philosophen soll nun ein systematischer Ausblick erfolgen, in dem ein eigener Versuch der Antwort auf die Forschungsfrage dieser Arbeit gewagt wird. Dass diesem kein Wissen über einen möglicherweise existierenden, möglicherweise aber auch nicht existierenden Gott vorausgeht und auch kein Wissen aus diesem Ausblick erfolgt, sollte nicht eigens erwähnt werden müssen. Es geht lediglich um einen spekulativen Ausgriff, der auf der Basis von jüdisch-christlichen Vorstellungen von einem geglaubten Gott einen möglichen, logisch kohärenten Gottesbegriff auslotet. Der Arbeit vorausgegangen war das Wundern über den Bedeutungsgehalt der Aussage ,Gott ist die Liebe‘. Dieser Satz ist in der klassisch christlichen Dogmatik bis heute omnipräsent, ohne dass er weitere Erklärungen erfährt. Einzig der Hinweis, dass Gott notwendigerweise das vollkommene Gute sei, wird mitunter gegeben. 2 Was aber meint diese Aussage und muss, so die Forschungsfrage dieser Studie, dem Guten nicht eine Entscheidung im Rahmen der Freiheit zum Guten und zum Bösen vorausgehen, um überhaupt das Gute als Gutes moralisch qualifizieren zu können? Denn wenn die Begriffe von Gut und Böse im menschlichen Sprachgebrauch als Werturteile genutzt werden, stellen sie eine normative Alternative dar, die nur vor diesem Dualismus an Sinn gewinnt. Handlungen von Personen werden als gut oder böse bewertet, weil vorausgesetzt wird, dass alternative Handlungsoptionen existieren. Es wird also eine Wahl- und Handlungsfreiheit angenommen, aus der heraus eine Entscheidung getroffen wird, die zwar unter soziokulturellem Druck erfolgt sein mag, aber nicht notwendigerweise erfolgen musste. Die Handlung kann als gut oder böse beurteilt und damit normativen Kriterien unterworfen werden. Gut und Böse setzen also als moralische Kategorien Wahl- und Handlungsfreiheit voraus. Im Anschluss an Boethius 3 wird in der Gottesrede hingegen seit Jahrhunderten darauf verwiesen, dass ein Vermögen zum Bösen den Begriff des vollkommenen Gottes zerstören würde. Exemplarisch sei die These Saskia Wendels genannt, die präsumiert: „Gott wird in einer anthropomorphen Projektion des Freiheitsverständnisses seiner moralischen Vollkommenheit beraubt, wenn er zur 1 2

3

Pröpper, Fragende und Gefragte, 271. Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis, 433; Langenfeld, Schweigen brechen, 259 f.; Pesch, Liebe, 501; Tück, Der Zorn, 401 f.; Wendel, Wunsch, 26, und die Auseinandersetzung mit diesen in Kapitel 1.1.1. Boethius, Trost IV, 2. p.: „Cum igitur bonorum tantummodo potens possit omnia, non vero queant omnia potentes etiam malorum, eosdem, qui mala possunt, minus posse manifestum est.“

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7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick

Schuld fähig ist“ und diese Denkoperation als „Inkonsistenz“ erachtet. 4 Wenn aber die Termini von Freiheit, Gut und Böse für den Begriff Gottes und den Begriff des Menschen äquivok genutzt werden, wird dann nicht, so lässt sich als Anfrage formulieren, der Gottesbegriff unverständlich? Ist also nicht der Gedanke eines freiheitlichen Vermögens zum Guten und zum Bösen notwendiger Bestandteil eines Gottesbegriff, der die Hoffnung auf einen personalen, vollkommen guten Gott zum Ausdruck bringt? Diese Fragen sind nicht gänzlich neu. Im englischsprachigen Diskursraum hat sich seit den 1950er-Jahren eine kleine und unregelmäßig stattfindende, aber bemerkenswerte Debatte über die Frage entwickelt, ob im Gottesbegriff ein Vermögen zum Bösen gedacht werden sollte. Die Beiträge konzentrieren sich dabei auf den Austausch logischer Argumente, ohne diese mit historischen Beispielen zu untermauern. Während die Partei um Paul Franks, Laura Garcia und Alvin Plantinga 6 auf die wesenhafte und daher notwendige Gutheit Gottes hinweist, halten Theodore Guleserian, Jonathan Harrison und Nelson Pike 7 moralische Gutheit auch im Gottesbegriff lediglich vor der Alternative des Vermögens zum moralisch Bösen für möglich. Im deutschsprachigen Raum sind diese Diskussionen nicht aufgenommen worden, gleichwohl sind sie für die gegenwärtige Debatte über einen Theismus beziehungsweise Panentheismus von Relevanz. Denn auch hier wird die Liebe Gottes in Anspruch genommen – und zwar als eine der wenigen Thesen, die von beiden Seiten einvernehmlich unterstützt wird –, ohne dass die freiheitstheoretischen Bedingungen einer solchen Rede hinreichend geklärt wären. Mit dieser Arbeit soll daher zum einen im deutschsprachigen Raum auf das Problem aufmerksam gemacht und zum anderen die englischsprachige Debatte um eine historische Dimension ergänzt werden. Der Begriff des Bösen wurde auf die Dimension des moralisch Bösen konzentriert. Zwar verschärft die Rede vom moralisch Bösen im Gottesbegriff instantan das Theodizee-Problem und eröffnet den Raum für Anfragen zum sogenannten metaphysischen und physischen Übel. Ohne dass Anschlussfragen darüber hinaus unnötig werden würden, sollte mit dieser Arbeit Grundlagenforschung betrieben 4

