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German Pages [325] Year 2023
Jesus von Nazareth hat in Galiläa und Jerusalem nicht lange gewirkt, vielleicht nur ein Jahr lang. Er hat Menschen geheilt, gelehrt und sie begeistert, aber auch Entsetzen und Hass ausgelöst. Einzelne sahen: Hier ist mehr als ein großer Lehrer und Prophet. Seit seiner Kreuzigung und Auferstehung bezeugen Menschen: Jesus Christus lebt – er lebt in neuer Gestalt. Der auferstandene und erhöhte Christus wirkt in der Kraft seines Geistes. Er ist Gott von Gott, er besitzt schöpferische Macht. Große Teile der Menschheit lassen sich für das Reich Christi gewinnen. Viele Menschen allerdings missbrauchen seinen Namen für selbstherrliche Ziele, sogar für ihre Macht- und Eroberungsinteressen. Doch beharrlich wirkt er durch seine Gegenwart, ist sein Reich im Kommen: in Liebe und Barmherzigkeit, in der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, in Kräften der Erhebung und Erlösung. Die Kräfte dieses Reiches wecken in Menschen die Leidenschaft, ihre Gottes erkenntnis zu vertiefen und Gerechtigkeit zu suchen. Sie strahlen aus in vielen Taten der Liebe und Vergebung. Sie wirken auch öffentlich, wenn heute Menschen Bildung und Gesundheitsvorsorge für alle erstreben, freiheitliche Gemeinden und Zivilgesellschaften gestalten und nicht aufhören, die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde einzuklagen. Sie verheißen und sie prägen erfülltes Leben – im Kleinen und im Großen, zeitlich und ewig. Die vorliegende Christologie erschließt diese Zusammenhänge. Damit antwortet sie auf die Frage, was der christliche Glaube sagt, wenn er bezeugt: In Jesus Christus offenbart sich Gott selbst.
Michael Welker
ist Seniorprofessor für Systematische Theologie an der Universität Heidelberg.
Welker Gottes Offenbarung
Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart! Das bekennt und verkündigt der christliche Glaube seit 2000 Jahren. Was sagt er damit?
Michael Welker
Gottes Offenbarung Christologie
Michael Welker
Gottes Offenbarung Christologie
4., durchgesehene Auflage 2023
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2012 – 4., durchgesehene Auflage 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Lektorat: Ekkehard Starke DTP: Alexander Maßmann Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-50008-4
Für Ulrike Welker
Erweiterte Fassung der Gunning Lectures Edinburgh 2004
Inhalt Einleitung „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ .......................................... 13 0.1 Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis I: „Nur der leidende Gott kann helfen!“ ................................................................................. 17 0.2 „Am Anfang der Stall – am Ende der Galgen“: Ikonische Präsenz Jesu.................................................................. 20 0.3 Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis II: Gott in der „Polyphonie des Lebens“ .............................................................. 24 0.4 Jesus Christus als Kulturfaktor, „Christophobie in Europa“ und kontextuelle Christologien in aller Welt ....................................... 28 0.5 Exkurs – Subjektivistischer Glaube: Christophobe Suche nach Nähe Gottes ................................................................................... 39 0.6 Gottes Offenbarung: Über den subjectivist turn und den iconic turn hinaus zum multicontextual und pneumatological turn! – Gegenwart Gottes in der Geschichte Jesu, im Geist der Auferstehung Christi und im Kommen seines Reiches ................ 47 Teil 1 Der historische Jesus........................................................................... 54 1.1 „Jesus ausgraben!“? – Ansätze zur „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus: Archäologie, Textarchäologie, Archäologismus (Charlesworth, Crossan, Reed) .......................... 54 1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“? Die „erste“ und die „zweite Frage“ nach dem historischen Jesus (Schweitzer, Käsemann, Bornkamm) ........................................... 62 1.3 Paradigmenwechsel durch die „dritte Frage“: Hohe Christologie, Sozialgeschichte und Analyse von Symbolpolitik (Hengel, Dunn, Hurtado, Vermes, Theißen und Merz) ................ 70 1.4 Die „vierte Frage“ nach dem historischen Jesus: Die erschließende Kraft vierfacher Multikontextualität ............... 83 1.5 Alttestamentliche Christologie? Messianische Erinnerungsräume und Erwartungshorizonte (Hengstenberg, Vischer, Cazelles, Gese) ..................................... 90
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Inhalt
Teil 2 Die Auferstehung................................................................................. 99 2.1 Der Streit um die Wirklichkeit der Auferstehung: Nur Visionen, nur ein Mythos? (Strauß, Bultmann, Lüdemann) 99 2.2 Die Auferstehung als historisches Ereignis (Pannenberg) ......... 106 2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen: Die aufschlussreiche Komplexität der neutestamentlichen Zeugnisse .............................................. 111 2.4 Nicht einfach „wieder lebendig“ (Wright): Warum die Unterscheidung von Fleisch und Leib hilft, die wirkliche Gegenwart des Auferstandenen zu erfassen ............................... 119 2.5 Geist, Heiliger Geist und die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib ...................................................................................... 127 Teil 3 Das Kreuz........................................................................................... 135 3.1 Theologie des Kreuzes: Eine reformatorische Revolution (Luther) ....................................................................................... 135 3.2 Philosophie des Kreuzes und Philosophie „nach dem Tode Gottes“ (Hegel, Nietzsche) ................................................ 142 3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer: Neutestamentliche Mehrdimensionalität und spekulative Reduktion (Moltmann, Jüngel, Dalferth, Kitamori) ..................................... 159 3.4 Das Kreuz offenbart nicht nur den leidenden, sondern auch den richtenden und rettenden Gott. ............................................. 172 3.5 Sünde und Sühne – Opfer als sacrifice und victim – Stellvertretung „für uns“ (Brandt, Gese, Janowski) ................... 179 Teil 4 Der erhöhte Christus und sein Reich .............................................. 195 4.1 Vom dreifachen Amt Christi – König, Priester, Prophet (Calvin) – zur dreifachen Gestalt des Reiches Christi ................ 195 4.2 Geistchristologie und Jesus Christus als „das Reich Gottes in Person“: „Der Auferstandene ist nicht ohne die Seinen.“ Herausforderungen durch die Theologie der Pfingstkirchen ...... 202 4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen und die Macht freier, schöpferischer Selbstzurücknahme zugunsten von Mitmenschen ........................................................................ 208
Inhalt
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4.4 Königliche Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft der Liebe: Diakonische Existenz und christlicher Humanismus ............................................................ 219 4.5 Der öffentliche und der eschatologische Christus ...................... 228 Teil 5 Wahrer Mensch – wahrer Gott ....................................................... 234 5.1 Offenbarung Gottes in Jesus Christus: Nähe und Tiefe der Menschwerdung – Reichtum und Weite der Erlösung. Der Weg dieser Christologie....................................................... 234 5.2 Größe und Grenzen der klassischen Zwei-Naturen-Lehre (Nizänum, Chalcedonense, Barth, Tillich, Bonhoeffer, Coakley) ...................................................................................... 242 5.3 Priesterliche Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft des Glaubens: Der Gottesdienst und die Taufe als Herrschaftswechsel ..................................................... 257 5.4 Das Abendmahl / die Eucharistie: Kultische Gegenwart des erhöhten Christus und des dreieinigen Gottes. Ökumenische Aufgaben .............................................................. 270 5.5 Prophetische Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft der Hoffnung: Christologisch und biblisch orientierte Verkündigung in Wahrheit und Gerechtigkeit suchenden Gemeinschaften......................................................... 283 5.6 Neue Schöpfung, Rettung, Erhebung und Erlösung in Christus: Die Erwartung seiner Parusie zum Gericht und zum seligen ewigen Leben .......................................................... 292 Nachwort ............................................................................................ 298 Register............................................................................................... 301 Bibelstellen.......................................................................................... 301 Namen ................................................................................................. 307 Begriffe ............................................................................................... 314
Einleitung „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
„Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart!“ Das behauptet der christliche Glaube seit fast 2000 Jahren. Er verkündigt es als frohe Botschaft, als Evangelium, in Kathedralen und Kapellen, in Klöstern und Hauskirchen. Er lehrt es als zentralen Glaubensinhalt, als Dogma, an Universitäten und Akademien, in wissenschaftlichen Werken, Schulbüchern und Katechismen. Er bekennt es im weiten Feld von persönlichen Zeugnissen bis hin zu ökumenischen Weltkonferenzen: Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart! Mit dieser Erkenntnis des Glaubens verbindet sich oft die Freude darüber, dass Gott selbst in seiner1 Herrlichkeit und Fülle den Menschen in einem menschlichen Leben – in Jesus von Nazareth – ganz nahe gekommen und zugänglich geworden ist. Gott bleibt nicht im Dunkel einer fernen Transzendenz, sondern gibt sich selbst in der Person Jesus Christus und in seinem Leben zu erkennen. In Jesus Christus kommt Gott den Menschen ganz nahe! Doch die Formulierung der zentralen Aussage des christlichen Glaubens ist nicht eindeutig. Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart. Geht es um ein vergangenes Geschehen, ein Geschehen vor zwei Jahrtausenden? Dann konnte und kann uns dieses Leben mit seiner Botschaft und durch sein Vorbild vielleicht manchen Hinweis auf Gott und Gottes Willen geben. Doch wie könnte noch mit dem Kolosserbrief gesagt werden: „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig!“ (Kol 2,9)? Wie könnte man mit Luthers Großem Katechismus behaupten: Gott hat sich in Jesus Christus „ganz und gar ausgeschüttet ... und nichts behalten, das er nicht uns gegeben“2? Muss Gottes Offenbarung in Jesus Christus als vergangenes Geschehen angesehen werden, so bereiten auch Aussagen wie die des Nizänischen Glaubensbekenntnisses größte Schwierigkeiten: „Wir glauben an ... Jesus Christus, … Gott
1 Für die Pronomen, die sich auf Gott beziehen, verwende ich die maskuline Form. Dieser Gebrauch folgt allein der Grammatik. Keinesfalls möchte ich damit androzentrische und patriarchale Vorstellungen stützen. Denn nach biblischem Zeugnis sind „Mann und Frau“ zum Bilde Gottes geschaffen (Gen 1,27). 2 Martin Luther, Großer Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen: Vandenhoeck, 11. Aufl. 1992, 651 (Bd. zit.: BSLK).
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„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott …“3 Denn wie könnte der wahrhaftige Gott vergangen sein? Wird daraufhin behauptet: Gott hat sich in Jesus Christus und in dessen Leben so geoffenbart, dass diese Person und dieses Leben auch heute in der Kraft des Geistes wirklich gegenwärtig ist und Gott mit ihm und in ihm – wie könnten wir dann daran festhalten, dass es sich bei diesem Leben um ein wirkliches Menschenleben handelt? Wird aber die Offenbarung in einem wirklichen menschlichen Leben fragwürdig, so stellt das auch die Freude an der realistischen Nähe und Klarheit der Offenbarung in Frage. Was wäre dem Einwand entgegenzusetzen: Diese „Offenbarung“ ist noch rätselhafter als alle Rede vom unbegreiflichen, transzendenten, der menschlichen Erkenntnis entzogenen Gott? Es ist die Aufgabe einer Christologie, deutlich zu machen, dass in der Verkündigung und in dem Bekenntnis „Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart!“ tatsächlich eine verlässliche Erkenntnis des Glaubens vorliegt. Fünf Problemfelder müssen auf dem Weg zu dieser Erkenntnis bearbeitet werden. 1. Die theologische Forschung war über Jahrzehnte hinweg der Meinung: Über den historischen Jesus können wir fast nichts wissen. Er begegnet uns im Neuen Testament nur in „legendarischer Übermalung“. Wer aber über den historischen Jesus nichts zu sagen weiß, wird auch zum erhöhten Christus nur Gedankenkonstrukte und Phantasiebilder bieten können. Die Leben-Jesu-Forschung hat am Ende des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „die dritte Frage nach dem historischen Jesus“ damit begonnen, aus dieser Sackgasse herauszuführen. Die vorliegende Christologie wird die Entwicklung der „drei Fragen“ nach dem historischen Jesus nachzeichnen und vorschlagen, zur „vierten Frage nach dem historischen Jesus“ überzugehen. Sie beschreibt Wege heraus aus der Spannung zwischen einer überzogenen historischen Skepsis, die die Christologie zu entleeren drohte, und einem überzogenen Optimismus, der den historischen Jesus geradezu „ausgraben“ wollte. Das Programm der „vierten Frage“ ermöglicht es, Kontinuitäten zu erkennen zwischen dem vergangenen historischen Jesus in seiner Lebendigkeit und dem lebendigen gegenwärtigen Jesus Christus in der Kraft des Geistes. Die Frage nach dem historischen Jesus ist so wenig abschließend zu beantworten wie das Fragen nach einer lebendigen Person überhaupt. Wir müssen Erfahrungs-, Denk- und Forschungsräume freilegen, die es erlauben, sich seinem Leben und seiner Aus-
3 Das Glaubensbekenntnis der allgemeinen I. Kirchenversammlung zu Nizäa (325), in: Josef Neuner / Heinrich Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neubearb. v. Karl Rahner / Karl-Heinz Weger, Regensburg: Pustet, 12. Aufl. 1986, 121 (zit.: Neuner/Roos).
„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
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strahlung in der – auch wissenschaftlich gestützten – Suche nach Wahrheit zu nähern (Teil 1).4 2. Um die Kontinuitäten zwischen dem vorösterlichen Jesus und seinem nachösterlichen Leben trotz einschneidender Diskontinuität erkennen zu können, muss eine zweite Erkenntnisblockade beseitigt werden. Sie besteht in der Verwechslung von Auferstehung mit einer physischen Wiederbelebung. Diese Verwechslung begingen nicht nur fromme Fundamentalisten. Auch aggressive Kritiker der Rede von der Auferstehung gingen von dieser Verwechslung aus. Die einen versicherten voller religiöser Gewissheit: Die Auferstehung ist eine Wiederbelebung des vorösterlichen Jesus – und wer das nicht akzeptiert, leugnet den Kern des christlichen Glaubens. Die anderen behaupteten voller Hohn: Die Auferstehung wird von der Bibel und den Christen als eine Wiederbelebung des vorösterlichen Jesus ausgegeben, und wer dies für wahr hält, hat das Interesse an Redlichkeit, Wirklichkeit und Wahrheit aufgegeben. In mehrjährigen internationalen Dialogen zwischen Theologie und Naturwissenschaften sind wir der Frage nachgegangen: Wenn die Auferstehung, wie die biblischen Zeugnisse zeigen, keine physische Wiederbelebung des vorösterlichen Jesus ist, welche Wirklichkeit kommt ihr dann zu? Die Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung nötigt zur Frage nach der Wirklichkeit des Geistes und geistiger Gegenwart, die uns säkular zum Beispiel aus der Musik oder der Mathematik vertraut ist. Sie nötigt darüber hinaus, die Verbindungen von Geist und Leib, Leib und Geist zu erfassen. Einer naturalistisch denkenden Kultur fällt aber der Zugang zur Wirklichkeit der Auferstehung und des Geistes sehr schwer. Deshalb kann sie im Für und Wider einer letztlich trostlosen physischen Wiederbelebung stecken bleiben. Die Christolo-
4 Dazu Martin Hengel, Zur historischen Rückfrage nach Jesus von Nazareth, in: Peter Kuhn (Hg.), Gespräch über Jesus. Papst Benedikt XVI. im Dialog mit Martin Hengel, Peter Stuhlmacher und seinen Schülern in Castel Gandolfo 2008, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, 4: „Es geht – abgesehen vielleicht von der Passionsgeschichte – um keinen zusammenhängenden Bericht, auch nicht um eine geschlossene Darstellung von Jesu Verkündigung, sondern um die – gewiss möglichst klare – Herausarbeitung von deutlichen Umrissen, man könnte auch sagen um ‚Annäherungen‘ – deren Ergebnisse freilich erstaunlich, ja einzigartig sind.“ Um deutliche Umrisse und Annäherungen herauszuarbeiten, sind Erkenntnisprozesse und Forschungsprogramme nötig, die begründete Wahrheitsansprüche erheben können, ohne damit Korrekturen und weitere Fortschritte auszuschließen. Dieses Vorgehen ist sachgemäß – nicht nur bei den Forschungen zum historischen Jesus, sondern auch bei der Erforschung der Wirklichkeit des Auferstandenen und der Gegenwart des erhöhten Christus in der Kraft des Geistes. Zur Methodik Wahrheit suchender Gemeinschaften und zur Bewährung von Wahrheitsansprüchen vgl. John Polkinghorne u. Michael Welker, An den lebendigen Gott glauben. Ein Gespräch, Gütersloh: Kaiser, 2005, 189ff; John Polkinghorne, Science and Religion in Quest of Truth, New Haven u. London: Yale Univ. Press, 2011.
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gie muss neue Wege gehen, um zu vermitteln, wie die Wirklichkeit der Auferstehung erfasst werden kann (Teil 2). 3. Das dritte Problem für die Arbeit an der Christologie war mit der an sich guten und wichtigen Erkenntnis verbunden: Gott will nicht nur in der Armut und Bescheidenheit des irdischen Jesus, sondern ganz entscheidend in seinem Kreuz und Leiden erkannt werden. Von Luther über Hegel und Bonhoeffer bis hin zu Moltmann, Jüngel und Kitamori wurde die Lehre vom „gekreuzigten Gott“ entfaltet. Die Konzentration auf den leidenden Gott ließ aber leicht übersehen, dass Gott sich schon am Kreuz und nicht erst in der Auferstehung mit den „Machthabern der Welt“ und der Welt unter der „Macht der Sünde“ auseinandersetzt. Die Verschwörung der gesamten repräsentativen Welt gegen Gott und Gottes Gegenwart am Kreuz wurde nicht klar genug erkannt: Die Weltmacht Rom ebenso wie die religiösen Führer Israels, die Berufung auf das jüdische und das römische Recht, die öffentliche Meinung und der engste Freundeskreis der Jünger Jesu wirken in der Kreuzigung fatal zusammen. Ohne die Erkenntnis, dass Gott sich schon am Kreuz mit der Sünde und dem Bösen auseinandersetzt, wird die Rede vom Gekreuzigten verharmlost und die Offenbarung Gottes in ihm unklar. Auch das Bekenntnis zum auferstandenen und erhöhten Christus wird um seinen Ernst und seine Tiefe gebracht. Gottes Nähe zur Schöpfung in ihrem abgründigsten Leid und in ihrer tiefsten Ohnmacht – am Kreuz – und Gottes Treue zur Schöpfung in ihrer Bewahrung und Erhebung in der Kraft der Auferstehung und des Geistes dürfen weder ineinander verschwimmen noch dürfen sie auseinandergerissen werden (Einleitung und Teil 3). 4. Ein viertes Hindernis für die Entfaltung der Christologie finden wir in der Neigung, die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Geistes und des Reiches Gottes und damit die Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Christus ins Numinose, in eine unzugängliche Transzendenz oder in eine mehr oder weniger ferne Zukunft zu verlagern. Die meisten Philosophien und Theologien und der sogenannte gesunde Menschenverstand bewegen sich in monistischen, dualen, dualistischen, bestenfalls triadischen Strukturen und Denkfiguren. Das aber reicht nicht aus, um die Geistausgießung, die Gemeinschaft des erhöhten Christus „mit den Seinen“, die Erbauung des Leibes Christi mit seinen Gliedern, das „kommende“ Reich Gottes und andere polyphone Wirklichkeiten zu erfassen, Wirklichkeiten, die die Glaubenserkenntnis herausfordern. In dieser Hinsicht haben uns verschiedene Denkentwicklungen in unseren postmodernen Kulturen und pluralistischen Gesellschaften, in interdisziplinär arbeitenden Wissenschaften und multikontextuellen sozial- und zeitgeschichtlichen Untersuchungen weitergeholfen. Zwar können wir mit den multikontextuellen, polyphonen und emergenten Wirklichkeiten gedanklich noch nicht so unbefangen umgehen wie mit den
0.1 „Nur der leidende Gott kann helfen!“
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guten alten Zwei-Seiten-Figuren, den Oben-Unten-Denkformen und den Freund-Feind-Mustern. Aber theologische Erkenntnisfortschritte mit diesen Denkformen sind bereits jetzt zu verzeichnen und weiterhin absehbar (Teil 4). 5. Das fünfte Problem lag auf dem Gebiet der Eschatologie, der sogenannten „Lehre von den letzten Dingen“. In Zusammenarbeit zwischen Systematischer Theologie und biblischer Exegese einerseits und zwischen Theologie und Naturwissenschaften andererseits konnten wir ein Paradigma der Eschatologie verändern, das unter der Formel „präsentische oder futurische Eschatologie?“ zwar dem gesunden Menschenverstand eingeleuchtet, die Entwicklung einer realistischen Theologie aber nur begrenzt gefördert hat. Das Reich Gottes ist, so sehen wir nun, als „kommende Wirklichkeit“ schon jetzt sowohl präsentisch als auch futurisch zu denken. Davon zu unterscheiden ist die „ewige“ eschatologische Wirklichkeit, die allerdings mit der Rede von „Wiederkunft Christi“ und „Endzeit-Theophanie“ höchst missverständlich benannt ist. Eine von den Sakramenten und der Liturgie gestützte Rationalität („liturgy-assisted logic“, John Polkinghorne) und ein trinitätstheologisches Denken, das noch weiterer Entwicklung bedarf, können uns helfen, wenigstens von fern einen Blick auf die „Gegenwart Jesu Christi im ewigen Leben“ und die Teilhabe an diesem Leben zu werfen. Dieses Leben der neuen Schöpfung ist weder „ewige Ruhe“ noch eine Existenz in mystischem Nebel. Es ist vielmehr ein seliges ewiges Leben, das „schon jetzt“ durch die Wirklichkeit von Auferstehung und Reich Jesu Christi Konturen gewinnt. Und zwar innerhalb und außerhalb der Kirchen. In Erfahrungen und Taten der Liebe und der Vergebung, in der würdigen, die Erkenntnis Gottes suchenden Feier von Gottesdiensten und Sakramenten, im gottesfürchtigen Gebet und in selbstvergessener Freude, aber auch im beharrlichen Streben nach befreiender Wahrheit und Gerechtigkeit wird das selige ewige Leben schon hier auf Erden vorweggenommen (Teil 5).
0.1 Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis I: „Nur der leidende Gott kann helfen!“ „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist“1, schreibt Dietrich Bon1 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Dietrich Bonhoeffer Werke 8 (DBW), hg. Christian Gremmels, Eberhard Bethge u. Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt, Gütersloh: Kaiser, 1998, 402 (Brief vom 30.4.1944). Zur Kontextualität von Bonhoeffers christologischer Orientierung siehe Hans-Jürgen Abromeit, Das Geheimnis Christi. Dietrich
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„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
hoeffer in einem Brief aus dem Gefängnis, ein Jahr vor seiner Ermordung. Seine Antwort: Jesus Christus offenbart den in der Welt ohnmächtigen und leidenden Gott. „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“2 Bonhoeffer spricht von seinem tiefen Vertrauen auf „den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt“. Dieses Vertrauen auf den schwachen und leidenden Gott hat viele Menschen stark berührt. Immer wieder wurden Bonhoeffers Worte – fast andächtig – wiederholt: „... nur der leidende Gott kann helfen.“3 Doch können sie auf Dauer wirklich überzeugen? Bonhoeffer ist in seiner Gefängniszelle wehrlos den Bombenangriffen auf Berlin ausgesetzt: „Das Schreien und Toben der eingeschlossenen Gefangenen bei einem schweren Angriff ... vergißt derjenige nie, der es erlebt hat.“4 Bonhoeffer lebt nicht nur in beständiger Bedrohung seines eigenen Lebens und des Lebens seiner Mitgefangenen. Er lebt in großer Sorge um seine Familie in der brennenden Stadt, um die Freunde an der Front, um Verwandte, die Tag für Tag in Gefahr sind, weil sie im Widerstand gegen Hitler stehen. Er muss mit ansehen, wie der Zweite Weltkrieg, der allgegenwärtige Nazi-Terror und selbst eine korrumpierte Kirche das Leben der Menschen vergiften und verwüsten. Die Zukunft ist dunkel: Entweder geht der Krieg verloren und Deutschland ist weltweit geächtet, oder – unausdenkbar – die Welt gerät unter die Nazi-Diktatur. Ist es diese hoffnungslose, verzweifelte Situation, die Bonhoeffer allein auf den leidenden Gott vertrauen lässt? Gott wird am Kreuz und im Leiden offenbar! Diese anstößige Behauptung findet sich nicht erst in Bonhoeffers Briefen aus der Haft. Schon Tertullian spricht um 200 n. Chr. vom gestorbenen und gekreuzigten Gott.5 In den Anfängen der Reformation und auf einem Höhepunkt der modernen Philosophie beansprucht diese befremdliche Rede zentrale Orientierungskraft. Mit Luthers „Theologie des Kreuzes“ und Bonhoeffers erfahrungsbezogene Christologie, Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 8, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1991, bes. 12ff. 2 DBW 8, 534 (Brief vom 16.7.1944). 3 DBW 8, 535 u. 534 (Brief vom 16.7.1944). 4 DBW 8, 385 (Haftbericht nach einem Jahr in Tegel, undatiert). Bonhoeffer war am 5. April 1943 inhaftiert worden. Die Briefe berichten immer wieder von Luftangriffen, Brandbomben, Sprengbomben, Phosphorbomben. Am 21.6.1944 z. B. schreibt Bonhoeffer an Eberhard Bethge: „Heute morgen hatten wir den häßlichsten aller bisherigen Luftangriffe. In meinem Zimmer war es ein paar Stunden lang von der Rauchwolke, die über der Stadt lag, so dunkel, daß ich fast Licht eingeschaltet hätte“ (DBW 8, 491f). 5 Vgl. Tertullian, Adv. Marc. II, 16 u. 27, CSEL 47, 356 u. 374; zit. nach Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr Siebeck, 1977, 85, Anm. 26.
0.1 „Nur der leidende Gott kann helfen!“
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mit Hegels philosophischer Rede vom „Tode Gottes“ (siehe Teil 3.1 und 3.2) kann Bonhoeffer sich einig wissen. Martin Heidegger und Jürgen Moltmann werden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieses Vermächtnis mit der Rede vom „gekreuzigten Gott“ aufnehmen (siehe dazu Teil 3.3).6 Dennoch stößt die Behauptung, „Gott gewinnt durch seine Ohnmacht Raum und Macht in der Welt“, auf stärkste Zweifel. Warum wird Gott – den wir doch „den Allmächtigen“ nennen – durch Leiden und Tod nicht gerade in Frage gestellt? Warum wird Gottes Gegenwart nicht unkenntlich in Leid und Tod? Warum und in welcher Weise sollte ausgerechnet der leidende und sterbende Jesus am Kreuz Gott offenbaren? Wenn aber Bonhoeffers Behauptung, nur der leidende Gott kann helfen, aus seiner verzweifelten Situation heraus zu erklären wäre, dann fragt es sich, wie die dunkle Rede vom „gekreuzigten Gott“ Menschen in weniger bedrängten oder sogar in friedlichen und frohen Zeiten ansprechen und überzeugen soll.7 Diese unklare Lage wird durch ein weiteres Problem in Bonhoeffers Frage verschärft. Die Frage: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ klingt zwar kontextuell-bescheiden. Sie wirkt dadurch auf viele Menschen heute besonders sympathisch. Wer ist Jesus Christus, wer ist Gott ganz konkret „für uns“? Wie aber wird die Antwort lauten, wenn „für uns“ nicht heißt: „Bonhoeffers Situation“ oder „eine Situation voller Not und Verzweiflung“? Müssen wir nicht grundsätzlich sehr verschiedene Antworten auf die Frage geben: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ – je nach dem Kontext, in dem wir stehen? Werden die Antworten in den sogenannten christlichen und nachchristlichen Gesellschaften Europas und in großen Teilen Nordamerikas heute nicht ganz anders ausfallen als in Gesellschaften, die von nicht-christlichen Religionen geprägt sind, die das Christentum kaum kennen, die es fürchten oder sogar hassen? Werden wir nicht aus religiös müde gewordenen und theologisch verschlafenen Großkirchen der westlichen Industrienationen und Informationsgesellschaften andere Antworten hören als aus Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mit heute sehr dynamischen Kirchen und stark wachsenden Glaubensbewegungen? Können wir wirklich in all diesen verschiedenen Kontexten behaupten: „Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt … Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“8? 6 Martin Heidegger, Phänomenologie und Theologie (1927), Frankfurt: Klostermann, 1970, 18; Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München: Kaiser, 1972. 7 Vgl. Andreas Schuele, Introduction, XIV, in: ders. u. Günter Thomas (Hg.), Who is Jesus Christ for Us Today? Pathways to Contemporary Christology, Louisville/Kentucky: Westminster John Knox, 2009 (Buch zit.: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?). 8 DBW 8, 533, 534 (Brief vom 16.7.1944).
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„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
0.2 „Am Anfang der Stall – am Ende der Galgen“: Ikonische Präsenz Jesu Nah ist Und schwer zu fassen der Gott.1
Dieses große Wort Hölderlins bringt eindrücklich eine Spannung zum Ausdruck, mit der jede Rede vom nahen Gott rechnen muss. Bleibt Gott den Menschen entzogen, auch wenn er ihnen nahe ist? Ist Gott also auch in seiner Anwesenheit abwesend?2 Mit dieser Spannung werden alle konfrontiert, die sich zur Offenbarung Gottes im Menschen Jesus Christus bekennen und vom „gekreuzigten Gott“ sprechen. Diese Spannung erzeugt immer wieder eine merkwürdige Faszination, die ganz besonders von den ausstrahlungsstarken Bildern ausgeht, die für den Anfang und das Ende des irdischen Lebens Jesu stehen. Das Kind in der Krippe von Bethlehem und der sterbende Jesus am Kreuz auf Golgatha – so nahe kommt Gott den Menschen! Die wichtigsten Festtage des christlichen Glaubens – Weihnachten und Karfreitag bzw. Ostern – sind eng mit diesen Bildern verbunden: „Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen“3. Die eindrückliche ikonische Präsenz Jesu Christi in Bildern vom Anfang seines Lebens finden wir seit der frühesten Katakombenmalerei. Die Kunst verbindet Elemente der Geburtserzählung von Lukas (das Ereignis der Geburt Jesu wird zuerst den armen Hirten auf dem Felde offenbart, Lk 2,8-20) und der Geburtserzählung bei Matthäus (drei Weise in der Ferne werden durch Zeichen am Himmel auf das große Ereignis aufmerksam gemacht und eilen mit kostbaren Geschenken herbei, Mt 2,1-12). Die Malerei experimentiert mit den Kontexten Stall und Stroh bzw. Ruine oder Höhle, Geburt in der Dämmerung oder in der Nacht. Sie beleuchtet so die Einheit von Armut, Ohnmacht und Zauber am Anfang von Jesu Leben (siehe dazu Teil 0.4 und 0.6). Seit der europäischen Romantik erhält die Krippe einen festen Platz in der Weihnachtsfrömmigkeit. Das Kreuz wird – spätestens seit Konstantins Vision vor der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahre 312 – in der Kirche als Siegeszeichen aufgefasst.4 Ab dem 11. Jahrhundert werden große soge1 Friedrich Hölderlin, Patmos, in: Gedichte nach 1800, Stuttgarter HölderlinAusgabe, hg. Friedrich Beißner, Stuttgart: Kohlhammer, 1953, 173. 2 Eberhard Jüngel hat dies im Anschluss an Rudolf Bultmann als eine Grundcharakteristik von Offenbarung behauptet (Gott als Geheimnis der Welt, 478f u. ö. [siehe 0.1, Anm. 5]). Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK, Göttingen: Vandenhoeck, 19. Aufl. 1968, 116, 222ff u. ö. 3 Walter Jens u. HAP Grieshaber, Am Anfang der Stall, am Ende der Galgen. Das Evangelium nach Matthäus, Freiburg: Herder, 1999. 4 Siehe Ulrich Köpf, Art.: Das Kreuz in der Kirchengeschichte, RGG4, Bd. IV, 1748; in der Orthodoxen Kirche bleibt die ikonische Präsenz des „thronenden Chris-
0.2 „Am Anfang der Stall – am Ende der Galgen“
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nannte Triumphkreuze in Kirchen aufgestellt. Vom 13. Jahrhundert an setzt sich aber ikonisch eine bis heute vorherrschende Kreuzesfrömmigkeit durch. Sie konzentriert sich auf den leidenden Christus am Kreuz auf Golgatha und auf den von der Kreuzigung gezeichneten „Schmerzensmann“, in dem Gott den Menschen in Ohnmacht und Schwachheit begegnet. Kann diese das Gemüt bewegende und faszinierende ikonische Aura von „Krippe und Kreuz“ nicht überall auf die Frage antworten: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ In Jesus Christus offenbart sich der nahe, arme, ohnmächtige und leidende Gott. Er ist vielleicht als Gott „schwer zu fassen“, aber er rührt die Menschen doch immer irgendwie tröstlich an. Er stärkt sie in ihrer Rührung und noch in ihrem Mitleid. So kommt er ihnen auf faszinierende Weise nahe. Viele biblische Zeugnisse stellen diese durch Bilder gepflegte anrührende Aura des nahen Gottes allerdings gründlich in Frage. Die Geschichte vom Kreuz ist die Geschichte von der brutalen Hinrichtung eines Unschuldigen. Sie ist eine Geschichte von Lüge und Verrat, von Folter, Spott und Qualen. Sie wird vielleicht treffender vom skandalträchtigen Film Die Passion Christi5 gespiegelt, der die Zuschauer exzessiv mit Brutalität und Gewalt bedrängt, als von einer den „herzliebsten Jesus“ besingenden6 und meditierenden Schmerzensmannfrömmigkeit. Die Geschichte vom Kreuz ist zunächst eine Geschichte der Ohnmacht gegenüber den „Machthabern dieser Welt“ (1Kor 2,8). Bei Jesu Hinrichtung am Kreuz wirken die politische Weltmacht Rom und die Religion des von dieser Weltmacht unterdrückten Israel zusammen. Die, die sich auf jüdisches oder römisches Recht berufen, und die öffentliche Moral und Meinung stimmen überein: „Ans Kreuz mit ihm!“7 Selbst seine Jünger lassen Jesus im Stich (siehe dazu Teil 3.4 und 5.4). Aber auch die Geburt Jesu (nach Lukas) sollte nicht als ErlebnisCamping im Stall „bei Ochs und Esel“ angesehen werden. Die Weltmacht Rom treibt Maria und Joseph zur Volkszählung nach Bethlehem, tus“, des Christus Pantokrator, des „Allherrschers“, prägend; im römischen Katholizismus das Jesuskind auf dem Arm Marias; vgl. G. Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Gütersloh: Gütersloher, Bd. 1: Inkarnation – Kindheit – Taufe – Versuchung – Verklärung – Wirken und Wunder, 1966, 2000; Bd. 2: Die Passion Christi, 1968; Alex Stock, Art.: Christusbilder, RGG4, Bd. II, 326-339; D. Thomas, Jesus Christus. Sein Bildnis in der Kunst, Zollikon: Albatros, 1980; Horst Schwebel, Das Christusbild in der bildenden Kunst der Gegenwart, Gießen: Wilhelm Schmitz, 1980. 5 Mel Gibson, The Passion of Christ, Constantin Film 2003. 6 Als ein Beispiel für zahllose andere sei nur das bewegende Karfreitagslied „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen ...?“ von Johann Heermann, 1630, genannt (EG 81). 7 Mk 15,13f; Mt 27,22f; Lk 23,18.22f; siehe dazu die Diskussion und Vertiefung meiner bisherigen Überlegungen zur Kreuzestheologie durch Dirk Smit, „… Under Pontius Pilate“: On Living Cultural Memory and Christian Confession, in: Schuele/ Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 19-49 (siehe 0.1, Anm. 7).
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ohne Rücksicht darauf, dass die junge Frau hochschwanger ist. Bei der Entbindung hat Maria keine Hilfe zu erwarten.8 Die Hirten, die Ärmsten der Armen, sind die ersten Zeugen der Geburt des Messias. Nach Matthäus löst Jesu Geburt eine politische Verfolgung aus, die zu brutalem Kindermord „in Bethlehem und der ganzen Umgebung“ führt (vgl. Mt 2,16-18). Matthäus kommentiert mit Jeremia 31,15: „Ein Geschrei war in Rama zu hören, lautes Weinen und Klagen: Rahel weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn sie waren dahin.“ Auch die Rede von Josephs Bedenken, ob er die schwangere Maria heiraten solle (Mt 1,18-19), spiegelt ihre Gefährdung und die ihres Kindes.9 Jesus steht also nach biblischen Zeugnissen nicht erst am Ende, sondern schon zu Beginn seines Lebens in Gefahr. – Warum und wie sollte sich Gott ausgerechnet in ihm offenbaren? Und wie sollte Gott in diesem Menschen und in dieser Offenbarung Hilfe und Heil bringen? Eindrücklich machen alttestamentliche Überlieferungen deutlich, dass die Freude über die Nähe Gottes sich nicht in ästhetischer Bewegtheit erschöpfen kann. Sie sehen die Begeisterung über die Nähe Gottes mit der Geltung des Gesetzes und der Ausbreitung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unter den Menschen verbunden: „Denn welche große Nation hätte Götter, die ihr so nahe sind, wie ... unser Gott uns nah ist, wo immer wir ihn anrufen? Oder welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?“ (Dtn 4,7f)10 Das Gesetz zielt auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit unter den Menschen ab und auf einen Gottesdienst, der Gottes Willen gemäß ist. Das Gesetz und seine Wirksamkeit im Volk Gottes waren und sind für Israel mit der Offenbarung des nahen Gottes unauflöslich verbunden.11 In Überein8 Die Worte „weil in der Herberge kein Platz für sie war“ (Lk 2,7) beleuchten vielleicht die Hartherzigkeit gegenüber der Hochschwangeren, auf jeden Fall aber die Hilflosigkeit der Fremden aus Galiläa. 9 Vgl. Beverly Roberts Gaventa, Mary: Glimpses of the Mother of Jesus, Columbia: Univ. of South Carolina Press, 1995, 46, und die ernüchternde Zusammenfassung von Geza Vermes, The Nativity: History and Legend, London: Penguin, 2006, 166: „The merry Christmas that people wish to each other is purged from the spoiling effects of the Matthean drama with Joseph’s psychological torture in face of the dilemma of what to do with the pregnant Mary and the fear, panic and tears caused by Herod’s edict threatening with untimely extinction the budding life of the Son of God.“ 10 Siehe auch Ps 34,19; 75,2; 85,10; 119,151; 145,18; Jes 50,8; zu Gottes Nähe im Gesetz siehe die Beiträge in Brent A. Strawn u. Nancy R. Bowen (Hg.), A God so Near, FS Patrick D. Miller, Winona Lake: Eisenbrauns, 2003, 183ff; zur kultischen und tempeltheologisch wahrgenommenen Nähe siehe Bernd Janowski, Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 119ff. 11 Vgl. Michael Fishbane, Sacred Attunement: A Jewish Theology, Chicago u. London: Univ. of Chicago Press, 2008, bes. 108ff.
0.2 „Am Anfang der Stall – am Ende der Galgen“
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stimmung mit dem Gesetz, in Frömmigkeit und Ethos, lebte und lebt Israel in der Gemeinschaft mit Gott. Dies ist nach dem Alten Testament die Gottesgemeinschaft, die sich der Offenbarung verdankt. Sollte aber letztlich die praktische Lebensorientierung die Nähe Gottes verbürgen: In welcher Weise prägen die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und das Evangelium von Gottes Gemeinschaft mit den Menschen in Jesus Christus die zwischenmenschlichen Lebensverhältnisse und die Lebenswirklichkeit? Es liegt nahe, auf die Macht der Kirche, ihre Institutionen, Gottesdienste, Ausbildungsstätten, Krankenhäuser, Heime und ihre Gottesdienste mit Liturgie, Bekenntnis und Verkündigung hinzuweisen. Können wir also die enormen rechtlichen, politischen, bildungsgeschichtlichen und diakonischen Auswirkungen christlicher Religiosität und Kirchen rühmen und so von einem wahren Triumphzug der Offenbarung Gottes in der Menschheitsgeschichte sprechen? Doch schon ein knapper Hinweis auf die bedrückende Tatsache, dass es im Namen christlicher Religion und Kirche zahllose Pogrome, Kampagnen der Unterdrückung und Verfolgung, Kreuzzüge und Hexenverbrennungen, Kriege, Kolonialismus und Menschenverachtung gegeben hat, genügt, um davor zu warnen, Offenbarung Gottes und religiöse und kirchliche Machtentfaltung in direktem Zusammenhang zu sehen. Menschliche Unternehmungen und Machenschaften schmücken sich nur zu gern mit dem Glanz und der Aura des Heiligen und des Göttlichen. Brennend ist also die Frage: Wie können wir eine rechtmäßige Berufung auf ein Leben mit dem nahen Gott im Licht seiner Offenbarung unterscheiden von selbstgerechtem, sogar verlogenem Missbrauch seiner behaupteten Gegenwart? Würde die Rede von Gottes Gegenwart in Jesus Christus diese Unterscheidung nicht ermöglichen, würde sie etwa nur ästhetisch einlullen und die Unterscheidung von wahrer Offenbarung und religiösem Missbrauch verhindern, dann entstünde ein fataler Verdacht – der Verdacht, dass nicht nur die Rede von Gottes Gegenwart und Nähe, sondern dass Gottes Gegenwart selbst, dass seine Nähe bei den Menschen nichts ist als eine gefährliche Illusion. Ist der gesunde Menschenverstand im Recht, der feststellt: Entweder reden wir von einem offensichtlich mächtigen Gott – oder von einem ohnmächtigen Menschen; doch die Behauptung, in diesem Menschen Jesus werde Gott offenbar und gegenwärtig, ist völlig unglaubwürdig. Sind die anderen monotheistischen Religionen im Recht, die klagen: Das Christentum tanzt mit seiner Behauptung, Gott habe sich in Jesus Christus geoffenbart, skandalös aus der Reihe! Es gibt jeden ordentlichen Gedanken und Glauben an Gott preis. Die Rede vom ohnmächtigen und gekreuzigten Gott löst die Rede von Gott einfach auf. Unter dem Druck dieser Fragen und Anklagen, die die Faszination durch den in der Ohnmacht nahen Gott angreifen, eröffnet das zweite Vermächtnis Dietrich Bonhoeffers eine befreiende Perspektive. Dieses
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zweite Vermächtnis ist bisher kaum zur Sprache gekommen, auch unter denen nicht, die Bonhoeffers Einsichten und sein Bekenntnis aufnehmen und weitergeben wollten. Es hilft uns zu erkennen: Bonhoeffer will von dem Gott sprechen, der uns in der Fülle unseres Lebens nahe ist. Und dieser Gott ist uns selbst dort nahe, wo sich die ganze Welt erfolgreich gegen seine Gegenwart zu verschließen sucht oder zu verschließen scheint.12 Bonhoeffer will von Gott in der Polyphonie des Lebens sprechen, davon, dass der Glaube dazu beiträgt, diese Polyphonie und Mehrdimensionalität des Lebens anzunehmen. Bonhoeffer bezieht sich damit faktisch auf Gottes Gegenwart im Geist Gottes. Dieser Geist wirkt manchmal offensichtlich, aber oft verborgen in unterschiedlichen Situationen, in verschiedenen Menschen und Menschengruppen. Er überkommt sie, bewegt sie, verbindet sie miteinander zu einer lebendigen Einheit. Gottes Macht in der Kraft des Geistes und Gottes Ohnmacht in Kreuz und Leiden – beide Dimensionen müssen berücksichtigt werden, um Gottes Offenbarung in Jesus Christus zu erfassen.
0.3 Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis II: Gott in der „Polyphonie des Lebens“ Im Mai 1944 formt sich in Bonhoeffer ein Gedanke, der ihn nicht mehr loslassen wird, der Gedanke der „Polyphonie des Lebens“. Ich beobachte hier immer wieder, daß es so wenige Menschen gibt, die viele Dinge gleichzeitig in sich beherbergen können; wenn Flieger kommen, sind sie nur Angst; wenn es was Gutes zu essen gibt, sind sie nur Gier; wenn ihnen ein Wunsch fehlschlägt, sind sie nur verzweifelt; wenn etwas gelingt, sehen sie nichts anderes mehr. Sie gehen an der Fülle des Lebens und an der Ganzheit einer eigenen Existenz vorbei … Demgegenüber stellt uns das Christentum in viele verschiedene Dimensionen des Lebens zu gleicher Zeit; wir beherbergen gewissermaßen Gott und die ganze Welt in uns. Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; wir bangen … um unser Leben, aber wir müssen doch zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind, als unser Leben. … das Leben wird nicht in eine einzige Dimension zurückgedrängt, sondern es bleibt mehrdimensional, polyphon. Welch’ eine Befreiung ist es, denken zu können und in Gedanken die Mehrdimensionalität aufrechtzuerhalten. … Man muß die Menschen aus dem einlinigen Denken herausreißen – gewissermaßen als ‚Vorbereitung‘ bzw. ‚Ermöglichung‘ des Glaubens, obwohl es in Wahrheit erst der Glaube selbst ist, der das Leben in der Mehrdimensionalität ermöglicht …1 12 Siehe dazu Michael Welker, Bonhoeffers theologisches Vermächtnis in Widerstand und Ergebung, in: ders., Theologische Profile. Schleiermacher – Barth – Bonhoeffer – Moltmann, Edition Chrismon, Frankfurt: Hansisches Druck- und Verlagshaus, 2009, 103-119 (Buch zit.: Welker, Theologische Profile). 1 DBW 8, 453f (Brief vom 29.5.1944; siehe 0.1, Anm. 1). Siehe auch die Briefe vom 20.5. (DBW 8, 439ff) und 21.5.1944 (DBW 8, 442ff; „Das Bild der Polyphonie verfolgt mich immer noch“, ebd., 444). Siehe auch Tomi Karttunen, Die Poly-
0.3 Gott in der „Polyphonie des Lebens“
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Aus dieser Erkenntnis heraus formuliert Bonhoeffer seine Überzeugung, dass Gott „nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben … erkannt werden“2 will. Der Glaube an Gott, der sich in Jesus Christus offenbart, hängt zwar an dem leidenden und ohnmächtigen Gott, aber damit auch am Reich dieses Gottes, das das ganze menschliche Leben umgreift: Ein Reich stärker als Krieg und Gefahr, ein Reich der Macht und Gewalt, ein Reich, das für die einen ewiger Schrecken und Gericht, für die anderen ewige Freude und Gerechtigkeit ist, nicht ein Reich des Herzens, sondern über die Erde und alle Welt, … ein Reich, für das sich der Einsatz des Lebens lohnt.3
Im weiten Feld dieses Reiches, das Bonhoeffer noch ziemlich unklar vor Augen schwebt, sieht er ein mehrdimensionales, polyphones Leben gelingen. Dieses mehrdimensionale, polyphone Leben kann auch die Schattenseiten, Nöte und Bedrohungen menschlicher Existenz in sich hineinnehmen und beherbergen. Dieses Leben entspricht dem christlichen Glauben und wird aus der Kraft des Glaubens heraus lebbar. Aufgrund der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, der „die Mitte des Lebens“4 ist, müssen wir uns nach Bonhoeffer einer kulturellen und religiösen Entwicklung entgegenstellen, die Gott immer weiter wegschiebt, immer mehr zu einer Randfigur, immer mehr zu einem Gott der Grenzlagen und der Grenzen der Erkenntnis macht. Wir müssen damit Ernst machen, dass Gott in der Vieldimensionalität unseres Lebens erkannt werden will. Doch widerspricht Bonhoeffer diesem Impuls nicht mit seinem ersten Vermächtnis, das vom leidenden und ohnmächtigen, aus der Welt herausgedrängten Gott ausgeht? Ja, hat er nicht sogar selbst mit seiner Rede vom leidenden und ohnmächtigen Gott dazu beigetragen, Gott aus der Fülle des Lebens zu verdrängen? Erst wenn wir beide Botschaften Bonhoeffers im Zusammenhang sehen, können wir uns an seiner Suche nach einer überzeugenden Rede von Gott und einem tragfähigen christlichen Glauben beteiligen.5 Erst phonie der Wirklichkeit. Erkenntnistheorie und Ontologie in der Theologie Dietrich Bonhoeffers, University of Joensuu Publications in Theology 11, Joensuu: Univ. of Joensuu, 2004, 215ff. 2 DBW 8, 455 (Brief vom 29.5.1944). 3 DBW 8, 442f (Brief vom 21.5.1944). 4 DBW 8, 455 (Brief vom 29.5.1944). 5 Bonhoeffer verbindet beide Impulse mit angedeuteten Überlegungen zum „Hineingerissenwerden in das – messianische – Leiden Gottes in Jesus Christus ... im N.T.“ und zum „Leben der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt“, vgl. DBW 8, 536 u. 537 (Brief vom 18.7.1944); vgl. auch Aussagen wie diese: „Im übrigen sitzt nach wie vor Gott im Regiment“, DBW 8, 563 (Brief vom 10.8.1944). Vgl. die Worte Karl Barths am Vorabend seines Todes im Gespräch mit Eduard Thurneysen: „Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber
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dann können wir auch seine viel umrätselte „Kritik der Religion“ und seine Rede von unserem „religionslosen Zeitalter“ verstehen. Man hat sich immer wieder gewundert: Wie kann ein so tiefreligiöser Mensch wie Dietrich Bonhoeffer so leidenschaftlich von einem „nachreligiösen Zeitalter“ sprechen und zu einer Kritik der Religion aufrufen? 6 Hat Bonhoeffer sich nicht einfach getäuscht mit seiner Voraussage, wir gingen in eine „religionslose Zeit“? Wie verträgt sich das mit dem religiösen Boom in vielen Weltgegenden zu Beginn des dritten Jahrtausends? Wir müssen genau betrachten, was Bonhoeffer unter Religion und Religionslosigkeit versteht: Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott‘. In wissenschaftlichen, künstlerischen, auch ethischen Fragen ist das eine Selbstverständlichkeit geworden, an der man kaum mehr zu rütteln wagt; seit etwa 100 Jahren gilt das aber in zunehmendem Maße auch für die religiösen Fragen; es zeigt sich, daß alles auch ohne ‚Gott‘ geht, und zwar ebenso gut wie vorher. Ebenso wie auf wissenschaftlichem Gebiet wird im allgemein menschlichen Bereich ‚Gott‘ immer weiter aus dem Leben zurückgedrängt, er verliert an Boden.7
Bonhoeffer spricht von der „Arbeitshypothese: Gott“. Er kritisiert im Anschluss an Barth eine religiöse Strategie, die „einen Raum für Religion in der Welt oder gegen die Welt auszusparen“8 versucht und damit Gott zu einer bloßen Randfigur und Randerscheinung und zu einer Grenzlagenexistenz werden lässt. Scharf attackiert er die Gottesgedanken und Gottesvorstellungen des abstrakten Theismus und der Metaphysik mit ihren Annahmen einer aus „der Transzendenz“ heraus „alles bestimmenden“ Instanz. Ebenso kritisiert er Gottesgedanken und Gottesvorstellungen, die sich auf die
ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott läßt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!“ (Karl Barth, Gespräch mit E. Thurneysen, 9.12.1968, in: ders., Gespräche 1964–1968, Gesamtausgabe, Abt. 4, hg. Eberhard Busch, Zürich: TVZ, 1996, 562.) – In seiner Barth-Biographie weist Busch darauf hin, dass die mit Gott und Jesus Christus verbundene Aussage, „Es wird regiert“, auf Christoph Blumhardt zurückgeht (Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Gütersloh: Kaiser/Gütersloher, 5. Aufl. 1993, 515). 6 Siehe aber auch die Einschränkung: „Auch diejenigen, die sich ehrlich als ‚religiös‘ bezeichnen, … meinen also vermutlich mit ‚religiös‘ etwas ganz anderes“ (DBW 8, 403; Brief vom 30.4.1944). 7 DBW 8, 476f (Brief vom 8.6.1944). 8 DBW 8, 480 (Brief vom 8.6.1944); vgl. auch den Brief vom 30.6.1944 (DBW 8, 501ff).
0.3 Gott in der „Polyphonie des Lebens“
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„innerste Subjektivität“ des Menschen stützen.9 Wer diese religiösen Bastionen nur „in einem Jenseits“ oder nur „im tiefsten Inneren“ zu verteidigen sucht, kann seiner Überzeugung nach nur noch bei „intellektuell Unredliche(n)“ oder „schwachen Geistern“ Erfolg haben, die sich „religiös vergewaltigen“ lassen.10 Bonhoeffer greift damit auch eine Form von intellektueller Frömmigkeit an, die sich unter Berufung auf einen religiösen Kern in jedem Menschen vor aller Erfahrung11 an seine Innerlichkeit und sein Gewissen zu wenden sucht (dazu ausführlich Teil 0.5). Er sieht in dieser Religiosität eine „geschichtlich bedingte und vergängliche Ausdrucksform des Menschen“, die ein „Gewand des Christentums“ war, das sich aber als des Kaisers neue Kleider, als theologisch leeres Konstrukt erweist.12 Bonhoeffer kritisiert den „Gott“ der abstrakten Grundlage und ebenso den „Gott“ der vagen Grenzlage. „Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen ...“ Gegenüber allen Versuchen, „ängstlich Raum aus(zu)sparen für Gott“ – sei es in einem metaphysischen Jenseits, sei es in einer tiefsten Innerlichkeit vor aller Erfahrung –, betont Bonhoeffer provozierend, er wolle von Gott „in der Mitte“ des Lebens und „im Guten des Menschen“ sprechen: „Gott ist mitten in unserm Leben jenseitig.“13 Mitten in unserem Leben, in der Polyphonie des Lebens begegnet uns der lebendige, aber auch ohnmächtige Gott, der die Macht der Welt und der Menschen nicht einfach überrollt, sondern sich von ihnen aus ihrer Welt herausdrängen lässt – bis ans Kreuz. Doch wie ist Bonhoeffers doppeltes Vermächtnis heute aufzunehmen? Hat die Welt zu Beginn des dritten Jahrtausends tatsächlich die metaphysischen Stützen und die religiöse Beschwörung der Innerlichkeit als religiöse Grundlagen und Halt des christlichen Glaubens hinter sich gelassen? In welcher Weise begegnet uns Gott in der mehrdimensionalen, polyphonen Wirklichkeit – im leidenden Christus und in der Unscheinbarkeit des kommenden Reiches? Wir prüfen die theologi9
Siehe die Warnung vor dem Versuch, „in Psychotherapie oder Existenzphilosophie einen Wegbereiter Gottes“ zu sehen, DBW 8, 511 (Brief vom 8.7.1944). 10 So schon am 30.4.1944 (DBW 8, 401ff, 403 u. 404 u. ö.). 11 Zur Berufung auf ein „religiöses Apriori“ vgl. Ernst Troeltsch, Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1922, 494f. Siehe auch Richard Rothe, Theologische Ethik, Bd. 1, Wittenberg: Hermann Koelling, 2., neu ausgearb. Aufl. 1869, 69ff. Mit dem Gedanken des religiösen Apriori spielt schon Georg Simmel, Rembrandts religiöse Kunst, Frankfurter Zeitung, Jg. 58, 1914, Nr. 179, 1-3 u. 180,1-2. 12 DBW 8, 403 u. 404 (Brief vom 30.4.1944). 13 DBW 8, 407 u. 408 (Brief vom 30.4.1944). Zu Bonhoeffers Konzept des glaubenden Erkennens vgl. Christiane Tietz-Steiding, Verkrümmte Vernunft und intellektuelle Redlichkeit. Dietrich Bonhoeffers Erkenntnistheorie, in: Christian Gremmels u. Wolfgang Huber (Hg.), Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, Gütersloh: Kaiser, 2002, 293ff, bes. 301ff.
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„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
schen Impulse Bonhoeffers, indem wir noch einmal die Frage stellen: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“ Bewähren sich Bonhoeffers Einsichten auch in anderen Kontexten als den seinen?
0.4 Jesus Christus als Kulturfaktor, „Christophobie in Europa“ und kontextuelle Christologien in aller Welt „Im vergangenen Herbst hat Gott meine Mutter für die Erlösung vorbereitet. Sie ist zum Glauben an Jesus Christus gekommen.“ Eine junge asiatische Wissenschaftlerin, weit von Pietismus oder gar Fundamentalismus entfernt, überraschte mich eines Tages mit dieser beiläufigen, aber mit leuchtenden Augen gemachten Bemerkung. Wie viele Menschen könnten am Beginn des dritten Jahrtausends in Europa eine solche tiefe Freude über Jesus Christus, „den Erlöser“, aufrichtig teilen? Stellen wir nüchtern die Frage: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“, fassen wir das „heute“ weit, blicken wir auf westliche Weltgegenden, in denen sich große Mehrheiten der Bevölkerung dem Christentum zurechnen, so wird die Antwort wohl lauten müssen: Für die meisten von „uns heute“ ist Jesus Christus zunächst einmal – ein Kulturfaktor. In vielfältiger Weise ist Jesus Christus in den Kulturen des Westens gegenwärtig. Er ist so gegenwärtig, dass man sich an ihn gewöhnt hat – wie an die Kirche im Dorf. Die wenigsten machen sich noch Gedanken darüber, dass der Jahresrhythmus und die größten Feste des Jahres vom Leben Jesu Christi geprägt sind. Alle Jahre wieder kommt rituell und ikonisch die Krippe mit Maria und Joseph und dem Jesuskind, den Hirten, den Engeln und den sogenannten heiligen drei Königen in Geschäfte und unter Weihnachtsbäume. Alle Jahre wieder bestimmen – wie stark säkularisiert auch immer – der Karfreitag, das Osterfest und Himmelfahrt den Jahreslauf. In fast jeder Kirche, in Museen und Kunstbüchern, auf Friedhöfen und in Todesanzeigen, an Silberkettchen, die zur Kommunion und Konfirmation verschenkt werden, begegnet uns ikonisch das Kreuz und manchmal auch Jesus am Kreuz mit der Dornenkrone und den ausgebreiteten Armen. Jesus Christus ist ein Kulturfaktor erster Größenordnung. Würde in euro-amerikanischen Weltgegenden nicht nur ein „Mann des Jahres“, sondern auch ein „Mann des Jahrtausends“ gewählt, hätte Jesus Christus wohl schon zum zweiten Mal diesen Titel erhalten. Nicht nur innerhalb der Kirchen, sondern auch außerhalb der christlichen Glaubensgemeinschaften kommt es immer wieder zu Begeisterung für „Jesus Christ – Superstar“. Jesus Christ Superstar, dieses Rock-Musical von Andrew Lloyd Webber, war das am längsten gespiel-
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te Musical im Londoner West End (1972-1980).1 Georg Friedrich Händels Messias, Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium und andere Dauer- und Mega-Hits der geistlichen Musikgeschichte könnten diesen Titel ebenfalls tragen: „Jesus Christ Superstar!“ Weit über die christlichen Kirchen hinaus gibt es in unseren Kulturen einen Jesus-Markt, der das Interesse an diesem Superstar und Kulturfaktor immer wieder neu weckt, bedient und belebt. Auch die Jesus-Nummern großer Zeitschriften und Magazine zeigen, alle Jahre wieder, dass unsere Kulturen sich von diesem Menschen, seinem Leben und seiner Ausstrahlungskraft fortgesetzt herausgefordert fühlen: „You Can’t Beat Jesus Christ!“2 Das alles aber heißt nicht, dass übermäßig viele Menschen in diesen Weltgegenden von einer beständigen oder auch nur immer wieder erwartbaren echten Jesus-Christus-Begeisterung beseelt wären und dass sie die Tiefenprägung ihrer Kulturen durch die Spuren seines Vorbilds und Wirkens weitertragen wollten. Im Gegenteil. Jesus Christus als machtvoller Kulturfaktor wirkt gerade latent, in eingespielten Brauchtümern und Lebensformen, die nicht gern mit seiner lebendigen geistlichen Ausstrahlungskraft in Verbindung gebracht werden. „Eine interessante Person vor 2000 Jahren – durchaus. Aber bitte keine religiöse Propaganda damit verbinden!“ Die Aversion gegenüber einer fortgesetzten und lebendigen Ausstrahlung dieser Person und dieses Lebens zeigt sich ganz besonders, wenn Menschen auf die „Offenbarung Gottes in Jesus Christus“ oder gar auf die „Gottheit Christi“ hin angesprochen werden. Erwartbar ist die massive Abwehr: „Tritt uns bloß nicht religiös zu nahe mit deinem Jesus!“ Diese „christophobe“ Haltung, die sich auch auf das Christentum im Allgemeinen erstreckt, ist in Europa deutlicher ausgeprägt als in vielen anderen Weltgegenden.3 Mit starkem Befremden wurde in den USA wahrgenommen, dass der letzte Entwurf der Verfassung der Europäischen Union4 auf Gott, auf Christus und die Christenheit mit keinem einzigen Wort zu sprechen kommt: „... a treaty of some 70,000 words
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Verfilmung Universal Studios 1973, durch Norman Jewison, Ted Neely und Carl Anderson. 2 Johnny Cash u. Billy Joe Shaver, aufgenommen in Nashville/TN, 21. Mai 1980. 3 Joseph H. H. Weiler, in Südafrika geborener orthodoxer Jude, Professor für internationales Recht und Europarecht an der berühmten School of Law der New York University und am Europakolleg in Brügge, hat die kulturelle und historische Amnesie auf die Formel „Christophobie“ gebracht (ders., Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, mit einem Vorwort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Salzburg u. München: Anton Pustet, 2004, bes. 75ff). Europa sei von einer Christophobie beherrscht, die den Rückgriff auf seine kulturellen und geistigen Grundlagen, deren Pflege und kreative Weiterentwicklung blockiere. 4 2004 wurde sie durch den Vertrag von Rom auf den schwierigen Weg der Ratifizierung gebracht.
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(ten times longer than the U.S. Constitution!) could not find room for one word, ‚Christianity‘“5. In seinem Buch The Cube and the Cathedral: Europe, America, and Politics Without God6 spekulierte George Weigel, Senior Fellow am Ethics and Public Policy Center in Washington, über Zusammenhänge zwischen der Marginalisierung des christlichen Glaubens unter Europas führenden Intellektuellen und im öffentlichen Leben im 20. Jahrhundert, dem Verfall religiöser Bildung, moralischer Orientierungslosigkeit und radikalem Bevölkerungsrückgang in Europa – dem stärksten Rückgang seit der Pestepidemie im 14. Jahrhundert. Unter Berufung auf Henri de Lubac7 und andere kulturpessimistische theologische und philosophische Denker sah er dieser Entwicklung eine spirituelle Krise zugrunde liegen, die in einem atheistischen Humanismus schon des 19. Jahrhunderts wurzele, welcher erklärte: Der Glaube an Gott und die menschliche Freiheit sind miteinander unverträglich. Weigel bezieht sich unter anderem auf eine düstere Vision Helmuth von Moltkes, der im Juli 1914 voraussagte, dass der kommende Erste Weltkrieg die Zivilisation von fast ganz Europa für Dekaden vernichten werde.8 Die Erkenntnis dieser tiefen Krise der europäischen Zivilisation sei nur überlagert worden von den Weltkriegen und der Bewältigung ihrer Folgen, von dem kurzen illusorischen Frieden zwischen den Kriegen und der wirtschaftlichen Depression, von der mit dem Totalitarismus zunächst verbundenen Euphorie, von den erschütternden Erfahrungen des vom Totalitarismus ausgelösten Terrors und Grauens und schließlich vom langen Kalten Krieg. Die meisten solcher scheinbar pro-christlichen Kulturdiagnosen sind allerdings christologisch leer. Sie sind kaum bewegt von einem Interesse, ganz zu schweigen von einer Leidenschaft für Jesus Christus, für die Ausstrahlungskraft seines Geistes und die Wirkkräfte seines kommenden Reiches. Sie sind vielmehr aus der Sorge heraus entwickelt, dass letztlich die demokratischen Gesellschaften Europas erodieren könnten, dass, wie gelegentlich – ohne alle Rücksicht auf Political Correctness – im Anschluss an Verschwörungstheorien der britischen Historikerin Gisèle Littman (Pseudonym: Bat Ye’or) formuliert wird, Europa zu „Eurabien“ werde.9 Solche abgehobenen und überzogenen Erwägungen sollten darauf aufmerksam machen, dass viele Verteidiger 5 So George Weigel, Is Europe Dying? Notes on a Crisis of Civilizational Morale, New Atlantic Initiative, hg. American Enterprise Institute for Public Policy Research, März/April 2005, 2. 6 Cambridge (USA): Basic books, 2005. 7 The Drama of Atheist Humanism, San Francisco: Ignatius Press, 1995. 8 Nach David Fromkin, Europe’s Last Summer: Who Started the Great War in 1914?, New York: Alfred Knopf, 2004, 224. 9 Bat Ye’or, Eurabia: The Euro-Arab Axis, Cranbury: Associated University Presses, 2005; siehe dazu auch den Titel des TIME Magazine, 30. August 2010: Is America Islamophobic? (Titelgeschichte, 12ff).
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des „christlichen Europas“ und der „christlichen Werte“ mit einer großen christologischen Leerstelle operieren, die sie doch zu beklagen scheinen. Sie beschwören allenfalls den Kulturfaktor Jesus Christus, haben aber – offen oder verdeckt – kulturchauvinistische Vorstellungen im Sinn, die sie nur äußerlich mit Jesus Christus und dem Christentum verbinden. Die manipulativen Zugriffe auf den Kulturfaktor Jesus kommen aber nicht nur von außerhalb der Kirchen. So gab es im Vatikan am Ende des Pontifikats von Johannes Paul II. mehrfach Anläufe, den Papst möglichst medienwirksam mit Jesus Christus zu identifizieren. Sogar dem im Allgemeinen theologisch unsensiblen Magazin Der Spiegel fiel 2005 auf, dass der Vatikan die Krankenhausaufenthalte des schwer von der Parkinsonkrankheit gezeichneten Papstes Johannes Paul II. und die jeweilige Rückkehr in seine Residenz wie Kreuz- und Auferstehungsgeschichten inszenierte. Bruchlos fortgesetzt wurde das Bemühen um die Inszenierung einer Christomorphie des Papstes, als Benedikt XVI. bei der ersten Großaudienz mit deutschen Pilgern seine Wahl zum Papst mit der Not Jesu Christi in Gethsemane (Mt 26,39.42.44; Mk 14,36; Lk 22,42) assoziierte: „Als ich das Beil (des neuen Amtes auf mich) herabkommen sah, habe ich zu Gott gebetet, aber er hat meine Stimme nicht erhört.“ Ganz auf dieser Linie meinte Kardinal Meisner die Fahrt des Papstes auf dem Rhein bald nach seinem Amtsantritt bei seinem Besuch zum Weltjugendtag 2005 in Köln mit Jesu Rede vom See Genezareth vergleichen zu müssen. Der Kardinal kündigte an, dass Benedikt „wie der Heiland auf dem See Genezareth“ vom Rheinschiff aus predigen werde.10 Sind dies nur zufällige Peinlichkeiten, oder handelt es sich um Alarmsignale auch aus der Kirche heraus, die uns deutlich machen müssen: Es gibt nur allzu viele problematische Umgangsformen in Verbindung mit der Frage: „Wer ist Jesus Christus für uns heute?“, die jeweils zur Unterscheidung der Geister nötigen. Werden in Reden und Beschwörungen der Präsenz Jesu Christi und „des Christlichen“ bzw. in Anspielungen darauf also alle möglichen Bedürfnisse, Nöte, Wünsche, Sehnsüchte, Geltungs- und Herrschaftsinteressen zum Ausdruck gebracht? Können wir die Interessen, Wünsche und Sehnsüchte erkennen, die von seiner Person, seinem Leben, seinem Wirken, seiner Botschaft, seinem Ruf in die Nachfolge ablenken, ja all dem zuwiderlaufen? Gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass in bestimmten Anliegen und Kon-
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Der Spiegel, Das Kreuz mit den Deutschen, Heft 33 (15.8.2005), 136-151, 141. Vgl. dazu Joachim Frank, Traum von einem Wunder. Papst Benedikt XVI. besucht Deutschland. Und was bringt er mit?, Zeitzeichen 12 (September 2011), 8: „Der gastgebende Kardinal Joachim Meisner behauptete vor dem Großevent allen Ernstes, im Anschluss daran würden sich die Priesterseminare wieder mit jungen Männern füllen. Doch ein solcher Boom ist bekanntlich ausgeblieben. Im Gegenteil ...“
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texten er selbst, sein Leben, sein Wort und sein Geist und damit die Offenbarung Gottes unter den Menschen wirksam und lebendig ist? Genau diese Anfragen sind von manchen akademischen und kirchlichen Theologen an christologisch orientierte kontextuelle Theologien, feministische Theologien und Befreiungstheologien gerichtet worden, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in aller Welt aufgekommen sind. Während die ruhige Wirksamkeit des Kulturfaktors Jesus Christus, kulturpolitisch und medial bis päpstlich eingebunden, still geduldet wird, stößt eine Berufung auf Jesus Christus, die seine geistige und moralische Lebendigkeit in aktuellen Krisen- und Konfliktlagen behauptet, auf Nervosität und Sorge. Wird hier etwa Jesus Christus weltanschaulich und ideologisch funktionalisiert? Um dabei theologischen und christologischen Ernst von theologisch verbrämten ideologischen Abwehrgesten zu unterscheiden, sind mehrere Schritte notwendig. 1. Es muss offengelegt werden, dass es keine kontextfreie Theologie gibt und dass kontextuelle Theologien und Christologien nicht erst eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts sind. 2. Es muss selbstkritisch anerkannt werden, dass zahllose „rein akademische“ und mit sonstigen abstrakten Reinheitszertifikaten ausgestattete Theologien und Christologien nicht nur in aggressiv ideologisierten und menschenverachtenden Situationen und Kontexten kläglich versagt haben. Es muss erkannt werden, dass sie vielfach durch ihr Denken und ihre Lehren die herrschenden Unrechtsverhältnisse zumindest unbewusst stabilisiert haben. Unter Berücksichtigung dieser auch auf klassische Christologien zu beziehenden Kritik muss (aus im Folgenden vorzubringenden Gründen, vgl. Teil 4.1-4.3) ein großer Zusammenhang christologischer Orientierungen erschlossen werden. Nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen Christologien, die x vor allem eine Nachfolgetheologie in geistlicher Bildung und diakonischer Praxis betonen, x sich vor allem gottesdienstlich, spirituell und liturgisch ausrichten, x die Entwicklung einer prophetischen Theologie in politischen, moralischen, ökonomischen und ideologischen Krisenlagen als vordringlich ansehen (siehe dazu Teil 4.4, 5.3, 5.5). 3. Die Theologie muss sich nicht nur außertheologischer Religionskritik stellen, sondern selbst aktiv an einer christologisch orientierten Religionskritik arbeiten. Zu 1.: Jaroslav Pelikan hat in seinem Buch Jesus Christus. Erscheinungsbild und Wirkung in 2000 Jahren Kulturgeschichte11 Christusdarstellungen anhand von theologischen Positionen über zwei Jahrtausende hinweg verfolgt. Er sieht Jesus, den Rabbi, den Lehrer und Propheten, in den Zeugnissen des Neuen Testaments. Dies ist eine 11
Zürich/Einsiedeln/Köln: Benziger, 1986.
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berechtigte, wenn auch einseitige Wahrnehmung, die die Breite von Jesu Wirken verkennt (siehe dazu Teil 1) und auch nicht ernst nimmt, dass Jesus schon sehr bald nach der Auferstehung als himmlischer „Kyrios“, als Herr und „Gott von Gott“ angebetet wurde (siehe Teil 1.3, 2.5 und die Teile 4 und 5). Jesus Christus als „Wende der Geschichte“ findet Pelikan beim Kirchenvater Tertullian am Ende des zweiten Jahrhunderts12 und später in Augustins großem geschichtstheologischem Werk Der Gottesstaat proklamiert.13 Jesus als „das Licht der Heiden“ sieht er ebenfalls schon in der Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin14, deutlicher noch am Ende des Jahrhunderts bei Clemens von Alexandrien bezeugt.15 Bei den meisten Kirchenvätern werde deutlich, was Eusebius von Caesarea, der „Vater der Kirchengeschichte“, in seiner Kirchengeschichte und in seinem Leben Konstantins16 immer wieder betont: Jesus Christus ist „der König der Könige“ (siehe dazu Teil 4.4). Die Rede vom „kosmischen Christus“ steht für das Bemühen der drei Kappadozier, Basilius von Caesarea (der Große)17, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa18, den schöpferischen „Logos“ in Christus zu erfassen und herauszustellen, während Augustin im 5. Jahrhundert mit „dem Menschensohn“ den späteren Siegeszug der christlichen Anthropologie und Psychologie christologisch orientiert.19 „Der Gekreuzigte“ bei Luther (siehe Teil 3.1), „der Mönch, der die Welt regiert“, bei den Benediktinern, „der Bräutigam der Seele“ in der Mystik, „der Lehrer des gesunden Menschenverstandes“ in der Moderne, „der Poet des Geistes“ in der Romantik, „der Befreier“ in vielen Theologien des 20. Jahrhunderts (siehe unten und Teil 5.5) – je mehr 12
Vgl. zum Beispiel: Gegen Praxeas 2,1 (Quintus Septimius Florens Tertullianus, Adversus Praxean, Übersetzung v. Hermann J. Sieben, Freiburg: Herder, 2001). 13 Sancti Aurelii Augustini, De Civitate Dei (CChrSL 48), Turnholt: Brepols, 1955, bes. Buch 16 u. 17. 14 Iustini Martyris apologiae pro christianis, Patristische Texte und Studien 38, hg. M. Marcovich, Berlin u. New York: de Gruyter, 1994, I. und II. Apologie. 15 Titus Flavius Klemens von Alexandria, Die Teppiche (Stromateis), nach der Übersetzung v. Franz Overbeck, hg. C. A. Bernoulli u. L. Früchtel, Basel: Benno Schwabe, 1936, bes. Stromateis 5. 16 Eusebius von Caesarea, Vier Bücher über das Leben des Kaisers Konstantin und des Kaisers Konstantin Rede an die Versammlung der Heiligen, BKV, 1. Reihe, Bd. 9, München 1913; Kirchengeschichte, BKV, 2. Reihe, Bd. 1, München 1932. 17 Basilius Caesariensis, Homilien zum Hexaemeron, 1 u. 6, hg. E. Amand de Mendieta u. St. Y. Rudberg, Berlin: Akademie-Verlag, 1997. 18 Gregor von Nyssa, De hominis opificio, hg. Lara Sels (Kritische Ausgabe mit griechischem Paralleltext und Kommentar), Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2009, 16, 22f. 19 Siehe Sancti Aurelii Augustini Confessiones, CChr.SL 50, New York: Johnson, 1962, bes. Buch 7; ders., De Trinitate, libri 1-12 u. 13-15, CChr.SL 50 u. 50a, hg. W. J. Mountain, Turnholt: Brepols, 1968, 2 u. 16; sowie in zahlreichen anderen Schriften.