6 7

Wendel, Streitfall „Theodizee“, 74. Möglicherweise könnte hier mit Wendel, Wahrhaftig, 117, gegen Wendel eingewandt werden, dass die „Autonomie seines [des Menschen] Vollzuges als bewusstes Leben [...] der Autonomie Gottes analog ist“ und damit also doch das Vermögen zum Guten und zum Bösen beinhaltet. Dafür müsste aber erstens die bereits angesprochene Frage geklärt werden, in welchem Sinne Wendel den Terminus „analog“ nutzt. Damit einhergehend müssten zweitens die Definition von „Autonomie“ und gegebenenfalls bestehende Unterschiede in der Nutzung des Begriffs in Bezug auf das Konzept vom Menschen und von Gott erläutert und Gründe für eine differente Nutzung benannt werden. Vgl. Franks, Divine Freedom, bes. 117; Garcia, Essential Moral Perfection, 140; Plantinga, Nature of Necessity, bes. 216. Vgl. Guleserian, Moral Perfection; Guleserian, Divine Freedom; Guleserian, God and Possible Worlds, bes. 236; Harrison, Geach on Harrison; Harrison, God‘s Alleged Ability; Pike, Omnipotence, und die Auseinandersetzung mit beiden Parteien in Kapitel 1.1.2.

7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick

235

werden. Daher galt das Interesse den logischen Voraussetzungen der Rede von Gott als dem moralisch vollkommen Guten. Muss, so noch einmal die ausformulierte Forschungsfrage dieser Untersuchung, im Gottesbegriff ein Vermögen zum Bösen gedacht werden, um postulieren zu können, Gott sei das vollkommen Gute? Das moralisch Böse wurde dabei im Anschluss an Kants Religionsschrift und seine dort formulierte dritte Ebene des Bösen als eine wissentlich und willentlich begangene Grausamkeit an Menschen definiert. 8 Oder noch einmal reformuliert: als bewusst und gezielt durchgeführte Verletzung der Würde eines Menschen. Für die Untersuchung wurden mit Wilhelm von Ockham, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hermann Krings drei Personen ausgewählt, die zwar den Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen ablehnten, sich mit ihm aber zumindest ernsthaft auseinandersetzten und freiheitstheoretische Grundlagen schufen, welche von zentraler Bedeutung sind, um das Vermögen zum Bösen im Gottesbegriff ausformulieren zu können. An dieser Stelle sollen für die systematischen Thesen zentrale Argumente noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden. Schelling spricht in seiner 1809 veröffentlichten sogenannten Freiheitsschrift erstmals explizit von der menschlichen Freiheit als einem Vermögen zum Guten und zum Bösen. Er möchte dieses Verständnis als Definition realer Freiheit verstanden wissen, nachdem Kant und andere Philosophen in Auseinandersetzung mit ihm Freiheit zwar als von Naturkausalitäten und der Zeit unabhängiges Anfangenkönnen beschrieben, damit aber Schelling zufolge nur einen formellen Freiheitsbegriff formuliert hatten. Er widerspricht mit seiner Definition der jahrhundertealten neuplatonischen Tradition, der zufolge das Böse nicht als eigene Wirklichkeit, sondern als bloßer Mangel des Guten, also des Seins, aufzufassen sei. Für Schelling ist das Böse eine positive, dem Guten gegenüberstehende, Wirklichkeit. Dementsprechend existiert für ihn auch nicht nur ein menschliches Vermögen zum Guten, das in Perfektion oder graduell abgestuftem Mangel vollzogen werden kann, sondern die menschliche Freiheit zeichnet sich gerade durch das Vermögen aus, zwischen zwei Wirklichkeiten – dem Guten und dem Bösen – auswählen zu können. 9 Krings knüpft circa 150 Jahre später dezidiert an Schellings Definition an 10 und ergänzt sie um eine transzendentale Ebene. Denn ein reales Freiheitsvermögen und die praktische Freiheit, sich selbst stets zum allgemeinen Gesetz werden könnende Handlungsmaximen geben zu können, müssten selbst noch einmal affirmiert werden. Wieso Regeln überhaupt sein sollten, kann dem Münchener Philosophen zufolge nur durch eine transzendentale Dimension von Freiheit erklärt werden. Auf dieser Ebene öffne sich das Subjekt grundlegend für andere formal unbedingte Freiheit, affirmiere diese als einzig angemessenen Gehalt von Freiheit und als sein sollend. Erst aus diesem ursprünglichen, sich entschließenden Bestimmungsakt lie8 Vgl. Kant, RGV, B 22 / A 20 f. 9 Vgl. Schelling, AA I, 17, 125, 143. 10 Vgl. Krings, Freiheit Gottes.

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7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick

ßen sich Handlungsmaximen und moralische Kriterien ableiten und verstehen. 11 Damit sind relevante Bestimmungen der menschlichen Freiheit gesetzt. Sowohl Krings als auch Schelling lehnen aber den Transfer ihres menschlichen Freiheitsverständnisses auf den Gottesbegriff ab. 12 Wenn, wie Krings hervorhebt, ein Gottesbegriff im Anschluss an das Alte und das Neue Testament formuliert und damit ein personaler Gottesbegriff ausgebildet werden soll, 13 der nicht in der Äquivokation verloren geht, muss dieser fehlende Transfer jedoch kritisch hinterfragt werden. Hierfür hilfreich ist das Gottesverständnis Wilhelm von Ockhams. Dieser verteidigt den Begriff eines freien, personalen Gottes gegenüber einer arabisch-aristotelischen Theo- und Kosmologie der Notwendigkeit. Mithilfe der begrifflichen Unterscheidung der potentia Dei absoluta und der potentia Dei ordinata bekräftigt er den Wert der Freiheit im Gottesbegriff, dessen Preis – mit Krings gesprochen – im negativen Sinne ein gestiegenes Maß an Fragilität im Gottesbegriff ist, im positiven Sinne aber die Treue Gottes gegenüber den Menschen sichert. 14 Bevor hiervon ausgehend ein spekulativer Gottesbegriff skizziert wird, der die Grenzen der theoretischen Vernunft nicht überschreitet, gleichwohl aber im Anschluss an die kantischen Postulate gewagt werden soll, muss eine letzte, bereits tangierte Frage beantwortet werden: Aus welchen Gründen ist es statthaft, das Verständnis menschlicher Freiheit auf den Gottesbegriff zu übertragen? 1. In der Auseinandersetzung mit Krings wurde bereits die Relevanz des Univozitätsdenkens aufgezeigt. Soll die Äquivokation vermieden werden, bleibt einzig die Univozität als Grundlage begrifflicher Bestimmungen, nachdem sich das Analogiedenken als nicht funktionstüchtige Alternative herausgestellt hat. Dies gilt auch für das Gottdenken. Damit ist nicht gemeint, dass Gottes Wesen und Wirken der menschlichen Vernunft vollständig einsehbar wären, sondern dass überhaupt nur auf der Grundlage univoker Begriffsbestimmungen Differenzen zwischen dem Begriff des Menschen und dem Begriff Gottes aufgezeigt werden können. Selbstverständlich gibt es nicht-sprachliche menschliche Ausdrucksformen. Des Weiteren existiert eine lange Tradition der negativen Theologie, welche in all den zu berücksichtigenden historischen Differenzen als einheitliches Moment die Ablehnung positiver Aussagen im Gottesbegriff aufweist. Positive Aussagen unterminieren demzufolge die absolute Transzendenz Gottes. Exemplarisch sei an dieser Stelle an Plotin erinnert, dessen Schriften immensen Einfluss auf christliche Theologien hatten. Im Kontext eines ontologischen Partizipationsdenkens führt er jegliche Vielheit auf eine absolut einfache Einheit zurück. Diese muss ihm zufolge jegliche Bestimmungen transzendieren, ist zugleich aber 11 12 13 14

Vgl. Krings, Reale Freiheit. Vgl. Krings, Freiheit Gottes, 176; Schelling, AA I, 17, 162 f. Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, bes. 179. Vgl. exemplarisch Ockham, Quodl. VI, qu. 2 (OTh IX, 591,47–53); Krings, Preis der Freiheit.

7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick

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Ursprung aller Vielheit. 15 Aussagen zum absolut Einen, das in der Geschichte der christlichen Rezeption mit Gott identifiziert wurde, geschweige denn positive Aussagen, erscheinen dabei als unangemessen. Der Kern des christlichen Bekenntnisses besteht jedoch in der so fragilen wie hoffnungsvollen Glaubensaussage, Gott sei Mensch geworden. Folgt man diesem Zeugnis müssen zumindest auch sprachliche Ausdrucksformen gefunden werden. Negative Theologie hat letzteres zwar ebenfalls erkannt und glaubt, durch ontologisch-partizipationstheoretisches Analogiedenken christliche Glaubensaussagen fundieren zu können. Die Kritik von Duns Scotus, welche von Wilhelm von Ockham weiterentwickelt wurde, konnte aber die entscheidenden Defizite dieser Theorie aufzeigen. Aussagen über den geglaubten Gott sind nur auf der sprachphilosophischen Basis eines Univozitätsdenkens plausibel zu machen. 16 2. Aus diesen Überlegungen folgt aber nicht notwendigerweise der Begriff eines personalen Gottes. Beispielsweise könnte das Weltgeschehen als ein in Notwendigkeit sich vollziehender Prozess gedacht werden. Dabei könnte Gott spinozistisch oder hegelianisch mit dem Prozess selbst identifiziert werden. In beiden Varianten stellt sich schärfer als zuvor die Relevanzfrage dieses Gottesbegriffs. Wenn der Prozess selbst Gott ist, dann verlieren zentrale Gedanken des Christentums an Bedeutung, denn weder gäbe es einen Adressaten des Bittgebets, noch wäre der Gedanke einer individuellen Rettung zulässig. Die auf einen Gott hoffenden Postulate Kants müssten zurückgewiesen werden und die Theodizeefrage wäre nicht einfach hinfällig, sondern müsste beantwortet werden mit dem Verweis auf die Identität Gottes mit Naturkatastrophen und deren Notwendigkeit. Dieser Gottesbegriff wäre moralisch fragwürdig. Die Rede von einem moralisch guten Gott müsste angesichts des Nezessitarismus konsequent negiert werden. Darüber hinaus würde sich die menschliche Freiheit als reiner Schein in einem notwendigen Prozess entpuppen. Dieser Gottesbegriff ist daher trotz seiner philosophischen Raffinesse, mit der die Geschlossenheit eines Systems veranschlagt werden könnte, aus moralischen Gründen zweifelhaft. Auch panentheistische Konzepte der Gegenwart denken Gott weniger als Person, denn vielmehr als das Absolute, beziehungsweise als die All-Einheit. Der proklamierte Vorteil dieser Konzepte liegt darin, dass im Gegensatz zu klassisch theistischen Konzepten kosmologische Probleme der Gegenwart beantwortet werden könnten. Ganz davon abgesehen, dass geklärt werden müsste, was klassisch theistische Vorstellungen sein sollen, werden auch in All-Einheitslehren anthropomorphe Kategorien auf den Gottesbegriff übertragen, die meistens Personkonzepte voraussetzen. So werden Vorstellungen von Vollkommenheit, Lie15 Vgl. Plotin, Schriften, 9, 23 f. 16 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, bes. 373; Striet, Offenbares Geheimnis, bes. 126–151.