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Kontexte und Kontextualisierungen Jesu Christi vor Augen treten, desto dringlicher wird das Bedürfnis, Kriterien zu entwickeln, die es ermöglichen, zwischen angemessenen und unangemessenen Charakterisierungen der Person und des Wirkens Jesu Christi zu unterscheiden. Diese Aufgabe ist unverzichtbar. Sie darf aber nicht zu einer Strategie religiös-politisch-moralischer Offensive oder Defensive verkommen, die sich an Theologien und Christologien in aktuellen politischen, moralischen und kulturellen Auseinandersetzungen abarbeitet. Zu 2.: Das erschreckende Versagen weiter Teile der deutschen und italienischen Theologie im Faschismus, weiter Teile der holländischsüdafrikanischen Theologie zu Zeiten der Apartheit und die nur sehr langsam anlaufende Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Geschichte und Gegenwart mitsamt den aktiven und passiven Rollen der Theologien und Kirchen in dieser Geschichte haben uns dafür sensibilisiert, dass die Selbstkritik aller Theologie im Licht der Offenbarung unverzichtbar ist. Ein starker Sensibilisierungsschub ging und geht von der biblisch und christologisch reflektierten feministischen Theologie aus.20 Elisabeth Schüssler Fiorenza hat den Begriff kyriarchisch („kyriarchal“) geprägt21 und darauf aufmerksam gemacht, dass von den biblischen Traditionen an bis in die vermeintlich „geschlechterneutralen“ modernen Kulturentwicklungen hinein Christologien androzentrische, patriarchale und monarchisch-hierarchische Orientierungsmuster transportiert haben, und zwar selbst solche, die sich im Widerstand gegen Unterdrückung und im Kampf um Befreiung herausbildeten.22 Sie hat vorgeschlagen, die Christologie stärker im Licht weisheitlicher Traditionen und jesuanischer Reich-Gottes-Verkündigung zu entwickeln.23 Trotz der bislang immer noch schwachen 20
Siehe Doris Strahm u. Regula Strobel (Hg.), Vom Verlangen nach Heilwerden. Christologie in feministisch-theologischer Sicht, Luzern: Edition Exodus, 2. Aufl. 1993; Elisabeth Moltmann-Wendel, Frauen sehen Christus. Ansätze einer feministischen Christologie, in: J. Thomassen (Hg.), Jesus von Nazaret. Neue Zugänge zu Person und Bedeutung, Würzburg: Echter, 1993, 23-37; Julie Hopkins, Feministische Christologie. Wie Frauen heute von Jesus reden können, Mainz: Matthias Grünewald, 1996. 21 But She Said: Feminist Practices of Biblical Interpretation, Boston: Beacon 1992, 8 u. passim. 22 Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die mit Recht hoch geschätzte Barmer Theologische Erklärung, die gegen die Ideologie der Deutschen Christen eine „Christokratische Bruderschaft“ propagiert und die Denkfigur einer problematischen Herrschaftschristologie mit einer verzerrenden Exegese von Eph 4,16 stützt; siehe dazu Michael Welker, Barmen III: Woran orientieren? Die Gestalt der Kirche in gesellschaftlichen Umbrüchen, in: Martin Heimbucher (Hg.), Begründete Freiheit – Die Aktualität der Barmer Theologischen Erklärung. Vortragsreihe zum 75. Jahrestag im Berliner Dom, Evangelische Impulse 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2009, 59ff. 23 Siehe Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus. Miriam’s Child, Sophia’s Prophet: Critical Issues in Feminist Christology, New York: Continuum, 1995 (deutsch:
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institutionellen Position feministischer Theologie in kirchlichen und akademischen Kontexten hat sie die kritische und selbstkritische Verbindung und Zusammenarbeit feministischer Theologien mit anderen emanzipatorischen Theologien (politischen Theologien, Befreiungstheologien, postkolonialen Theologien) eingeklagt.24 Neben den feministischen, den befreiungstheologisch, politisch-theologisch und durch „postkoloniale“ Untersuchungen geprägten Richtungen und in Verbindung damit entwickeln sich heute zahlreiche kontextuelle Theologien und Christologien in der Begegnung mit Buddhismus, Hinduismus, Stammesreligionen und anderen religiösen Traditionen. Diese Christologien prägen sowohl kulturelle und soziale Abgrenzungs- als auch Anpassungsprozesse im Verhältnis zu anderen Religionen. Die kontextuellen Befreiungstheologien und Befreiungschristologien können der kritischen Auseinandersetzung mit dem christlichen Kolonialismus dienen25 oder eher beschwichtigende Bemühungen um sogenannte Jesus. Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh: Gütersloher, 1997); und dies., In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins (1983), New York: Crossroad, 1984, bes. Kap. 4. 24 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, The Power of the Word: Scripture and the Rhetoric of Empire, Minneapolis: Fortress, 2007; dies., Die kritisch-feministische Theologie der Befreiung. Eine entkolonisierend-politische Theologie, in: Francis Schüssler Fiorenza, Klaus Tanner u. Michael Welker (Hg.), Politische Theologie. Neuere Geschichte und Potenziale, Theologische Anstöße 1, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011, 23-39. Zum Bemühen um Vernetzung multikontextueller Befreiungstheologien siehe auch Jürgen Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh: Kaiser, 1999. Zu seinen Problemen, eine polykontextuelle Befreiungstheologie zu entwickeln, siehe ebd., 260ff; und ders., Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh: Gütersloher, 2006, 219ff. Stärkste Impulse für die in vielen Teilen der Welt sich entwickelnden Befreiungstheologien und politischen Theologien gingen von Moltmanns Hauptwerken aus, von der christologisch-eschatologisch orientierten Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, BEvTh 38, München: Kaiser, 1964; und von seiner Kreuzestheologie, Der gekreuzigte Gott (siehe Anm. 0.1, Anm. 6); siehe auch Teil 3.3. 25 Siehe dazu den Sammelband, der die Positionen der Klassiker der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und ihre wichtigsten Themen unter einem vielleicht nicht ganz glücklich gewählten Titel dokumentiert, Ignacio Ellacuría u. Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Befreiung, Luzern: Edition Exodus, Bd. 1: 1995; Bd. 2: 1996; befreiungstheologische und feministisch-theologische Perspektiven verbinden Pietro Selvatico u. Doris Strahm, Jesus Christus, Studiengang Theologie VI,2, Zürich: Edition NZN bei TVZ, o. J.; zum christologischen Diskurs zu Zeiten der Conquista, zum Werk von Leonardo Boff in Brasilien und Jon Sobrino in El Salvador siehe Volker Küster, Die vielen Gesichter Jesu Christi. Christologie interkulturell, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, 46ff, 52ff (Buch zit.: Küster, Gesichter Jesu Christi). Das Werk von Leonardo Boff, Jesus Christ Liberator: A Critical Christology of Our Time, 1972, erlebte zahlreiche Auflagen in mehreren Verlagen, ehe es in Deutschland erschien (Jesus Christus der Befreier, Freiburg: Herder, 1986). Vgl. auch Hugo Assmann, The Power of
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„Traditionsverschmelzung“ begleiten.26 Kämpfe gegen rassistische Unterdrückung27 oder Bemühungen um Versöhnung der Rassen28 berufen sich auf Orientierungskräfte der Christusnachfolge und der Christologie. In Indien begegnet fast parallel der Aufruf zu einem versöhnenden „Christus-zentrierten Humanismus“29 und zu einer Emanzipation der unterdrückten Unberührbaren30 im Namen der Christusnachfolge. Christ in History: Conflicting Christologies and Discernment, in: Rosino Gibellini (Hg.), Frontiers of Theology in Latin America, Maryknoll: Orbis, 3. Aufl. 1983, 133ff; Jon Sobrino, Christologie der Befreiung, Mainz: Matthias Grünewald, 1998, bes. Teil II, 99ff; ders., Zurück zu Jesus von Nazareth, in: ders., Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund. Ignatianische Impulse 25, Würzburg: Echter, 2007, 95-104; ders., Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer, Ostfildern: Matthias Grünewald, 2008. Vgl. zur feministischen Christologie in Lateinamerika Doris Strahm, Vom Rand in die Mitte. Christologie aus der Sicht von Frauen in Asien, Afrika und Lateinamerika, Luzern: Edition Exodus, 1997, 271ff (zit.: Strahm, Vom Rand); Nelly Ritchie, Women and Christology, in: Elsa Tamez (Hg.), Through Her Eyes. Women’s Theology from Latin America, Maryknoll: Orbis, 1989, 81ff; und Maria Clara Bingemer, Jesus Christ and the Salvation of the Woman, in: Voices from the Third World 11/2 (1988), 125ff. 26 Siehe Modelle afrikanischer Christologie bei Küster, Gesichter Jesu Christi, 62ff (siehe 0.4, Anm. 25); afrikanischer feministischer Christologie bei Strahm, Vom Rand, 151ff (siehe 0.4, Anm. 25); Teresa M. Hinga, Between Colonialism and Inculturation, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza (Hg.), The Power of Naming: A Concilium Reader in Feminist Liberation Theology, Maryknoll u. London: Orbis u. SCM Press, 1996, 36ff; Charles Nyamiti, Christ as Our Ancestor: Christology From an African Perspective, Gweu: Mambo Press, 1984, bes. 69ff; Mercy Amba Oduyoye, Wir selber haben ihn gehört. Theologische Reflexionen zum Christentum in Afrika, Freiburg/Schweiz: Edition Exodus, 1988; dies., Wer ist Christus für afrikanische Frauen?, in: Leidenschaft und Solidarität. Theologinnen der Dritten Welt ergreifen das Wort, Luzern, 1992, 69ff; François Kabasèlè, Christus als Häuptling, in: B. Ludwig (Hg.), Der schwarze Christus. Weg afrikanischer Christologie, Freiburg: Herder, 1989, 57ff; Theo Sundermeier, Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft, hg. Volker Küster, Erlangen: Verlag Evang.-Luth. Mission, 1995, 126ff. 27 Siehe James Cone, Schwarze Theologie, München: Kaiser, 1971, bes. Kap. 2: Das Evangelium von Jesus, die Schwarzen und Black Power, 41ff. 28 Allan Boesak, Walking on Thorns: The Call to Christian Obedience, Geneva: World Council of Churches Publications, 1984. 29 Bei M. M. Thomas, Risking Christ for Christ’s Sake: Towards an Ecumenical Theology of Pluralism, Geneva: World Council of Churches Publications, 1987, mit starken Impulsen von Raimundo Panikkar, Der unbekannte Christus im Hinduismus, Mainz: Matthias Grünewald, 1986; vgl. ferner Küster, Gesichter Jesu Christi, 92ff, 85ff (siehe 0.4, Anm. 25); Monica Melanchthon, Christology and Women, in: Virginia Fabella u. Sun Ai Lee-Park (Hg.), We Dare to Dream. Doing Theology as Asian Women, Hong Kong: Asian Women’s Resource Centre for Culture and Theology, 1989, 15ff (Buch zit.: Fabella/Lee-Park, We Dare to Dream). 30 Siehe Arvind P. Nirmal, Dalit Theologie. Vom „Nicht-Menschen“ zu „Gottes Volk“. Ein neues theologisches Paradigma für Indien, Frankfurt: Evangelischer Pressedienst (Dokumentation), 1995; Virginia Fabella, Christology from an Asian
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Nicht nur die Suche nach einer ökumenisch und global integrierten Theologie, sondern auch die Suche nach Affirmation regionaler und kontextueller Identität31 und befreiender Praxis angesichts der Erfahrung von Unterdrückung ist von christologischen Impulsen geprägt.32 Betrachtet man das weite Feld kontextuell motivierter christologischer Entwürfe und kontextuell geprägter Christologien nur von außen, ohne Teilhabe am kontextuellen Ernst und ohne klare Perspektiven auf Jesu Leben und Wirken und auf die differenzierte Wirkmacht seines Geistes und seines Reiches, so kann sich schnell ein vager Ideologieverdacht einstellen. Wird Jesus Christus hier nur für moralische und politische Auseinandersetzungen und Interessen funktionalisiert? Ist die Christologie nur ein Alibi, um menschlichen Bedürfnissen und Interessen religiös Nachdruck zu verleihen? Doch diese billige äußerliche Betrachtung muss einerseits einer Begegnung und Auseinandersetzung mit dem jeweiligen kontextuellen Ernst weichen. Sie muss andererseits in einer theologisch vertieften Sicht des christologischen und pneumatologischen Reichtums der Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi überprüft werden, wozu die folgenden Kapitel ermutigen wollen. Zu 3.: Die klassische philosophische Religionskritik von Ludwig Feuerbach33, Karl Marx34 und Friedrich Nietzsche35 hatte den Bezug Christian Woman’s Perspective, in: Fabella/Lee-Park, We Dare to Dream, 3ff (siehe 0.4, Anm. 29). 31 Beide Perspektiven zu verbinden suchen neuere Entwürfe einer chinesischchristlichen Theologie, siehe z. B. Xiaofeng Liu, Sino-Christian Theology in the Modern Context, in: Huilin Yang u. Daniel H. N. Yeung (Hg.), Sino-Christian Studies in China, Newcastle: Cambridge Scholars Press, 2006, 52ff; sie verbinden sich mit einem Interesse an „Contemporary Faces and Images of Jesus Christ“, siehe Roman Malek (Hg.), The Chinese Face of Jesus Christ, Monumenta Serica Monograph Series L/3b, Nettetal: Steyler Verlag, 2007, bes. 1638ff. 32 Siehe Byung-Mu Ahn, Die Träger der Überlieferung des Jesusereignisses, in: ders., Draußen vor dem Tor. Kirche und Minjung in Korea. Theologische Beiträge und Reflexionen, ThÖ 20, Göttingen: Vandenhoeck, 1986, 99ff; eine heftige internationale Diskussion hat der Vorschlag von Hyun Kyung Chung ausgelöst, gezielt eine synkretistische Theologie zu entwickeln und Jesus in verschiedenen weiblichen Rollen, z. B. als Schamanin, zu sehen: dies., Who is Jesus for Asian Women?, in: Curt Casorette u. a. (Hg.), Liberation Theology: An Introductory Reader, Maryknoll: Orbis, 1992, 123ff; siehe auch Man Ja Choi, Feminist Theology, in: Asian Women Doing Theology, Report from Singapore Conference, Nov. 20-29, 1987, Hong Kong: Asian Women’s Resource Centre for Culture and Theology, 1989, 174ff. 33 Das Wesen des Christentums. Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke 5, hg. Werner Schuffenhauer u. Wolfgang Harich, Berlin: Akademie-Verlag, 2. Aufl. 1984 (zit.: Feuerbach, Wesen des Christentums). 34 Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: ders., Die Frühschriften, hg. Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner, 1964, 207ff. 35 Götzen-Dämmerung, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München u. Ber-
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auf religiöse Inhalte en bloc als Projektion, als Bezug auf eine illusorische Wirklichkeit, als Verbreitung von „Opium des Volks“ und als „Priesterbetrug“ angegriffen. Dietrich Bonhoeffer, aber auch andere Theologen von Rang wie Karl Barth36 und Paul Tillich37 sahen in der Religionskritik eine unverzichtbare und nicht abzuschließende theologische Aufgabe. Die Theologie solle sich beständig darum bemühen, auch von der härtesten philosophischen Religionskritik zu lernen. Denn die christliche Religiosität – und sei es eine sich auf Jesus Christus berufende Theologie und Frömmigkeit im subjektiv aufrichtigen Engagement für Gerechtigkeit und Wahrheit – ist immer wieder neu zur Selbstkritik im Licht der Offenbarung genötigt.38 Ihre Kritik darf sich dabei aber nicht nur auf gegenwärtige, gar nur besonders lebendige Entwicklungen konzentrieren. Sie darf davon auch nicht die Stimmen und Klassiker der Tradition ausnehmen. Sie darf schließlich nicht kontextuelle Theologien, die gezielt diakonische und prophetisch-praktische Christusnachfolge anstreben und dabei politisch und anderweitig Anstoß erregen, gezielt der Kritik aussetzen. Die bürgerliche und kleinbürgerliche Religiosität im Westen hat eine Form gefunden, in der sie die „Nähe Gottes“ hochzuhalten und wertzuschätzen scheint, ohne sich auch nur einigen der hier bisher dargestellten Irritationen auszusetzen, die die Offenbarung Gottes und der Glaube an Jesus Christus mit sich bringen. Dem geballten Unbehagen an einem in Kreuz und Leiden nahen Gott und an der Gegenwart Gottes „in der Fülle des Lebens“ mitsamt der Befürchtung, kontextuelle Theologien benutzten die Berufung auf Jesus Christus nur für moralische, politische und Gruppenidentitäten stabilisierende Interessen – all dem ging und geht eine Frömmigkeit aus dem Weg, die man „subjektivistischer Glaube“ nennen kann. Im Namen einer „reinen“ Frömmigkeit und auch im Namen akademischen und philosophischen Ernstes lässt dieser „Glaube“ die Christologie mit all ihren theologischen Herausforderungen und den unübersichtlichen und konfliktträchtigen Kontextualisierungen hinter sich. Warum sollte nicht der „nahe Gott“ in einer Weise gesucht und gefunden werden, die sich prinzipiell auf alle Kontexte einzustellen vermag und die sich von den Fragen und Problemen, die die Offenbarung Gottes in Jesus Christus aufwirft, ganz freizuhalten strebt? lin / New York: dtv u. de Gruyter, 2. Aufl. 2002, 55ff (die Ausgabe wird zitiert: KSA [mit Bandnummer]); ders., Der Antichrist, KSA 6, 165ff. 36 Kirchliche Dogmatik I/2: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, § 17, 305ff. 37 Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1966, 202ff. 38 Diese Aufforderung zur Selbstkritik christlicher Religion, genauer zu einer „kritischen Selbstprüfung“ im Blick auf Inhalt und Form der Offenbarung wird gerade in Bezug auf die sogenannte „Religionskritik Barths“ häufig übersehen; vgl. aber KD I/2, 343ff.
0.5 Subjektivistischer Glaube: Christophobe Suche nach Nähe Gottes
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0.5 Exkurs – Subjektivistischer Glaube: Christophobe Suche nach Nähe Gottes Als „Glaube“ begegnet in den westlichen Gesellschaften heute ein merkwürdiges, fast gespenstisches Verhältnis.1 Das gläubige Individuum, so heißt es, steht einerseits in einer Beziehung zu einem „Ganz Anderen“, zu einer „transzendenten Macht“ oder zu einer jenseitigen, ihm vage vorschwebenden personalen Instanz. Dieses Gegenüber ist ihm aber andererseits ungeheuer nahe, zutiefst vertraut, ja mit einer Wendung Augustins gesagt, es ist ihm näher, als sich ein Mensch selbst nahe zu kommen vermag.2 Eine innerste Gewissheit, „Glaube“ genannt, hält dieses Spannungsverhältnis von „transzendenter Größe“ und Erfahrung von deren äußerster Nähe aufrecht. Die Entdeckung der dem Menschen meist nicht bewussten, aber in seinem bewussten Leben immer aktivierbaren gedanklichen Selbstbeziehung ist nicht erst eine Frucht der europäischen Moderne.3 Doch große moderne europäische Philosophen wie René Descartes und Immanuel Kant haben mit aufschlussreichen Untersuchungen des menschlichen Erkenntnisvermögens und besonders mit eindrücklichen programmatischen Formeln wie „Ich denke, also bin ich“4, oder „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“5, eine, wie es hieß, kopernikanische Wende in der Selbst- und Welterkenntnis eingeleitet, die mit dem „Wesen der Moderne“ verbunden wird. Danach erschließt sich der moderne Mensch die Wirklichkeit, indem er sich zuerst auf sein Bewusstsein und sein Selbstbewusstsein konzentriert. Damit wurden, so hat man vollmundig behauptet, theozentrische und kosmozentrische Weltbilder durch anthropozentrische abgelöst. Genauer gesagt, die Untersuchung der Erfahrungsformen des Menschen wird
1
Die folgenden Abschnitte nehmen Überlegungen auf aus Michael Welker, Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle, EvTh 64 (2004), 239-248. 2 Augustin, Bekenntnisse, III, Kap. 6, 11 (siehe 0.4, Anm. 19): „Du warst innerlicher als mein Innerstes und überragtest meine höchste Höhe.“ 3 Vgl. K. P. Köpping, R. Wiehl u. M. Welker (Hg.), Die autonome Person – eine europäische Erfindung?, München: Fink, 2002. 4 Vgl. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, PhB 27, Hamburg: Meiner, 1965, 2. Meditation; Andreas Kemmerling, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes‘ Philosophie, Frankfurt: Klostermann, 2. Aufl. 2005, 93ff, hat diesen „in sich selbst kreisende(n) Gedanke(n)“ (121), der sich „in den Cartesischen Meditationen höchstens zwischen den Zeilen“ (93) befindet, in einer scharfsinnigen Untersuchung kritisch beleuchtet. 5 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, PhB 37, Hamburg: Meiner, 1956, B 132; siehe dazu Dieter Henrich, Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart: Reclam, 1982, 176ff; ders., Das Selbstbewusstsein und seine Selbstdeutungen, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt: Suhrkamp, 1982, 99ff.
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durch die sogenannte Transzendentalphilosophie zum Königsweg der Wissenschaften und der Welterschließung erhoben. Viele Denkentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben diese Monopolstellung der Transzendentalphilosophie problematisiert und ihr andere Zugangsweisen zur Lehre vom Menschen und zur Erkenntnistheorie an die Seite gestellt. In der Popularphilosophie und in weiten Teilen europäischer akademischer Theologie hat sich aber eine Entwicklung verfestigt, die man als „Transzendentalspießertum“ bezeichnen sollte. Alle Inhalte der Religion, die sich nicht in der mehr oder weniger scharfsinnigen Bespiegelung des menschlichen Bewusstseins und Selbstbewusstseins in Gestalt einer „letzten Gewissheit“ verorten ließen, wurden für problematisch oder sogar für nichtig erklärt. Karl Barth hatte recht, wenn er das, was dabei vom christlichen Glauben übrig blieb, „indirekten Cartesianismus“ nannte6: „Ich fühle mich irgendwie abhängig, also bin ich.“ Oder: „Ich fühle mich irgendwie abhängig, also glaube ich.“ Religiöse Kommunikation und ganz besonders die christliche Theologie, wenn sie den subjektivistischen „Glauben“ aufnahmen, betonten – was verwundern mag – , dieser subjektivistische „Glaube“ sei das genaue Gegenteil einer menschlichen Selbstbeziehung. Im selben Maß, in dem die „innere Gewissheit“ als „Glaube“ hochgehalten wurde, wurden dann alle Spielarten menschlicher Selbstbeziehung von religiöser Seite aus stigmatisiert. Denn alle Versuche, unschuldige, triviale und gesunde Formen einer Selbstbeziehung von problematischen Fixierungen und obsessiven Formen zu unterscheiden, mussten riskant erscheinen. Eine paradoxe und neurotisierende Mentalität begleitete diese „Glaube“ genannte religiös-säkulare Form. Wie sollte sie zwischen der reinen inneren Gewissheit des (religiösen) „Ganz Anderen“ und einer sehr einfachen und grundlegenden Form menschlicher Selbstbeziehung unterscheiden, die mit ihrer inneren Struktur ins Reine gekommen war und erkannt hatte, dass alle Selbstbeziehung ein Element von Differenz einschließen muss, wenn sie denn als konzentrierte oder auch nur konzentrationsfähige „Gewissheit“ erfahren werden soll? Und wie sollte sie sich noch als „religiös“ verstehen, wenn das „innere Andere“ auch ohne jeden religiösen Beigeschmack beliebig abrufbar war? Als Vorteil dieser religiös und säkular interpretierbaren Struktur der innersten Gewissheit konnte aus religiöser Sicht gelten, dass niemand sich diesem Typ von „Glauben“ würde entziehen können – zumindest nicht in Kulturen und Geisteshaltungen, für die die bewusste Selbstbeziehung des Individuums zentral ist, was gleichbedeutend ist mit Kulturen, die sich der typisch modernen „Weltgesellschaft“ zurechnen.7 Man 6 Karl Barth, Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (KD I/1), Zürich: EVZ, 8. Aufl. 1964, 223 u. 224. 7 Wobei diese Rede von der „typisch modernen Weltgesellschaft“ eher dem Geist des frühen 19. Jahrhunderts und des Existentialismus im frühen 20. Jahrhundert
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hat diese populäre Form, die sowohl als religiöses Phänomen als auch als Phänomen säkularer dialektischer Selbstbeziehung ausgegeben wurde, mit theologisch und philosophisch anspruchsvolleren Grundformen religiöser, moralischer und metaphysischer Orientierung verwechselt. Sie konnte etwa angesehen werden x als popularisierte Variante des religiösen „Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit“ (à la Schleiermacher8); oder x als popularisierte Variante der moralphilosophisch behaupteten Gleichzeitigkeit von Selbstgewissheit und Selbstherausforderung im Zusammentreffen des moralischen Bewusstseins mit der inneren Stimme: „Du sollst!“ des moralischen Gesetzes (à la Kant9); oder x als trivialisierte Variante der metaphysischen Einheit und Spannung von „Existenz und Essenz“ (à la Tillich10). Besonders Søren Kierkegaard kann als Wegbereiter für die genannte religiös-säkulare Form von Glaube herangezogen werden. In der für sein Spätwerk zentralen Schrift Die Krankheit zum Tode betont er wiederholt, die Formel für „den Glauben“ sei: „Indem es sich zu sich selbst verhält und es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte,“ oder: „Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, sich durchsichtig in Gott gründet.“ Diese Formel war für ihn nicht weniger als das „sichere Seezeichen ..., wonach ich in dieser gesamten Schrift steuere.“11 entspricht als den komplexen multikontextuellen und strukturiert-pluralistischen Formen, die wir heute mit einer nachdenklichen Rede von „Globalisierung“ verbinden. Vgl. Michael Welker, Globalisierung. In wissenschaftlich-theologischer Sicht, EvTh 68 (2008), 365-382; William Schweiker, Theological Ethics and Global Dynamics in the Time of Many Worlds, Malden u. Oxford: Blackwell, 2004, 5ff; Boike Rehbein u. Hermann Schwengel, Theorien der Globalisierung, UTB, Konstanz: UVK, 2008. 8 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, hg. Martin Redeker, Berlin: de Gruyter, 1960. 9 Siehe Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, PhB 41, Hamburg: Meiner, 3. Aufl. 1965; ders., Kritik der praktischen Vernunft, PhB 38, Hamburg: Meiner, 1967. 10 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 3. Aufl. 1956. 11 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin, Gesammelte Werke, 24./25. Abteilung, Düsseldorf, 1954, 47 u. 81. Vgl. ders., Furcht und Zittern [1843], Gesammelte Werke, 4. Abteilung, Düsseldorf, 1956, 78: „Dem Glauben ist einerseits der Ausdruck für den höchsten Egoismus eigen …, andrerseits der Ausdruck für die absoluteste Hingabe: Es um Gott willen tun.“ Diese Position ist mit einer besonderen Betonung der Innerlichkeit verbunden. Genauer gesagt, wird die reine Innerlichkeit des Glaubens in starker Polemik aller Objektivität der Glaubenserkenntnis entgegengesetzt: z. B. ders., Einübung im Christentum, Gesammelte Werke, 26. Abteilung, Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1955, 216: „... die erste Bedingung für das Christ Werden ist, dass man
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Von der Aneignung von (oft popularphilosophisch vereinfachten) Grundgedanken Schleiermachers und Kierkegaards bis hin zur Übernahme existentialistischer Positionen wie der Rudolf Bultmanns12 wurden in den beiden letzten Jahrhunderten viele akademisch einflussreiche Versuche unternommen, diesen Typ von leerem „Glauben“ zu erfassen, zu beschreiben und zu propagieren. Die meisten dieser Versuche stimmen im Bemühen überein zu zeigen, dass diese äußerste Gewissheit einerseits ein klares anthropologisches Phänomen ist, während sie andererseits als von Gott gegeben angesehen werden soll, als gegründet in göttlicher Gnade – und nicht als triviale, schwach reflektierte Selbstbeziehung oder als Ergebnis eines alltäglichen Vergewisserungsunternehmens. Die skizzierte Beziehung, ausgegeben als Erfahrung einer religiösen Gewissheit und „Glaube“ genannt, kann als außerordentlich wertvoll erscheinen. Sie ermöglicht es nämlich, an potenziell jedem Punkt individueller Erfahrung und intersubjektiver Verständigung ein Element vermeintlich religiöser Kommunikation einzuführen. Denn sobald ein Individuum sein „inneres Selbst“ zu thematisieren versucht, stößt es auf die von Gewissheit begleitete Erfahrung des elementar „Anderen in ihm“. Was ist dieses Element des „Anderen“, dem ich begegne, wenn ich die äußerste Tiefe meines inneren Selbst erreiche? Ist das etwa nicht Gott? In einer Form, die dem modernen Denken und Empfinden entgegenkommt, scheinen wir vor uns zu haben, was Calvin das natürliche unbedingt nach innen gekehrt sei.“ Und ders., Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken [1846]. Erster Teil, Gesammelte Werke, 16. Abteilung, Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1959, 215: „... denn das objektive Wissen von der Wahrheit des Christentums oder von seinen Wahrheiten ist gerade Unwahrheit; ein Glaubensbekenntnis auswendig können ist Heidentum, weil das Christentum die Innerlichkeit ist.“ Konsequenterweise wird dieses Konzept des Glaubens schließlich selbstbezüglich: „Der Glaube selbst ist gleichsam des Glaubens Gegenstand“ (ders., Erbauliche Reden 1834/44, Gesammelte Werke, 7., 8., 9. Abteilung, Düsseldorf/Köln: Diederichs, 1956, 85). 12 Rudolf Bultmann bietet eine besonders eingängige Version dieser Figur; vgl. z. B.: Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen, 1933, 26ff, 36: „Denn wenn es sich im Glauben um die Erfassung unserer Existenz handelt, und wenn unsere Existenz in Gott gegründet, d. h. außerhalb Gottes nicht vorhanden ist, so bedeutet die Erfassung unserer Existenz ja die Erfassung Gottes.“ Ders., Das Problem der „natürlichen Theologie“, ebd., 294ff, 297: „Das glaubende Existieren vollzieht sich in einem neuen Verstehen der Existenz“. Die wohl drastischste Formulierung findet sich in einem Text von 1929, der erst 1984 publiziert wurde: ders., Wahrheit und Gewißheit, in: ders., Theologische Enzyklopädie, hg. E. Jüngel u. K. W. Müller, Tübingen: Mohr Siebeck, 1984, 183ff, 202: „... ich verstehe Gott, indem ich mich selbst neu verstehe.“ Zur differenzierten Würdigung von Bultmanns Position siehe Konrad Stock, Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, bes. 162ff; ders., Die Gegenwart des Guten. Schriften zur Theologie, Marburger theologische Studien 96, Marburg: Elwert, 2006, 42ff.
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Gewahrwerden, das „natürliche Ahnvermögen“ oder die „Empfindung für die Gottheit“ nannte.13 Aber es handelt sich um eine kulturell domestizierte natürliche Gewissheit. Wo Calvin eine vage und Ambivalenzen auslösende Ehrfurcht angesichts tief ergreifender ästhetischer Kräfte, kosmischer Gesetze und umfassender sozialer Ordnungen sah, bezieht sich die moderne religiöse Variante nur auf die ärmliche Dialektik des leeren Selbstbewusstseins. Weite Regionen der Theologie, der Lehre und der Verkündigung in den klassischen Großkirchen der westlichen Industrienationen haben diese Form des abstrakten und leeren „Glaubens“ sehr hochgehalten. Sie haben viel dafür getan, die religiöse Banalität und beliebige Verfügbarkeit dieser inneren Gewissheit zu verschleiern. Sie übernahmen die Versicherung philosophischer Idealisten, dass diese Gewissheit der „Grund“ des Selbstbewusstseins sei, der Schlüssel zu allem epistemologischen und moralischen Wert und die wahre Grundlage menschlicher Personalität. Sie umgaben diese kümmerliche Form mit vielen Varianten der „Ganzheits-“ und „Unhintergehbarkeitsrhetorik“. Wir haben hier nicht etwa nur eine mehr oder weniger interessante Bewusstseinsoperation vor uns, sondern den „Kern der Person“, die letzte und unhintergehbare „Einheit des Selbst“, die grundlegende Einheit der Subjektivität! Theologisch wurde regelmäßig versichert, dass diese innerste Gewissheit „von außen“ gestiftet und „aus Gnaden“ empfangen sei. Wie aber die intensiven Auseinandersetzungen über die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins lehren14, erlaubt diese grundlegende dialektische Beziehung nur eine willkürliche Entscheidung zwischen der Vorherrschaft der „aktiven“ Seite und der Vorherrschaft der „passiven“ Seite. Denn beide Momente treten in der selbstbezüglichen Gewissheit gleichzeitig auf. Die oftmals erhitzten Debatten darüber, was die wahre und „rechte“ Vorordnung von Geben und Empfangen, von Aktivität und Passivität in dieser vermeintlichen Beziehung von Gott und Mensch sei und sein sollte, glichen einem Kampf um die Frage, ob des Kaisers neue Kleider schwarz oder weiß seien. Diese Analyse der inneren Verfassung eines typisch modernen, verzerrenden Verständnisses von „Glauben“ und ihr enttäuschendes Ergebnis sollten aber nicht dazu verleiten, die Macht dieser religiösen Form zu unterschätzen. Diese Form erlaubt es nämlich, religiöse und säkulare Bewusstseinsstellungen problemlos zu verbinden. Sie erlaubt es, im Nu von religiöser zu moralischer Kommunikation, von reli13 Vgl. J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe übersetzt u. bearbeitet v. O. Weber, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 5. Aufl. 1988, 5ff (I, 3,1) (zit.: Calvin, Institutio); M. Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, NBST 13, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1995, Kap. 2. 14 Vgl. Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Wissenschaft und Gegenwart 34, Frankfurt, 1967; ders., Selbstverhältnisse (siehe 0.5, Anm. 5); M. Welker, Der Vorgang Autonomie. Philosophische Beiträge zur Einsicht in theologischer Rezeption und Kritik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1975.
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giösen zu erkenntnistheoretischen oder metaphysischen Spekulationen überzugehen und umgekehrt.15 Sie betätigt endlos die Spannung von Erfüllung und Entfremdung; von Vertrautheit mit sich selbst und Begegnung mit dem Ganz Anderen; von äußerster Gewissheit und dialektischer Differenzerfahrung. Zugleich scheint sie religiöse Mentalitäten mit einer universalistischen Aura zu segnen. Sie signalisiert nämlich laufend die Botschaft: „Auf verborgene Weise kann eine vernünftige Person nichts als religiös sein!“ Ein „unheilbar religiöses“ und unabweisbar „gläubiges“ Wesen des Menschen scheint damit sichergestellt. Wie Calvin die Macht der „natürlichen Ahnung“ des Göttlichen gewürdigt hat – trotz ihrer Vagheit und Ambivalenz –, sollte die kulturelle Macht des gerade skizzierten subjektivistischen „Glaubens“ ernst genommen werden. Deutlich sollte aber auch werden, dass sie eine inhaltliche Frömmigkeit systematisch verhindert, dass sie strukturell und planmäßig in die religiöse Sprachlosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit hineintreibt. Mindestens fünf Faktoren, die einander wechselseitig verstärken, lassen den neuprotestantischen subjektivistischen „Glauben“ zu einer Kraft werden, die den christlichen Glauben nicht nur verbaut, sondern die ihn systematisch untergräbt und zerstört. Die scheinbar unaufhaltbare Selbstsäkularisierung in den klassischen Kirchen der westlichen Industrienationen, der in der Regel die Selbstbanalisierung der Religiosität folgt16, ist nicht zuletzt eine üble Frucht dieses neuprotestantischen Konzepts von „Glauben“. 1. Der neuprotestantische Glaube tritt in Form eines bloßen transzendentalen Prinzips auf. Er erweist sich nicht – wie der Glaube es sollte – als eine Erlebensform, die die Glaubenskommunikation direkt anregt und belebt. Der neuprotestantische Glaube individuiert17 und ist steril, eine Tatsache, die durch seine universelle Verfügbarkeit verschleiert wird. 2. Der neuprotestantische Glaube tritt als notwendigerweise leere religiöse Form auf. Er erscheint nicht – wie der Glaube es sollte – als von ihrem Inhalt geprägte und diesen erschließende Form des Erlebens, 15 Reiches Anschauungsmaterial dafür bietet das reife Werk Karl Rahners, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg/ Basel/ Wien: Herder, 9. Aufl. 1976, 35ff; siehe auch Eilert Herms, Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen: Mohr Siebeck, 1992, bes. 457ff. 16 Siehe Michael Welker, Selbst-Säkularisierung und Selbst-Banalisierung, Brennpunkt Gemeinde 1/2001: Gott-Ferne in und außerhalb der Gemeinde, 15-21; Ingolf U. Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“ Reden von Gott im Zeitalter der ‚Cafeteria-Religion‘, in: J. Beutler u. E. Kunz (Hg.), Heute von Gott reden, Würzburg: Echter, 1998, 57-77. 17 D. h., er vereinzelt und stärkt deshalb das Individuum gerade nicht. Der junge Dietrich Bonhoeffer hat von einem „individualistische(n) Gesellschaftsatomismus“ gesprochen (Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, DBW 1, hg. Joachim von Soosten, München: Kaiser, 1986, 18, vgl. 205ff u. ö.).
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die Gotteserkenntnis gewinnt und fördert und in deren Licht inhaltliche Erkenntnis des Selbst, der es prägenden Gemeinschaften, Umgebungen und der Welt ermöglicht. 3. Der neuprotestantische Glaube tritt als unbedingte äußerste Gewissheit auf. Er ist eine sich selbst genügende säkular-religiöse Form. Obwohl dieser „Glaube“ immer wieder aktiviert werden kann und muss, bietet er nicht – wie der Glaube es sollte – ein Regulativ an, um von der bloßen Gewissheit zur individuellen und gemeinschaftlichen Suche nach Wahrheit und zur progressiven Erschließung von Wahrheitserkenntnissen fortzuschreiten.18 Er tritt sozusagen notorisch auf der Stelle bzw. bewegt sich nur voran wie in einem Hamsterrad. 4. Der neuprotestantische Glaube tritt in seiner Kombination von Unmittelbarkeit und Negation (das Ganz Andere ist unmittelbar zugänglich – und doch entzogen) als eine paradoxe, sich beständig selbst irritierende, behindernde und neurotisierende Form auf. Er fördert nicht – wie der Glaube es sollte – die selbstkritische Wahrheitssuche und die tiefe Freude an den Wahrheitsansprüchen der Gotteserkenntnis, die Verherrlichung Gottes und die Erhebung derer, die vom Glauben ergriffen sind und ihn bezeugen. 5. Der neuprotestantische Glaube hat eskapistischen Charakter. Er konditioniert den Rückzug von expressiven, festlichen kommunikativen Formen religiösen Lebens oder wirkt ihnen sogar entgegen – was aber der Glaube nicht zu tun braucht und nicht tun sollte. Treffend und beklemmend zugleich ist beobachtet worden, dass die Existenzform dieses Glaubens „dem Aufenthalt in einem Spiegelkabinett“ ähnelt.19 Nüchterner sollte man von einer Gefangenschaft in einer quasi-religiösen Bewusstseinsform sprechen, die, mit Hegel gesagt, eine „auf sich und ihr kleines Tun beschränkte, und sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit“ verfestigt.20 Man hat die Erbärmlichkeit einer mit dieser Religiosität verbundenen endlosen Sinnsuche mit verquaster Rhetorik verschleiert: Es gehe ihr darum, „die Wunde des Sinnes offen“ zu halten.21 Jesus selbst ist als Transzendentalspießer dargestellt worden, indem ihm unterstellt wurde, 18
Siehe Michael Welker, Bezwingende Gewissheit – Befreiende Wahrheit. Selbstgewissheit – Wahrheitsgewissheit – Glaubensgewissheit, in: Uta Andrée u. a. (Hg.), Leben und Kirche, FS Wilfried Härle, Marburg: Elwert, 2001, 107ff; Polkinghorne/Welker, An den lebendigen Gott glauben, letztes Kapitel (siehe Einleitung, Anm. 4). 19 Falk Wagner, Religion der Moderne – Moderne der Religion, in: Wilhelm Gräb (Hg.), Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh: Gütersloher, 1999, 12-44, 26 u. 29. 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, PhB 114, Hamburg: Meiner, 1952, 168f. 21 Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh: Gütersloher, 2002, 74f.
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er sei „in der Geschichte seines Lebens bis zum Tod am Kreuz“ auf der „Suche nach dem wahren Selbst und damit nach dem absoluten Grund, von dem her … (er sich) als ein so und nicht anders bestimmtes Individuum wissen kann“, gewesen.22 Die damit verbundene theologische Halt- und Orientierungslosigkeit ist nicht einfach auf die zunächst aufklärerische, dann ideologische Macht zurückzuführen, mit der sich die transzendentale „Subjektivität als Epochenindex der Neuzeit“ zur Geltung gebracht hat.23 Wir müssen eine vielfältige Blockade theologischer Erkenntnis beachten, wenn wir einsehen wollen, warum der subjektivistische Glaube für viele Christen und auch für nicht wenige Theologen bis in unsere Zeit hinein die Form war und ist, in der sie die christologisch verheißene Nähe Gottes ernst zu nehmen und zu erfahren suchten. Man kann den subjektivistischen Glauben als konzeptionslose und theologisch verantwortungslose Anpassung der Religiosität an moderne Popularphilosophie kritisieren. Doch man muss auch sehen, dass eine christologisch völlig verfahrene Situation es extrem schwierig machte, die Botschaft von der Nähe Gottes in Jesus Christus inhaltlich-theologisch nachzuvollziehen. x Ein sich im 19. Jahrhundert bereits anbahnender, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich gestützter Konsens lautete: Vom historischen Jesus wissen wir so gut wie nichts. Die biblischen Texte bieten weitgehend „legendarische Übermalungen“. Eine Frömmigkeit, die sich an Jesus von Nazareth orientieren will, ist einfältiger „Kinderglaube“ (siehe dazu Teil 1). x Die Auferstehung ist ein Thema für den Fundamentalismus, der gegen besseres Wissen auf eine numinose „Gegenwirklichkeit“ fixieren will: credo quia absurdum – ich glaube, weil es widersinnig ist.24 Das aber ist halbwegs gebildeten und wahrheitsliebenden Menschen nicht zuzumuten (siehe dazu Teil 2). x Das Kreuz Christi offenbart uns den die Ohnmacht und das Leiden der Menschen teilenden barmherzigen Gott. Wir werden mit der dunklen Behauptung konfrontiert, dass uns Gott gerade mit dieser Selbsterniedrigung nicht nur nahe sein, sondern auch helfen will (siehe dazu Teil 3). x Mit der Rede von der Himmelfahrt Jesu Christi und seiner Wiederkunft zum Gericht scheint der Glaube sich endgültig von allem Wirklichkeitskontakt und von der in der Menschheit Jesu verheißenen Nähe Gottes zu verabschieden. Wer in diesem Zusammenhang 22
Wilhelm Gräb, Kirche als Ort religiöser Deutungskultur. Erwägungen zum Zusammenhang von Kirche, Religion und individueller Lebensgeschichte, in: U. Barth / W. Gräb (Hg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh: Gütersloher, 1993, 222-239, 233 u. 237. 23 So Gunther Wenz, Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie, Göttingen: Vandenhoeck, 2005, 7. 24 Diese Aussage wird Tertullian zugeschrieben, bezieht sich bei ihm aber nur auf den Kreuzestod, nicht auf den Glauben überhaupt, vgl. MPL 2, 806.
0.6 Gottes Offenbarung: multicontextual und pneumatological turn
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noch von „Offenbarung“ spricht, setzt alle Maßstäbe der Redlichkeit außer Kraft. Nicht nur wissenschaftliche Theologie, auch ein gebildeter gesunder Menschenverstand verweigert hier die Gefolgschaft (siehe dazu die Teile 4 und 5). Man muss sich diese schwierige christologische Situation vergegenwärtigen, um zu sehen, dass sich religiösen Menschen, die an der Nähe Gottes festhalten wollen, der subjektivistische Glaube als eine naheliegende Lösung angeboten hat.25
0.6 Gottes Offenbarung: Über den subjectivist turn und den iconic turn hinaus zum multicontextual und pneumatological turn! – Gegenwart Gottes in der Geschichte Jesu, im Geist der Auferstehung Christi und im Kommen seines Reiches Bald verwundert, bald befremdet stehen weite Teile der Welt vor der Behauptung: Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart! Wie kann man nur meinen, Gott selbst in einem Menschen zu begegnen?! In der Transzendenz, im Numinosen, in der Sinnfülle, im höchsten Wesen, in der absoluten Macht, vielleicht noch in der Substanz, im Sein, in Natur und Geschichte könnte man nach einer Selbstoffenbarung Gottes suchen. In allem, was für das Eine, das Ganze, für das Erste und das Letzte oder das Höchste stehen kann, mag Gott greifbar werden. Aber Gott in Jesus Christus – ist das nicht absurd? Bei vielen wächst das Befremden noch, wenn deutlich wird: Die Aussage „Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart“ ist ein Bekenntnis, in dem der zentrale Inhalt des christlichen Glaubens ausgesprochen, in dem sein Fundament benannt wird. Mit dem Bekenntnis zu dem Gott, der sich in dieser Offenbarung zu erkennen gibt, machen Christen deutlich, was sie von anderen religiösen Überzeugungen und Traditionen unterscheidet. Sie halten fest, was bezeichnend, was cha25 Im Kontext der Papstwahl und der allgemeinen Rede von „der Wiederkehr der Religion“ hatte Der Spiegel (Heft 33, 15.8.2005) Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf ihren „Glauben“ hin befragt. Er ist durchgängig auf den subjektivistischen Glauben gestoßen; so z. B. die Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange: „... ich höre auf meine innere Stimme, bete, realisiere und reflektiere mich“, 141; die Filmregisseurin Caroline Link: „Mein Glaube an Gott oder eine ‚höhere Instanz‘ hat ganz viel mit meinem Gewissen zu tun, mit Werten, die ich wohl verinnerlicht habe, und damit, dass es, naiver Weise, eine Rolle spielt, dass irgendeine Instanz ‚registriert‘, wenn ich meinen eigenen Werten entgegenhandle“, 144; der Musiker und Komiker Helge Schneider: „Ich sehe mich als ganz kleinen Teil des Universums und habe Gott als Freund. Er ist ein Teil meines Lebens, vor dem ich keine Angst haben muss. Ich glaube an das Schicksal, den Zufall und das Unvorhersehbare. Das alles ist für mich Gott“, 146.
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rakteristisch ist für den christlichen Glauben, dem am Beginn des dritten Jahrtausends mehr als zwei Milliarden Menschen, ein Drittel der Weltbevölkerung, angehören. „Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart.“ Dieser Satz ist für den christlichen Glauben auch ein Wort der Verkündigung und „Evangelium“, das heißt eine frohe, befreiende und beglückende Botschaft. Sie spricht von einem folgenreichen Geschehen, das die Herzen der Menschen berühren, ihr Gewissen stärken, ihren Geist beflügeln, ja ihr ganzes Leben beleben, halten und erheben will. Mit dieser Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus will Gott den Menschen ganz nahe kommen, ihren Glauben und ihr Vertrauen wecken, ihrem individuellen und gemeinsamen Leben Orientierung, Gestalt und Halt geben und sie zu ewiger Gemeinschaft mit Gott befähigen. Doch sind das alles nicht nur große Worte, bloße Versicherungen, bestenfalls fromme Wunschvorstellungen, schlimmstenfalls „Opium des Volks“? Lässt sich diese grundlegende Aussage des christlichen Glaubens, sein Bekenntnis, seine Verkündigung auch kritisch prüfen, gedanklich nachvollziehen und verstehen? Wer diese Frage beantworten will, muss das Gebiet der Theologie betreten, der Selbstprüfung des christlichen Glaubens. Die theologische Selbstprüfung erfolgt mit Hilfe eines Nachdenkens, das sich nicht nur im Bereich der Kirche, sondern auch im Bereich der Wissenschaft und im öffentlichen Diskurs oder, modern gesagt, „vor allgemeiner menschlicher Vernunft“ verantwortet.1 Mit der Konzentration auf den Satz „Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart!“ begeben wir uns auf das theologische Gebiet der Christologie, der Lehre von Jesus Christus, und der dazu benachbarten theologischen Erkenntnisgebiete wie der Ekklesiologie, der Lehre von der Kirche, und der Pneumatologie, der Lehre vom Heiligen Geist. Der theologisch nachdenkende Glaube an den lebendigen Gott sucht Verstehen. Im Glauben, der durch die Offenbarung geweckt wird, können und sollen Menschen mit dem lebendigen Gott vertraut werden, in der offenen Weise, in der sie mit einer Person und einer Geschichte vertraut werden. Indem der Glaube sich auf Gott konzentriert, erschließt sich ihm ein weiter Erinnerungs-, Erfahrungs- und Erwartungsbereich. Er erkennt: Gott ist nicht einfach ein „letzter Gedanke“, eine bloße Idee oder eine metaphysische Größe, die wir gedanklich abschließend einholen können. Archimedes, dem großen Mathematiker der Antike, wird die Aussage zugeschrieben: „Gib mir einen festen Punkt, und ich bewege die Erde!“ Philosophie und Religiosität haben immer wieder einen solchen nicht zu erschütternden „archimedischen Punkt“ gesucht. Doch die Offenbarung, die Gottes Zuwendung zu den Menschen und seine Treue zu ihnen zu erkennen gibt, lässt sich mit der Vorstellung von einem 1
Vgl. Barth, KD I/1, 1 (siehe 0.5, Anm. 6).
0.6 Gottes Offenbarung: multicontextual und pneumatological turn
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„festen Punkt“, einem „letzten Gedanken“ und einem als Bezugspunkt gedachten innersten oder äußersten Gegenüber nicht angemessen erfassen. Dieses Problem scheint der „subjektivistische Glaube“ (siehe Teil 0.5) großartig zu bewältigen, indem er sein scheinbar göttliches inneres Gegenüber mit der ganzen Weite seines eigenen Bewusstseins verbindet. Der subjektivistische Glaube erscheint also einerseits hoch konzentriert, denn er ist auf sein innerstes Selbstbewusstsein, auf den Kern seines „Ichs“, bezogen. Andererseits verbindet sich mit dieser Konzentration, wie Ludwig Feuerbach klar gesehen hat, ein „Bewußtsein von der Unendlichkeit des Bewußtseins“2. Dieses Bewusstsein ist nicht einfach ein Hirngespinst. Machen wir doch beständig die Erfahrung, dass unser Bewusstsein erweiterbar und ausdehnbar ist: Immer neue Inhalte der Erinnerung und der Vorstellungskraft können vor unser geistiges Auge treten. Zugleich meinen wir, dass die Bewusstseinsinhalte, die wir mit „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“ verbinden, potenziell von allen anderen Menschen mit uns „geteilt“ werden können. Deshalb, so Feuerbach, fühlen wir uns über unser Selbstbewusstsein und Bewusstsein mit der ganzen menschlichen Gattung verbunden.3 Diese Beobachtungen können fromm oder sie können atheistisch gedeutet werden. Feuerbach geht den zweiten Weg: Die Unendlichkeit der Religion ist nichts anderes als die Unendlichkeit des Bewusstseins, wobei das Bewusstsein aber eben zu einem transzendenten Gegenüber erklärt wird. Und so weit dein Wesen, so weit reicht dein unbeschränktes Selbstgefühl, so weit bist du Gott. … Denkst du folglich das Unendliche, so denkst und bestätigst du die Unendlichkeit des Denkvermögens; fühlst du das Unendliche, so fühlst und bestätigst du die Unendlichkeit des Gefühlsvermögens.4
Die fromme Deutung dagegen kann die Erfahrung der erstaunlichen Weite des Bewusstseins und das Empfinden, zugleich innerlich fokussiert zu sein, mit der Nähe des Göttlichen verbinden. Diese „Nähe Gottes“ scheint vielen Menschen viel überzeugender zu sein als die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Der ernsthafte christliche Glaube wirkt demgegenüber eher ärmlich. Bezieht er sich doch, wenn er von Offenbarung spricht, auf eine Wirklichkeit, die sehr unscheinbar und scheinbar höchst wenig verheißend ist, sie redet ganz schlicht von einem einzelnen konkreten Faktum inmitten der Unzahl von Tatsachen und dem unübersichtlichen Strom geschichtlicher Ereignisse, ... von einer einzelnen menschlichen Person aus der römischen Kaiserzeit: von Jesus Christus. Wenn die christliche Sprache von Gott redet, so tut sie das nicht auf 2 3 4
Feuerbach, Wesen des Christentums, 30 (siehe 0.4, Anm. 33). Vgl. Feuerbach, Wesen des Christentums, 29f. Feuerbach, Wesen des Christentums, 39.
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Grund irgendwelcher Spekulation, sondern angesichts dieses Faktums, dieser Geschichte, dieser Person.5
Von diesem Faktum, dieser Geschichte, dieser Person ausgehend, nimmt sich der christliche Glaube die Freiheit, die ganze tatsächlich beeindruckende Tiefe und Weite des menschlichen Bewusstseins – für sich genommen – als für die Gotteserkenntnis (d. h. theologisch) nicht aufschlussreich anzusehen. Unser scheinbar unendliches Bewusstsein kann zwar ganz erstaunliche Erinnerungs- und Vorstellungsleistungen erbringen. Es kann aber auch zu einer wahren Müllkippe des Geistes oder zu einer psychischen Folterkammer werden. Es ist zu seinem Wohlergehen in hohem Maße von einem festen Herzen, einem zumindest halbwegs beruhigten Gewissen, einem zumindest einigermaßen klaren Verstand und von anderen geistigen Rahmenbedingungen abhängig. Feuerbachs kühne Behauptung „(d)as Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen“6 entspricht dem abstrakt-existenziellen „Gott“ des subjektivistischen Glaubens. Wenn der Mensch zu diesem Gott betet, spricht er tatsächlich nur mit sich selbst. Dieser Gott ist nur ein mehr oder weniger imposanter Götze. Treffend hat Karl Barth, Einsichten von Hans Ehrenberg aus dessen Ausgabe von Feuerbachs Philosophie der Zukunft7 aufnehmend, festgestellt: Feuerbach sei als „getreues Kind seines Jahrhunderts“ ein „Nichtkenner des Todes“ und ein „Verkenner des Bösen“ gewesen. In der Tat: wer das wüßte, daß wir Menschen böse sind vom Schopf bis zur Sohle, und wer das bedächte, daß wir sterben müssen, der würde das als die illusionärste von allen Illusionen erkennen, daß das Wesen Gottes das Wesen des Menschen sei, er würde den lieben Gott, und wenn er ihn für einen Traum hielte, mit solchen Verwechslungen mit unsereinem auf alle Fälle in Ruhe lassen.8
Feuerbach verkennt die Ich-Einsamkeit des unter der Macht der Sünde leidenden und sterblichen Menschen; er verkennt unsere Unfähigkeit, unseren Mitmenschen diese Ich-Einsamkeit definitiv abzunehmen; er verkennt, dass wir Menschen einander immer erneut – gewollt und ungewollt – in die Isolation der Ich-Einsamkeit drängen, statt uns wechselseitig rettend daraus zu befreien. Kurz, Feuerbachs Überzeu5 Karl Barth, Das christliche Verständnis der Offenbarung, Theologische Existenz heute, NS 12 (1948), 9 (zit.: Barth, Offenbarung). 6 Feuerbach, Wesen des Christentums, 46 (siehe 0.4, Anm. 33). 7 Ludwig Feuerbach, Philosophie der Zukunft, 1843, hg. Hans Ehrenberg, Frommanns philosophische Taschenbücher, Stuttgart, 1922; vgl. dazu Welker, Theologische Profile, 157-181 (siehe 0.2, Anm. 12). 8 Karl Barth, Ludwig Feuerbach, in: ders., Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München: Kaiser, 1928, 237.
0.6 Gottes Offenbarung: multicontextual und pneumatological turn
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gung, die Menschen würden einander zum Gott und das sei das Geheimnis der Religion, ist ganz offensichtlich eine Illusion. Aber mit der Kritik am „subjective turn“ oder „subjectivist turn“, der subjektivistischen Wende, in der Religiosität ist noch nicht das Unbehagen gegenüber der Konzentration auf die Offenbarung in Gestalt „eines kleinen Büschels von Nachrichten“9 aus der römischen Kaiserzeit ausgeräumt. Eine Christologie muss deutlich machen, auf welche Weise sich der schöpferische Gott in der Macht des göttlichen Geistes in Jesus Christus, in dieser Person und Geschichte, zu erkennen gegeben hat. Auf welche Weise fährt Gott fort, sich aus diesem irdisch längst vergangenen Leben heraus in der Kraft des göttlichen Geistes und im Kommen des göttlichen Reiches zu offenbaren und das Leben der Menschen zu ergreifen, zu halten, zu retten und zu erheben? Deshalb ist es unerlässlich, den „subjectivist turn“ durch einen „pneumatological turn“ zu ersetzen. Es ist zu zeigen, auf welchen Wegen der menschliche Geist, der nach der Auskunft des Apostels Paulus für sich genommen vor Gott nur seufzen oder in unverständlichen Zungen reden kann10, durch Gottes Geist, Gottes Offenbarung und Gottes Wort zur Gotteserkenntnis befähigt wird. (Siehe Teil 2.5 zur unerlässlichen Unterscheidung von Gottes Geist und menschlichem Geist, von der Reduktion auf Bewusstsein und Selbstbewusstsein ganz zu schweigen.) Dabei ist auch ein skeptisches Verhältnis zum heute immer noch viel gepriesenen „iconic turn“ zu entwickeln, zur „ikonischen Wende“, die als großartige Ablösung des „subjectivist turn“ und anderer kultureller Moden ausgerufen worden ist. Mit der Beschwörung der „Wiederkehr der Bilder“11 und der „Allgegenwart der Bilder“ wird eine Ästhetisierung der Lebenswelt affirmiert, die die reaktive Zuschauerexistenz der Menschen in einer von visuellen Medien dominierten Kultur verfestigt. Auch die Forderung, eine übermäßig intellektualisierte Theologie und eine freudlose Frömmigkeit, so gängige Klischees, sollten sich auf den „iconic turn“ stärker einlassen und dessen optischästhetische Schätze besser nutzen, sollte nicht unkritisch gehört werden. Richtig ist: Die „ikonische Präsenz“ Jesu Christi, besonders in den Bildern von Krippe und Kreuz, ist seit zweitausend Jahren unverbraucht anrührend. Verbunden mit der Botschaft vom „leidenden Gott“, 9 10 11
Barth, Offenbarung, 9 (siehe 0.6, Anm. 5). Vgl. Röm 8,26; 1Kor 14,2. Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München: Fink, 1994, 11ff; vgl. Christa Maar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln: DuMont, 2004, bes. 15ff, 216ff, 323ff; Martin Seel, Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Sonderheft des Jahrgangs 2004 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg: Meiner, 2004, 73-81.
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„Wer ist Jesus Christus für uns heute?“
der in die Armut und das Elend menschlicher Existenz eingetreten ist, wird sie von einer theologischen Aura umgeben, die starken Anhalt an Gottes Offenbarung hat. Doch sie verengt den Blick. Sie bezieht sich nur auf das Leben des vorösterlichen Jesus, wobei Krippe und Kreuz nur dessen Beginn und Ende markieren. Die vorherrschende ikonische Präsenz Jesu verstellt selbst in dieser ihrer stärksten Form die Aufmerksamkeit und Sensibilität für den ungeheuren Reichtum seiner Gegenwart in der Kraft des Geistes (siehe Teil 4 und Teil 5). Die Reformatoren haben in ihren Schriften, Predigten und Katechismen sehr stark das glaubende Individuum ins Zentrum gestellt. „Ich gläube, daß mich Gott geschaffen hat ...“; „Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann …“12; „Was ist dein einiger trost in leben und in sterben? ... Das ich mit Leib und Seel, beyde in leben und in sterben nicht mein, sonder meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin …“13 Diese reformatorische Konzentration auf das glaubende Individuum hat vielen Anhängern des subjektivistischen Glaubens als Ausgangspunkt für ihre religiösen Optionen gedient. Aber in den zitierten und zahllosen anderen reformatorischen Bekenntnistexten fällt nicht nur die enge Zugehörigkeit des Glaubenden zu seinem „Herrn und Heiland Jesus Christus“ auf. Es wird auch ganz deutlich, dass Gott sich schöpferisch erhaltend, rettend und erhebend dem gläubigen Individuum „sampt allen Kreaturn“ zuwendet, dass Gott durch den Heiligen Geist „mich … (und) die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleucht, heiliget“14. Es wird bekannt, „daß nicht allein andern, sonder auch mir vergebung der sünden, ewige gerechtigkeyt und seligkeyt von Gott geschenckt sey ...“15 Dieser unabdingbare Zusammenhang mit der Polyphonie des Lebens der Schöpfung und der Multikontextualität der „ganzen Christenheit“ muss ausdrücklich mit in den Blick genommen werden, wenn „das glaubende Ich“ die Offenbarung nicht verzerrt wahrnehmen und auch „sein Selbst“ real und religiös nicht unter Niveau erfassen will. Wie Bonhoeffer richtig gesehen hat (vgl. Teil 0.3), befähigt und nötigt der Glaube an den auferstandenen und erhöhten Jesus Christus zu einer konsequent multiperspektivischen und multikontextuellen Wahrnehmung. Schon das Leben des historischen Jesus macht die multikontextuelle Wahrnehmung erforderlich (siehe Teil 1.4). Das Leben des Auferstandenen, der seinen nachösterlichen Leib mit den verschiedenen Gaben des Geistes und dem schöpferischen Zusammenwirken sei12 Luther, Kleiner Katechismus, BSLK, 510 u. 511f; meine Hervorhebungen (siehe Einleitung, Anm. 2). 13 Der Heidelberger Katechismus von 1563, in: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche (Bd. zit.: BSRK), hg. E. F. Karl Müller, Nachdruck der Ausgabe Leipzig: Deichert, 1903, 682; meine Hervorhebungen. 14 BSLK, 510 u. 512. 15 BSRK, 687.
0.6 Gottes Offenbarung: multicontextual und pneumatological turn
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ner Glieder erbaut, um sich in dieser Welt zu vergegenwärtigen, ist ohne multikontextuelle Wahrnehmung nicht zu fassen. Ebenso kann der Geist Gottes, der im Modus der „Ausgießung“ Männer und Frauen, Alte und Junge, Knechte und Mägde, aber auch ausdrücklich Menschen verschiedener Nationen, Kulturen und Sprachen ergreift, nur multikontextuell – in einem „multicontextual turn“ – theologisch angemessen wahrgenommen werden.16 Das ist nicht zu verwechseln mit der heute so beliebten Rede davon, dass wir in „pluralen Gesellschaften“ leben, dass „die Pluralität“ zunimmt, dass wir in „Pluralisierungsprozessen“ stehen und dass diese vagen Pluralisierungen auch vor Religion und Kirche nicht haltmachen. Wenn wir den „multicontextual“ und „pneumatological turn“ theologisch mitvollziehen wollen, werden wir einem „weichen Postmodernismus“ und einer diffusen Begeisterung für unbestimmte „Pluralität“ und einem „anything goes“ entgegentreten müssen. Die Macht des göttlichen Geistes und das Reich des auferstandenen Christus reichen zwar ungeheuer weit, aber sie sind von einer klar beschreibbaren Verfassung. Diese wird für den christlichen Glauben und die christliche Theologie dann deutlich, wenn Gottes Geist und Gottes Reich als Geist und Reich Jesu Christi wahrgenommen werden. Deshalb ist das Bemühen um Offenbarungserkenntnis unverzichtbar (siehe Teil 4 und 5). Das Johanneswort, „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen“ (Joh 14,2), ist Ausdruck einer weit reichenden Einladung Gottes. Diese Einladung hat ihre Grenzen nicht unbedingt dort, wo manche das Heil gern monopolistisch verwaltende Kirchen sie ziehen (siehe Teil 4.4 und 5.5). Sie besagt aber auch nicht, dass jedes selbst gebastelte religiöse Eigenheim schon im Reich Gottes gebaut ist.
16
Vgl. Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 4. Aufl. 2010, 215ff, 220f zur Ausgießung des Geistes.
Teil 1 Der historische Jesus
1.1 „Jesus ausgraben!“? – Ansätze zur „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus: Archäologie, Textarchäologie, Archäologismus (Charlesworth, Crossan, Reed) Die Tatsache, dass Jesus gelebt hat, zieht kein ernstzunehmender Wissenschaftler in Zweifel. Klaus Berger summiert: Aus folgenden Gründen hat Jesus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelebt: Über ihn gibt es vier vollständig erhaltene Biographien (Evangelien) und eine Reihe biographischer Fragmente ... Diese Anzahl wird für sonst keine andere Figur der Antike erreicht. Ferner nehmen außer den Evangelien zehn weitere theologische Autoren des Neuen Testaments auf Jesus Bezug, die meisten unabhängig voneinander. ... aber auch von Außenstehenden (wird er) erwähnt.1
Berger nennt die römischen Historiker Sueton2 und Tacitus3, den Syrer Mara bar Serapion4, den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus5 und andere frühe Quellen. Wir besitzen Zeugnisse aus verschiedenen Sprachen über Jesus, von nicht-jüdischen und nicht-christlichen Autoren, und zumindest einer von ihnen, Thallos6, ist fast noch ein Zeitzeuge Jesu. Robert Van Voorst hat auf das breite Spektrum von Einstellungen zu Jesus unter den frühesten außerbiblischen Zeugen aufmerksam gemacht. Es reicht von positiven Bezugnahmen über gemäßigt feindliche, feindselige, aber deskriptive bis hin zu aggressiven
1 2
Klaus Berger, Wer war Jesus wirklich?, Stuttgart: Quell, 1995, 21f, vgl. 21ff. Leben der Caesaren, Zürich/Stuttgart: Artemis, 1955, 296. Die Biographien sind ca. 121 n. Chr. erschienen. 3 Annalen 15, 38-45, über den Brand Roms unter Nero im Jahre 64 (hg. Erich Heller, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1997). 4 F. Schulthess, Der Brief des Mara bar Serapion, ZDMG 51, 1897, 365-91. 5 Antiquitates Judaicae aus dem Jahr 93, 18, 63f (in der Echtheit umstritten) u. 20, 200 (Jüdische Altertümer, übers. Heinrich Clementz, Wiesbaden: Fourier, 13. Aufl. 1998); siehe dazu Gerd Theißen u. Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen: Vandenhoeck, 1996, 74ff (zit.: Theißen/Merz, Der historische Jesus). 6 Dazu Theißen/Merz, Der historische Jesus, 91.
1.1 „Jesus ausgraben!“?
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und denunziatorischen Haltungen.7 Diese Streuung von Zeugnissen ist eine gute Grundlage dafür, dass mit Sicherheit auf historische Objektivität geschlossen werden kann. Doch trotz der Tatsache, dass Jesus gelebt hat8, ist die theologische Forschung im zwanzigsten Jahrhundert lange davon ausgegangen, dass wir uns dem historischen Jesus nicht annähern können, weil er uns, wie es hieß, nur in „legendarischer Übermalung“ in den biblischen Texten begegne. Er sei in so verschiedene Hoffnungen auf Heil und Erlösung eingebettet, dass wir – so lautete die Folgerung – den historischen Jesus nicht mehr erkennen können. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts veränderte sich diese Situation dramatisch. Die Jesusforschung vollzog einen Paradigmenwechsel.9 Er ging unter der Bezeichnung „The ‚Third Quest‘ for the Historical Jesus“ (Die dritte Frage nach dem historischen Jesus) in die Theologie- und Wissenschaftsgeschichte ein.10 Was war geschehen? Es sind unabweisbare Erfolge archäologischer Ausgrabungen, die einen Umschwung im Skeptizismus der „Leben-Jesu-Forschung“ einleiten. Diese „archäologische Wende“ verbindet sich mit einem breiten Interesse an Jesuszeugnissen, die nicht den kanonisch-biblischen Überlieferungen angehören.11 Ihre theologische Durchschlagskraft erhält sie durch ihre Verbindung mit der Erkenntnis, dass sich schon sehr schnell nach Jesu Tod das Bekenntnis seiner Gottheit ausbreitet („Jesus Chris7 Robert E. Van Voorst, Jesus Outside the New Testament: An Introduction to the Ancient Evidence, Grand Rapids: Eerdmans, 2000, 68: „These writers have a range of opinion: from those perhaps sympathetic to Christ (Mara); through those moderately hostile (Pliny) and those fully hostile but descriptive (Tacitus, Suetonius); to those not interested in description, but who vigorously attack Christianity and in the process attack Christ (Lucian and Celsus).“ 8 Rudolf Bultmann: „Das Entscheidende ist schlechthin das ‚Daß‘“ (ders., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophische Klasse 1960, 3. Abhandlung, 9f). 9 Siehe dazu Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, stw 25, Frankfurt: Suhrkamp, 2. Aufl. 1976, bes. 123ff. Paradigmenwechsel sind mit der Einsicht verbunden, dass ein bis dahin erreichtes Erkenntnisniveau unzureichend war und abgelöst werden muss, auch wenn es durch einen breiten Konsens stabilisiert worden war. Die kopernikanische Wende, der Siegeszug der Transzendentalphilosophie Kants oder die Ablösung des Newtonschen Weltbildes durch Einsteins Relativitätstheorie sind Paradebeispiele für einen Paradigmenwechsel. 10 Siehe schon Stephen Neill u. Tom Wright, The Interpretation of the New Testament 1861-1986, Oxford u. New York: Oxford Univ. Press, 2. Aufl. 1988, 379ff; bereits sieben Jahre später wird eine breite Typologie der neuen Richtung der „dritten Frage“ dargestellt: Ben Witherington III, The Jesus Quest: The Third Search for the Jew of Nazareth, Downers Grove: InterVarsity Press, 2. Aufl. 1997. 11 Dazu zählen auch etliche neu entdeckte alttestamentliche Pseudepigraphen, neu ausgewertete Qumrantexte, Nag-Hammadi-Codices und arabische Josephus-Texte, die es erlauben, Jesu kulturelle, ideologische und religiöse Umgebung nuancierter zu erfassen.
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Der historische Jesus
tus ist Herr, er ist Kyrios!“), ferner in Verbindung mit einer „sozialgeschichtlichen Wende“ und anderen Faktoren (siehe dazu 1.3). Die archäologische Wende wird im Folgenden zunächst für sich betrachtet, um ihre unstrittige Bedeutung, ihre Stärken und ihre Grenzen auszuleuchten. James Charlesworth, Jonathan Reed und andere haben die für die Jesusforschung relevanten Funde in den letzten Jahren fortlaufend dokumentiert.12 Ich nenne nur einige der archäologischen Ausgrabungsergebnisse, von denen behauptet wird, sie hätten uns das Palästina der Zeit Jesu und damit den Jesus der Geschichte erheblich näher gebracht. 1. Archäologische Ausgrabungen haben gezeigt, wie kosmopolitisch das Jerusalem des ersten Jahrhunderts war. Der verbreitete Eindruck, Israel sei ziemlich isoliert gewesen, ist falsch. Ein Hippodrom wurde ausgegraben, Sportstätten und Theater. Vor allem wurden zahllose Inschriften in und um Jerusalem herum gefunden – griechische, aramäische, lateinische, hebräische. Dadurch lässt sich das pfingstliche Sprachenereignis (Apg 2,9ff) nachvollziehen. Inschriften bieten aber auch Belege für in den biblischen Texten erwähnte politische Personen, z. B. Pilatus und Quirinius – sehr wahrscheinlich der in der Geburtsgeschichte des Lukas (Lk 2,2) genannte Gouverneur.13 2. Etwas riskanter, aber nicht abwegig ist die Vermutung, man habe möglicherweise das neben der Synagoge in Kapernaum und direkt am Ufer gelegene Haus des Simon Petrus und seiner Schwiegermutter ausgegraben, in dem sich Jesus aufgehalten haben könnte: „Aufgebrochen von der Synagoge, ging er hinein in das Haus des Simon“, wo er „die Schwiegermutter des Simon“ heilte (Mk 1,29; vgl. Lk 4,38f).14 3. Archäologische Ausgrabungen am Tempelberg erlauben es nachzuvollziehen, wie Jesu Widerstand gegen das Händlerwesen im Tempel und die sogenannte Vertreibung der Händler abgelaufen sein kann. Früher waren wir der Auffassung, dass Jesus den Tempel vielleicht „gereinigt“ hat, aber dass die Erwähnung von „Rindern“ und „Schafen“ beim Verfasser von Johannes (Joh 2,14) nur ein weiteres Anzeichen dafür war, dass der vierte Evangelist Jerusalem nicht kannte. Dieser Eindruck und diese Einschätzung können jetzt widerlegt werden. ... ein Gang ... vom Doppeltor (in der Südwand des Tempels) zu den sogenannten „salomonischen Ställen“ ist jetzt offensichtlich entdeckt worden. Früher wussten wir, dass diese in der herodianischen Zeit Boxen für große Tiere enthielten, aber es ließ sich keine Beziehung zum Tempel finden. Nun ist klar, dass 12
James Charlesworth, Jesus Within Judaism: New Light from Exciting Archaeological Discoveries, New York: Doubleday, 1988 (zit.: Charlesworth, Jesus Within Judaism); Jonathan L. Reed, Archaeology and the Galilean Jesus: A Reexamination of the Evidence, Harrisburg: Trinity, 2000 (zit.: Reed, Archaeology); James Charlesworth, Hat die Archäologie Bedeutung für die Jesus-Forschung?, EvTh 68 (2008), 246-265. 13 Vgl. Charlesworth, Jesus Within Judaism, 104ff; zum Folgenden siehe ebd., 109ff. 14 Reed, Archaeology, 157ff (siehe 1.1, Anm. 12).
1.1 „Jesus ausgraben!“?
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große Tiere leicht von diesen Ställen (die immer noch Nischen zeigen, in denen große Tiere angebunden waren) zu den Hallen der Geldwechsler geführt worden sein konnten. Aus der Strohstreu oder den Haltestricken bei solchen Tieren könnte Jesus leicht eine Geißel gemacht haben, wie Johannes beschreibt ... (Joh 2,15).15
Charlesworth wertet vorsichtig aus. Die räumliche Genauigkeit in der Beschreibung des Johannes nimmt er nicht auch als Gewähr für seine zeitliche Genauigkeit in der Platzierung dieser Geschichte im Wirken Jesu. Er sieht es als wahrscheinlicher an, dass die Synoptiker die sogenannte Tempelreinigung richtig datieren, wenn sie sie auf die Zeit vor der Verurteilung Jesu ansetzen, und nicht Johannes, der die Tempelreinigung am Anfang von Jesu Wirken sieht. Dennoch schließen diese archäologischen Funde eine Erklärungslücke. 4. Ebenfalls für die Jesusforschung relevante archäologische Entdeckungen sind die Ausgrabungen von zwei Becken mit fünf Säulengängen hinter dem Schaftor oder Löwentor. Vor diesen Entdeckungen wurde Johannes’ Bezugnahme auf den Bethesda-Teich nahe dem Schaftor (Joh 5,2-9) als „allegorische Theologie“ abgetan. Nun zeigt sich: Räumliche Angaben des Johannes-Evangeliums, deren Wahrheitsgehalt angezweifelt worden war, entsprechen tatsächlich den damaligen Gegebenheiten.16 5. Weitere Ausgrabungen können nach Charlesworth punktuell, aber doch eindrucksvoll das Verständnis der Passionsgeschichte verbessern. Der Verlauf der ursprünglichen Via Dolorosa, der von dem der heutigen abweicht, lässt sich nachzeichnen; über die Stätte der Kreuzigung können sinnvolle Diskussionen eröffnet werden und ebenso über die Lage von Herodianum und Synagogen, in denen Jesus vielleicht gelehrt hat. 6. Laufende Ausgrabungen nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Nazareth, Kana, Bethsaida und an anderen Orten führen – wenn auch oft nur in ganz kleinen Schritten – dazu, dass wir das Umfeld, in dem Jesus wirkte, besser verstehen. Vor allem wird eindrücklich deutlich, dass das Galiläa Jesu nicht nur von Dörfern und Landwirtschaft geprägt war. Das nötigt zur Arbeit an manchen gängigen Jesusbildern. Der von Dorf zu Dorf gehende „gute Hirte“ früherer europäischer Schlafzimmerbilder ist zumindest eine sehr einseitige Darstellung. Die Erfolge der Archäologie im natürlichen Raum haben eine Textarchäologie beflügelt, die ebenfalls zu beeindruckenden Ergebnissen gelangt ist. Vor allem John Dominic Crossan hat diese Textarchäologie in zwei erfolgreichen Büchern mit Konsequenz praktiziert.17 15
Charlesworth, Jesus Within Judaism, 117 (Übersetzung M.W.), vgl. 117ff (siehe 1.1, Anm. 12). 16 Charlesworth, Jesus Within Judaism, 119f. 17 John Dominic Crossan, The Historical Jesus: The Life of a Mediterranean Jewish Peasant (1991), San Francisco: Harper, 1992 (zit.: Crossan, The Historical Jesus); deutsch in schwacher Übersetzung: Der historische Jesus, München: Beck,
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Der historische Jesus
Crossan geht von der Irritation aus, dass sechs angesehene Neutestamentler in den zwei Jahrzehnten vor dem Erscheinen seiner eigenen Jesusbücher sieben Jesusgestalten präsentiert haben.18 Samuel George Frederick Brandon: Jesus, der politische Revolutionär19; Morton Smith: Jesus, der Magier20; Geza Vermes: Jesus, der galiläische Charismatiker21; Bruce Chilton: Jesus, der galiläische Rabbi22; Harvey Falk: Jesus, der Proto-Pharisäer, oder Jesus, der Essener23; und Ed Parish Sanders: Jesus, der eschatologische Prophet24. Crossan sucht nun nach einem objektivierenden Zugang zum Leben Jesu, der diese Rollenunsicherheit überwinden kann. Er beschreibt die von ihm entwickelte Methode als einen „triple triadic process“, als dreifach triadischen Prozess.25 Seine Methode arbeitet auf drei Beobachtungsebenen: einer sozialanthropologischen, einer historischen und einer literarischen. Auf einer makrokosmischen Ebene soll eine Kulturen und Epochen übergreifende Sozialanthropologie Orientierung bieten. Eine auf den Mittelmeerraum konzentrierte Sozial- und Kulturanthropologie soll das Charakteristische der mediterranen Gesellschaften in der Antike herausarbeiten, mit besonderer Berücksichtigung der Pax Romana und der damit verbundenen Unruhen und Konflikte in den beherrschten Provinzen. Was Jesus und seine Umwelt anbetrifft, so sind für Crossan die sozialen Gruppierungen zwischen den oberen Schichten und den Sklaven in den damaligen Agrargesellschaften von besonderem Interesse. – Auf der zweiten, der sogenannten mesokosmischen Ebene, werden historische Überlieferungen herangezogen, und zwar die hellenistische 1994; ders., Jesus: A Revolutionary Biography (1994), San Francisco: Harper, 1995 (zit.: Crossan, A Revolutionary Biography); deutsch: Jesus. Ein revolutionäres Leben, München: Beck, 1996. 18 Vgl. Crossan, The Historical Jesus, XXVII; zur deutschen Forschung in dieser Zeit vgl. Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, NTD Ergänzungsreihe 11, Göttingen: Vandenhoeck, 1988, 176ff. 19 S. G. F. Brandon, Jesus and the Zealots: Study of the Political Factor in Primitive Christianity, New York: Scribner’s, 1967. 20 Morton Smith, Jesus the Magician, New York: Harper, 1978. 21 Geza Vermes, Jesus the Jew, Philadelphia: Fortress, 1981 (deutsch: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, erw. Ausgabe, 1993); ders., Jesus and the World of Judaism, Philadelphia: Fortress, 1984. 22 Bruce Chilton, A Galilean Rabbi and His Bible: Jesus’ Use of the Interpreted Scripture of His Time, Wilmington: Glazier, 1984. 23 Harvey Falk, Jesus the Pharisee: A New Look at the Jewishness of Jesus, New York: Paulist, 1985. 24 E. P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia: Fortress, 1985, London: SCM Press, 3. Aufl. 1991. 25 Crossan, The Historical Jesus, XXVIII (siehe 1.1, Anm. 17); vgl. zum Folgenden Cilliers Breytenbach, Jesusforschung: 1990–1995. Neuere Gesamtdarstellungen in deutscher Sprache, Berliner Theologische Zeitschrift 12 (1995), Heft 2: Neutestamentliche Forschung, 232ff.
1.1 „Jesus ausgraben!“?
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und griechisch-römische Geschichte um den Beginn unserer Zeitrechnung. – Auf der dritten Ebene, der sogenannten mikrokosmischen Ebene, werden die literarischen Überlieferungen untersucht, die Jesus direkt betreffen. Auch auf der mikrokosmischen Ebene setzt Crossan extrem breit und differenziert an. Wir sollten uns, wenn wir uns dem historischen Jesus annähern wollen, nicht allein auf die vier kanonischen Evangelien verlassen, die Resultat langer Überlieferungsprozesse sind. Crossan unterscheidet vier zeitliche Schichten, die er auf die folgenden Phasen bzw. Strata datiert: zwischen 30 und 60, zwischen 60 und 80, zwischen 80 und 120 und zwischen 120 und 150 nach Chr.26 Der ersten Schicht ordnet er die Jesusworte in den echten Paulinischen Briefen und in einigen apokryphen (bibelnahen, aber nicht kanonischen) Evangelien zu, zu denen die älteste Schicht des koptischen Thomas-Evangeliums, das Hebräer-Evangelium (nicht zu verwechseln mit dem Hebräerbrief), das Egerton-Evangelium und andere fragmentarische und rekonstruierte Texte gezählt werden.27 Der zweiten Schicht wird das Markus-Evangelium zugeordnet, der Kolosser-Brief und wieder apokryphe Evangelien: das Ägypter-Evangelium, Fragmente des geheimen Markus-Evangeliums, der Dialog des Erlösers aus Nag-Hammadi usw. Erst zur dritten Schicht gehören Matthäus, Lukas, Johannes und viele der übrigen neutestamentlichen Schriften, aber auch schon Schriften der apostolischen Väter. Der vierten Schicht werden die Apostelgeschichte, die Timotheus- und Petrusbriefe und wiederum eine Gruppe apokrypher Texte zugeordnet.28 Nach dieser Anordnung der Texte fragt Crossan, welche Erzählungen und Hinweise auf Jesus in voneinander unabhängigen Fassungen mehrfach bezeugt sind. Er hält fest, dass von 522 analysierten Textelementen 33 häufiger als dreimal, 42 dreifach und 105 immerhin noch doppelt belegt sind. 342 Perikopen kommen nur einmal vor und werden deshalb zunächst zurückgestellt, auch wenn sich theologisch so wichtige und einflussreiche Texte wie die Bergpredigt und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter darunter befinden. Crossan gibt den Texten, die im frühesten Stratum mehrfach bezeugt sind, das größte Gewicht für die Rekonstruktion des Lebens und Wirkens des historischen Jesus. Dazu gehört interessanterweise die Aufforderung: „Lasst die Kinder zu
26 27
Vgl. Crossan, The Historical Jesus, bes. 427-450. Siehe Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, 2 Bde., Tübingen: Mohr Siebeck, 6. Aufl. 1999. Dass Crossans Auswahl und Datierungen zu kritischen Auseinandersetzungen in der Forschung Anlass gegeben haben, sei beiläufig erwähnt. 28 Vgl. Crossan, The Historical Jesus, XXXI-XXXIV u. 427-450 (siehe 1.1, Anm. 17).