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7. Systematische Reflexionen und ein Ausblick

be und Freiheit aufgerufen. Exemplarisch soll noch einmal an das „dipolare“ 17 Gotteskonzept von Charles Hartshorne erinnert werden, das in die zeitgenössische Diskussion von Julia Enxing und Klaus Müller eingebracht wurde und eine fruchtbare Erweiterung der Debatte bietet. Der Gottesbegriff des amerikanischen Philosophen enthält Enxing zufolge zwei Pole. Zum einen das unbegrenzte Absolute, und zum anderen die vom Menschen berührbare und sich somit auf den zeitlichen Prozess einlassende Person, die die Zukunft nicht kenne und den Menschen Freiraum lasse. 18 Gott als das Absolute umfasse die Welt in ihrer Vielheit. Zugleich könne Gott als Person mit den Menschen in Beziehung treten, sich von ihnen beeinflussen lassen, und „setz[e] unserem Entscheidungsspielraum die bestmöglichen Grenzen und lenk[e] uns somit, ohne uns jedoch vollständig zu kontrollieren.“ 19 Diese Vorstellung bietet gegenüber einem rein vom Absoluten redenden Pan(en)theismus den Vorteil, dass eine Art der Beziehung von Gott und Mensch integriert werden kann, welche versucht, die Freiheit des Menschen zu wahren, indem Gott auch als Person gedacht wird. Hartshorne sah außerdem, dass dem Menschen keine andere Redeweise über den geglaubten Gott möglich ist als eine anthropomorphe. 20 Zugleich aber lässt sich rückfragen, wie dieses dipolare Bild zu verstehen ist. In seiner Dipolarität erinnert es stark an das Schelling’sche Gottesverständnis der Freiheitsschrift. Gott wird als Person verstanden und zugleich als das Absolute, beziehungsweise als der Ungrund, aus dem alles hervorgeht. Wie aber ist dann der Begriff der Einheit Gottes zu verstehen? Und würden Verweise, dass Einheit im Gottesbegriff anders zu definieren sei als in der Welt, nicht wieder auf eine Äquivozität hinauslaufen, welche perspektivisch jegliche Rede von Gott ad absurdum führen würde? Mit dem Problem der Einheit ist außerdem das Freiheitsverständnis angesprochen. Denn meint Freiheit, so lässt sich fragen, beim absoluten Pol etwas anderes als beim personalen Pol, beispielsweise Selbstoffenbarung und ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, und in welchem Verhältnis sollen diese Freiheitskonzepte zueinanderstehen? Damit sind die vorerst wichtigsten Rückfragen für den Kontext dieser Arbeit adressiert. 3. Den folgenden Überlegungen liegt daher ein theistisches Gottesbild zugrunde. Aber auch dieser Gedankenschritt zieht nicht notwendigerweise einen Begriff von Wahl- und Handlungsfreiheit im Gottesbegriff nach sich. So könnte der Begriff eines personalen Gottes formuliert werden, der der Notwendigkeit selbst ohnmächtig unterworfen ist. Ohnmacht würde dann verstanden werden als eine radikal notwendige, also nicht als eine aus freier Entscheidung selbst von Gott 17 18 19 20

Enxing, Gott im Werden, 67. Vgl. Enxing, Gott im Werden, bes. 179, 187; Müller, Gott jenseits von Gott. Enxing, Gott im Werden, 175. Vgl. Enxing, Gott im Werden, 77–81.

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herbeigeführte, wie Hans Jonas im Rahmen einer Theologie nach Auschwitz proklamiert hat. 21 Der Begriff eines ohnmächtigen Gottes kann zwar durch den ergänzten Gedanken des mitleidenden Gottes Trost spenden, bietet jedoch ebenfalls keine Hoffnung auf ein eschatologisches Geschehen und würde darüber hinaus aufgrund der vollständigen Heteronomie Gottes philosophische Rückfragen nach sich ziehen. 4. Wenn man versucht, den Begriff eines Gottes zu formulieren, der selbst Mensch geworden ist und der die Hoffnung auf ein eschatologisches Geschehen, in welchem die Individualität des Menschen gewahrt bleibt und ,alle Tränen abgewischt werden‘ (nach Offb 21,4), aufrechterhält, müssen bestimmte Aussagen getroffen werden. Denn dieses Bild umfasst einen personalen, freien und selbstreflexiven Gott, der sich unbedingt auf die Welt und die Menschen beziehen kann. Denn nur der Gedanke eines personalen Wesens lässt den Handlungsspielraum zu, in Freiheit sich a) ursprünglich auf diese Welt beziehen zu wollen, b) dieser Welt und den Menschen die Treue zu halten und c) den „Tod töten [zu] k[ö]nnen“. 22 Das bedeutet, dass in diesem Gottesbegriff eine Wahl- und Handlungsfreiheit integriert ist, wie sie auch für den Menschen in Anspruch genommen wird. Darüber hinaus muss in diesem Gottesbegriff ein moralisches Koordinatensystem gesetzt werden, in welchem eine Differenz zwischen Gut und Böse existiert. Denn erst vor dieser freiheitlichen Alterität kann gedacht werden, dass Gott Spielarten des Bösen als böse ausmachen und bewerten kann, und sich vor dieser zur Wahl stehenden Alternative selbst stets zum Guten entscheidet, womit ihm das Attribut des vollkommen Guten zustehen würde. Unter diesen Bedingungen kann nachfolgend ein kohärentes Konzept eines personalen und freien Gottes formuliert werden. Der Gott, von dem der Jude Jesus von Nazareth gesprochen und in dessen Namen er sich den sozial Ausgegrenzten zugewendet hat, ist ein der Welt und den Menschen zugewandter, sie gar liebender, personaler Gott. Philosophisch lässt sich dieser Gedanke mit dem Freiheitsmodell von Krings rekonstruieren. Wenn Gott als Grund der Welt und als Antwort auf die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, geglaubt wird, dann kann mit Krings der Begriff eines Gottes gebildet werden, der sich ursprünglich für andere, formal unbedingte Freiheit 21 Vgl. Jonas, Gottesbegriff, der aufgrund der bodenlosen menschlichen Grauen, mit denen sich der Name Auschwitz verbindet, insbesondere das klassische Gottesprädikat der Allmacht verabschiedete. Ihm zufolge ist ein freier, allmächtiger Gott, der angesichts solcher Ereignisse nicht eingreift, aus moralischen Gründen derart diskreditiert, dass nicht weiter an ihm festgehalten werden darf. Seine Alternative ist die Vorstellung eines Gottes, der sich zugunsten der menschlichen Freiheit seiner eigenen Freiheit entledigt hat und das Weltgeschehen ohnmächtig und mitleidend begleitet. Auch dieses Konzept hat mit dem Problem umzugehen, dass die Hoffnung auf ein eschatologisches Geschehen nicht inkludiert werden kann. 22 Krings, Freiheit Gottes, 187.

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entschlossen hat, als einzig angemessener Gehalt seiner eigenen, vollkommenen Freiheit. 23 Diese Theorie lässt sich darüber hinaus, ohne dies hier detailliert ausführen zu können, mit Ideen der jüdischen Lehre des Zimzum 24 verbinden. Versuchsweise könnte gedacht werden, dass der geglaubte Gott sich kraft seiner transzendentalen Freiheit für andere Freiheit öffnet, andere Freiheit als sein sollend affirmiert und damit – sich selbst zurückziehend – einen Raum schafft, der notwendig ist, damit andere Freiheit Wirklichkeit werden kann. Er kann dann nur darauf gehofft haben, dass ein freies Gegenüber darauf affirmierend reagieren würde. Erst durch das freie Sich-Einlassen der Menschen auf das Angebot Gottes kann der biblische Gedanke des Bundes, oder – mit Krings formuliert – ein „Kommerzium freier Wesen“ 25 gedacht werden. In Konsequenz bedeutet dieser Gedanke, dass Gott auch hätte verschlossen bleiben können. Er musste sich folglich nicht öffnen, sondern tat dies aus freien Stücken. Das transzendentale Öffnen Gottes für andere Freiheit stellt dabei die Bedingung der Möglichkeit dar, Handlungen als gut und böse bewerten zu können. Das umfasst auch die Taten Gottes gegenüber den Menschen. Denn in dem Moment, in dem sich der geglaubte Gott für andere Freiheit freiwillig öffnet, diese als sein sollend affirmiert und damit den Raum für Interaktionen schafft, wird auch die Möglichkeit eröffnet, nachfolgende Handlungen anhand normativer Kriterien zu beurteilen. Transzendentale Freiheit stellt somit die Bedingung für praktische und reale Freiheit dar. Wenn sich aber Gott auf einen Bund mit den Menschen einlässt, dann unterwirft auch er sich bestimmten Spielregeln. Dieser Gedanke zieht zwei wichtige Schlüsse nach sich. Erstens bedeutet dies, dass auch Gott – mit Schelling über Schelling hinausgehend – ein Vermögen zum Guten und zum Bösen haben muss, wenn seine Handlungen als frei gedacht werden sollen. Wenn er einen Bund geschaffen hat, weil er sich in Liebe auf die Menschen einlassen wollte, setzt der Begriff der Liebe voraus, dass er es nicht notwendigerweise tun musste, sondern sich in Freiheit dazu entschlossen hat. Um dies mit Worten des italienischen Philosophen Luigi Pareyson zu formulieren: „Da verdient nur das den Namen des Positiven, was auch Negatives hätte sein können, den Namen des Guten nur das, was das Wagnis eingegangen ist, auch Böses werden zu können.“ 26 Gott muss also die Möglichkeit des Bösen in sich 23 Vgl. Krings, Versuch Gott zu denken, 179–181; Krings/Simons, Gott, 639. 24 Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Lehre des Zimzum und ihrer Wirkungsgeschichte Scholem, Jüdische Mystik, bes. 267–290; Schulte, Zimzum; Bielik-Robson/Weiss, Tsimtsum and modernity. 25 Krings/Simons, Gott, 637. 26 Pareyson, Staunen der Vernunft, 55. Pareyson erörterte selbst auch die Möglichkeit des Bösen im Gottesbegriff und konstatierte: „Eben um Positivität zu werden, musste Gott die Verneinung kennen und das Negative erfahren. Eben um die negative Möglichkeit zu verwerfen, musste er sie in Betracht ziehen. [...] Außerdem hat Gott das Böse eingeführt, in dem Sinne, dass er in dem Akt der Selbsterzeugung das untätige und leere, anfängliche Nichtsein