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Der historische Jesus
mir kommen! Hindert sie nicht daran, denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes.“29 Auf der Basis dieses Vorgehens zeichnet Crossan einen Jesus, der aus einer relativ ungebildeten Schicht der Bevölkerung, aber nicht aus dem Kreis der Sklaven und hilfsbedürftigen Armen kommt und der eine beharrliche Veränderung der beiden Grundstrukturen der antiken Gesellschaft – der Familienverhältnisse und der politischen Verhältnisse – vorantreibt. Jesus, der sich in Heilungen der Kranken und in der offenen Tischgemeinschaft der sozial Ausgegrenzten annimmt, bewirkt eine schleichende Neuordnung der Gesellschaft. Alte und Junge, Frauen und Männer, Reine und Unreine, Sklavenhalter und Sklaven wachsen zu einer neuen Gemeinschaft zusammen. Crossan sieht in der Jesusbewegung, die zu einer ländlichen dynamischen Gemeinschaftsbildung führt, eine ländliche Analogie zur städtischen Erscheinung der kynischen Wanderphilosophen.30 Jesus praktizierte in der Kombination von erstaunlichen Heilungserfolgen unter seinen Mitmenschen und gemeinsamem Essen bis hin zu symbolischen „Speisungen“ vieler „einen religiösen und ökonomischen Egalitarismus, der gleichermaßen ... den hierarchischen und den Patronatszustand der jüdischen Religion und der römischen Macht verneinte“. Er war nicht einfach „der neue Vermittler eines neuen Gottes“, sondern seine Gleichnisse, das Heilen und das gemeinsame Essen sollten Menschen „in unmittelbaren physischen und spirituellen Kontakt mit Gott und unmittelbaren physischen und spirituellen Kontakt miteinander“ bringen, und das wirkte als eine Macht, die die jüdische Kultur und auch die griechisch-römische Kultur mit all ihrer militärischen Gewalt und ihren imperialen Ambitionen langsam und beharrlich transformierte.31 Ähnlich den archäologischen Ausgrabungen liegt hier eine Textarchäologie vor, die zu durchaus interessanten und plausiblen Ergebnissen kommt: Der historische Jesus hat die elementaren Bedürfnisse der Menschen – Ernährung, Gesundheit und soziale Annahme – erfasst, ernst genommen und praktisch befriedigt. Er hat aber auch die familialen und politischen Grundstrukturen der antiken Gesellschaft in ihrer damaligen Form in Frage gestellt. Die Machtverhältnisse in der Familie werden kritisch von Jesus befragt; er ergreift Partei für die Kinder und 29 Mk 10,13-16; Mt 19,13-15; Lk 18,15-17; siehe auch Mk 9,36f par; vgl. Crossan, The Historical Jesus, 266-269. 30 Crossan, The Historical Jesus, 421f; ders., A Revolutionary Biography, 114122 (siehe 1.1, Anm. 17); die These von Jesus dem Kyniker vertritt pointiert Burton L. Mack, The Lost Gospel: The Book of Q and Christian Origins, San Francisco: Harper, 1993; ders., Who Wrote the New Testament? The Making of the Christian Myth, San Francisco: Harper, 1995. Die Kyniker sind Anhänger einer auf Antisthenes, einen Schüler des Sokrates, und Diogenes von Sinope zurückgeführten Philosophenschule, die sich öffentlich kritisch und spöttisch zu überkommenen Sitten und Gesetzen verhielten. 31 Crossan, A Revolutionary Biography, 198; Übersetzung M. W.
1.1 „Jesus ausgraben!“?
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die Frauen. Aber auch die politischen Verhältnisse werden problematisiert. Die sozial Ausgegrenzten werden von Jesu Verkündigung und seinem Wirken angesprochen; sie werden befreit und erhoben. Den bestehenden Herrschaftsverhältnissen in Familie und Politik setzt Jesus die offene Tischgemeinschaft entgegen, die auch Sünder und Zöllner annimmt, die sich aber auch – bei Tisch und im Tischgespräch – mit den herrschenden Verhältnissen auseinandersetzt. Die Verkündigung Jesu, die vom kommenden Gottesreich spricht, zielt nicht auf eine jenseitige Wirklichkeit. Sie geht einher mit einer „von unten ausgehenden Praxis der Gottesherrschaft“, indem Jesus auf ganz elementare Bedürfnisse der Menschen eingeht: Bedürfnisse nach Gesundheit, Nahrung und freiheitlichem Zusammenleben. Diese Praxis unterwandert und transformiert die herrschenden Verhältnisse. So werden Verkündigung und Wirksamkeit des irdischen Jesus von John Dominic Crossan rekonstruiert. Es ist kaum zu bestreiten, dass Crossan damit einige grundlegende Züge des Lebens und Wirkens Jesu getroffen hat. Eindrücklich lässt er ein Nachbarschaftsethos mit plastischen Person-zu-Person-Begegnungen und geselligen Kommunikationsformen lebendig werden. Eindrücklich bringt er diese Vorstellungswelt mit biblischen und außerbiblischen Zeugnissen in Zusammenhang (siehe dazu besonders Teil 4.3 und 4.4). Doch komplexere soziale, politische, historische, religiöse und eschatologische Konstellationen im Leben und Wirken Jesu und des auferstandenen Christus werden eher vage erfasst und im Gesamtbild zurückgedrängt (siehe im Kontrast dazu Teil 1.3, 2.4 und die Teile 4 und 5). Der beeindruckende, aber auch problematische Reduktionismus dieses Vorgehens wird besonders deutlich am Titel und an der Programmatik des Buches Excavating Jesus: Beneath the Stones, Behind the Texts (Jesus ausgraben. Unter den Steinen, hinter den Texten)32. Die Autoren Crossan und Reed sind fasziniert von der Ausgrabung und Restauration eines 1986 im See von Galiläa entdeckten Bootes aus dem ersten Jahrhundert n. Chr.33 Das Boot, so meinen sie, erlaube es, „die Welt der Fischer und Handwerker zu Jesu Zeit“ zu rekonstruieren. Wiederholt betonen sie, die Archäologie könne „Jesus ausgraben“ – besonders mit Hilfe der Erkenntnisse, die dieses Boot vermittle. Sie müsse nun die soziale Welt, in der Jesus wirkte, „so komplett wie möglich ausfüllen“.34 Diese Wendung signalisiert Begeisterung und Einfalt 32 John Dominic Crossan u. Jonathan L. Reed, San Francisco: Harper, 2001 (zit.: Crossan/Reed, Excavating Jesus). 33 Im Yigal Allon Museum zu besichtigen (6 km nördlich von Tiberias am See Genezareth). 34 „Yes, you can excavate Jesus from that boat, but very, very carefully and only within the realities of antiquity’s elite-controlled economies rather than in modernity’s conceptions of entrepreneurial possibilities. … Archaeology excavates and can excavate Jesus not just by digging up where he lived and traveled, but by filling out as completely as possible the social world in which he operated“ (Crossan/Reed, Excavating Jesus, XVII; siehe 1.1, Anm. 32).
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Der historische Jesus
zugleich. Archäologische und textarchäologische Begeisterung schlägt hier besonders deutlich in einen „Archäologismus“ um, der auch die Reduktion des Wirkens Jesu auf eine auf Ernährung, Heilung und Gemeinschaft konzentrierte Zuwendung und eine entsprechend organisierte Bewegung beherrscht. Dieser Archäologismus ist ebenso problematisch wie das andere Extrem, der historische Skeptizismus, den die „dritte Frage nach dem historischen Jesus“ überwinden wollte. Dieser Skeptizismus findet sich in der Phase neutestamentlicher Forschung, die wir inzwischen als „zweite Frage nach dem historischen Jesus“ (früher auch: „the new quest“) bezeichnen. Indem wir uns zunächst der „ersten Frage nach dem historischen Jesus“ zuwenden, versuchen wir zu verstehen, wie es zu dieser langen wissenschaftlichen Lähmung der Jesusforschung kommen konnte.
1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“? Die „erste“ und die „zweite Frage“ nach dem historischen Jesus (Schweitzer, Käsemann, Bornkamm) „Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben.“ Mit diesem Satz am Anfang seines erfolgreichen Jesusbuches1 formulierte der Heidelberger Neutestamentler Günther Bornkamm, Vertreter der „zweiten Frage“ nach dem historischen Jesus, 1956 einen lange gültigen Konsens neutestamentlicher Wissenschaft. Bornkamm spricht von einer „schier ausweglose(n) Lage“, weil sich keine „mathematische Sicherheit in der Freilegung einer von keinerlei Gläubigkeit ‚übermalten‘ bloßen Historie Jesu“ gewinnen lasse. Wie sehr die Forschung damals von überzogenen positivistischen Vorstellungen von historischer Objektivität und sogar „mathematischer Sicherheit“ in historischen Angelegenheiten bestimmt war, belegt die folgende Aussage: Wir besitzen keinen einzigen Jesusspruch und keine einzige Jesusgeschichte, die nicht – und seien sie noch so unanfechtbar echt – zugleich das Bekenntnis der glaubenden Gemeinde enthalten oder mindestens darin eingebettet sind. Das macht die Suche nach den bloßen Fakten der Geschichte schwierig und weithin aussichtslos.2
1 Günther Bornkamm, Jesus von Nazareth, Stuttgart: Kohlhammer, 1956, 15. Aufl. 1995, 11 (zit.: Bornkamm, Jesus von Nazareth). Vgl. auch Rudolf Bultmann, Jesus (1926), München u. Hamburg: Siebenstern, 3. Aufl. 1967, 10: „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“ 2 Bornkamm, Jesus von Nazareth, 12.
1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“?
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Dieser Konsens in der Forschung war von Albert Schweitzers klassischem Werk Geschichte der Leben-Jesu-Forschung3 vorbereitet worden, das die lange Phase der „ersten Frage“ nach dem historischen Jesus abschließt. Mit diesem Werk, so Bornkamm, habe Schweitzer der Leben-Jesu-Forschung „ein Denkmal gesetzt, aber zugleich die Grabrede gehalten.“4 Schweitzers „Nekrolog“ findet sich in seiner fast resigniert klingenden „Schlußbetrachtung“: Die Leben-Jesu-Forschung ist ausgezogen, „um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen ... Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück.“5 Statt den vergeblichen Versuch zu unternehmen, ein Leben Jesu zu rekonstruieren, so Schweitzer, sollte die historische Forschung in Zukunft die „unbefangene Auffassung der ältesten Berichte sicher zu stellen“6 suchen. Dabei sei aber immer zu berücksichtigen: Jesus war in seinem Wollen und Hoffen ganz auf das Reich Gottes hin ausgerichtet. Schweitzer betont: „In einer Religion ist so viel Verstehen des historischen Jesus, als sie starken und leidenschaftlichen Glauben an das Reich Gottes besitzt. ... Wir besitzen nur so viel von (Jesus), als wir ihn uns das Reich Gottes predigen lassen.“7 Jesu Aufforderung, „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit!“ (Mt 6,33; Lk 12,31), müssen wir ernst nehmen, wenn wir den wirklichen Jesus sprechen lassen wollen. Schweitzer verbindet diese Verkündigung des Reiches dann ganz im Stil des 19. Jahrhunderts mit der Verkündigung einer „universalen Sittlichkeit“. Er setzt darüber hinaus auf eine „Jesusmystik“, in der sich „Jesu Wille“ und unser Wille begegnen sollen. Diese höchst fragwürdigen systematischen Überformungen haben auf die Forschung der „zweiten Frage“ kaum Einfluss gewonnen – ganz anders als zwei Befunde Schweitzers, die sie tief geprägt haben: 1. Der historische Jesus lässt sich nicht unabhängig von der ReichGottes-Verkündigung erfassen. 2. Ein Leben Jesu lässt sich nicht schreiben. Schweitzers Werk ist von Selbstbewusstsein getragen: „... die größte Tat der deutschen Theologie ist die Erforschung des Lebens Jesu. … Sie stellt das Gewaltigste dar, was die religiöse Selbstbesinnung je gewagt und getan hat.“8 Diese großartige Leistung würdigt er in einem
3 2 Bde., München u. Hamburg: Siebenstern, 1966 (zit.: Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung); = Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-JesuForschung, UTB, Tübingen: Mohr Siebeck, 9. Aufl. 1984. 4 Bornkamm, Jesus von Nazareth, 11 (siehe 1.2, Anm. 1). 5 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, 620 (siehe 1.2, Anm. 3). 6 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, 622. 7 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, 627. 8 Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 1, 45.
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Überblick über fast 200 Jahre der Leben-Jesu-Forschung, von Hermann Samuel Reimarus bis zu William Wrede.9 Lässt man einen in persischer Sprache von einem Jesuiten des 16. Jahrhunderts verfassten Text außer Acht, so bietet Hermann Samuel Reimarus mit seinem Werk Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger10, 1778 publiziert, den ersten Versuch, das Leben Jesu historisch zu erfassen. Reimarus unterscheidet den Glauben der Jünger von Jesu eigener Verkündigung, die er vom jüdischen Umfeld geprägt sieht, und hegt bereits den Verdacht, die Auferstehungshoffnung sei von den Jüngern Jesu erfunden worden, ausgelöst durch das vergebliche Warten auf Jesu Wiederkunft (die sogenannte Parusieverzögerung). Er unterscheidet ferner eine zeitgebundene politische Botschaft der Befreiung von den Römern von einer universalen eschatologischen Botschaft an alle Menschen. Mit der Behauptung, Jesus und seine Jünger hätten verschiedene Sichtweisen, setzt die historische Leben-Jesu-Forschung ein. Weitere Perspektivendifferenzierungen prägen die Forschung in der Phase der sogenannten „ersten Frage nach dem historischen Jesus“. Im Gegenzug werden aber auch immer wieder Vorschläge unterbreitet, Synthesen und Harmonien zwischen den biblischen Autoren und Traditionen zu entdecken. Den historischen Differenzierungen und systematischen Synthesen werden darüber hinaus ästhetische und moralische Zugangsversuche, aber auch einfach phantasiedurchwirkte Darstellungen an die Seite gestellt. Johann Gottfried Herder behandelt in seinen Schriften die Synoptiker schon getrennt vom Johannesevangelium11 und betont, die biblischen Autoren böten uns unterschiedlich gestaltete Kunstwerke, die „mit Geschmack“ zu lesen seien. Es folgen mehrere Wellen romanhafter Leben-Jesu-Darstellungen. Sie zeichnen sich zum Teil durch abenteuerliche Ideen über das Leben Jesu aus – wie die seiner Zugehörigkeit zu geheimen Organisationen –, so dass man manche Vorform des internationalen Bestsellers Der Da Vinci Code aus unserer Zeit unter
9 Die erste Auflage von 1906 trägt den Titel „Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“. Erst die zweite, erheblich erweiterte Auflage von 1913, an der wir uns in diesem Überblick orientieren, ist unter dem bekannten Titel erschienen. 10 Hg. Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig: Waisenhausbuchhandlung, 1778, in Auszügen in: M. Baumotte (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten, Gütersloh: Mohn, 1984, 11-21. Die bis heute beeindruckende, vorbildliche historische Sensibilität des Reimarus würdigt Gerd Theißen (ders., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, hg. Annette Merz, Göttingen: Vandenhoeck, 2003, bes. 3ff). 11 Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien, Riga: Hartknoch, 1796; Von Gottes Sohn, der Welt Heiland. Nach Johannes Evangelium, Riga: Hartknoch, 1797.
1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“?
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ihnen zu entdecken meint.12 Einen historisch-systematischen Durchbruch zu wissenschaftlich zu nennender Forschung bietet das große Werk des Rationalisten Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums13, das umfassende vergleichende Synopsen entwickelt und ernsthaft eine objektivierende Rekonstruktion des Lebens Jesu anstrebt. Den „Propheten der kommenden Wissenschaft“ sieht Schweitzer in David Friedrich Strauß, dessen skandalträchtiges Werk, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet14 (dazu ausführlich Teil 2.1), Wunderglauben und Auferstehung gleichermaßen problematisiert, sie aber auch als „Mythenbildung“ im Kontext der Zeit Jesu zu erklären sucht.15 Ein nächster wichtiger Differenzierungsschub in der Forschung erfolgt mit der Entdeckung von Christian Hermann Weiße, Markus sei der „UrEvangelist“16. Mit der „Markushypothese“ kommt es zu einer Konsolidierung historischer Rekonstruktion. Eine Zwei-Quellen Theorie (Markus und eine wissenschaftlich rekonstruierte Quelle Q) wird entwickelt. Markus wird zum Grundlagentext für weitere Versuche, das Leben Jesu mit dem Anspruch auf historische Validität zu rekonstruieren.17 Dennoch steigert sich nun auch die historische Skepsis in der Leben12 Dan Brown, The Da Vinci Code, London: Bantam, 2003. Dieses Buch wurde in wenigen Jahren in über 40 Sprachen übersetzt und in über 50 Millionen Exemplaren verbreitet, was ein Licht auf die Wirkmacht des „Kulturfaktors Jesus“ (vgl. 0.4) wirft. In diesem Roman wird Jesus im Anschluss an das apokryphe PhilippusEvangelium (ca. 200 Jahre nach Jesu Tod entstanden) eine Beziehung mit Maria von Magdala nachgesagt und über leibliche Jesusnachkommen spekuliert; dazu Peter Lampe, Küsste Jesus Magdalenen mitten auf den Mund? Provokationen – Einsprüche – Klarstellungen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2007. 13 2 Bde., Heidelberg: C. F. Winter, 1828; vgl. Schweitzer, Geschichte der LebenJesu-Forschung, Bd. 1, 88ff (siehe 1.2, Anm. 3). 14 1835 u. 1836. Ausführlich werden die positiven und die kritischen Auseinandersetzungen mit Strauß referiert. Siehe besonders: Dr. Neanders auf höhere Veranlassung abgefaßtes Gutachten über das Buch des Dr. Strauß’ „Leben-Jesu“ und das in Beziehung auf die Verbreitung desselben zu beachtende Verfahren, Berlin: Haude u. Spener, 1836; und Christoph Friedrich Ammon, Die Geschichte des Lebens Jesu mit steter Rücksicht auf die Quellen, 3 Bde., Leipzig, 1842-47; vgl. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 132ff. 15 Ähnlich die abgestufte Würdigung der Wunder durch Schleiermacher in seiner Vorlesung zum Thema im Jahre 1832, die erst 1864 veröffentlicht wurde: Friedrich Schleiermacher, Das Leben Jesu, hg. K. A. Rütenik, Berlin: Georg Reimer, 1864; vgl. dazu Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 100ff. 16 Christian Hermann Weiße, Die Evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bde., Leipzig: Breitkopf u. Härtel, 1838. Siehe auch Christian Gottlob Wilke, Der Urevangelist oder exegetisch kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältnis der drei ersten Evangelien, Dresden u. Leipzig: Gerhard Fleischer, 1838. 17 Der gewichtigste Vertreter dieser Versuche ist Heinrich Julius Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1863.
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Jesu-Forschung. Der kritische Hegelianer Bruno Bauer veröffentlicht von 1840 an – im Geiste David Friedrich Strauß’ – eine „Kritik“ biblischer Bücher nach der anderen18, fällt aber öffentlich erst nach einem Jahrzehnt ein endgültig negatives Urteil über die Historizität Jesu, und zwar in seiner Kritik der paulinischen Briefe. Die Leben-Jesu-Literatur geht dann wieder zu moralisierenden und verstärkt zu psychologisierenden Entwürfen über, deren erfolgreichster – mit acht Auflagen in drei Monaten – 1863 von Ernest Renan unter dem Titel La vie de Jésus19 publiziert wird. Die moralisierenden Leben-Jesu-Entwürfe, die vor allem an seinem ethischen Vorbild interessiert sind, erhalten schon in den Anfängen der Leben-Jesu-Forschung einen mächtigen Impuls durch Kants ethische und religionstheoretische Schriften.20 So verfasst Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Hauslehrer in Bern 1795 ein Leben Jesu im Geiste Kants, auf das Schweitzer aber noch nicht Bezug nehmen kann, weil der Text erst 1907, also fast gleichzeitig mit seinem eigenen Werk, veröffentlicht wird.21 Durch eine Reihe von Studien zum „Selbstbewusstsein Jesu“ und zu seiner Reich-Gottes-Verkündigung kommt es noch einmal zu einer Wende in der Forschung. Eine kleine Schrift von Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes22, löst sie aus. Weiß legt der LebenJesu-Forschung nahe, Jesu Person und Wirken ganz von seiner ReichGottes-Verkündigung her zu verstehen. – Nachdem William Wrede in seinem Buch Das Messiasgeheimnis in den Evangelien23 die These vertritt, dass Markus, vom nachösterlichen Gemeindeglauben geprägt, ein „Messiasgeheimnis“ in die Darstellung des Lebens Jesu hineinprojiziert habe, brechen die Grundlagen der Leben-Jesu-Forschung 18 Bruno Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes, Bremen: Schünemann, 1840 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1990); Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker, 3 Bde., Leipzig 1841-42 (Nachdruck Hildesheim u. New York: Georg Olms, 1974); Kritik der Evangelien und Geschichte ihres Ursprungs, 2 Bde., Berlin: Hempel, 1850-51 (Neudruck Aalen: Scientia, 1983); Kritik der paulinischen Briefe, Berlin: Hempel, 1850-52 (Neudruck Aalen: Scientia, 1972). 19 Ernest Renan, La vie de Jésus, Paris: Michel Lévy Frères, 1863 (deutsch: Das Leben Jesu, Berlin: Hugo Steinitz, o. J. = Zürich: Diogenes, 1981, mehrere Auflagen). 20 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1795; Kritik der praktischen Vernunft, 1788; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793/94. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Das Leben Jesu, in: ders., Hegels Theologische Jugendschriften, hg. Herman Nohl, Tübingen 1907 (Nachdruck Frankfurt: Minerva, 1966, 73-136); = in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften I, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. Friedhelm Nicolin u. Gisela Schüler, Hamburg: Meiner, 1989, 205-278. Siehe Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 219ff (siehe 1.2, Anm. 3), zu diversen liberalen Leben-Jesu-Darstellungen. 22 (1892), 3. Aufl. hg. Ferdinand Hahn, Göttingen: Vandenhoeck, 1964. 23 William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen: Vandenhoeck, 1901; 4. Aufl. 1969.
1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“?
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zusammen. Schweitzer erkennt das Problem des Projektionscharakters der Bilder des „historischen“ Jesus. Er entscheidet sich für eine vage „eschatologische“, moralische und mystische Interpretation des Wirkens Jesu und gegen eine Fortsetzung der Leben-Jesu-Forschung.24 Die „zweite Frage nach dem historischen Jesus“ (die vor der Ausrufung des „third quest“ als „the new quest for the historical Jesus“ bezeichnet wurde) geht von der von Bultmann und Bornkamm geäußerten Skepsis gegenüber allen historischen Rekonstruktionsversuchen aus und begnügt sich mit Versuchen, ein Minimum tragfähiger Jesusüberlieferung zu sichern, das es auch erlaube, eine Übereinstimmung zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens herzustellen.25 Dabei setzt sich ein reduktionistisches Verfahren durch, das alle Überlieferungsinhalte auszuscheiden sucht, die aus dem Judentum wie aus dem Urchristentum ableitbar sind26, um an historisches „Urgestein“ heranzukommen. Dieser historische Minimalismus wird mit einem kerygmatischen Minimalismus verbunden, der aus den neutestamentlichen Zeugnissen eine sich in Jesu Leben und Wirken durchhaltende „Botschaft“ zu erheben sucht. Diese Botschaft wechselt allerdings von Autor zu Autor: Bei Rudolf Bultmann ist es ein für heutige Ohren etwas verquast klingender „Entscheidungsruf“ Jesu, der „Wille Gottes, als das Jetzt des Menschen in die Entscheidung rufend“27. Bei Ernst Käsemann und Günther Bornkamm ist es die „unmittelbare Gewißheit Jesu, Gottes Willen zu kennen,“ und seine damit verbundene Gesetzeskritik.28 Nach Ernst Fuchs handelt es sich um die „Proklamation der Liebe Gottes zu den Sündern“29 und nach Gerhard Ebeling um den „Glauben Jesu“30. Für die Entwicklung der „zweiten Frage“ ist der Einfluss von Martin Kählers Vortrag Der sogenannte historische Jesus und der geschichtli24 Siehe dazu schon Albert Schweitzer, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu (1901), Tübingen: Mohr Siebeck, 3. Aufl. 1956. 25 Vgl. David Fergusson, The Doctrine of the Incarnation Today, Expository Times 113 (2001), 76; Josef L. Hromádka, Zur Frage des historischen Jesus und des kerygmatischen Christus (1961), in: Milan Opočenský (Hg.), Sprung über die Mauer. Ein Hromádka-Lesebuch, Wuppertal: Peter Hammer, 1991, 75-80. Eine hilfreiche differenzierte Außenperspektive auf die deutsche neutestamentliche Exegese bieten Neill/Wright, The Interpretation of the New Testament 1861-1986, bes. 205ff (siehe 1.1, Anm. 10). 26 Vgl. zum Folgenden Theißen/Merz, Der historische Jesus, 26f (siehe 1.1, Anm. 5): „An die Stelle der literarkritischen Konstruktion der ältesten Quellen in der ‚alten‘ Leben-Jesu-Forschung der liberalen Theologie tritt methodisch ein religionsund traditionsgeschichtlicher Vergleich: das ‚Differenzkriterium‘.“ 27 Bultmann, Jesus, 91 (siehe 1.2, Anm. 1). 28 Ernst Käsemann, Der Ruf der Freiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl. 1972; Bornkamm, Jesus von Nazareth, 85ff (siehe 1.2, Anm. 1). 29 Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus. Gesammelte Aufsätze, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1965, bes. 238ff. 30 Gerhard Ebeling, Jesus und der Glaube, ZThK 55 (1958), 64ff.
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che, biblische Christus31 nicht zu unterschätzen. Kähler propagiert die Unterscheidung von „historisch“ (eine vergangene Gegenwart) und „geschichtlich“ (eine fortwirkende Vergangenheit): Es ist der „geschichtliche Christus“, der „der Urheber und Träger seiner bleibenden Fortwirkung (ist). Als wirkungsfähiger greift der Mensch (und so auch der biblische Christus, M. W.) in den Gang der Dinge ein ...“32 Der klassische Aufsatz von Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus33, nimmt diesen Gedanken in der Sache auf, wenn er betont: Die Historie wird im Kerygma weitergegeben, in der Botschaft, im Akt und Inhalt der Verkündigung, nicht in einer bloßen Rekonstruktion schlechterdings vergangener Ereignisse. D. h., die Historie wird durch die Verkündigung Geschichte. Käsemann stellt die Frage, „ob die Formel ‚Der historische Jesus‘ überhaupt geeignet und statthaft genannt werden kann, weil sie fast zwangsläufig die Illusion einer möglichen und befriedigenden Reproduktion seines Bios weckt und nährt“ (66). Demgegenüber schließt die Dimension des Geschichtlichen immer schon die Ausstrahlung und die Wirkungsgeschichte ein. Der Verzehr eines Linsengerichts ist ein historisch fixierbarer Vorgang in der Geschichte, wird aber zum geschichtsträchtigen Ereignis (das wir dann missverständlicherweise „historisches Ereignis“ nennen!34), wenn es z. B. die Erbfolge und die Machtverhältnisse in einflussreichen Familien verändert. Die lebendige Erinnerung an Jesus als Wirkungsgestalt, nicht nur an ihn als eine in der Historie einmal vorgekommene Person, wird durch die verschiedenen Perspektiven, die die Evangelien auf sein Leben einnehmen, provoziert. Hier kommt es, wie wir heute sehen, zu Erkenntnisblockaden bei den Vertretern der „zweiten Frage“, da sie einerseits nach „der einen Botschaft“ suchen, andererseits der Aufforderung Schweitzers folgen, die „unbefangene Auffassung der ältesten Berichte sicher zu stellen“. Ihr Reduktionismus lässt sie in der Vielperspektivität der Zeugnisse letztlich nur „Verwirrung“ und ein „bestürzendes Durcheinander“ erkennen. Käsemann zeigt mit Verweis auf Matthäus eindrücklich Parallelen zwischen Jesu Leben und der Moseshaggada auf, deren Sinn sich auf die Formel bringen läßt: Wie der erste Erlöser, so auch der zweite. Beide Male erweckt die Geburt des Kindes die Unruhe der Machthaber, die
31 1892 als Buch publiziert, erweitert 1896, neu hg. Ernst Wolf, ThB 2, München: Kaiser, 4. Aufl. 1969 (zit.: Kähler, Der sogenannte historische Jesus). 32 Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 37. 33 ZThK 51 (1954), 125-153; = in: E. Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen. Auswahl, Vandenhoeck: Göttingen, 1986, 59-85 (die folgenden Seitenzahlen im Text verweisen auf den Aufsatz in dieser Ausgabe). 34 Dazu aufschlussreich Will Herberg, Five Meanings of the Word „Historical“, Christian Scholar 47 (1964), 327-330.
1.2 Jesus nur in „legendarischer Übermalung!“?
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Beratschlagung der Weisen, den Kindermord, beide Male erfolgt eine wunderbare Rettung, wobei Ägypten zum Lande der Zuflucht wird (68).
Die Darstellung Jesu als zukünftiger Retter des Gottesvolkes, als der zweite und letzte Moses, verbindet historische und mythische Elemente und autorisiert Jesus als „Begründer einer eschatologisch orientierten Gemeindeordnung“ (68), als „Bringer der messianischen Tora“ (69). Auch bei Markus finden wir eine entsprechende historische und mythische Elemente verbindende Gestaltung, indem – so Käsemann – für ihn schon „im irdischen Leben die Herrlichkeit des auferstandenen Gottessohnes sieghaft in die von Dämonen beherrschte Welt“ hereinbricht und „der Erde wie den Mächten ihren ewigen Herrn“ offenbart (69). Demgegenüber bieten die lukanischen Schriften eher eine Heilsgeschichte und zeigen Lukas als den ersten christlichen Historiker, „der die großen Stadien des Heilsplanes nachzuzeichnen und festzuhalten sich bemüht. Sein Evangelium ist in Wahrheit das erste Leben Jesu ...“ (70). Käsemann formuliert bewusst zuspitzend. „Ist das Problem der Historie in den andern Evangelien ein Spezialproblem der Eschatologie, so ist bei Lukas die Eschatologie zu einem Spezialproblem der Historie geworden“ (71, Hervorhebung im Original). Es ist typisch für die „zweite Frage nach dem historischen Jesus“, dass Käsemann von einem „bestürzende(n) Durcheinander von angeblich zuverlässigen Jesusbildern“ spricht (75). „Bald erscheint er als Rabbi, bald als Weisheitslehrer, bald als Prophet, dann wieder als derjenige, der sich als Menschensohn oder Gottesknecht verstanden hat, eine apokalyptische oder verwirklichte Eschatologie vertrat oder je etwas von all dem vermischen kann“ (75). Das von Käsemann behauptete „gesicherte Minimum“ liegt in der von ihm bei Jesus wahrgenommenen „unmittelbaren Gewißheit, Gottes Willen zu kennen und zu verkündigen, die sich mit der unmittelbaren und unbefangenen Anschauung des Weisheitslehrers vereint … er muß sich als Werkzeug des lebendigen Gottesgeistes verstanden haben, den das Judentum von der Endzeit erwartete“ (81). Die Forschung im Rahmen der „dritten Frage nach dem historischen Jesus“ geht wesentlich vorsichtiger mit allen Versuchen um, sich psychologisierend in Jesus hineinzuversetzen, sein „Selbstverständnis“, seinen „persönlichen Glauben“ oder sein „inneres Leben“ und seine „Gottesgewissheit“ zu erfassen. Sie entwickelt ein gelasseneres Verhältnis zur Vielzahl biblischer Perspektiven auf ihn. Sie versucht, Kohärenzen im scheinbar „bestürzenden Durcheinander“ der biblischen Zeugnisse freizulegen. Sie überwindet die Grundhaltung notorischer Skepsis und die Orientierung am Ideal eines „zu sichernden Minimums“ historischer Erkenntnis. Sie macht sich frei von dem Versuch, Jesu Leben und Verkündigung auf nur „eine Botschaft“ zu reduzieren. Dabei wirken archäologische Ausgrabungserfolge und ein frischer, wenn auch in Einzelfällen naiver archäologistischer Umgang mit der
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Fülle biblisch-kanonischer und außerkanonischer Texte35 als befreiende Impulse (siehe Teil 1.1). Doch nur in der Verbindung mit weiteren wichtigen Forschungsimpulsen führten Archäologie und breit gestreute Textarchäologie zum Paradigmenwechsel durch die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus.
1.3 Paradigmenwechsel durch die „dritte Frage“: Hohe Christologie, Sozialgeschichte und Analyse von Symbolpolitik (Hengel, Dunn, Hurtado, Vermes, Theißen und Merz) Neunzig Jahre nach Albert Schweitzers klassischem Werk über Glanz und Scheitern der Leben-Jesu-Forschung erscheint in Deutschland das große Lehrbuch Der historische Jesus von Gerd Theißen und Annette Merz und in den USA The Acts of Jesus: The Search for the Authentic Deeds of Jesus von Robert Funk und einer Forschergruppe, die sich als Jesus Seminar bezeichnet. Die Bände bieten am Ende „Ein Leben Jesu in Kurzfassung“ bzw. eine Zusammenfassung unter der Frage: „What Do We Really Know About Jesus?“1 In Kurzfassung wird gewagt, was Schweitzer, Bornkamm und größte Teile der neutestamentlichen Wissenschaft zur Unmöglichkeit erklärt hatten, und das, obwohl die Forschung deutlicher denn je sieht, dass die genauen Daten von Jesu Leben unsicher sind.2 Auch die unterschiedlichen Profile der biblischen Autoren und die bemerkenswerten Differenzen ihrer Jesusbilder werden klarer als zuvor herausgearbeitet, was eher die Skepsis stärken kann, die in der Phase der „zweiten Frage nach dem historischen Jesus“ aufgekommen ist. Denn: x Sind für Markus nicht die Auseinandersetzungen Jesu mit den Dämonen besonders wichtig, in denen der Gottessohn schon in dieser Welt siegreich wirkt? x Sieht Matthäus nicht in Jesus den neuen und größeren Mose, der die neue Weisung an die Stelle des Gesetzes setzt? 35 Siehe Robert W. Funk and the Jesus Seminar, The Acts of Jesus: The Search for the Authentic Deeds of Jesus, San Francisco: Harper, 1998. 1 Theißen/Merz, Der historische Jesus, 493-496 (siehe 1.1, Anm. 5); Funk / the Jesus Seminar, The Acts of Jesus, 527-534 (siehe 1.2, Anm. 35). 2 Geboren wurde er wahrscheinlich in den letzten Lebens- und Regierungsjahren des Herodes, also vor 4 v. Chr. (Mt 21ff; Lk 1,5). Mit Sicherheit datieren lässt sich das Geburtsjahr aber nicht. Öffentlich gewirkt hat er um das 30. Lebensjahr herum (Lk 3,23), möglicherweise nur für ein Jahr, höchstens drei Jahre lang. Auch hier bleiben die Datierungen unsicher. Sie liegen zwischen den Jahren 26 und 29. (Siehe dazu die sorgfältig wägenden Urteile bei Theißen/Merz, Der historische Jesus, 151f.) Schließlich lässt sich auch das Todesjahr nicht genau feststellen. Allerdings spricht manches für das Jahr 30.
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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x Will nach Lukas nicht der Jesus, der schon von seiner Geburt an vom Geist erfüllt ist, die Menschen durch den Geist für die Gottesherrschaft gewinnen? x Will Jesus nach Johannes nicht die Menschen in seine ewige Gemeinschaft mit dem Vater hineinnehmen – durch die Neugeburt in der Kraft des Geistes? x Werden nach Paulus die Christen nicht in die lebendige Gemeinschaft mit dem auferstandenen und erhöhten Christus aufgenommen und durch den Geist adoptiert, so wie Jesus vom Vater bei der Auferstehung zum Gottessohn eingesetzt wurde?3 Wie kann in dieser unübersichtlichen Lage und mit dem Anspruch auf theologische und wissenschaftliche Seriosität wieder ein „Leben Jesu“, und sei es in Kurzfassung, geschrieben werden? Neben den archäologischen Funden und den Ergebnissen textarchäologischer Begeisterung für biblische und nicht-kanonische Quellen (siehe Teil 1.1) haben drei weitere Faktoren zusammengewirkt bei der Ablösung des Paradigmas der „zweiten Frage“ mit seiner skeptischen Grundeinstellung. 1. Eine „Hohe Christologie“ gibt allen biblischen Bezugnahmen auf das Leben Jesu eine innere Einheit trotz ihrer perspektivischen Vielgestaltigkeit. Kaum mehr strittig in der Forschung ist die Erkenntnis: Die Verehrung Jesu als Kyrios, als Herr, und als Sohn Gottes, als „Gott von Gott“, hat sich nicht langsam und allmählich in der frühen Christenheit durchgesetzt. Sie ist auch nicht auf eine Vermischung der Jesusfrömmigkeit mit heidnischen religiösen Vorstellungen, Philosophien oder Frömmigkeitspraktiken zurückzuführen. Die Botschaft: In Jesus Christus hat sich Gott selbst geoffenbart!, hat sich sehr bald nach Jesu Tod und Auferstehung geradezu explosionsartig aus dem jüdischen Monotheismus heraus als eine neue Art von Monotheismus entwickelt. Martin Hengel, Larry Hurtado und andere bedeutende Neutestamentler haben eindrücklich gezeigt, dass sich eine „Jesus ist Kyrios!“Frömmigkeit aus hymnischen Texten und Bezeugungen gottesdienstli3
Vgl. die eindrückliche Übersicht bei Gerd Theißen, Gospel Writing and Church Politics: A Socio-rhetorical Approach, Chuen King Lecture Series 3, The Chinese Univ. of Hong Kong, 2001, 159ff; und die Anmerkungen zu den „christologische(n) Entwürfe(n)“ mehrerer neutestamentlicher Schriften bei Kurt Erlemann, Jesus der Christus. Provokation des Glaubens, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011, 174ff; siehe im Detail die Beiträge in Beverly Roberts Gaventa u. Richard B. Hays (Hg.), Seeking the Identity of Jesus: A Pilgrimage, Grand Rapids u. Cambridge/ UK: Eerdmans, 2008: Dale C. Allison Jr., The Embodiment of God’s Will: Jesus in Matthew, 117-132; Joel Marcus, Identity and Ambiguity in Markan Christology, 133-147; Beverly Roberts Gaventa, Learning and Relearning the Identity of Jesus from Luke-Acts, 148-165; Marianne Meye Thompson, Word of God, Messiah of Israel, Savior of the World: Learning the Identity of Jesus from the Gospel of John, 166-179; Richard B. Hays, The Story of God’s Son: The Identity of Jesus in the Letters of Paul, 180-199.
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Der historische Jesus
cher Praxis früher Christen erheben lässt.4 „Es ist verständlich, daß derartig kühne christologische Entwürfe nicht zuerst in der Form spekulativer Prosa, sondern in geistgewirkten Hymnen vorgetragen wurden (1.Kor 14,26 vgl. Kol 3,16; Eph 5,19; Apok 5,9 u. ö.); die Gottes ‚unaussprechlicher Gnade‘ (2.Kor 9,15) am ehesten angemessene Sprache war die des geistgewirkten hymnischen Lobpreises.“5 Hengel betont, dass Paulus das doxologisch-akklamatorische Grundbekenntnis „Jesus ist Kyrios“ (Röm 10,13; vgl. Apg 2,21) mit Joel 3,5 begründet. Dort heißt es – nach der Verheißung der Geistausgießung auf „Männer und Frauen, Alte und Junge, Knechte und Mägde“: „Jeder, der den Namen des Kyrios anruft, wird gerettet werden.“ „Im Urtext (Joel 3,5, M. W.) ist mit dem Kyrios Gott selbst gemeint, für Paulus ist es Jesus, in dem Gott sein Heil ganz erschließt.“6 Hurtado hat den sich entwickelnden Glauben als „binitarischen Monotheismus“ bezeichnet.7 Die frühen Christen sahen durch das Bekenntnis zur Gottheit Christi den Monotheismus (Dtn 6,4) ebenso wenig gefährdet wie durch die Differenzierung von Gott und Gottes Wort, Gott und Gottes Weisheit, Gott und Gottes Geist bereits in den alttestamentlichen Überlieferungen.8 Zahlreiche Forscher aus dem deutschen und angelsächsischen Sprachraum haben kaum Zweifel daran gelassen, dass eine „frühe Hohe Christologie“ („Early High Christology“), d. h. eine Christologie, die von der Gottheit Jesu Christi her denkt, historisch in Ansatz zu bringen ist. „Der auferstandene Christus wird in den frühen Gemeinden als Kyrios, als ‚Herr‘, bekannt (… 1Kor 12,3; Röm 10,9f.; Phil 2,9-11) und in Akklamation und Gebet angerufen (1Kor 1,2; 16,22; 2Kor 12,8)“. Die frühen Christen und 4
Siehe Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ: Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids: Eerdmans, 2003, 563ff; ders., How on Earth Did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 2005, 151ff (zit.: Hurtado, How on Earth). 5 Martin Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1977, 119f (zit.: Hengel, Sohn Gottes). Vgl. hierzu und auch zum Folgenden die vorzügliche Darstellung des christologischen Monotheismus bei Richard Bauckham, God Crucified: Monotheism and Christology in the New Testament, Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 1998, bes. 25ff. 6 Hengel, Sohn Gottes, 120. Siehe seinen Bezug auf Reinhard Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit. Untersuchungen zu Form, Sprache und Stil der frühchristlichen Hymnen, SUNT 5, Göttingen: Vandenhoeck, 1967, 188f. 7 Hurtado, How on Earth, 48ff (siehe 1.3, Anm. 4); siehe ders., One God, One Lord: Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, Philadelphia: Fortress, 1988; 2. Aufl. London: T&T Clark, 2003, 93ff; Rudolf Schnackenburg, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, HThK, Suppl. IV, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1993, 340-354. 8 Hurtado, How on Earth, 111ff; vgl. ders., Lord Jesus Christ, 29ff u. 134ff (siehe 1.3, Anm. 4).
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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Christinnen werden „an jedem Ort gerade dadurch identifiziert …, dass sie ‚den Namen unseres Herrn Jesus anrufen‘ (1Kor 1,2; vgl. Act 9,14.21; 22,16).“9 Die im Hintergrund der Jesusüberlieferungen stehende durchgängige Überzeugung von seiner göttlichen Hoheit macht neben dem Bezug auf den Gekreuzigten und Auferstandenen die erstaunliche Kohärenz verständlich, die wir trotz starker Unterschiede in den Akzenten zwischen den oben genannten Jesusbildern der biblischen Überlieferungen wahrnehmen.10 Niemand käme auf den Gedanken, die synoptischen Evangelien sprächen in ihren Aussagen über Jesus von verschiedenen Personen. Dies hat in den letzten Jahren zu hochinteressanten, aber noch offenen Diskussionen geführt, inwieweit wir in den biblischen Zeugnissen stärker, als dies bisher angenommen wurde, authentische mündliche Überlieferungen dokumentiert finden, ja sogar Augenzeugenberichte: ... über die Zeitspanne zwischen dem ‚historischen‘ Jesus und den Evangelien erstreckte sich eigentlich nicht anonyme Gemeinschaftsüberlieferung, sondern bestimmend waren die fortgesetzte Gegenwart und das Zeugnis der Augenzeugen, die die maßgeblichen Quellen ihrer Traditionen bis zu ihrem Tod blieben. ... Die 9
Hans-Joachim Eckstein, Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Michael Welker u. Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität, FS Jürgen Moltmann, Gütersloh: Gütersloher, 2006, 86 (Buch zit.: Welker/ Volf, Trinität). Für die Festigung dieses Konsenses waren neben Hengel, Sohn Gottes (siehe 1.3, Anm. 5), und Hurtado, How on Earth, und ders., One God, One Lord, 99ff (siehe 1.3, Anm. 7), bahnbrechend die Untersuchungen von James D. G. Dunn, Christology in the Making: A New Testament Inquiry into the Origins of the Doctrine of the Incarnation, London: SCM Press, Nachdruck der 2. Aufl. 1992, bes. 132ff u. 263ff; ders., The Christ and the Spirit: Collected Essays, 2 Bde., Edinburgh: T&T Clark, 1998 (Bd. 1: Christology; Bd. 2: Pneumatology), bes. zur Rede vom Kyrios in Apg Bd. 1, 241ff. Dunn bahnt ganz entscheidend den Weg, die Differenzen der synoptischen Darstellungen Jesu zu würdigen und gleichzeitig die Bezüge zur „Hohen Christologie“ freizulegen, wie sie Joh 1,1ff exemplarisch zum Ausdruck bringt. Dabei ist Dunns Sensibilität für die Bedeutung der Wirkung des Geistes erkenntnisträchtig. – Siehe auch Teil 4.2. – Schon 1913 zeigt Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen: Vandenhoeck, 6. Aufl. 1967, dass viele frühchristliche Aussagen über Jesus im gottesdienstlichen Kontext stehen. Siehe auch Oscar Cullmann, Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl. 1975; Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, UTB 1873, Göttingen: Vandenhoeck, 5., erw. Aufl. 1995, §2.4; und Werner Kramer, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden, AThANT 44, Zürich u. Stuttgart: Zwingli, 1963. 10 Siehe dazu C. H. Dodd, The Founder of Christianity, London: Collins, 1971, 21f: „... the first three gospels offer a body of sayings on the whole so consistent, so coherent, and withal so distinctive in manner, style (and) content, that no reasonable critic should doubt ... that we find reflected here the thought of a single, unique teacher.“
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Der historische Jesus
Evangelienüberlieferungen zirkulierten zum größten Teil nicht anonym, sondern im Namen der Augenzeugen, denen sie sich verdankten. ... Die Christen blieben sich ... der Art und Weise bewusst, in der die Augenzeugen selbst ihre Geschichten erzählten. Daher sollte ... nicht die mündliche Überlieferung, sondern das Zeugnis von Augenzeugen unser Hauptmodell sein.11
Vertiefte Erkenntnisse über Überlieferungsstrategien und Gedächtnispflege in den damaligen Kulturen könnten in diesen Fragen auf Dauer weiterhelfen, aber auch ein Forschungsprogramm, das wir als „die vierte Frage nach dem historischen Jesus“ skizzieren werden (siehe Teil 1.4). 2. Kohärenz stiftend und die Qualität historischer Forschung fördernd war aber auch die Einordnung Jesu in das Judentum des Zweiten Tempels.12 Das Wirken Jesu wurde u. a. als innerjüdische Erneuerungsbewegung interpretiert, die der Stärkung der Identität des jüdischen Volkes dienen sollte, das unter der Fremdherrschaft litt. Selbst die Entwicklung der „Hohen Christologie“ und der Trinitätslehre wurde mit Hilfe biblischer und außerbiblischer jüdischer Denk- und Vorstellungsmuster jener Zeit erklärt.13 Ein besonders markantes Profil Jesu im Kontext des Judentums seiner Zeit – mit eindrücklichen Kontrasten zu den Erkenntnissen Crossans (vgl. oben 1.1) – arbeiten die Jesusbücher von Geza Vermes 11
Richard Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids: Eerdmans, 2006, 8 (Übersetzung M. W.). Siehe schon James D. G. Dunn, Jesus in Oral Memory: The Initial Stages of the Jesus Tradition, in: Doris Donelly (Hg.), Jesus: A Colloquium in the Holy Land, New York u. London: Continuum, 2001, 84-145; ders., Eyewitnesses and the Oral Tradition, Journal for the Study of the Historical Jesus 6 (2008), 85-105. 12 Siehe Sanders, Jesus and Judaism (siehe 1.1, Anm. 24); ders., The Historical Figure of Jesus, London: Allen Lande / Penguin, 1993 (dt.: Sohn Gottes. Eine historische Biographie, Stuttgart: Klett-Cotta, 1996); John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, 4 Bde., New York: Doubleday, 1991ff, bes. Bd. 1, 205ff; Vermes, Jesus der Jude (siehe 1.1, Anm. 21); Theißen, Jesus als historische Gestalt, 33ff (siehe 1.2, Anm. 10); Klaus Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament, Teil I: Markus und Parallelen, WMANT 40, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1972, bes. 574-590; Martin Hengel u. Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, Geschichte des frühen Christentums 1, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, bes. 39ff u. 343ff. 13 Siehe Hartmut Gese, Natus ex Virgine, in: ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, BEvTh 64, München: Kaiser, 1974, 130-146; ders., Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie, in: ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, 218-248 (zit.: Gese, Die Weisheit, der Menschensohn); Christoph Markschies, Jüdische Mittlergestalten und die christliche Trinitätstheologie, in: Welker/Volf, Trinität, 199-214 (siehe 1.3, Anm. 9); Hurtado, One God, One Lord (siehe 1.3, Anm. 7); ders., Lord Jesus Christ (siehe 1.3, Anm. 4); vgl. auch Teil 1.5.
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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heraus.14 Jesus, der zur galiläischen Landbevölkerung gehört, sieht sich zu den Kindern Israels gesandt (Mt 15,24). Er kann sich schroff von den Heiden abgrenzen und sie möglicherweise sogar „Hunde“ nennen (Mk 7,27; Mt 7,6). Er und sein Umfeld werden von den Pharisäern und Schriftgelehrten als ungebildet und religiös unzuverlässig angesehen. Sein Umgang mit dem Unreinen, der Verkehr mit Sündern, Prostituierten und Zöllnern passt in dieses Bild. Jesu Konflikte mit den Reinheitsriten und dem Tempelkult führen zur Eskalation, als er über den Raum Galiläas hinausgeht. Der Widerstand, der sich in Jerusalem gegen ihn erhebt, führt dann zu seiner Exekution. Jesu Wirken könnte ein Zeichen dafür sein, dass den Pharisäern in Galiläa die religiöse und moralische Führung im 1. Jahrhundert entglitten war. Viel stärker als Crossan gewichtet Vermes die Exorzismen, die Austreibung der Dämonen, die Heilung der Kranken und die Vergebung der Sünden. Die Gewichtung der Exorzismen bedeutet aber nicht, dass Jesus sich in seinem Handeln und seinem Verkündigen in den Bereich des historisch nicht mehr Einholbaren begibt. Das Verhältnis des Juden Jesus zum Gesetz lässt sein Reden und Handeln rekonstruieren; auch seine Reich-Gottes-Gleichnisse zeigen sein Bemühen, der ländlichen Bevölkerung die kommende Wirklichkeit der Gottesherrschaft in Bildern von Saat, Ernte, Hirtenexistenz und Haushaltsführung realistisch zugänglich zu machen. Die Gottesherrschaft ist viel stärker von ihrem organischen Wachsen und Werden her zu verstehen als von menschlichen Inszenierungen. Wohl müssen die Menschen mitwirken, die Samen ausstreuen, den Teig mischen, für Öl in der Lampe sorgen, aber sie müssen auch stark auf die wachsende Saat, das aufgehende Senfkorn, den sich entwickelnden Sauerteig und die am Morgen aufgehende Sonne vertrauen.15 Kleine, feine, aber höchst folgenreiche Differenzen in den Perspektiven von Vermes und Crossan auf Jesu Person und Wirken haben wir hier zu beachten, die uns jedoch gleichermaßen an verschiedene Dimensionen seines gelebten Lebens heranführen können. 3. Einen weiteren aufschlussreichen Ansatz zur Jesusforschung bietet die umfassendere sozialgeschichtliche und sozialpsychologische Erforschung der jüdischen Gesellschaft und ihrer Umgebungen zur Zeit Jesu und in den Jahrzehnten nach seinem Wirken. Dabei wird der Kon14 Jesus der Jude (siehe 1.1, Anm. 21); The Gospel of Jesus the Jew, Newcastle: Univ. of Newcastle Press, 1981 (deutsch in: Jesus der Jude); The Religion of Jesus the Jew, Minneapolis: Fortress, 1993; The Changing Faces of Jesus, London: Penguin, 2001. Zu Vermes siehe Breytenbach, Jesusforschung: 1990–1995, 236ff (siehe 1.1, Anm. 25); ich folge seiner Darstellung, vgl. ebd., 237f u. 245f. – Siehe auch das schon 1907 auf Hebräisch veröffentlichte Buch von J. Klausner, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin: Jüdischer Verlag, 1934; und David Flusser, Jesus. Rowohlts Monographien, Hamburg: Rowohlt, 1968. 15 Vgl. Vermes, Jesus der Jude, 242ff; ders., The Changing Faces of Jesus, 154165, 193-209; ders., The Religion of Jesus the Jew, 137-151.
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text der römischen Weltmachtpolitik stärker berücksichtigt, aber auch die Ausbreitung des frühen Christentums in den Städten und unter den Heiden.16 Rollen und soziale Erwartungshaltungen, Wertvorstellungen und politische Entwicklungsprozesse in den Spannungsfeldern von Juden und Heiden, Israel und Rom, Land- und Stadtbevölkerung treten verstärkt ins Blickfeld. Theißen und Merz würdigen in ihrem großen Werk zur Leben-JesuForschung besonders die „außernormale Ausstrahlungs- und Irritationsmacht“ Jesu: eines Charismatikers, der sich „implizit eine besondere Gottesnähe zuschrieb“17 und insofern in eine Auseinandersetzung mit überkommenen und an ihn herangetragenen messianischen Rollenerwartungen trat. So wie Jesus die Thora, wie es etwas vage heißt, transzendiere (vgl. 486), ohne ihr zu widersprechen, so transzendiere er auch große Rollenerwartungen, vor allem die Erwartung, er sei der Messias. Dass Jesus Messiaserwartungen an sich weckte und problematisierte, wurde ihm zum Verhängnis. „Er wurde wegen der vom Volk an ihn herangetragenen Messianität von den Römern gekreuzigt“ (487). Unter den sogenannten „Hoheitstiteln“ (wie Messias, Sohn Gottes, Herr) habe Jesus lediglich den Ausdruck „Menschensohn“ auf sich bezogen, einen „alltägliche(n) Ausdruck, der erst durch Jesus messianisch aufgeladen wurde – freilich indem er an Visionen eines Himmelswesens anknüpfte, das einem Menschensohn glich“ (487).18 Bei oberflächlicher Betrachtung kann Theißens und Merz’ Rekonstruktion etwas abgehobener wirken als die von Crossan und Vermes. Ihre Reich-Gottes-Vorstellungen entfernen dieses Reich stärker von Jesu irdischem Wirken. Deshalb müssen sie auch von einer „NichtErfüllung der Erwartungen“ sprechen, weil dieses Gottesreich nicht nach Jesu Tod und Auferstehung gekommen sei. Die hohe Bedeutung des Menschensohn-Titels bringe es aber mit sich, dass sich nach Ostern der „Glauben an einen verwandelten ‚Menschen‘ (festigt), der auch jenseits der Todesgrenze nicht aufhört, Gottes Geschöpf zu sein“ (488). Theißen und Merz kommentieren: Diese neuen Perspektiven setzen eine utopische Kraft frei, daß durch Angleichung aller an diesen ‚neuen Menschen‘ traditionelle Unterschiede zwischen Völkern, Klassen und Geschlechtern überwunden werden könnten: Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen (Gal 3,28). Heutige 16 Siehe dazu W.-A. Meeks, The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven: Yale Univ. Press, 1983 (2. Ausgabe 2003); T. D. Still u. D. G. Horrell (Hg.), After the First Urban Christians: The Social Scientific Study of Pauline Christianity Twenty-Five Years Later, London: T & T Clark, 2009; sowie das umfangreiche Werk von Gerd Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. erw. Aufl. 1983; und ders., Gospel Writing and Church Politics (siehe 1.3, Anm. 3). 17 Theißen/Merz, Der historische Jesus, 486 (siehe 1.1, Anm. 5); die Seitenzahlen in Klammern im weiteren Text beziehen sich auf dieses Buch. 18 Siehe dazu Teil 1.5.
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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Reflexion über Jesus darf in ihm eine Art Metamorphose des Menschlichen sehen (488).
Nachösterlich werde diese Verehrung dann noch überboten durch die Anrufung Jesu als Kyrios, mit der er für die ihn verehrenden Menschen, so Theißen und Merz, „in die Nähe Gottes gerückt“ (489) werde. Obwohl auch Theißen und Merz die Praxis der Exorzismen und der Mahlgemeinschaften würdigen, betonen sie stärker die „Vorstellungen“ von einer „Art ‚repräsentative(r) Volksherrschaft‘“, die von der Grundgewissheit einer „endgültige(n) Wende zum Guten“ (493) getragen wurde. Aufgrund dieser Grundgewissheit konnte Jesus in seinen Gleichnissen „einfachen Menschen“ ein „‚aristokratisches‘ Selbstbewußtsein“ vermitteln (494). Diese Erhebung der Menschen, die „Fama vom Wundertäter Jesus“, die „Vision von der zukünftigen Gottesherrschaft ... in einem großen gemeinsamen Mahl, bei dem Juden und Heiden nicht mehr durch Speise- und Reinheitsgebote getrennt wurden“ (494), vor allem aber Jesu direkte Kritik am Tempel bei seinem Einzug in Jerusalem führen zu seinem Tod. „Die Aristokratie, die ihn inhaftierte, schritt gegen ihn wegen seiner Tempelkritik ein, klagte ihn aber vor Pilatus wegen des politischen Verbrechens an, als Königsprätendent nach der Macht gegriffen zu haben“ (495). Jesusbilder, die aus der Faszination von archäologischen und textarchäologischen Ergebnissen hervorgegangen sind, Jesus im Kontext des zeitgenössischen Judentums, sozialgeschichtliche Betrachtungsweisen, die auch das Aufkommen der „Hohen Christologie“ zu verstehen suchen – in diesem Spannungsfeld lassen sich die zahllosen anderen Jesusdarstellungen der neueren Zeit, die den Anspruch erheben, historisch solide geforscht zu haben, in ihren Stärken und Schwächen gut beurteilen. So bietet etwa Joachim Gnilka19 eine Jesusdarstellung, die sich auf ihn „als Person“ konzentrieren will und nur vorsichtige Versuche unternimmt, sein Leben im Kontext der damaligen Mittelmeerwelt oder der Umgebung Galiläas schärfer herauszuarbeiten. Joseph Ratzinger20 sieht Jesus sich schon in Galiläa im „Wir der Kirche“ bewegen, was einen kritischen Exegeten zum Urteil veranlasste, hier erfahre man mehr über die „religiöse Befindlichkeit des Papstes“ als über den historischen Jesus.21 Tatsächlich steht Ratzingers Darstellung im Spannungsfeld zwischen der ersten und der dritten Frage nach dem 19 Joachim Gnilka, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 3. Aufl. 1994; ders., Jesus Christus nach frühen Zeugnissen des Glaubens, München: Kösel, 1970. 20 Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1. Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, 2007; 2. Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, 2011. 21 Siehe Michael Wolter, Rez. Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, EvTh 68 (2008), 305-309.
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historischen Jesus. Er will aber die Skepsis der „zweiten Frage“ hinter sich lassen, ohne sich der Forschungskomplexität der „dritten Frage“ wirklich auszusetzen. Der Papst bezieht besonders deutsche protestantische Exegeten in seine Überlegungen ein.22 Doch auf weite Strecken verfolgt er eher eine feinsinnige und subtile Evangelienharmonisierung aus persönlichem historischem Vorstellungsvermögen heraus. Theologisch prekär wird dieses Vorgehen, wenn der Papst einerseits die christologisch vermittelte Offenbarung Gottes ernst nehmen will, dann aber doch eher den „Offenbarungen“ des Aristoteles und der Metaphysik zu folgen scheint, und wenn er „Gott, den schöpferischen Sinn“ und „die ewige Vernunft“ in einem Atemzug nennt.23 Im Rahmen der „vierten Frage nach dem historischen Jesus“ werden wir das breite Spektrum von Forschungsaufgaben zu beschreiben versuchen, die auf dem Feld seriöser theologischer und wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Leben Jesu vor uns liegen. Dabei ist Ratzinger darin zuzustimmen, dass historisch-kritische und systematische Denkansätze in neuer Weise verbunden werden müssen, wenn nicht nur Fortschritte in historischer, sondern auch theologischer Erkenntnis erzielt werden sollen.24 Einen besonders wertvollen Impuls für die sozialgeschichtliche Forschung hat Gerd Theißen in seinem Beitrag Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit gegeben.25 Vielleicht inspiriert von Crossan, geht Theißen davon aus, dass wir historische Prozesse in Weitwinkelperspektive, in Ausschnittperspektive, in Nahperspektive und in Mikroperspektiven wahrnehmen können. 22 Martin Hengel, Ulrich Wilckens, Joachim Jeremias, erstaunlich intensiv auch Rudolf Bultmann. 23 Jesus von Nazareth, Bd. 2, 216. Zu seiner offensichtlich kirchenpolitisch motivierten Abkehr von einer biblischen und christologischen Orientierung im Blick auf die Abendmahlsüberlieferungen siehe Teil 5.4. Vgl. auch Thomas Söding (Hg.), Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2011. 24 Jesus von Nazareth, Bd. 2, 11 u. ö.; siehe auch die gegenüber einer ekklesiozentrischen Sicht skeptischen Perspektiven von Paul Hanson, „We Once Knew Him from a Human Point of View“, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 203-218 (siehe 0.1, Anm. 7). 25 Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung, EvTh 57 (1997), 378-400; = in: Theißen, Jesus als historische Gestalt, 169-193 (siehe 1.2, Anm. 10; Aufsatz zit.: Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte); vgl. auch Ulrich Luz, Der frühchristliche Christusmythos. Eine Auseinandersetzung mit Gerd Theißens Verständnis der urchristlichen Religion, in: Peter Lampe u. Helmut Schwier (Hg.), Neutestamentliche Grenzgänge. Symposium zur kritischen Rezeption der Arbeiten Gerd Theißens, Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 75, Göttingen: Vandenhoeck, 2010, 31-50; und Annette Merz, Gerd Theißens Beiträge zur Sozialgeschichte des hellenistischen Urchristentums in der neueren Diskussion, ebd., 96-113.
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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Wählen wir eine Weitwinkelperspektive, mit der wir die ganze Prinzipatszeit (die ganze ältere römische Kaiserzeit, M. W.) in den Blick nehmen, so entstand das Urchristentum in einer vergleichsweise stabilen Zeit.26 Wählen wir dagegen eine Ausschnittsperspektive, mit der wir speziell das Judentum in der Zeit von Pompeius bis Hadrian betrachten, so ist diese Zeit für das Judentum eine Krisenzeit.27 Das verändert sich noch einmal bei einer Nahperspektive, bei der wir uns auf die Zeit der römischen Präfekten in Judäa (ca. 6–37 n.Chr.) und auf Galiläa unter der Herrschaft des Herodes Antipas (4 v.–39 n.Chr.) konzentrieren. Hier treffen wir auf erstaunlich stabile Verhältnisse. Zuletzt nehmen wir eine Mikroperspektive ein, bei der man auch Latentes und Verborgenes sichtbar machen kann. Dann zeigt sich: Unter einer Oberfläche von Ruhe gab es damals viele Spannungen. Krisen- und Friedensdeutungen sind also eine Frage der Perspektive.28
Theißen beleuchtet subtil die Mehrdeutigkeit der Jesusbewegung je nach Perspektivenwahl. Er nimmt Gedanken des Politik- und Medienwissenschaftlers Andreas Dörner29 auf und vertritt die These: Es ist ein Merkmal der Jesuszeit, dass Spannungen, die vorher und nachher in gewalttätige Konflikte umschlugen, als symbolpolitische Konflikte ausgetragen werden. In symbolpolitischen Konflikten erfolgt, so Dörner, in unterschiedlichen sprachlichen Medien der strategische() Einsatz von symbolischem Kapital, um wiederum symbolisches Kapital zu akkumulieren, d. h. die Benennungsmacht der eigenen Position im jeweiligen Feld zu steigern; symbolische Bedürfnisse in einem politischen Gemeinwesen oder in einer politischen Teilkultur nach Orientierung, Sinn, Identität etc. zu bedienen; symbolisches Kapital in politische Macht zu konvertieren und auf diesem Wege eine Legitimation oder Delegitimation bestehender Verhältnisse, eine Integration in die Gemeinschaft oder eine Mobilisierung gegen dieselbe zu erreichen.30
Theißen betont, dass offensichtlich sowohl Herodes Antipas als auch Pilatus versuchen, Galiläer und Judäer in das römische Reich einzugliedern und deren Loyalität zu jüdischen Traditionen zu schwächen oder in Frage zu stellen. Herodes’ Verlegung der Hauptstadt nach Tiberias an eine Stelle, wo vorher ein Friedhof war, provoziert gezielt Konflikte mit den jüdischen Reinheitsgeboten. Konflikte mit dem Bil26
Abgesehen von den Kriegen nach Neros Tod 68 n. Chr. gab es keine Bürgerkriege. 27 Theißen listet den Parther-Einfall 41 v. Chr. auf, die Aufstände nach dem Tod des Herodes 4 v. Chr., die Steuerverweigerungskampagne des Juden Galilaios 6 n. Chr., die Caligula-Krise 39/40 n. Chr., den 1. jüdisch-römischen Krieg 66-74, der zum Verlust des Tempels und der Autonomie des Judentums führt, die jüdischen Aufstände 115 und 117 und den Bar-Kochba-Krieg 132-135, der mit der Zerstörung und dem Verlust der Stadt Jerusalem endet. 28 Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 172 (siehe 1.3, Anm. 25). 29 Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Westdeutscher Verlag: Opladen, 1995. 30 Dörner, 57.
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derverbot und mit den jüdischen Ehegesetzen provozieren die Bevölkerung, die sich an jüdischen Normen orientiert. Pilatus prägt Münzen mit heidnischen Kultsymbolen und versucht, Kaiserbilder in Jerusalem einzuführen; er greift auf Geld aus dem Tempelschatz zurück; er führt vermutlich einen Aquädukt über einen Friedhof und provoziert in vielfältiger Weise die Bevölkerung zu Loyalitätskonflikten mit der eigenen Tradition. Das aber heißt, dass eine Politik betrieben wird, „die auf eine vorsichtige Integration des jüdischen Palästinas in die hellenistischheidnische Kultur zielte“. Er folgert: Die Machthaber „erregten faktisch Unmut. Symbolpolitische Integrationsversuche missrieten zu symbolpolitischen Konflikten“31. Dies ist aber nur eine mögliche Deutung. Genauer zu untersuchen wäre, ob nicht eine Doppelstrategie die Symbolpolitik von Machthabern bestimmt, wenn ein Land längere Zeit besetzt ist: Statt simpler Freund-Feind-Figuren entsteht in der Regel eine unübersichtliche Vielzahl unterschiedlich starker Anpassungs- und Abgrenzungsprozesse. Begeisterte Anpassung an die überlegenen Machthaber und erbitterter Widerstand bis hin zum Terrorismus sind nur die Grenzwerte in einem breiten Spektrum von Einstellungen, die auch untereinander in vielfältiger Weise in Konflikt stehen können. Die gezielten Provokationen durch die Machthaber, hier die Weltmacht Rom und ihre Vertreter, stellen auf gesteigerte Integration oder schärfere Abgrenzung ab. Freunde und Feinde werden so durch Symbolpolitik klarer erkennbar. Gegen diese Symbolpolitik „von oben“ richtet sich nun die prophetische Symbolpolitik „von unten“. Die genannten Vorgänge zeigen, dass es zur Zeit Jesu unter einer ruhigen Oberfläche gärte. ... Auf die Politik der Akkulturationssymbole reagierten oppositionelle Bewegungen im Volk, deren Sprachrohr und Kristallisationspunkt Propheten waren. Drei Propheten sind uns aus der Präfektenzeit bekannt. Alle treten erst in der zweiten Hälfte dieser Zeit auf – also erst, nachdem die Politik der Akkulturation durch Symbole eingesetzt hatte: Johannes der Täufer, Jesus von Nazareth und ein anonymer samaritanischer Prophet.32
Der Täufer führt einen Reinigungsritus ein, die Taufe zur Vergebung der Sünden, mit der er symbolpolitisch auf die durch die Besatzungsmacht drohende Verunreinigung des ganzen Landes aufmerksam macht. Er ruft in die Wüste, auch dies ein symbolpolitischer Neuanfang, der an Israels Befreiungsgeschichte erinnert. Diese Umkehr ist mit einer zumindest indirekten Kritik am Jerusalemer Tempel verbunden und damit an der Priesteraristokratie, die vom Tempelkult lebt. Wie immer das Ende des Täufers aussah – wir haben verschiedene Berichte darüber –, auf jeden Fall stellte er eine politische Herausforderung für die Mächtigen dar. 31 32
Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 180 (siehe 1.3, Anm. 25). Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 180, 181f.
1.3 Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus
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Theißen kommentiert: „Die Furcht des Herodes Antipas vor einem Umsturz war nicht unberechtigt. Nach der Hinrichtung des Täufers trat bald ein neuer Prophet auf: Jesus von Nazareth.“33 Er setzt allerdings andere Symbolhandlungen an die Stelle der Taufe, namentlich die Exorzismen, das Vertreiben der unreinen Geister. Die Exorzismen lassen sich als ein symbolischer Protest verstehen: Das Land ist von unreinen Geistern bedroht. Sie bemächtigen sich der Menschen und entfremden sie von sich selbst. Bedrohungsängste angesichts von fremder kultureller, religiöser und militärischer Macht schlagen sich hier nieder ... Wenn die Tradenten der Exorzismen einen dieser Dämonen ‚Legion‘ nennen, ihn also direkt mit den römischen Soldaten (und mit unreinen Schweinen) assoziieren, dann bestätigt das den Zusammenhang von Dämonenglaube, Exorzismen und der allgemeinen sozialen Situation im Lande.34
Auch die Kritik an den Mächtigen ist bei Jesus anders gewichtet als beim Täufer. „Der Täufer verband direkte Kritik an den Fürsten mit indirekter Kritik am Tempel.“ Jesus kritisiert die Fürsten nur indirekt (mit dem Wort zur Ehescheidung, Mk 10,2ff; Mt 5,31ff; Lk 16,18; und indem er Herodes einen Fuchs nennt, Lk 13,32)35, den Tempel aber greift er – vor allem durch die symbolische Handlung der Tempelreinigung – direkt an. Neben Exorzismus, Tempelreinigung und Tempelprophetie sieht Theißen eine Fülle von anderen symbolpolitischen Handlungen bei Jesus, z. B. in der Ernennung der zwölf Jünger, denen nach Mt 19,28-30 ausdrücklich die Herrschaft über die zwölf Stämme Israels zugesprochen wird. Mit dieser Ernennung wird einerseits an die Stämmeverfassung Israels erinnert, die zu Jesu Zeit nur in oppositionellen Gruppen wie bei den Essenern lebendig war. Andererseits ernennt Jesus „zu Fürsten und Richtern dieser zwölf Stämme einfache Menschen aus dem Volk.“36 Auch der Einzug in Jerusalem als ein Gegenbild zum Einzug des Präfekten gehört zu den symbolpolitischen Handlungen. Theißen schließt: „Es besteht kein Zweifel: Jesus konnte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ‚Gleichnisse‘ formulieren. Er beherrschte die Sprache symbolischer Handlungen; und einige dieser Handlungen haben einen symbolpolitischen Charakter.“37 Man muss sich verdeutlichen, dass größte Teile der vom biblischen Kanon bezeugten Geschichte unter dem Druck einer Weltmacht stehen, um die hohe Bedeutung der symbolpolitischen Konfliktbewältigung 33 34 35
Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 183. Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 183. Dies gilt auch für die Steuerfrage (Mk 12,13-17); allerdings könnte Jesus, so Theißen, auch auf den Versuch des Pilatus anspielen, Standarten mit Kaiserbildern heimlich nach Jerusalem zu bringen, so dass das „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!“ auch auf eine Entfernung der Kaiserbilder aus dem Heiligen Land anspielt. 36 Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 186. 37 Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 187.
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Der historische Jesus
nicht nur im Kontext des historischen Jesus, sondern für die Denkentwicklungen und Symbolbildungen in den biblischen Überlieferungen und die „Rationalitäten von Religion“ überhaupt zu erfassen. Nach Ägypten, Assur, Babylon, den Persern und den Griechen beherrschen nun die Römer das Land. Die anhaltende Präsenz der militärisch und politisch überlegenen Macht führt zu unterschiedlich starken Anpassungs- und Abgrenzungsprozessen. Diese lösen die religiösen und moralischen Normen und die Erwartungssicherheiten im Land auf. In die für den Widerstand und das Interesse, Leib und Leben zu erhalten, typischen Spannungen von radikaler Verweigerung und Opportunismus im Verhältnis der Bevölkerung zu den (jetzt römischen) Besatzern mischen sich nun Relativismus und Apathie. Die „Symbolpolitik der Propheten“ spricht in diese komplizierte Gemengelage hinein. Sie richtet sich gleichermaßen an das Volk wie an die Aristokratie, und sie spricht in unterschiedliche Bewusstseinslagen und Orientierungsverhältnisse hinein. Zu Jesu Zeit steht die jüdische Oberschicht in der Spannung von Versuchen, sich an die Weltmacht Rom anzupassen und die sich damit bietenden Karrierechancen wahrzunehmen, und dem Bemühen, die jüdischen Traditionen zu bewahren und zu verteidigen. Gegenüber diesen Optionen verkündigt Jesus „die Gottesherrschaft, die bald sich durchsetzende Macht des einen und einzigen Gottes, die verborgen schon in der Gegenwart wirksam“ ist. Er bietet eine neue Thoraauslegung, die einerseits die Traditionen aufnimmt und verstärkt, sie aber andererseits relativiert.38 Jesus adressiert aber auch das Volk und seine Konflikte, die Theißen vor allem in der Frage des Landbesitzes und der Steuerthematik lokalisiert. Die Kleinbauern, die unter den Steuern und unter den Tempelabgaben leiden, werden von Jesus nicht zum direkten Widerstand aufgerufen, sondern symbolpolitisch in eine neue metapolitische, aber doch höchst reale Gemeinschaft integriert. Wenn sie etwa mit den Seligpreisungen angesprochen werden: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört die Gottesherrschaft. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben“ (Mt 5,3.5), so könnte damit eine Symbolpolitik des gewaltlosen Widerstands gegen Steuereintreiber und Landusurpatoren vor Augen stehen. Indem sich Jesus in die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit einmischt und dies in einer Form tut, die den schwachen, leidenden und ausgegrenzten Menschen unmittelbar zugute kommt, indem er die Karriereoptionen der Aristokratie durch die Verkündigung der Gottesherrschaft in Frage stellt und überbietet, relativiert er die Differenzen zwischen Aristokratie und Volk: „Er formulierte viele Werte und Überzeugungen der Oberschicht so, dass sie für
38
Vgl. Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 193.
1.4 Die „vierte Frage“ nach dem historischen Jesus
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alle zugänglich wurden. Er gab kleinen Leuten das Bewusstsein eine Elite zu sein: das Salz der Erde und das Licht der Welt.“39 Theißens und Crossans Rekonstruktionen des Lebens Jesu sind durchaus benachbart. Sie bieten verschiedene Perspektiven – das eine Mal die „großen“ symbolpolitischen Auseinandersetzungen, die sich aber im interpersonalen und familialen Leben niederschlagen, das andere Mal ein exemplarisches interpersonales Ethos, das aber durchaus politisch wirksam wird. Es wäre falsch, sie in ein Entweder-Oder zu drängen. Beide Perspektiven ergänzen sich wechselseitig. Sie können im Prinzip in ein komplexeres Bild und in ein fruchtbares Forschungsprogramm integriert werden, das wir als „vierte Frage nach dem historischen Jesus“ darstellen wollen.
1.4 Die „vierte Frage“ nach dem historischen Jesus: Die erschließende Kraft vierfacher Multikontextualität Die meisten Menschen bewegen sich relativ mühelos in verschiedenen Umgebungen. Sie kleiden sich je nach Kontext unterschiedlich, äußern sich je nach Kontext unterschiedlich, reagieren unterschiedlich. Man muss nicht die starken Kontraste von Disco und Beerdigung, Sportplatz und Einstellungsgespräch bemühen, um die Multikontextualität des Lebens zu verdeutlichen. Zunehmendes Lebensalter, Orts- und Arbeitsplatzwechsel stellen oft eingreifende Veränderungen der Kontexte dar. Wir verändern dabei nicht nur unser Denken, sondern auch Grundmuster unseres Erinnerns und Erwartens. Auch wir selbst werden von anderen je nach Kontext unterschiedlich wahrgenommen bzw. erscheinen in deren Vorstellung unterschiedlich – besonders dann, wenn wir nicht leibhaftig gesehen werden, sondern z. B. nur in Berichten und Zeugnissen präsent sind. Wenn wir uns selbst, unsere Mitmenschen, aber auch historische Gestalten multikontextuell wahrzunehmen beginnen, entwickeln wir ein komplizierteres, aber auch schärferes geistiges Bild der betreffenden Personen und Situationen. Wohl erwarten wir Kontinuität und Stimmigkeit im Leben und in der persönlichen Entwicklung unserer Mitmenschen. Wir erwarten oder erhoffen zumindest Charakter, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit. Aber wir sollten, wenn unsere Erwartungen irritiert werden, auch mögliche biografische Diskontinuitäten, Identitätskonflikte und Anpassungszwänge in Rechnung stellen. Multikontextuelles Denken schärft oder schult unser eigenes soziales, kultu39 Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte, 193. Siehe dazu die subtilen Ausführungen zu den „modes of political social interactions“ in Jesu Kontexten, Bruce J. Malina, The Social Gospel of Jesus: The Kingdom of God in Mediterranean Perspective, Minneapolis: Fortress, 2001, bes. 76ff.