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haben, ein Vermögen zum Bösen, damit er als moralisch vollkommen bezeichnet werden kann. Auch das lässt sich in geringfügiger Modifikation mit Schelling denken: In Gott existiert die Möglichkeit zum Bösen. Das bedeutet nicht, dass er diese Möglichkeit auch Wirklichkeit werden lässt. Sie muss aber gedacht werden, soll das Gute aus einer freien Entscheidung heraus realisiert worden sein. Damit ist der entscheidende Unterschied zum Begriff eines bösen Gottes gewahrt. Handlungen Gottes können dann als böse qualifiziert werden, so lässt sich der Gedanke ausführen, wenn Gott die affirmierte Freiheit der Menschen verletzt und die Regeln bricht, denen er sich mit dem Bundesschluss und der damit in Freiheit etablierten Ordnung freiwillig unterworfen hat. Er musste keinen Bund schließen. Aber in den Moment, in dem er in Freiheit ein Bundesangebot unterbreitet, begibt er sich auf ein Feld, das moralische Urteile ermöglicht. Das ist ein hochgradig fragiles Gottesverständnis, das sich dem Vorwurf des Willkürgottes ausgesetzt sieht. Die jedoch weiterhin nicht beantwortete Rückfrage lautet: Wie anders lässt sich der traditionelle Begriff von Gottes vollkommener Güte und seiner Liebe denken? Güte und Liebe sind Termini, welche nur im Spannungsfeld gegensätzlicher Alternativen sinnvoll werden. Erst im Angesicht der Möglichkeit des Bösen lässt sich die Wirklichkeit des Guten anerkennen. Die Zusage der Liebe lässt sich nur wertschätzen in dem Wissen um ihre Freiwilligkeit. Notwendigkeit kennt keine Liebe. Um noch einmal Pareyson zu zitieren: „Niemand wird leugnen, dass es besser ist, dass das Böse freiwillig begangen wird, als dass das Gute bloss erzwungen geschieht. Ein erzwungenes Gutes hebt sich selber auf, denn gut im wahren Sinne ist nur, was frei erfolgt, wo auch das Böse getan werden könnte.“ 27 Es soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass dieses Konzept seine Stärke in jenes tätige Nichts, das das Böse ist, verwandelt hat, und es war dann in einem Sinne er, der es in das Universum gebracht hat, wo es früher nicht war.“ Gleichwohl nahm er an, dass Gott „das Böse ab aeterno besiegt hat“. (Beide Zitate zit. n. Pogliano, Der andersartige Anfang, 202 f.) Die Möglichkeit des Bösen, so lässt sich folgern, existiert für Pareyson im Gottesbegriff, aber nur im anfänglichen Moment der Selbstkreation. In diesem Ursprungsmoment hätte Gott als absolute Freiheit auch das Böse als Nicht-Sein wählen können, indem er sich jedoch für das Gute, verstanden als Sein, entschied, ist das Böse bezwungen. Das Böse bleibe zwar als „Spur“ beziehungsweise „Schatten“ (Zit. n. Pogliano, Der andersartige Anfang, 203) in Gott vorhanden, aber eine zu ergreifende Möglichkeit stelle sie nur noch für den Menschen dar. Demnach ändert sich der Freiheitsgehalt im Gottesbegriff Pareysons im zeitlichen und logischen Verlauf. Die ursprüngliche (göttliche) Freiheit, wählen zu können, scheint nach der ersten Entscheidung für das Sein mindestens eingeschränkt zu sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern die Kategorie des Bösen im Gottesbegriff Pareysons tatsächlich als eine moralische Qualifikation verstanden werden darf. Angesichts der bisher lediglich marginal erfolgten Übersetzung der Werke Pareysons ins Deutsche, stellt dies aber mehr eine tastende, systematische Anfrage, als einen ausgefeilten Interpretationsversuch dar. Vgl. für einen Überblick über Pareysons Werk Ciancio, Pareyson; De Candia, Einleitung; Gubatz, Turiner Schule, bes. 229–355; Pogliano, Der andersartige Anfang, bes. 143–189; Weiß, Hermeneutik. 27 Pareyson, Staunen der Vernunft, 51.

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nur durch die Kritik an der Schwäche anderer Theorien gewinnt. Auch innerhalb dieser Konstruktion lässt sich auf den Vorwurf der Willkür und auf die Fragilität reagieren, und zwar mit Wilhelm von Ockham. Die Macht Gottes umfasst in dessen Worten die Möglichkeit, sich in Zukunft anders zu verhalten, als dies in der Vergangenheit der Fall war und es in der Gegenwart geschieht. Auf den Bundesgedanken übertragen bedeutet dies, dass gedacht werden muss, dass Gott den Bund in Freiheit eingegangen ist und ihn dementsprechend auch jederzeit im Rahmen seiner potentia absoluta aufkündigen könnte. Folgerichtig ist dann der Gedanke, dass nicht nur die Menschen die aufgestellten Regeln brechen und damit böse handeln können, sondern auch Gott. Denn mit Ockham muss über Ockham hinausgehend gedacht werden, dass zwar Gott erst einmal niemandes Schuldner ist und somit keinen Gesetzen untersteht, die er brechen könnte. Sobald er aber in Freiheit einen Bund schließt, unterliegt auch er Regeln und normativen Kriterien und seine Handlungen können nach einem Regelverstoß als moralisch böse qualifiziert werden. Gleichwohl hat schon Ockham darauf verwiesen, dass der biblische Gottesbegriff die göttliche Treue gegenüber den Menschen inkludiert. Trotz der Fragilität, den der ausgeführte Gedanke mit sich bringt, ist er von zentraler Bedeutung für die Idee, dass Gott Menschen liebend die Treue hält. Denn soll der Begriff göttlicher Treue nicht inkommensurabel werden, muss auch für ihn Freiheit vorausgesetzt werden. Folglich ist die geglaubte, bleibende Zusage Gottes an die Menschen keine Notwendigkeit. Gerade das aber macht sie so wertvoll. Erst vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Untreue gewinnt der Begriff der Treue an Wert. Der Gedanke der Treue entfaltet nur als ein freies Geschehen seine volle Bedeutung. Resümierend lässt sich festhalten, dass der im christlichen Kontext vielfach bemühte Begriff vom liebenden, gütigen Gott erst dann seinen Sinn entfaltet, wenn er als freier Entschluss eines personalen Wesens gedacht wird. Mithilfe von Ockham, Schelling und Krings lässt sich diese Theorie kohärent entwickeln, auch wenn sich alle drei von dem dafür notwendigen Gedanken eines göttlichen Vermögens zum Bösen distanzieren. Das dreidimensionale Freiheitsmodell von Krings lässt sich auf den Gottesbegriff übertragen und entfaltet in Verbindung mit der jüdischen Zimzum-Lehre insofern seine Wirkung, als dass das ursprüngliche Öffnen Gottes für ein externes Gegenüber, beziehungsweise für andere Freiheit, als Eröffnung eines Raumes gedacht werden kann, in dem sich formal unbedingte Freiheit realisieren kann. Auf der Grundlage dieser transzendentalen Freiheitsdimension kann dann der biblische Gedanke des Bundes zwischen Gott und den Menschen entwickelt werden. Gott, so ließe sich denken, eröffnet das Angebot des Bundes freier Wesen, auf welches der Mensch in Freiheit zu reagieren vermag. Der Charakter der Freiheit dieses Prozesses auch auf Seiten Gottes inkludiert ein reales Vermögen zum Guten und zum Bösen. Das bedeutet mit Schelling gesprochen, dass das Böse nicht als ein reiner Mangel des Guten, sondern als alternierende