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relles und historisches Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögen. Das gilt auch für das Fragen nach dem historischen Jesus. Jesus hat in Galiläa, in Grenzgebieten Galiläas und in Jerusalem gewirkt, inmitten der Landbewohner und unter der Stadtbevölkerung. Die Spannungen zwischen Juden und Heiden werden in Jesu Begegnung mit dem Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5-13; Lk 7,1-10; Joh 4,46b-54) und der Syrophönizierin (Mk 7,24-30; Mt 15,21-28) ebenso erkennbar wie in den Bezugnahmen der Evangelien auf die römischen Machthaber. In Kapernaum, einem Zentrum von Jesu Wirken, gab es zudem zu seinen Lebzeiten eine Grenze zwischen den Machtbereichen des Herodes Antipas und des Herodes Philippos (beide Söhne von Herodes dem Großen, der wohl kurz nach der Geburt Jesu verstarb). Das legt es nahe, auch hier Kontextdifferenzen in Rechnung zu stellen. Darüber hinaus sind die Spannungen zwischen Reichen und Armen, Herren und Knechten in Jesu Verkündigung vielfältig spürbar und nicht weniger die Differenzen zwischen frommen Menschen aus dem Volk und religiösen Funktionsträgern und Führungseliten. Jesus wird anders gewirkt haben auf Menschen, mit denen er Tischgemeinschaft hatte, als auf die, die er direkt und indirekt durch seine Heilungen beeindruckte. Noch einmal anders werden die Resonanzen bei denjenigen gewesen sein, die vor allem seine Verkündigung des Reiches Gottes bewegte. Gebildete Thorakundige werden anders auf ihn reagiert haben als Menschen, denen er vor allem durch seine Mitmenschlichkeit Eindruck machte. Seine Konflikte mit den an Tradition und Tempel orientierten Pharisäern, Schriftgelehrten und Ältesten und Priestern, sein Eintritt in die symbolpolitischen Konflikte zwischen der Weltmacht Rom und den religiösen Führern Israels steigern den Facettenreichtum seiner Ausstrahlung weiter (vgl. Teil 1.3). Diese erste Multikontextualität seines gelebten Lebens können wir nur in Annäherungen durch biblische und außerbiblische Zeugnisse und durch punktuelle archäologische Abstützungen erschließen. Doch schon diese erste Multikontextualität wird von vielen Beiträgen zur Jesusforschung nicht hinreichend beachtet. Sie suchen das monokontextuelle Bild Jesu (z. B. der Jesus der Tischgemeinschaft, der die elementaren Bedürfnisse der Menschen erkennt, oder Jesus, der Exorzist und Verkündiger des Reiches Gottes) und nehmen nicht ernst, dass schon die sogenannte „Realgeschichte“ Jesu (die nur in Annäherungen, aber doch mit vertretbaren Wahrheitsansprüchen zu rekonstruieren ist) fragmentarisch und vielfarbig bleibt. Die „zweite Frage nach dem historischen Jesus“ überzeichnete die Schwierigkeiten, sich der Realgeschichte anzunähern, mit ihrem unrealistischen Streben nach „mathematischer Sicherheit“ (vgl. Teil 1.2). Die archäologistischen Vertreter der „dritten Frage“ spielen sie zu sehr herab (vgl. Teil 1.1). Die realgeschichtliche Ebene wird greifbar durch archäologische Funde; und durch beachtliche Erfolge auf diesem Gebiet wurde die neue Welle der „dritten Frage nach dem historischen Jesus“ vielleicht ausgelöst, auf
1.4 Die „vierte Frage“ nach dem historischen Jesus
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jeden Fall verstärkt. Die realgeschichtliche Ebene wird rekonstruierbar durch die mehr oder weniger komplexen schriftlichen Zeugnisse, unter denen die biblischen Synoptiker herausragen. Diese schriftlichen Zeugnisse konstituieren die zweite Multikontextualität. Sie sind mehrperspektivisch auf Jesu Leben und Wirken ausgerichtet und stellen die theologische und historische Forschung vor gewaltige Aufgaben. Die einzelnen Zeugnisse bzw. Zeugniskomplexe privilegieren unterschiedliche Kontexte von Jesu Leben und Wirken. Für eine naive Beobachtung werden sie alle, weil sie kein einheitliches Bild von Jesus geben, unglaubwürdig. Im Rahmen der „vierten Frage nach dem historischen Jesus“ sind sie im Blick auf die erste Multikontextualität hin zu befragen, wie und in welcher Weise sie deren Kontexte hierarchisieren, verknüpfen und werten. Privilegieren sie bestimmte Orte in Jesu Wirken, bestimmte typische Kommunikationssituationen? Inwieweit lassen sich Abweichungen zwischen den Jesusbildern der verschiedenen Autoren möglicherweise auf ihre Bevorzugung bestimmter Kontexte und die abgestufte Nachordnung anderer Kontexte zurückführen? Die Komplexität dieser Forschungsaufgabe steigert sich stark, wenn wir die bisher nur mit hoher Unsicherheit zu rekonstruierenden Umgebungen der (biblischen) Autoren und ihre religiösen, moralischen und politischen Adressaten in Rechnung zu stellen suchen. Für wen haben sie geschrieben, mit welchen Interessen? Lassen sich im Blick auf ihre möglichen Adressaten ihre Ordnungen der Kontexte in ein komplexes Jesusbild erklären? Erlaubt ein möglicherweise multikontextuell hierarchisiertes Jesusbild Vermutungen über ihre Adressaten? Welche Leitprobleme und Visionen spielen eine Rolle, die sie mit ihren Bezugnahmen auf Jesu Person, Leben und Wirken verbinden? Welchen Menschen in welchen Kontexten wollen sie Jesu Person und Leben nahebringen? Natürlich kann man diese zweite Multikontextualität überrollen mit der nicht einfach falschen Botschaft: Die biblischen Autoren wollen allen Menschen aller Zeiten die „frohe Botschaft“ verkündigen! Nur bewegt man sich dann nicht mehr auf dem Feld der historischen Leben-Jesu-Forschung. Will man diese Forschung in der Suche nach historischer Erkenntnis vorantreiben, so wird man die komplexen Wechselverhältnisse zwischen der ersten und der zweiten Multikontextualität aufzuklären versuchen. Sehr subtile Prozesse der Wahrheitssuche sind dabei zu würdigen. Schon auf diesem Niveau wird deutlich, dass sich der wissenschaftlich-theologischen Erforschung des historischen Jesus eine überaus anspruchsvolle Aufgabe stellt, dass aber nicht einfach von einem „hoffnungslosen Durcheinander“ oder von „nur legendarischer Übermalung“ bei der Bezugnahme auf Jesu Leben ausgegangen werden kann. Die biblischen Autoren wollen nicht einfach persönliche Jesuslegenden erzählen. Allerdings verfolgen sie auch nicht einfach Bewegungen des irdischen Jesus im natürlichen Raum. Sie wollen
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nicht unzweifelhaftes Material für die archäologistische Beobachtung mit mathematischer oder doch empirischer Sicherheit bereitstellen. Sie unterstellen Jesus und seinen Umgebungen mehr oder weniger komplexe Einstellungen und Haltungen, Erinnerungen und Erwartungen. Sie gewichten diese und geben damit Jesus ein komplexes Profil. Obwohl sie in diesen Profilierungen mehr oder weniger stark voneinander abweichen, begeben sie sich damit nicht auf die Ebene der Phantasie. Es ist die große Aufgabe auch der historischen Jesusforschung, eine mögliche Bezugnahme auf die Kontexte von Jesu Wirken und auf die Kontexte der textlichen Zeugnisse und ihrer Adressatinnen und Adressaten zu unterscheiden. Festzuhalten bleibt dabei, dass Jesu Person und Wirken nicht ohne großen Schaden (und zwar für die historische Forschung, aber auch für die Christologie und den christlichen Glauben!) auf ein monokontextuelles Profil reduziert werden kann. Weder sein Wirken noch seine Verkündigung lassen sich auf nur ein Thema und nur eine Formel bringen. Wer Jesus auf den „mediterranen jüdischen Bauern“ in politisch bestimmter Tischgemeinschaft reduziert, wer ihn vor allem anderen in den Kreis der alttestamentlichen Gottesmänner und Exorzisten einordnet, denkt ebenso einseitig wie diejenigen, die nur eine existenzialistische oder sozialpolitische Botschaft oder eine metaphysische Logostheologie aus ihm heraushören wollen. Die zweite multikontextuelle Sphäre ist aber nicht nur rückblickend auf die Multikontextualität des realen Lebens Jesu ausgerichtet. Sie ist auch rückblickend gebunden an eine dritte Multikontextualität – die der großen kanonischen Traditionen. Jesus hat sich in seiner Verkündigung, in seiner Lehre und in seinen symbolischen Handlungen in vielfältiger Weise auf die alttestamentlichen Überlieferungen bezogen. Welche dieser Rückbezüge können wir auf Dauer der ersten Multikontextualität zurechnen? Welche Rückbezüge auf Kontexte der dritten Multikontextualität sind für die einzelnen biblischen Autoren jeweils charakteristisch? Inwieweit lässt sich die zweite Multikontextualität durch ihre Bezüge auf die dritte profilieren? Die dritte Multikontextualität kann in der Frage nach dem historischen Jesus nur mit großer Vorsicht auf die erste bezogen werden. Lediglich im Blick auf den Titel „Menschensohn“ zeichnet sich ein relativ breiter Konsens in der Forschung ab, dass Jesus ihn selbst für sich verwendet hat. Zitate aus „dem Gesetz und den Propheten“ in den neutestamentlichen Texten können dagegen nicht einfach als „authentische Herrenworte“ eingeordnet werden. Zu fragen ist vielmehr: Welche alttestamentlichen Traditionen, welche Hoheitstitel, welche Rollenerwartungen an Jesus werden im Blick auf welche Kontexte von Jesu Wirken (erste Multikontextualität) bzw. in den Kontexten der biblischen Zeugnisse (zweite Multikontextualität) gehäuft aufgenommen (siehe dazu 1.5)? Die vierte Multikontextualität, die die „vierte Frage nach dem historischen Jesus“ beachten muss, sind die bisherige Rezeptionsgeschichte und die gegenwärtige weltweite Multikontextualität, in denen Jesu
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Leben und Wirken wahrgenommen und prägend wirksam werden. Mit großer Gelassenheit muss die Klage ertragen werden: Das sei ja eine uferlose Angelegenheit! Im Blick auf die vierte Multikontextualität können wir immer nur bewusst selektiv, reduktiv und typisierend vorgehen (vgl. Teil 0.4). Die „patristischen Jesusbilder“, die „reformatorische Sicht Jesu“, der „historische Jesus nach römisch-katholischer Lehre“, der „Jesus der Befreiungstheologie“, der „pfingstkirchliche Jesus“ – in jedem dieser und vieler anderer Kontexte haben wir ein breites Ensemble von Bildern, Vorstellungen, Erkenntnisansprüchen und Forschungsprojekten vor Augen. Diese vierte Multikontextualität ist dann kein Fass ohne Boden, wenn sie auf ihre Wahrheitsansprüche hinsichtlich des historischen Jesus und in diesem Zusammenhang auf die drei anderen Multikontextualitäten rückbezogen wird. Dann beginnen die Kontexte zu sprechen. Erkennbar werden ihre religiösen oder religionskritischen, kirchlichen, moralischen, politischen und zeitgeschichtlich gebundenen Anliegen und, sofern gegeben, auch ihre wissenschaftlichen Stile. Wohl geht uns heute die Versicherung leicht über die Lippen, dass alle Erkenntnis, auch die historische, interessenbestimmt sei. Aber diese Interessen sind selten von ideologischer Eindeutigkeit, und sie sind gerade in wissenschaftlichen (und auch in kirchlichen) Umgebungen oft sehr vielschichtig und bewusst oder unbewusst gut verschleiert. Eine Interessenbindung schließt das Suchen nach seriöser Erkenntnis und die Frage nach der Wahrheit nicht aus (vgl. Teil 2.2). Selbst eine enge Interessenbindung kann durchaus der Wahrheitssuche dienen – und das gilt auch hinsichtlich der Frage nach dem historischen Jesus (siehe dazu Teil 0.4). Die wissenschaftliche Forschung hat kein Monopol auf den historischen Jesus, aber sie kann und muss darauf achten, dass Wahrheitsansprüche im Blick auf eine historische Erkenntnis in der Lage sind, Entdeckungsprozesse von Erfindungsprozessen zu unterscheiden. Auf der Ebene der vierten Multikontextualität müssen tatsächliche oder vermeintliche Entdeckungsprozesse auf die drei anderen Ebenen der Multikontextualität bezogen werden. Werden sie tatsächlich vom Interesse an historischer Erkenntnis geleitet? Wenn ja, werden bestimmte alttestamentliche Traditionen und Erwartungsräume besonders hervorgehoben, „dass die Schrift erfüllt würde“ (dritte Multikontextualität)? Wenn ja, warum? Werden bestimmte neutestamentliche Autoren gezielt ins Licht gestellt (zweite Multikontextualität)? Welche Gründe gibt es dafür? Auf welche Kontexte von Jesu Leben und Wirken konzentriert sich die geistige Wahrnehmung (erste Multikontextualität)? Werden die Kontexte bewusst oder unbewusst zum Verschwimmen gebracht? Dabei ist es wichtig, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die historische Erforschung des Lebens Jesu nur eine der Aufgaben einer Christologie darstellt. Doch die Arbeit daran ist unverzichtbar für eine
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Christologie, die am Menschen Jesus von Nazareth nicht vorbeireden, nicht um ihn herumreden, die den Menschen Jesus von Nazareth so genau wie möglich erfassen will. Den multikontextuell wahrzunehmenden Jesus finden wir nicht als natürliche Größe vor. Wir kennen ihn, wie Paulus treffend sagt, nicht mehr „nach dem Fleisch“ (kata sarka, 2Kor 5,16). Er begegnet uns in verschiedenen biblischen und außerbiblischen Zeugnissen, wobei die biblischen Zeugnisse von besonderem Gewicht sind. Sie beziehen sich auf seine Gegenwart, die schon zur Zeit der Verfassung der Zeugnisse vergangen war, sie blicken auf ihn und auf sein Wirken in verschiedenen Kontexten zurück. Sie beziehen sich dabei auch auf biblisch bezeugte Vergangenheiten, wenn sie wieder und wieder alttestamentliche Texte zitieren, manchmal mit der emphatischen Zusatzbemerkung, „auf dass die Schrift erfüllt würde“, oder: das und das geschah „nach der Schrift“. Manchmal zitieren sie ausführlich aus dem Alten Testament. Zum Problem dabei – und das plagte die zweite Frage nach dem historischen Jesus mit Recht – wird die Unsicherheit, ob sich die biblischen Überlieferungen von Jesu Leben und Wirken wirklich auf eine für ihn relevante Vergangenheit und Zukunft beziehen. Oder beziehen sie sich auf vor allem für sie selbst, die Zeugen, relevante Vergangenheiten? Solche Fragen lassen uns verstehen, warum die Trennschärfe der vierfachen Multikontextualität wichtig, ja unverzichtbar ist für ein nuanciertes und (selbst)kritisches Fragen nach dem historischen Jesus. Ist die für die Zeugnisse der Bibel vergangene Vergangenheit Jesu nur ihre eigene gegenwärtige Vergangenheit? Ähnliches gilt für die Zukunftshoffnungen, auf die wir in den biblischen Zeugnissen treffen. Wir wissen, dass die biblischen Autoren in der Regel für verschiedene Gruppen und Adressaten schreiben. Sie schreiben also in eine multikontextuelle Zukunft hinein. Wie weit bestimmen diese Gruppen mit ihrer jeweiligen Zukunft das, was sie von Jesus wahrnehmen, und das, was sie als seine Vergangenheit aufnehmen und beschreiben? Die Frage nach dem historischen Jesus muss also nicht nur vorsichtig zu kontrollieren suchen, was wir von unseren heutigen eigenen Wünschen, Erwartungen, moralischen Nöten und religiösen Bedürfnissen und Trends in Jesu Leben hineinprojizieren. Sie muss nicht nur unsere Zeitsysteme distinkt halten von seiner Zeit und Welt. Sie muss auch seine Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, das heißt, sein Wirken, seine Lehre und seine Verheißungen von den Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsorientierungen seiner großen Zeugen Paulus, Markus, Lukas, Matthäus, Johannes und den übrigen neutestamentlichen Schriften zu unterscheiden suchen. Wenn wir nach einfachen, schnellen, gar mathematisch sicheren Antworten suchen, können wir nur verzweifelt sagen: „Niemand ist mehr in der Lage, ein Leben Jesu zu schreiben.“ Wenn wir uns dagegen der vierfachen multikontextuellen Komplexität stellen, wird aus dem scheinbar unlösbaren Problem eine hochinteressante, fruchtbare Herausforderung: Die verschiedenen
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biblischen Zeugen greifen auf sich überlappende, aber doch auch deutlich unterschiedene Traditionen der alttestamentlichen Überlieferungen und Verheißungen zurück. Diese für Jesu Wirken und Verkündigen relevanten Profile muss eine zukünftige Leben-Jesu-Forschung herauszuarbeiten versuchen. Dabei muss sie die intendierten Adressaten der neutestamentlichen Autoren, also ihre unmittelbaren Zukunftshorizonte, immer klarer zu bestimmen suchen (wobei die archäologische Forschung helfen kann). Davon zu unterscheiden sind die Kontexte, in denen Jesus lebte und wirkte. Es handelt sich um mehrere, aber nicht unendlich viele Kontexte. Die vierte Frage nach dem historischen Jesus muss ein immer klareres Bild des multikontextuellen Lebens und Wirkens Jesu zu gewinnen suchen. Sie muss Reduktionen wie die von Crossan oder Vermes kritisch würdigen, denn ihren Jesusbildern kommt als Teilaspekt für Jesu Wirken in Galiläa durchaus hohe Wahrscheinlichkeit zu. Dabei muss sie allerdings für die Gefahr vereinseitigender Reduktionen sensibilisieren. Doch alle theologische, exegetische und historische Begeisterung, die die vierte Frage nach dem historischen Jesus auslösen könnte, muss mit der gewichtigen kritischen Rückfrage rechnen: Ist die Frage nach dem historischen Jesus nicht etwas für theologische Spezialistinnen und Spezialisten, für eine hochgezüchtete akademische und also kopflastige Theologie? Zwei Antworten sind darauf zu geben: Erstens: Das theologisch forschende Fragen nach dem historischen Jesus war immer eine akademisch-theologische Angelegenheit und wird immer ein Feld für gut ausgebildete, historisch und exegetisch interessierte und gebildete Menschen sein. Doch die zu einer Zeit am besten bewährten Ergebnisse, der Stand der Forschung, können weiten Kreisen von historisch und geistlich aufgeschlossenen Menschen vermittelt werden. Schon die bleibenden Differenzierungsgewinne der „ersten Frage nach dem historischen Jesus“ (vgl. Teil 1.2) heben sich wohltätig von den romanhaften Jesusbüchern ab. Die Skepsis der „zweiten Frage“ hatte eine reinigende Wirkung, hat aber damit eben auch die Selbstsäkularisierung der westlichen Welt mitbefördert (vgl. Teil 0.5 und 0.6). Die „dritte Frage“ nach dem historischen Jesus steht noch in der Gefahr, in einseitige historische Kontextualisierungen, dogmatische Vereinnahmungen durch die „Hohe Christologie“ und sozial- und religionsgeschichtliche Reduktionen auf bestimmte Jesusbilder auseinanderzufallen. Der Vorschlag, eine „vierte Frage“ nach dem historischen Jesus zu kultivieren, will die Komplexität der Anliegen der dritten Frage wahren und ihre verschiedenen Erkenntnisinteressen zu verbinden suchen. Dies wird zu Ergebnissen führen, die – wie die Ergebnisse der „dritten Frage“ – auch Menschen über die Wissenschaft hinaus innerhalb und außerhalb der Kirchen zugänglich gemacht werden können. Dafür sind seriöse Verlage und ihre Veröffentlichungen, Lehrerinnen und Lehrer,
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Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch die Bildung und Fortbildung an Hochschulen und Akademien verantwortlich. Zweitens: Der exakt forschende, mühevoll historisch-kritisch rekonstruierende Rückbezug auf den historischen Jesus ist nicht der einzige Zugang zu Jesus Christus im Raum von Wissenschaft und Kirche. Er ist wichtig, ja unverzichtbar, wenn sich der Glaube nicht mit Jesusphantasien und frei konstruierten Christusbildern begnügen oder von ihnen betrügen lassen will. Die Frage nach dem historischen Jesus erschöpft aber bei weitem nicht die angemessene Hinwendung zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus.
1.5 Alttestamentliche Christologie? Messianische Erinnerungsräume und Erwartungshorizonte (Hengstenberg, Vischer, Cazelles, Gese) Die neutestamentlichen Überlieferungen sehen Jesus in vielfältigen Beziehungen und Kontrasten zu Gestalten des Alten Testaments: zu Adam1, zu Abraham2 und zu Mose und Elia3, aber auch zu Jona4, zum König Salomo5 und zu David und seinem Hause6. Sie assoziieren ihn mit der Rolle des Königs7 und sprechen in vielfältiger Weise von seinem „Reich“8. Sie verbinden ihn mit der Rolle des Propheten, der Gottes Wort und die Wahrheit verkündet, aber auch Ungerechtigkeit, Lüge, Heillosigkeit und Verlorenheit offenbart.9 Als Priester und Hohepriester wird er wahrgenommen, der dazu beiträgt, den Kontakt zwischen den Menschen und Gott, zwischen Gott und den Menschen auch durch menschliche Schuld und Sünde hindurch zu ermöglichen.10 1 2 3 4 5
1Kor 15,22.45ff. Mt 1,1; Joh 8,56ff; Gal 3,14.16.29. Mk 9,4ff; Mt 17,3ff; Lk 9,30ff; Joh 1,17; 5,46. Mt 12,40f; Lk 11,29.32. Mt 12,42; Lk 11,31; siehe auch Manfred Oeming, Salomo-Christologie im Neuen Testament, in: Günter Thomas u. Andreas Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, FS Michael Welker, Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig, 2007, 5776 (Buch zit.: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus). 6 Röm 1,1-4; Mk 10,46ff; 12,36f; Mt 15,22; 20,30f; 21,9.15; 22,43ff; Lk 18,38f; 20,41ff. 7 Mt 21,4-5; 27,11ff; Mk 15,2ff.32; Lk 1,33; 2,11; 19,38; 23,2f.37f; Joh 12,13ff; 18,33ff; 19,12ff; 1Tim 6,14f. Siehe dazu Patrick D. Miller, „The King of Jews”, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 3-18 (siehe 0.1, Anm. 7); Donald Juel, Messianic Exegesis: Christological Interpretation of the Old Testament in Early Christianity, Philadelphia: Fortress, 1992 (Paperback), 59ff. 8 Siehe dazu Teil 4.2-4.4. 9 Mt 13,57; 21,11; Mk 6,4.15; Lk 4,24; 17,16; 13,33; 21,19; Joh 4,19.44; 6,14; 7,40; 9,17. Siehe dazu ausführlich Teil 5.5 u. 5.6. 10 Hebr 2,17; 5,10; 6,20, 7,26; 8,3; 9,11; siehe William R. G. Loader, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des
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Jesus wird Messias genannt11, der Gesalbte, und damit in den Traditionen der gesalbten Könige, Priester und Propheten des Alten Testaments verortet.12 Als Messias wird er aber auch in der Rolle des erwählten Knechts Gottes gesehen, der zu stellvertretendem Leiden, zu Ohnmacht und Schmerz bestimmt ist.13 Dabei ruht auf ihm der Geist Gottes14, den er auf seine Zeuginnen und Zeugen ausgießen wird.15 Mit der bei den Synoptikern und Johannes häufigen Rede vom „Menschensohn“ – vielleicht der einzige „Hoheitstitel“, den der historische Jesus auf sich selbst bezog16 – können die neutestamentlichen Zeugnisse einerseits seine Niedrigkeit, andererseits (an die Vorstellungswelt von Dan 7,13 anschließend) seine himmlische Herrlichkeit zum Ausdruck bringen. Alttestamentliche Vorstellungen vom „Sohn Gottes“, des „zur Rechten“ Gottes Thronenden, des Schöpfungsmittlers und Weltenrichters werden auf ihn übertragen. Damit sind zunächst nur Bezüge auf bedeutende Gestalten und eindrucksvolle Rollen und Rollenerwartungen benannt. Viele weitere – kompliziertere und subtilere – Verweisungszusammenhänge wären in den verschiedenen Kontexten und in Bezug auf einzelne Inhalte und Themen freizulegen. Bedeutet diese äußerst dichte Vernetzung der neutestamentlichen Rede von Jesus Christus mit alttestamentlichen Vorstellungen, Bildern und Verheißungen, dass wir eine „Christologie des Alten Testaments“ (etwa als dritte der vier Multikontextualitäten, vgl. Teil 1.4) freilegen sollten? Ernst Wilhelm Hengstenberg, einflussreicher Vertreter des norddeutschen Konfessionalismus im 19. Jahrhundert, hat das behauptet und eine groß angelegte Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen der Propheten veröffentlicht.17 Auf Hunderten von Seiten geht Hengstenberg, studierter Orientalist, Philosoph und Theologe, der schon mit 21 Jahren in Basel Arabisch unterrichtet und mit 22 Jahren eine Übersetzung der MetaHebräerbriefes, WMANT 53, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1981, 142ff. Siehe dazu Teil 5.3 u. 5.4. 11 Mk 8, 29; 9,41; 10,46ff; 11,10; 14,61; 15,26; Mt 1,16; 11,20; 16,16.20; 23,10; Lk 4,41; 9,20; 24,26; Joh 1,41; 4,25; 7,41f; 10,24.27; 20,31; Apg 2,26; 3,18-20; 9,22; 17,3; 18,5.28. 12 Vgl. Calvin, Institutio, 308 (II, 15) (siehe 0.5, Anm. 13); Mysterium Salutis 3/1: Das Christusereignis, hg. Johannes Feiner u. Magnus Löhrer, Einsiedeln u. a.: Benziger, 1970, 105ff. Siehe auch Teil 4.1. 13 Lk 24,46; Apg 3,18; 17,3. 14 Mt 12,18-21 im Anschluss an Jes 42,1-4; Lk 4,18-19 nach Jes 61,1-2. 15 Lk 3,16; Apg 2,33. 16 Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus, 470ff (siehe 1.1, Anm. 5); siehe auch die Beiträge in Rudolf Pesch u. Rudolf Schnackenburg (Hg.), Jesus und der Menschensohn, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1975, bes. 11ff, 166ff, 240ff. 17 Berlin: Ludwig Oehmigke, 3 Bde., 1829-1835. 1850 erscheint aus katholischer Feder das Buch von Johannes Bade, Christologie des Alten Testaments oder die messianischen Verheißungen, Weissagungen und Typen mit besonderer Berücksichtigung ihres organischen Zusammenhangs, Münster: J. H. Deiters.
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physik des Aristoteles veröffentlicht, das gesamte Alte Testament durch, um zu zeigen: Dieses Buch ist voller messianischer Weissagungen, die direkt auf Jesus Christus zielen. Hengstenberg stellt sich als glühender Verteidiger der Offenbarungskraft des Alten Testaments dar: „Wer Christo und den Aposteln wahrhaft glaubt, muss auch die Göttlichkeit des Alten Bundes anerkennen, für welche sie so bestimmt und klar zeugen.“18 Doch Hengstenbergs Anliegen gilt weder einer klaren Offenbarungserkenntnis, noch dient es ernsthaft einer Christologie. Emanuel Hirsch hat treffend erkannt, dass es letztlich ein radikaler Biblizismus ist, der Hengstenberg zu seiner Herkulesarbeit motiviert: Bei den Biblizisten gründet „der christliche Glaube … sich auf die Bibel als Ganzes. Wer die geringste alttestamentliche Stelle antastet, tastet Christus an.“19 Hengstenberg betont, dass die theokratischen Vorstellungen Israels in Gefahr standen, „in einen beschränkten Particularismus zu gerathen“20, also nur auf Israel beschränkt zu bleiben. Der Messias musste nach Hengstenberg deshalb die Allmacht Gottes betonen und Gott als den Herrn aller Völker der Erde propagieren. Er musste aber auch dem Volk in einer aussichtslos erscheinenden Situation den Zweifel an der göttlichen Führung nehmen. Der Hauptzweck des Alten Testaments ist nach Hengstenberg deshalb die Vorbereitung auf Christus und die Christuserkenntnis. Die durch und durch unfehlbare Bibel verkündet in beiden Testamenten die Allmacht Gottes und seine Offenbarung im Messias Jesus Christus. Während Hengstenberg in der europäischen Theologie heute allenfalls noch theologiegeschichtlich und als ebenso exemplarischer wie problematischer Konfessionalist und Biblizist gegenwärtig ist, erfreut sich seine Christologie des Alten Testaments im englischsprachigen Raum, vor allem in den USA, offensichtlich großer Beliebtheit. Viele Ausgaben werden angeboten; in jüngster Zeit erscheinen fast jährlich neue Editionen.21 Eine „Christologie des Alten Testaments“, verfasst aus biblizistischer Perspektive, stellt allerdings eine Gefahrenquelle dar. Statt einzelne Verheißungen des Kommens und der Offenbarung des Messias in den verschiedenen Kontexten freizulegen, liest sie in einem die historischen Bedingungen ignorierenden, systematisierenden Konstrukt die Christusoffenbarung in die verschiedensten Kontexte hinein. 18 19
Hengstenberg, Christologie des Alten Testaments, Bd. 1, 22. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, Gütersloh: Gütersloher, 5. Aufl. 1975, 126f (hervorgehoben), vgl. 118ff; vgl. auch Claude Welch, Protestant Thought in the Nineteenth Century, Bd. 1, 1799-1870, New Haven u. London: Yale Univ. Press, 1972, 194-198. 20 Hengstenberg, Christologie des Alten Testaments, Bd. 1, 16 (siehe 1.5, Anm. 17). 21 Ernst Wilhelm Hengstenberg, Christology of the Old Testament, and a Commentary on the Messianic Predictions, 2 Bde., Benediction Classics, 2011.
1.5 Alttestamentliche Christologie?
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Sie wird damit triumphalistisch-ideologisch und – zumindest tendenziell – antisemitisch.22 Durchaus von antiideologischen Interessen geprägt ist demgegenüber das während der Diktatur des Nationalsozialismus verfasste und veröffentlichte zweibändige Werk von Wilhelm Vischer, Das Christuszeugnis des Alten Testaments.23 Vischer will keine „Christologie“ des Alten Testaments propagieren, möchte aber zeigen, dass in den alttestamentlichen Überlieferungen an vielen Stellen Antizipationen des Christuszeugnisses aufscheinen, so dass beide Testamente aus christlicher Sicht als eine Einheit anzusehen sind. Dennoch ist die Grundaussage von Vischer ambivalent. Einerseits hält er in unguter Weise totalitotalisierend fest: „Die Apostel wollen also mit der Verkündigung des Messias Jesus in keiner Weise etwas anderes verkündigen als was im Alten Testament steht.“ Andererseits räumt er ein: „Ebenso wenig wollen sie ,das Leben Jesu‘ aus dem Alten Testament christlich deuten und noch weniger die Verkörperung einer ,Christusidee‘ behaupten.“24 Die Bände bleiben Zitatcollage und Fragment. Christologie des Alten Testaments, lautet der Untertitel des Buchs von Henri Cazelles, Le Messie de la Bible.25 Doch weder Titel noch Untertitel entsprechen dem, was Cazelles darstellen möchte. Es geht ihm vielmehr um eine Verbindung von historischen Untersuchungen und systematischen Überlegungen zum „doppelten Ausgang“ eines tausendjährigen biblischen Kompositionsprozesses, den er sowohl in die Thora als auch in die Person Jesus Christus münden sieht.26 Im 22 Auch die Darstellung von Notker Füglister, Alttestamentliche Grundlagen der neutestamentlichen Christologie, in: Mysterium Salutis 3/1, 105ff (siehe 1.5, Anm. 12), sieht das Alte Testament als eine „Geschichte des Scheiterns“ und in einer Aporie endend und meint empfehlen zu müssen: „Diesen negativen Aspekt des AT herauszuarbeiten und festzuhalten, darf auf keinen Fall vernachlässigt werden. Denn nur so, auf diesen dunklen Hintergrund gestellt, erhellt das Eigentliche des NT, seiner Soteriologie und Christologie. Wird doch hier die Überwindung des Scheiterns und die Durchbrechung der Aporie behauptet“ (ebd., 223). Eine erbärmliche Religiosität bedient sich zu ihrer eigenen Stabilisierung des Alten Testaments als negativer Kontrastfolie. 23 Bd. 1: Das Gesetz (1934), München: Kaiser, 3. Aufl. 1936; Bd. 2/1: Die früheren Propheten (1942), Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag, 2. Aufl. 1946. 24 Vischer, Christuszeugnis, Bd. 1, 12 u. 12f; eine ähnlich ambivalente Position bezieht in homiletischer Absicht Sidney Greidanus, Preaching Christ from the Old Testament: A Contemporary Hermeneutical Method, Grand Rapids u. Cambridge/ UK: Eerdmans, 1999, bes. 46ff. 25 Christologie de l’Ancient Testament, Paris: Desclée, 1978; dt.: Alttestamentliche Christologie. Zur Geschichte der Messiasidee, Theologia Romanica XIII, Einsiedeln: Johannes Verlag, 1983. 26 Siehe dazu Bernd Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischen Theologie, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit, Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, 249284; ders., Die kontrastive Einheit der Schrift. Zur Hermeneutik des biblischen Kanons, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 77-93 (siehe 1.5,
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Anschluss an Gershom Scholem27 untersucht Cazelles die biblischen Überlieferungen mit der Fragestellung, wie Messiaserwartungen aufkommen konnten und wie sie enttäuscht wurden. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 sei der Messianismus endgültig zu einem Ende gelangt, und dies sei die Zeit gewesen, in der die Erscheinungen des Auferstandenen vor den Jüngern, die in Jesus von Nazareth den davidischen eschatologischen Messias erkannten, in eine breitere Öffentlichkeit gelangten. Dieser Messias ist König und Priester eines Gottesvolkes, das seinerseits ein Königreich von Priestern darstellt: Aber sein Reich, das zwar in dieser Welt ist, ist nicht von dieser Welt. Der Messias Jesus beläßt den weltlichen Obrigkeiten ihr Amt, während er seinen Geist der Gemeinde gibt, die in Osmose mit allen Nationen lebt, unter denen schon die jüdische Gemeinde nach dem Ende der davidischen Monarchie und ihres königlichen Messianismus gelebt hatte.28
Nicht eine alttestamentliche Christologie, wohl aber eine Sequenz von Messiasverheißungen und Messiaserwartungen wird hier nachgezeichnet. Konzentriert und nuanciert zugleich hat Hartmut Gese es gewagt, große Linien einer „Offenbarungsgeschichte“ zu ziehen, die in seiner Sicht die alttestamentlichen Überlieferungen verbindet und in der die Messianologie den leitenden Gesichtspunkt bietet.29 Er sieht in den biblischen Überlieferungen eine Entwicklung zu immer klarerer Erkenntnis von Gottes Offenbarungswillen: Mit dem davidischen Königtum und der großstaatlichen Existenz keimt die Gottessohnvorstellung auf. Die „davidische Königsherrschaft vom Zion war das Vikariat des Anm. 5); zur Differenz von jüdischem und christlichem Messianismus siehe Seán Freyne, Die frühchristlichen und jüdischen Vorstellungen vom Messias, Concilium 29 (1993), 25-32; Jacob Neusner, Wann wurde das Judentum eine messianische Religion?, ebd., 33-41. 27 The Messianic Idea in Judaism and Other Essays On Jewish Spirituality, New York: Schocken, 1978. 28 Cazelles, Alttestamentliche Christologie, 189 (siehe 1.5, Anm. 25). Siehe auch die Beiträge in Ursula Struppe (Hg.), Studien zum Messiasbild im Alten Testament, Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 6, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 1989. Siehe ebenfalls die kreativen Überlegungen Friedrich-Wilhelm Marquardts, dass die Überlieferungen des Alten Testaments wesentlich dazu beitragen, den Auferstehungshoffnungen, die sich mit Jesus Christus verbinden, Gestalt geben: „Wie der auferstandene Jesus für seine Zeugen die Schrift öffnete und die Erinnerung der Geschichte des jüdischen Volkes erweckte, so erweckt die Schrift umgekehrt neues Leben Jesu“ (Friedrich Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd. 1, München: Kaiser, 1990, 165, vgl. 165ff.). 29 Hartmut Gese, Der Messias, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, BEvTh 78, München: Kaiser, 1977, 128-151. Die Seitenzahlen im folgenden Text (in Klammern) beziehen sich auf diesen Aufsatz. Siehe auch John P. Meier, From Elijah-like Prophet to Royal Davidic Messiah, in: Donelly, Jesus: A Colloquium, 45-83 (zum Buch siehe 1.3, Anm. 11).
1.5 Alttestamentliche Christologie?
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Königtums Gottes“ (130). In diesem König und an diesem Ort „nähert sich Gott gleichsam der Welt“ (131). Die Verwendung der SohnGottes-Formel teilt Israel mit fast allen Formen sakralen Königtums. Die göttliche Erwählung des Zion, die Erwählung Davids und Salomons (Ps 89,27f; 2Sam 7,14) werden mit ihr verbunden, der davidische Thron wird „Thron Jahwes“ (1Chr 28,5; 29,23) genannt. In den verschiedensten Kontexten wird dieser Ehrentitel auf Israel übertragen (z. B. Ex 4,22; Dtn 1,31; 32,6.18f; Jes 63,16; Jer 31,9; Hos 11,1; vgl. 132), und im Neuen Testament werde, so Gese, die Einsetzung und Inthronisation „dem Sohn“ Jesus Christus zugesprochen (z. B. Röm 1,3f; Mk 1,11 par.; Mk 9,7 par; Mk 15,3930; Mt 11,27; Lk 1,32f). Mit dem Zusammenbruch der davidischen Macht unter Assur im 8. Jahrhundert v. Chr. verändert sich das messianische Bild. Gott hat das Davidhaus verworfen, der Immanuel wird erst geboren werden (Jes 7,10ff; Mi 5,1.3), und zwar in „Betlehem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas“. Gese kommentiert: Man könnte versuchen, den Unterschied von König und Messias an der Verheißung Jes 9,5f abzulesen, besonders an dem vierfachen messianischen Thronnamen, der auch die Gestalt Davids überstrahlt, Wunderrat-Gottheld-Ewigvater-Friedefürst (133).
Der Messias wächst gleichsam über den König hinaus. In der späteren nachexilischen Zeit sieht Gese noch einmal „eine wesentliche Vertiefung der messianischen Vorstellung“ aufkommen, indem einerseits eine „eschatologische Rückkehr Gottes auf den Zion“ (Sach 9,9f; Jes 12,6; Zef 3,14f; Sach 2,14) ins Auge gefasst wird (135) und sich andererseits eine universalisierte Hoffnung auf einen demütig auf einem Esel reitenden Friedenskönig richtet (vgl. Sach 9,9-10 mit 1Kön 1,38). In der Ptolemäischen Zeit des 3. Jahrhunderts nimmt der Messias dann Märtyrergestalt an, und es wird „ein gewisser Endpunkt in der Entwicklung des rein davidisch konzipierten Messias, des Gottessohnes, erreicht“ (138). Im 2. und 1. Jahrhundert kommt die Menschensohnapokalyptik auf.31 Die Gestalt des Menschensohnes oszilliert zwischen einer menschlichen Gestalt und einer Engelgestalt. Der Menschensohn wird zum königlichen Weltherrscher über ein endzeitliches, wahrhaft ewiges Reich eingesetzt, und es kommt zu einer, wie Gese formuliert, „paradoxen Zugehörigkeit des Menschen zum 30 Zur Christologie des Markus siehe Donald H. Juel, A Master of Surprise: Mark Interpreted, Minneapolis: Fortress, 1994, bes. 33ff u. 91ff. 31 Dan 7,15ff; vgl. äthHen 37-71 u. 4Esr 13. Siehe dazu Theißen/Merz, Der historische Jesus, 472-480 (siehe 1.1, Anm. 5); Douglas R. A. Hare, The Son of Man Tradition, Minneapolis: Fortress, 1990, bes. 213ff; Volker Hampel, Menschensohn und historischer Jesus. Ein Rätselwort als Schlüssel zum messianischen Selbstverständnis Jesu, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1990, bes. 27ff.
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himmlischen Raum“ (140). Er sieht in dieser Gestalt davidische durch mosaisch-prophetische Traditionen erweitert (Ez; Dan 8,17; aber auch Ex 24,18), die zudem mit Weisheitstheologie (Ijob 28,23ff; Spr 8,30; Sir 24,1-22; Weish 7,22ff; 9,10.17) verbunden werden.32 Gese summiert: Die Menschensohnüberlieferung ist eine Transformation des davidischen Messianismus. Sie steht nicht neben der herkömmlichen davidischen Messiasauffassung, sondern umgreift sie, indem sie den königlichen und priesterlichen davidischen Messias mit der mosaisch-prophetischen Offenbarergestalt verbindet und den allgemein menschlichen Mittler der Offenbarung Gottes als Offenbarung an den Menschen erkennt (145).
Er sieht diese Traditionen in die neutestamentlichen Überlieferungen einmünden und betont, dass nicht „Additionen“ aus verschiedenen Vorstellungswelten, sondern „Transformationen“ der „messianologischen Traditionen“ in der neutestamentlichen Christologie vorliegen, für die „das Alte Testament die überlieferungsgeschichtlichen und offenbarungsgeschichtlichen Voraussetzungen“ biete (150). Otfried Hofius und Peter Stuhlmacher33 haben eine Auseinandersetzung geführt, die für die weitere Erforschung der Bezüge zwischen den ersten drei multikontextuellen Ebenen (siehe Teil 1.4) hilfreich ist. Stuhlmacher sieht in den Evangelien bereits den irdischen Jesus als Messias bezeichnet (Joh 1,41; 4,25), zugleich aber dargelegt, „daß es sich bei Jesus von Nazareth nicht einfach nur um einen von Gott erwählten Menschen aus der Sippe Davids, sondern um den Israel in Jes 7,14 verheißenen Immanuel (Lk 1,35; 2,6; Mt 1,21-23), den präexistenten und fleischgewordenen Sohn Gottes handelt (Mk 1,1-2; Joh 1,1-18).“34 Obwohl die neutestamentlichen Überlieferungen diese Differenz durchaus wahrnehmen, halten sie „trotzdem daran fest, daß Jesus der in 2Sam 7,14; Ps 2,7 und 89,28 verheißene“ Christus ist „(vgl. Röm 5,6-8 mit Röm 1,2-4; 9,5; 15,8-12 und Hebr 1,1-2).“35 Die Multikontextualität der alttestamentlichen Überlieferungen wird demnach im Blick auf die Messiaserwartungen verschmolzen. – Hofius will demgegenüber einen „engere(n) Gebrauch“ des Begriffs „Messias“, der 32 Dazu Gese, Die Weisheit, der Menschensohn (siehe 1.3, Anm. 13); ders., Die Offenbarung des Gottesreiches und die Erscheinung des Messias. Die Heilserwartung im Alten Testament, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Weihnachten neu überlegt, Herrenalber Texte 14, 1979, 18-32; Gerhard von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1970, 189ff. 33 Otfried Hofius, Ist Jesus der Messias? Thesen, 103-129; Peter Stuhlmacher, Der messianische Gottesknecht, 131-154; beide in: Jahrbuch für Biblische Theologie 8 (1993): Der Messias, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. 34 Stuhlmacher, Der messianische Gottesknecht, 138; ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen: Vandenhoeck, 1992, 107ff, 156ff. 35 Stuhlmacher, Der messianische Gottesknecht, 154.
1.5 Alttestamentliche Christologie?
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sich auf „den eschatologischen Heilskönig Israels“ bezieht, von einem „weitere(n) Gebrauch“ unterschieden wissen, der „endzeitliche Retterbzw. Erlösergestalten ganz unterschiedlicher Art“ ins Auge fasst.36 Er will – wie wir sagen würden – die (dritte) Multikontextualität der alttestamentlichen Überlieferungen historisch respektieren und sieht demgegenüber in den neutestamentlichen Zeugnissen einen „völlig neue(n) ‚Messias‘-Begriff geschaffen, der sich von der Königs-Messianologie, wie sie in alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen dokumentiert ist, in qualitativer Hinsicht fundamental unterscheidet.“37 Dieser von Jesu Kreuz und Auferstehung her zu entfaltende Messias-Begriff wird von den neutestamentlichen Autoren „im Lichte ihrer jeweiligen Christologie“ interpretiert.38 Auch die (zweite) Multikontextualität der neutestamentlichen Überlieferungen muss also respektiert werden, die sich im Blick auf den bestimmten historischen Kontext der Kreuzigung (dazu besonders Teil 3.3) und die verschiedenen Auferstehungszeugnisse (vgl. Teil 2.3) entfaltet. Die damit markierten Differenzen in der Beurteilung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen den verschiedenen Traditionen werden sich im Gegeneinander von weiträumigen Perspektiven kaum befriedigend mit dem Anspruch auf historisch gediegene Forschung bearbeiten lassen. Mehr oder weniger überzeugende kirchenpolitische und zeitkritische Anliegen (Hengstenberg, Vischer) oder systematischtheologische Erkenntnisinteressen (Cazelles, Gese, Stuhlmacher) verbinden sich jeweils mit exegetisch und historisch dargestellter Forschung. Das riesige Wegenetz zwischen der ersten und zweiten Multikontextualität einerseits und der dritten (der Erinnerungs- und Erwartungsräume der alttestamentlichen Überlieferungen) andererseits ist noch weitgehend dunkel und umstritten. Ein mutiger und eindrücklicher Entwurf messianismus-theologischer Entwicklungslinien wie der Hartmut Geses trägt deutlich systematisch-theologische Züge. Exegeten, die dezidiert historisch arbeiten wollen, werden, wie Hofius, sich dem Entwurf „großer Linien“ widersetzen. Wie kann eine historisch und biblisch orientierte Christologie mit dieser schwierigen Situation umgehen? Sie muss einerseits die Übergänge von historischen zu systematischen Fragestellungen im Blick auf die zentralen Inhalte der Christologie ins Auge fassen. In den beiden folgenden Teilen werden wir versuchen, dies anhand der zentralen Themen von Auferstehung und Kreuz Jesu Christi zu tun. Die Auferstehungszeugnisse beziehen sich auf Jesu Christi Leben in Kontinuität und Diskontinuität zu seinem vorösterlichen Dasein. Sie bieten eine „Aufhebung“ im Doppelsinn Hegels von „Aufbewahrung“ und „Relativierung, Überschreitung“. Die Zeugnisse von der Kreuzigung sind in 36 37 38
Hofius, Ist Jesus der Messias?, 103 (siehe 1.5, Anm. 33). Hofius, Ist Jesus der Messias?, 128. Hofius, Ist Jesus der Messias?, 124, vgl. 122ff.
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vielen Christologien in hohem Maße systematisiert, wenn nicht mystifiziert worden. Wie wir zu zeigen versuchen, ist gerade die genauere Wahrnehmung des Prozesses Jesu und seines Weges zum Kreuz39 wichtig, wenn wir die differenzierte „Botschaft des Kreuzes“ angemessen hören und wirken lassen wollen. Wie aber beziehen wir im Anschluss daran die neutestamentlichen Christuszeugnisse in angemessener Weise auf die Traditionen des Alten Testaments? In der gegenwärtigen Forschungssituation scheint es mir sinnvoll zu sein, einerseits die großen Angebote von historischer und systematischer Synthese aufmerksam im Blick zu behalten (Gese) und die weitere exegetische und historische Arbeit an spezifischen kanonischen Kontextvernetzungen zu verfolgen. Andererseits bietet sich ein lange in klassischen Christologien und auch ökumenisch bewährter, bewusst systematisch-theologischer Anschluss an. Die „Lehre vom dreifachen Amt Christi“, dem königlichen, priesterlichen und prophetischen Amt, ermöglicht eine (begrenzte) Fülle von Traditionsanschlüssen an die alttestamentlichen Überlieferungen (siehe Teil 4.1). Sie ist bescheidener und fragmentarischer als die große Linie der „König-Sohn GottesMessias-Menschensohn“-Traditionen. Sie bietet aber, wie wir sehen werden, aufschlussreiche Anschlüsse an das Leben Jesu in seinem vorösterlichen Wirken, seinem Kreuz und seiner Auferstehung. Sie ist so etwas wie eine strukturierte Platzhaltung für eine Fülle von historischen und systematischen Bezügen, mit denen christologische Lehrbildung auf dem Weg der Erkenntnis- und Wahrheitssuche konfrontiert bleiben wird. Die Einsicht, dass Jesus Christus die Ausübung seiner „Ämter“ mit der Ausgießung des Geistes Gottes verbindet, dass also seine Zeuginnen und Zeugen an seinem Leben und Wirken Anteil erhalten, wird die Weite seines Reiches erkennen lassen. Damit werden zumindest Teilbereiche der Dimensionen erschlossen, auf die die Rede vom „Menschensohn“ zu verweisen sucht (vgl. Teil 4.4; 5.3-5.6).
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Hier vorbildgebend Moltmann, Der gekreuzigte Gott, bes. Kap. 4 (siehe 0.1, Anm. 6).
Teil 2 Die Auferstehung
2.1 Der Streit um die Wirklichkeit der Auferstehung: Nur Visionen, nur ein Mythos? (Strauß, Bultmann, Lüdemann) Kaum ein Thema des christlichen Glaubens erregt die Gemüter so stark wie das der Auferstehung. „Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos“, sagt Paulus (1Kor 15,14). Denn ohne den Glauben an die Auferstehung kann das Kreuz Christi nicht als Heilsereignis verstanden werden. Ohne die Auferstehung fällt der Glaube in jeder Richtung in sich zusammen. Dass Jesus Christus „nicht nur war, sondern auch ist“,1 dass er nicht nur „ist“, sondern auch in der Kraft seines schöpferischen Geistes gegenwärtig ist, das hängt an der Auferstehung. Das Bekenntnis des Glaubens, dass der gegenwärtige Jesus Christus nicht nur Menschen durch sein Leben und seine Botschaft berührt, sondern ihr Leben in sein Leben hineinnimmt – das erst macht den Glauben an ihn zur „frohen Botschaft“, zur Heilsbotschaft. Doch für den gesunden Menschenverstand ist kaum ein Thema so schwer nachvollziehbar wie gerade das der Auferstehung. In zweifacher Hinsicht hat die Leben-Jesu-Forschung bei diesem Problem mit dem gesunden Menschenverstand Frieden zu schließen versucht. Sie hat behauptet, die Auferstehung sei eine bloße Vision der Jünger Jesu gewesen, und sie hat vermutet, die Anhänger Jesu hätten mit der Rede von der Auferstehung einen Mythos geschaffen. Der klassische Vertreter dieser Positionen war im 19. Jahrhundert David Friedrich Strauß. Im 20. Jahrhundert hat sich Rudolf Bultmann mit seinem Entmythologisierungsprogramm darum bemüht, das sogenannte „moderne Denken“ mit der Botschaft von der Auferstehung zu versöhnen. In neuerer Zeit provozierte der Neutestamentler Gerd Lüdemann die Zeitgenossen mit der These, jede redliche Beschäftigung mit der Auferstehung müsse von der „Tatsache der Verwesung“ Jesu ausgehen und den Glauben an den Auferstandenen als Ergebnis von Visionen verste-
1 „Ob Jesus nur war oder ob er auch ist – das hängt an der Auferstehung.“ Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 267 (siehe 1.3, Anm. 20).
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hen. Alle drei Theologen haben mit ihren Versuchen, die Auferstehung Jesu zu verstehen, einen öffentlichen Skandal ausgelöst. 1835 und 1836 veröffentlicht der Tübinger Stiftsrepetent David Friedrich Strauß sein zweibändiges Werk Das Leben Jesu. Es führt zu einem theologischen Skandal größten Ausmaßes. Der hochbegabte 27-Jährige, der bei Hegel und Schleiermacher in Berlin und bei Ferdinand Christian Baur in Tübingen studiert hat, verliert seine Stelle. Er kann keine akademische Karriere mehr einschlagen, obwohl er sich mit glänzenden historischen Biografien und theologie- und philosophiekritischen Veröffentlichungen einen Namen macht. Sein Buch Das Leben Jesu, das in vielen Auflagen, schließlich in populärer Form „für das deutsche Volk bearbeitet“2, erscheint, erregt landesweit die Gemüter. Aus dem fernen Königsberg berichtet der Philosoph Rosenkranz: Mit Erstaunen habe ich im Kreise meiner beschränkten Erfahrung wahrgenommen, daß preußische Gutsbesitzer einen ganzen Winter konsequent Seite für Seite von Strauß durchgelesen, durchgesprochen haben, ja nachher für ihre abweichenden Ansichten miteinander in Briefwechsel getreten sind. Die Geistlichen sind bei uns oft terroristisch gegen die Straußschen Lehren aufgetreten.3
Um das Ausmaß der Erregung, des Schreckens und der Empörung in Deutschland über dieses Leben Jesu zu verstehen, sind zwei Punkte zu beachten. Erstens mustert Strauß die neutestamentlichen Aussagen über Leben und Wirken Jesu gezielt auf einander widersprechende und voneinander abweichende Darstellungen hin durch. Und da zeigen sich dann von den miteinander unvereinbaren Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas bis hin zu den Auferstehungs- und Himmelfahrtsgeschichten so viele widersprüchliche Ausführungen und Aussagen, dass das Urteil nur lauten kann: Es handelt sich nicht um historische Berichte, sondern, wie Strauß sagt, um „Mythen“, die um eine kaum noch erkennbare Gestalt gerankt sind. Ob Wundererzählungen, Gleichnisse oder Weissagungen – nichts hält seiner Kritik stand. Kapitel für Kapitel kommt er zu dem Fazit: Die Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu ist Erfindung und Erdichtung. Allerdings, so betont Strauß, handelt es sich nicht einfach um eine simple Erdichtung. Wir haben hier „Erzeugnisse des Gemeinbewußtseins eines Volkes oder eines religiösen Kreises“ vor Augen, und diese Erzeugnisse nennt Strauß im Anschluss an eine 2
David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen: Osiander, 2., verbesserte Aufl. 1837 (zit.: Strauss, Das Leben Jesu); ders., Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, 2 Bde., Leipzig: Kröner, 20. Aufl. o. J. (mit Strauss’ Vorrede zur 1. u. 2. Aufl. 1864). Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft bringt bei genügend Subskribenten 2012 einen Nachdruck der Ausgabe von 1835 heraus. 3 Zitiert in: Wolfgang Philipp (Hg.), Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, Klassiker des Protestantismus, Bd. VIII, Bremen: Carl Schünemann, 1965, 166.
2.1 Streit um die Wirklichkeit der Auferstehung
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breite Diskussion seiner Zeit „Mythen“.4 Er spricht von einer „urchristlichen Mythenproduktion“, in der die Mythen wohl von Einzelnen ausgesprochen werden können, in der sie aber Glauben finden, weil der Einzelne damit nur „das Organ der allgemeinen Überzeugung ist“. Viele Mythen entwickeln sich „allgemach und successiv, unter der Einwirkung gar verschiedenartiger, äusserer und innerer Zustände und Ereignisse“5. Die zweite Provokation besteht darin, dass Strauß, nachdem er die natürlich-historischen Grundlagen des christlichen Glaubens als unhaltbar dargestellt hat, seinen Zeitgenossen nahelegt, jede Fixierung auf Jesus Christus – und sei es auf ihn als auf eine mythologische oder spekulative Gestalt – ganz aufzugeben. Denn es sei nicht, wie Strauß in den Schlusspassagen seines Werks formuliert, die „Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen“6. Dass die Christologie an die Person und die Geschichte eines einzelnen Menschen geknüpft erscheint, liege an der begrenzten Denk- und Vorstellungskraft der Zeit Jesu. Im Rahmen dieses Generalangriffs auf Jesusfrömmigkeit und Christologie will Strauß dann auch den Auferstehungsglauben verabschieden. Er betont, dass schon der Philosoph Celsus im zweiten Jahrhundert „die angeblichen Erscheinungen Jesu nach der Auferstehung entweder aus Selbsttäuschung seiner Anhänger, namentlich der Weiber, im Traum oder Wachen, oder was ihm noch wahrscheinlicher war, aus absichtlichem Betrug ableitete“7. Strauß gesteht aber zu, dass die Glaubenskraft und Begeisterung, mit welcher sie (die Jünger) am folgenden Pfingstfest ihn (Jesus) als Messias verkündigten, sich nicht erklären ließe, wenn nicht in der Zwischenzeit etwas ganz ausserordentlich Ermuthigendes vorgefallen wäre, und zwar näher etwas, das sie von der Wiederbelebung des gekreuzigten Jesus überzeugte8.
Dass aber dieses Überzeugende gerade eine wirkliche Erscheinung des Auferstandenen, überhaupt ein äußerer Vorgang gewesen sein müsse, sei damit noch keineswegs bewiesen. Man könne eine im Innern der Jünger auf wunderbare Weise bewirkte Vision annehmen, welche den Zweck gehabt hätte, ihnen nach ihrer Fassungskraft und der Vorstellungsweise ihrer Zeit den Auferstandenen anschaulich zu machen. Strauß kommt zu dem Schluss, dass wir nicht das Faktum der Wieder4 Vgl. Strauss, Das Leben Jesu, Bd. 1, 30ff, seine Überlegungen über historische, philosophische und poetische Mythen im Anschluss an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Johann Philipp Gabler, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, Wilhelm Martin Leberecht De Wette u. a. 5 Strauss, Das Leben Jesu, Bd. 1, 93 u. ö. (siehe 2.1, Anm. 2). 6 Strauss, Das Leben Jesu, Bd. 2, Schlußabhandlung, § 150, 739. 7 Strauss, Das Leben Jesu, Bd. 2, 656. 8 Strauss, Das Leben Jesu, Bd. 2, 656f.
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belebung selbst, aber den Glauben an dieselbe und an vermeintliche Erscheinungen des Auferstandenen anerkennen, zugleich aber alle Einzelheiten der Erzählungen als „sagenhafte Gebilde“ behandeln sollten, eben als die Frucht von Visionen, die sich im Mythos niederschlagen. Am 1. Juni 1941 hält Rudolf Bultmann seinen berühmt-berüchtigten „Entmythologisierungsvortrag“, der eine Jahrzehnte überdauernde erregte theologische Diskussion auslöst.9 Er geht von der These aus, dass das Neue Testament ein mythisches Weltbild vertrete. Danach gilt die Welt als in drei Stockwerke gegliedert – in der Mitte die Erde, über ihr der Himmel und unter ihr die Unterwelt. Die Erde ist einerseits die Stätte des natürlich-alltäglichen Geschehens, andererseits der Schauplatz des Wirkens übernatürlicher Mächte – Gottes und seiner Engel, des Satans und seiner Dämonen. Die Geschichte und das Leben der Menschen sind durch den Eingriff der übernatürlichen Mächte geprägt, und diesem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und des Heilsgeschehens. Jede Zumutung christlicher Verkündigung an den heutigen Menschen, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen, ist nach Bultmann sinnlos und unmöglich. Sie ist sinnlos, weil „das mythische Weltbild ... als solches gar nichts spezifisch Christliches“ sei, sondern „einfach das Weltbild einer vergangenen Zeit, das noch nicht durch wissenschaftliches Denken geformt ist“ (58). Sie ist unmöglich, weil man sich ein Weltbild „nicht durch einen Entschluß aneignen“ könne. Es „ist dem Menschen mit seiner geschichtlichen Situation je schon gegeben“ (58). Weltbilder überkommen uns – heute würden wir sagen: in Paradigmenwechseln – und prägen unsere Weltsicht, ob wir dies wollen oder nicht. Der Versuch, das Weltbild der Zeit Jesu wiederaufleben zu lassen, ist zum Scheitern verurteilt. „Mit dem modernen Denken, wie es uns durch unsere Geschichte überkommen ist, ist die Kritik am neutestamentlichen Weltbild gegeben“ (59). Zu den Inhalten der neutestamentlichen Erzählungen, die „der moderne Mensch“ einfach nicht nachvollziehen kann, gehört nach Bultmann vor allem Jesu Auferstehung. Der moderne Mensch kann beim besten Willen nicht „Jesu Auferstehung als ein Ereignis verstehen, kraft dessen eine Lebensmacht entbunden ist, die sich der Mensch nun durch die Sakramente zueignen kann. … daß die Möglichkeit solchen Lebens dadurch beschafft sei, daß ein Gestorbener wieder zum physischen Le9
Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), in: Hans W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Bd. 1, 1948; auch in: Bertold Klappert (Hg.), Diskussion um Kreuz und Auferstehung. Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung in Theologie und Gemeinde, Wuppertal: Aussaat, 6. Aufl. 1992, 53ff. Die Seitenzahlen dieser Ausgabe werden im Text in Klammern angegeben.
2.1 Streit um die Wirklichkeit der Auferstehung
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ben erweckt wurde, ist ihm unvorstellbar“ (60). Aber nicht nur die Auferstehung als Wiedererweckung zu physischem Leben ist nicht nachzuvollziehen. ... wenn sich der gnostische Gedankengang anbietet, daß der gestorbene und auferstandene Christus eben nicht einfach ein Mensch war, sondern ein Gottmensch, und daß sein Sterben und Auferstehen überhaupt kein auf ihn als individuelle Person isoliertes Faktum, sondern ein kosmisches Geschehen war, in das wir alle hineingezogen sind (Röm. 5,12 ff.; 1. Kor. 15,21 ff. 44b), so kann sich der moderne Mensch überhaupt nur mit Mühe in diese Denkweise zurückversetzen, sie aber jedenfalls nicht für sich nachvollziehen ... (60)
Bultmann will das christliche Seinsverständnis „existenzial-unmythologisch“ interpretieren. Er sieht das „echte Leben“ des Menschen als dasjenige an, „das aus dem Unsichtbaren, Unverfügbaren lebt, das also alle selbstgeschaffene Sicherheit preisgibt. Das eben ist das Leben ‚nach dem Geist‘, das Leben ‚im Glauben‘“ (62). Nach Bultmann ist das wahre Leben im Geist und im Glauben eine „Entweltlichung“, eine Distanznahme zur Welt, die den Glaubenden zum „Herr(n) über alle Dinge“ macht und so in eine eschatologische Existenz hineinnimmt, in der der Glaubende ein neues Geschöpf ist: „Das Weltgericht ist nicht ein bevorstehendes kosmisches Ereignis, sondern ist die Tatsache, daß Jesus in die Welt gekommen ist und zum Glauben gerufen hat ... Wer glaubt, der hat schon das Leben, der ist vom Tode zum Leben hinübergeschritten“ (63). Bultmann ist, wie schon David Friedrich Strauß, davon überzeugt, dass „das Neue Testament das Christusgeschehen als ein mythisches Geschehen vorstellt“. Allerdings seien Historisches und Mythisches ... hier eigentümlich verschlungen; der historische Jesus, dessen Vater und Mutter man kennt (Joh. 6, 42), soll zugleich der präexistente Gottessohn sein, und neben dem historischen Ereignis des Kreuzes steht die Auferstehung, die kein geschichtliches Ereignis ist (65).
Wie haben wir dieses Ineinander zu verstehen? Er formuliert seinen Lösungsvorschlag in Form der Frage, ob die mythologische Rede nicht einfach den Sinn hat, die Bedeutsamkeit der historischen Gestalt Jesu und seiner Geschichte, nämlich ihre Bedeutung als Heilsgestalt und Heilsgeschehen zum Ausdruck zu bringen. Darin hätte sie ihren Sinn, und ihr objektivierender Vorstellungsgehalt wäre preiszugeben (65).
Welchen Sinn hat dann noch die Rede von der Auferstehung? Bultmanns Antwort, wieder in Frageform, lautet: Ein historisches Ereignis … ist sie (die Auferstehung) ja jedenfalls nicht. Kann die Rede von der Auferstehung Christi etwas anderes sein als der Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes? Besagt sie etwas anderes als eben dieses, daß der Kreu-
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Die Auferstehung
zestod Jesu nicht als ein menschliches Sterben ins Auge gefaßt werden soll, sondern als das befreiende Gericht Gottes über die Welt, das Gericht Gottes, das als solches den Tod entmächtigt? (68)
Die Auferstehung ist, wie Bultmann wieder und wieder betont, nicht ein „beglaubigendes Mirakel ..., dessen feststellbare Sicherheit den Fragenden davon überzeugen könnte, daß das Kreuz wirklich die ihm zugeschriebene kosmisch-eschatologische Bedeutung hat“ (69). Die Auferstehung kann nicht ein „beglaubigendes Mirakel“ sein, weil „die Rückkehr eines Gestorbenen in das Leben der diesseitigen Welt ... unglaubhaft ist.“ Sie kann es nicht sein, „weil die Auferstehung auch durch noch so viele Zeugen nicht als objektives Faktum festgestellt werden kann“ (69). Das Osterereignis ist nichts anderes als die Entstehung des Glaubens an den Auferstandenen, in dem die Verkündigung ihren Ursprung hat. Das Osterereignis als die Auferstehung Christi ist kein historisches Ereignis. „Im gepredigten Wort ... begegnet der Auferstandene“ (72). Die Entmythologisierung erfasse dies; sie löst sich von der mythischen Ausgestaltung des neutestamentlichen Geschehens. Für die Kritiker von Bultmanns Entmythologisierungsprogramms wird damit der Glaube an die Auferstehung in eine wolkige Theologie der Verkündigung und ihrer „existentiellen“ Aneignung aufgelöst und der Weg zum „subjektivistischen Glauben“ beschritten (vgl. Teil 0.5). 1963 hat Bultmann noch einmal klar sein Konzept der Entmythologisierung dargelegt.10 Unter Entmythologisierung verstehe ich ein hermeneutisches Verfahren, das mythologische Aussagen bzw. Texte nach ihrem Wirklichkeitsgehalt befragt. Vorausgesetzt ist dabei, daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise (128). Der Mythos will von einer Wirklichkeit reden, die jenseits der objektivierbaren, der beobacht- und beherrschbaren Wirklichkeit liegt, und zwar von einer Wirklichkeit, die für den Menschen ... Heil oder Unheil, Gnade oder Zorn bedeutet, die Respekt und Gehorsam fordert (133).
Nach Bultmann objektiviert das mythologische Denken dieses Jenseits in naiver Weise. Demgegenüber will die Entmythologisierung „die eigentliche Intention des Mythos zur Geltung bringen, nämlich die Intention, von der eigentlichen Wirklichkeit des Menschen zu reden“ (134). Die objektivierende Rede des Mythos wird aufgehoben, um sich 10 Zum Problem der Entmythologisierung, in: Kerygma und Mythos 6 (1963), 1927; = in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1967, 128ff. Die Seitenangaben im folgenden Text (in Klammern) beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. auch David Fergusson, Rudolf Bultmann, Outstanding Christian Thinkers, London u. New York: Continuum, 2. Aufl. 2000, 107ff.
2.1 Streit um die Wirklichkeit der Auferstehung
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der existenziellen Wirklichkeit, die der Mythos nach Bultmanns Ansicht kenntlich machen will, angemessen anzunähern. In vielfacher Hinsicht ist die Provokation, die vom Buch Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie11 des Göttinger Neutestamentlers Gerd Lüdemann ausging, mit der Provokation, die David Friedrich Strauß ausgelöst hat, vergleichbar. Mit Strauß und Bultmann teilt Lüdemann ein starkes Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit und Redlichkeit und eine Aversion gegenüber einer Theologie, die es sich damit allzu leicht macht. Die Unklarheit und Ahnungslosigkeit, aber auch der Unwille gegen eine ehrliche Beschäftigung mit dem Thema haben mich (seit dem Beginn des Theologiestudiums) gestört, ja gequält, und ich erfahre den Widerstand von allen möglichen Seiten wiederum jetzt, wo das Thema anläßlich meines Auferstehungsbuches nun endlich auf dem Tisch ist.12
Lüdemann betont, dass er möglichst konkret, anschaulich und sensibel die Erfahrungen der Jünger und Jüngerinnen zwischen Karfreitag und Ostern nachzeichnen wolle, um von hier aus Einblick in die Entstehung des sogenannten Osterglaubens zu gewinnen. Er sucht in den „Ostervisionen“ nach Spuren des wiederbelebten Jesus, und immer wieder kommt er – wir müssen sagen: mit Recht – zu der ihn enttäuschenden Feststellung, dass diese Spuren nicht zu finden seien. Er zieht daraus den Schluss: „Positiv gesagt: Die Tatsachenaussage der Verwesung Jesu ist für mich Ausgangspunkt aller weiteren Beschäftigung mit den Fragen im Umkreis seiner ‚Auferstehung‘.“13 Nachdem die Verwesung Jesu für ihn persönlich geklärt ist, fragt er, was zu dem theologischen Satz geführt habe: Gott hat Jesus von den Toten erweckt. „Meine Antwort: Visionen. Von außen betrachtet, sind die Ostererfahrungen als Visionen zu bezeichnen. Visionen sind das visuelle Erscheinen von Personen, Dingen oder Szenen, die keine äußere Wirklichkeit haben; eine Vision erreicht ihre Empfänger(innen) nicht über die anatomischen Sinnesorgane, sondern ist Produkt der Vorstellungskraft und Phantasie.“14 Lüdemann bietet damit eine populartheologische Version an, die weder die intelligente Mythos-Theorie eines Strauß noch das Entmythologisierungsprogramm eines Bultmann im Rücken hat. Er spekuliert persönlich über das, was Jesus und seinen Jüngern nach dessen Tod wi-
11 12
Göttingen: Vandenhoeck, 1994. Gerd Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, in: Hansjürgen Verweyen (Hg.), Osterglaube ohne Auferstehung? Diskussion mit Gerd Lüdemann, QD 155, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1995, 14. 13 Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 27. 14 Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 27f.
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derfahren sein könnte: Jesus sei verwest, und die Jünger hätten Visionen gehabt.15 Strauß, Bultmann, Lüdemann – alle drei skandalträchtigen Kritiker der Auferstehung begehen einen Fehler, der sehr häufig gemacht wird: Sie setzen die Auferstehung Jesu mit einer physischen Wiederbelebung gleich – die sie dann in Frage stellen. Sie tun damit genau das, was viele religiöse Fundamentalisten tun, über die sie sich als „moderne Menschen“ und „ehrliche Freunde der Wahrheit“ erheben. Sie teilen mit vielen Fundamentalisten die Gleichsetzung von Auferstehung und physischer Wiederbelebung – nur dass sie die von ihnen selbst gemachte Voraussetzung dann mehr oder weniger laut und radikal bestreiten. Sie verstellen damit, wie wir sehen werden, ganz massiv die Subtilität der biblischen Zeugnisse von der Auferstehung. Mit der Rede vom Mythos und von (subjektiven) Visionen verkennen sie die besondere Wirklichkeit der Auferstehung und der Auferstehungserfahrung. Und mit der Propagierung der „existenzialen Interpretation“ arbeiten sie der inhaltlichen Entleerung des christlichen Glaubens zu. Der „subjektivistische Glaube“, der konsequent auf den Bezug auf Jesus Christus verzichtet und eine „Nähe Gottes“ im Selbstgespräch nur in seiner religiösen Innerlichkeit sucht, kann dann als sinnvolle oder sogar unausweichliche Alternative erscheinen (vgl. Teil 0.5). Mit der Frage: War die Auferstehung Jesu ein historisches Ereignis?, hat Wolfhart Pannenberg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Weg aus dieser Sackgasse gesucht. Er hat eine neue Phase der theologischen Auseinandersetzung mit der Auferstehung und dem Auferstehungsglauben eingeleitet.
2.2 Die Auferstehung als historisches Ereignis (Pannenberg) Wolfhart Pannenberg stellt im zweiten Band seiner Systematischen Theologie treffend fest: 15 Vgl. zur umfassenden Auseinandersetzung mit Lüdemanns weder exegetisch noch historisch-kritisch gedeckten Behauptungen die Beiträge in: Hans-Joachim Eckstein u. Michael Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 4. Aufl. 2010. – Ab 1994 hat Lüdemann mit Hilfe vor allem der Medien den Beifall der in seinem Sinne „Aufrichtigen und Ehrlichen“ gesucht. 1998 hat er sich öffentlich vom christlichen Glauben losgesagt. Gegen eine Einschränkung seiner Lehrtätigkeit an der Universität Göttingen auf „Geschichte und Literatur des frühen Christentums“ und auf Lehre „außerhalb der Studiengänge zur Ausbildung des theologischen Nachwuchses“ hat er durch alle gerichtlichen Instanzen hindurch geklagt. Am 28. Oktober 2008 wurde dieser auf der ganzen Linie erfolglose Rechtsstreit durch das Bundesverfassungsgericht beendet.
2.2 Die Auferstehung als historisches Ereignis
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Die Auferstehung Jesu war ... keine Rückkehr in dieses irdische Leben, sondern Übergang in das neue, eschatologische Leben: Er ist der ‚Erstling der Entschlafenen‘ (1.Kor 15,20), der ‚Erstgeborene unter vielen Brüdern‘ (Röm 8,29), der ‚Erstgeborene von den Toten‘ (Kol 1,18; Apk 1,5), der Anfänger des Lebens (Act 3,15).1
Doch wie kann, wenn die Auferstehung ein Übergang in das neue, das eschatologische Leben ist, ihre Faktizität behauptet werden? Wie verlässlich sind die Zeugnisse von der Auferstehung? Wenn wir von der „Wirklichkeit der Auferstehung“ sprechen können – wie verhält sie sich zu unserer Erfahrungswirklichkeit? Diese Fragen müssen beantwortet werden, wenn wir den Ansichten von Strauß bis Lüdemann mit guten Gründen widersprechen wollen. Pannenberg ist ebenso wie Bultmann und Lüdemann um intellektuelle theologische Redlichkeit bemüht, geht aber behutsamer mit den Textgrundlagen um als Bultmann und sorgfältiger als Lüdemann mit systematischen Begriffen wie Erfahrung, Wirklichkeit, Historizität. Erheblich stärker als Bultmann konzentriert er sich auf die narrativen Einzelheiten der biblischen Auferstehungserzählungen. Vorsichtiger formuliert er, dass die Erscheinungen des Auferstandenen, von denen in den Evangelien berichtet wird, „so stark legendären Charakter (hätten), daß man kaum einen eigenen historischen Kern in ihnen finden kann. … besonders durch die Tendenz zur Unterstreichung der Leibhaftigkeit der Erscheinungen“ seien die Berichte in den Evangelien „stark legendär gefärbt.“2 Doch die Begegnungserzählungen sind nicht die einzigen 1 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen: Vandenhoeck, 1991, 390; vgl. auch Carey C. Newman, Resurrection as Glory: Divine Presence and Christian Origins, in: S. T. Davis / D. Kendall / G. O’Collins (Hg.), The Resurrection: An Interdisciplinary Symposium on the Resurrection of Jesus, Oxford u. a.: Oxford Univ. Press, Paperback 1998, 59-89; Gerald O’Collins, Easter Faith: Believing in the Risen Jesus, New York u. Mahwah: Paulist Press, 25ff. 2 Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh: Gütersloher, 7. Aufl. 1990, 85. Die Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. die vorsichtigere Urteilsbildung in ders., Systematische Theologie, Bd. 2, 395ff; siehe auch ders., Die Auferstehung Jesu und die Zukunft des Menschen, KuD 24 (1978), 104-117; und ders., The Historicity of the Resurrection: The Identity of Christ, in: Roy A. Varghese (Hg.), The Intellectuals Speak Out About God: A Handbook for the Christian Student in a Secular Society, Chicago: Regnery Gateway, 1984, 257ff. Zu Pannenbergs Theologie der Auferweckung siehe Gunther Wenz, Ostern als Urdatum des Christentums. Zu Wolfhart Pannenbergs Theologie der Auferweckung Jesu, in: I. Broia u. J. Werbick (Hg.), „Der Herr ist wahrhaft auferstanden.“ Biblische und systematische Beiträge zur Entstehung des Osterglaubens, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1988, 133ff; und André Kendel, „Die Historizität der Auferstehung ist bis auf weiteres vorauszusetzen.“ Wolfhart Pannenbergs Verständnis der Auferstehung und seine Bewertung der einschlägigen biblischen Überlieferungen, in: Eckstein/Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, 139ff (siehe 2.1, Anm. 15); ders., Geschichte, Antizipation und Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs
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Die Auferstehung
biblischen Bezugnahmen auf die Auferstehung. Und trotz ihrer legendarischen Färbung wollen die Auferstehungsberichte im Ganzen einen „Zeugenbeweis für die Tatsächlichkeit der Auferweckung Jesu“ (86) geben. Das wird besonders deutlich in der großen Aufzählung bei Paulus (1Kor 15,3-9), dass der Auferstandene zunächst dem Petrus, dann den zwölf Jüngern, dann mehr als 500 Geschwistern, dann dem Bruder Jesu, Jakobus, dann allen Aposteln und schließlich auch ihm selbst erschienen sei. Pannenberg bestreitet, dass die Auferstehungszeugnisse herabgesetzt werden dürfen, weil den Zeugen und Zeuginnen unterstellt werden kann, dass sie innerlich beteiligt und an einem positiven Ausgang des Kreuzesgeschehens interessiert gewesen seien. Die Texte sprächen dafür, dass die „Erscheinungen des Auferstandenen von einer Reihe von Gliedern der urchristlichen Gemeinde wirklich erfahren und nicht etwa erst durch spätere Legendenbildung frei erfunden worden sind“ (87). Mit Johannes Leipoldt betont er: „Man kann nicht bezweifeln, daß die Jünger überzeugt sind, den Auferstandenen zu sehen. Sonst wird der Ursprung der Jerusalemer Gemeinde und damit der Kirche zu einem Rätsel“ (88).3 Doch damit ist noch nichts über die Art der Erfahrungen der Jünger ausfindig gemacht. Da Pannenberg in den Berichten der Evangelien „mit ihrer tendenziösen Unterstreichung der Leibhaftigkeit der Begegnungen keinen festen Boden für historische Erwägungen“ (88) sehen kann, konzentriert er sich auf die Lichterscheinung, von der zumindest Paulus klar Zeugnis gibt. Hier sieht er einen Ansatzpunkt für die Tatsächlichkeit der Auferstehung, für ihre Historizität. Diese Lichterscheinung weist fünf Charakteristika auf: 1. Sie wird in Beziehung zu dem Menschen Jesus gesehen. In ihr wird diese Beziehung in irgendeiner Weise deutlich (vgl. Gal 1,16; 1Kor 9,1). 2. Es wird ein Geistleib wahrgenommen, nicht eine irdisch leibhaftige Person. 3. Es dürfte sich um eine Erscheinung „aus der Höhe“, vom Himmel her, gehandelt haben. 4. Die Damaskus-Erscheinung erfolgte als ein Lichtphänomen (Apg 9,3f). 5. Die Christuserscheinung vor Paulus war mit einer Audition, mit dem Vernehmen einer Botschaft, verbunden.
Verständnis von Wirklichkeit, International Theology 8, Frankfurt: Peter Lang, 2001. 3 Johannes Leipoldt, Zu den Auferstehungsgeschichten, ThLZ 73 (1948), 737ff, 737; vgl. auch A. Schlatters Beobachtung, dass die biblischen Texte daran interessiert sind, die Auferstehungserscheinungen zu lokalisieren (A. Schlatter, Die Geschichte des Christus, Stuttgart: Calwer, 2. Aufl. 1923, 518ff).
2.2 Die Auferstehung als historisches Ereignis
109
Pannenberg vermutet, dass alle Auferstehungsvisionen von dieser Art gewesen sein dürften. Sie waren an Jesus von Nazareth rückgebunden und betonten, dass seine Person wiedererkannt wurde. Es muss sich um eine außerordentliche Schau gehandelt haben, um ein nicht jederman sichtbares Geschehen (89f). „Ein derartiges Geschehen muß nun aber als Vision bezeichnet werden. Wenn jemand etwas sieht, was andere Anwesende nicht zu sehen vermögen, dann handelt es sich um eine Vision“ (90). Eine Vision spricht dafür, dass das sie auslösende Ereignis außergewöhnlich gewesen ist, aber das bedeutet keineswegs, dass es notwendig imaginär war. Die biblischen Überlieferungen kennen verschiedenartige Visionen, „im Traum und ... im Wachzustande, ... in Ekstase und ... bei ruhiger Seelenverfassung“ (90). Ganz offensichtlich wurde in den damaligen Sitzen im Leben zumindest einem Spektrum von Visionen Realitätsbezug zugeschrieben. Problematisch sei die Assoziation, jede Vision sei selbsterzeugte Phantasie und habe letztlich keinen Bezug zur objektiven Wirklichkeit. Zu warnen sei auch davor, einen psychiatrischen Begriff von Vision, vornehmlich in Untersuchungen von Kranken gewonnen, ohne weiteres auf religionsgeschichtliche Phänomene zu übertragen. Um die Historizität der Auferstehung zu erweisen und die Besonderheit dieses historischen Ereignisses zu würdigen, muss gefragt werden, ob die Erscheinungen durch die „enthusiastisch erregte Imagination der Jünger zustande kamen ... (oder ob) umgekehrt der Osterglaube der Jünger aus den Erscheinungen zu erklären“ sei (93). Psychologische Erklärungsversuche allein reichen nicht aus. Die Auferstehung stellt „religionsgeschichtlich ein Novum“ dar. Im damaligen apokalyptischen Erwartungskontext musste überhaupt erst deutlich werden, dass, wie die Osterbotschaft sagt, die Auferstehung nur Jesus widerfahren und nicht der Anfang eines allgemeinen, alle Menschen betreffenden Geschehens gewesen sei.4 Die Konzentration auf die Auferstehung nur Jesu ist der erste Einwand gegen die Behauptung einer nur psychischen Reaktion und Kettenreaktion (vgl. 93f). Der zweite Einwand stützt sich auf die Vielzahl der Erscheinungen und ihre zeitliche Streuung. Die Erscheinungen vor Petrus, Jakobus und Paulus liegen weit auseinander. Die vor Paulus ereignet sich drei Jahre nach dem irdischen Ende Jesu in Jerusalem. Deshalb seien rein psychogene Erklärungen der Ostererscheinungen unzureichend und eine historische Rekonstruktion sinnvoll. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen geklärt, es muss das von historischer Rekonstruktion immer schon mitgebrachte Wirklichkeitsverständnis bedacht werden. 4 Nur Mt 27,52f bietet noch eine etwas düstere Andeutung in dieser Hinsicht: „Die Gräber öffneten sich, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt. Nach der Auferstehung Jesu verließen sie ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen.“
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Die Auferstehung
Gehen wir nicht von einer Gleichsetzung von „historisch“ und „naturalistisch-empirisch wiederholbar“ aus, so wird man die symbolische Sprache, in der die Auferstehungszeugnisse gefasst sind, gelassen prüfen können. Wie eine politische Proklamation mit realen Folgen greift die Auferstehung in menschliche Lebensverhältnisse ein. Sie setzt neue historische Verhältnisse. Mit einem Argument, das Pannenberg schon früh wichtig geworden ist und das in seiner Systematischen Theologie immer dominierender wird, betont er, dass das „Einzelgeschehen nie restlos naturgesetzlich determiniert“ sei. „Die Gesetzlichkeit erfaßt nur einen Aspekt des Geschehens. Nach der anderen Seite hin ist alles Geschehen kontingent, und die Geltung der Naturgesetze selbst ist kontingent“ (96). Vor diesem Hintergrund kann er zugestehen, dass es sich bei der Auferstehung um einen „Anbruch des neuen Äon“ handle und dass die Wirklichkeit dieses neuen Äon „nicht mit den Augen des alten Äon wahrgenommen werden“ könne. Er kommt zu dem Schluss: … darum ist der Auferstandene tatsächlich nicht als ein Gegenstand unter anderen in dieser Welt wahrnehmbar; darum war er nur durch die außerordentliche Erfahrungsweise der Vision und nur in einer symbolischen Sprache zu erfahren und zu bezeichnen. Aber in dieser Weise hat er sich nun doch in dieser unserer Wirklichkeit kundgetan, zu einer ganz bestimmten Zeit, in einer begrenzten Zahl von Ereignissen, gegenüber näher bezeichneten Menschen. Mithin sind diese Ereignisse auch als historische Ereignisse ... zu behaupten oder zu bestreiten (96).
Kritisch sind demgegenüber die Versuche zu beurteilen, eine bessere als die historische Erkenntnis, etwa eine intuitive Gewissheit, die nur vom Glauben aus erfolgen könne, als adäquate Wahrnehmungsweise der Auferstehung zu propagieren.5 Pannenberg kritisiert die von Bultmann und anderen gebrauchte Rede vom „Wagnis des Glaubens“ im Allgemeinen und im Blick auf die Auferstehung im Besonderen. War die Auferstehung ein wirkliches Ereignis in der Vergangenheit, so gilt auch von ihr: „Der einzige Weg, zu wenigstens annähernder Gewißheit im Hinblick auf die Ereignisse einer vergangenen Zeit zu gelangen, wird durch historische Forschung eröffnet“ (97). Eine wichtige Stütze für die Historizität der Auferstehung besteht für Pannenberg auch in den Überlieferungen, die das leere Grab betreffen (siehe dazu Teil 2.3). Für die Historizität des leeren Grabes spricht, dass die jüdische Polemik mit ihrem christlichen Gegner die Überzeugung teilt, dass das Grab Jesu leer war, obwohl sie dies anders interpretiert (vgl. 103). Die Grabesüberlieferungen und die Erscheinungsüber-
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Vgl. Paul Althaus, Das sogenannte Kerygma und der historische Jesus. Zur Kritik der heutigen Kerygma-Theologie, Gütersloh: Bertelsmann, 1958, 40; und Walter Künneth, Glauben an Jesus? Die Begegnung der Christologie mit der modernen Existenz, Hamburg: Witting, 1962, 285 (vgl. Pannenberg, 96f).
2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen
111
lieferungen sind unabhängig voneinander entstanden. Dies spricht für eine wechselseitige Stützung, für eine gegenseitige Ergänzung und für eine Stärkung der Erkenntnis historischer Wahrscheinlichkeit der Auferstehung im erläuterten Sinn. Im Folgenden soll der von Pannenberg eingeschlagene Weg weiter begangen werden. Dabei werden aber stärker die anstößigen Auferstehungszeugnisse berücksichtigt, die von „Begegnungen“ mit dem Auferstandenen sprechen. Eine genaue Betrachtung dieser Texte wird zeigen: Sie behaupten nicht, die Auferstehung Jesu sei eine Wiederbelebung des vorösterlichen Jesus. Die biblischen Texte vermitteln nicht den Eindruck, der nachösterliche Jesus Christus habe mit seinen Jüngern oder mit anderen Menschen in derselben Weise zusammengelebt wie der vorösterliche Jesus. Sie betonen zwar eine Kontinuität zwischen dem vorösterlichen und dem nachösterlichen Jesus Christus. Aber sie unterstreichen auch die Diskontinuität zwischen diesen beiden Phasen seines Lebens. Sie verweisen damit auf eine komplexe Identität des Auferstandenen, die wir genauer erkunden müssen. Die Kontinuität seiner Person und seines Lebens ist nicht einfach die Kontinuität einer irdischen, physischen Existenz, und insofern verfehlen die Polemiken von Strauß bis Lüdemann den entscheidenden Punkt. Ganz undenkbar wäre die Aussage eines primären Zeugen oder einer primären Zeugin der Auferstehung: „Entschuldige, Jesus, dass ich dich nicht gleich erkannt habe. Wie gut, dass du wieder da bist!“
2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen: Die aufschlussreiche Komplexität der neutestamentlichen Zeugnisse Die Auferstehungszeugnisse der Bibel sind paradox. Sie machen deutlich: Der Auferstandene steht in Kontinuität zum vorösterlichen Jesus – und er steht in Diskontinuität zu ihm. Die Auferstehung ist keine physische Wiederbelebung. Die Auferstehungszeugnisse spiegeln diese komplizierte Identität, indem sie einerseits auf die Sinnfälligkeit der Gegenwart des auferstandenen Christus hinweisen – d. h., er lässt sich von anderen Menschen mit den Sinnen wahrnehmen –, andererseits aber betonen, dass es sich dabei doch um eine Erscheinung handelt. Die Emmaus-Geschichte nach Lk 24 ist das eindrücklichste Beispiel dafür. Die Augen der Jünger, die dem Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus begegnen, sind gehalten (ekratounto), „so dass sie ihn nicht erkannten“ (Lk 24,16), obwohl er mit ihnen spricht und ihnen „aus der Schrift“ das Geheimnis des Messias auslegt. Lk 24,30f heißt es dann: „Nachdem er sich mit ihnen zu Tisch niedergelegt hatte, nahm er das Brot, sprach den Mahlsegen und brach es und gab es ihnen hin. Aber
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Die Auferstehung
ihre Augen wurden geöffnet, und sie erkannten ihn.“ Doch abrupt folgt die befremdliche Wende: „Und er wurde unsichtbar vor ihnen.“ Statt dies zu beklagen oder das ganze Geschehen skeptisch als ein gespenstisches Ereignis zu werten, erkennen die Jünger im Rückblick, dass sie schon ein Gefühl für die Gegenwart des Auferstandenen hatten, bevor ihnen die Augen durch den rituellen Akt des Brotbrechens in der Mahlgemeinschaft geöffnet wurden. „Und sie sagten zueinander: War nicht unser Herz brennend in uns, während er zu uns sprach auf dem Weg (nach Emmaus), während er uns die Schriften öffnete?“ (Lk 24,32) Und dann bezeugen sie die Auferstehung Jesu Christi vor anderen. Diese merkwürdigen Spannungen zwischen Sinnfälligkeit und Erscheinung in der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus müssen beachtet werden, wenn wir uns der besonderen Wirklichkeit der Auferstehungserscheinungen annähern wollen: ein Gefühl für die Präsenz des Auferstandenen (Lk 24,32; zumindest im Rückblick auf die Begegnung), das aber noch nicht so stark trägt, dass es zur Erkenntnis wird. Eine Erkenntnis, die sich mit dem Verschwinden des Auferstandenen als Vision erweist, als Vision, die aber das frühere Gefühl für seine Präsenz zur gültigen Erkenntnis werden lässt. Sowohl im Gefühl der Präsenz des Auferstandenen, das zur Erkenntnis wird, als auch in einer Erkenntnis, die auf einer Vision beruht, vergegenwärtigt sich der Auferstandene in neuer Gestalt. Es ist eine Gestalt, die einerseits Züge des Sinnfälligen aufweist, andererseits aber zu erkennen gibt, dass es sich um eine Erscheinung handelt, denn der Auferstandene verschwindet bzw. wird entzogen. Diese Konstellation findet sich in mehreren biblischen Texten (siehe unten Abschnitt C). Wenn man sie in ihrer Subtilität erfassen will, dann darf man an ihre Spannung nicht sofort mit dem auf Entscheidung dringenden Dual herangehen: Entweder liegt ein klares Wiedererkennen, eine auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende Erkenntnis vor, oder es handelt sich bei der Erfahrung um eine reine Phantasmagorie. Um uns der Wirklichkeit der Auferstehung auf der Grundlage der biblischen Zeugnisse anzunähern, gehen wir von einer breiteren Basis von Befunden aus als Pannenberg, und zwar von drei Gruppen von Erzählungen: von den Lichterscheinungen, den Zeugnissen vom leeren Grab und den Begegnungserscheinungen, d. h. von den Erscheinungen, die bei den dem Auferstandenen begegnenden Menschen zumindest vorübergehend das Bewusstsein hervorrufen, er sei sinnfällig in wiederbelebter Weise gegenwärtig. A. Lichterscheinungen Erscheint nach den Auferstehungszeugnissen der physisch-biologische Leib des vorösterlichen Jesus wieder? Geben sie einen Anhalt für die Behauptung: Der vorösterliche Jesus ist in der Auferstehung zur Fortsetzung seiner physischen vorösterlichen Existenz wiederhergestellt –
2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen
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kurz, er ist wiederbelebt worden? Dem widerspricht die erste Gruppe von Überlieferungen ganz klar, die für Pannenbergs Interpretation zentralen Lichterscheinungen. Die Auferstehung als Lichterscheinung findet sich ausdrücklich von Paulus bezeugt. Er weist damit auf sein „Damaskus-Erlebnis“ zurück (Apg 9,3-9; 22,6-11; 26,12-18): Paulus spricht davon, dass er die Lichterscheinung selbst sinnlich wahrgenommen hat.1 Die überwältigende Macht dieser Erscheinung wird dadurch drastisch deutlich, dass Paulus als Reaktion auf deren Wahrnehmung stürzt und vorübergehend erblindet.2 Wiederholt spielt Paulus in seinen Briefen auf dieses Offenbarungserlebnis und dessen Folgen für sein Leben an: x 1Kor 9,1: „Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen?“ x Gal 1,15f spricht er von seiner „Aussonderung von seiner Mutter Leib an“ und seiner Berufung durch Gottes Gnade „zu offenbaren seinen Sohn in mir, damit ich ihn als Evangelium unter den Völkern verkünde“; x Phil 3,8 weist er darauf hin, dass die Erkenntnis Jesu Christi eine völlige Umwertung seines Lebens und die Abwertung des bisherigen Lebens mit sich gebracht hat; x schließlich 2Kor 4,6: „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten!, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ Lüdemann kommentiert dies subtil: In diesem Fall wäre wahrscheinlich, daß Paulus bei seiner Bekehrung Christus in einer Lichtgestalt gesehen hätte, was zu den Ausführungen über den himmlischen Menschen (1 Kor 15,49) paßt. Darüber hinaus würde Paulus seine Schau Christi mit der Lichtwerdung am Schöpfungsmorgen parallelisieren, um auszudrücken, was ihm vor Damaskus widerfuhr.3
Eine Lichtgestalt, die eine zweite Neuschöpfung aus dem Chaos anzeigt und die dabei den vorösterlichen Jesus in neuer Gestalt vergegenwärtigt, und eine menschliche Wahrnehmung, die ihn in der Lichtgestalt wiedererkennt – beides gehört in die Polyphonie der Auferstehungserscheinungen, die die individuelle und die gemeinsame, ja die sich ausbreitende Gewissheit auslösen: Jesus Christus ist auferstanden, er lebt! Pannenberg nennt diese Lichterscheinungen „Visionen“, ohne die Visionen im bloß Subjektiven oder gar Psychopathologischen verorten zu wollen (vgl. 2.2). Demgegenüber hat Joachim Ringleben geraten, in 1 2 3
Vgl. Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 28f (siehe 2.1, Anm. 12). Apg 9,4.9; 22,7.11; nach Apg 26,14 stürzen sogar alle Anwesenden zu Boden. Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 29 (siehe 2.1, Anm. 12); in der Anmerkung dazu verweist er auf Apg 9,3f.
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diesem Zusammenhang auf den Visionsbegriff ganz zu verzichten und konsequent von „Erscheinungen“ zu sprechen: „,Vision‘ verlegt ... den Erkenntnisgrund unvermeidlich ins visionäre Subjekt, ‚Erscheinung‘ dagegen in eine Selbstkundgebung, die auch – und zwar streng eodem actu – den Zugang zu ihr erschließt.“4 Ringleben zitiert Karl Barth: „Nur indem er kommt, wird er ihnen wahrnehmbar.“5 Gerade um das für Paulus und von Paulus bis hin zu Pannenberg so wichtige Moment der Faktizität und Historizität der Auferstehungserscheinungen festzuhalten, sollte der Visionsbegriff, wenn überhaupt, nur mit Vorsicht und entsprechenden Erläuterungen verwendet werden. Die Lichterscheinungen problematisieren jede Verwechslung von Auferstehung und physischer Wiederbelebung (vgl. Teil 2.1). Sie werfen aber die Frage nach der Kontinuität zwischen dem vorösterlichen und dem nachösterlichen Leben Jesu auf. In welcher Weise fördern die Berichte vom leeren Grab und von den personalen Erscheinungen des Auferstandenen über die Lichterscheinungen hinaus die Erkenntnis der besonderen Wirklichkeit der Auferstehung? B. Das leere Grab Lüdemann hatte angekündigt, er wolle „die Formel vom vollen Grab als eine Art Kampfesformel“ benutzen, „um die Tatsache des wirklichen Menschseins Jesu, die brutale Tatsächlichkeit seines Todes förmlich einzuhämmern, dies auch, um dem Realitätsprinzip in Theologie und Kirche verstärkt Geltung zu verschaffen“.6 Jede seriöse Beschäftigung mit der Auferstehung Jesu müsse von Jesu Verwesung ausgehen. „Die Tatsachenaussage der Verwesung Jesu ist für mich Ausgangspunkt aller weiteren Beschäftigung mit den Fragen im Umkreis seiner ‚Auferstehung‘.“7 Mit dieser polemischen Haltung kann man versuchen, sich beim skeptischen gesunden Menschenverstand beliebt zu machen. Die historische Forschung aber wird damit durch nur scheinbar historisch gegründete Spekulationen überrollt. Um den Kontakt zu den biblischen Überlieferungen nicht zu verlieren, hätte Lüdemann sich mit seinem Willen zum kritischen Realismus eher dafür entscheiden sollen, 4
Joachim Ringleben, Wahrhaft auferstanden. Zur Begründung der Theologie des lebendigen Gottes, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, 95, vgl. 93ff. 5 KD IV/2, 161; siehe dazu Bertold Klappert, Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 3. Aufl. 1981, 287ff. 6 Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 26 (siehe 2.1, Anm. 12). Siehe dazu Bernd Oberdorfer, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Überlegungen zur Realität der Auferstehung in Auseinandersetzung mit Gerd Lüdemann, in: Eckstein/Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, 165ff (siehe 2.1, Anm. 15); und Ingolf U. Dalferth, Volles Grab, leerer Glaube? Zum Streit um die Auferweckung des Gekreuzigten, in: Eckstein/Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, 277ff. 7 Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 27.
2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen
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dass die Leiche Jesu gestohlen wurde. Er hätte damit an die Überlieferungen vom leeren Grab anschließen können. Sie sind von christlicher und von jüdischer Seite – mit verschiedener Begründung – gestützt worden und lassen im Prinzip verschiedene Deutungen zu: a) Das Grab war leer, weil der vorösterliche Jesus physisch wiederbelebt wurde und zunächst an einem unbekannten Ort war. Das ist die Deutung, auf die die Kritiker der Auferstehung sich so stark konzentrieren. Das leere Grab, für sich allein genommen, macht diese Deutung möglich. Es bleibt dann allerdings die Frage, wie denn das wiederhergestellte Leben Jesu irdisch weitergegangen sei. b) Das Grab war leer, weil der Leichnam gestohlen wurde. Man kann dann mit Lüdemann darüber spekulieren, dass er an einem unbekannten Ort verweste, hat damit allerdings noch kein „volles Grab“ für mögliche Autopsien. c) Das Grab war leer, weil eine Entrückung unvorstellbarer Art stattgefunden hat. d) Das Grab war leer, weil eine leere Grabstätte mit der wirklichen Grabstätte verwechselt wurde; eine allerdings von nur wenigen Auslegern gelegentlich erwogene Möglichkeit. Alle Deutungen des leeren Grabes müssen respektieren, dass nach diesen Zeugnissen der empirisch-sozial wahrnehmbare Leib des vorösterlichen Jesus (zumindest vorübergehend) entzogen war. Allen denkbaren Deutungen des leeren Grabes – von den knochentrocken realistischen (b und d) bis hin zu den supranaturalistischen (c) – ist gemeinsam: Die Auferstehungsgeschichte bietet schlechthin keinen Stoff für pathologische Untersuchungen an einem Leichnam. Die Traditionen vom leeren Grab und alle ihre denkbaren Deutungen sprechen von einer – wie immer gearteten und begründeten – Entzogenheit des vorösterlichen Leibes. Diese Erfahrung der Entzogenheit ist allerdings keine hinreichende Bedingung dafür, dass es zum Glauben an die Auferstehung kommt. Das leere Grab allein – und darin ist sich fast die gesamte Auslegungsgeschichte einig – weckt noch keinen Glauben an die Auferstehung. Auch nicht nach den biblischen Überlieferungen! Selbst die Engel- und Jünglingserscheinungen am leeren Grab mit der Verkündigung: Der Herr ist auferstanden! führen noch keineswegs zur Ausbreitung der Auferstehungserkenntnis. Deutlich zeigen sich in den biblischen Überlieferungen die Unsicherheiten und Unstimmigkeiten zwischen den einzelnen Texten im Blick auf die Identität und die Zahl der Zeuginnen und Zeugen am Grab, aber auch hinsichtlich der Botenerscheinungen. x Matthäus 28,1-8 lesen wir, dass ein „Engel des Herrn“ herabkommt, den Stein vor dem Grab wegwälzt, sich darauf setzt und dass er nicht nur von „Maria von Magdala und der anderen Maria“, sondern auch von den Wächtern – mit Erschrecken – wahrgenommen wird.
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Allerdings werden die Wächter von den Hohepriestern und Ältesten bestochen, um die Version zu verbreiten, die Jünger hätten den Leichnam gestohlen (Mt 28,11-15). x Markus 16,1-8 heißt es, dass „drei Frauen“ zum Grabe gehen, dass sie einen „Jüngling im weißen Gewand“ am Grab finden, der ihnen die Botschaft von der Auferstehung übermittelt. Sie werden beauftragt, nach Galiläa zu gehen und diese Botschaft an die Jünger weiterzugeben. Die Geschichte endet damit, dass die Frauen vor lauter Furcht fliehen und schweigen: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ x Lukas 24,1-12 spricht von „den Frauen“, die mit Jesus aus Galiläa gekommen waren, und von „zwei Männern“ in leuchtenden Gewändern, die die Auferstehungsbotschaft und den Auftrag zur Verkündigung übermitteln, aber auch davon, dass der Bericht der Frauen bei den Jüngern keinen Glauben findet: „Die Apostel hielten das alles für Geschwätz und glaubten ihnen nicht“ (Lk 24,11). Lediglich Petrus läuft zum Grab, findet aber nur noch die Leinenbinden vor und geht tief irritiert weg, „bei sich bestaunend das Geschehene“ (Lk 24,12). x Nach Johannes 20,1-10 holt Maria von Magdala Petrus und „den Lieblingsjünger“ herbei, als sie das Grab geöffnet sieht. Sie bricht in Tränen über den Leichendiebstahl aus: „Sie haben weggenommen meinen Herrn, und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben“ (Joh 20,2b). Die Jünger überzeugen sich vom leeren Grab, und die Erzählung kommentiert, dass sie noch nicht „aus der Schrift“ wussten, „dass er von den Toten auferstehen musste“ (Joh 20,9). Lediglich von der dunkel bleibenden Gestalt des „anderen Jüngers“, vom namenlosen „Jünger, den Jesus liebte“ (Joh 20,2), wird gesagt: Er ging ins Grab, „sah und glaubte“ (Joh 20,8b).8 Was spiegeln diese Erzählungen vom leeren Grab – abgesehen von der Unsicherheit über Details des Hergangs, abgesehen von der Tatsache, dass Maria von Magdala eine zentrale Rolle spielt, und abgesehen von der sich durchhaltenden Auskunft, dass das Grab leer war und dass es Botenerscheinungen gab? Die Überlieferungen vom leeren Grab werden als mit hoher Wahrscheinlichkeit historisch angesehen, weil sie sowohl von Anhängern Jesu als auch – mit anderer Begründung, nämlich der Behauptung eines Diebstahls der Leiche – von ihnen feindlich gesinnten Kreisen vertreten wurden. Sie sind wohl auch deshalb als historisch anzusehen, weil die biblischen Zeugen auf das damals nicht
8
Vgl. Joh 13,23; 19,26f; 20,2; 21,7.20. Siehe auch Jörg Frey, Art.: Lieblingsjünger, RGG4, Bd. V, 366f.
2.3 Lichterscheinungen – leeres Grab – Begegnungserscheinungen
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öffentlich akzeptierte Zeugnis von Frauen Bezug nehmen und ihnen Gewicht geben.9 Die Erzählungen vom leeren Grab spiegeln aber alles andere als eine Triumphgeschichte der beglaubigten Auferstehung. Im Gegenteil: x Sie verweisen auf die Propaganda der Gegner, die Jünger hätten Leichendiebstahl und Betrug begangen; x die Frauen laufen mit Furcht vom Grab weg und schweigen; x der Bericht der Frauen stößt auf Unglauben selbst bei den Jüngern (Geschwätz!); x Petrus ist stark irritiert und bestaunt das Geschehene bei sich; x Maria reagiert verzweifelt auf einen vermeintlichen Leichendiebstahl. Die wahrscheinlich historischen Überlieferungen vom leeren Grab bezeugen, dass die Erkenntnis und die Verkündigung der Auferstehung zunächst nicht gelingen. Die sich durchhaltende Botschaft bleibt: Der Leib des vorösterlichen Jesus ist verschwunden, entzogen. Kein Leib – verwesend oder nicht – ist greifbar. C. Die Begegnungserscheinungen Die Auferstehungserscheinungen verändern die Lebenswirklichkeit derer, die ihrer teilhaftig werden. Von ihnen geht eine Existenz- und Wirklichkeitsveränderung aus.10 Es handelt sich nicht um nur vorübergehende Impressionen. Die Auferstehungserscheinungen sind darüber hinaus wirklichkeitsgegründet, denn sie werden rückbezogen auf den vorösterlichen Jesus, auf sein Leben und sein Wirken. Dabei tritt er nicht einfach wiederbelebt auf, sondern er gibt sich in neuer Gestalt zu erfahren. Sie sind schließlich von Ängsten, Unsicherheiten und sogar Zweifeln begleitet, was die biblischen Texte immer wieder hervorheben. x Nach Markus wird von der Erscheinung des Auferstandenen „in verschiedener Gestalt“ gesprochen (Mk 16,12) sowie davon, dass der Bericht von der Auferstehung keinen Glauben findet. Mk 16,14 9 So Wolfhart Pannenberg, Die Auferstehung Jesu. Historie und Theologie, ZThK 91/3 (1994), im Anschluss an Hans von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab, in: ders., Tradition und Leben. Kräfte der Kirchengeschichte, Tübingen: Mohr Siebeck, 1960, 48-113. 10 Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 33ff (siehe 2.1, Anm. 10), hält treffend fest, dass schon bei Paulus und Petrus durch die Begegnung mit dem Auferstandenen eine Wende in ihrem Leben erfolgt: bei Paulus ganz drastisch vom Verfolger der Christen zum Glaubenden, bei Petrus von der Situation des Verleugnens und des Verrats hin zum Glauben an den Auferstandenen. Zur praktischtheologischen Relevanz vgl. Ingo Baldermann, Auferstehung sehen lernen. Entdeckendes Lernen an biblischen Hoffnungstexten, Wege des Lernens 10, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 1999, 102ff.
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heißt es sogar, dass der Auferstandene den elf Jüngern erscheint und ihren Unglauben und ihre Verstocktheit tadelt. x Die Erscheinung des Auferstandenen vor den Frauen ist nach Matthäus mit einer Proskynese verbunden („sie warfen sich vor ihm nieder und umfassten seine Füße“, Mt 28,9). Auch die Erscheinung vor den Jüngern gewinnt die Gestalt einer Theophanie, einer Gottesoffenbarung („Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder“, Mt 28,17a). Der Auferstandene zeigt sich als der göttliche Herr, und das Niederfallen der Frauen und der Jünger ist die angemessene Antwort darauf. Direkt danach aber heißt es: „Einige aber zweifelten“ (Mt 28,17b). x Lukas spitzt die Spannung zwischen Sinnfälligkeit und Erscheinung am stärksten zu, nicht nur in der Emmaus-Geschichte. Er unterstreicht drastisch, dass die Apostel den Bericht vom leeren Grab für Geschwätz gehalten und nicht geglaubt haben. Er betont, dass die elf Jünger, nachdem sie schon das Auferstehungszeugnis empfangen haben, auf die Erscheinung des Auferstandenen mit Angst reagieren und meinen, es handle sich „um ein Gespenst“ (Lk 24,38). Es heißt dann, dass der Auferstandene den Jüngern seine Hände und Füße zeigt (Lk 24,39-40) und dass er schließlich vor ihren Augen etwas isst (Lk 24,41-42). – Wer diese Passage isoliert und zum Maß aller Auferstehungszeugnisse macht, wird auf eine physische Wiederbelebung erkennen müssen (siehe dazu auch Teil 2.4). Allerdings heißt es dann bei Lukas, wie schon in der Emmaus-Geschichte, dass Jesus entrückt wird. Vor den Augen der Jünger wird er, während er sie segnet, „in den Himmel enthoben“ (Lk 24,51; so auch Mk 16, 19). x Auch Johannes betont für die Leser befremdlich Erscheinungscharakter und Sinnfälligkeit zugleich, als der Auferstandene sich selbst offenbart. Er tritt durch die verschlossenen Türen zu den Jüngern, zeigt ihnen aber auch seine Hände und seine Seite und damit seine Wundmale (Joh 20,19f). In einer zweiten Begegnung, wiederum „als die Türen verschlossen waren“, wird der zweifelnde Thomas vom Auferstandenen aufgefordert, seine Wunden zu berühren, woraufhin er sich nicht für seine hartnäckige Skepsis entschuldigt, sondern das Bekenntnis ausspricht: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Sinnfälligkeit und Entzogenheit, lange begleitet von Angst und Zweifel – beides ist in den Auferstehungserscheinungen verbunden. Proskynese und Zweifel, Zweifel und Bekenntnis zum Herrn und Gott: Die Auferstehungsberichte weisen nicht auf alltägliche empirische Erfahrungen hin. Indem sie den Erscheinungscharakter betonen, die Vielfalt der Erscheinungen, das Entrücktwerden des Auferstandenen bis hin zum Entrücktwerden im Moment der Erkenntnis und indem sie durchgängig den Zweifel hervorheben, wirken diese Texte massiv dem Eindruck entgegen, dass es sich bei der Auferstehung um eine bloße physische
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Wiederbelebung des vorösterlichen Jesus handelt. Es ist ihnen trotz der Anstößigkeit und Umstrittenheit der Ereignisse aber nicht zu entnehmen, die Zeugen und Zeuginnen unterlägen einer Illusion und gäben sich Phantasien hin. Die vielfältigen verschiedenartigen Zeugnisse verweisen auf ein komplexes historisches Ereignis, auf eine neue Wirklichkeit: Die Überzeugung vom Tod Jesu und vom Scheitern seiner Sendung und seiner Person wird abgelöst von der begründeten Überzeugung, dass er lebendig gegenwärtig ist. Zwar tritt nicht der vorösterliche Jesus als biologisches natürlich-empirisches „Ereignis“ wieder auf. Aber der Auferstandene, der nachösterliche Jesus macht sich – mit ungleich größerer Macht – in der Kraft seines Geistes gegenwärtig, mit einer zunächst unscheinbaren, dann aber weit ausgreifenden kulturell-geschichtlichen Ausstrahlung. Dieses Ereignis ist ebenso wenig eine Illusion wie die Entdeckung der Mathematik, der Musik oder der Gerechtigkeit. Es geht dabei aber nicht nur um die Entdeckung einer neuen Ordnung, einer neuen Erkenntnis- oder Erlebenssphäre, sondern hier bringt sich die Person und das Leben Jesu in neuer Weise zur Geltung. Paulus kann von einem „geistlichen Leib“ sprechen (1Kor 15,44).11 Mit Hilfe seiner Erkenntnisse zu Leib und Geist und in weiterem hartnäckigen Fragen nach der besonderen Wirklichkeit der Auferstehung lässt sich diese Wirklichkeit tiefer erschließen.
2.4 Nicht einfach „wieder lebendig“ (Wright): Warum die Unterscheidung von Fleisch und Leib hilft, die wirkliche Gegenwart des Auferstandenen zu erfassen Fast quälend machen die Auferstehungszeugnisse der biblischen Überlieferungen deutlich, dass der auferstandene Jesus Christus nicht erkennbar wird an den typischen Merkmalen, an denen eine Person wiedererkannt wird: weder an seinem Gesicht noch an seiner Gestalt und ihrer Bewegung (vgl. Joh 21,4) noch an der Stimme. Denn auch als er den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus das Messiasgeheimnis anhand der alttestamentlichen Schriften auslegt, erkennen sie ihn nicht (Lk 24,25-27). Dass der auferstandene Jesus Christus nicht erkennbar wird an den typischen Merkmalen, an denen eine Person wiedererkannt wird, gilt auch für sein „Erkanntwerden“ im Medium von Visionen: Himmels- und Lichterscheinungen, Erschrecken der Jünger, die einen Geist zu sehen meinen (Lk 24,37), unvermitteltes Auftreten des Auferstande11 Oft geradezu irreführend mit „überirdischer Leib“ übersetzt; vgl. 1Kor 15,44ff; zu Joh 20 vgl. Gregory Riley, Resurrection Reconsidered: Thomas and John in Controversy, Minneapolis: Fortress, 1995, 69ff.
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nen, selbst bei geschlossenen Türen (z. B. Joh 20,19). Auch die vielen Feststellungen, dass auf das Erkennen Zweifel und Unglaube folgen – selbst unter den Jüngern –, machen deutlich: Die Erkenntnis des Auferstandenen unter den ersten Zeuginnen und Zeugen war alles andere als die Frucht einer alltäglichen personalen Begegnung. Und doch gibt es eine Reihe von Zeugnissen, die den Eindruck einer sinnfälligen Begegnung vermitteln, die dann die Auferstehungserkenntnis auslöst. Dazu gehören die Auslegung der Schrift durch den Auferstandenen (Lk 24,45), die Beauftragung und Sendung der Jünger (Mt 28,19), die persönliche Anrede (z. B. Joh 20,16) oder die Einladung zur Mahlgemeinschaft (Joh 21,121). Das Zeigen der Wundmale (Lk 24,39f; Joh 20,27), das rituelle Brotbrechen (Lk 24,30), die Gabe von Brot und Fisch2 (Joh 21,13), die merkwürdige Verbindung von Theophanieerfahrung, Proskynese (Mt 28,9.17) und Berührung „seiner Füße“ (Mt 28,9) – all dies gehört ebenfalls zu dieser Gruppe von Zeugnissen, die an eine sinnfällige Vergegenwärtigung des Auferstandenen denken lässt.3 Am deutlichsten könnte ein Zeugnis bei Lukas für die Annahme sprechen, Jesus sei physisch wiederbelebt worden und deshalb für die Jünger wieder mit den Sinnen erfassbar gegenwärtig. Denn nach Lk 24,43 isst er vor ihren Augen einen Fisch. Doch wie in der Mehrzahl der übrigen Zeugnisse wird auch hier im direkten Umfeld der Episode hervorgehoben, dass die Auferstehung den Charakter einer Erscheinung hat (vgl. Lk 24,51). Nicholas Thomas Wright hat in seinem beeindruckenden Werk von mehr als 800 Seiten, The Resurrection of the Son of God4, ein starkes Plädoyer für die nicht nur „leibliche“, sondern auch „körperliche Auferstehung“ vorgetragen. Die Formeln, der Auferstandene begegne seinen Zeuginnen und Zeugen „wieder lebendig“ („alive again“, 8 u. ö.) und „noch robust körperlich“ („still robustly physical“, 478 u. ö.), lassen zunächst vermuten, dass Wright wie viele Fundamentalisten behauptet, es handle sich bei der Auferstehung um eine physische Wie1 „Jesus sagte zu ihnen: Kommt her und esst! Keiner von den Jüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war.“ 2 Das bei Lukas und Johannes auffällige Fischmotiv ist für die theologische Forschung noch ähnlich dunkel wie das Taubenmotiv bei der Taufe Jesu. 3 Joh 20,17 dagegen heißt es in der Begegnung mit Maria von Magdala: „Fasse mich nicht mehr an ...“ Und auch in der Begegnung mit dem „ungläubigen Thomas“ ist unklar, ob schon die Aufforderung: „Gib deinen Finger hierher und sieh meine Hände und gib deine Hand und lege sie in meine Seite ...“ das neutestamentliche Spitzenbekenntnis „Mein Herr und mein Gott!“ auslöst (Joh 20,27f) oder ob das erst eine leibhaftige Berührung tut. 4 N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God, London: SPCK, 2003; die Seitenzahlen (in Klammern) im folgenden Text beziehen sich darauf, Übersetzungen M. W.; das Buch ist der dritte Band seiner Trilogie: Christian Origins and the Question of God. Der erste Band, The New Testament and the People of God (1992), bietet eine umfassende Studie der jüdischen Wurzeln des Christentums, der zweite Band trägt den Titel: Jesus and the Victory of God (1996).
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derbelebung. Doch Wright spricht von einer transphysischen („transphysical“, 477 u. ö.) Identität des Auferstandenen. In welchem Verhältnis stehen diese Aussagen zueinander und zur Wirklichkeit der Auferstehung? In einer Auseinandersetzung5 mit Wrights Beobachtungen und Argumenten wollen wir versuchen, die von den biblischen Überlieferungen bezeugte Leibhaftigkeit der Gegenwart des Auferstandenen in den vierzig Tagen (vgl. Apg 1,3) nach seiner Kreuzigung und die Rede von „leibhaftiger Auferstehung“ überhaupt klarer zu erfassen. Mit Recht möchte Wright einer rein spiritualistischen Lesart widersprechen, die die Auferstehung nur zu einer Herauslösung aus dieser argen Welt und der uns Menschen umgebenden natürlichen Wirklichkeit erklärt: „Welchem Schöpfungsverständnis, welchem Gerechtigkeitsverständnis wäre mit dem Angebot von nichts weiter als einer neuen Spiritualität und einem Fahrschein für eine einfache Fahrt aus den Problemen heraus, einer Flucht vor der wirklichen Welt gedient?“ (737) – Man kann und muss dieser berechtigten Sorge allerdings von Anfang an die gegenläufige Warnung entgegensetzen: „Welchem Schöpfungsverständnis, welchem Gerechtigkeitsverständnis wäre mit dem Angebot von nichts weiter als einem ‚noch robust physischen‘ wiederauferstandenen Körper (allerdings mit einigen zusätzlichen merkwürdigen Merkmalen, die Wright ‚transphysisch‘ nennt) und einem Fahrschein für eine einfache Fahrt nur zurück in diese Welt gedient, ohne Platz zu lassen für die Wirklichkeit des geistlichen Leibes Christi?“ Wright behandelt das Thema Auferstehung in höchst beeindruckender Breite: „Leben nach dem Tod im alten Heidentum“ (32ff), „Tod und Jenseits im Alten Testament“ (85ff) und „Hoffnung über den Tod hinaus im nachbiblischen Judaismus“ (129ff) – nicht nur neutestamentliche Zeugnisse kommen zur Sprache. Dabei betont er stärker die Kontinuität und Restitution als die Diskontinuität und Transformation zwischen „alter“ und „neuer“ Schöpfung. Er spricht immer wieder davon, dass im Zusammenhang mit der Auferstehung die Schöpfung „erneut bestätigt“ („reaffirmed“, 128) und wieder hergerichtet („remade“, 128) werden wird. Mit Recht warnt er aber davor, die Auferstehung mit der Fortexistenz einer unsterblichen Seele oder ähnlichen Vorstellungen zu verwechseln. Im Zuge der Arbeit an den neutestamentlichen Quellen hebt er auch hervor, dass die Auferstehung durchaus mit einer „Transformation“ des Leibes Jesu einhergehe. Er spricht treffend von einem „neuen, unverweslichen leiblichen Leben“ („new, incorruptible bodily life“, 271). Dieses Leben sei etwas anderes, „als einfach zu genau derselben Art von Leben zurückzukehren, wie es in der Schrift mit Menschen geschehen war, die von Elia und Elisa von den Toten auferweckt wurden“ (273). Es kann also zunächst den An5
Dazu ausführlich Michael Welker, Wright on the Resurrection, Scottish Journal of Theology 60 (2007), 458-475.
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schein haben, als stimme Wright mit unserer Kritik an seinem „alive again“ und den im Folgenden vorgetragenen Überlegungen überein, wenn er sagt: „Die Auferstehung war keine Wiederbelebung, sondern die Transformation in einen unverweslichen Leib“ (276). Wright setzt sich mit einer weit verbreiteten und folgenreichen Fehlinterpretation der biblischen Auferstehungszeugnisse auseinander: 1. mit der Unterstellung, die Vision einer Lichterscheinung sei eine rein subjektive Erfahrung gewesen; 2. mit der Annahme, alle Apostel hätten eine solche subjektive Erfahrung gemacht; 3. mit der Folgerung, diese nicht-objektive Erfahrung stelle die leibhaftige Auferstehung Jesu in Frage (vgl. 393). So hilfreich diese kritische Stoßrichtung ist – problematisch wird Wrights eigene konstruktive Position, wenn er die Ansicht vertritt, Paulus habe einen transformierten, aber trotzdem „noch physischen Leib“ („still physical body“, 398) gesehen. Er behauptet, die Auferstehungserscheinung vor Paulus sei nur von einem Licht „begleitet“ gewesen; er habe eine personale Begegnung mit einem „noch physischen Leib“ gehabt. Diese Ansicht wird nicht von den biblischen Zeugnissen gedeckt. Nach Apg 9,7 teilen die Begleiter von Paulus seine volle Offenbarungserfahrung nicht. Sie hören eine Stimme, aber sehen kein Licht. Nach Apg 22,9 sehen sie das Licht, aber sie hören keine Stimme. Dass aber der Erfahrung des Paulus unabweisbar Objektivität zukommt, zeigt sich daran, dass Paulus zu Boden stürzt und vorübergehend erblindet, nicht darin, dass er einem „noch physischen Leib“ begegnete. Schon die Defizite in der Teilhabe der Begleiter an dieser Offenbarungserfahrung sollten vor zu einfachen Vorstellungen von Objektivität der Auferstehung warnen. Wright ist im Recht, wenn er darauf beharrt, dass die ersten biblischen Zeuginnen und Zeugen nicht gesagt haben, sie hätten „Zeichen der himmlischen Gegenwart Christi“ gesehen, sondern sie hätten bekannt, Jesus von Nazareth sei „von den Toten auferweckt worden“ (479). Überzeugend ist auch seine Feststellung, dass die Synoptiker nicht einfach die Auferstehungsbotschaft des Paulus übernehmen, sondern dass sie auf verschiedene mündliche und vielleicht schriftlich festgehaltene Traditionen zurückgreifen. Er beobachtet auch treffend eine bemerkenswerte religiöse Kargheit und Anfechtbarkeit in den verschiedenen Auferstehungszeugnissen der Evangelien. 1. Sie greifen nicht auf reiches biblisches Symbolmaterial zurück, um die Auferstehungsberichte auszugestalten (599, vgl. 599ff). 2. Sie verbinden die Auferstehungsbotschaft mit einer missionarischen Sendung, aber sie bieten keine ausgestalteten individuellen oder gemeinsamen eschatologischen Visionen (602ff). 3. Im Gegensatz zu Paulus und zu einer Vision vom Menschensohn wie bei Dan 7 wird Jesus nicht als eine himmlische und leuchtende Lichtgestalt beschrieben (604ff).
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4. Obwohl Frauen, wie bereits betont, zu jener Zeit keine juristisch anerkannten Zeugen waren – weshalb Paulus sie wohl auch nicht erwähnt (vgl. 607) –, berichten alle Evangelien extensiv von der Gegenwart der Frauen als ersten Zeuginnen des leeren Grabes und der Auferstehungserscheinungen (vgl. 608). Wright folgert aus diesen Beobachtungen, dass der auferstandene Jesus in den Evangelien als „Mensch unter Menschen“ erscheine, obwohl sein Leib „mit Eigenschaften (dargestellt wird), die, gelinde gesagt, ungewöhnlich sind“ (605). Er nennt als solche ungewöhnlichen Eigenschaften Jesu, dass er nach Belieben erschien oder verschwand, dass er durch verschlossene Türen trat und dass enge Freunde ihn nicht erkannten (vgl. 605). Mit seiner Deutung, der Leib des Auferstandenen sei „irgendwie transformiert“ (609 u. ö.), „irgendwie anders“ (611 u. ö.), greift er aber zu kurz und erfasst die Subtilität und Fremdheit der biblischen Zeugnisse nicht hinreichend. Sie stellen den Auferstandenen nicht einfach als einen „Menschen unter anderen Menschen“ dar. Auch mit seiner Rede, Jesus als Auferstandener habe „ungewöhnliche Eigenschaften“, trifft Wright seine neue Leiblichkeit nicht, denn „ungewöhnliche Eigenschaften“ lassen eher an selten auftretende körperliche Merkmale denken wie z. B. eine extreme Körpergröße. Jesu Leib in der Auferstehung ist mit Ausdrücken wie „ungewöhnlich“ nicht zu erfassen. Milliarden von Christenmenschen, betont Wright, sprechen trotz aller Unsicherheit und Skepsis regelmäßig das Bekenntnis: „Am dritten Tage auferstanden von den Toten …“ (3f). Er fragt gezielt: Was passierte am dritten Tag, am Ostermorgen? Wir müssten vom leeren Grab ausgehen und sehen, dass Menschen den auferstandenen Jesus „wieder lebendig“ („alive again“) getroffen hätten. Auf dieser Grundlage müssten wir die leibhaftige Auferstehung im Sinne von körperlicher, physischer Gegenwart akzeptieren. Wright begibt sich damit in die Falle einer spekulativen Rekonstruktion der physischen Auferstehung ganz im Stile Lüdemanns, auch wenn dieser auf den verwesenden Leichnam Jesu abhebt, Wright hingegen auf den „robust physischen“ Jesus zielt, der „wieder lebendig“ geworden sei. Er spekuliert sich an die Seite des toten Jesus im Grab und sieht ihn, sozusagen bei laufender Uhr, schließlich „am dritten Tage“ aufstehen, „wieder lebendig“, „robust physisch“, aber „irgendwie transformiert“, „irgendwie anders“, weshalb er dann dunkel und vage von einem „transphysischen Leib“ spricht. Eine ganz andere Perspektive tut sich auf, wenn wir die Wendung „am dritten Tage“ nicht übersetzen mit „in der Zeit zwischen Stunde 49 und 72“, sondern „nachdem er ohne Zweifel gestorben war“. Wir müssen dann eine anspruchsvollere Transformation ins Auge fassen als eine irgendwie transformierte Wiederbelebung. Dazu müssen wir das dualistische Denken in zwei Reichen, einem intellektuellen und spirituellen „geistigen Reich“ und einem materiellen und biologischen, „leiblichen Reich“, zugunsten subtilerer Vorstellungen korrigieren. Wir
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müssen erkennen, dass der menschliche Leib – nicht nur in der Sicht mancher biblischer Traditionen – in hohem Maße von psychischen und geistigen Kräften durchdrungen und geprägt ist. Und wir müssen sehen, dass die materielle Verfassung des Leibes (biblisch: seine Fleischlichkeit) nur einen Teilbereich seiner Existenz ausmacht. „Robust physisch“ ist der Mensch in seiner „fleischlichen Existenz“. Das ist die Ebene unseres biologisch-materiellen Lebens, das unabdingbar auf Kosten von anderem Leben lebt.6 Auch strenge Vegetarier und Vegetarierinnen bilden keine Ausnahme – sie müssen unendlich viel pflanzliches Leben zerstören, um sich zu erhalten. Die dunkel erscheinende Bemerkung des Paulus, dass die „fleischliche Existenz unter die Sünde verkauft ist“ (Röm 7,14), erhält in diesem Licht eine ihrer Tiefendimensionen. Die fleischliche Existenz hat einen räuberischen Selbsterhaltungsdrang und ist doch einer letzten Vergeblichkeit ausgeliefert. Diese fleischliche Existenz wird von Paulus wiederholt sehr negativ gezeichnet, vor allem, wenn sie im Menschen herrschend werden will.7 Sie wird aber – entgegen weit verbreiteter Meinung – von ihm nicht en bloc dämonisiert. Das menschliche Herz ist fleischlich, nicht aus Stein.8 Jesus stammt „dem Fleisch nach“ aus dem Hause Davids (Röm 1,3; vgl. 8,3; 9,5). Unsere konkrete, individuelle und einmalige Existenz ist „fleischlich“ bedingt. Die fleischliche Existenz wird bei Paulus von der leiblichen Existenz klar unterschieden (sarx und soma).9 Die leibliche Existenz leben6 Alfred North Whitehead, Process and Reality: An Essay in Cosmology, Gifford Lectures 1927-28, Corrected Edition, hg. David R. Griffin u. Donald W. Sherburne, New York u. London: Free Press, 1978, 105: „... life is robbery“. 7 „Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des Geistes aber gegen das Fleisch; beide stehen sich als Feinde gegenüber, so dass ihr nicht imstande seid, das zu tun, was ihr wollt“ (Gal 5,17). Die vom Begehren des Fleisches bestimmten Menschen sind der Endlichkeit, der Vergänglichkeit und dem Verderben unterworfen; die vom Geist bestimmten „ernten ewiges Leben“ (vgl. Gal 6,8). Diese Überzeugung vertritt auch der Römerbrief: „Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden“ (Röm 8,6). Siehe dazu Veselin Kesich, The First Day of the New Creation: The Resurrection and the Christian Faith, Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press, 1982, 127ff; Michael Welker, The Theology and Science Dialogue: What Can Theology Contribute?, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012, 7ff. 8 „Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben ... mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch“ (2Kor 3,3). Die Erwägung, dies könne ein zufälliges oder gar verunglücktes Spiel mit Worten sein, wird durch Aussagen über den Offenbarungsdienst nicht nur des Leibes, sondern auch des Fleisches ausgeräumt, z. B. 2Kor 4,11: „Denn immer werden wir, obgleich wir leben, um Jesu willen dem Tod ausgeliefert, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Fleisch offenbar wird.“ 9 Gerd Theißen, Sarx, Soma and the Transformative Pneuma: Personal Identity Endangered and Regained in Pauline Anthropology, in: Michael Welker (Hg.), The Depth of the Human Person, Grand Rapids: Eerdmans, 2012.
2.4 Nicht einfach „wieder lebendig“!
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der Menschen ist einerseits fleischlich gebunden, andererseits aber von Seele und Geist erfüllt und durchdrungen. Während die fleischliche Dimension des Leibes in den Erscheinungen des Auferstandenen fast völlig fehlt (daher die immer wieder festgehaltene Tatsache, dass die Zeuginnen und Zeugen ihn nicht erkennen!), ist die geistige Dimension des Leibes gegenwärtig. Damit sind nicht „rein geistige Erscheinungen“ im Sinne eines Ensembles bloßer Erinnerungen und Vorstellungen, in verschiedenen Köpfen herumschwirrend, ins Auge zu fassen, sondern es handelt sich um eine präzise leibhaftige Selbstvergegenwärtigung in der Kraft des Geistes. Paulus beschreibt eine solche „leibhaftige“ Selbstvergegenwärtigung „im Geist“ gelegentlich ganz plastisch: Er ist nicht nur „im Geist“ durch seine Erinnerungen und Vorstellungen bei einer entfernten Gemeinde, sondern er kann sie auch auffordern, sich mit ihm, dem leiblich Abwesenden und doch geistig Anwesenden, „zu versammeln“, um zu einer gemeinsamen Urteilsbildung zu gelangen (1Kor 5,3-6). Dies ist keine mirakulöse Veranstaltung. Auch wir können abwesende Mitmenschen in unsere Beratungen und Beschlüsse so einbeziehen, „als wären sie persönlich anwesend“: „Was würde sie oder er jetzt persönlich sagen und tun?“ Die Auferstehung Jesu führt dazu, dass er – für vierzig Tage – in einer leiblichen Selbstvergegenwärtigung seinen Zeuginnen und Zeugen erscheint, die nicht nur die evidente Prägung des Leibes durch den Geist zu erfassen und zu denken nötigt („wie er spricht, wie sie blickt ...“), sondern darüber hinaus eine leibhaftige Präsenz im Geist. Diese Präsenz gewinnt tatsächlich eine neue auch „robust physische“ Gestalt (Wright), indem der Auferstandene sich in der Kraft des Geistes einen nachösterlichen Leib aus seinen Gliedern in Gestalt der Zeuginnen und Zeugen schafft10: die Kirche als der nachösterliche „Leib Christi“. Paulus sieht also den Leib nicht einfach als eine „materiale Instanz und Basis“ an, die bloßer Träger interessanterer und höherwertiger „Vermögen“ wäre. Der Leib ist vielmehr ein komplexer vielgliedriger Organismus, der sehr verschiedene Dienste und Funktionen miteinander verbindet. Als solcher ist er ein Bereich, eine Sphäre, in der Gott „wohnen“ und durch die Gott verherrlicht werden will: „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst; denn um einen teuren Preis seid ihr erkauft worden. Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“ (1Kor 6,19f)
10 Die dunklen und für viele Menschen anstößigen Themen der Hingabe des Blutes Jesu Christi, der nach biblischem Verständnis fleischlichen Gestalt der inneren Lebenskraft (siehe dazu Teil 3.5), und die Identifikation der Schöpfungsgaben Brot und Wein mit seinem Leib und Blut in der Stiftung des Abendmahls (siehe Teil 5.4) lassen sich vor diesem Hintergrund erhellen.
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Die Auferstehung
Paulus kann den Leib geradezu als Offenbarungsträger darstellen, durch den Jesus Christus verherrlicht und erkennbar wird (2Kor 4,10; Gal 6,17): „Darauf warte und hoffe ich, dass ... Christus in aller Öffentlichkeit – wie immer, so auch jetzt – durch meinen Leib verherrlicht wird, ob ich lebe oder sterbe“ (Phil 1,20). Ausgehend vom Leib als vielgliedrigem Organismus veranschaulicht Paulus detailliert die Existenz des nachösterlichen auferstandenen Christus und die Verfassung seiner Kirche (vgl. besonders 1Kor 12,12ff). Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt (1Kor 12,12f).
Wiederholt fordert Paulus in seinen Briefen die Mitchristen auf, sich als zusammenwirkende Glieder am einen Leib Christi zu verstehen: „Ihr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm“ (1Kor 12,27; siehe auch Röm 12,4f). Paulus bezieht sich auf die „Erbauung“ und die Lebendigkeit des vielgliedrigen Leibes, um das Wirken des göttlichen Geistes und die Bedeutung der Sakramente Taufe und Abendmahl zu verdeutlichen. Die in die Herzen der Glaubenden durch den Geist „ausgegossene Liebe“ (Röm 5,5) erbaut sie zum Leib Christi.11 Dabei wirkt Gott durch den Geist an jedem einzelnen (fleischlichen und leiblichen) Menschen. Der Geist teilt jedem Menschen „seine besondere Gabe zu, wie er will“ (1Kor 12,11). Das Wunder des organischen Zusammenspiels der individuellen Glieder im einen Leib ist geistgewirkt.12 Geistgewirkt ist aber auch die gemeinsame Ausstrahlung und gezielte Aktivität der Glieder des Leibes. Wird die von Paulus vielfältig betonte gottesdienstliche Bedeutung, ja Offenbarungskraft des menschlichen Leibes (der Leib als „Tempel des Heiligen Geistes“, 1Kor 6,19) ernst genommen und wird gesehen, dass der irdische Leib auf das von ihm deutlich unterschiedene Fleisch nicht verzichten kann, so müssen primitive Entweder-oder-Vorstel-
11 Zur Relevanz der Figur der „Ausgießung des Geistes“ siehe Welker, Gottes Geist, 132ff u. 214ff (siehe 0.6, Anm. 16). 12 John Polkinghorne hat vorgeschlagen, die Personalität des Geistes in seiner Kontextsensitivität zu erkennen: Polkinghorne/Welker, An den lebendigen Gott glauben, 103ff (siehe Einleitung, Anm. 4); John Polkinghorne, The Hidden Spirit and the Cosmos, in: M. Welker (Hg.), The Work of the Spirit: Pneumatology and Pentecostalism, Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 2006, 169ff.
2.5 Die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib
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lungen von Fleisch und Geist aufgegeben werden.13 Das Fleisch gehört unabdingbar zur historisch-materiellen Basis der leiblichen und damit auch der nach Paulus höherstufigen irdischen menschlichen Existenz in Gestalt von Herz, Seele und Geist. Allerdings wird die Größe „Fleisch“ als grundsätzlich endliche und vergängliche Basis menschlicher Existenz gefährlich, wenn sie alles „Trachten und Begehren“ des Menschen steuert. Paulus spielt in seinen harten Aussagen über das Fleisch immer wieder auf die fleischlichleiblichen Grundfunktionen der Ernährung und der Reproduktion an. Er geizt bekanntlich nicht mit Seitenhieben gegen die Völlerei, die Trunksucht und gegen bestimmte Sexualkontakte.14 Oberflächlich betrachtet, könnte man das einer Leibfeindlichkeit des Paulus, einer Neigung zu Misanthropie und Homophobie zurechnen. Tatsächlich aber erwächst seine harte Kritik an sich verselbständigenden Interessen des Fleisches aus der Sorge, die für Gott und sein Evangelium gewonnenen Mitmenschen könnten sich wieder von Mächten beherrschen lassen, die sie an die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens ausliefern und die Aussicht auf die Vorhaben Gottes mit ihnen und die Perspektiven des Geistes versperren. Eine abstrakte und totalisierende Verneinung des Fleisches findet sich in der Anthropologie des Paulus nicht. Ebenso geht eine unkritische Begeisterung für vage metaphysische und religiöse Vorstellungen wie die von einem „reinen Geist“ und einer „unmittelbaren menschlichen Gottesbeziehung im Geist“ an seinem scharf beobachtenden und differenzierenden Denken vorbei. Die Auferstehungswirklichkeit sollte nicht in einer „rein geistigen“ Dimension gesucht werden.
2.5 Geist, Heiliger Geist und die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib Theologie, Philosophie und Formen spiritueller Praxis haben oft das Idealbild einer rein geistigen Beziehung zu Gott propagiert (vgl. dazu Teil 1.5). Paulus gesteht den Korinthern, die in Zungen reden, zu, einen direkten geistigen Kontakt zu Gott zu haben: „Denn wer in Zungen redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott ... Im Geist redet er 13 Siehe Michael Welker, Die Anthropologie des Paulus als interdisziplinäre Kontakttheorie, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2009, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2010, 98-108; siehe auch Michael Wolters Beobachtung: „Paulus bezeichnet den Geist an keiner einzigen Stelle als eine bestimmte Substanz, sondern er spricht von ihm immer nur wie von einer Substanz und wie von etwas Materiellem.“ (Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011, 260, vgl. 159ff.) 14 Vgl. Gal 5,19ff; 1Kor 5,1; 6,9f.13ff; 10,8; 11,20; 2Kor 12,21; Röm 1,26f; 13,13.
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Die Auferstehung
geheimnisvolle Dinge.“ Doch er beurteilt diesen Direktkontakt mit Gott im Geist sehr kritisch: „Keiner versteht ihn (den in Zungen Redenden) ... Wer aber prophetisch redet, redet zu Menschen: Er baut auf, ermutigt, spendet Trost“ (1Kor 14,2f).1 Mit Nachdruck spricht er sich für den Gebrauch von Verstand und Vernunft (nous) aus, und zwar nicht nur im zwischenmenschlichen Kontakt, sondern auch im Gebet, ja sogar in der Verherrlichung Gottes. „Ich will nicht nur im Geist beten, sondern auch mit dem Verstand. Ich will nicht nur im Geist Gott preisen, sondern auch mit dem Verstand“ (1Kor 14,15). Drastisch hält er fest, er wolle „vor der Gemeinde lieber fünf Worte mit Verstand/Vernunft (nous) reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend Worte in Zungen zu stammeln“ (1Kor 14,19). Höchst eindringlich warnt er vor einer „im Geist“ ausrastenden Gemeinde: „Wenn also die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden, und es kommen Unkundige oder Ungläubige hinzu, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt!“ (1Kor 14,23). Verstand und Vernunft sind dabei keine hochkomplizierten, nur durch transzendentale philosophische Bildungsanstrengungen zu erlangende Größen. Nous, Verstand bzw. Vernunft, steht bei Paulus vielmehr für das Vermögen, verstehbare und mit klaren Überzeugungsinteressen verbundene Äußerungen hervorzubringen. Auch Außenstehende sollen belehrt werden und überzeugt einstimmen können („Amen sagen“). Emotionale Überwältigungsversuche, intellektuell oder moralisch, sind keine positiven Markenzeichen des Geistes. Gegenüber mächtigen Traditionen, die Verstand/Vernunft und Geist miteinander verwechselt und vermischt haben2, müssen wir deren Unterscheidung einklagen, wenn die biblische Rede von Gottes Geist und menschlichem Geist verstanden werden soll. Die allgemeine Rede von Geist ist schillernd. Der Ausdruck Geist wird in der deutschen Sprache z. B. für eine bedeutende Persönlichkeit verwendet („Goethe war ein großer Geist“), doch auch für eine gespenstische Erscheinung („Er sah einen Geist, und man fürchtete um seinen Verstand“). Mit dem Wort Geist wird aber vor allem eine Instanz, ein Medium, eine Kraft benannt, die eine Gruppe, eine Institution, eine Gesellschaft, eine Kultur, ja eine Epoche in ihrem Denken, Verhalten und Handeln verbindet und orientiert („An dieser Schule herrscht ein guter Geist“, „der Geist einer Zeit“). Wie können wir Klarheit in die unübersichtliche Rede von „Geist“ bringen? 1 Zur prophetischen Rede als Verkündigung siehe Thomas Gillespie, The First Theologians: A Study in Early Christian Prophecy, Grand Rapids: Eerdmans, 1994; für eine „erzählende Erinnerung“ als theologisch-prophetische Rede plädieren Ingrid Schoberth, Erinnerung als Praxis des Glaubens, München: Kaiser, 1992, 57ff u. 191ff; Gunda Schneider-Flume, Glaube in einer säkularen Welt. Ausgewählte Aufsätze, 11ff u. 71ff. Siehe auch Teil 5.5. 2 Siehe Welker, Gottes Geist, Teil 5.1 (siehe 0.6, Anm. 16).
2.5 Die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib
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Um Erkenntnisse über den menschlichen Geist zu gewinnen, ist es hilfreich, bei unstrittigen geistigen Fähigkeiten von Menschen anzusetzen, bei scheinbar ganz schlichten mentalen und kognitiven Operationen. Schon die vermeintlich simplen Fähigkeiten, dass Menschen sich in ihrem sogenannten Inneren an äußere Gegenstände und Ereignisse erinnern oder sie sich vorstellen können, werden dem menschlichen Geist zugeschrieben. Die vermeintliche „Abbildung3 des Äußeren im Inneren“ des Menschen ist ungeheuer vielschichtig. Ein Gegenstand bzw. ein Komplex von Gegenständen, ja eine ganze Umgebung mitsamt diversen Signalen und Stimmungen kann in ein menschliches Erinnerungs- und Imaginationsvermögen aufgenommen werden. Eine Fülle von Gegenständen, ganze Ereignis- und Erlebniszusammenhänge werden „vergeistigt“. Zugleich kann dieser ganze geistige Reichtum in die Latenz entlassen, bewahrt – und wieder aufgerufen werden. In unendlicher Vielfalt können die geistigen Inhalte variiert und neu miteinander kombiniert werden. Menschen herrschen in ihrem Erinnerungsund Vorstellungsvermögen über ein gewaltiges geistiges Reich. Ihr Geist ist einem Ozean, einer Welt vergleichbar. Nicht nur optische, auch akustisch-sprachliche Eindrücke werden in Hülle und Fülle beherbergt, geordnet und in vielfältiger Weise mit der Welt der geistig vorstellbaren Bilder und Bildfolgen assoziiert, verbunden und kontrastiert. Imaginierte Gerüche, Töne und Tonfolgen, sogar ins Geistige übersetzte taktile Impressionen beleben und bereichern unsere geistige Welt. Mit ihnen verbinden sich nachhaltige Eindrücke und starke Emotionen.4 Sowohl das reiche Zusammenspiel der Inhalte und Elemente des Geistes als auch die gute Auswahl und Eingrenzung dieser Elemente sind wichtig. Beides bedingt die Qualität, Kraft und Reichweite der geistigen Operationen. Religiöse Rituale, Literatur, Wissenschaft, bildende Kunst und Musik demonstrieren die gestaltete und gestaltende Macht des Geistes auf verschiedenen Ebenen der Erlebnisverarbeitung und Vorstellungskraft. Abstrakte Symbolsysteme wie die Mathematik, durchgebildete Formen der Symbolbearbeitung wie Logik und analytisches Denken lassen Prinzipien, Regeln und Ordnungszusammenhänge in der natürlichen und geistigen Welt entdecken, die die Fülle geistiger Impressionen sinnvoll zu ordnen erlauben und erstaunliche Kräfte der Weltbeherrschung freisetzen können. 3
Siehe J. Nieraad, Art.: Abbildtheorie, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 1-3. 4 Siehe dazu z. B. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hg. Maria Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 2, Bern/München: Francke, 5. Aufl. 1966; Studienausgabe, hg. Manfred Frings, Bonn: Bouvier, 8. Aufl. 2009, 259ff; Wai Hang Ng, Die Leidenschaft der Liebe. Schelers Liebesbegriff als eine Antwort auf Nietzsches Kritik an der christlichen Moral und seine soteriologische Bedeutung, Frankfurt: Peter Lang, 2009, 50ff.
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Die Auferstehung
Die geistigen Potentiale der Menschen ermöglichen es ihnen, hochkomplexe vergangene Situationen, ja ganze Weltzustände zu rekonstruieren und viele zukünftige Ereignisse und Ereigniszusammenhänge erwartungssicher zu imaginieren. Sie erlauben es, auch über weite Distanzen hinweg zu kommunizieren und nicht nur Informationen, Gedanken und Erzählungen, sondern auch mehr oder weniger komplexe Auren und Emotionen zu übertragen und miteinander zu teilen. Menschen können höchst facettenreiche Erinnerungen und Erwartungen koordinieren und damit die Orientierungs- und Organisationsmacht einer gemeinsamen geistigen Welt schaffen. Auch wenn der Ansatz beim individuellen Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen einen ersten Zugang zu Phänomenen des Geistes verschaffen kann, ist es doch falsch, den Geist nur auf das Innere des Menschen zu begrenzen: „Der Geist ... hat kein Zentrum und keine Peripherie, weder Tiefe noch Oberfläche. Er hat kein Inneres, nichts an ihm ist sich selbst verborgen.“5 Erinnernd und imaginierend haben wir teil am Ozean des Geistes. Schon diese wenigen Skizzen können geradezu zum Schwärmen für die Macht des menschlichen Geistes veranlassen. In der Möglichkeit des Geistes, Welterschließung und Selbsterkenntnis zu verbinden und dabei zu steigern, sah Aristoteles in seiner Metaphysik nicht nur die Macht der Vernunft am Werk, sondern nicht weniger als das Wesen des Göttlichen.6 Doch nicht nur vor der philosophisch, theologisch und kulturgeschichtlich ungeheuer einflussreichen Ineinssetzung von Geist, Vernunft und Gott muss gewarnt werden. Auch eine ungebrochene Glorifizierung des Geistes an sich ist geradezu fahrlässig. Vielfältige machtvolle Möglichkeiten, geistige Kommunikation bewusst und unbewusst zum Schaden von Menschen, Kultur und Natur einzusetzen, müssen bei der Betrachtung der Phänomene des Geistes in Rechnung gestellt werden. So werden zum Beispiel weltweit nicht nur beständig hilfreiche und gesunde gedankliche und geistige Abstraktionen und Reduktionen in Umlauf gebracht und massenhaft kommuniziert. Es werden ebenso global ganze Ströme trivialisierender und banalisierender Ideen, Denkformen und Emotionalisierungen geistig transportiert und kommunikativ und kulturell eingeschliffen. Fanatisierende und verhärtende Einstellungen und Ansichten werden mit der Macht des Geistes verbreitet und gewinnen große soziale und politische Bindeund Ausstrahlungskraft. Brutale Geisteshaltungen greifen – oft unbe-
5 Andreas Kemmerling, Zweite Meditation. Das Existo und die Natur des Geistes, in: ders. (Hg.), René Descartes. Meditationen über die Erste Philosophie, Klassiker auslegen 37, Berlin: Akademie Verlag, 2009, 53. 6 Siehe Aristoteles, Metaphysik XII, Frankfurt: Klostermann, 4. Aufl. 1984; dazu Michael Bordt, Aristoteles’ Metaphysik XII, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006; Welker, Gottes Geist, 262ff (siehe 0.6, Anm. 16).
2.5 Die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib
131
merkt, aber schleichend – um sich und führen zu Elend und Zerstörung.7 So werden z. B. mit monistischen, dualen und dualistischen Denkformen einerseits kulturübergreifend Gedanken und Imaginationen erfolgreich gebändigt. Schnelle und erwartungssichere Kommunikation wird durch solche einfachen geistigen Formen ermöglicht („Ich und Du“, „Gott und Welt“, „Freund oder Feind“, „Freiheit oder Abhängigkeit“). Gleichzeitig wird durch solche erfolgreichen geistigen Reduktionen aber auch das Denken und Erleben hochgradig deformiert und von der Fülle des wirklichen Lebens und seinen Gestaltungsmöglichkeiten abgeschnitten (vgl. Teil 0.3 und 0.5). Ein solchermaßen reduktionistisches Denken kann, wenn es starke Emotionen und damit verbundene Grundüberzeugungen hervorbringt, viele Menschen, ja ganze Gesellschaften, Kulturen und Epochen in höchst gefährlicher Weise verblenden und auf naive Weltbilder oder aggressive Ideologien einschwören. Ein „böser Geist“ regiert dann die Gemüter und setzt viele der genannten und gepriesenen geistigen Kräfte zum Verderben menschlicher und geschöpflicher Lebensverhältnisse ein. Es ist also fahrlässig, den Geist und die geistige Welt von vornherein mit den Assoziationen „gut“, „lebensförderlich“ oder gar „göttlich“ zu verbinden. Diese Beobachtungen zur tiefen Ambivalenz der Macht des Geistes nötigen dazu, ein kritisches und nuanciertes Verstehen des Verhältnisses von menschlichem und göttlichem Geist anzustreben. Paulus hat das in vorbildlicher Weise getan. Er nimmt die ungeheure Komplexität des menschlichen Geistes wahr, wenn er einerseits seine Kraft bewundert, über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg Kontakte zu ermöglichen – nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Menschen und Gott. Andererseits sieht er, dass der Geist nicht von sich aus zu klarer Erkenntnis und Rede führt. Er schenkt nicht von vornherein ein festes Herz, einen klaren Verstand und ein ruhiges Gewissen. Aber auch klare Rede, auch ein scheinbar festes Herz, ein ruhiges Gewissen und ein klarer Verstand können verlogen und betrogen sein, z. B. von einem „Geist der Welt“ bestimmt und gelenkt, der sie Gott gegenüber verschließt (1Kor 2,12 u. ö.). Selbst sogenannte letzte und höchste Gottesgedanken können zwar klar und eindrücklich, aber doch geistarm und geistleer sein und das Verhältnis zu Gott systematisch verzerren und verstellen (dazu Teil 0.5 und Teil 5). Es ist deshalb wichtig, die Macht des menschlichen Geistes und die menschliche geistige 7 Die Vergiftung ganzer Gesellschaften und Epochen durch Rassismus und Sexismus, durch imperialistische und kolonialistische Grundhaltungen wird uns heute erschreckend deutlich. – Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts konnte man in wissenschaftlichen Textbüchern und Nachschlagewerken lesen, Wasser und Luft seien „unendliche Ressourcen“ und also ökonomisch nicht in Rechnung zu stellen. Ökologischer Brutalismus wurde geistig in aller Unschuld global propagiert.
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Die Auferstehung
Welt nicht ohne weiteres mit dem Göttlichen zu assoziieren. „Gott ist Geist“ (Joh 4,24) – aber Gott ist nicht irgendeine Form und Gestalt von Geist. Wird die Realität des menschlichen Geistes, seine Macht und seine Ambivalenz, ja sogar seine mögliche Gefährlichkeit wahrgenommen, so kann man verstehen, warum die Prüfung und Unterscheidung der Geister (1Kor 12) eine wichtige theologische Aufgabe ist, eine Aufgabe, die nicht nur für Glaubensgemeinschaften von Bedeutung ist, sondern auch für ihre sozialen und kulturellen Umgebungen. Deutlich wird auch, warum die beliebte Behauptung, der Heilige Geist sei ein Numinosum, eine ungreifbare und unbegreifliche Macht, geradezu fahrlässig ist.8 Wer in Angelegenheiten des Geistes allzu eilfertig auf das Unerkennbare, Dunkle und Numinose setzt, verweigert sich der Aufgabe, die Geister zu prüfen und zu unterscheiden. Woran aber wird erkannt, dass ein Geist aus Gott stammt oder von Gott gesendet worden ist? Die klarste, wenn auch viele Menschen heute kaum befriedigende Antwort, die der christliche Glaube auf diese Frage geben kann, lautet: Der Geist Gottes offenbart sich als der Geist Jesu Christi. Er lässt nicht nur diese Person, ihr Leben und Wirken in ihrem ganzen Reichtum erkennen, sondern er verbindet das Leben der Glaubenden mit dem Leben des Auferstandenen, er lässt sie daran Anteil gewinnen.9 Menschen, die am Leben des auferstandenen Christus teilhaben, gewinnen 8 Mit dieser Einstellung setzt sich mein Buch Gottes Geist, 15ff (siehe 0.6, Anm. 16) auseinander; siehe auch Jahrbuch für Biblische Theologie 2009, Bd. 24: Heiliger Geist, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011. 9 Klassische Belege bieten z. B. die Auslegung des dritten Artikels in Luthers Großem Katechismus, BSLK, 653ff (siehe Einleitung, Anm. 2); Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, bes. KD I/2, § 16: Die Ausgießung des Heiligen Geistes, 222ff, bes. 234ff, aber auch die pneumatologischen Passagen in KD IV/1-3; Thomas F. Torrance, The Trinitarian Faith: The Evangelical Theology of the Ancient Catholic Church, Edinburgh: T&T Clark, Paperback 1993, 191ff; Oepke Noordmans, Das Evangelium des Geistes, Zürich: EVZ, 1960, 57ff. Bemühungen, zwischen der biblisch kaum gestützten römisch-katholischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und der Auferstehung Brücken zu schlagen, bietet der Band Hans Kessler (Hg.), Auferstehung der Toten. Ein Hoffnungsentwurf im Blick heutiger Wissenschaften, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004; siehe ebd., bes. die Beiträge von Wolfgang Beinert, „Unsterblichkeit der Seele“ versus „Auferweckung der Toten“?, 94ff; und Bernard N. Schumacher, Die philosophische Interpretation der Unsterblichkeit des Menschen, 113ff. Zur Nähe jüdischer und christlicher Auferstehungshoffnungen auf biblischen Grundlagen siehe Kevin J. Madigan u. Jon D. Levinson, Resurrection: The Power of God for Christians and Jews, New Haven u. London: Yale Univ. Press, 2008, bes. 1ff u. 235ff; James H. Charlesworth mit anderen, Resurrection: The Origin and Future of a Biblical Doctrine, Faith and Scholarship Colloquies, New York u. London: T&T Clark, 2006; vgl. auch Michael Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, in: Eckstein/Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, bes. 318ff (siehe 2.1, Anm. 15).
2.5 Die wirkliche Gegenwart in Geist und Leib
133
Anteil an einer Macht, die die Welt gestaltet hat und fortwährend gestaltet. Diese Macht wird in der leibhaftigen Auferstehung Jesu Christi offenbar. Francis Fiorenza hat feinsinnig beobachtet, dass die Erscheinungen des auferstandenen Christus mit dem Friedensgruß, dem Brotbrechen, dem Erschließen der Schrift, mit dem Taufbefehl und der missionarischen Sendung der Jünger die Grundgestalten des gottesdienstlichen Lebens der Kirche und seiner Ausstrahlungskräfte umreißen.10 Friedensgruß, Abendmahl, Schriftauslegung, Taufe, Sendung – eine Polyphonie der gottesdienstlichen Existenz ist mit der Selbstvergegenwärtigung des Auferstandenen in seinem Geist, genauer: seinem geistlichen Leib verbunden (siehe auch Teil 5.3 und 5.4). In der Auferstehung Jesu Christi begegnet der Geist in „leibhaftiger“ Gestalt. Der Geist begegnet als „Geist Christi“ in einer nicht mehr fleischlichen Kontinuität zum Leben des vorösterlichen Jesus. Es ist unverzichtbar, sich mit diesem geistigen Leben vertraut zu machen, wenn man die Identität und Person des Auferstandenen und seine Macht, dem Geist Gestalt zu geben, erfassen will. Der Auferstandene konstituiert Grundvollzüge des Lebens der Kirche. Zugleich lässt er viele Dimensionen seines vorösterlichen Lebens kreativ wirksam werden. Er vermittelt die rettenden und erhebenden Kräfte der „Neuen Schöpfung“. Die Selbstvergegenwärtigung des Auferstandenen steht in Kontinuität und Diskontinuität zu seinem vorösterlichen Leben. Sie steht auch in Kontinuität und Diskontinuität zum Wirken des Geistes, das die biblischen Überlieferungen bezeugen. Nach frühen biblischen Zeugnissen wird der Geist Gottes als Kraft unerwarteter Rettung erfahren. In Situationen großer Bedrängnis und Not überkommt der Geist Gottes einen Menschen, der für das Volk Israel zum Retter wird. Ohnmächtig, hoffnungslos, verzweifelt, aber auch gewendet gegen Gott – so wird das Volk beschrieben, in dem Gott durch den Geist einen „Retter“ erweckt. Das Apostolische Glaubensbekenntnis sagt: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“ Gemeinschaft der Heiligen – Sünde – Auferstehung – ewiges Leben: Die frühen biblischen Zeugnisse vom Wirken des Geistes klingen ähnlich, stehen aber in klar bestimmbaren begrenzten Erfahrungskontexten: Der Geist Gottes wirkt durch einen Charismatiker, einen vom Geist überkommenen Menschen, im und am Volk Gottes. Er beendet dessen sündige Abwendung von Gott und befreit es aus der Not. Gott richtet sein Volk auf –
10
Francis Fiorenza, The Resurrection of Jesus and Roman Catholic Fundamental Theology, in: Davis/Kendall/O’Collins, Resurrection, 213-248, 238ff (siehe zum Buch 2.2, Anm. 1).
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Die Auferstehung
„und Israel hatte vierzig Jahre lang Ruhe“ (Ri 3,11; 8,28).11 Klarer wird die Rolle und Wirkung des Geistes in prophetischen Verheißungen des Alten Testaments, die das Neue Testament auf Jesus Christus bezieht. Der von Gott erwählte „Gottesknecht“ (Jes 11,1ff; 42,1ff; 61,1ff) bringt Israel und den Völkern Gerechtigkeit, Erbarmen mit den Armen und Schwachen und eine universale Gottes- und Wahrheitserkenntnis – d. h. Recht, Erbarmen und wahren Gottesdienst.12 Doch wie wird eine solche Gemeinschaft tatsächlich gestiftet und erhalten? Die alttestamentlichen Überlieferungen sehen diese Kraft in der Thora, im Gesetz. Die neutestamentlichen Überlieferungen sprechen von der Selbstvergegenwärtigung des auferstandenen Jesus Christus, von der Konstitution des nachösterlichen Leibes Christi in Gestalt seiner Kirche, von der „Ausgießung des göttlichen Geistes“ auf die Menschen durch den erhöhten Christus und den göttlichen Schöpfer und vom „Kommen des Reiches Gottes“. Um diese großen Perspektiven einzuholen, ist es nötig, die verzweifelte Situation ins Auge zu fassen, mit der sich das Ereignis der Auferstehung auseinandersetzt: mit der Macht der Welt, die Jesus ans Kreuz bringt.
11 Vgl. Welker, Gottes Geist, 58ff, zum Folgenden ebd., 109ff, 215ff (siehe 0.6, Anm. 16). 12 Damit stehen die Eckpfeiler des alttestamentlichen Gesetzes vor Augen. Der Geist Gottes bringt durch den von Gott Erwählten, auf dem der Geist „ruht“, die Erfüllung des Gesetzes. In einer vom Geist Gottes erfüllten Gemeinschaft und Welt herrschen das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheitserkenntnis, nach Schutz der Schwachen und liebevoller wechselseitiger Annahme.