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Wirklichkeit dem Guten gegenübersteht und verwirklicht werden kann. Auf den Gottesbegriff übertragen, könnte das moralisch Böse als gezielte und wissentliche Verletzung der menschlichen Freiheit und somit als Gesetzesverstoß verstanden werden. Ein solches Verhalten kann dann als Regelbruch interpretiert werden, wenn an dem Gedanken festgehalten wird, dass Gott sich in Liebe auf den Menschen eingelassen hat, und so – mit Krings gesprochen – in Freiheit eine Ordnung geschaffen hat, in deren Rahmen er sich fortan bewegt. Grundsätzlich kann zwar dem Hinweis Ockhams zugestimmt werden, dass Gott niemandes Schuldner sei. Sobald sich Gott aber auf die Menschen einlässt und einen partnerschaftlichen Bund stiftet, umfasst dieser Gedanke Regeln und Normen, die nicht für beide Seiten vollkommen identisch sein müssen, aber doch zumindest für beide Seiten einen geltenden Rahmen abstecken. Mit Schelling könnte das Böse als Überordnung des Eigenwillens über den Universalwillen gedacht werden. Denn wenn der Gedanke, dass Gott tatsächlich Mensch geworden ist, weil er sich für den Menschen interessiert und ihn liebt, 28 ernst genommen werden soll, dann darf geschlussfolgert wer28 Dieser Gedanke widerspricht dem klassisch gewordenen augustinisch-anselmianischen Soteriologiekonzept. Denn letzteres arbeitet mit historisch kontingenten Vorstellungen, die heutzutage fragwürdig geworden sind. Vorausgesetzt wird die Anthropologie Augustinus’, wie er sie seit 397 entwickelt hat. Der Mensch wird dem späten Augustinus zufolge nicht zurechenbar schuldig und sündigt dabei vor Gott, sondern ihm wird die Sünde von Adam und Eva weitervererbt. Gegenüber seiner Sündhaftigkeit ist der Mensch ohnmächtig. Ob der Mensch erlöst wird, entscheidet Gott unabhängig vor aller Zeit. Anselm ergänzt dies um Vorstellungen der hierarchischen Gesellschaftsstruktur seiner Zeit. Der Mensch stehe mit seiner – vererbten – Sünde so tief in der Schuld Gottes, dass er nur noch auf Gottes Sühneleistung hoffen könne. Um das kosmische Gleichgewicht nicht zu stören, erlasse Gott die Sünde nicht einfach, sondern benötige ein Sühneopfer. Da der Mensch dies nicht darbringen könne, müsse Gott selbst Mensch werden, sterben und dadurch die Sünden der Menschen sühnen. Vgl. für eine detaillierte Analyse der augustinischen Anthropologie und Theologie ab 397, und damit den nach Augustinus’ eigener Auskunft einzig relevanten und gültigen Teil seines Werkes Flasch, Logik des Schreckens. Wie different die zweite Schöpfungserzählung (Gen 2,4–3,24) gelesen werden kann hat zuletzt Schäfer, Die Schlange, bes. 327–357, vorgeführt. In jüdischen Rezeptionspraktiken wurde die vermeintliche Sündenfallgeschichte konträr als Erzählung über die von Gott gewollte Selbstbefreiung des Menschen gelesen, der dank der Schlange seiner Vernunftbegabung einsichtig werde, sich zu seiner Freiheit entscheide und damit erst in die reale Welt eintrete. Schäfer, Die Schlange, 355 f.: „Schon der Text der Hebräischen Bibel versteht die Übertretung des göttlichen Gebots durch Adam und Eva im Paradies nicht als ,Sünde‘ und schon gar nicht als ,Erbsünde‘, sondern als notwendige und von Gott nicht nur vorausgesehene, sondern geduldete, wenn nicht sogar beabsichtige Handlung des ersten Menschenpaares: Gott wusste und wollte, dass der Mensch erst mit der Ausübung des freien Willens zum Menschen im eigentlichen Sinne wurde. Die Literatur des nachbiblischen Judentums unterstreicht die Bedeutung der freien Wahl zwischen gut und böse als Kern des Menschseins und das rabbinische Judentum spitzt dieses Verständnis des ,Sündenfalls‘ in fast unerträglicher Weise zu [...] Nur der Tod ermöglicht eine Abfolge der Generationen und setzt die Geschichte in Gang“. Eine alternative, ebenfalls auf historisch-kontingenten Ideen basierende Soteriologie geht weniger von einem Verhältnis zwischen Herrn und Knecht aus als vielmehr von einer part-