Teil 3 Das Kreuz
3.1 Theologie des Kreuzes: Eine reformatorische Revolution (Luther) Die „Theologie des Kreuzes“ ist eine revolutionäre Theologie. Erst im Licht des Lebens Jesu und im Licht der Macht seiner Auferstehung lässt sich diese Revolution in ihrem ganzen Ausmaß erfassen. Sie richtet sich gegen Gottesvorstellungen und Gottesgedanken, die nur in tiefsinnigen Spekulationen ausgebildet werden und nur geistigen Eliten zugänglich sind. Und sie richtet sich gegen Formen von Religiosität, die von Gottes Auseinandersetzung mit dem Leiden, der Not und der vielfältigen Selbstgefährdung der Welt und der Menschen absehen. Gottes Gegenwart in der radikal von Gott unterschiedenen Schöpfung, aber auch der Ernst und die richtende und rettende Macht dieser Gegenwart werden in der Theologie des Kreuzes respektiert. Martin Luther hat diese Theologie programmatisch ins Zentrum der Reformation gestellt. Er folgt damit Paulus, der gegenüber den Korinthern erklärt: „Denn ich entschloss mich, unter euch von nichts anderem zu wissen als von Jesus Christus, und zwar dem Gekreuzigten“ (1Kor 2,2).1 Am 12. Februar 1519 schreibt Luther an Spalatin, Sekretär Kurfürst Friedrichs des Weisen, in einem brieflichen Gutachten über das Johannesevangelium zur Willensgemeinschaft Jesu mit seinem Vater (Joh 6,37-40)2: „Wer da will heilsam über Gott denken oder spekulieren, der setze alles andre hintan gegen die Menschheit Christi.“ Er betont: „Und das ist die einzige und alleinige Weise, Gott zu erkennen, von der die Sentenzenlehrer weit gewichen sind, die an der Menschheit Christi 1 Siehe dazu Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, 1. Teilband: 1Kor 1,1-6,11, EKK VII/1, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn: Benziger u. Neukirchener, 1991, 227ff, bes. 228: „Ist der Gekreuzigte Maß und Mitte, sind andere Inhalte nicht verdächtigt und verboten, wie die paulinischen Briefe selbst deutlich erkennen lassen, aber vom Kreuz her gewinnt alles eine andere Qualität und Perspektive, hat sich alles ausrichten zu lassen, auch die theologia resurrectionis, wenngleich durch die Auferstehung die Bedeutung des Kreuzes allererst offenbar und verkündbar wird.“ 2 WB 1, Nr. 145, 326ff; vgl. Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin: de Gruyter, 4. Aufl. 1964, 26ff.
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Das Kreuz
vorbei in die absoluten Spekulationen von der Gottheit sich eingeschlichen haben ...“ „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6b). Dieses Wort haben christliche Theologien aller Zeiten ernst zu nehmen versucht. Luther bestreitet radikal, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus an der Menschheit Christi vorbei und durch „absolute Spekulationen“ über Gott wahrgenommen werden kann. Die Offenbarung Gottes ist nicht in metaphysischen Spekulationen zu erfassen. Sie ist auch nicht nur kleinen Gruppen von Gelehrten und Kirchenfürsten zugedacht. Gott hat es gefallen, sich in seinem Sohn – in dessen Leben und damit auch in seiner Ohnmacht und in seinem Leiden – zu offenbaren. Darauf müssen der Glaube und die Theologie, müssen sich alle Gelehrten und alle geistlichen und weltlichen Würdenträger einlassen. Diese Konzentration auf die Offenbarung Gottes in der Menschheit Jesu Christi löst eine bereits im Spätmittelalter vorbereitete3 Bildungsrevolution aus. Sie ist durchaus vergleichbar der Revolution, die die empirisch orientierten modernen Naturwissenschaften ausgelöst haben.4 Schnell wird deutlich, dass es nicht nur um die Erneuerung der gesamten Theologie und Frömmigkeit geht, sondern auch um eine Umorientierung in Kultur, Wissenschaft und Bildungswesen. Gemeinsam mit Spalatin, mit Karlstadt und mit Melanchthon plant Luther eine Universitäts- und Wissenschaftsreform zunächst für Wittenberg, in der die scholastische Philosophie und Theologie zurückgedrängt werden soll. Eine Rückkehr zu den Quellen der Theologie, eben zu den biblischen Texten, und die Pflege der griechischen und hebräischen Philologie sollen den Monopolanspruch des spekulativ-philosophischen Denkens brechen. Mit der biblischen Bildung, durch kompetente Übersetzungen und Buchdruck sollen auch breite Bevölkerungsschichten für einen direkten Zugang zu den biblischen Zeugnissen von Gottes Offenbarung gewonnen werden. Dies erfordert gewaltige bildungspolitische Anstrengungen, die aber nicht nur der geistlichen, sondern auch der weltlichen Freiheit der Christenmenschen zugute kommen werden. Am Machtmissbrauch der religiösen Eliten hatte sich der sogenannte Ablassstreit entzündet. Luther hatte nach langem Zögern am 31. 3 Vgl. Berndt Hamm, Religiosität im späten Mittelalter, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, bes. 513ff.; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009, 88-90 u. 95-102; Thomas Kock u. Rita Schlusemann (Hg.), Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, Gesellschaft, Kultur und Schrift 5, Mediävistische Beiträge 5, Frankfurt: Peter Lang, 1997; Klaus Schreiner (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 20, München: Oldenbourg, 1992; bes. Volker Honemann, Der Laie als Leser, in: ebd., 241ff. 4 Siehe dazu Alfred North Whitehead, Science and the Modern World, Lowell Lectures 1925, New York: Free Press, 1967 (viele Nachdrucke), 8 (dt.: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt: Suhrkamp, 1984).
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Oktober 1517 an den Erzbischof Albrecht von Mainz und an den Diözesanbischof von Brandenburg 95 Thesen geschickt, die als Grundlage für eine Disputation gedacht waren, mit der er sich gegen die Ablasstheologie und -praxis wenden wollte. Im Begleitbrief heißt es: „Welche Schande für einen Bischof ..., wenn er für das Evangelium kein Wort übrig hat und bloß den Ablasslärm in sein Volk ausgehen lässt ...“5 Luther hatte in These 82 provokativ gefragt: „Warum befreit der Papst nicht alle Seelen zugleich aus dem Fegfeuer um der allerheiligsten Liebe willen“, warum nur einzelne Zahlungswillige „um des allerunheilvollsten Geldes willen“?6 Buße könne allein aus der Erkenntnis der Sündenschuld des Menschen und der Gnade Gottes kommen. Beides aber werde offenbar, wenn die Christen „ihrem Haupte Christus durch Kreuz, Tod und Hölle nachzufolgen sich befleißigen“ (These 94)7. Die in lateinischer Sprache verfassten Thesen werden in der gelehrten Welt und in der kirchlichen Führung schnell verbreitet. Nachdem sie ohne Luthers Einwilligung in die deutsche Sprache übersetzt worden sind, gehen sie wie ein Lauffeuer durch Deutschland. Im März 1518 legt Luther in der Schrift Ein Sermon von dem Ablaß und von der Gnade8 seine Sicht erstmals in deutscher Sprache für eine größere Öffentlichkeit dar. Dieser Sermon wird im Nu verbreitet. Noch im selben Jahr erscheinen 12 Nachdrucke. Die Auseinandersetzung über den Ablass und die Ablasstheologie ist nicht nur eine Diskussion über ein theologisches Spezialthema und nicht nur ein kirchenpolitischer Disput. Sie wird zu einer öffentlichen Anklage gegen den Missbrauch kirchlicher Macht und die Verbreitung falscher religiöser Lehre. In dieser brisanten Situation bitten Luthers Ordensobere ihn wiederholt, dem Orden keinen Schaden zuzufügen und sich öffentlich zu erklären. Im April 1518 macht sich Luther zu Fuß auf den Weg nach Heidelberg, wo die Versammlung der Mönche seines Ordens auf den 25. April angesetzt ist. Am 26. April findet im Heidelberger Augustinerkloster eine öffentliche Disputation über Thesen statt, in denen sich Luther grundlegend mit der scholastischen Theologie auseinandersetzt. Luther stellt in der sogenannten Heidelberger Disputation 28 Thesen zur Diskussion, die von fünf Doktoren der Theologie diskutiert werden. Die erste These lautet: „Das Gesetz Gottes, die heilsamste Lebensregel, kann einen Menschen nicht zur Gerechtigkeit brin5 6
WB 1, Brief 48, 108-115, 111. Martin Luther, Resolutionen oder Erklärung und Beweis der Thesen von der Kraft der Ablässe, in: ders., Aus der Frühzeit der Reformation, Ausgewählte Werke, Bd. 1, hg. H. H. Borcherdt u. Georg Merz, München: Kaiser, 3. Aufl. 1963, (142ff), 290 (Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, 1518, in: WA 1, 625f). 7 Resolutionen, 294 (Resolutiones, WA 1, 628). 8 In: Luther, Aus der Frühzeit der Reformation, 109ff (siehe 3.1, Anm. 6); (WA 1, 239ff).
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gen, steht vielmehr im Wege.“9 Luther begründet das damit, dass die Menschen auf ihre eigenen Werke fixiert sind und nicht auf die Werke Gottes blicken, dass sie sich mit dem Schein der Gerechtigkeit zufrieden geben und nicht auf Gottes Handeln sehen. Gott offenbart sich nicht im Glanz, sondern in Leiden und Ohnmacht, in einem Retter, der „keine Gestalt noch Schöne hat“ (Jes 53,2), und er offenbart sich in dramatischem Wirken: „... der Herr macht tot und lebendig“ (1Sam 2,6). Die Menschen, die einen göttlichen Glanz und den eigenen Glanz suchen, missbrauchen das gute Gesetz Gottes, das, wie Luther ausdrücklich sagt, „heilige Gesetz Gottes, das unbefleckte, wahre, gerechte, das dem Menschen von Gott zur Hilfe gegeben ist, um ihn über seine natürliche Kraft hinaus zu erleuchten und zum Guten zu bringen“ (Erläuterung zur These 2).10 Sie missbrauchen es, indem sie ohne Gottesfurcht und in Hochmut auf ihre eigenen Werke bauen. Demgegenüber heißt es in These 11: „Vermessenheit kann nur da vermieden werden und wahre Hoffnung nur da sein, wo man bei jeglichem Werke das Gericht der Verdammnis fürchtet. ... Denn es ist unmöglich auf Gott zu hoffen, ohne an allen Kreaturen zu verzweifeln und zu wissen, daß einem nichts nützen kann außer Gott.“11 Doch was kann der Mensch tun, um wirklich Gott zu suchen und auf Gott zu hoffen? Was kann er tun, um zu vermeiden, dass er nicht „allenthalben das Seine“ sucht (Erläuterung zu These 16) und damit „Sünde an Sünde“ fügt? (These 16)12 Was kann der Mensch tun, dass er in dieser beklemmenden Situation nicht in Verzweiflung oder in Fatalismus verfällt (vgl. These 17)? Die Antwort lautet: Er muss sich an Gottes Offenbarung, genauer, an die Offenbarung der Gnade Gottes in Christus halten. Das wird zugespitzt und entfaltet in den berühmten Thesen 19 bis 21. These 19: Nicht der heißt mit Recht ein Theologe, der Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke wahrnimmt und versteht ... Das unsichtbare Wesen Gottes ist seine Kraft, Gottheit, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte u. ä. Die Erkenntnis aller dieser Dinge macht nicht weise und würdig.13
Wer diese Erkenntnis anstrebt, wird versuchen, „in die absoluten Spekulationen von der Gottheit“ sich einzuschleichen. These 20: „sondern der heißt mit Recht ein Theologe, der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in 9
Martin Luther, Heidelberger Disputation, in: Aus der Frühzeit der Reformation, 125 (WA 1, 355). 10 Heidelberger Disputation, 126 (WA 1, 356). 11 Heidelberger Disputation, 130 (WA 1, 359). 12 Heidelberger Disputation, 131 (WA 1, 360). 13 Heidelberger Disputation, 133 (WA 1, 361).
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Leiden und im Kreuz dargestellt, begreift.“14 Gott hat der Welt seine Menschheit und Schwachheit zugewandt. Gott will, dass er aus den Leiden erkannt werde. Gott will die „Weisheit des Unsichtbaren“ durch eine „Weisheit des Sichtbaren“ verwerfen. Luther summiert in der Erläuterung zu These 20: „So ist es für niemand genug und nütze, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“15 In These 21 bringt Luther dann die beiden Theologien auf den Begriff, indem er die Theologie, die Gott aus dem unsichtbaren Wesen, aus seiner Herrlichkeit, Weisheit, Kraft und Gottheit erkennen will, Theologie der Herrlichkeit nennt, die andere aber Theologie des Kreuzes. „(D)er Theologe des Kreuzes nennt die Dinge beim richtigen Namen“, heißt es in These 21. „Der Theologe der Herrlichkeit nennt (hingegen) das Schlechte gut und das Gute schlecht.“16 Wie kann Luther so hart über die Theologie der Herrlichkeit urteilen? Er tut es deswegen, weil sie von Gottes Offenbarung in Christus abstrahiert; sie kennt Christus nicht und kennt nicht den im Leiden verborgenen Gott. Daraus aber folgt, so Luther, dass sie Gottes glänzende Werke dem Leiden, die Herrlichkeit dem Kreuz, die Kraft der Schwachheit vorzieht. Die Theologen der Herrlichkeit hassen Kreuz und Leiden, lieben aber glänzende Werke, die Gottes und ihre eigenen. Und deshalb nennen sie das Gute des Kreuzes böse und das Böse des Werkes gut. In der Erläuterung zu These 21 folgt dann der entscheidende Satz: „Gott aber kann nur in Kreuz und Leiden gefunden werden ...“17 Die Theologie des Kreuzes ist der Weg, die eigene Unfähigkeit zum Guten zu ertragen, anzuerkennen und sich in Gottesfurcht auf den schöpferischen Gott auszurichten, Gott gerade durch Kreuz und Leiden an sich wirken zu lassen.18 Luther betont in These 25, dass durch diese 14 15 16 17 18
Heidelberger Disputation, 133 (WA 1, 362). Heidelberger Disputation, 133 (WA 1, 362). Heidelberger Disputation, 134 (WA 1, 362). Heidelberger Disputation, 134 (WA 1, 362). Berndt Hamm hat in seinem Beitrag: Wie mystisch war der Glaube Luthers?, in: ders. u. Volker Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 237-287, in einer nuancierten Würdigung der neueren kirchen- und theologiegeschichtlichen Bemühungen, auch bei Luther eine Variante der Mystik zu entdecken, die wichtigen Transformationen hervorgehoben, die Luther an allen Theologien der Gottunmittelbarkeit vornimmt. Luthers Theologie ist nach Hamm nur dann mit mystischen Traditionen in Einklang zu bringen, wenn diese den „mystischen Begriff des ‚raptus‘“ vertreten, das „Aus-sich-selbst-Herausgerissenwerden“ des Glaubenden (269, vgl. 269ff). In diesem „‚raptus‘ und ‚extra nos‘ des Glaubens“ liegt, wie Hamm hervorhebt, „nicht nur das Befreiende der christlichen Freiheit, sondern auch die harte Bitterkeit des Kreuzes“ (271, vgl. 273; siehe auch Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 30, WA 7). Hamm spricht von einer mehrfachen „Gebrochenheit der Mystik Luthers“ (275). Dennoch will er Luthers Begeisterung für die Theologie des Mystikers Johannes Tauler verständlich machen (siehe
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Haltung die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben eingegossen wird. Aufgrund der durch den Glauben eingegossenen Gerechtigkeit folgen dann auch die guten Werke, die dem Gesetz entsprechen. Das Gesetz befiehlt, was der Glaube erreicht. Im Glauben werden die Intentionen des Gesetzes erfüllt. Doch vor dem Glauben steht die Umwertung aller Werte durch das Kreuz, die Offenbarung Gottes in der Menschheit, im Elend und in der Niedrigkeit. Gegen einen selbstgerechten Triumphalismus emphatischer oder moderater Art, gegen alle offenen und verdeckten Formen des Selbstvertrauens lehrt die Theologie des Kreuzes das radikale Vertrauen auf den auch aus Leid und Not heraus schöpferischen Gott und auf die Kraft des Geistes, indem sie die Menschen ganz auf Jesus Christus in seiner Menschheit und in seinem Leiden konzentriert. Dieser theologische Neuansatz ist bahnbrechend und bleibt es bis heute. Nur muss er immer wieder gegen mächtige Theologien der Herrlichkeit gewonnen, erneuert und verteidigt werden. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg schreibt Luther an Spalatin über die Heidelberger Disputation, dass seine Theologie vielen fremdartig erschienen sei, dass aber die Aufmerksamkeit der Studierenden und der ganzen Jugend ihn hoffen lasse. Viele seiner alten Förderer und Freunde jedoch wenden sich jetzt, wie er betrübt feststellen muss, von ihm ab. Sie begründen das damit, dass sie sich auf die Autorität der Stimme der „natürlichen Vernunft“ berufen.19 Der Rückzug auf die natürliche Ver278f u. Anm. 132), da beide „die Polarität (der Erfahrung) extremer Gottverlassenheit und innigster Gottesvertrautheit“ (282) fasziniert. Tauler hatte mit der spätmittelalterlichen Mystik die Erhebung „des inneren Menschen zur vergöttlichenden ‚unio mystica‘“ (282) als geistliche Zielvorstellung vor Augen. Für Luther liegt aber „der Möglichkeitsgrund für die persönliche Heilsgewissheit des Glaubenden … im ‚Von-außen-her‘ des Gnadenwortes und des Heiligen Geistes“ (285). Deshalb wird weiterhin darüber diskutiert werden müssen, ob es sinnvoll ist, mit einem gegenwärtigen Forschungstrend (führend Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland [1300-1500], Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2010, der 652ff Luthers Herausgabe und Empfehlung der mystischen „Theologia Deutsch“ hervorhebt) Luthers Denken als mehrfach gebrochene (!) mystische Position zu präsentieren. Sollte nicht eher mit so verschiedenen Theologen (die Hamm 238, Anm. 2 u. 3 nennt) wie Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte III, Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Aufl. 1910, 433f; und – im Anschluss an Barth, Gogarten und Brunner – Walther von Loewenich, Luthers Theologia crucis, Witten: Luther-Verlag, 5. Aufl. 1967, 170ff, eingeräumt werden: „Evangelischer Glaube und Mystik verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander“ (ebd., 172)? Ohne eine christologisch konzentrierte Kreuzestheologie könnte sich die mystische Frömmigkeit als ein trojanisches Pferd im Bereich christlicher Frömmigkeit erweisen (vgl. Teil 0.5). 19 Brief an Spalatin über die Heidelberger Disputation vom 18. Mai 1518, in: Aus der Frühzeit der Reformation, 139 (siehe 3.1, Anm. 6) (WB 1, 173): „... die Stimme der natürlichen Vernunft, was uns freilich ebensoviel ist wie Chaos und Finsternis. Denn wir predigen von keinem anderen Lichte als von Christus Jesus, dem alleinigen und wahrhaftigen.“
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nunft, die, wenn sie nicht eine Theologie der Herrlichkeit vertritt, so doch die Theologie des Kreuzes zumindest zu verwässern und abzumildern sucht, ist den vormaligen Freunden und den Gegnern Luthers kaum zu verargen, wenn die mit der Kreuzestheologie gegebene Herausforderung verdeutlicht wird. Denn was verhindert, dass die Konzentration auf das Kreuz Christi die Gotteserkenntnis unmöglich macht? Was verhindert, dass Gott in seiner „Menschheit und Schwachheit“ als Gott einfach unkenntlich wird? Was verhindert, dass das Kreuz nur zur Botschaft wird: Es ist kein Gott!? Luthers Ausführungen selbst weisen zwei problematische Spannungen auf, die über Jahrhunderte hinweg die Theologie und die Christologie im Besonderen schwer belastet haben. Erstens betont er in der Erläuterung zu These 21: „Gott aber kann nur in Kreuz und Leiden gefunden werden.“ In der Erläuterung zu These 20 hingegen heißt es: „So ist es für niemand genug und nütze, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“ Eine Theologie des Kreuzes kann und darf nicht von der Auferstehung abstrahieren, wenn sie nicht in einer ebenso abgründigen wie problematischen Leidensmystik oder in trotzigen Beschwörungen von Paradoxien als vermeintliche Offenbarung ein trauriges Ende finden will. Der zweite Punkt, an dem sich in der Heidelberger Disputation und auch in anderen Texten Luthers eine problematische Unausgeglichenheit findet, die die Theologie der Reformation und besonders das ihr folgende Luthertum schwer belastet hat, betrifft das Gesetz. Einerseits spricht Luther in den Thesen 1 und 2 davon, dass das Gesetz Gottes „die heilsamste Lebensregel sei, das heilige Gesetz Gottes, das unbefleckte, wahre, gerechte, das dem Menschen zu Hilfe gegeben ist, um ihn über seine natürliche Kraft hinaus zu erleuchten und zum Guten zu bringen.“ Andererseits zitiert Luther mit Recht die Aussagen des Paulus, dass die Gerechtigkeit Gottes „ohne Zutun des Gesetzes offenbart“ (Röm 3,21) worden sei und dass das Gesetz die Sünde nicht nur erkennen lasse, sondern sie auch stärken könne (vgl. 1Kor 15,56). Diese verschiedenen Bestimmungen werden dann aber nicht differenziert entfaltet und einander zugeordnet, sondern die gesamte Kritik Luthers konzentriert sich auf die polarisierende Entgegensetzung von Werken Gottes und Werken des Menschen. Als „Werke des Menschen“ werden vor allem die „Todsünden“ angegriffen, die darin bestehen, dass etwas „als gut erscheint und dennoch inwendig einer schlechten Wurzel und eines schlechten Baumes Frucht ist“ (These 5 und Erläuterung).20 Diese Werke des Menschen werden nun schlicht als „Werke des Gesetzes“ bezeichnet. Damit nimmt Luther in unklarer Weise Wendungen des Paulus auf (Röm 1-4 und Gal 3) – statt das Problem genauer zu analysieren, dass es Werke 20
Heidelberger Disputation, 127 (WA 1, 357).
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gibt, die dem Gesetz zu entsprechen scheinen, die deshalb gut erscheinen und die dennoch eines schlechten Baumes schlechte Frucht sind. Luther hätte dann zwischen dem guten Gesetz und dem von der Sünde missbrauchten Gesetz unterscheiden können und unterscheiden müssen. Er hätte dann allerdings auch unterscheiden müssen zwischen dem Gesetz, das die Sünde erkennen lässt, und dem Gesetz, das zu schwach ist, um seinen eigenen Missbrauch durch die Sünde zu entlarven. Diese Verohnmächtigung des guten Gesetzes ist ein ganz zentrales Thema jeder Kreuzestheologie (siehe Teil 3.3-3.5). Leider weist die Heidelberger Disputation dieses Differenzierungsvermögen nicht auf, und auch zahllose Theologien von Gesetz und Evangelium lassen es vermissen. Dieses Differenzierungsvermögen ist aber unverzichtbar, um zu erkennen, was eigentlich am Kreuz Christi geschieht. Doch gehen wir zunächst einmal von der These aus, dass Gott nur in Kreuz und Leiden gefunden werden soll. Warum folgt daraus nicht, dass dieser Gott tot ist bzw. dass gar kein Gott ist? Warum wird Gott am Kreuz nicht völlig unkenntlich, dabei aber auch in Jesus Christus völlig unkenntlich? Denn selbst wenn Gott nur vorübergehend dem Tod das Feld überlassen hätte, wäre Gottes Gottheit doch damit in Frage gestellt. Wenn aber Gott gleichsam über dem Geschehen geschwebt hätte, um sich nach drei Tagen seiner göttlichen Macht zu besinnen und Christus aufzuerwecken, wäre dann nicht das Vertrauen auf Gottes Güte und Treue erschüttert? Wäre dann nicht auch die wahre Gemeinschaft und Einheit Jesu mit Gott in Frage gestellt? Was zunächst als Durchbruch erscheint: Gott im Leben und Leiden Jesu, Gott am Kreuz und damit in der Tiefe von menschlichem Leid, Not, Schuld und Tod offenbart zu sehen, erweist sich als ein abgründiges theologisches Problem. Das Bewusstsein für die extreme Bedeutung dieser Problemstellung und die Radikalität der reformatorischen Revolution haben ausgerechnet große philosophische Denker des 19. Jahrhunderts geweckt, die die schärfste Religionskritik und Christentumskritik der Geschichte auf ihren Höhepunkt geführt haben: Hegel und Nietzsche.
3.2 Philosophie des Kreuzes und Philosophie „nach dem Tode Gottes“ (Hegel, Nietzsche) Die Gräuel der Weltkriege und der Völkermorde, aber auch das Vordringen von Atheismus und Agnostizismus, vor allem im kommunistischen Teil der Welt, lassen im 20. Jahrhundert die Frage nach dem „Tod Gottes“ und in Verbindung damit die Kreuzestheologie wieder aktuell werden. Große philosophische Denker des 19. Jahrhunderts helfen der Theologie bzw. provozieren sie, die Impulse von Paulus und Luther unter
3.2 Philosophie des Kreuzes
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Bedingungen der späten Moderne neu zu durchdenken. Besonders einflussreich wird die Philosophie des Kreuzes und des Todes Gottes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Hegel hat die wohl subtilste Religions- und Christentumskritik der Geschichte eingeleitet. Ohne ihn wäre die viel bekanntere und plakativere Religionskritik von Feuerbach, Marx und den anderen Linkshegelianern bis hin zum Neomarxismus des 20. Jahrhunderts1 nicht denkbar. Sie nimmt seine wichtigsten Impulse auf. Auch Friedrich Nietzsche hat dazu beigetragen, dass die theologische und praktische Reichweite der Kreuzestheologie wiederentdeckt wurde. Er entwickelt die Religions- und Christentumskritik als „Fluch auf das Christenthum“2 und als „Krieg“, ja „Todkrieg“3 gegen diese, wie er meint, „Ausgeburt des Nihilismus“ zu höchster Schärfe. Die Positionen von Hegel und Nietzsche legen es nahe, eine transformatorische Religionskritik, die die Religion radikal verändern und „aufheben“ (d. h. in veränderter Gestalt aufbewahren, aber als lebendige und gelebte Religiosität erübrigen) will, von einer denunziatorischen Religionskritik, die die Religion herabsetzen und als absurd abtun will, zu unterscheiden. Kant und Hegel haben eine transformatorische Religionskritik entwickelt. Sie war, wie wir heute sehen können, wesentlich folgeträchtiger als die aufgeregten denunziatorischen Formen der Kritik von Feuerbach, Marx oder Nietzsche.4 Das Kreuz als Angelpunkt in Hegels Philosophie und Religionskritik Hegel radikalisiert Luthers Forderung, Gott selbst müsse in Kreuz und Leiden erkannt werden. Er spricht davon, dass die Philosophie einen 1 Der Neomarxismus in Philosophie und Theologie hat in der Ab- und Auflösung des orthodoxen Marxismus eine noch immer nicht hinreichend gewürdigte Rolle gespielt. Er hat die Beschäftigung mit der Religion und die Religionskritik wieder interessant gemacht. Marx hingegen hatte betont, dass die Religionskritik beendet sei, dass man sich nun auf die Kritik der Politik, des Rechts und der Ökonomie konzentrieren müsse (Frühschriften, 207ff; siehe 0.4, Anm. 34). Er, Engels und Lenin haben vor einer Belebung der Religionskritik gewarnt. Die Religion müsse mit repressiver Gleichgültigkeit behandelt und so gleichsam ausgetrocknet werden. Vgl. Michael Welker, Gegner des Glaubens. Reflexionen über die Gleichgültigkeit, Evangelische Kommentare 12 (1979), 403f, 409f. 2 So der Untertitel seiner Schrift: Der Antichrist, KSA 6 (siehe 0.4, Anm. 35). 3 Der Antichrist, 254. Vgl. ders., Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. Karl Schlechta, Bd. 3, München: Carl Hanser, 1966, 568 (zit.: Nachlaß). 4 Ansätze zu milder transformatorischer Religionskritik finden sich in neuerer Zeit z. B. bei Jürgen Habermas und Niklas Luhmann; siehe Michael Welker, Habermas und Ratzinger zur Zukunft der Religion, EvTh 68 (2008), 310-324; ders., Die neue „Aufhebung der Religion“ in Luhmanns Systemtheorie, in: ders. (Hg), Theologie und funktionale Systemtheorie. Luhmanns Religionssoziologie in theologischer Diskussion, stw 495, Frankfurt: Suhrkamp, 1985, 93-119.
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spekulativen Karfreitag herstellen müsse. Sehr schwierige Sätze vom Ende seiner Schrift Glauben und Wissen sind immer wieder mit – irritierter oder begeisterter – Andacht zitiert worden. Darin fordert Hegel programmatisch: Der Karfreitag dürfe nicht nur als historisches Ereignis verstanden werden, er müsse als „spekulative(r) Charfreitag“ eine gegenwärtige Existenz erhalten. Der Karfreitag, „der sonst historisch war“, müsse „in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit“ wiederhergestellt werden. Die Philosophie müsse dem „unendlichen Schmerz“, der vorher nur geschichtlich war und als „das Gefühl: Gott selbst ist tot“ bestand, „eine philosophische Existenz geben“. Sie müsse dies tun, um „der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden“5 wiederherzustellen. Mehrere wichtige, auch theologisch wichtige Impulse sind diesen dunklen Äußerungen zu entnehmen. 1. Das Kreuz Jesu Christi und der Karfreitag dürfen nicht als ein nur historisches Ereignis aufgefasst werden. Wenn, wie der christliche Glaube behauptet, in Jesus Christus „das jenseitige absolute Wesen, Mensch geworden“6 ist, dann betrifft der Tod am Kreuz nicht nur Jesus von Nazareth, sondern Gott selbst. Damit kann dieser Tod nicht nur ein vergangenes Ereignis sein, das nur einen einzelnen Menschen angeht. Dieser Tod und der Karfreitag müssen in ihrer die Zeiten übergreifenden Gestalt und Ausstrahlung wahrgenommen werden. Das ist eine auch theologisch gewichtige Einsicht. 2. Der nicht nur Jesus damals auf Golgatha, sondern Gott selbst betreffende Tod hat Folgen für das Verständnis der Offenbarung Gottes. In seinen wiederholt gehaltenen Vorlesungen über die Philosophie der Religion bezieht sich Hegel pointiert auf ein kirchliches Lied von Johannes Rist7: „‚Gott selbst ist tot‘ heißt es in einem lutherischen Liede; damit ist das Bewußtsein ausgedrückt, daß das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment selbst sind, ... daß die Endlichkeit ... nicht außer Gott ist und ... die Einheit mit Gott nicht hindert.“8 Hegel unterscheidet die „äußerliche( ) Auffas5 Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802) (PhB 62b), Hamburg: Meiner, 1962, 123f = in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Kritische Schriften, hg. Hartmut Buchner u. Otto Pöggeler, Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg: Meiner, 1968, 413f (die Werkausgabe wird zitiert: GW [mit Bandnummer]). 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes. Vorlesungsmanuskript zur Realphilosophie (1805/06), Jenaer Systementwürfe III, hg. Rolf-Peter Horstmann, GW 8, 1976, 282. 7 Dazu Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 84f (siehe 0.1, Anm. 5). 8 Vorlesungen über die Philosophie der Religion (PhB 63), Bd. 2, 2. Halbbd.: Die absolute Religion, Hamburg: Meiner, 1966 (Nachdruck d. 1. Aufl. 1929, hg. Georg Lasson), 172 = Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 5, hg. Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner,
3.2 Philosophie des Kreuzes
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sung“ des Todes Jesu am Kreuz von der „Betrachtung mit dem Geiste, aus dem Geiste der Wahrheit, aus dem heiligen Geiste“.9 Diese „höhere Betrachtung“ mache damit Ernst, dass in Jesus Christus Gott selbst als Mensch erschienen ist. Die Menschlichkeit ist in Gott, und zwar auch in höchster Abhängigkeit, letzter Schwäche und tiefster Stufe der Gebrechlichkeit als der natürliche Tod.10 3. Der die Zeiten übergreifende Karfreitag und Tod Gottes betrifft nicht nur Gott selbst oder die Existenz eines einzelnen Menschen oder mehr oder weniger großer Menschengruppen in Gestalt religiöser Gemeinden. Der die Zeiten übergreifende, von der Philosophie in seiner Wahrheit spekulativ erfasste Tod Gottes steht in Wechselzusammenhängen mit einer ganzen Zeit, einer ganzen Welt, genauer: er muss sich im Prinzip in allen Zeiten und Weltgegenden reidentifizieren lassen, die zur Wahrheitserkenntnis bereit und fähig sind. Hegel identifiziert diesen Karfreitag und Tod Gottes in der „Religion der neuen Zeit“, die auf dem „Gefühl (beruhe): Gott selbst ist tot“11. Nicht nur der historische Karfreitag, auch die Kultur der modernen Welt ist durch eine – nun öffentlich geteilte – Erfahrung der Gottferne, ja Gottverlassenheit geprägt. Diese durch die Philosophie der Aufklärung verstärkte Stimmungslage hat Hegel, der seine Philosophie bewusst kontextuell, bewusst im Zeitbezug entwickelt12, in seinen kreuzesphilosophischen Überlegungen klar vor Augen. Seiner Auffassung nach stellt diese Situation eine Herausforderung für die Philosophie dar. 4. Hegel hat wie viele bedeutende Gelehrte seiner Zeit, die einmal Theologie studiert haben, ein gebrochenes Verhältnis zur Theologie und noch stärker zur Kirche. Von den frühesten Briefen an die Freunde Schelling und Hölderlin an13 bis zu den späten Briefen an seine Frau wird das überdeutlich. Wohl befasst er sich intensiv mit der Religion und durchdenkt zentrale Themen des christlichen Glaubens bis hin zur Trinitätstheologie und zur Theologie des Kreuzes. Aber dabei geht es ihm um eine „Aufhebung der Religion“, d. h. um eine Relativierung, eine Überholung, eine transformierende Aufbewahrung der Religion in der Philosophie bzw. in einer subtil religionskritischen und dabei philo1984, 249f (die Vorlesungen der Werkausgabe werden zitiert: Vorlesungen [mit Bandnummer]). Dazu Christian Link, Hegels Wort „Gott selbst ist tot“, Theologische Studien 114, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 1974. 9 Philosophie der Religion 2/2, 170 = Vorlesungen 5, 244. 10 Vgl. Philosophie der Religion 2/2, 172 = Vorlesungen 5, 249. 11 Glauben und Wissen, 123 = GW 4, 414 (siehe 3.2, Anm. 5). 12 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (PhB 124a), hg. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner, 1967 (Nachdruck d. 4. Aufl. 1955) = GW 14/I, 2009. Siehe auch Rüdiger Bubner, „Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt“, in: Hermeneutik und Ideologiekritik (Theorie-Diskussion), Frankfurt: Suhrkamp, 1971, 210ff. 13 Siehe dazu Briefe von und an Hegel, Bd. I: 1785-1812, hg. Johannes Hoffmeister, Berlin: Akademie-Verlag, 1970, 16f, 24; Bd. III, 202.
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sophisch orientierten gesellschaftlich-kulturellen Bewegung. Der junge Hegel ist mit vielen seiner Zeitgenossen begeistert von Kants Transformation und moralischer Funktionalisierung der Religion.14 Schon in seinen frühesten Schriften15 stellt er die Frage, wie die – als steril und reaktionär empfundene – Religion zu einer Kraft der Beförderung der Moralität und der freiheitlichen Weltveränderung werden könne. Diese Frage kann nach seiner Überzeugung „in der neuen Zeit“ nicht mehr genuin theologisch und kirchlich beantwortet werden. Theologie und Kirche sind auch durch eine äußerliche philosophische Modernisierung auf Dauer nicht zu retten. Sie sind nur noch in philosophisch radikal transformierter, kultur- und gesellschaftskritisch säkularisierter Gestalt existenzberechtigt.16 5. Am deutlichsten stellt Hegel seine letztlich religionskritische Sicht des Kreuzes im Offenbarungsgeschehen, das der christliche Glaube bezeugt, in der 1806 veröffentlichten Phänomenologie des Geistes dar, in dem Kapitel „Die offenbare Religion“.17 Die Phänomenologie des Geistes geht davon aus, dass auch in den trivialsten Wahrnehmungen und Erkenntnissen Schwundstufen des Geistes und seiner Wahrheitsansprüche liegen. Diese unentfalteten Gestalten und Formen des Geistes müssen von der Philosophie durchschaut werden. Das Bewusstsein und weiter entwickelte Formen des Erkennens müssen über die jeweilige Meinung, die Wahrheit zu besitzen, hinausgeführt werden. Von der einfachsten sinnlichen Gewissheit an über das Bewusstsein, den Verstand und das Selbstbewusstsein bis hin zur Vernunft rekonstruiert Hegel die Stufen der Erkenntnis und ihrer Wahrheitsansprüche. Diese Stufen werden philosophisch reflektiert erklommen und überschritten. Danach werden komplexere gemeinschaftliche und prak14 15
Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Bei ihrer ersten Veröffentlichung irreführend bezeichnet als: Theologische Jugendschriften, hg. Herman Nohl, Tübingen: Mohr, 1907, Nachdruck Frankfurt: Minerva, 1966. Zu Hegels Denkentwicklung siehe Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt: Suhrkamp, 1971, 41ff. 16 Als ein Freund dem jungen Hegel, der dringend eine Anstellung sucht, vorschlägt, seinen Lebensunterhalt durch Theologieunterricht am Gymnasium zu bestreiten, antwortet er: „… der ich viele Jahre lang auf dem freien Felsen bei dem Adler nistete und reine Gebirgsluft zu atmen gewohnt war, sollte jetzt lernen, von den Leichnamen verstorbener oder (der modernen) totgeborner Gedanken zehren und in der Bleiluft des leeren Geschwätzes vegetieren“; und er fügt hinzu, dass er sich wohl vorstellen könnte, „nach einigen Jahren fortgesetzter philosophischer Vorlesungen“ auch über Theologie zu lesen, aber, so fährt er fort, „α) aufgeklärte Religionslehre, ... β) für Schulen, ... γ) in Bamberg ... δ) unter der Aussicht der daraus entstehenden Ansprüche der christlich protestantischen hiesigen Kirche an mich; – eine Berührung, deren Gedanke mir eine Erschütterung durch alle Nerven gibt, als ob die christliche Kirche eine geladene galvanische Batterie wäre ... Herr! gib, daß dieser Kelch vorüber gehe!“ (Briefe I, 196; siehe 3.2, Anm. 13). 17 521-548 (siehe 0.5, Anm. 20) = GW 9, hg. Wolfgang Bonsiepen u. Reinhard Heede, 1980, 400-421.
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tisch-orientierende Erkenntnis- und Kommunikationsformen erschlossen – die Sittlichkeit, die Bildung, die Moralität und schließlich die Religion in ihren verschiedenen Formen bis hin zur christlichen Offenbarungsreligion. Am Ende wird das „absolute Wissen“ erreicht, das nach Hegels Überzeugung nur die Philosophie zu bieten vermag, sofern sie alle minderen Formen des Geistes durchlaufen und in sich „aufgehoben“ hat.18 Die vollkommenste der unzureichenden Erscheinungsformen des Geistes ist die offenbare oder die absolute Religion: In der offenbaren Religion, wie Hegel das Christentum nennt, geht es um die Bildung einer tendenziell universalen geistigen Gemeinschaft, die Hegel hier „Gemeinde“ nennt und von der religiösen „Gemeine“ unterscheidet.19 Auch in dieser Gemeinschaft müssen Wissen, Begreifen, Verständigung hergestellt werden. Die Wissenden, die Sich-Verständigenden sollen in diesem Erkenntnisprozess nicht nur eine abstrakte Wahrheit erkennen, etwa einen „letzten Gedanken“, Gott genannt, fassen. Sie sollen vielmehr ihre geistigen Grundlagen, sich selbst und ihre Welt begreifen, sie sollen in die Lage geraten, sich selbst durchsichtig zu werden und ihre Lebensverhältnisse vernünftig und freiheitlich zu gestalten. Der Abschnitt „Die offenbare Religion“ der Phänomenologie des Geistes stellt die Selbstkonstitution einer geistigen Gemeinschaft dar, die Konstitution einer Gemeinschaft, die die Struktur des Geistes aufweist: „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.“20 Die christlich-religiöse Gemeinschaft konstituiert sich zunächst, indem sie sich auf ein wirkliches einzelnes Selbstbewusstsein bezieht, in dem sie Gott selbst offenbart sieht – so beschreibt Hegel die Bildung der „Gemeine“ in der Konzentration auf Jesus Christus. Es ist nach Hegels Überzeugung müßig zu fragen, ob Jesus diese Gemeinschaft hervorgerufen habe oder ob diese ihn zu dem werden ließ, was er ist. Unsinnig ist es, darüber zu räsonieren, ob sich ohne Jesus auch eine „Gemeine“ gebildet hätte oder ob er nur Ausdruck der Bedürfnisse der Gemeinschaft sei, die sich erst im Blick auf ihn gebildet hat. Jesus und die Gemeine sind nicht unabhängig voneinander zu denken, sie sind gemeinsam ein „Phänomen des Geistes“, sie sind im strengen Sinne kopräsent, sie konstituieren einander wechselseitig. Hier verwirklicht sich der Geist in einer anspruchsvollen Form. Denn in diesem Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist, bezieht sich die Gemeine nicht nur auf ein 18 Vgl. Charles Taylor, Hegel, stw 416, Frankfurt: Suhrkamp, 1983, 263ff; Hans Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München: Beck, 2003, 242ff. 19 Vgl. z. B. Phänomenologie des Geistes, 531 u. 543 = GW 9, 408 u. 417 (siehe 3.2, Anm. 17). – Bei seinem Bezug auf Zivilgesellschaft, Recht und Politik operiert Habermas heute analog mit der Differenz von „Rechtsbürgern“ und „Gesellschaftsbürgern“ (vgl. Jürgen Habermas u. Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg. Florian Schuller, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 7. Aufl. 2007). 20 Phänomenologie des Geistes, 140 = GW 9, 108.
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individuelles Selbstbewusstsein, einen mehr oder weniger eindrücklichen Menschen, sie sieht vielmehr den sich offenbarenden Gott in ihm. Die offenbare Religion ist nach Hegels Überzeugung in zwei gegenläufige Bewegungen zu fassen, die man in zwei Sätzen ausdrücken kann21: die Substanz wird zum Selbstbewusstsein – das Selbstbewusstsein substantiiert sich. Die Glieder der „Gemeine“ fassen diese von ihnen nicht klar begriffene Bewegung plastischer: Die Substanz wird Selbstbewusstsein – das heißt für sie: „Gott wird Mensch“, und zwar dieser Mensch, Jesus von Nazareth. Das Selbstbewusstsein wird Substanz – das heißt für sie: „Die Kirche Christi breitet sich aus über die Welt.“22 In diesen und anderen plastischen Vorstellungen erfasst und erfährt die Gemeine das Versöhnungsgeschehen von Gott und Mensch. Das heißt, sie erfasst und erfährt es nur partiell, nur in begrenzter Weise. Die philosophische Betrachtung dagegen, die im Geschehen der offenbaren Religion die Bewegung des Begriffs, die Vereinigung von Substanz und Subjekt, die Offenbarung und Versöhnung des absoluten Geistes erkennt, kann das, was in der Religion wirklich vorgeht, vollständig erkennen und völlig durchsichtig machen. Was geht nach Hegels Überzeugung vor in der offenbaren Religion? Die Gemeine konzentriert sich auf den einzelnen Menschen Jesus von Nazareth und stellt fest, dass in ihm Gott Mensch geworden sei. Gott ist für sie noch numinose Totalität (die Substanz) oder ein auf andere Weise erahntes oder in Gedanken gesuchtes Jenseits bzw. ein jenseitiges Wesen, das hier auf wunderbare, unerklärliche Weise ein wirkliches, einzelnes Selbstbewusstsein geworden ist. Die Gemeine erkennt noch nicht sich selbst und ihr eigenes Tun in diesem Geschehen.23 Deshalb bedarf es entscheidend des Todes Jesu. 6. Erst indem Jesus stirbt, ist der Weg frei zur Selbsterkenntnis, zur Ablösung vom bloß Historischen, Zufälligen, zur Erfassung des eigentlichen Versöhnungsgeschehens. Doch die Gemeine verwechselt das Wesentliche mit dem historisch Ursprünglichen. Sie fragt, was der 21 22
Vgl. Phänomenologie des Geistes, 525 = GW 9, 403. Hegel selbst will diese Vorstellung philosophisch läutern und in ein universales Programm kulturell-politischer Entwicklung transformieren. Er schließt damit säkularisierend an die platonische und neuplatonische Lehre von der Vergöttlichung des Menschen und der Welt an, die Theosis-Lehre, die, über Paulus (2Kor 5,17; Gal 2,20; 3,26f) und Johannes (Joh 14,23; 17,21) vermittelt, zum zentralen Lehrstück der orthodoxen Theologie wird. (Vgl. Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, Ökumenische Theologie 12, Zürich/Einsiedeln/Köln u. Gütersloh: Benziger u. Gütersloher, 1985, 438ff; Reinhard Flogaus, Theosis bei Palamas und Luther. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, FSÖTh 78, Göttingen: Vandenhoeck, 1997.) Hegels transformatorische Religionskritik entwickelt dieses Konzept im Rahmen eines die Impulse der Aufklärung integrierenden großen Emanzipationsprogramms. 23 Vgl. Phänomenologie des Geistes, 547f = GW 9, 420f.
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wirkliche Mensch Jesus gesprochen und getan hat, was die ersten Christen erlebt und wie sie gelebt haben usw. Hegel beklagt diese „geistlose Erinnerung“, die wohl dem richtigen Instinkt folgt, das Versöhnungsgeschehen auf den Begriff bringen zu wollen, die sich aber immer in einer fernen Vergangenheit (das Neue Testament, die frühe Christenheit) herumtreibt und so vergeblich sucht, sich ihres eigenen Entstehens und ihrer eigenen wahren Bestimmung bewusst zu werden.24 Es bedarf der „höhere(n) Bildung“ des Bewusstseins25, um der Gemeine dieses Festhalten an vergangenen Erscheinungen und an natürlichen Vorstellungen abzugewöhnen, um sie auf den wahren Gegenstand dieses Geschehens zu bringen. Die so entstehende Gemeinde soll sich selbst als die Kraft erkennen, die die Versöhnung von Gott und Mensch hervorbringt, statt mit natürlichen Vorstellungen – wie Vater, Sohn und überhaupt Familienverhältnissen – das entscheidende Geschehen der Subjektwerdung der Substanz zu beschreiben und damit nur zu verdunkeln. 7. Ein radikales Verständnis des Todes Gottes ist nach Hegels Überzeugung der entscheidende Übergang zu jener höheren Bildung des Bewusstseins. Die philosophisch aufgeklärte und gebildete „Gemeinde“ muss sich zur Erkenntnis durchringen, dass nicht nur dieser einzelne Mensch, Jesus von Nazareth, gestorben ist, sondern dass auch das abstrakte jenseitige göttliche Wesen, das sie in jenes Selbstbewusstsein eingehen sah, gestorben ist. Die Erkenntnis, dass mit diesem Menschen auch alle Vorstellungen von Gott und alle abstrakten Gottesgedanken gestorben, ausgelöscht sind, die Einsicht, dass alle natürlichen und intellektuellen Vorstellungen und Darstellungen Gottes definitiv gescheitert sind, diese Einsicht „ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewußtseins, daß Gott selbst gestorben ist“26. Ein radikaler Tod Gottes ist ins Auge zu fassen, der auch die stärkste Erinnerung an Jesus Christus und alle denkbaren Gottesgedanken umgreift. Radikaler noch: Das Kreuz des spekulativen Karfreitags belässt keinen zentralen oder fundamentalen Begriff mehr, keinen Boden der Gewissheit, keinen letzten Halt, keine letzte Instanz mehr, mag diese nun Gott, Ich, Substanz, Subjekt oder anders genannt werden. In 24 25 26
Vgl. Phänomenologie des Geistes, 533f = GW 9, 409f. Phänomenologie des Geistes, 532 = GW 9, 408. Phänomenologie des Geistes, 546 = GW 9, 419. Hegel sieht in dieses Bewusstsein letzte „Ohnmachtserfahrung, ... Erfahrung von Sinnlosigkeit, Absurdität und nicht wieder gutzumachender Ungerechtigkeit“ eingeschlossen, nun aber so, dass auch die Frage nach Gott sinnlos geworden ist. Vgl. aber Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 69 (siehe 0.1, Anm. 5). Hegels Kreuzesphilosophie lässt jedoch einen letzten larmoyanten Ton, wie ihn Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ (ders., Werke, hg. N. Miller, Bd. 2, 3. Aufl. 1971, 273f – zit. nach Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 69, Anm. 5), noch anschlägt, absurd werden: „Vater, wo bist du? ... O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe?“
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dieser absoluten Trostlosigkeit, in dieser völligen Halt- und Orientierungslosigkeit erfolgt, wie Hegel formuliert, „die Rückkehr des Bewußtseins in die Tiefe der Nacht des Ich = Ich“27. Das Bewusstsein fällt zurück in eine unterschiedslose Einheit von Substanz und Subjekt, in den Abgrund eines vorreflexiven Selbstbewusstseins. 8. Diese Rückkehr des individuellen wie allgemeinen Bewusstseins in den Abgrund seiner selbst ist die Pointe des „spekulativen Charfreitags“: Das Bewusstsein aktualisiert geradezu die Gottverlassenheit des Karfreitags und gelangt in die totale Zerrissenheit, Auflösung und Dekomposition aller Halt versprechenden Vorstellungen, aller letzten Gedanken und Orientierungsgrößen – und gerade damit fällt es in den substantialen Abgrund seiner selbst. Das Selbstbewusstsein geht in sich, erwirbt ein zunächst nur dumpfes „Wissen des InSich-Seins“. Die gottverlassene, sich zur Gemeinde erhebende Gemeine in ihrer Verzweiflung erwirbt in diesem Leiden und in dieser höchsten Freiheit die Grundlage substantialer Subjektivität. Genauer gesagt, jeder in der Gemeinde erwirbt diese Subjektivität, jeder zieht den abstrakten, jenseitigen Gott, der gestorben ist, in die Tiefe des eigenen Selbst, in die reine, spekulative Andacht hinein. Doch damit hat die Gemeine noch keineswegs „das Bewußtsein über das, was sie ist“28. 9. Die Gemeine von jeweils mit sich erst abstrakt versöhnten Individuen müsste sich nun dieses Geschehen als Entstehen der Gemeinde freier Subjekte vor Augen führen. Sie müsste a) verstehen, was sich da „offenbart“ hat; b) dies nicht von außen zu betrachten suchen, sondern in sich selbst finden; c) sich der „eigne(n) Welt und Gegenwart“29 zuwenden und den „allgemeine(n) göttliche(n) Mensch(en, nämlich) die Gemeinde“30, die geschehene Versöhnung von Einzelnem und Gemeinschaft konkretisieren und ausbreiten. Der Tod Gottes darf nicht in eine mystische Rückkehr nur in das leere und dumpfe individuelle Selbst münden (vgl. Teil 0.5). Die Gemeinde müsste vielmehr die hier geschehene universale Versöhnung von einzelnem und allgemeinem Selbst, die Gleichheit und Freiheit aller Menschen in dieser sie verbindenden Grunderfahrung ergreifen. Sie müsste erkennen, dass sie „ihr eignes Tun und Wissen zu ihrem Vater“ hat.31 Sie müsste dazu übergehen, diese Grunderfahrung in den mannigfaltigen Formen des wirklichen Lebens, z. B. im politischen, moralischen und rechtlichen Leben, zu materialisieren und abzubilden. 10. Dies aber leistet nach Hegel erst die gebildete Philosophie bzw. die philosophisch aufgeklärte nach-religiöse Gemeinschaft. Die Philosophie muss die religiöse Gemeine, die die geschehene Versöhnung in 27 28 29 30 31
Phänomenologie des Geistes, 546 = GW 9, 419. Phänomenologie des Geistes, 547 = GW 9, 420. Phänomenologie des Geistes, 559 = GW 9, 430. Phänomenologie des Geistes, 548 = GW 9, 421. Phänomenologie des Geistes, 548 = GW 9, 421.
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ein tiefes Inneres versenkt bzw. in eine ferne Vergangenheit und in eine nur ersehnte ferne Zukunft verlagert, erziehen, ja sie muss zu einer Verwandlung, zu einer Transformation zur nach-religiösen Gemeinde beitragen. „Die religiöse Gemeine“, schreibt Hegel (und mit „religiöse Gemeine“ bezeichnet er, wie gesagt, das, was landläufig unter kirchlicher Gemeinde verstanden wird), „ist das rohe Bewußtsein, das ein um so barbarischeres und härteres Dasein hat, je tiefer sein innerer Geist ist ... Erst nachdem es die Hoffnung aufgegeben, auf eine äußerliche, d. h. fremde Weise das Fremdsein aufzuheben, wendet es sich ... an sich selbst, an seine eigne Welt und Gegenwart“, steigt es aus der religiösen und metaphysischen Intellektualwelt herab bzw. aus der religiösen Innerlichkeit herauf in die wirkliche Welt.32 Hegels Schüler haben darüber gestritten, was seine Rede von der „Aufhebung der Religion“ besagt. Ist unter Aufhebung der Religion vor allem Bewahrung der Religion zu verstehen? Die Rechtshegelianer, besonders die Theologen unter ihnen, haben sich für dieses Verständnis ausgesprochen: Hegels Theorie wolle die Religion aufheben, aufbewahren; in einer für die Religion schwierigen Zeit biete seine Philosophie ihr eine Überlebensgrundlage.33 Hegel selbst scheint bei oberflächlicher Betrachtung diese Deutung in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion zu fördern. Er betont, „daß der Inhalt der Philosophie, ihr Bedürfnis und Interesse mit der Religion ganz gemeinschaftlich ist; ihr Gegenstand ist die ewige Wahrheit, nichts als Gott und seine Explikation“34. Unterschieden sei nur die Form der Beschäftigung, da es der Philosophie um die begreifende Betrachtung des Inhalts gehe, der Theologie dagegen um begriffslose Vorstellungen, um nur vorstellende Betrachtung. Hegel ist davon überzeugt, dass die „Religion in die Philosophie sich flüchten“35 muss, um fortzubestehen. Diese Überzeugung hält sich in seiner Theorieentwicklung durch. Etwas gebrochen dagegen ist in Hegels späteren Vorlesungen die Hoffnung, eine philosophisch transformierte Religion und Kirche könne zu einer zeitgeschichtlich wirksamen politischen Kraft werden, die „Gemeine“ in Gestalt einer philosophisch gebildeten „Gemeinde“ könne sich an die vernünftige und befreiende Gestaltung der wirklichen 32 33
Phänomenologie des Geistes, 559 = GW 9, 430. So noch in neuerer Zeit Hans Küng, Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer zukünftigen Christologie, ÖF.S 1, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1970, 522ff. 34 Bd. 1, 1. Halbbd.: Begriff der Religion, hg. Georg Lasson, Hamburg: Meiner, 1966 (Nachdruck der 1. Aufl. 1925), 29 = Vorlesungen 3, (Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion), hg. Walter Jaeschke, 1983, 63. – „Die Philosophie expliziert nur sich, indem sie die Religion expliziert, und indem sie sich expliziert, expliziert sie die Religion ... So fällt Religion und Philosophie in eins zusammen. Die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst“ (ebd., 29 = 63f). 35 Vorlesungen über die Philosophie der Religion 2/2, 231 = Vorlesungen 5, 96 (siehe 3.2, Anm. 8).
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Lebensverhältnisse ihrer Zeit machen. Dumpf schließt die Vorlesung über die Religionsphilosophie: „Wenn man die religiöse Wahrheit geschichtlich behandelt, so ist’s mit ihr aus. Nicht die spekulative Wahrheit, wo den Armen wird das Evangelium gepredigt – sie sind es, die dem unendlichen Schmerz am nächsten stehen, ... ist noch zu hören. ... Das Salz ist dumm geworden.“36 Und geradezu politisch resigniert wird die Stellung und Aufgabe der Philosophie beschrieben: „... sie bildet einen Priesterstand, der isoliert im Heiligtum waltet, der unbekümmert, wie es der Welt gehen mag, ... (das) Besitztum der Wahrheit zu hüten hat. Wie es in der Welt sich gestalte, ist nicht unsere Sache.“37 Die begabteren Schüler Hegels, die sogenannten Linkshegelianer, haben sich mit dieser resignativen Sicht nicht abgefunden. Sie haben unter „Aufhebung der Religion“ primär deren Beseitigung, eine Elimination von Religion zunächst durch deren Funktionalisierung und Transformation verstanden.38 Sie haben Hegels bleibendes Interesse an einem spekulativen Gottesgedanken39 bedauert und darin eine inkonsequente Restitution der Theologie gefürchtet. „Wer die Hegelsche Philosophie nicht aufgibt, der gibt nicht die Theologie auf.“40 Sie kritisierten den gewollten oder ungewollten „Versuch, das verlorene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wiederherzustellen“41, und sahen den „Tod Gottes“ als Voraussetzung für den Eintritt in ein postreligiöses Zeitalter und in eine postreligiöse Welt an. Sie experimentierten mit religionskritischen (Ludwig Feuerbach), politikkritischen (Bruno Bauer), medienkritischen (Arnold Ruge) und schließlich ökonomiekritischen (Moses Heß, Friedrich Engels und Karl Marx) Denkansätzen und Programmen, um über Hegel hinaus die befreiungstheore36 37
Vorlesungen über die Philosophie der Religion 2/2, 230 = Vorlesungen 5, 95. Vorlesungen über die Philosophie der Religion 2/2, 231; datiert 1821 = Vorlesungen 5, 97. 38 Vgl. die witzig-sarkastische Schrift Bruno Bauers, Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen (1841), in: Heinz u. Ingrid Pepperle (Hg.), Die Hegelsche Linke. Dokumente zu Philosophie und Politik im deutschen Vormärz, Frankfurt: Röderberg, 1986, 235ff. 39 „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar, und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist; und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion. Jenes weiß ihn als Denken oder reines Wesen, und dies Denken als Sein und als Dasein, und das Dasein als die Negativität seiner selbst, hiemit als Selbst, dieses und allgemeines Selbst; eben dies weiß die offenbare Religion“ (Phänomenologie des Geistes, 530 = GW 9, 407). 40 Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: ders., Gesammelte Werke, hg. Werner Schuffenhauer, Bd. 9: Kleinere Schriften II (1839-1846), Berlin: Akademie-Verlag, 1970, 258. Vgl. J. C. Janowski, Der Mensch als Maß. Untersuchungen zum Grundgedanken und zur Struktur von Ludwig Feuerbachs Werk, ÖkTh 7, Zürich/Köln u. Gütersloh: Benziger u. Gütersloher Verlagshaus, 1980, 211ff. 41 Feuerbach, Vorläufige Thesen, 297. Vgl. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 130 (siehe 0.1, Anm. 5).
3.2 Philosophie des Kreuzes
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tische Umsetzung von Philosophie in kulturverändernde Praxis voranzutreiben.42 Wer Hegels Programm unverkürzt zur Kenntnis nimmt, muss in ihnen – und nicht in den Rechtshegelianern – die tiefer blickenden Erben würdigen.43 Dennoch werden Hegels kreuzesphilosophische Impulse für die kreuzestheologische Diskussion des 20. Jahrhunderts fruchtbar. Das Kreuz steht für die radikale Erfahrung der Abwesenheit Gottes, die nicht nur Jesus von Nazareth und seine nähere und fernere Umgebung betrifft. Die Erfahrung der Abwesenheit Gottes besteht nicht nur in einer individuell oder gemeinschaftlich geteilten unüberwindlichen Skepsis oder tiefen Gleichgültigkeit allen Gottesgedanken und Gottesvorstellungen und ihren Säkularisaten gegenüber. Hegel denkt eine substantiale, realgeschichtliche Aufhebung Gottes, die mit dem Christentum einsetzt. Er entspricht damit dem Ernst der Verkündigung des Todes Gottes, die in Gott selbst die Erfahrung der Auslöschung seiner von ihm angenommenen sarkischen (fleischlichen) Existenz (vgl. 2.4), den Verlust aller auf ihn gerichteten Anerkennung und hoffenden Erwartung sieht. Hegels Kreuzesphilosophie denkt aber auch die Universalität Gottes (eine Existenz nicht nur im Jenseits, nicht nur in Gedanken und Empfindungen, sondern bis in die fleischliche Wirklichkeit und in den Tod hinein). Und sie denkt zugleich das Zunichtewerden dieser Existenz in einer nicht nur empfundenen, gefühlten, behaupteten, gewollten, sondern höchst realen Gottlosigkeit. Sie drängt damit zu einem Leben in der Überzeugung: Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!44 Nietzsches Philosophieren „nach dem Tode Gottes“ und gegen die Faszinationskraft des Kreuzes Das „Fünfte() Buch. Wir Furchtlosen“ von Nietzsches Schrift Die fröhliche Wissenschaft beginnt mit den Worten: „Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. – Das grösste neuere Ereigniss, – dass ‚Gott todt 42
Vgl. Dieter Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels, in: ders., Hegel im Kontext, 187ff (siehe zum Buch 3.2, Anm. 15); und Hegels Gedicht an seinem Lebensende an Stieglitz: „... daß es (das Wort) nicht verhall’ in leere Klagen, / Daß sie’s zum Volk, zum Werk es tragen!“ (Hegel, Briefe von und an Hegel, III, 346f [siehe 3.2, Anm. 13]). 43 Es reicht auch nicht aus, Hegel auf einen „Philosophen der Subjektivität“ zu reduzieren; Hegel hat die über Bildung, Assoziationen und Institutionalisierungen laufende Entwicklung einer nach seinen Vorstellungen rechtsstaatlich organisierten freiheitlichen Gesellschaft vor Augen gehabt, nicht nur ein Programm à la Fichte verfolgt. Siehe dazu Michael Welker, Das theologische Prinzip des Verhaltens zu Zeiterscheinungen. Erörterung eines Problems im Blick auf die theologische Hegelrezeption und Gen 3,22a, EvTh 36 (1976), 225-253; vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 13ff (siehe 3.2, Anm. 12). 44 Die Internationale, Eugène Pottier, deutsch Emil Luckhardt.
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ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.“45 Verbissen dagegen beschließt Nietzsche, der doch heiter „nach dem Tode Gottes“ philosophieren will, seine späte Schrift Ecce Homo mit einer Frage, der er dramatisierend einen eigenen Absatz widmet: „9. - Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten ...“46 Niemand konnte sich nach Nietzsche bisher einen „gefährlicheren Köder“ als den Gekreuzigten ausdenken. „Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des ‚heiligen Kreuzes‘ gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines ‚Gottes am Kreuze‘, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile der Menschen?“ Dieses Instrument der „Rache und Umwerthung aller Werthe“ habe „bisher über alle anderen Ideale, über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphirt…“47
Wie ist die Spannung zwischen Nietzsches befriedigter Feststellung des Todes Gottes und seiner gereizten Religionskritik, seinem „Fluch auf das Christentum“ mit dem Zentralsymbol des Kreuzes zu verstehen? Nietzsche ist einerseits ein scharfer Kritiker jeder Form von ZweiWelten-Denken. Immer erneut listet er, unter deutlichen Bekundungen seines Abscheus, die theoretischen und praktischen Irreführungen und Betrügereien auf, die die Religionen sich mit der Fixierung der Menschen auf die verschiedensten Formen von Jenseits, Transzendenz und Überwelt seines Erachtens zuschulden kommen ließen. Soweit liegt er mit Luthers Kritik an der metaphysischen „Theologie der Herrlichkeit“ (siehe Teil 3.1) und mit Bonhoeffers theologischer Religionskritik (siehe Teil 0.1) auf einer Linie. Doch er geht in dreifacher Hinsicht über die klassische Religionskritik in Philosophie und Theologie hinaus. 1. Nietzsche entdeckt auch in zahllosen philosophischen Theorien und konventionellen säkularen Weltanschauungen das parareligiöse Zwei-Welten-Denken. Mit detektivischem Scharfsinn spürt er den wechselseitigen Verstärkungen von religiösen Haltungen, Theologien, Philosophien und nicht-religiösen Weltanschauungen nach und geißelt unheilige Allianzen, die die Menschen durch Fixierung auf Hirngespinste und Phantasmagorien von tragfähiger Erkenntnis und Lebensgestaltung ablenken. 2. Nietzsche greift aber auch alle Formen eines religiösen und weltanschaulichen Monismus an. Auch der Monismus betrügt mit einem versteckten Zwei-Welten-Denken, weil er alle Perspektiven, die nicht seine Sicht der einen Wirklichkeit, der einen Wahrheit, des Natürli45 46 47
KSA 3, 573 (siehe 0.4, Anm. 34). KSA 6, 374. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: KSA 5, 269.
3.2 Philosophie des Kreuzes
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chen, der Rationalität usw. teilen, der „falschen Welt“ zuweist.48 Deshalb sind nach Nietzsche alle Grundbegriffe, die eine einfache Einheit der Totalität sowie eine einfache Grundbeschaffenheit der Realität unterstellen, der Kritik auszusetzen: die Welt, das Sein, das Ding etc. Ganz entsprechend verfallen alle Grundbegriffe, die eine Einheit der Wirklichkeitswahrnehmung bzw. eine universale Übertragbarkeit und Anschlussfähigkeit der Wirklichkeitserfassung unterstellen, der vernichtenden Kritik: die Vernunft, die Moral, der gesunde Menschenverstand, das allgemeine Bewusstsein usw. Sie sind versteckte Fluchtburgen der religiösen Hinterweltlichkeit, Folterinstrumente für das gesunde menschliche Wahrnehmungsvermögen. Denn es gibt nach Nietzsche nur standortrelative, perspektivenrelative Totalisierungen. Diese sind kontextbestimmt, erfahrungsbestimmt und interessengeleitet, vom „Willen zur Macht“ gewählt. Mit solchen Erkenntnissen wird Nietzsches Theorie in der Tat zur „Drehscheibe zur Postmoderne“49. 3. Nietzsche wendet sich aber auch gegen religiöse, philosophische und weltanschauliche Haltungen, die in der Geschichte immer wieder gerade gegen Denkvorschriften und Denkverbote „der Herrschenden“ – seien sie Priester, Professoren oder Politiker – protestiert und sich gegen die Beschwörung überirdischer Mächte und transzendent begründeter Ordnungen gewendet haben. Er greift religiöse, philosophische und politische Vorstellungen, Wertvorstellungen und Moralen an, die aus den Ressentiments und der Abstimmung von Überlebens- und Erhaltungsinteressen breiter Gesellschaftsschichten erwachsen sind. Nicht ohne Irritation hat Arthur C. Danto, einer der besten Nietzsche-Kenner der Gegenwart, festgehalten: „Seine komplizierte philosophische Position beinhaltet sowohl eine Kritik des Alltagsverstandes (der Sicht der ‚Menge‘) als auch dessen Verteidigung gegen jegliche Art von ‚lebensfeindlicher‘, philosophischer oder religiöser Kritik.“50 Einerseits finden wir bei Nietzsche die große Verteidigung des aus wirklichen Wahrnehmungen und authentischem Erleben erwachsenden Alltagsverstandes gegen religiöse und metaphysische Abstraktionen und Spekulationen, gegen hierarchisch und autoritär eingeführte und verteidigte Denk- und Vorstellungsweisen. Wir finden also die Vertei48
Vgl. Friedrich Nietzsche, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums, in: ders., Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, KSA 6, 80f. 49 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt: Suhrkamp, 1985, 104; genauer gesagt, wird Nietzsche zum Vorbild für die „weiche Postmoderne“, die pluralistische Ordnungsformen mit diffuser „Pluralität“ und Kontextbindung mit Relativismus gleichsetzt. Siehe dazu Michael Welker, Kirche im Pluralismus, Gütersloh: Kaiser, 2. Aufl. 2000, 13ff. 50 Arthur C. Danto, Friedrich Nietzsche, in: Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 2, hg. Norbert Hoerster, München: dtv, 1982, 230ff, 236 = ders., Nietzsche, in: D. J. O’Connor (Hg.), A Critical History of Western Philosophy, London: Free Press, 1964, 384ff.
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digung des „wirklich gelebten Lebens“, der konkreten menschlichen Überlebensanliegen, der erlebnisnahen Durchsetzungsinteressen gegenüber religiösen und philosophischen Wertvorstellungen und Moralen. Andererseits aber bietet Nietzsche die denkbar schärfste Kritik der Massenkultur, eine vernichtende Kritik der auf bloße Optimierung der Überlebensfähigkeit und bloße Stabilisierung der Bedürfnisbefriedigung gehenden „Heerden-Mentalität“.51 Einerseits begegnet uns jener merkwürdige Vitalismus, jene Glorifizierung der Selbsterhaltungsenergien des wirklich gelebten Lebens, zur Geltung gebracht vor allem gegen Religion, Metaphysik und Intellektualismen aller Art. Andererseits werden die am Schutz des gelebten und gefährdeten Lebens interessierten jüdisch-christlichen Überlieferungen als hochgefährliche Quellen der Anarchie und der Dekadenz angegriffen. Die im Anschluss an diese Überlieferungen entwickelten Moralen werden beschrieben als jener „GesammtAufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen ...“52 Und dieser „Gesammt-Aufstand“ stellt sich in größter historischer Ausstrahlungskraft unter das Zeichen des Kreuzes! 4. Das unter dem Symbol des Kreuzes auftretende Christentum ist gefährlich, es muss dringend bekämpft werden. Nietzsche beschreibt das Christentum als eine reine Degenerationsbewegung im Zeichen des Kreuzes: Das fluchwürdige Christentum ist eine Degenereszenz-Bewegung aus Abfalls- und Ausschuß-Elementen aller Art: … sie ist von Anfang an eine Aggregat-Bildung aus sich zusammendrängenden und sich suchenden Krankheits-Gebilden ... Sie ist deshalb nicht national, nicht rassebedingt: sie wendet sich an die Enterbten von überall; sie hat die Ranküne auf dem Grunde gegen alles Wohlgeratene und Herrschende: sie braucht ein Symbol, welches den Fluch auf die Wohlgeratenen und Herrschenden darstellt ... sie nimmt die Partei der Idioten und spricht einen Fluch gegen den Geist aus. Ranküne gegen die Begabten, Gelehrten, Geistig-Unabhängigen: sie errät in ihnen das Wohlgeratene, das Herrschaftliche.53
Allerdings bekundet Nietzsche dem ihm tief verhassten Paulus Respekt, der einen wichtigen Ausdruck des „Willens zur Macht“ entdeckt und propagiert habe: die Liebe. Das Christentum baut nach Nietzsches Sicht auf einem wichtigen Machtcode auf, dem der kleinbürgerlichen Liebe. Die Realität, auf der das Christentum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römi51 Zu den „Heerdenthier-Ideale(n)“ siehe Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 13, 65ff; zur oft wiederholten Gleichsetzung von Christen und „Heerdenthier(en)“, ebd., 192, 481. 52 Götzen-Dämmerung, KSA 6, 102; vgl. Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, 170 u. ö. 53 Nachlaß, 771 (siehe 3.2, Anm. 3), KSA 13, 267f.
3.2 Philosophie des Kreuzes
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schen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen füreinander, ... mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid zu allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seligen Zustand als mitteilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben – ist das Genie des Paulus ...54
Das Christentum und die seine Werthaltungen säkularisierenden Philosophien und Weltanschauungen nehmen nach Nietzsche damit eine das Leben schwächende, das Leben verneinende Moral auf und verbreiten sie. Sie propagieren falsche Entwicklungsrichtungen und falsche Perfektionsvorstellungen sowohl mit der Transzendenzseligkeit und der Metaphysik als auch mit der dekadenten Herdenmoral. Diese „Heerden-Tugenden“ sind für ihn z. B. Vertrauen, Verehrung, Wahrheitssinn, Sympathie, Unparteilichkeit, Rechtschaffenheit, Toleranz. Nietzsche wendet sich gegen diese den „soziale(n) Mischmasch“ und die „Herstellung gleicher Rechte“ fördernde Pöbelherrschaft, die mit ihrem Ethos der Gleichheit und des Mitleids jede Kultur herabziehe.55 Verbrechen am Leben, Kampf gegen das aufsteigende Leben, Verletzung der lebensfördernden Instinkte, Selbstschändung, Anarchismus – so lauten seine Anklagen gegen das auf Schutz und Stärkung der Schwächeren abstellende Ethos der jüdisch-christlichen Überlieferungen. Der Christ und der Anarchist: beide décadents, beide unfähig, anders als auflösend, vergiftend, verkümmernd, blutaussaugend zu wirken, beide der Instinkt des Todhasses gegen Alles, was steht, was gross dasteht, was Dauer hat, was dem Leben Zukunft verspricht ...56
Diese vom Symbol des Kreuzes immer wieder neu inspirierte, am Schutz der Schwachen orientierte ansteckende Grundhaltung des Christentums sieht Nietzsche als die verhängnisvollste Lüge der Verführung, die es bisher gegeben hat, als die große unheilige Lüge: ich ziehe seinen Nachwuchs und Ausschlag von Ideal noch unter allen sonstigen Verkleidungen heraus, ich wehre alle Halb- und DreiviertelsStellungen zu ihm ab – ich zwinge zum Krieg mit ihm. Die Kleine-Leute-Moralität als Maß der Dinge: das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Kultur bisher 54
Nachlaß, 570f. „‚Wir sind göttlich in der Liebe, wir werden „Kinder Gottes“, Gott liebt uns und will gar nichts von uns, als Liebe‘; das heißt: alle Moral, alles Gehorchen und Tun bringt nicht jenes Gefühl von Macht und Freiheit hervor, wie es die Liebe hervorbringt … Hier ist das Herdenglück, das Gemeinschafts-Gefühl im großen und kleinen, das lebendige Eins-Gefühl als Summe des Lebensgefühls empfunden. Das Helfen und Sorgen und Nützen erregt fortwährend das Gefühl der Macht; der sichtbare Erfolg, der Ausdruck der Freude unterstreicht das Gefühl der Macht; der Stolz fehlt nicht, als Gemeinde, als Wohnstätte Gottes, als ‚Auserwählte‘“ (Nachlaß, 742f). 55 Vgl. Nachlaß, 708f. 56 Der Antichrist, KSA 6, 245.
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aufzuweisen hat. Und diese Art Ideal als ‚Gott‘ hängenbleibend über der Menschheit!57
Nietzsches Erkenntnis, dass der Schutz der Schwachen, die Parteinahme zugunsten der Armen und Benachteiligten, für die jüdischchristlichen Überlieferungen von zentraler Bedeutung und nicht wegzudenken ist, trifft zu. Da er aber die wichtigsten Quellen und Ursprünge dieser Konzentration auf den Schutz der Schwachen nicht klar erfasst und rekonstruiert, gelingt es ihm auch nicht, die große lebensfördernde Kraft des Erbarmens zu begreifen, das nicht nur das Familienethos, sondern das Zusammenleben großer Gemeinschaften, ja eines ganzen Volkes bestimmen kann (siehe dazu Teil 4.4). Während Nietzsche das Erbarmen als eine raffinierte Errungenschaft, als einen Trick ansieht, mit dessen Hilfe sich die Schwachen, die Zu-kurz-Gekommenen und, wie er sagt, „Missratenen und Lebensunwerten“ zusammenrotten, um die Starken, Kraftvollen, Schönen und Lebenswerten herabzuziehen, begegnet uns in den biblischen Überlieferungen ein ganz anderes Verständnis (vgl. Teil 4.3 und 4.4). Hegels Kreuzesphilosophie klagt ein, dass das Kreuz als Kreuz Jesu Christi, des menschgewordenen Gottes, nicht ein vergangenes Geschehen ist, das nur Jesus von Nazareth betrifft. In diesem Geschehen offenbart sich Gott selbst – als in den natürlichen Tod gehender Gott. Dieses Geschehen nötigt auch zur Auseinandersetzung mit einem radikalen Atheismus, nicht nur zu Jesu Zeiten, nicht nur in Gestalt der Philosophie der Moderne, sondern durch die substantiale Religion und die in ihr erschlossene Wahrheit für alle Zeiten ausgelöst. Damit gibt Hegel der Kreuzestheologie des 20. Jahrhunderts und über sie hinausgehend wertvolle Impulse, auch wenn er selbst eine fruchtbare weitere Entwicklung nur gegen Theologie und christlichen Glauben für möglich hält. Die Theologie wird genötigt, sich mit dem Kreuz Christi als einem Zeiten und Kulturen übergreifenden Ereignis realer Abwesenheit und Infragestellung Gottes auseinanderzusetzen. Nietzsches Philosophieren „nach dem Tode Gottes“ mit seinen Angriffen auf das Christentum und sein zentrales Symbol des Kreuzes wütet gegen die unerschöpfliche Resonanz und Begeisterung, die die Botschaft von der Liebe und vom Erbarmen Gottes im Zeichen des Kreuzes ausgelöst hat und fortgesetzt auslöst. Er würdigt die enorme Ausstrahlungskraft dieser Botschaft, hält sie aber für verheerend, weil sie nicht nur illusorische religiöse (Wunsch-)Vorstellungen erzeuge, sondern ein sehr reales Ethos der Nächstenliebe hervorbringt und stärkt, ein Ethos der Diakonie, des Dienstes am Nächsten und ganz be57 Nachlaß, 568. „... es ist unanständig, heute Christ zu sein“; „... was für eine Missgeburt von Falschheit muss der moderne Mensch sein, dass er sich ... nicht schämt, Christ noch zu heissen!“(Der Antichrist, KSA 6, 210, 211)
3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer
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sonders an den Hilflosen, Schwachen und Kranken (vgl. Teil 4.4). Nietzsche hält diesen Humanismus – christlich geprägt oder nicht – für lebensabträglich und dekadent. Dieser Humanismus ist ein geschichtlich höchst einflussreiches Gegenprogramm zu dem von Nietzsche – allerdings nur sehr vage – ins Auge gefassten „aufsteigenden Leben“ und seinem „Übermenschen“. Sowohl Hegels als auch Nietzsches kritische Impulse werden von der Kreuzestheologie des 20. Jahrhunderts aufgenommen und unerachtet ihrer religionskritischen Intentionen ihrerseits theologisch „aufgehoben“ und transformiert.