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den, dass Gott die Freiheit und die Würde der Menschen nicht einfach zugunsten seines Eigenwillens übergeht, sondern diese zugunsten eines Universalwillens berücksichtigt, und zwar bis in das eschatologische Geschehen hinein. 29 Diese Treue ist der – positive – Preis der Fragilität der Freiheit, wie bereits Krings wusste. 30 Der Grad der Fragilität des Gottesbegriffs ist unbestritten hoch, wenn das menschliche Freiheitverständnis auf univoker sprachphilosophischer Grundlage in den Gottesbegriff implementiert wird. Denn dies zieht den Gedanken nach sich, dass Gott die Freiheit des Menschen missachten, den Bund jederzeit aufkündigen, und die Hoffnung auf das eschatologische Abwischen der Tränen nehmen könnte. Zugleich wird aber zweierlei gewonnen. Nicht nur darf auf die aus Freiheit entspringende göttliche Treue auch über den Tod hinaus gehofft werden. Außerdem wird in diesem Konzept mit Begriffen gearbeitet, die diese Hoffnung auch philosophisch kohärent denkbar werden lassen. Zum Schluss soll noch eine Antwort auf den möglichen Vorwurf des Anthropomorphismus gegeben werden. Die dargelegte Theorie zum Gottesbegriff weist zweifelsohne anthropomorphe Züge auf. Aber schon Schelling hat darauf mit dem Verweis auf das biblische Zeugnis reagiert. Ob ein Gott existiert, der darüber hinaus Mensch geworden ist, kann nicht gewusst werden. Das Christentum wagt diesen Gedanken jedoch hoffnungsvoll. Damit ist der gesamten christlichen Religion ein beträchtliches Maß an Anthropomorphismus inhärent. Solange dieser Kerngedanke des Christentums ernst genommen werden soll, bleibt unverständlich, wieso der Gedanken eines personalen und freien Gottes nicht aufgenommen und weitergeführt werden dürfte. Um Schelling ein letztes Mal zu zitieren: „Entweder überall keinen Anthropomorphismus, und dann auch keine Vorstellung von einem persönlichen, mit Bewußtseyn und Absicht handelnden Gott (welches ihn ja schon ganz menschlich macht), oder einen unbeschränkten Anthropomorphismus, eine durchgängige und (den einzigen Punkt des notwendigen Seyns ausgenommene) totale Vermenschlichung Gottes. [...] Sie sagen: Gott muß schlechterdings übermenschlich seyn. Wenn er nun

nerschaftlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch. Gott, so der dabei angebotene Gedanke, könnte Mensch geworden sein, um sich als Erlöser zu offenbaren und Solidarität mit den Menschen in allen Höhen und Tiefen des Lebens zu signalisieren. Vgl. hierzu Striet, Erlösung durch den Opfertod. 29 Diese Wahrung der menschlichen Freiheit im eschatologischen Geschehen kann in der Idee Gottes gedacht werden, wenn angenommen wird, dass Gott nicht gewaltvoll über die Differenz von Opfern und Tätern beziehungsweise Täterinnen hinweggeht, um eine ewige Harmonie zu generieren, sondern die Freiheit jedes Einzelnen, Nein zu sagen, berücksichtigt. Mit dem Begriff des Universalwillens soll gerade nicht ausgedrückt werden, dass Gott die Einzelinteressen zugunsten eines höheren Guts missachtet. Im Gegenteil, so die Idee, stellt Gott das Ziel der vollständigen Harmonie zurück, um die Freiheit des Individuums zu achten. Gleichwohl kann gedacht werden, dass Gott um die Versöhnung und die Zusage jedes Einzelnen liebend wirbt. Vgl. Höfele, Vergebung für die Täter; Striet, Versuch über die Auflehnung; Tappen, Hoffen dürfen, bes. 171–214. 30 Vgl. Krings, Preis der Freiheit, 229 f.

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aber menschlich seyn wollte, [...] wer dürfte etwas gegen ihn einwenden? [...] Wie sollte durch die Vorstellung seiner Endlichkeit ich ihn erniedrigen, wenn er doch sich selbst erniedrigt?“ 31

Der Ausspruch des Engels an Maria im Lukasevangelium, dass bei Gott nichts unmöglich sei, stellt für Hans Blumenberg den Stein des Anstoßes im biblischen Gottesbild dar. Welche spekulativen Ausmaße im originalen Sinngehalt dieser Aussage enthalten sind, ist heute ungewiss. Blumenberg aber weiß um den Folgenreichtum dieses Satzes. In dieser Arbeit wurde untersucht, ob der Gedanke eines Vermögens zum Guten und zum Bösen auch in den Gottesbegriff integriert werden kann und welche Folgen dies nach sich zöge. Es kann zusammenfassend konstatiert werden, dass der Begriff eines freien, personalen Gottes auch das Vermögen zum Bösen beinhalten muss, wenn er kohärent gedacht werden soll. Zugleich konnte gezeigt werden, dass daraus nicht notwendigerweise das Konzept eines bösen Gottes folgt. Stattdessen ermöglicht erst die umfassende Vorstellung der Freiheit als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen im Gottesbegriff die Idee der göttlichen Liebe und der daraus hervorgehenden Treue zu den Menschen.

31 Schelling, SW VIII, 167 f.

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Literatur

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