3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer: Neutestamentliche Mehrdimensionalität und spekulative Reduktion (Moltmann, Jüngel, Dalferth, Kitamori) „Die Heimkehr der Rede vom Tode Gottes in die Theologie“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde „sachlich vorbereitet, wenn nicht gar initiiert“ durch Dietrich Bonhoeffer und seine Briefe aus der Haft.1 Eberhard Jüngel sieht Bonhoeffer darüber hinaus „das Problembewußtsein des jungen Hegel“ teilen in der „Verarbeitung der Situation des neuzeitlichen Atheismus und (in der) Bemühung um einen christlichen Gottesbegriff“2. Tatsächlich nimmt Bonhoeffer mit seinen Einsichten zu Jesu Kreuz und Gottes Leiden in den Briefen aus der Haft sachlich Impulse von Luther und Hegel auf und entwickelt sie weiter. Er hat aber mit dem Nationalsozialismus eine brutalere Gestalt von Atheismus vor Augen als Hegel, und er ist nicht primär an der Entwicklung eines bloßen Gottesbegriffs interessiert, schon gar nicht an einem primär philosophischen (vgl. Teil 0.1 und 0.3). Das moderne Leben ohne Gott sieht Bonhoeffer wohl auch in der Gestalt des kühlen wissenschaftlichen und kulturellen Atheismus seiner Zeit. Er leidet aber vor allem unter dem aggressiven, menschenverachtenden expliziten und impliziten Atheismus der Naziideologie in Deutschland bis in die Kirchen hinein und seinen in höchstem Maße zerstörerischen Auswirkungen. Der durch das Kreuz offenbarte Atheismus ist weit mehr als ein intellektuell-weltanschauliches Problem. Bonhoeffer warnt davor, „aus dem Kreuz ... bzw. aus dem Leiden ... ein Prinzip“3 zu machen. 1
Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 74, 74ff (siehe 0.1, Anm. 5); siehe zu Bonhoeffer auch die Teile 0.1 u. 0.3. 2 Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 74 u.75; vgl. schon Moltmann, Theologie der Hoffnung, 155 (siehe 0.4, Anm. 24); und ders., Der gekreuzigte Gott, 49 (siehe 0.1, Anm. 6). 3 Bonhoeffer, DBW 8, 548f (siehe 0.1, Anm. 1). Michael Plathow, Die Mannigfaltigkeit der Wege Gottes. Zu D. Bonhoeffers kreuzestheologischer Vorsehungslehre, in: ders., Ich will mit dir sein. Kreuzestheologische Vorsehungslehre. Aufsät-
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Der Gott, der mitten im Leben „im Regiment sitzt“, der uns in der Polyphonie des Lebens zu leben befähigt4, lässt sich „aus der Welt herausdrängen ans Kreuz“. Er gibt die Welt dahin an ihre eigene Macht und konfrontiert sie so mit ihrer tiefsten Ohnmacht, mit einer Verlorenheit, die zu vielfältigen massiven Selbstgefährdungen führt. Jüngel sieht klar, dass der Gott, der sich aus der Welt herausdrängen lässt, dennoch auf sie bezogen bleibt.5 Doch diese Beziehung ist nicht nur als liebende und rettende Zuwendung, sondern auch als richtende Beziehung zu verstehen, die der Welt ihre Verlorenheit unter der Macht der Sünde offenbart. Von der emanzipatorischen Kraft der post-religiösen „Gemeinde“, auf die Hegel vertraut hat, ist in dieser Situation nichts mehr zu erwarten. Und die Vision Nietzsches vom „Übermenschen“, der sich erfolgreich der Bindekräfte von Liebe und Erbarmen entledigt hat, kann vor diesem Hintergrund nur mit Grauen erfüllen. In der neueren theologischen Diskussion sind die kreuzestheologischen Impulse Luthers, Hegels und Nietzsches in verschiedenen Varianten kritisch und konstruktiv aufgenommen worden. Jürgen Moltmann will eine biblisch orientierte Nachfolge-Christologie entwickeln. Sie nimmt Luthers Kritik der spekulativen Theologie auf und entwirft eine dezidiert christliche Alternative zu Hegels säkularisierend-emanzipatorischem Programm. Dabei bejaht sie leidenschaftlich das von Nietzsche verworfene Ethos der Liebe und des Erbarmens. Eberhard Jüngel will mit Hegel das Kreuzesgeschehen auf die Ebene des Denkens bringen. Er will den Gott – jenseits von Theismus und Atheismus – zu denken suchen, der sich nach Luther gerade am Kreuz offenbart. Hegels praktisches emanzipatorisches Programm und Nietzsches wütende Kritik an einer emotionalisierten und moralisierten Kreuzestheologie beschäftigen ihn kaum. Ingolf Dalferth nimmt Jüngels Frage nach der Gotteserkenntnis auf und wendet sich kritisch gegen eine Theologie des Kreuzes, die die praktische Nachfolge in den Vordergrund stellt. Er verbindet dies mit tiefgreifenden Anfragen an eine am „Nazarener“ und am „Gutmenschen“ orientierte inhaltliche Christologie überhaupt. Gegenüber Versuchen, die Offenbarung Gottes am Kreuz primär reflexiv einzuholen, will Kazoh Kitamori zur Anze zu Gottes Mitsein im Kreuz, Berlin: Köster, 1995, 87-105, hat überzeugend dargelegt, dass Bonhoeffer Kreuzestheologie und Vorsehungslehre verbindet. 4 Vgl. Teil 0.3 und die dort gegebenen Belege. Bonhoeffer könnte und müsste in diesem Zusammenhang eigentlich auf die Lehre vom Heiligen Geist zu sprechen kommen. Zu prüfen wäre, inwieweit ihn eine in seinen frühen Schriften deutlich erkennbare hegelianisierende Pneumatologie (Sanctorum Communio, DBW 1, 89ff, 95ff [siehe 0.5, Anm. 17]) und Schwierigkeiten, den objektiven Geist und den Heiligen Geist klar zu unterscheiden (ebd., 140ff, 255ff), dabei hemmen. 5 „Die mit dem Weggang gesetzte Beziehung muß auch nicht notwendig negativ werden. Sie kann vielmehr sogar eine Steigerung implizieren. So ermöglicht z. B. der Weggang des johanneischen Christus in gewisser Weise erst den rechten Zugang zu ihm.“ (Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 80f [siehe 0.1, Anm. 5].)
3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer
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dacht gegenüber dem am Kreuz offenbarten „Schmerz Gottes“ anleiten. In komplexer Weise stehen die verschiedenen kreuzestheologischen Programme untereinander in Verbindung und im kritischen Gegeneinander. In systematischer Konzentration (siehe Teil 3.4) werden wir ihre wichtigsten Impulse herausstellen. Jürgen Moltmann: Kreuzestheologie und Kreuzesnachfolge Schon in einem Exkurs seiner Theologie der Hoffnung6, doch vor allem in seinem Buch Der gekreuzigte Gott7 nimmt Jürgen Moltmann kreuzestheologisch weiterführende Erkenntnisse von Luther, Hegel und Bonhoeffer auf. Dabei benennt er Schwächen und Probleme ihrer Positionen und sucht sie zu beheben. Bei Luther ist ihm der Impuls wichtig, dass Gott selbst im Gekreuzigten erkannt werden will: Wer Gott in der Niedrigkeit, Schwachheit und im Sterben Christi erkennt, erkennt ihn nicht in der vom gottsuchenden Menschen erträumten Hoheit und Gottheit, sondern in der von ihm (d. h. dem Menschen) selbst verlassenen, verworfenen und verachteten Menschlichkeit. Und das macht seine erträumte Gottähnlichkeit zunichte, die ihn zum Unmenschen werden ließ, und bringt ihm seine Menschlichkeit zurück, die der wahre Gott sich zu eigen machte (198).
Moltmann folgert: Wenn wir mit Luther Gott im Gekreuzigten erkennen wollen, dann müssen wir auch mit Hegel die die Zeiten übergreifende bleibende Aktualität des Kreuzesgeschehens festhalten. Das Kreuz kann dann auch nicht nur in einem bestimmten Bereich der Geschichte und auch nicht nur in Teilbereichen der Theologie und Frömmigkeit relevant sein. Es muss in seiner Bedeutung für „die gesamte menschliche Wirklichkeit“ kenntlich werden.8 Obwohl wir Luthers revolutionäre Einsicht durch Erkenntnisse in der Folge Hegels ergänzen müssen, können wir nach Moltmann Hegel nicht einfach in seiner Behauptung zustimmen, dass uns in Jesus Christus wesentlich die Inkarnation Gottes in einem menschlichen Selbstbewusstsein begegne und dass das Kreuz vor allem den Fall des menschlichen Selbstbewusstseins in „die Nacht des Ich=Ich“ bewirke. Gegenüber Hegel betont Moltmann die Einmaligkeit des Kreuzesgeschehens, die Singularität 6
Der „Tod Gottes“ und die Auferstehung Christi, in: Theologie der Hoffnung, 150-155 (siehe 0.4, Anm. 24). 7 Der gekreuzigte Gott (siehe 0.1, Anm. 6); Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf dieses Buch. Zu den weiteren christologisch relevanten Büchern Moltmanns (Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München: Kaiser, 1989; Wer ist Christus für uns heute?, Gütersloh: Kaiser, 2001) siehe Teil 4.2. 8 Dazu gehört auch seine ethische Ausstrahlungskraft. Vgl. Moltmanns allerdings nur schwach entfaltete Kritik an Luther, er habe es nicht vermocht, sich in einer philosophia crucis mit der Werkphilosophie des Aristoteles auseinanderzusetzen und eine „kirchenreformatorische“ mit einer „sozialkritischen Kreuzestheologie“ zu verbinden (74f).
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Jesu von Nazareth und die Offenbarung Gottes gerade in diesem einmaligen Geschehen. Die Einzigartigkeit des Kreuzes Jesu Christi auf Golgatha darf nicht preisgegeben werden, auch wenn es in diesem Geschehen, wie Hegel richtig sieht, um ein Ereignis von weltgeschichtlicher Wirksamkeit geht. Es handelt sich dabei nicht um die Offenbarung der absoluten Substanz in einem menschlichen Selbstbewusstsein, das zufällig mit Jesus von Nazareth in Verbindung steht, sondern der lebendige Gott offenbart sich in diesem Menschen, in diesem Gekreuzigten, um in ihm und durch ihn schöpfungsgeschichtlich wirksam zu werden.9 Die Verbindung von Einmaligkeit und universaler Bedeutung wird erkennbar, sobald die im Neuen Testament bezeugte Mehrdimensionalität des Kreuzesgeschehens und seine damit verbundene Ausstrahlungskraft erfasst werden. In dieser Hinsicht nimmt Moltmann zumindest indirekt Impulse Bonhoeffers auf. Indem Jesus von Nazareth am Kreuz von Golgatha in den Tod geht, stirbt nicht nur ein menschliches Selbstbewusstsein in der Nacht der Gottverlassenheit. Moltmann differenziert, dass Jesus x in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion als der „Gotteslästerer“10, x in der Auseinandersetzung mit der römischen Gewalt als der „Aufrührer“11 und x in der Spannung mit Gott, dem Schöpfer und Vater, als der „Gottverlassene“ stirbt.12 9 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 155 (siehe 0.4, Anm. 24): „... aus dem Kreuz der Gottverlassenheit (kann) nicht wie bei Hegel ein gottimmanentes Prozeßmoment gemacht werden. Eine Theologie der dialektischen Selbstbewegung des absoluten Geistes wäre ... nur eine Modifikation der dialektischen Epiphanie des Ewigen als Subjekt.“ 10 121ff; 121f unter Verweis auf Lev 24,16 und in Aufnahme von W. Schrage, Das Verständnis des Todes Jesu Christi im Neuen Testament, in: Ernst Bizer u. a., Das Kreuz Jesu Christi als Grund des Heils, Gütersloh: Gütersloher, 1967, 51-89. 11 129ff; 130 im Anschluss an O. Cullmann, Jesus und die Revolutionären seiner Zeit. Gottesdienst, Gesellschaft, Politik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1970, 47; an M. Hengel, War Jesus Revolutionär?, Stuttgart: Calwer, 1970, 14; 131 unter Bezug auf dens., Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., Leiden: Brill, 1961; dens., Gewalt und Gewaltlosigkeit. Zur „politischen Theologie“ in neutestamentlicher Zeit, KuD 18 (1972), 18-25. 12 138ff. Moltmann nimmt mit seiner Differenzierung Zeugnisse der Synoptiker von der Kreuzigung Jesu auf; zugleich möchte er die Theologie des Kreuzes auf den drei Gebieten entfalten, „auf denen die Antike von Theologie sprach und auf denen auch heute Menschen unausweichlich religiös sind: in der mythischen Theologie durch Entmythologisierung, in der politischen Theologie durch Befreiung und in der philosophischen Theologie durch des Verständnis des Seienden als Schöpfung“ (75).
3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer
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Wir lassen an dieser Stelle die Frage offen, ob mit diesen drei Dimensionen die Person Jesus von Nazareth, seine Sendung und die Konflikte, die zu seiner Hinrichtung führen, schon hinreichend erfasst sind (dazu Teil 3.4). Auf jeden Fall stellt diese Differenzierung Bezüge zur historischen Kreuzigung Jesu her und wirkt dadurch der Gefahr entgegen, die Erkenntnis von Gott im Gekreuzigten, die Luther einklagt, nur in einem spekulativ erdachten Selbstverhältnis Gottes oder einem metaphysisch reflektierten oder mystisch empfundenen intensiven „GottMensch-Verhältnis“ zu suchen. Analog zu Hegels philosophischer Vision einer „Gemeinde“, die, aus der Nacht des spekulativen Karfreitags erwachend, sich an die Überwindung von Entfremdung und die Umgestaltung der wirklichen Welt macht, spricht Moltmann davon, dass durch Kreuz und Auferstehung „die Überwindung der Leidens- und die Erfüllung der Hoffnungsgeschichte der Menschheit“ (267) initiiert wird. Aber er sieht diese Geschichte nicht als eine Bewegung des kollektiv verstandenen „göttlichen Menschen, der Gemeinde“ auf dem Weg zur innerweltlichen Theosis (siehe Teil 3.2), sondern in einer theologisch und ethisch genauer zu erschließenden Christusnachfolge. Wird in den Erscheinungen des Auferstandenen seine Zukunft in Gott und seine Sendung in die Welt für die Zukunft Gottes offenbar, so muß zugleich damit auch nach rückwärts die Bedeutung seines Kreuzes und seines Weges zum Kreuz offenbar werden, anders würde die Identität seiner Person nicht festgehalten, und Auferstehungsglaube wäre ein Weg, sich von dem Gekreuzigten und der Erinnerung an seinen Weg zu trennen (168).
Die Einmaligkeit dieser Person und dieses Lebens und die Universalität der Gegenwart des Auferstandenen in der Macht des Geistes Gottes dürfen nicht auseinandergerissen werden. Moltmanns Konzentration auf den Gekreuzigten in der Mehrdimensionalität der biblischen Zeugnisse von seinem Wirken und Leiden veranlasst ihn, Fragen nach „psychischer“ und „politischer“ Befreiung des Menschen in den Blick zu rücken (vgl. 268, 293). Er will damit exemplarisch Konkretionen der Nachfolge des Gekreuzigten ansprechen. Man kann darin einen Versuch sehen, das Vertrauen Bonhoeffers auf Gottes Gegenwart in tiefstem menschlichem Leiden und gemeinschaftlicher Selbstgefährdung auch sozialethisch zu bewähren. Auf diesem Weg will Moltmann einer kontemplativen kreuzestheologischen Mystik entgegenwirken, die leicht entsteht, wenn mit Luther betont wird: Gott kann und will nur in Kreuz und Leiden erkannt werden. So will er eine Beschwichtigungs- und Ergebenheitstheologie verhindern, die das Kreuz wesentlich als religiöse Weisung versteht, sich mit Leid, Not und Tod möglichst gelassen abzufinden. Im Licht der Auferstehung müsse die „Theologie des Kreuzes“ sich zu einer „Theologie der Kreuzesnachfolge“ (vgl. 55-66, 76f) entfalten, die Got-
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tes rettende und befreiende Gegenwart in den Leiden der Zeit auch in einer christlichen Lebenspraxis bezeugt. Eberhard Jüngel: Gott in differenzierter Einheit mit dem Gekreuzigten denken Hegel hatte seine Theorie des Kreuzes als Kern eines praktisch-philosophischen Programms entwickelt, das besonders seine Schüler in der Hegelschen Linken bis hin zum orthodoxen Marxismus inspirierte. Zugleich wollte er die „Subjektwerdung der Substanz“ mit all ihren Konsequenzen in einem prozesshaft konzipierten philosophischen Gottesgedanken fassen. Diesen zweiten Impuls vor allem nimmt Eberhard Jüngel auf. In seinem Hauptwerk Gott als Geheimnis der Welt13, aber auch schon in seinem programmatischen Aufsatz „Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat“14 wendet er sich gegen eine leichtfertige „syntaktische Verbindung“ der Wörter Gott und Tod, wie er sie in zumindest einigen Ausprägungen der sogenannten „Theologie nach dem Tode Gottes“ (55) findet.15 Jüngel selbst will im Blick auf dieses Thema an dem Problem arbeiten, das er in einer von Martin Heidegger beeindruckten Sprache „Verwindung des metaphysischen Gottesbegriffs“16 nennt. Um einem falschen theistischen Gottesbegriff, gegen den sich auch Bonhoeffers „Religionskritik“ wendet, entgegenzutreten, ist dem christologischen Ursprung der Rede vom Tod Gottes nachzugehen und nach der Bedeutung des Todes Gottes für Gott selbst zu fragen.17 Jüngel kommt zu dem Schluss: Der Wesensakt des Todes ist Gott selbst wesentlich eigen: freilich nicht als das Fremde, von Gott Entfremdende … Wohl aber so, daß Gott selbst an sich eine Verneinung duldet, die in seinem Sein Raum schafft für anderes Sein. Für andere, 13
Siehe 0.1, Anm. 5. Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf dieses Buch. 14 In: Eberhard Jüngel, Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München: Kaiser, 1972, 105ff (zit.: Tod des lebendigen Gottes). 15 Einige amerikanische Theologen, z. B. Gabriel Vahanian, The Death of God: The Culture of our Post-Christian Era, New York: Braziller, 1961; Thomas J. J. Altizer, The Gospel of Christian Atheism, Philadelphia: Westminster, 1966; Richard L. Rubenstein, After Auschwitz: History, Theology, and Contemporary Judaism, Johns Hopkins Jewish Studies, Baltimore u. London: Johns Hopkins Univ. Press, 2. Aufl. 1992, aber auch Dorothee Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘, GT 65, Gütersloh: Gütersloher, 1972, 9, hatten im Anschluss an Hegel, Nietzsche und Jean Paul vom geschichtlichen Ereignis des Todes Gottes gesprochen. Dieses Ereignis sei in der säkularen Moderne bzw. in der Welt nach dem Holocaust nicht mehr zu verneinen. 16 Tod des lebendigen Gottes, 109 (siehe 3.3, Anm. 14). 17 Jüngel (und auch Moltmann) nehmen damit nicht nur Impulse von Bonhoeffers Religionskritik auf; sie stehen auch in der Tradition der bahnbrechenden Erwählungslehre Karl Barths, in der dieser hervorhebt: „Es gibt keine Gottheit an sich … Wir werden in keiner Tiefe der Gottheit einem anderen als ihm (scil. Jesus Christus) begegnen“ (KD II/2, 123, 163 u. ö.).
3.3 Kreuzestheologie nach Bonhoeffer
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nämlich für uns ist er ja in den Tod gegangen. Das Nein Gottes zu sich selbst ist sein Ja zu uns.18
Daraus folgt unter anderem, dass Gottes ewiges Sein nicht als „simplex esse“ zu denken ist. Auch andere metaphysische Gottesprädikate sind in Frage zu stellen. „Gottes ewiges Sein ist differenzierter und auch zeitlicher, als wir zu denken vermögen.“19 In seinem Buch Gott als Geheimnis der Welt betont Jüngel, unter anerkennendem Rückbezug auf Hegel: … durch die im Kreuz Jesu Christi begründete Unterscheidung von Gott und Gott sind das Absolutheitsaxiom und mit ihm das Apathieaxiom und das Unveränderlichkeitsaxiom als für den christlichen Gottesbegriff untaugliche Axiome destruiert worden (511).
Im Anschluss an die Positionen Hegels und der nachhegelschen Religionskritik sowie an die Position Luthers fasst Jüngel sein theologisches Programm in zwei Fragen: x „Kann sich ... die Theologie die Rede vom Tode Gottes zu eigen machen, ohne aufzuhören, Theologie zu sein?“ x Kann die „Theologie an dem Wort vom Tode Gottes vorbei noch Theologie“ (57) sein? Dabei wird die sozialethische Ausstrahlung der Kreuzesnachfolge, die Moltmann so wichtig und Nietzsche so verhasst ist, eher indirekt ins Auge gefasst.20 Jüngel will seine Theologie des Kreuzes vor allem im Kontext der Frage: „Wo ist Gott?“ entwickeln. Er macht deutlich, dass diese Frage in den biblischen Überlieferungen und in der Moderne ein unterschiedliches Profil hat. Die biblischen Überlieferungen gehen davon aus, dass Gott, wenn er nicht anwesend ist, verborgen und in diesem Sinne abwesend ist. Als Abwesender ist er jedoch keineswegs Nichts, sondern vielmehr der zwar verborgene, aber auch als verborgener noch allein wahre Gott, der allein Glauben zu finden verdient. Der rechte Glaube schreit mit seinen Fragen nach dem rechten Gott. In diesem Sinn ist auch das Zitat aus dem 22. Psalm im Munde des sterbenden Jesus zu verstehen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34) ist die wohl schmerzlichste Variation der biblischen Frage „Wo ist Gott?“ (66).
Das neuzeitliche Denken dagegen ist nicht bereit, die Verborgenheit des wahren Gottes zu akzeptieren, und unterstellt, dass Gott überhaupt 18 19 20
Tod des lebendigen Gottes, 120 (siehe 3.3, Anm. 14). Tod des lebendigen Gottes, 120. Im Blick auf Luthers Verschränkung von kreuzestheologischem Neuansatz und Kritik des Gesetzes sowie der Werkgerechtigkeit der Menschen drängt sich dieser Zusammenhang zumindest als Problem auf.
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keinen Ort hat und also der „achselzuckende(n) Gleichgültigkeit“ (70) anheimfällt. Gegenüber solcher vagen Bezugnahme auf Gott muss die Theologie die moderne Kultur mit der Gegenwart Gottes jenseits der Alternative von anwesend sein oder abwesend sein konfrontieren. Sie tut dies, indem sie sich auf den gekreuzigten Gott konzentriert. Im Blick auf das Kreuz versucht Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt zu denken.21 Das Ereignis des Kreuzes Jesu Christi nötigt, die Einheit Gottes mit dem vergänglichen Menschen zu erkennen, und zwar die „Identifikation Gottes“ mit dem einen Menschen Jesus zugunsten aller Menschen. Daß der Gott, der Liebe ist, leiden können muß und in der Dahingabe seines Eigensten um des endlichen Menschen willen unendlich leidet, ist eine unaufgebbare Erkenntnis der durch Luthers Christologie und Hegels Philosophie geschulten neueren Theologie. Der mit dem Gekreuzigten identische Gott allein macht uns seiner Liebe und also seiner selbst gewiß (511).
Jüngel spitzt sowohl das Verhältnis Gottes zu den Menschen als auch die den Menschen durch die Offenbarung am Kreuz gebotene Orientierung in der Nachfolge in einem abstrakten Liebesbegriff zu: Die Liebe sei die „immer größere Selbstlosigkeit in noch so großer Selbstbezogenheit“ (512).22 Mit Hegel betont er, dass die Beendigung der irdischen Anwesenheit Jesu es überhaupt erst ermöglicht, Jesu Sein als „Kommen Gottes“ zu verstehen. Gerade der Entzug des vorösterlichen Jesus ermögliche die Offenbarung Gottes als das „Anwesendwerden eines Abwesenden als Abwesenden“ (478 u. ö.). Das klingt dunkel und paradox, will aber besagen, dass Gott sich gerade offenbart im Entzug des vorösterlichen Jesus und in seinem Vergegenwärtigtwerden in neuer Gestalt, die aber zugleich die Abwesenheit des vorösterlichen Jesus festhält. Im Blick auf die Auferstehungserscheinungen Jesu und im Blick auf die Selbstvergegenwärtigung des erhöhten Christus in der Macht des Geistes23 lässt sich dieser Zusammenhang theologisch-inhaltlich verdeutlichen. Jüngel fragt, warum gerade die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu die „Spur“ ist, die zur Begründung des Glaubens an den dreieinigen Gott führt. Er verweist darauf, dass in Jesu Verkündigung die Ansage der Gottesherrschaft zentral ist, deren „eschatologische Zukunft sich mit der Gegenwart in der Person Jesu selber zu verbinden schien“ (483).24 Gerade weil die Verkündigung der Gottesherrschaft sein Menschsein geprägt, ja geradezu definiert hat, lief sein Leben auf den gewaltsamen Tod hinaus. Jesus verkündigt die Gottesherrschaft und 21 Auch in dieser Programmatik sind Spuren von Barths Erwählungslehre erkennbar; vgl. KD II/2, 20ff, 31, 158ff u. ö. 22 Siehe dazu die Teile 4.2 u. 4.4. 23 Siehe die Teile 2.3-2.5. 24 So auch Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 366ff (siehe 2.2, Anm. 1).
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damit den „Majestätsakt Gottes“, wie Jüngel im Anschluss an Peter Stuhlmacher formuliert25, „mit dem dieser sich selbst gegenüber der Welt durchsetzt“ (484).26 Gottes Wille aber erweist sich als Wille zur Liebe und zur Liebe als Feindesliebe. Eine „neue Selbstverständlichkeit der Versöhnung“ ereignet sich hier (488). Es ist dies die Praxis der Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung, die Nietzsches Hass auf sich zieht, aber auch seinen zähneknirschenden Respekt vor der Wirkkraft, die die Verkündigung der Herrschaft des Gekreuzigten entfaltet. Schon die ältesten urchristlichen Glaubensbekenntnisse stellen „den Tod Jesu als ein Ereignis nicht nur unter Menschen, sondern als ein Ereignis zwischen diesem einen Menschen und Gott dar, so daß die Gottverlassenheit Jesu als Gottes ureigenstes Werk erscheint“ (496). Sie betonen, dass sich im Tod Jesu an Gott selbst etwas ereignet, was dann höchst folgenreich für die Welt und die Menschen ist. Jüngel interpretiert, dass Gott sich im Tode Jesu von sich selbst unterscheidet, ohne einen „dem Sein Gottes aufgenötigte(n) Gegensatz“ zu ertragen. Er zitiert Goethe: „nemo contra deum nisi deus ipse“27 (498). Gott unterscheidet sich von Gott. Diese Selbstunterscheidung sieht Jüngel darin vollzogen, dass Gott sich mit dem toten Jesus identifiziert und sich gerade darin selbst definiert. Gott definiert den Menschen Jesus als Sohn Gottes (Röm 1,4). „Das Kerygma vom Auferstandenen verkündigt den Gekreuzigten als Selbstdefinition Gottes“ (498). Indem Gott sich mit dem Gekreuzigten identifiziert und sich in sich differenziert, geschieht nach Jüngel ein Mehrfaches. Gott öffnet sein Sein für „das andere“, und das heißt für die geschöpfliche Existenz. Zugleich setzt Gott das göttliche Leben dem Tod aus, und zwar so, dass das göttliche Leben den Tod in sich aufnimmt. Jüngel spricht von einem am Kreuz Christi „gewendete(n)
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Peter Stuhlmacher, Jesus als Versöhner. Überlegungen zum Problem der Darstellung Jesu im Rahmen einer Biblischen Theologie des Neuen Testaments, in: Georg Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie. FS H. Conzelmann, Tübingen: Mohr Siebeck, 1975, 87ff; siehe auch ders., Jesus von Nazareth – Christus des Glaubens, Stuttgart: Calwer, 1988, 18ff; ders., Die Verkündigung des Christus Jesus. Neutestamentliche Beobachtungen, Wuppertal: Brockhaus, 2003. 26 Jüngel verweist auf die Reich-Gottes-Verkündigung mit ihren markanten Gleichnissen vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37), vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9-14) oder vom Schalksknecht (Mt 18,21-35). Er betont die von Jesus beanspruchte Vollmacht, die Vergebung der Sünden zuzusprechen (Mk 2,5; Lk 18,10f), die sich „in der Symbolhandlung von Tischgemeinschaften mit Sündern“, in der „Heilung von Kranken und deshalb als nicht kultfähig Geltenden“, in der Problematisierung der kultischen Thora „zugunsten der unmittelbaren Begegnung mit den als verloren und gesetzlos Geltenden“ zeigt (487f). 27 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, 20. Buch, Weimarer Ausgabe, Bd. 29, 1891, 177.
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Das Kreuz
Tod“ (499). Weil der Tod nicht mehr das Letzte ist, wird der Tod ins Leben, ins göttliche Leben, „gewendet“. Diese Kreuzestheologie verbindet eine theologische Betrachtung der Verkündigung Jesu und seines Todes mit einer spekulativen Reflexion auf eine „Selbstbeziehung“ Gottes im Stil moderner Anthropologie und Reflexionsphilosophie. Jüngel assoziiert das Kreuz mit einer Öffnung Gottes „für das Andere“, das er sowohl mit dem (innerhalb der Selbstbeziehung Gottes überwundenen) Tod als auch mit einem (innerhalb der Selbstbeziehung Gottes) heilvollen Geschehen „für uns“ besetzt. Er bietet damit einen Versuch, eine von ihm „trinitätstheologisch“ genannte Selbstbeziehung Gottes mit einer „kreuzestheologisch“ gedeuteten radikalen Differenzerfahrung in Gottes Selbstbeziehung zu verbinden. Von Hegels Denken, das durch eine umfassende Kritik der Reflexionsphilosophie der Subjektivität und der Leistungskraft ihrer Formen hindurchgegangen ist28, ist dieser Klärungsversuch weit entfernt. Das Denkergebnis ist aber auch theologisch defizitär. Die Rede von einer sich „selbstlos“ öffnenden Selbstbeziehung Gottes kann schwerlich die rettende Macht der Auferstehung und des Heiligen Geistes verdeutlichen.29 Ingolf Dalferth: Erneuerung der Kerygma-Theologie? Ingolf Dalferth sieht einerseits seine eigenen christologischen Überlegungen in Kontinuität zu Jüngels Programm, Gott in Einheit mit Jesus und Jesus als den Gekreuzigten zu erfassen, die Einheit Gottes mit ihm als Gottes „Sein für uns“ zu begreifen, dieses Sein als Liebe zu denken und die Botschaft davon als Evangelium zu verstehen.30 Andererseits 28 Vgl. schon Hegels frühe Schrift Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (siehe 3.2, Anm. 5), aber auch die in Hegels Werk immer wieder begegnende Kritik am Intellektualismus des von ihm zuhöchst geschätzten Aristoteles. Die Reflexionsphilosophie verharre im Muster des Denkens des Einzelnen. „Dies Element des Denkens selbst aber ist abstrakt, ist die Tätigkeit eines einzelnen Bewußtseins. Der Geist aber ist nicht nur als einzelnes, endliches Bewußtsein, sondern als in sich allgemeiner, konkreter Geist. Diese konkrete Allgemeinheit aber befaßt alle die entwickelten Weisen und Seiten, in denen er sich der Idee gemäß Gegenstand ist und wird.“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Theorie Werkausgabe, Bd. 20, Frankfurt: Suhrkamp, 1971, 481) Die Reflexionsphilosophie kann nur den aristotelischen Geistbegriff, nicht aber die Geistbegriffe Hegels und schon gar nicht die Denkgestalten des Heiligen Geistes in sich aufnehmen. Vgl. Welker, Gottes Geist, 262ff (siehe 0.6, Anm. 16); u. Teil 2.5. 29 Vgl. die spärlichen Ausführungen Jüngels zu „Gott als Ereignis des Geistes“ (512-514), in denen die Figur der „Relation der Relationen“ (513) und eine Rhetorik des „Feuer(s) der Liebe“ (514) Einsichten in eine soteriologische Pneumatologie ersetzen müssen. 30 Gott für uns. Die Bedeutung des christologischen Dogmas für die christliche Theologie, in: Ingolf U. Dalferth, Johannes Fischer u. Hans-Peter Großhans (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, FS Eberhard Jüngel, Tübin-
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beschreibt er eine ganze Reihe von grundsätzlichen Problemen, die bei der Einlösung dieses Programms auftreten (vgl. 54ff).31 Ungemein schwierig ist nach Dalferth die doppelte Aufgabe, sowohl die Differenz und Bezogenheit von Jesus Christus und Gott zu fassen als auch zugleich die Differenz und Bezogenheit von Jesus Christus und uns Menschen (vgl. 59).32 Er sieht die Gefahr, dass Jesus entweder als „Gottmensch“ in Metaphern erfasst wird, die „mythisch verstanden und metaphysisch gedeutet werden“ (66). Jesus droht damit „zum eschatologischen Sonderfall“ zu werden, „mit dem wir nichts zu tun haben“. Die Rede vom „Sohn Gottes“ steigere die Differenz zwischen uns und Jesus ins für uns „Unüberbrückbare“ (66). Konzentriert sich die Christologie demgegenüber auf den „wahren Menschen“, so werden „die christologischen Metaphern als Aussagen über die Norm des Menschseins gelesen“ (67). Dabei werden die Differenzen zwischen Jesus und Gott als Differenz von Geschöpf und Schöpfer gewahrt, die Differenzen zwischen Jesus und uns als „vollkommene und misslungene Realisierung des gottgewollten Menschseins“ aufgefasst (67). Dem Verdacht, auf diesem Weg werde nun nur ein Mensch idolisiert, wird mit der Betonung seiner Göttlichkeit begegnet (vgl. 64). Gegenüber dem Einwand, damit sei wiederum die Differenz zwischen Jesus und uns ins „Unüberbrückbare“ gesteigert worden, wird „der exemplarische Charakter seines Menschseins hervorgehoben“ (64). Genau darin sieht Dalferth aber den Verlust der Christologie und ihre Verdrängung durch „eine christliche Lebens- oder Nachfolgeethik“ (64). Diese Entwicklung, die den „Gutmensch(en)“ (63) Jesus ins Zentrum stelle, wird von Dalferth mit verächtlicher Kritik bedacht. Er spricht von „der ‚Exempel-Christologie‘“, die in „vielfachen Jesulogien (auftrete,) die in Jesus das exemplarische Vorbild des Freundes, Helfers, neuen Mannes, Feministen usf. sehen, wie sie bis in die Gegenwart die Szene beherrschen“ (67). Gegenüber diesem seines Erachtens postchristologischen Wildwuchs empfiehlt Dalferth eine Radikalkur. Er konzipiert eine, wie er es nennt, „strikte( ) Offenbarungschristologie“, die sich „nicht auf Jesus als solchen (richtet), sondern darauf, dass er der Ort von Gottes Offenbarung ist“ (64).33 „Nicht der Nazaregen: Mohr Siebeck, 2004, 51, 73ff; die Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf diesen Aufsatz. 31 Siehe dazu ausführlicher Teil 5.2. 32 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 13ff, 139ff (zit.: Der auferweckte Gekreuzigte). 33 Vgl. Gott für uns, 65: Jesus ist „theologisch … ausschließlich als der faktische Ort der Gottesoffenbarung zur Geltung zu bringen.“ Joachim Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, macht sich diese Rede zu eigen mit der Wendung, dass „Gott sich am Orte Jesu selber hervorbringt“ (653 u. passim). Er betont aber durchgängig mit Recht, dass dieser „Ort“ durch das durch
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Das Kreuz
ner selbst und als solcher hat theologisches Gewicht, sondern das Wollen und Wirken Gottes, das durch ihn und an ihm erkenntlich wird“ (65). Dalferths Versicherungen, dass er damit nicht einer historischen Entleerung der Offenbarung das Wort reden wolle, sind ebenso beiläufig wie matt (vgl. 65). Die Christologie hat „überhaupt keine besondere Lehre von der Person Jesu zu entfalten, die etwas anderes wäre als Gotteslehre“ (74). Dalferths Christologie kulminiert in der Botschaft, dass Gott den Menschen „so gegenwärtig wird, dass sie in der Welt mit Gott leben können, niemals ohne Gott sind und deshalb auch nicht ohne Gott sterben müssen: Gott ist Gott für uns, und das ist das Erfreuliche, das im Evangelium zur Sprache kommt“ (75). Dieser Gott wird von Dalferth als ubiquitärer creator ex nihilo beschrieben: „Wo immer Gott handelt, wird Neues aus dem Nichts. Und Gott handelt immer und überall, wo etwas ist, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt.“34 Es ist schwer, darin nicht eine Neuauflage einer radikal christologisch entleerten Kerygma-Theologie (siehe Teil 1.2) zu sehen. Auf Strecken erscheinen die Ausführungen Dalferths wie Ansätze zur „Heimholung“ von Christologie und Kreuzestheologie in eine von einer trockenen kerygmatischen Versicherung begleiteten Metaphysik, mit der „Universalitätsansprüche“ des Christentums salonfähig gemacht werden sollen.35 die Auferstehung und in der Kraft des Geistes transformierte und zugleich in neuer Gestalt bewahrte Leben Jesu geprägt sei (ebd., 632ff; und schon ders., Wahrhaft auferstanden, 113ff, 142ff [siehe 2.3, Anm. 4]). – Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 129, hatte noch formuliert: „Die von Jesus verkündete Herrschaft Gottes wird zum Verständnishorizont und theologischen Interpretament seines Lebens, das dieses als Präsenzform der Gottesherrschaft erschließt. Damit wird umgekehrt das Leben Jesu, wie es historisch und eschatologisch erfahren wurde, zum soteriologischen Interpretament der Herrschaft Gottes, indem es diese als Herrschaft der Heil schaffenden Liebe auslegt.“ Vgl. ebd., 58f u. ö. Diese inhaltlich-christologische Füllung schwindet zunehmend zugunsten einer Konzentration auf „Gott als der Wirklichkeit des Möglichen“ (I. U. Dalferth, Radikale Theologie, ThLZ.F 23, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 239 u. ö.), auf „Schöpfung“, die besage, „dass alles Wirkliche und Mögliche Gott zu verdanken“ sei (ebd., 244), auf einen „neuen Blick auf die ganze Welt“, der „alles neu und anders zu sehen“ lehre (ebd., 255) und in die „Aufgabe steter Neuorientierung“ (ebd., 279) in Gestalt beständiger Unterscheidung von alt und neu einweise. 34 Der auferweckte Gekreuzigte, 59. 35 Vgl. Der auferweckte Gekreuzigte, 312 u. ö. Schon in seinem Buch: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg u. a.: Herder, 1993, hatte Dalferth wohl im Anschluss an Offb 21,5 die These vertreten, dass in der Begegnung mit Jesus als dem Christus „alles neu“ werde. Im Blick darauf hat Hartmut Rosenau, „Was sagen die Leute, wer ich sei?“ (Mk 8,27) – Überlegungen zu einer sapientialen Christologie, Marburger Jahrbuch Theologie XXIII: Christologie, hg. Elisabeth Gräb-Schmidt u. Reiner Preul, Marburger Theologische Studien 113, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2011, 138, „Präzisierung“ eingeklagt und vorgeschlagen, dass „alles wesentlich“ werde. Ulrich Kühn, Christologie, UTB 2393, Göttingen: Vandenhoeck, 2003, 62f, hat in seiner Ausei-
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Jesus Christus als „Ort der Offenbarung“ wird bis auf das trockene Kerygma vom rastlos und überall („überall, wo etwas ist“) aus dem Nichts Neues werden lassenden Gott entleert bzw. durch diese Figur ersetzt. Dunkel bleibt, warum dieser Gott „Liebe“ genannt werden soll, nicht nur rastloser Dauer-Neuerer. Hatte die „zweite Frage nach dem historischen Jesus“ immerhin noch beklagt, die historischen Inhalte des Lebens Jesu und die Gestalt seiner Person nicht fassen zu können, so umgibt Dalferth dieses Interesse mit dem Schein einer theologischen Fehlorientierung. Mit der historischen Entleerung des „Ortes“ der Offenbarung ist auch deren pneumatologische Entleerung verbunden. Doch auch auf der Ebene dieses Versuchs, die Kreuzestheologie in den Horizont von Gotteslehre und Schöpfungstheologie hereinzuholen, gibt es eine bedenkenswerte Alternative zu dem von Dalferth vorgeschlagenen radikalen Reduktionismus. Kazoh Kitamori: Theologie des Schmerzes Gottes In seinem vor dem und im Zweiten Weltkrieg geschriebenen, 1946 veröffentlichten Buch Theologie des Schmerzes Gottes36 zeichnet der japanische Theologe Kazoh Kitamori einen Gott, der nicht rastlos („überall, wo etwas ist“) aus dem Nichts Neues werden lässt, sondern der sich im Schmerz zu der von ihm unterschiedenen, der Selbstgefährdung, der Endlichkeit und dem Tod ausgesetzten Schöpfung verhält. Gegenüber dem in den Theologien des Westens gern angestimmten „Sopran der Liebe Gottes“ (20 u. ö.) betont er mit Hajime Tanabe: „Das Absolute, das nicht mit dem sündigen Menschen leidet, sondern dieses Leiden einfach transzendiert – hieße es nun Liebe, Gott, Barmherzigkeit oder Buddha –, befriedigt unser religiöses Verlangen nicht“ (26). Er beschreibt Kreuz und Inkarnation als zwei Wege „vom geschichtlichen Jesus zum Schmerz Gottes hin“ und „vom Schmerz Gottes zum geschichtlichen Jesus hin“ (30; vgl. 30ff). In seinem Schmerz wendet der sich erbarnandersetzung mit Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, festgehalten, dass trotz Dalferths Betonung der Notwendigkeit, „die Identität Jesu mit dem Auferweckten und seine soteriologische Bedeutung für uns schon im Verlauf seines Lebens aufleuchten und verständlich werden zu lassen“ (Dalferth, 91), der „Ansatz einer ‚Christologie von unten‘ … konsequent verlassen“ werde. Kühn sieht bei Dalferth „eine ‚steile‘ Zurückwendung zum reformatorischen Ansatz einer Theologie des Kreuzes, die allerdings das Problem eines historischen Zugangs zur Wirklichkeit Jesu von Nazareth, wie es für gegenwärtiges Wahrheitsbewusstsein grundlegend ist, offen lässt.“ Die auf stete Neuschöpfung oder eher stete Neuerung setzende, als „radikal“ empfohlene Theologie steht in dieser spekulativen Zuspitzung in der Gefahr, letztlich zu einer sterilen Theologie der „schlechten Unendlichkeit“ (Hegel) zu werden. 36 Kazoh Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes, ThÖ 11, Göttingen: Vandenhoeck, 1972; die Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf dieses Buch; siehe zum Verhältnis von Kitamoris und Moltmanns Denkansätzen Peter Fumiaki Momose, Kreuzestheologie. Eine Auseinandersetzung mit Jürgen Moltmann, ÖF.S VII, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1978, bes. 91ff.
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mende Gott37 dem „den Rücken kehrenden Sünder“ seine Liebe zu, seine durch Vergebung überwältigende Liebe (vgl. 34 und 37). Der Gott den Rücken kehrende Sünder ist aber selbst der den Schmerz der Endlichkeit, „die Wirklichkeit der Finsternis“ (148 u. ö.) erfahrende und diese Erfahrung meist verdrängende Mensch.38 Kitamori betont, dass „aus dem Evangelium das rechte Staunen entsteht“ (41), das Theologie und Kirche wieder neu lernen müssten. Er selbst habe das tiefe Staunen zunächst durch Jer 31,20 sowie durch ein Wort aus dem Hebräerbrief gelernt: Denn es ziemte Gott, es war Gott angemessen, den Sohn („den Anführer ihres Heils“) durch Leiden zu vollenden.39 „Das kleine Wörtlein … geziemen klang mir wie das Erzittern des ganzen Universums in den Ohren“ (42). Der Schmerz Gottes, am Kreuz geoffenbart, macht Gottes Wesen aus; er charakterisiert sein elementares Verhältnis zur von Gott radikal unterschiedenen Schöpfung. Kitamori beschreibt die Liebe Gottes als die neuschöpferische Macht, in der Gott durch Vergebung den Sünder überwindet und ihn zur vergebenden Liebe bis hin zur Feindesliebe befähigt (vgl. 119f). „Die Verwandlung der Ordnung der Finsternis in die Ordnung des Lichts wurde nur durch die Entsprechung zwischen Gott und Mensch in bezug auf den Schmerz ermöglicht“ (148). Eine Theologie des Kreuzes wird diesen Schmerz Gottes vor Augen bringen müssen. Dabei wird sie allerdings ihre Botschaft nicht auf eine Grundimpression oder einen mehr oder weniger komplexen Kerngedanken reduzieren können, wenn sie sich als Theologie des auferweckten Gekreuzigten zur Sprache bringen will.
3.4 Das Kreuz offenbart nicht nur den leidenden, sondern auch den richtenden und rettenden Gott. Der Tod Jesu Christi am Kreuz ist ein Offenbarungsereignis. Er ist es allerdings nicht schon in sich selbst, denn für sich selbst genommen 37 Jer 31,20 u. Jes 63,15 sind von Kitamori immer wieder herangezogene Texte. Mit einer Meditation darüber beschließt er sein Buch (152ff). 38 Es ist bemerkenswert, dass gerade aus Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg breiter diskutierte kreuzestheologische Entwürfe hervorgehen. Kitamori betont, dass er biblische und lutherische Bildung mit einer Orientierung am klassischen japanischen Drama, das im „tsurasa“, im tragischen Schmerz, seine Mitte hat, verbindet (vgl. 132ff; 148); vgl. auch die Überlegungen zur „Power of God in the Suffering Christ“ bei Arthur C. McGill, Suffering: A Test of Theological Method, Philadelphia: Westminster, 1982, 93ff; siehe auch Douglas John Hall, God & Human Suffering: An Exercise in the Theology of the Cross, Minneapolis: Augsburg, 1986, 104ff; Paul S. Fiddes, The Creative Suffering of God, Oxford: Clarendon, 1988, Paperback 1992, 144ff. 39 Vgl. Erich Gräßer, An die Hebräer (Hebr 1-6), EKK XVII/1, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn: Benziger u. Neukirchener, 1990, 126f.
3.4 Die Offenbarungskraft des Kreuzes
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lässt der Kreuzestod den Betrachter nur verstummen. Doch im Licht der Auferstehung und im Licht des vorösterlichen Wirkens Jesu ist das Kreuz ein komplexes Offenbarungsereignis. Die Repräsentanten der Weltmacht Rom, die religiösen Eliten in Jerusalem, aber auch die aufgewiegelte und funktionalisierte öffentliche Meinung1 erreichen es durch ihr beklemmendes Zusammenwirken, dass Jesus ans Kreuz geschlagen wird. Die „Herrscher dieser Welt“, sagt Paulus, haben den „Herrn der Herrlichkeit“ gekreuzigt (1Kor 2,8). Sie haben ihn nicht erkannt. Dieser Herr der Herrlichkeit hatte in der Armut eines Wanderpredigers das kommende Reich Gottes angekündigt. Durch seine Zuwendung zu den Menschen in Lehre, Heilung, Annahme und Tischgemeinschaft hatte er dieses Reich zeichenhaft in Kraft gesetzt. Durch seine Auferstehung wird er als der göttliche Herr offenbart (siehe Teil 2.5). Was offenbart das Kreuz im Licht von Jesu Auferstehung und seinem vorösterlichen Leben und im Schlagschatten der Mächte, die zu seiner Hinrichtung zusammenwirken? Das Kreuz offenbart die erschreckende Situation der Gottverlassenheit der Menschen, die sie aber nicht als solche erkennen. Die repräsentative Welt wendet sich in einer merkwürdigen Mischung von Angst und Aggressivität gegen Gottes Gegenwart im Leben und Wirken Jesu. Das Kreuz macht eine Situation kenntlich, die die Welt, wenn sie sie erfasste, in Verzweiflung stürzen müsste, über die sie aber in dumpfer Bewusstlosigkeit, achselzuckend oder sogar froh hinweggehen kann. Das Kreuz Christi ist Ausdruck einer Gottverlassenheit der Menschen, die sie selbst herbeigeführt haben und zu verschleiern suchen. Jüdische und christliche Denker haben Auschwitz und das Kreuz miteinander in Verbindung gebracht im Blick auf äußerstes Leiden und Gottverlassenheit.2 Das ist zumindest in zweifacher Hinsicht irreführend. Auschwitz steht für den Massenmord an Unzähligen, für die brutale Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen. Die Gefahr besteht, dass eine Verbindung beider Geschehen zur Vorstellung führt, die Deutschen hätten dieses Grauen mit dem Tod Jesu Christi irgendwie vergleichen oder gar balancieren wollen. Außerdem macht das Kreuz eine Situation globaler Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit kenntlich. Gegen die Gräuel der Nazidiktatur empörten und wehrten sich große Teile der Welt, wenn auch nicht nachdrücklich genug gegen die Verfolgung und Ermordung der Juden. Im Kreuzesgeschehen dagegen wirken Freunde und Feinde, Besatzer und Besetzte, Inländer und Auslän1 2
Vgl. Mk 15,11.13f; Mt 27,20.22f; Lk 23,18.21.23; Joh 19,12.15. Z. B. Ignaz Maybaum, The Face of God after Auschwitz, Amsterdam: Polak & Van Gennep, 1965; Paul van Buren, Eine Theologie des christlich-jüdischen Diskurses, München: Kaiser, 1988.
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der, Juden und Heiden zusammen. Auch die untereinander in Konflikt stehenden „Herrscher dieser Welt“ sind sich hier einig. Das Kreuz offenbart die Diastase von Gott und Menschheit, Gott und Welt. Der Welt gelingt es, den „Herrn der Herrlichkeit“ zu töten und sich damit von Gott abzuschneiden. Die Diastase, das Auseinandertreten, von Gott und Welt ist nicht nur eine Möglichkeit – hier ereignet sie sich. Die radikale Differenz von Gott und Welt, Gott und den Menschen – die die frühe dialektische Theologie so stark betont: „... wie fallen diese beiden Größen auseinander, wie abstrakt stehen sie sich gegenüber!“3 – wird durch das Kreuz offenbart. Alle christliche Rede von der Differenz von Gott und den Menschen, von der von menschlicher Seite einfach nicht zu überwindenden Spannung zwischen Gott und Mensch, aber auch alle Rede von der Verborgenheit und Ferne Gottes muss immer wieder vom Kreuz ihren Ausgang nehmen, wenn sie religiöse Verharmlosungen vermeiden will. Das Kreuz ist die Infragestellung, ja das Ende aller verharmlosenden Theologien, die mit dem „lieben Gott“ ihren Frieden machen, die Gott und Mensch in eine unproblematische Dauerpartnerschaft zu bringen versuchen, die den friedlichen Dauerverkehr von Gott und Mensch propagieren. Das Kreuz offenbart die Sünde der Welt in ihrer abgründigen Gestalt. Es steht für den Triumph der Mächte der Welt über die Gegenwart und Offenbarung Gottes. Das Kreuz offenbart, dass das Phänomen der Sünde, nur als individuelle Selbstbezogenheit und individueller Selbstruhm verstanden, gefährlich verharmlost wird.4 Denn am Kreuz wird die schauerliche Gewalt der Mächte der Welt offenbar, die Religion, Recht, politische Ordnung und öffentliche Moral und Meinung in Dienst nehmen, um sich gegen Gottes Gegenwart zu wenden und dies auch noch zu verschleiern.5 Im Licht des Kreuzes Jesu Christi wird offenbar, dass selbst das „gute Gesetz Gottes“ unter der Macht der Sünde zu einer Lug- und Trugmaschinerie werden kann.6 Jesus Christus wird im Namen der 3 Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: Jürgen Moltmann, Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, ThB 17, München: Kaiser, 1966, 5. 4 Vgl. Sigrid Brandt, Sünde. Ein Definitionsversuch, in: dies., Marjorie H. Suchocki u. Michael Welker (Hg.), Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2. Aufl. 2005, 13-34 (zit.: Brandt, Sünde). Vgl. auch Teil 3.5. 5 Vgl. Barth, KD IV/3, „Des Menschen Lüge und Verdammnis“, bes. 499ff. 6 Siehe dazu Michael Welker, Warum Moral und Medien der Sünde gegenüber hilflos sind. Gedanken im Anschluß an 1 Kor 2,1-10, in: Brandt/Suchocki/Welker, Sünde, 189ff (siehe 3.4, Anm. 4); ders., Ist Barths Sündenlehre in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten relevant?, Zeitschrift für Dialektische Theologie 27 (2011), 60-76.
3.4 Die Offenbarungskraft des Kreuzes
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Religion, der Weltmachtpolitik, unter Berufung auf zweierlei Recht – das jüdische und das römische – und unter dem Beifall oder sogar dem Druck der öffentlichen Meinung gekreuzigt.7 Die Differenzen zwischen den politischen, den religiösen und den rechtlichen Normen und Orientierungen, deren Aufgabe es wäre, die Suche nach Gerechtigkeit zu fördern, werden überspielt. Auch die Differenzen zwischen den Völkern und Traditionen, zwischen Besatzern und Unterworfenen, Freunden und Feinden werden unter dem Kreuz alle außer Kraft gesetzt. Die ganze repräsentative Welt ist verbunden im Triumph des „Willens zur Ferne Gottes“8, gegen die göttliche Offenbarung im liebevollen Wirken und in der Verkündigung Jesu. Am Kreuz wird offenbar, wie sich die Menschen individuell und gemeinsam von Gottes liebevoller Gegenwart distanzieren, ja sich mit Gewalt dagegen stellen und dabei noch den Schein von Gerechtigkeit, Gottwohlgefälligkeit, politischer Notwendigkeit und öffentlichem Konsens ausbreiten können. Das Kreuz offenbart die Gefahr, dass Gott sich den Menschen entzieht und seine Offenbarung sie nicht erreicht. Mit Hilfe von Eberhard Jüngels Unterscheidung des modernen Gedankens der absoluten Abwesenheit Gottes und des biblischen Gedankens der relativen Abwesenheit Gottes (des sein „Angesicht abwendenden“, seinen „Geist zurückziehenden“ Gottes) können wir die Rede vom „Tode Gottes“ (Teil 3.2) und vom „gekreuzigten Gott“ präziser fassen. Die biblische Erkenntnis der relativen Abwesenheit Gottes erlaubt es, den Gedanken eines absoluten Todes Gottes, der jeden Gedanken an Gott auflösen würde, von der realen Gefahr eines relativen Todes Gottes zu unterscheiden. Die große Gefahr, dass Gott und die Welt, Gott und die Menschheit in einem ganz unheilvollen Sinn „füreinander gestorben sind“, tritt hier vor Augen. Es droht ein Tod Gottes im Sinne der Wendung: „Dieser Mensch ist für mich gestorben – ich habe schlechterdings keine Beziehung mehr zu ihm und will auch keine mehr haben.“ Für die Menschen ist Gott gestorben, d. h., er ist für sie null und nichtig. Doch in diesem Sinn ergeht am Kreuz auch Gottes 7
Hengel u. Schwemer, Jesus und das Judentum, 591ff u. 601ff (siehe 1.3, Anm. 12), beleuchten das komplizierte Kräftespiel zwischen der Familie des Hannas, des Hohepriesters, der alle seine fünf Söhne und seinen Schwiegersohn Kaiphas in dieses Amt brachte, und der jüdischen Kapitalgerichtsbarkeit, ferner der vom Kaiser Roms übertragenen Regierungsgewalt an den Präfekten Pilatus und der Stimmungsmache durch die „Gruppe der Jerusalemer Bevölkerung“, von der die von allen Evangelien überlieferte „Barrabasepisode“ spricht (Mk 15,6-15; Mt 27,15-26; Lk 23,13-25; Joh 18,39f). Diese Rekonstruktion wird ausführlich aufgenommen von Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 191-224 (siehe 1.3, Anm. 20). 8 Hans-Georg Geyer hat diese Wendung geprägt, vgl. ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. H. T. Goebel, D. Korsch u. a., Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 107ff u. 215ff.
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Gericht über die Welt: Für Gott sind die Menschen gestorben, d. h., sie sind an ihre eigene Nichtigkeit dahingegeben. Das Kreuz offenbart nicht nur die Gefahr, dass die Welt sich sozusagen lückenlos gegen Gott verschließen kann, dass die Welt sich völlig von Gott lossagen und gegen Gott stellen kann. Es offenbart darüber hinaus die Gefahr, dass auch Gott selbst keinen Zugang mehr zur Welt suchen und finden will. Am Kreuz wird aber auch das Leiden Gottes offenbar, nicht nur das Leiden Jesu Christi, sondern auch das Leiden des dreieinigen Gottes, der in der Sendung Jesu die Offenbarung seiner Nähe zu den Menschen sucht. Indem Jesus Christus den Tod eines Menschen und den Tod eines Verbrechers stirbt, werden nicht nur alle seine Hoheitsprädikate, seine Hoheitsansprüche und -zusprüche zutiefst fragwürdig und unglaubwürdig, sondern es werden auch alle denkbaren Perspektiven auf Jesu Gemeinschaft mit dem Schöpfer und mit dem Geist Gottes zerstört. Wir können diese Situation als eine Zerrissenheit Gottes oder als eine Zerrissenheit in Gott bezeichnen. Durch das Kreuz wird Gott in einer Weise mit dem Tod und der Sünde der Welt konfrontiert, dass nicht nur Jesu Leben, sondern das göttliche Leben selbst in Frage gestellt wird. Was ist das für ein Gott, der im göttlichen Offenbarungswillen scheitert? Was ist das für ein Gott, der in der Suche nach größter Nähe zu den Menschen in die größte Ferne zu ihnen rückt? Das Kreuz offenbart den Abgrund tiefster Infragestellung der Gottheit Gottes. Der heilige Gott wird durch die direkte Konfrontation mit Sünde und Tod entheiligt. Der schöpferische Gott wird mit dem Chaos konfrontiert. Die Offenbarung der göttlichen Liebe in Jesus Christus scheitert an organisiertem Hass und organisierter Gewalt. Die guten normativen Orientierungskräfte des Gesetzes, mit denen Gott die Welt regieren lässt, werden pervertiert und korrumpiert. Das Kreuz offenbart ein Leiden, eine Ohnmacht Gottes, nicht nur das Leiden und den Tod Jesu Christi, sondern das Leiden und die Ohnmacht in den Tiefen der Gottheit.9
9 Vgl. dazu Kitamori, Theologie des Schmerzes Gottes (siehe 3.3, Anm. 36). Paul Gavrilyuk, The Suffering of the Impassible God: The Dialectics of Patristic Thought, New York: Oxford Univ. Press, 2006 (Paperback), bes. 135ff, hat mit Recht davor gewarnt, diese Zerrissenheit in Gott als zum Wesen Gottes gehörig anzusehen; seine Bedenken sollten allerdings nicht zur Erneuerung eines metaphysischen Gedankens der Leidensunfähigkeit Gottes führen.
3.4 Die Offenbarungskraft des Kreuzes
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Indem das Kreuz diesen Schmerz, diese Ohnmacht Gottes offenbart, wird die innige Gemeinschaft von Schöpfer, Geist und Jesus Christus gegenüber einer sich gegen Gott verschließenden Welt erkennbar. Zu erkennen gibt sich die Gottheit, die sich in den Abgrund menschlichen Elends und Grauens hineinbegeben hat, die sich nicht nur dem natürlichen Tod, sondern dem Abgrund der Gottesferne ausgesetzt hat, die manche der biblischen Überlieferungen „Hölle“ nennen. Durch das Kreuz wird Gottes Abstieg in die Hölle offenbar. Es wird offenbar, dass Gott selbst die Hölle nicht fremd ist, dass Gott an der Hölle leidet und dass Gott das göttliche Leben in Gestalt des gekreuzigten Auferstandenen durch dieses Leiden bleibend geprägt sein lässt. Da die Menschen sich nicht nur gegen Jesus, der das kommende Reich Gottes verkündigte und in seiner Person und Lebenspraxis verkörperte, sondern auch gegen den schöpferischen und lebendigen Gott und den göttlichen Geist wenden und gegen sie abschließen, offenbart das Kreuz der Gottverlassenheit die tiefe Gemeinschaft Jesu und des Gottes, den er seinen Vater nennt und mit dem er in der Kraft und Gemeinschaft des Heiligen Geistes lebt. Es ist eine in dieser Situation paradoxe Gemeinschaft in der Zerrissenheit, wie sie auch in der Spannung von Gottvertrauen und Verzweiflung in den Worten des Gekreuzigten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34 – Ps 22,2 aufnehmend) zum Ausdruck kommt.10 Von der Erkenntnis der Tiefendimensionen der Offenbarung Gottes am Kreuz aus fällt noch einmal ein klareres Licht auf die Auferstehung. In der Auferstehung offenbart sich der schöpferische Gott inmitten der Gottesferne der Menschen. Inmitten der sündigen Selbstabschließung der Menschen gibt sich Gott im auferstandenen Jesus Christus zu erkennen. Die Auferstehung kann an keine menschliche Voraussetzung anknüpfen, sie ist allein Gottes schöpferische und neuschöpferische Tat. Gott nimmt die verängstigten, zweifelnden, unglücklichen, aber auch die verhärteten und gleichgültigen Menschen in Dienst und beteiligt sie am Erweis seiner Gegenwart. Gott wendet die Geschicke der verlorenen Menschen. Gott erbarmt sich der unter der Macht der Sünde stehenden Menschheit und Schöpfung, indem er sie rettet, erhebt und erhöht. In der Kraft des schöpferischen Geistes und der Gegenwart des auferstandenen Gekreuzigten wird aus Hoffnungslosigkeit Freude, aus Zweifel Glaube, aus Anfechtung Gewissheit, aus Orientierungslosigkeit die neue Nachfolge. Indem die Menschen in dieses Geschehen einbezogen werden, kommt ausdrücklich das Wirken des Geistes Got10 Noch ungeklärt hinsichtlich ihrer möglichen trinitätstheologischen Tragweite sind die Aussagen über die „Dahingabe des Geistes“ durch den Gekreuzigten (vgl. Mk 15,37; Lk 23,46; Joh 19,30b).
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Das Kreuz
tes, des Heiligen Geistes, zur Sprache und zum Tragen. „Im Geschehen der Kreuzigung Jesu Christi ist nicht nur mit dem Sohn auch die Gottheit des Vaters in Frage gestellt, sondern beide sind darin angewiesen auf das Werk des Geistes, der als der Schöpfer allen Lebens Jesus von den Toten auferweckt.“11 Gott öffnet mit der Auferweckung das göttliche Leben in einer bis dahin ganz unvorstellbaren Weise dafür, dass die Menschen in dieses Leben involviert werden.12 Die Zeuginnen und Zeugen werden zu leibhaftigen Trägern der Gegenwart des auferstandenen Christus und damit der Gegenwart des schöpferischen Gottes auf dieser Erde. Aus der Verlorenheitssituation des Kreuzes, aus der Zerrissenheit des göttlichen Lebens heraus erweisen sich die schöpferische Gottheit und die Macht des Geistes im Leben des Auferstandenen, das die Glaubenden in die göttliche Gegenwart geradezu verwickelt und einbindet. In mehrfacher Hinsicht ist das Kreuz also ein Offenbarungsereignis. Im Licht der Auferstehung und des vorösterlichen Weges Jesu bis zum Kreuz wird es als ein Ereignis der Offenbarung der Sünde, des Gerichts, der Erneuerung der Welt und der Rettung der Menschen offenbar, die aus ihrer Verlorenheit heraus zu Trägerinnen und Trägern von Gottes Gegenwart ausersehen werden. Nicht ohne Grund steht das Kreuz Christi im Zentrum der Kirche, steht es für das Zentrum des christlichen Glaubens. Christliche Frömmigkeit und Kirche verlieren ihren Ernst, ihr Gewicht und ihre Orientierung, wenn der Glaube nicht immer wieder neu vom Kreuz und vom gekreuzigten Christus her kommt.13
11 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck, 1988, 342. Siehe dazu auch die tiefen Gedanken von Sergius Bulgakov, The Lamb of God (1933), Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 2008, 316ff; 382ff u. 402f. Vgl. 1Kor 15,44ff; Röm 1,4; 8,11; 1Tim 3,16b. 12 Dieses Geschehen wird mit der „Öffnung“ einer bipolaren Selbstbeziehung Gottes nicht hinreichend gefasst (vgl. Teil 3.3). Siehe auch Hilarion Alfeyev, Christ the Conqueror of Hell: The Descent into Hades from an Orthodox Perspective, Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press, 2009, 17ff, 203ff; ders. (Alfejev), Geheimnis des Glaubens. Einführung in die orthodoxe dogmatische Theologie, Ökumenische Beihefte 43, Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag, 2003, 247ff u. 251ff. Siehe auch Hans Urs von Balthasar, Theologische Besinnung auf das Mysterium des Höllenabstiegs, in: ders. (Hg.), „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Der Sinn dieses Satzes in Bekenntnis und Lehre, Dichtung und Kunst, München u. Zürich: Schnell & Steiner, 1982, 84ff. 13 Vgl. Teil 0.1 und 3.1. Im Anschluss an die Auseinandersetzung Gregor von Nyssas mit Eunomius arbeitet John Behr, The Mystery of Christ: Life in Death, Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press, 2006, 33ff, den Machterweis Gottes gerade in Kenose und Kreuz heraus.
3.5 Sünde und Sühne
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3.5 Sünde und Sühne – Opfer als sacrifice und victim – Stellvertretung „für uns“ (Brandt, Gese, Janowski) Die biblischen Überlieferungen verbinden die Rede vom Leiden und Sterben Jesu Christi und von seinem Kreuz mit der Rede von Opfer (z. B. Eph 2,14; 5,2; Hebr 9,14.26ff; 10,10ff) und Sühne (Röm 3,25; 8,3), von der Dahingabe des Lammes (z. B. Joh 1,29.36; Apg 8,32; 1Kor 5,7; Offb von 5,6 bis 22,1.3 passim) und seines Blutes (Joh 6,54ff; Röm 3,25; 5,9; 1Kor 10,16; 11,25; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; 1Petr 1,19; 1Joh 1,7; 5,6ff; Hebr 9,12ff; 10,19; Offb 1,5) für die Sünden der Welt. Die damit verbundene Vorstellungs- und Gedankenwelt ist den meisten Menschen heute zutiefst fremd, ja sie erscheint geradezu abstoßend und mit der Rede von Heil und Rettung überhaupt nicht verträglich zu sein. Eine genauere Betrachtung des Kreuzesgeschehens kann dazu beitragen, aus dieser Ratlosigkeit herauszuführen. Die Macht der Sünde im Missbrauch von Politik, Religion, Recht und öffentlicher Moral und Meinung Die Kreuzigung war zu Jesu Zeiten unter den Römern eine besonders entehrende politische Todesstrafe. Sie wurde vor allem über Menschen aus „unteren Schichten, Sklaven und widerspenstige( ) Elemente( ) in den aufrührerischen Provinzen“ verhängt.1 Martin Hengel hat darauf aufmerksam gemacht, dass demgegenüber noch unter den Persern und Karthagern vor allem hochstehende Beamte und Feldherrn ans Kreuz geschlagen wurden. Die Inschrift am Kreuz: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ – nach Johannes sogar dreisprachig und von Pilatus veranlasst2 – könnte vor diesem Hintergrund Ausdruck von Spott oder sogar Sarkasmus sein, gleichermaßen gegen die Juden und gegen Jesus gerichtet.3 Die Kreuzigung war zur Zeit Jesu nicht nur eine besonders entehrende, sondern auch eine besonders grausame Todesstrafe. Die Torturen, zumindest Auspeitschungen des entkleideten Todeskandidaten, wurden öffentlich exekutiert und konnten sich über Tage hinziehen. Die tief erniedrigende Hinrichtung selbst sollte der Demonstration der Macht der Besatzer und der öffentlichen Abschreckung dienen.4 Anders als der Film von Mel Gibson und andere voyeuristische und sadistische Kreuzigungsphantasien ergehen sich die biblischen Zeugnisse 1 Martin Hengel, Crucifixion: In the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, London: SCM Press, 1977, 87, 46ff. 2 Joh 19,19f; aber auch Mt 27,37; Lk 23,38. 3 Es könnte darin aber auch ein Rest respektvoller Scheu gegenüber Jesus und seinem Auftreten zum Ausdruck kommen, eine letzte Scheu, die alle Berichte über das Verhalten des Pilatus vor der Verurteilung bzw. Überantwortung Jesu spiegeln. 4 Vgl. Hengel, Crucifixion, 22ff, 87 (siehe 3.5, Anm. 1). Vgl. Mt 27,26.30; Mk 15,15; siehe auch 14,65; Joh 19,1-3.
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Das Kreuz
nicht in extensiver Darstellung der an Jesus vollzogenen Grausamkeiten. Sie stellen jedoch ausführlich die Unentschlossenheit des Pilatus dar, diese Todesstrafe überhaupt gegen Jesus zu verhängen.5 Jesus wird auch nicht das Begräbnis verweigert, wie es damals wohl häufig bei Gekreuzigten der Fall war.6 Dennoch bleibt ein Gesamteindruck tiefster Schmach, der die kanonischen Überlieferungen beherrscht. Das „Wort vom Kreuz“ ist nach Paulus für die Juden und Heiden, die Gottes Offenbarung in ihm nicht erkennen können, „Torheit“, „Ärgernis und Skandal“ (1Kor 1,18.23). Ist es also nicht absurd, mit Paulus zu behaupten, hier wird „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1Kor 1,24) offenbart? Wir müssen uns auf die detaillierten Darstellungen der Evangelien einlassen und dürfen nicht sofort das Kreuz nur in die Perspektive des einzelnen Individuums rücken (dem hier z. B. ein schöpferischer Gott vor Augen gestellt werde, der den Menschen auch in seiner Todesstunde nicht allein lasse), wenn wir die Botschaft vom Kreuz und die Auseinandersetzung Gottes mit der Macht der Sünde verstehen wollen (vgl. Teil 3.4). Die Evangelien stellen ein vielfältiges religiös-moralisch-politisches Verstrickungsgeflecht dar, das zur Kreuzigung Jesu führt. Als Hauptschuldige an Jesu Tod werden immer wieder die Pharisäer und Schriftgelehrten genannt, die Jesus während seines öffentlichen Wirkens verfolgen, ihn in verfängliche Streitgespräche verwickeln und „auf seinen Tod sinnen“, sowie schließlich „die Hohepriester und Ältesten“, die vor Pilatus die Volksmenge gegen Jesus aufhetzen.7 Die Hohepriester und der ganze Hohe Rat suchen „falsches Zeugnis“ gegen Jesus (Mt 26,59; Mk 14,55.64), um ihn verurteilen zu können. Immer wieder wird aber auch die „Furcht vor dem Volk“ unter den Verfolgern betont (z. B. Lk 19,47), wie es schon zuvor der Fall war bei denen, die Johannes dem Täufer nachstellten. Schließlich gelingt den Hohepriestern die „Aufwiegelung der Menge“ gegen Jesus (Mt 27,20; Mk 15,11ff; Lk 23,13ff). Pilatus lässt sich gegen seine eigenen Intuitionen (Mk 15,10ff), gegen seine rechtlichen Erkenntnisse (Lk 23,13ff; Joh 18,31.38) und gegen den Rat seiner Frau (Mt 27,18ff) unter Druck setzen, und zwar durch den zunehmenden „Tumult der Menge“, aber auch dadurch, dass seine Loyalität gegenüber dem römischen Kaiser laut in Frage gestellt wird (Joh 19,12.15). Die jüdischen Verfolger Jesu sehen angesichts der Gefahr, er könne am Leben bleiben, über die Tatsache hinweg, dass auf ihr Drängen hin ein überführter Verbrecher freigelassen werden soll und dass sie Loyalität gegenüber dem heidni5 6
Vgl. Mt 27,11-26; Mk 15,1-15; Lk 23,1-25; Joh 18,28-19,16. Ihr Leichnam wurde wilden Tieren und Raubvögeln zum Fraß überlassen. Vgl. Hengel, Crucifixion, 87f (siehe 3.5, Anm. 1). 7 Mt 12,14; 26,4.59; 27,1.20; Mk 3,6; 14,1; Lk 19,47; 22,2; Joh 5,18; 7,25; 8,37.40; 10,33; 11,53. Dies geht, vor allem bei Johannes, mit einer verheerenden Polemik gegen „die Juden“ einher. Aber auch die Synoptiker sparen nicht mit negativer Darstellung der religiösen jüdischen Eliten.
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schen Kaiser und der feindlichen Weltmacht heucheln, um Pilatus zu erpressen. Die Freilassung eines überführten Verbrechers, die zum Zweck der Erpressung geheuchelte Beschwörung von Loyalität gegenüber dem heidnischen Kaiser und der feindlichen Weltmacht bedeuten ihnen weniger als die Gefahr, Jesus könne am Leben bleiben. „Weg mit ihm, beseitige ihn!“8 Das Kreuzesgeschehen stellt uns einen erschreckenden Verblendungszusammenhang vor Augen. Eine unentschlossene und eingeschüchterte, letztlich wohl auch gleichgültige politische Führung, verblendete und wohl auch von persönlichen Machterhaltungsinteressen gelenkte religiöse Eliten, eine aufgewiegelte öffentliche Meinung („Heute: Hosianna! Morgen: Kreuziget ihn!“), manipulierte Gerichtsbarkeit, missbrauchte rechtliche und religiöse Normen – ein ganzes Geflecht von Verstrickungen, die dem Fragen nach Gerechtigkeit und der Suche nach Wahrheit spotten, wirken hier zusammen: die Welt unter der Macht der Sünde. Wie immer es um die historische Gediegenheit der Details stehen mag – ganz unübersehbar ist die Botschaft, dass Jesus der ernsten Verfolgung durch die Pharisäer, Schriftgelehrten, Hohepriester und Ältesten ausgesetzt war. Allerdings wird nur zu häufig bei der Beschäftigung mit Jesu Leben und Wirken davon abstrahiert, dass er zu Zeiten der römischen Besatzungsmacht wirkte, dass Tempel und Thora religiöse Kristallisationspunkte der Identität seines Volkes waren und dass folglich seine Kritik am Tempel und seine Relativierung der Autorität des Gesetzes auf massiven Widerstand der religiösen Eliten seiner Zeit stoßen musste! Man muss die Verohnmächtigung dieser Führer durch die Besatzungsmacht ernst nehmen, um nachzuvollziehen, dass sie den Kampf gegen Jesus so erbittert führten. In diesem Kampf spielt „die Menge“, „das Volk“, die öffentliche Meinung eine wichtige, wenn auch schwankende Rolle. Auch Pilatus’ lavierende Haltung gegenüber Jesus und dann doch seine endgültige Verurteilung oder Hingabe an die Verfolger ohne rechtliche Verurteilung9 lassen sich gut nachvollziehen. Pilatus hatte für Ruhe und Ordnung in der Provinz und in Jerusalem zu sorgen, die ersichtlich durch Jesus, seine Anhänger und die öffentliche Resonanz, die er erhielt, gefährdet waren. Vielleicht zögerte Pilatus zunächst zu handeln, weil er erkannte, dass Jesus unschuldig war, vielleicht hielten ihn sein moralisches Empfinden und die visionärmoralische Sensibilität seiner Frau zurück. Vielleicht war er aber auch auf der Linie der symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit (siehe Teil 1.3) gar nicht abgeneigt, die „Provokation Jesus von Nazareth“ noch eine Weile hingehen zu lassen. Erst nachdem ihn die religiösen Eliten 8 Lk 23,18; Joh 19,15; siehe Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 209f, 220f (siehe 1.3, Anm. 20) zu Barrabas. 9 Vgl. Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, Theologische Studien 104, Zürich: EVZ, 4. Aufl. 1970, 5-48, 14f.
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Das Kreuz
und die „öffentliche Meinung“ unter Druck setzten, indem sie mit einer Volksempörung drohten und seine Loyalität mit dem römischen Kaiser forderten, gab er dem Ansinnen nach, Jesus zu töten. Hier liegt eine komplexe normative Verstrickung vor, die erst mit Jesu Verurteilung zum Tod am Kreuz vorläufig zur Ruhe kommt. Beteiligt daran sind die Vertreter der Religion, die über Tempel und Thora die Identität des Volkes erhalten wissen wollen und auf Respekt vor diesen religiösen Instanzen dringen. In ihrer Angst vor deren Entwertung durch Jesus, aber auch in Angst vor der ihm zujubelnden öffentlichen Meinung manipulieren sie die Menge und die Zeugen, heucheln sie Loyalität der Weltmacht und dem Kaiser gegenüber, um ihre Ziele durchzusetzen. Beteiligt an der Verstrickung ist auch Pilatus, der für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat, der die Unterdrückten aber auch zu provozieren geneigt ist und doch ebenfalls Angst vor der öffentlichen Meinung hat und davor, in den Ruf zu kommen, es seinem Kaiser gegenüber an Loyalität fehlen zu lassen. Diese Situation mit ihrem Geflecht von dringenden Interessen an Stabilisierung und Erhaltung, von Angst und Ohnmachtsempfinden, von Wankelmut und Aggressivität bietet ein eindrückliches Bild dessen, was die biblischen Überlieferungen „Sünde“ nennen. Leidend und bösartig, ängstlich und aggressiv sind die einzelnen Menschen in diese Situation verstrickt. Es gehört zu den großen und folgenreichen theologischen Fehlleistungen, „Sünde“ anhaltend als „Selbstbezogenheit“ unterbestimmt zu haben. Mit einer einprägsamen, aber viel zu primitiven Denkfigur wurde die „sündige“ Selbstbezogenheit der „Relationalität und Bezogenheit“ auf „den Nächsten und auf Gott“ entgegengesetzt. In einer hilfreichen Typologie hat Sigrid Brandt10 gezeigt, dass von der klassischen Sündenlehre Julius Müllers11 über Paul Tillich12 bis hin zur feministischen Theologie im ausgehenden 20. Jahrhundert13 Sünde geradezu gegenläufig als „Selbstverfehlung“, „Selbstentfremdung“, „Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe“ bestimmt worden ist. Karl Barth hat in seiner groß angelegten, dezidiert christologisch orientierten Sündenlehre neben dem selbstzentrierten „Hochmut“ auch die sich gehenlassende „Träg-
10 Brandt, Sünde, 13ff (siehe 3.4, Anm. 4). Die Titel der folgenden Anmerkungen 12-13 u. 15 sind diesem Beitrag entnommen. 11 Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 2 Bde., Breslau: Josef Max und Comp., 1844. 12 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1958, 64-67, 76f; ders., Symbol und Wirklichkeit, Göttingen: Vandenhoeck, 1962, 33. 13 Vgl. z. B. Judith Plaskow, Sex, Sin and Grace: Women’s Experience and the Theologies of Reinhold Niebuhr and Paul Tillich, Lanham / New York / London: Univ. Press of America, 1980.
3.5 Sünde und Sühne
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heit“ und schließlich die „Lüge“ als Grundgestalten der Sünde identifiziert.14 Ist Sünde nun Selbstbezogenheit oder der Verzicht darauf, das Selbst zu erhalten und zu steuern? Oder ist sie beides? Gegenüber dieser unklaren Konstellation ist eingewendet worden, dass die theologische Fixierung auf das individuelle Selbst – selbstbezogen oder selbstlos – am Phänomen der Sünde vorbeigehe, dass vielmehr fehlgesteuerte Interdependenzverhältnisse oder kontextuelle Unterdrückungsverhältnisse ins Auge gefasst werden müssten, um des Phänomens der Sünde ansichtig zu werden.15 Die Moderne setzte dem Streit um falsche Alternativen ein Ende, indem sie eine säkulare egalitäre Moral entwickelte, die für die Rede von „Sünde“ gar keine Verwendung mehr findet. Mit dem Drohwort „Sünde“, so lautete deren Grundüberzeugung, werden diejenigen religiösen, moralischen, politischen und rechtlichen Vergehen belegt, die eine bestimmte Funktionärsschicht oder eine bestimmte Öffentlichkeit als besonders verabscheuungswürdig herausheben will. Der lange, letztlich vergebliche und leider nur zu oft von Doppelmoral begleitete Kampf von Kirchen gegen „die Sünde“ gerade an der Front der Sexualmoralen hat ganz erheblich dazu beigetragen, die Rede von der Sünde obsolet und schließlich unverständlich werden zu lassen. Egalitäre Moralen, die moderne aufgeklärte und demokratische Gesellschaften begrüßen, unterwerfen alle tatsächlich oder vermeintlich negativen Erscheinungen und Verhaltensweisen dem allgemeinen und öffentlichen moralischen Räsonnement. Dabei wird es toleriert, wenn Extremerscheinungen, wie nicht wiedergutzumachende Gewalt gegen Kinder, „Sünde“ genannt werden. Aber im Wesentlichen will man auf diesen Empörungsmarker möglichst verzichten. Im Gegenzug setzt eine Verharmlosung der Rede von „Sünde“ ein, die Diätverstöße oder kleine Verkehrsdelikte „Sünde“ nennt.16 Die biblischen Überlieferungen zeichnen demgegenüber ein ebenso komplexes wie erschreckendes Bild: Paulus beleuchtet es dramatisch mit der Wendung: „Ich bin fleischlich und verkauft unter die Sünde“ (Röm 7,14; vgl. 7,25). Der unabweisbare Zwang zur Selbsterhaltung auf Kosten von anderem Leben soll zunächst durch das gute Gesetz Gottes gebremst und in seinen Auswirkungen kanalisiert werden. Das Gesetz verpflichtet die
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KD IV/1, 395ff, IV/2, 423ff u. IV/3, 425ff. Siehe Brandt, Sünde, 17f (siehe 3.4, Anm. 4). Sie verweist zum Thema u. a. auf Bonhoeffer, Sanctorum Communio, DBW l, 71 (siehe 0.5, Anm. 17); Marjorie H. Suchocki, The Fall to Violence: Original Sin in Relational Theology, New York: Continuum, 1994, bes. 161-165; James Cone, God of the Oppressed, New York: Seabury Press, 1975, 17, vgl. 16-38; und Leonardo Boff, When Theology Listens to the Poor, San Francisco: Harper & Row, 1988, 110. 16 Siehe auch die vertiefende Interpretation bei Brandt, Sünde, 14f.
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3.5 Sünde und Sühne
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sich ihrer aber erbarmen. Dafür aber braucht er als der nicht nur barmherzige, sondern auch gerechte Gott einen Ausgleich (eine Kompensation, Genugtuung, Satisfaktion). Die sündigen Menschen sind nicht in der Lage, diesen Ausgleich zu erbringen. Also wählt Gott seinen eigenen Sohn, ein „sündloses Lamm“ (Joh 1,29.36; Offb 5,6 u. ö.), und gibt ihn in den blutigen Tod, um die Menschen zu retten.20 Abgesehen von einer damit erfolgten und erfolgreichen religiösen Stabilisierung des für das Recht und den Markt zentralen Ausgleichdenkens („Bezahle, was du schuldig bist!“) sind in dieser Denkfigur fast alle Bezüge unklar und anstößig. Vor allem die hinter diesen Vorstellungen stehenden Gottesbilder bereiteten dem Verstehen und auch der christlichen Frömmigkeit größte Schwierigkeiten.21 Hartmut Gese hat in seinem bahnbrechenden Aufsatz Die Sühne22 innovative Erkenntnisse vorgelegt und damit einen langjährigen Diskussionsprozess in Gang gesetzt, der die Themen Sünde, Sühne und Opfer wieder auf die Ebene konstruktiven theologischen Nachdenkens brachte23 – trotz anhaltender, von populistischer Theologie immer 20 Vgl. Anselm, Cur Deus Homo, Buch I, 12-13; Buch II, 19; siehe dazu Gustaf Aulén, Christus Victor: An Historical Study of the Three Main Types of the Idea of the Atonement, London: SPCK, 1961, 100ff; ferner J. Christine Janowski, „Stellvertretung“. Polysemie, Ambivalenzen und Paradoxien, in: dies., Bernd Janowski u. Hans P. Lichtenberger (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte, Bd. 1: Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2006, bes. 187ff, und den Hinweis auf J. G. Walch, ebd., 188 (Aufsatz zit.: „Stellvertretung“; Buch zit.: Janowski/Janowski/Lichtenberger, Stellvertretung). 21 Vgl. J. Denny Weaver, The Nonviolent Atonement, Grand Rapids u. Cambridge/ UK: Eerdmans, 2001. 22 Hartmut Gese, Die Sühne, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, BEvTh 78, München: Kaiser, 1977, 85-106. 23 Zunächst hat Geses Schüler Bernd Janowski in seiner Dissertation (Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie, WMANT 55, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2. Aufl. 2002) Geses Thesen aufgenommen und breit untermauert. Dem folgten neutestamentliche Diskussionsbeiträge, z. B. Otfried Hofius, Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen: Mohr Siebeck, 1989, 33-49; und Peter Stuhlmacher, Sühne oder Versöhnung? Randbemerkungen zu Gerhard Friedrichs Studie: „Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament“, in: U. Luz u. H. Weder (Hg.), Die Mitte des Neuen Testaments. Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, FS E. Schweizer, Göttingen: Vandenhoeck, 1983, 291-316; sowie systematisch-theologische und interdisziplinäre Beiträge, z. B. Günter Bader, Die Ambiguität des Opferbegriffs, NZSTh 36 (1994), 59-74; Ingolf U. Dalferth, Die soteriologische Relevanz der Kategorie des Opfers. Dogmatische Erwägungen im Anschluß an die gegenwärtige exegetische Diskussion, in: Altes Testament und christlicher Glaube, Jahrbuch für Biblische Theologie 6 (1991), Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1991, 173-194; Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als sacramentum et exemplum. Was bedeutet das Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung? in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und
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wieder angefachter Irritationen24 und vieler kritischer Korrekturvorschläge. Stärker als die meisten anderen Autoren von Beiträgen zum Thema sieht Gese die Sühne im Zusammenhang von tiefer Verstrickung, Intransparenz und Verlorenheit, der für die Sünde charakteristisch ist. Die Sühne, so stellt er fest, greift dort Hilfe bringend und Heil schaffend in das Leben der Menschen ein, wo dieses Leben „verwirkt“ ist. Sie greift dort ein, wo die Menschen von sich aus – auch mit den besten moralischen, medizinischen, rechtlichen und anderen menschlichen Mitteln – die „Todverfallenheit“ nicht abwenden können. Die Sühne greift dort in das Leben des Menschen ein, wo er in einem „irreparablen Unheilsgeschehen (steht), irreparabel, weil es die Grenze seiner Existenz mit einschließt, … wo nichts wiedergutgemacht werden kann.“25 Die Sühne antwortet auf die Frage: Gibt es für den Menschen, der in Schuld, in welcher Form auch immer, an die Grenze seiner Existenz kommt, gibt es für ein Volk in entsprechender Situation die Möglichkeit, sich aus dieser Verstrickung zu lösen? Gibt es die Möglichkeit eines neuen Lebens jenseits des irreparablen Geschehens?26
Die Sühne ist also keine Versöhnung, keine Beschwichtigung Gottes, denn sie setzt gerade in einer Situation an und ein, wo die Menschen alle Möglichkeiten verspielt haben, Gott zu beschwichtigen, geschweige denn zu versöhnen. Nur ein reduziertes Sündenverständnis und ein falsches Sühneverständnis können davon ausgehen, dass Menschen in ihrer Todverfallenheit noch in der Lage wären, Gott – z. B. durch Opfer – zu versöhnen und zu beschwichtigen. Gese beschreibt die kultische Sühne als eine durch Gott gewährte Befreiung aus der oft unwillentlichen und unmerklichen, aber gerade darin machtvollen und gefährlichen Todverfallenheit und als die den Menschen im Kult vermittelte Erfahrung dieser Befreiung. Diese erfolgt durch das rituelle Opfer. Es handelt sich dabei nicht um eine beiläufige, im Rahmen des Alltäglichen verlaufende Aktion, sondern um eine die sogenannten normaRelevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, BEvTh 107, München: Kaiser, 1990, 261-282; Bernd Janowski u. Michael Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, stw 1454, Frankfurt: Suhrkamp, 2000; Sigrid Brandt, Hat es sachlich und theologisch Sinn, von „Opfer“ zu reden?, in: ebd., 247-281 (zit.: Brandt, Hat es ... Sinn, von „Opfer“ zu reden); dies., Opfer als Gedächtnis. Auf dem Weg zu einer befreienden theologischen Rede von Opfer, Altes Testament und Moderne 2, Münster/Hamburg/London: Lit, 2001. 24 Siehe z. B. Klaus-Peter Jörns, Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier, in: ders., Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh: Gütersloher, 2004, 286ff. 25 Gese, Sühne, 86 (siehe 3.5, Anm. 22). 26 Gese, Sühne, 86, 87; vgl. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 359 (siehe 3.5, Anm. 23).
3.5 Sünde und Sühne
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len Lebensvollzüge der Weisung des Gesetzes gemäß unterbrechende Aktion. Die von Gese und Janowski untersuchten Opfer, zentral ist Lev 16, bestehen in der rituellen Tötung von Haustieren. Diese Tiere werden zur menschlichen Ernährung und zum menschlichen Lebensunterhalt im weitesten Sinne gehalten. Sie sind wichtige Elemente des menschlichen Besitzes, des Kapitals im damaligen Israel; noch konkreter sind sie als mögliche Nahrung und als weitere Subsistenzmittel auch im Handel „Träger wirklicher Lebensmöglichkeit“. Wer ein Tier opfert, gibt einen Teil seiner wirklichen Lebensmöglichkeit hin.27 Im kultischen Opfer wird wirkliche Lebensmöglichkeit bewusst hingegeben – ein Stück von meiner realen Zukunftsgrundlage, meiner Weiterexistenzgrundlage, natürlich auch ein Stück meines Vermögens. Durch den Ritus erfolgt eine von Gese und Janowski aufwändig beschriebene und inzwischen kontrovers diskutierte Identifikation des Sühnopferspenders mit der Opfergabe: Dies ist Leben, das für mein Leben bestimmt ist, ganz real meine wirkliche Lebensgrundlage, ein Stück meiner Existenzermöglichung, meiner – auch physischen – Zukunft.28 Diese Hingabe wirklicher Lebensmöglichkeit wird nun im kultischen Opfer zur Erfahrung der Hingabe von Lebenswirklichkeit. Das sich noch eben in meinem Besitz befindende, vielfach verwendbare Tier stirbt durch einen gewaltsamen Eingriff in sein Leben. Es erfährt total und unüberschreitbar, was der Opfernde partiell und überschreitbar erlebt: die Hingabe von Leben. Die bewusste Erfahrung der Hingabe von Leben wird in der rituellen Tötung und im Blutritus nun vollzogen. Das Blut wird als der innere Träger des Lebens angesehen (Lev 17,11; Dtn 12,23), als Lebenskraft. Die Freisetzung des Blutes ist für das Opfertier mit dem Tod, für die Opfernden mit einer Todeserfahrung verbunden. Die Einschränkung der eigenen Lebensmöglichkeit durch die Gabe des Tieres wird am verblutenden Tier als Hingabe von Lebenswirklichkeit erfahren. Doch diese Todeserfahrung ist zugleich 27 Diese Hingabe von – gar noch fehlerlosen – Haustieren im Opfer dürfte für die meisten Israeliten eine erhebliche wirtschaftliche Belastung gewesen sein, wofür auch die Ermäßigungsbestimmungen Lev 5 sprechen: Wenn jemand z. B. eine laute Verfluchung gehört hat, ohne sie anzuzeigen, oder wenn jemand durch unbesonnenen Schwur schuldig wird oder dadurch, dass er das Aas unreiner Tiere – auch versehentlich – berührt oder mit Unreinem von einem Menschen in Kontakt gerät – in diesen Fällen hat er bereits ein Stück Kleinvieh zu opfern. Lev 5 ist sich dieser Härte sichtlich bewusst, denn es heißt Lev 5,7: „Wenn er den Aufwand für ein Stück Kleinvieh nicht leisten kann, so soll er als Schuldopfer für seine Verfehlung zwei Turteltauben oder zwei Felsentauben vor Jahwe bringen ...“ Und Lev 5,11 wird noch einmal von Tauben auf Feinmehl ermäßigt. 28 Gese und Janowski haben mit Ausdrücken wie „Subjektübertragung“ und „Existenzstellvertretung“ experimentiert. Zur kritischen Auseinandersetzung damit und zum Versuch, in den biblischen Überlieferungen ein „weisheitlich-neuschöpfungstheologisches“ Konzept von Sühne freizulegen, siehe Brandt, Opfer, 133ff (siehe 3.5, Anm. 23).
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verbunden mit erneuerter Lebensgewissheit. Dabei aber handelt es sich nicht um schuldhaft erworbene, sondern um von Gott gewährte und gewollte Lebensgewissheit. Das Blut als Träger des Lebens wird nicht willkürlich, sondern dem Gesetz gemäß, im Rahmen des Kults freigesetzt; und es wird mit dem Heiligtum in Kontakt gebracht.29 Indem das Blut an den Altar, an den Vorhang des Allerheiligsten, ja an die Stätte der Kondeszendenz Gottes selbst gesprengt werden darf und soll, wird das kultische Ertragen und Erfahren des Todes gerechtfertigt. Die Lebensgewissheit des Opfernden, die Außenperspektive auf den Tod ist von Gott gewährt, ja sie ist von Gott getragen, sie ist geheiligt. Lebensgewissheit und Heilsgewissheit verbinden sich gegenüber dieser Lebenshingabe und im Angesicht dieses Todes. Diese Lebensgewissheits- und Heilserfahrung wird im kultischen Opfer mit kaum überbietbarer Evidenz zugeeignet. Eine sinnfällige, bis zur physischen Partizipation alle Sinne durchdringende Erfahrung wird hier vermittelt. Diese elementare Evidenz- und Gewissheitserfahrung befreit von der Ungewissheit der „Existenz zwischen Leben und Tod“. Die Ungewissheit besteht sowohl im Blick auf die eigene Lebenswirklichkeit als auch hinsichtlich der Präsenz des Heils: Die Sühne befreit aus dieser doppelten Ungewissheitssituation. Diese kultische Sühne ist von Gott ermöglicht. Lev 17,11, die „Summe der kultischen Sühnetheologie“30, folgt dem Blutgenussverbot – „wer irgendein Blut genießt, soll sterben“ – und lautet: „Denn gerade das Leben des Fleisches ist im Blut. Und ich (Gott) selbst habe es euch auf/für den Altar gegeben, damit es euch persönlich Sühne schafft; denn das Blut ist es, das durch das (in ihm enthaltene) Leben sühnt.“ Janowski interpretiert: Das allgemeine Blutgenussverbot erhält „darin seine eigentliche Begründung, daß Jahwe Israel für den sakralen Bereich ... das Blut als Sühnemittel gegeben hat, weil es Träger des Lebens ist.“31 Gott selbst gibt Israel das Blut, damit die im Kult gesetzgemäß freigesetzte Lebenssubstanz die Hingabe des Menschen an das Heilige stellvertretend vollziehen kann. Die „Gabe des im Blut enthaltenen Lebens ermöglicht die im stellvertretenden Tod des Opfertieres zeichenhaft-real sich vollziehende Auslösung des verwirkten menschlichen Lebens, und d. h.: die Sühne.“32 Dieses Opferritual ist nun auf das „Lamm Gottes“, auf Jesus Christus, übertragen worden. Sein Tod lässt einen sündhaften Verstrickungsprozess nicht nur einzelner Menschen und Menschengruppen, sondern der ganzen repräsentati29 Siehe Gese, Sühne, 98 (siehe 3.5, Anm. 22): „Für den kultischen Sühnakt ist es nun entscheidend, daß diese Lebenshingabe ... eine Lebenshingabe an das Heilige ist, gleichsam eine durch den Blutkontakt zum Ausdruck gebrachte Inkorporation in das Heilige.“ 30 Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 242 (siehe 3.5, Anm. 23). 31 Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 246. 32 Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 247; ähnlich Gese, Sühne, 98 (siehe 3.5, Anm. 22).
3.5 Sünde und Sühne
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ven Welt offenbar werden. Im Zusammenhang mit seinem vorösterlichen Leben und seiner Verkündigung einerseits und seiner Auferstehung andererseits führt diese Offenbarung hinaus aus der Verlorenheit in ein neues Leben. Die Sühnetheologie ist ein Deutungsmittel für das Kreuzesgeschehen. Wer über ihre Fremdartigkeit klagt, sollte an die meistens Morde einschließende Dauerberieselung mit Verbrechen und Verbrechensbekämpfung in den elektronischen Medien unserer Tage erinnert werden. Halbherzig zumindest sind die „aufgeklärten“ Tendenzen, sich von der merkwürdigen Anziehungskraft des rituell dramatisch inszenierten Todes zu distanzieren.33 Die Sühnetheologie ist nicht das einzige biblische Deutungsmittel für das Kreuzesgeschehen. Mit Recht ist der Facettenreichtum des Phänomens „Opfer“ betont worden. Vor allem wurde die im Gegensatz z. B. zum Englischen in der deutschen Sprache nicht kenntliche wichtige Differenzierung von Opfervorgang (sacrifice) und Geopfertem/Opfermaterie (victim) herausgearbeitet. Diese Differenzierung ist erforderlich, um das offenbarende Wirken Gottes und das schuldhafte Wirken der Menschen im Kreuzesgeschehen zu unterscheiden.
33
René Girard, Der Sündenbock, Zürich: Benziger, 1988, u. ders., Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt: Fischer, 1992, hat die These vertreten, dass religiöse Gewalt in Gestalt des Opfers der entscheidende Schlüssel zum Verständnis von Kulturentwicklung und Festigung gesellschaftlicher Ordnung überhaupt sei. Siehe dazu William Schweiker, Heilige Gewalt und der Wert der Macht. René Girards Opfertheorie und die Theologie der Kultur, in: Janowski/Welker, Opfer, 108-125 (siehe 3.5, Anm. 23); Brandt, Opfer als Gedächtnis, 19ff (siehe 3.5, Anm. 23); J. Ch. Janowski, „Stellvertretung“, 177ff, 203ff (siehe 3.5, Anm. 20). Girard sieht in allen menschlichen Gesellschaften einen Mechanismus des am Rivalen orientierten – ihn ansteckenden und von ihm angesteckten – „Begehrens“ am Werk. Mit Hilfe des Opfers werde die „mimetische Krise“, d. h. das angesteckte und ansteckende Begehren, das tendenziell zu einem Krieg aller gegen alle treibt, gewendet. Die „Gegenspielermimesis“ schlage in eine „Wiedervereinigungsmimesis“ um. Die Menschen werden durch das Opfer auf ein Gegenüber konzentriert (und damit zugleich wieder vereint), das ihnen vorführt, was sie alle tun und erstreben. Im religiösen Opfer werde genau der Übergang von Gegenspielermimesis in eine Wiedervereinigungsmimesis rituell dargestellt. Wer an das Opfer rührt, gefährde Gleichgewicht und Harmonie der Gemeinschaft. Ein einziger Mechanismus wird zum Deutungsschlüssel für die Dynamik aller kulturellen Entwicklung. (Vgl. den subtileren Deutungsschlüssel in der Sequenz „Erjagen – Töten – Verteilen“ bei Walter Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, RVV 32, Berlin / New York: de Gruyter, 1972, 40ff; ders., Anthropologie des religiösen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt, C. F. von Siemens Stiftung, Themen 40, Privatdruck, 2. Aufl. 1983, 25ff.) Dies aber verzerrt die Wahrnehmung sozialer Lebenszusammenhänge und verzerrt auch das komplexe Phänomen des Opfers.
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Opfer als sacrifice und als victim In ihren Veröffentlichungen zum Thema Opfer34 hat Sigrid Brandt mehrere problematische Perspektiven auf die Phänomenvielfalt „Opfer“ freigelegt, darunter die Verwendung des Begriffs Opfer für gewaltsam zu Tode gekommene Menschen, die Reduktion von Opfer nur auf das Sühnopfer, die weit verbreitete Gleichsetzung von „Opfer“ und „Gabe“ und den Versuch, das Opfer in einer bloßen Geber-OpferEmpfänger-Beziehung zu erfassen (vgl. 357). Unter Abgrenzung von Marcel Mauss35 differenziert Brandt: Gaben sind, häufig auf Reziprozität abstellende, in normierte Tauschverhältnisse eingebettete und in der Regel verschmerzbare, dargebrachte Lebensgüter. Opfer sind, häufig Reziprozität sprengende, das Gabenkalkül durchbrechende und deutlich ,an die Substanz gehende‘ Darbringungen oder Investitionen von Leben und Lebensressourcen. Diese ermöglichen Leben ... bzw. setzen es frei. Gabensysteme regeln das Miteinanderleben. Opfersysteme regeln das Voneinanderleben bzw. das Leben auf Kosten von Leben (358).
Brandt macht deutlich, dass ein wertvolles Geschenk eines begüterten Menschen eine Gabe ist, ein Geschenk derselben Größe aus der Hand eines armen Menschen aber als „Opfer“ bezeichnet werden kann. Es geht „an die Substanz“ des Lebens, ist „Vergabe von Lebensressourcen“.36 Augustin hatte in Gedanken über das Opfer Jesu Christi37 unterschieden zwischen demjenigen, dem das Opfer dargebracht wird, dem Opferer, der Opfergabe und demjenigen, für den geopfert wird. Brandt erweitert dieses Schema und unterscheidet: 1. Opferspender – 2. Opfervollzieher – 3. Opferempfänger – 4. Victim (Opfergabe) – 5. Opfernutznießer (360). Obwohl im realen – religiösen oder säkularen – 34 Brandt, Opfer als Gedächtnis (siehe 3.5, Anm. 23), Seitenangaben im Text (in Klammern) beziehen sich auf diesen Band; dies., Hat es ... Sinn, von „Opfer“ zu reden (siehe 3.5, Anm. 23); dies., War Jesu Tod ein „Opfer“? Perspektivenwechsel im Blick auf eine klassische theologische Frage, in: Rudolf Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2001, 64-76. 35 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: ders., Soziologie und Anthropologie II, Frankfurt: Fischer, 1989, 9-144. 36 Eine feinsinnige Analyse zum Phänomenfeld Gabe – Vergebung – Opfer bietet Risto Saarinen, God and the Gift: An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville: Liturgical Press, 2005. Zur Entwicklung eines gegenüber Mauss und Brandt emphatischen Begriffs von Gabe unter Einbeziehung des Zeitfaktors siehe Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt: Suhrkamp, 2. Aufl. 1999; und Jacques Derrida, Falschgeld: Zeit geben I, München: Fink, 1993. 37 Vgl. Aurelius Augustinus, Fünfzehn Bücher über die Dreieinigkeit, Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 13, München: Kösel & Pustet, 1935, IV 14, 167. Ähnlich das Opferschema von Henri Hubert u. Marcel Mauss, Sacrifice: Its Nature and Function, London: Cohen & West, 1964, 19, das sie bei ihren Forschungen zum vedischen und jüdischen Opfer entwickeln.
3.5 Sünde und Sühne
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Opfervollzug z. B. Opferspender und Opfervollzieher oder Opferempfänger und Opfernutznießer dieselbe Person sein können, ist dieses Aktions- und Beobachtungsschema hilfreich, um den Prozess „Opfer/Opfern“ zu verstehen und missbräuchliche Formen zu kennzeichnen, wie Brandt an vielen Beispielen, auch aus der Politik und dem Hochleistungssport, zeigt (vgl. 366ff, 384ff). Wichtig ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen dem komplexen Opfervorgang, dem Sacrifice, und dem dargebrachten Victim, eine Unterscheidung, die in manchen Sprachen, zum Beispiel im Deutschen, verwischt wird. Wichtig ist ferner zu sehen, dass das Opfer schon in den alttestamentlichen Überlieferungen nicht unabdingbar mit der Hingabe leiblicher Existenz verbunden ist. Brandt zeigt, dass z. B. die Psalmen 40, 50, 51 und 69 an die Stelle der Materialität und Konkretheit des kultischen Opfers andere Formen setzen: Sie bezeichnen als Opfer, dass die leibliche Existenz nicht ausgelöscht, sondern zur Erfüllung des Willens Gottes eingesetzt wird (Ps 40) im öffentlichen Dank an Gott (Ps 50), im öffentlichen Rühmen Gottes (Ps 69) sowie im Eingeständnis der eigenen Schuld vor Gott und der Hingabe an Gottes reinigendes und neuschaffendes Wirken (Ps 51) (vgl. 111ff). Die Bestimmung in den Psalmen von Dank und Gotteslob als Opfer stellt keine nur übertragene oder uneigentliche Rede dar. Gerade im Blick auf Dank und Gotteslob lässt sich unter Anwendung des Wahrnehmungs- und Beobachtungsschemas ,Opfer‘ zeigen, weshalb diese der Kategorie des Opfers voll Genüge tun und darum zu Recht als ‚Opfer‘ bezeichnet und als ‚Opfer dargebracht‘ werden38 (vgl. 111-120). In zahlreichen kultischen und nicht-kultischen Opfervollzügen wird das Victim, das dargebrachte Opfer bzw. die Opfermaterie, „konsekriert“, d. h. liturgisch geweiht. „Daß das victim bei der Opferung ‚konsekriert‘ wird, bedeutet, daß es in eine andere Zugehörigkeitssphäre versetzt wird oder eintritt“ (363). Diese „Konsekrierung setzt (in positivem oder negativem Sinn) zugunsten des Opferempfängers Leben oder Energie frei“ (365). Vor diesem Hintergrund kann Brandt vorschlagen, die neutestamentliche Rede vom Opfer Jesu Christi bereits auf die Inkarnation zu beziehen. Gott gibt sich in Jesus Christus hinein in die Zugehörigkeitssphäre der Geschöpfe, was mit einem Sichverwechselbarmachen und insofern mit einer sakrifiziellen „Vergabe“ seines Lebens verbunden ist. Gott intendiert damit aber nicht die Viktimisierung Jesu durch die Menschen am Kreuz, doch er riskiert
38
Diese Wahrnehmungsverfeinerung und -erweiterung ist auch wichtig für ein angemessenes Verständnis des „priesterlichen Amtes“. Siehe dazu Stephan Winter, Die Opferkategorie im Kontext von Ordinationen und Personenweihen, in: Albert Gerhards u. Klemens Richter (Hg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt, Quaestiones Disputatae 186, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2. Aufl. 2000, 286ff; u. Teil 4.1, 5.3 u. 5.4.
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Das Kreuz
sie.39 Selbst angesichts der Viktimisierung Christi durch die Menschen am Kreuz bleibt Gott seinem in der Menschwerdung (und in der damit verbundenen Hingabe seines Lebens = sacrifice) bekundeten Willen zur Gemeinschaft mit den Menschen treu. Das mit der Rede von Opfer artikulierte „mehrdimensionale( ) soziale( ) Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch“ kann nach Brandt so entfaltet werden, dass Jesu Christi Leben aus Gott, durch Gott und für Gott bzw. seinen Namen zugunsten der Menschen … zur Sprache kommt. ... Die neutestamentlichen christologischekklesiologischen Opferaussagen können als Ausdruck dafür verstanden bzw. interpretiert werden, daß die Menschen in Jesu Christi Leben aus Gott, durch Gott und für Gott bzw. seinen Namen zugunsten der Menschen einbezogen werden und an ihm Anteil gewinnen (409; ebd. weitere Differenzierungen).
Dieses Beziehungsgeflecht verdeutliche der Hebräerbrief als „Hauptzeuge neutestamentlicher Rede vom Opfer Jesu Christi“: Dass der Sohn Gottes in die Welt kam, um Gottes Willen in gelebter leiblicher Existenzgemeinschaft mit seinen Geschwistern, vor allem aber in der Verkündigung von Gottes „Namen“ (Hebr 2,12) zu erfüllen, wird vom Hebräerbrief als die „Opfergabe“ bezeichnet, durch die die Menschen ein für allemal geheiligt sind (Hebr 10,10) (vgl. bes. 182ff). Die christologische Opfervorstellung des Briefes folgt damit der Intention des alttestamentlichen Opfers, das, so Brandt, primär auf die Stiftung des „Gedächtnisses Gottes in der Welt“ zielt (vgl. 394ff und 433ff).40 Die große Stärke des Beitrags von Sigrid Brandt ist darin zu sehen, dass sie einerseits exegetisch an die differenzierten Vorstellungswelten der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen anzuschließen sucht, andererseits innerkanonische Entwicklungstendenzen und systematische Interpretationsmöglichkeiten freilegt, die davor bewahren, einzel39 So Günter Thomas, Das Kreuz Christi als Risiko der Inkarnation, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 151-179 (siehe 1.5, Anm. 5), im Anschluss an Niels H. Gregersen (Faith in a World of Risks: A Trinitarian Theology of Risk-Taking, in: E. M. Wiberg Pedersen, H. Lam u. P. Lodberg [Hg.], For all People: Global Theologies in Contexts, Grand Rapids: Eerdmans, 2002, 214ff) und risikotheoretische Überlegungen Niklas Luhmanns (Soziologie des Risikos, Berlin u. a.: de Gruyter, 1991). Siehe auch Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 689ff. 40 Angeregt durch Rita Nakashima Brock (And a Little Child Will Lead Us: Christology and Child Abuse, in: Joanne Carlson Brown u. Carole R. Bohn [Hg.], Christianity, Patriarchy, and Abuse: A Feminist Critique, Cleveland: Pilgrim Press, 1989, 42-61), erwägt Brandt, das Bild vom zwölfjährigen Jesus im Tempel als eine mögliche neue Leitimagination für das Opfer Jesu Christi fungieren zu lassen. Die vorbehaltlose Hingabe des Zwölfjährigen im Tempel an das „‚Gedächtnis’ des Namens Gottes“ in der Welt sowie seine Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit, in der er „bereits potentielles victim der Opfermächte dieser Welt“ wird, sind Züge, die die neutestamentlichen Vorstellungen vom ‚Opfer’ Jesu Christi grundlegend prägen und die mit Hilfe dieses Bildes imaginativ eingeholt werden können (435f).
3.5 Sünde und Sühne
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ne Opfertraditionen und Denkfiguren zu isolieren und den Versuch zu machen, sie zum Rahmen eines allgemeinen Zugangs zum Phänomen Opfer zu erklären. Die neuere Diskussion hat durch eine thematische Verschiebung vom Thema Opfer zum Thema Stellvertretung versucht, einen breiteren Interpretationsrahmen zu gewinnen, der allerdings die erhellenden Kräfte der anstößigen Begriffswelt von Sünde – Sühne – Opfer nicht preisgeben darf. Stellvertretung „für uns“ Bernd Janowski hat einerseits die innere Komplexität von Opferritualen, die reiche symbolische Weltsicht, die Phänomenvielfalt der Sünde, auf die sie reagieren, und die Pädagogik der schrittweisen Annäherung an die Heiligkeit Gottes41 in diesen Ritualen vor Augen gestellt. Er hat andererseits versucht, die Vorstellungswelt der Opfer in den Phänomenbereich der Stellvertretungsbedürfnisse und Stellvertretungswahrnehmung einzuordnen. Mit Christoph Gestrich42 geht er davon aus, dass die Rede von „Stellvertretung“ einerseits „die Repräsentation einer Person/Instanz und zum anderen die Entlastung einer Person von bestimmten Aufgaben für eine begrenzte Zeit“ bezeichnen kann. Er skizziert eine breite „Typologie der Stellvertretung“, in die so vielfältige Bezüge eingehen wie der König als ‚Repräsentant‘ oder ‚Mittler‘ Gottes (Jer 26,19; Ps 72 u.ö.); der Mensch als Bild Gottes (Gen 1,26.27; 5,1,3; 9,6); der Prophet als ‚Fürbitter‘ Israels (Ex 32,*7-14.30-34; Jer 15,*10-20 u.ö.); der Sündenbock als ‚ritueller Unheilsträger‘ (Lev 16,20-22, vgl. sachlich Sach 5,5-11); der Gottesknecht als ‚leidender Gerechter‘ (Jes 52,13-53,12); das Bild als ‚Ersatz‘ oder ‚Vergegenwärtigung‘ des Originals (Ersatz-, Kult-, Götterbild).43
Deutlich erkennbar ist dabei das Bemühen, die sühnetheologischen Ausgangsüberlegungen in einen größeren biblisch-theologischen und christologischen Kontext einzuordnen. „... die Wendung vom ‚Eintreten an unsere Stelle‘..., die in den Überlieferungen vom leidenden Gottesknecht ... und vom Tod Jesu zweifellos ihre wirkmächtigsten Ausgestaltungen erfahren hat“, ist für Janowski die den Gedanken der 41 Siehe Bernd Janowski, An die Stelle des anderen treten. Zur biblischen Semantik der Stellvertretung, in: Janowski/Janowski/Lichtenberger, Stellvertretung, 65 (siehe 3.5, Anm. 20) unter Bezugnahme auf Lev 16, Lev 4f; 8-10 u. 14,3-7. 42 Chr. Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001; ders., Das ontologische Fundament und das Potential der Stellvertretungskategorie, in: Janowski/Janowski/Lichtenberger, Stellvertretung, 149ff, bes. 163ff (siehe 3.5, Anm. 20). 43 Janowski, An die Stelle des anderen treten, 54, 54f (siehe 3.5, Anm. 41); siehe auch ders., Ecce Homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Themen Biblischer Theologie, Biblisch-Theologische Studien 84, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2007.
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Das Kreuz
Stellvertretung angemessen wiedergebende „Formel“.44 Der Lebensabschluss Jesu als „Lebenshingabe“ lasse „sein gesamtes Leben als Hingabe aufleuchten“.45 Stephan Schaede hat demgegenüber „vor dem emphatischen Gebrauch von Stellvertretung in der Theologie … ausdrücklich gewarnt“. Er sieht im Ausdruck Stellvertretung einen „Merkposten einer (noch uneingelösten, M. W.) Beschreibungsaufgabe“, die so verschiedenartige Vorgänge wie substitutio, vicariatio, procuratio, repraesentatio, intercessio in systematische Zusammenhänge bringen müsste.46 Die unverzichtbare kreuzestheologische Konzentration einer jeden Christologie sollte also nicht dazu verleiten, die gesamte Themenfülle der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in einer Opfer- und HingabeTheologie einholen zu wollen. Das Gewicht der Auferstehung, die rettende und erhebende Gegenwart des Auferstandenen in der Kraft des Geistes, aber auch Züge seines Lebenszeugnisses und seiner ReichGottes-Verkündigung, die voller Rettungsverheißung und Kraft der Neuschöpfung sind, geraten dann in Gefahr, zu verschwimmen oder verdunkelt zu werden.47 Allerdings verliert jede Christologie ihre Tiefe, ihren Ernst, wenn die Themen Sünde, Sühne und Opfer aus falscher Empfindsamkeit oder gedanklichem Unvermögen heraus ausgeblendet oder sogar verächtlich gemacht werden. Sie sollen helfen, Dimensionen der abgründigen normativen Verstrickung zu erfassen, die das Kreuz Christi als Macht der Sünde vor Augen stellt. Es offenbart damit nicht weniger als eine umfassende Verblendung, die Verlogenheit und Verlorenheit politischer, rechtlicher, moralischer Führung, religiöser Orientierungskraft und den Ausfall prophetischer Weisheit und Einsicht. Es weist aber auch auf den Weg der göttlichen Rettung aus dieser großen Not.
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Janowski, An die Stelle des anderen treten, 68. Janowski, Ecce Homo, 90 (siehe 3.5, Anm. 43). Stephan Schaede, Jes 53, 2Kor 5 und die Aufgabe systematischer Theologie, von Stellvertretung zu reden, in: Janowski/Janowski/Lichtenberger, Stellvertretung, 147, vgl. 144-146 (siehe 3.5, Anm. 20); siehe ders., Stellvertretung. Begriffsgeschichtliche Studien, BHTh 126, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004. 47 Jörns, Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer (siehe 3.5, Anm. 24).
Teil 4 Der erhöhte Christus und sein Reich
4.1 Vom dreifachen Amt Christi – König, Priester, Prophet (Calvin) – zur dreifachen Gestalt des Reiches Christi Es gibt viele Gründe, nicht zum Glauben an Gott zu kommen, auch wenn dieser Glaube von vielen Menschen in den eigenen Umgebungen gelebt wird. Und es gibt viele Gründe, vom Glauben an Gott abzufallen in den Unglauben, auch ohne dramatische persönliche Erfahrungen von Unglück, Leid und Not. Die Ärmlichkeit, Hinfälligkeit, die scheinbare Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit menschlichen Lebens können das Vertrauen auf einen mächtigen, liebenden Gott und gütigen Schöpfer gründlich in Frage stellen. Tiefe Zweifel an der Existenz Gottes und seinem guten und schöpferischen Wirken werden durch die Erkenntnis verstärkt, dass geschöpfliches Leben unabdingbar auf Kosten von anderem Leben lebt und dass Krankheiten und Naturkatastrophen (auch nach den biblischen Zeugnissen) Bestandteil von Gottes Schöpfung sind. Wird dann noch klar bewusst, dass gerade die wirkmächtigen christlichen Glaubensgemeinschaften und Kirchen großen Anteil haben an den Verwerfungen, Verzerrungen und Zerstörungen natürlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens auf dieser Erde, so scheint mehr für den Unglauben zu sprechen als für den Glauben.1 Und werden erst einmal das Leben auf dieser Erde und die Religion in diesem düsteren Licht gesehen, so sind für den Halt des Glaubens auch alle vagen Hinweise auf eine jenseitige Welt Gottes vergeblich, auf eine Welt, in der alles ganz anders und so viel besser sein soll. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus führt durch die „Botschaft vom Kreuz“ zu einer starken Steigerung dieser Vorbehalte, und zwar durch die schonungslose Erkenntnis, dass die Welt unter der Macht der Sünde und des Todes steht. Diese durch Jesus Christus und sein Kreuz vermittelte Offenbarung Gottes profiliert und vertieft die Erfahrungen der Ohnmacht und der Aggressivität, der Bosheit und Verlogenheit, die 1 Siehe dazu die besonders schrille Stimme des „new atheism“ von Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin: Ullstein, 10. Aufl. 2007; dazu aber auch Alister McGrath, The Dawkins Delusion: Atheist Fundamentalism and the Denial of the Divine, London: SPCK, 2007.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
sich mit dem Schein des Unausweichlichen oder sogar des Gottgewollten umgeben (vgl. Teil 3.4 und 3.5). Aus der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit und Lähmung befreit nicht ein göttlicher Paukenschlag. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus durch die Botschaft von der Auferstehung wird zwar gern so dargestellt und mit dem Mirakel einer Wiederbelebung verbunden. Doch die biblischen Überlieferungen geben ein anderes Zeugnis (vgl. Teil 2.3 und 2.5). In der Kraft des Geistes und im Kommen seines Reiches offenbart der auferstandene Christus die liebevolle und kreative Auseinandersetzung Gottes mit der Fragilität und der vielfältigen Selbstgefährdung seiner Schöpfung. Gott überrollt nicht einfach durch eine absolute Herrschaft und Dominanz das gefährdete geschöpfliche Leben. Er weckt und festigt den Glauben nicht durch die beredte Versicherung, dass die göttliche Macht doch gar nichts anderes als eitel Güte und Liebe sein könne. Für den christlichen Glauben werden Menschen durch die subtile, oft „heimliche“ Gegenwart des Auferstandenen in der Kraft des Geistes gewonnen. Durch das – zumeist unscheinbare – Kommen des göttlichen Reiches schenkt und wirkt Gott den Glauben und die Hoffnung inmitten der von ihm so deutlich, ja drastisch unterschiedenen Schöpfung. Doch was ist das – das Reich Gottes, und warum und wie gewinnt es seine segensreiche und wirkungsvolle Gestalt in und durch Jesus Christus und seinen Geist? Die biblischen Überlieferungen sprechen häufig vom „Reich Gottes“ oder vom „Himmelreich“2 und von seinem „Kommen“, das der vorösterliche Jesus ansagt und verkündigt und um das die nachösterlichen Gemeinden bitten. Nur wenige Texte sprechen ausdrücklich vom „Reich Christi“. Einige davon stehen am Rande des Kanons und scheinen auf eine eschatologische Wirklichkeit jenseits von irdischer Zeit und Geschichte hinzuweisen.3 Andere Überlieferungen aber betonen die Gegenwart des Reiches Christi schon in dieser Zeit und Welt: Gott, der Schöpfer und Vater, „hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden“ (Kol 1,13f). Sie sprechen vom „Reich Christi und Gottes“ (Eph 5,5), davon, dass dem Sohn die Gottesherrschaft übertragen worden ist zur Auseinandersetzung mit den „Mächten und Gewalten“ bis zur endgültigen und vollkommenen eschatologischen Offenbarung Gottes (1Kor 15,23-28). Sie 2 Siehe Klaus Koch u. Jens Schröter, Art.: Reich Gottes, I. Altes Testament u. III. Neues Testament, RGG4, Bd. VII, 202f u. 204-209. 3 „Ich beschwöre dich bei Gott und bei Jesus Christus, dem kommenden Richter der Lebenden und der Toten, bei seinem Erscheinen und bei seinem Reich“ (2Tim, 4,1). Siehe auch 2Tim 4,18: „Der Herr wird mich allem Bösen entreißen, er wird mich retten und in sein himmlisches Reich führen.“ 2Petr 1,10f: „... bemüht euch ..., dass eure Berufung und Erwählung Bestand hat. … Dann wird euch in reichem Maß gewährt, in das ewige Reich unseres Herrn und Retters Jesus Christus einzutreten.“
4.1 Vom dreifachen Amt Christi zur dreifachen Gestalt des Reiches Christi
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betonen, dass der Sohn in der Vollmacht der Gottesherrschaft exklusiv den liebenden Schöpfer und Vater offenbart.4 Das Reich Gottes offenbart durch Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes das liebende, erhaltende, rettende und erhebende Wirken des Schöpfers und des dreieinigen Gottes. Christliche Theologien haben immer wieder versucht, in umgekehrter Richtung von einem Verständnis von „Schöpfung“ und „Schöpfer“ her die Offenbarung Gottes in Christus und in der Macht des Heiligen Geistes zu verstehen. Vertreterinnen und Vertreter biblischer, reformatorischer und dialektischer Theologie haben beharrlich auf die Fehlschläge aller solcher Versuche hingewiesen. Die schwächsten dieser vermeintlich schöpfungstheologischen Bemühungen haben sich an einer metaphysisch gedachten mechanistischen Macht über das Universum oder Macht des Universums orientiert und unglaubwürdige Bilder wie die vom „göttlichen Uhrmacher“ in Umlauf gebracht. Die besseren Beiträge haben versucht, den „Grund des Seins“ (Tillich), die „Alles bestimmende Wirklichkeit“ (Bultmann), „die Wirklichkeit des Möglichen“ (Dalferth) u. a. mit mehr oder weniger überzeugenden Konzepten von „Liebe“ zu verbinden. Zumeist lagen diesen scheinbar schöpfungstheologischen Ansätzen Versuche zugrunde, den christlichen Glauben auch nach außen, gegenüber anderen Religionen und wohl auch gegenüber Philosophien und säkularen Weltanschauungen, plausibel erscheinen zu lassen. Doch es waren auf diesem Weg weder überzeugende Bezugnahmen auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus noch pneumatologisch und phänomenologisch befriedigende Konzepte von Liebe noch hinreichend differenzierte Begriffe von Schöpfung und Neuschöpfung zu gewinnen. Selbst dort, wo es gelang, Schöpfungskonzepte von mechanistischer Trostlosigkeit zu vermeiden, wurde Gott zumeist auf den Gedanken eines absolut machtvollen Erbarmers reduziert, der weder der bohrenden Theodizeefrage zu antworten vermochte noch die Freude, die der Heilige Geist schenkt, aufkommen ließ. Doch wie kann die Macht des schöpferischen und neuschöpferischen Gottes und des Heiligen Geistes in und durch Jesus Christus erfasst werden? Die erste Schlüsselerkenntnis lautet, dass der auferstandene und erhöhte Christus nicht ohne den Heiligen Geist gegenwärtig ist und dass er durch den göttlichen Geist seine Zeuginnen und Zeugen in sein nachösterliches Leben mit einbezieht (Teil 4.2 und 2.5). Durch seine Zeuginnen und Zeugen als „Glieder“, die den nachösterlichen und nachpfingstlichen Leib Christi konstituieren, gewinnt der Auferstandene die „robust physische Existenz“, die N. T. Wright mit Recht einklagt. Calvin hat in seiner großen reformatorischen Dogmatik eindrücklich diese Erkenntnis hervorgehoben: Jesus Christus ist der Heilige Geist „nicht für sich allein (privatim) gegeben worden, sondern 4 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22; vgl. Mt 28,19; aber auch Joh 1,12; 17,1-3; Röm 1,4; 2Thess 1,9; Jud 1,21ff; Offb 1,6 u. ö.
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er soll eben seine Fülle den Hungernden und Durstigen überfließend zuteil werden lassen!“5 Der auferstandene und erhöhte Christus ist nicht ohne den Heiligen Geist und ohne die mit diesem Geist begabten Zeuginnen und Zeugen! Darüber hinaus bietet Calvin eine zweite Schlüsselerkenntnis, die es uns ermöglicht, die Differenzierung und Konkretion des Wirkens des auferstandenen Christus zu erfassen. Diese zweite Schlüsselerkenntnis befähigt uns, das Wirken des auferstandenen und erhöhten Christus, die Kraft seines Geistes und das Kommen seines Reiches im Zusammenhang mit seinem vorösterlichen Leben zu sehen. Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem vorösterlichen und dem nachösterlichen Leben Jesu werden dabei deutlich. Doch nicht nur die Bezüge zum vorösterlichen Leben Jesu, zur Kreuzigung und darüber hinaus zur Auferstehung werden erkennbar. Auch die Rückbindung an die weiten Erinnerungsräume und Erwartungshorizonte der alttestamentlichen Überlieferungen (siehe Teil 1.5) kann in dieser Orientierung am Auferstandenen und Erhöhten festgehalten werden. Schließlich stoßen wir mit dieser Schlüsselerkenntnis auf einen breiten neueren ökumenischen Konsens in der Christologie. Calvins zweite christologische Schlüsselerkenntnis lautet: „Wollen wir wissen, wozu Christus vom Vater gesandt ward und was er uns gebracht hat, so müssen wir vornehmlich sein dreifaches Amt, das prophetische, königliche und priesterliche, betrachten.“6 Die Lehre vom dreifachen Amt (munus triplex Christi), auch als Lehre von den „drei Ämtern“ bezeichnet, erlaubt es, das öffentliche und das eschatologische Wirken Jesu Christi in seinem differenzierten Reichtum zu erfassen. Sie erschließt Bezüge zu den alttestamentlichen Überlieferungen, Kontinuitäten des vorösterlichen und nachösterlichen Wirkens Jesu Christi zum Wirken gesalbter Könige, Priester und Propheten, auf die die Zeugnisse des Neuen Testaments immer wieder anspielen.7 Schleiermacher8, Barth9, Wainwright10 und andere bedeutende Theologen der 5 Calvin, Institutio, 310 (II, 15,5, vgl. II, 15,2) (siehe 0.5, Anm. 13); siehe auch Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik II, Ökumenische Theologie 15, Zürich u. Gütersloh: Benziger u. Gütersloher, 1990, 174ff; dazu ausführlich Teil 4.2, vgl. auch 2.5. 6 Calvin, Institutio, 307 (II, 15,1); dass die große dogmatische Leistung Calvins auch von bedeutenden Theologen völlig verkannt werden konnte, belegt in seiner monumentalen Geschichte I. A. Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi von den ältesten Zeiten bis auf die neueste dargestellt, Zweiter Theil: Die Lehre von der Person Christi vom Ende des vierten Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin: Gustav Schlawitz, 1853, 718ff. 7 Siehe besonders die Beiträge von Hartmut Gese (vgl. Teil 1.5). 8 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 2, hg. Martin Redeker, Berlin: de Gruyter, 7. Aufl. 1960, §§ 102-105. 9 Barth, KD IV/1, 231ff; IV/2, 173ff; IV/3, 12ff, 52ff, 206ff.
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reformierten und methodistischen Traditionen haben diese Lehre aufgenommen und entfaltet. Durch Johann Gerhard11 fand sie Eingang in die lutherische Theologie. Die römisch-katholische Dogmatik nahm sie ebenso auf12 wie die der Orthodoxen Kirchen13. Edmund Schlink kommentiert: Bei der Ausbreitung der Lehre vom munus triplex Christi handelt es sich um ein ökumenisch einmaliges Phänomen. Denn dieses Lehrstück hat nicht vor, sondern nach der Trennung der Kirchen seine dogmatische Gestalt gewonnen und hat sich mit seinen Aussagen über das Heilswerk Jesu Christi quer durch die Kirchentrennungen hindurch als gemeinsame Lehre durchgesetzt.14
Die Reihenfolge, Gewichtung und Ausgestaltung des dreifachen Amtes wird von den einzelnen theologischen Klassikern sehr unterschiedlich gestaltet. Calvin spricht zunächst vom prophetischen Amt, durch das Gott sein Volk „nie ohne die heilsame Lehre gelassen“ und in der Erwartung auf das „Kommen des Mittlers“ ausgerichtet hat.15 Jesus Christus bietet uns nun nicht nur die Lehre, in die „alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen ist“, sondern gibt durch die Ausgießung des Geistes auch den Gliedern am Leib Christi, den Söhnen und Töchtern (Joel 3,1), Anteil.16 Durch das königliche Amt will Gott „durch die Hand seines Sohnes allezeit seiner Kirche Schutz und Beistand sein“. Zugleich betont er, dass Christus der „ewige( ) König“ eines ewigen und geistlichen Reiches ist, und hebt vor allem die Bewahrung der Glaubenden zum ewigen Leben hervor. Aber auch hier wird den Glaubenden durch die Taufe und die Geistausgießung Anteil gegeben an der Herrschaft.17 Das priesterliche Amt legt Calvin im Anschluss an den Hebräerbrief, Kap. 7-10, aus: Jesus Christus tritt als 10 Niko Koopman danke ich für fruchtbare Gespräche über das Thema und für den Hinweis in seinen noch unveröffentlichten Texten, dass die Lehre vom dreifachen Amt auch durch analoge Funktionen der drei Ämter weiter strukturiert werden könnte. So unterscheidet Geoffrey Wainwright, For Our Salvation: Two Approaches to the Work of Christ, Grand Rapids: Eerdmans, 1997, 109ff, in allen drei Ämtern einen „christological, baptismal, soteriological, ministerial“ und „ecclesiological use“. 11 Johann Gerhard, Loci theologici, 1610-22, Loc. IV, cap. 15. 12 Matthias Joseph Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, Bd. 5,2, Freiburg: Herder, 2. Aufl., 1954, 226-305; siehe auch die Bemerkung bei Thomas von Aquin, Summa theologiae III, 22 art. 1 ad 3. 13 Staniloae, Orthodoxe Dogmatik II, 89ff u. 178ff (siehe 4.1, Anm. 5); P. Trempela, Dogmatik der orthodoxen katholischen Kirche (griechisch), Bd. II, Athen: Adelphotes Theologon „Zoe“, 1959, 143-203; siehe auch schon Eusebius von Caesarea, Hist. Eccl. I,3 (siehe 0.4, Anm. 16). 14 Edmund Schlink, Ökumenische Dogmatik. Grundzüge, Göttingen: Vandenhoeck, 1983, 414. 15 Calvin, Institutio, 307 (II, 15,1) (siehe 0.5, Anm. 13). 16 Calvin, Institutio, 308 (II, 15,2). 17 Calvin, Institutio, 309 (II, 15,3), vgl. 308-311 (II, 15,3-5).
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Der erhöhte Christus und sein Reich
der Hohepriester für uns vor Gott ein und bringt sich selbst als Opfer dar. Zugleich sind wir in der Kraft des Geistes „in ihm … Priester“, bringen in Gebet und Lobpreis unsere Opfer dar und „haben ... freien Zugang zu dem Allerheiligsten im Himmel“.18 Die unterschiedlichen Anordnungen, Gewichtungen und Füllungen der Lehre vom dreifachen Amt sind abhängig von der Orientierung primär am vorösterlichen Leben Jesu oder primär am erhöhten Christus: So hat Jesus das prophetische Amt als der irdische durch seine Verkündigung und als der erhöhte durch die apostolische Sendung ausgeübt und übt sie weiterhin aus durch das Evangelium. Sein priesterliches Amt hat Jesus als der irdische in seiner Selbsthingabe in den Tod ausgeübt und übt es als der Erhöhte aus, indem er vor Gott für die Seinen fürbittend eintritt. Sein königliches Amt entstand nicht erst durch seine Einsetzung in die Herrschaft als Erhöhter, sondern bestand bereits in der Herrschaft des irdischen Jesus über die Gewalten der Natur und über die Verderbensmächte.19
Die unterschiedlichen Gewichtungen selbst bei den theologischen Klassikern scheinen zunächst den Wert dieses Lehrstücks zu problematisieren.20 Tatsächlich gibt diese Lehre vielfältigen dogmatischen Systematisierungsinteressen Raum. Kann sie den Bedenken, sie lasse sich beliebig konstruieren und damit für alle möglichen Interessen missbrauchen, etwas entgegensetzen? Daniel Migliore hat vorgeschlagen, 18 Calvin, Institutio, 312 (II, 15,6). – Schleiermacher spricht zunächst vom prophetischen Amt Christi, das im „Lehren, Weissagen und Wundertun“ bestehe. Er orientiert sich vor allem am vorösterlichen Jesus und betont, dass dieser „Gipfel und ... Ende aller Prophetie“ sei so wie er auch Höhepunkt und Ende des priesterlichen Amtes darstelle (Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 108, 112, 135 [siehe 4.1, Anm. 8]). Er unterscheidet im priesterlichen Amt Jesu Christi „vollkommne Gesetzerfüllung oder seinen tätigen Gehorsam“ und seinen „versöhnenden Tod oder seinen leidenden Gehorsam“, schließlich „die Vertretung der Gläubigen beim Vater“ (ebd., 118). Das königliche Amt Christi beendet „politische( ) Religionen sowohl als Theokratien“ durch seine „rein geistige Herrschaft des Gottesbewußtseins“. Es besteht darin, „daß alles, was die Gemeinschaft der Gläubigen zu ihrem Wohlsein erfordert, immerwährend von ihm ausgeht“ (ebd., 144, 136). – Karl Barth will zunächst das hohepriesterliche, dann das königliche, schließlich das prophetische Amt zur Sprache bringen, ersetzt aber die kultischen Denkfiguren durch juristische, indem er die Darstellung des hohepriesterlichen Amtes unter die Formel bringt: „Der Richter als der an unserer Stelle Gerichtete“ (Barth, KD IV/1, 231; vgl. 231ff; 302ff bzw. die Bemerkungen, man hätte neben der juristischen und kultischen Bildlichkeit im Anschluss an das Neue Testament auch eine finanzielle oder eine militärische verwenden können [ebd., 301f]); vgl. die Kritik von Brandt, Opfer als Gedächtnis, 294ff (siehe 3.5, Anm. 23); dazu im Detail die Teile 4.4, 5.3 u. 5.5. 19 Schlink, Ökumenische Dogmatik, 414 (siehe 4.1, Anm. 14). 20 Vgl. Martin Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig; A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, 2. Aufl. 1893, 332f.
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die Lehre vom dreifachen Amt Christi an seinem vorösterlichen Leben und seiner Verkündigung, an seinem Kreuz und an seiner Auferstehung zu orientieren.21 Wir greifen diesen Impuls auf, nehmen aber zugleich mit Calvin bei jedem einzelnen Amt die pneumatische Resonanz und Ausstrahlung mit in den Blick. Die Orientierung am vorösterlichen Leben und an Jesu Wirken gibt dem königlichen Amt ein klares Profil. Die Orientierung am Kreuz Christi beleuchtet das Aufgabenspektrum des prophetischen Amtes. Die Zeugnisse von der Auferstehung und den Erscheinungen des Auferstandenen lassen den Reichtum des hohepriesterlichen Amtes erkennen. Die drei Ämter durchdringen einander, sie sind perichoretisch miteinander verbunden.22 Deshalb ist die Rede vom „dreifachen Amt“ angemessener als die von „drei Ämtern“. Aufgrund der ebenfalls unabtrennbaren pneumatischen Ausstrahlung des dreifachen Amtes sollte die Lehre vom „dreifachen Amt“ mit der Lehre von der „dreifachen Gestalt des Reiches Christi“ oder auch der „dreifachen Gestalt des Reiches Gottes“ eng verbunden werden.23 Der auferstandene Christus will den dreieinigen Gott offenbaren und damit sich selbst als das göttliche Wort, als den ewigen Logos, aber auch den Heiligen Geist und den liebenden Schöpfer und Neuschöpfer. Er will in dieser Offenbarung „nicht ohne die Seinen“ sein. Dabei dürfen, wie wir sehen werden, „die Seinen“ nicht nur auf die verfassten Kirchen reduziert werden. Das Reich Christi ist, wie besonders deutlich sichtbar an der prophetischen und königlichen Gestalt des Reiches Gottes, weitreichender, umfassender als der Wirkungsbereich der Kirchen. Jede zu starke Gewichtung nur eines Amtes bringt Gefahren mit sich. Eine sehr starke Betonung des königlichen Amtes bzw. der entsprechenden Gestalt des Reiches Gottes in Theologien und Kirchen 21
Siehe Daniel L. Migliore, Faith Seeking Understanding: An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids: Eerdmans, 2. Aufl. 1999, 155. 22 Siehe Staniloae, Orthodoxe Dogmatik II, 90ff (siehe 4.1, Anm. 5); zum Begriff der Perichorese Eberhard Jüngel, Art.: Perichorese, RGG4, Bd. VI, 1109-1111. 23 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, 25ff (siehe 0.4, Anm. 37), hat vorgeschlagen, bei der Beschreibung von Lebensprozessen die geläufigen Metaphern von „Schichten“ und „Ebenen“ durch die Metapher der „Dimensionen“ zu ersetzen. Dimensionen erlauben Gewichtungen, ohne damit die Festschreibung einer bestimmten Hierarchie erforderlich zu machen. Dies aufnehmend, wäre auch die Rede von „drei Dimensionen des Reiches Gottes“ möglich. Diese Rede bringt aber das Problem mit sich, dass sie meist mit räumlichen Vorstellungen verbunden ist. Wie wir sehen werden, lassen sich in den verschiedenen Kirchen, aber auch in den verschiedenen Außenperspektiven auf den christlichen Glauben unterschiedliche Gewichtungen der Wirkungen und Ausstrahlungen des dreifachen Amtes und der entsprechenden Dimensionen oder Gestalten des Reiches Gottes beobachten. Werden die jeweils anderen beiden Dimensionen stark ausgeblendet oder in eine der Dimensionen zu stark integriert, ergeben sich problematische Profile der Christusnachfolge und Verzerrungen der Offenbarung.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
kann kraftvolle diakonische Profile der Nachfolge entwickeln, dabei aber der humanistischen Selbstsäkularisierung der Frömmigkeit und der Kirchen zuarbeiten.24 Eine sehr starke Hervorhebung des prophetischen Amtes und der prophetischen Gestalt des Reiches Gottes kann kämpferische politische und scharfsinnige akademisch-analytische Theologien und Frömmigkeitsformen freisetzen, sie kann aber auch zu moralischer Atemlosigkeit und geistlicher Erschöpfung führen.25 Die sehr starke Privilegierung des priesterlichen Amtes und der entsprechenden Gestalt des Reiches kann zur Entwicklung starker spiritueller und kirchlicher Profile beitragen, sie kann aber auch der ekklesiozentrischen Selbstisolierung und liturgistischer Erstarrung zuarbeiten.26 Die Lehre vom dreifachen Amt Christi bzw. von der dreifachen Gestalt des Reiches Gottes kann, wenn die perichoretische Verbindung der drei Gestalten beachtet wird, eine wichtige theologische Hilfestellung zur Orientierung bieten, um diesen verbreiteten Fehlgewichtungen entgegenzuwirken. Sie kann zu einer christologischen Orientierung beitragen, die es ermöglicht, das schöpferische und neuschöpferische Wirken Gottes in der Macht des Geistes und das „Kommen“ des göttlichen Reiches von anderen eindrucksvollen Schöpfungsvorstellungen, Geistkonzepten und Bewegungen zu unterscheiden.
4.2 Geistchristologie und Jesus Christus als „das Reich Gottes in Person“: „Der Auferstandene ist nicht ohne die Seinen.“ Herausforderungen durch die Theologie der Pfingstkirchen Christus, der Messias, der Gesalbte, ist nicht mit Öl, sondern mit dem Heiligen Geist gesalbt und damit in einzigartiger Weise mit göttlicher Macht ausgezeichnet. Dies betont Calvin in seiner großen reformatorischen Dogmatik Unterricht in der christlichen Religion: „Deshalb ist seine Königssalbung nicht mit Öl und köstlicher Würze geschehen, sondern er heißt der Gesalbte Gottes, weil auf ihm der ‚Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn‘ ruht (Jes 11,2).“ Doch darüber hinaus wurde Christus mit dem Heiligen Geist gesalbt, damit er „den Seinen“ durch den Geist Anteil an seiner Macht gebe.1 24 25 26 1
Vgl. Teil 4.4. Vgl. Teil 5.5. Siehe dazu Teil 5.3 u. 5.4. Calvin, Institutio, 310 (II, 15,5, vgl. II, 15,2) (siehe 0.5, Anm. 13); vgl. das in Teil 4.1, Anm. 5 belegte Zitat. Calvin kommentiert: „Denn es kann von ihm gesagt werden, der Vater habe ihm den Geist nicht ,nach dem Maß‘ gegeben (Joh 3, 34),
4.2 Geistchristologie
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Calvin betont die sogenannte Geistausgießung durch den „vom Geist Gesalbten“, die schon für die frühe Kirche zu einer bahnbrechenden geistlichen Erfahrung geworden war. Auf Jesus Christus „ruht“ nicht nur der Geist Gottes, er ist nicht nur vom Geist „überkommen“. Er gibt seinen Zeuginnen und Zeugen Anteil an dieser göttlichen Kraft und Macht.2 Die weltweite Bewegung der Pfingstkirchen und der charismatischen Erneuerungen im 20. Jahrhundert, mit etwa einer halben Milliarde Gliedern die größte Frömmigkeitsbewegung der Menschheitsgeschichte, wird dieses Ereignis der „Geisttaufe“ in das Zentrum ihrer Frömmigkeit stellen.3 Einer der führenden pfingstkirchlichen Theologen, Frank Macchia, hat die „Geisttaufe“ als „Kronjuwel“ seiner Kirche und ihrer Theologie bezeichnet.4 Er beschreibt aber auch eine konfliktträchtige Spannung unter den pfingstkirchlichen Theologen, die nach seinem Urteil die starke Konzentration auf die Geisttaufe zurücktreten ließ. Diese Spannung drückt sich aus in den Fragen: Ist die Begabung mit dem Geist primär theologisch als „Heiligung“ im Sinne der Aufnahme in die Gemeinschaft mit Christus zu verstehen?5 Oder ist die Geisttaufe primär als Begabung mit Geistesgaben (Charismen) zur Mitwirkung an der Erbauung des Leibes Christi aufzufassen?6 Diese Spannung sei oft auf unterschiedliche Gewichtungen in den paulinischen (Heiligung und Gemeinschaft mit Christus) und den lukanischen Schriften (Verleihung von Geistesgaben) zurückgeführt worden.7 Die neuere theologische und der Grund ist der, daß wir aus seiner Fülle alle nehmen sollen Gnade um Gnade! (Joh 1,16)“ (ebd., 310, vgl. 308 [II, 15,5, vgl. II, 15,2]). 2 Vgl. James D. G. Dunn, Towards the Spirit of Christ: The Emergence of the Distinctive Features of Christian Pneumatology, in: Welker, The Work of the Spirit, bes. 7ff (siehe 2.4, Anm. 12); vgl. ders., Jesus Remembered, Grand Rapids: Eerdmans, 2003, 355ff, 655f. 3 Vgl. Peter Zimmerling, Die charismatischen Bewegungen. Theologie – Spiritualität – Anstöße zum Gespräch, Göttingen: Vandenhoeck, 2001, bes. Teil 1.1; David Martin, Tongues of Fire: The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford u. Cambridge/USA: Blackwell, 1993, bes. 271ff die Überlegungen zur Auswirkung auf die amerikanische Religiosität im Allgemeinen, den römischen Katholizismus und die Theorien der Säkularisierung. 4 Siehe Frank D. Macchia, Baptized in the Spirit: A Global Pentecostal Theology, Grand Rapids: Zondervan, 2006, 20ff, 57ff; ders., The Kingdom and the Power: Spirit Baptism in Pentecostal and Ecumenical Perspective, in: Welker, The Work of the Spirit, 109ff (siehe 2.4, Anm. 12). 5 Mit dieser Sicht berührt sich die pfingstkirchliche Theologie mit anderen theologischen Traditionen, sofern sie die „Heiligung“ nicht als einen Prozess von einer „high voltage crisis experience“ (Macchia, Baptized in the Spirit, 30) zur nächsten ansieht. Zur christologisch interpretierten Geisttaufe siehe Barth, KD IV/4, bes. 14ff. 6 Vgl. dazu C. van der Kooi, Tegenwoordigheid van Geest. Verkenningen op het gebied van de leer van de Heilige Geest, Kampen: Kok, 2006, bes. 53ff. 7 Dazu grundlegend James D. G. Dunn, Baptism in the Holy Spirit, Studies in Biblical Theology, Second Series 15, London: SCM Press, 1970.
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Diskussion innerhalb der Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen um die Jahrtausendwende habe aber diese Spannung und Engführung überwunden. Ganz entscheidend war dabei die Verbindung der Geisttaufe mit der Konzentration auf den erhöhten Christus und sein Reich. Die Ausgießung des Heiligen Geistes begabt die im Glauben mit Christus verbundenen Menschen mit seinem Geist und nimmt sie hinein in seinen Herrschaftsbereich, ja beteiligt sie an seinem nachösterlichen Leben und Wirken. Hier muss die oft gesuchte und beschworene „Geistchristologie“ ansetzen.8 Die Geistchristologie verbindet die Konzentration auf Jesus Christus und auf die Ausgießung des Geistes durch ihn mit dem Bemühen, in der davon geprägten Frömmigkeit und Gemeinde Kräfte des Reiches Gottes zu identifizieren.9 Und sie entdeckt mit der Theologie des Reiches Gottes die präsentische und futurische Eschatologie für die Pfingsttheologie.10 Impulse von Johann und Christoph Blumhardt11 und Jürgen Moltmann12, aber auch von verschiedenen Theologien der Befreiung aufnehmend, verwenden zahlreiche Pfingsttheologen „das Motiv des Reiches Gottes als Integrationskonzept, um persönliche Frömmigkeit, gemeinschaftlichen Gottesdienst und soziale Praxis zusammenzubringen.“ Zugleich sieht Macchia: „Das 8
Dunn hat früh diesen Weg exegetisch zu bahnen versucht (James D. G. Dunn, Jesus and the Spirit: A Study of the Religious and Charismatic Experience of Jesus and the First Christians as Reflected in the New Testament, Philadelphia: Westminster, 1975, bes. 301ff), doch solche Versuche sind bisher oft an der Arbeit mit zu engen leitenden Denkfiguren gescheitert; bei Dunn dominiert der Bewusstseinsbegriff; bei Paul W. Newman (A Spirit Christology: Recovering the Biblical Paradigm of Christian Faith, Lanham, New York u. London: Univ. Press of America, 1987) der der „Interpersonalität“. Zur Hintergrundsproblematik dieser Reduktionen siehe Welker, Gottes Geist, 262ff (siehe 0.6, Anm. 16); ders., The Spirit in Philosophical, Theological, and Interdisciplinary Perspectives, in: ders., The Work of the Spirit, 221ff (siehe 2.4, Anm. 12). Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi (siehe 3.3, Anm. 7) hat zunächst eine Geistchristologie in der biblischen Orientierung an der „Geistgeburt“ und „Geisttaufe“ Christi zu entwickeln begonnen, 92ff; er hat dann auch den Bogen zum messianischen Wirken und zur Theologie des Reiches Gottes geschlagen (114ff), dabei aber die explizit pneumatologischen Linien aus den Augen verloren (vgl. 170f) und die Leistungsmöglichkeiten der Lehre vom dreifachen Amt unterschätzt (vgl. 157f). Dennoch teilen die folgenden Überlegungen viele seiner Intentionen. Siehe auch Peter C. Hodgson, Winds of the Spirit: A Constructive Christian Theology, Louisville: Westminster John Knox, 1994, 267ff. 9 Donald W. Dayton, Theological Roots of Pentecostalism, Grand Rapids: Zondervan, 1988, 48-54. 10 Vgl. D. William Faupel, The Everlasting Gospel: The Significance of Eschatology in the Development of Pentecostal Thought, Sheffield: Sheffield Academic Press, 1996, 13-18; vgl. auch Teil 4.3. 11 Frank D. Macchia, Spirituality and Social Liberation: The Message of the Blumhardts in the Light of Wuerttemberg Pietism, Pietist and Wesleyan Studies, Lanham: Scarecrow, 1993. 12 Moltmann, Theologie der Hoffnung (siehe 0.4, Anm. 24); ders., Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh: Kaiser, 1995.
4.2 Geistchristologie
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Reich passt auch gut zur pfingstkirchlichen Wertschätzung von Machterweisen und göttlichen Siegen über die Mächte der Finsternis, besonders durch geistliche Gaben.“13 Dies wiederum nötigt zur Abgrenzung von einer auch in den Pfingstkirchen auftretenden Konzentration, sogar Begeisterung für Endzeitkatastrophen in Verbindung mit Spekulationen über das richtende „zweite Kommen Jesu Christi“. Der sogenannte Dispensationalismus spekuliert über Gottes „Verwalten der Fülle der Zeiten“ (Kol 1,25; Eph 1,10; 3,2) in einer Serie von Gerichtsereignissen an Juden und Heiden unter den Bedingungen zunehmender Gottlosigkeit. Er wurde in seinen „modernen“ Fassungen führend von John Nelson Darby (1800-1882) vertreten und findet auch heute noch viele Anhänger und Nachahmer.14 Wie lässt sich eine seriöse theologische Auseinandersetzung damit entwickeln?15 Weder eine Christologie des dominierenden Kyrios (des „senkrecht von oben kommenden Christus“16) noch eine Begeisterung für eine mächtige Dynamik des kommenden Reiches Gottes können der Fixierung auf eine Christologie und Reich-Gottes-Theologie der konfliktbestimmten Endzeit entgegenwirken. Sie lassen sich vielmehr mühelos in dieses Konzept integrieren.17 Die Bemühungen, eine Geistchristologie mit theologischer ReichGottes-Eschatologie zu verbinden, können Fixierungen auf ein apokalyptisches Jenseits erübrigen, wenn sie die Figur der Geistausgießung 13 Macchia, Baptized in the Spirit, 42 u. 45, Übersetzung M. W. (siehe 4.2, Anm. 4); vgl. Steven J. Land, Pentecostal Spirituality: A Passion for the Kingdom, Sheffield: Sheffield Academic Press, 1993, 62ff; Samuel Solivan, The Spirit, Pathos and Liberation: Towards a Hispanic Pentecostal Theology, Sheffield: Sheffield Academic Press, 1998; dazu Michael Bergunder (Hg.), Pfingstbewegung und Basisgemeinden in Lateinamerika. Die Rezeption befreiungstheologischer Konzepte durch die pfingstliche Theologie, Weltmission heute 39, Hamburg: 2000; Rudolf von Sinner, Pfingstbewegung und Bürgerrechte in Brasilien – zwischen Weltflucht und Dominanz, ThLZ, voraussichtlich 2012. 14 Vgl. The Collected Writings of J. N. Darby, hg. William Kelly, 34 Bde., London: Morrish, 1867-1900; allein zwischen 2000 und 2010 Nachdrucke vieler seiner Schriften, elektronisch veröffentlicht auch unter STEM (Sound Teaching on Electronic Media). Die „gesunde Lehre“ wird in neueren Schriften verbreitet, siehe Stanley Howard Frodsham, The Coming Crisis and the Coming Christ, Springfield: Gospel, 1934; David Wilkerson, Racing toward Judgment, Old Tappan: Revell, 1976; Jerry Falwell, Nuclear War and the Second Coming of Jesus Christ, 1983; Tim LaHaye, The Beginning of the End, Wheaton: Tyndale, 1991; Marilyn Hickey, Armageddon, Denver: Marilyn Hickey Ministries, 1994. Fundamentalistische und evangelikale Formen von Frömmigkeit verbinden sich mit Science Fiction z. B. in den Romanen von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins und deren Verfilmungen unter dem Serientitel „Left Behind“ bzw. „Finale“. Die Apokalypse dient als Drehbuch, der Kampf mit dem Antichrist ist von zentralem Interesse. 15 Vgl. N. T. Wright, Surprised by Hope: Rethinking Heaven, the Resurrection, and the Mission of the Church, New York: Harper, 2008, bes. 118ff. 16 Barth, Der Christ in der Gesellschaft, 12ff (siehe 3.4, Anm. 3). 17 Vgl. Teil 4.4 zu Barmen III.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
und das reale Wirken der Geistausgießung unter Menschen klar vor Augen bringen. Im Alten Testament bietet der Prophet Joel die visionäre Verheißung, dass der Geist Gottes ausgegossen wird auf Männer und Frauen, Alte und Junge, Knechte und Mägde (Joel 3,1ff). Das ist revolutionär in einer patriarchalen Gesellschaft, in der nur Männer das Sagen haben. Das ist revolutionär in einer Sklavenhaltergesellschaft, wie sie in der Antike selbstverständlich ist. Das ist auch revolutionär in Gesellschaften, in denen nur „die Alten“ oder „die Ältesten“ gehört werden, oder in Gesellschaften, in denen sich umgekehrt Geringschätzung, ja Feindseligkeit gegenüber denen ausbreitet, die zum „alten Eisen“ gerechnet werden. Der Bericht von der pfingstlichen Ausgießung des Geistes in der Apostelgeschichte (Apg 2,1ff) stellt fest: Nun ereignet sich, was der Prophet Joel gesagt hat. Der Geist Gottes wird auf Frauen und Männer, auf Junge und Alte, auf Sklavinnen und Sklaven ausgegossen. Darüber hinaus wird er nicht nur auf Israel ausgegossen, sondern auch auf Menschen aus anderen Völkern, Traditionen und Sprachen. Ein wunderbares Hören und Verstehen der großen Taten Gottes ereignet sich. Inmitten aller Differenzen von Menschen, Nationen und Kulturen wird eine universale Gemeinschaft des Geistes gestiftet. Der christliche Glaube sieht diese differenzierte Gemeinschaft des Geistes durch den auferstandenen und erhöhten Jesus Christus, seinen Geist und sein Reich vermittelt. Christus verleiht durch seinen Geist verschiedene Gaben (Charismen), die der Erbauung einer lebendigen Gemeinschaft und einem dynamischen Suchen nach Wahrheit und Gerechtigkeit dienen. Paulus gebraucht das Bild vom „Leib Christi“, in dem die verschiedenen Glieder mit unterschiedlichen Begabungen und Befähigungen zusammenwirken. Das Haupt des Leibes ist Jesus Christus selbst. Sein Leib ist durch und durch von seiner Person, seinem Leben und seinem Wirken geprägt. Deshalb trägt sein Reich die Züge seiner Person. Deshalb wird er seit Tertullian auch als „das Reich Gottes in Person“ bezeichnet. Die Geisttaufe, die Ausgießung des Geistes, verleiht diesem Reich eine anspruchsvolle Verfassung und Gestalt. Denn die vom Geist Begabten und Erfüllten sind weder „gleichgeschaltet“ noch durch eine einfache Hierarchie geordnet und verbunden. Im Leben eines Leibes sind je nach Situation einmal die Augen wichtiger, dann die Ohren, einmal die Hände, dann wieder die Füße (vgl. 1Kor 12,12ff). In diesem organismisch-pluralistischen Zusammenspiel wirkt der Geist Gottes eine freiheitliche Gemeinschaft der Glaubenden.18
18 Siehe dazu Welker, Gottes Geist, 143ff, 214ff (siehe 0.6, Anm. 16); ders., Kirche im Pluralismus, 53ff, 104ff (siehe 3.2, Anm. 49); vgl. auch Noordmans, Das Evangelium des Geistes, 38ff (siehe 2.5, Anm. 9); Ted Peters, God – the World’s Future: Systematic Theology for a Postmodern Era, Minneapolis: Fortress, 1992, 233ff.
4.2 Geistchristologie
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Im Bemühen, die innere Verfassung der Christusherrschaft, das Wirken seines Geistes und seines Reiches zu erfassen, hilft eine Schlüsselerkenntnis, die der späte Barth mit Luther teilt:
Wer „Jesus Christus“ sagt, der sagt: „Jesus Christus und die Seinen“, die von ihm als Sohn Gottes und in ihm als Menschensohn Miterwählten, er sagt „Jesus Christus und seine Gemeinde“, „Jesus Christus als Haupt seines Leibes“: Jesus Christus in seiner himmlischen und in seiner irdisch-geschichtlichen Existenzform. Seine eine Existenz hat jene, und sie hat diese Form ...19
Das nötigt nicht nur dazu, mit der Geistchristologie und dem Kommen seines Reiches eine differenzierte, polyphone, dynamische und freiheitliche menschliche Gemeinschaft verbunden zu wissen. Es nötigt auch dazu, diese differenzierte Gemeinschaft als durch Gott „erhobene“ Menschheit zu respektieren und zu würdigen. Menschliches Wesen kann und muß … ein in seiner Geschöpflichkeit von Gott streng geschiedenes und in seiner Unart geradezu gottloses, Gott fremdes, Gott widriges, Gott feindliches Wesen genannt werden, nicht aber im Blick auf diesen Einen. In Ihm ist es das nicht. In Ihm ist es in seiner Geschöpflichkeit wohl von Gott verschieden, ihm aber auch verbunden und ist seine ganze Gottlosigkeit, Gottfremdheit, Gottwidrigkeit, Gottfeindlichkeit nicht nur Lügen gestraft, sondern beseitigt, ersetzt durch seine vollkommene Gemeinschaft mit Gott.20
Diese Erkenntnisse verbieten sowohl eine rein „außerweltliche“ Eschatologie und Christologie wie eine negative Endzeit-Anthropologie, die sich an den Leitvorstellungen von Kampf und Vernichtung berauscht. Macchia setzt an die Stelle der Kampf- und Untergangsvisionen apokalyptischer Eschatologien die Verheißung von 1Kor 2,9f21: „Gott hat uns durch den Geist offenbart …‚ was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herzen emporgestiegen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ Die Wahrnehmung des reichen, lebendigen und freiheitlichen Lebens des „Leibes Christi“ auch inmitten von Verfolgung, Kämpfen und den Anfechtungen der Endlichkeit dieser Welt ermöglicht es, einen großen Reichtum dieser Lebensgestaltung wahrzunehmen und zu fördern. Im Anschluss an Walter J. Hollenweger22 betont Macchia die Bedeutung der „gesprochenen Liturgie, der Erzählbarkeit von Theologie und Zeugnis, der größtmöglichen Teilhabe an Reflexion, Gebet und 19 Barth, KD IV/2, 63; vgl. dazu auch die trotz ihrer pneumatologischen Blässe gute Darstellung des Zusammenhangs von Auferstehung und Erhöhung bei Walter Kasper, Jesus der Christus, Mainz: Matthias Grünewald, 11. Aufl. 1992 (Nachdruck d. 10. Aufl. 1986), 170ff. 20 Barth, KD IV/2, 130. 21 Nach Jes 64,4 u. 65,16. Vgl. Richard B. Hays, First Corinthians, Interpretation, Louisville: John Knox, 1997, 44f. 22 Walter J. Hollenweger, Priorities in Pentecostal Research: Historiography, Missiology, Hermeneutics, and Pneumatology, in: J. A. B. Jongeneel (Hg.), Experiences in the Spirit, Bern: Peter Lang, 1989, 9f.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
Entscheidungsfindung innerhalb von auf Versöhnung bedachten Gemeinden …“23 Die Verbindung von Geistausgießung, Geisttaufe, der Initiation des kommenden Reiches und der Suche nach vollkommenerer Offenbarung Christi mit der Erbauung und Belebung seiner Gemeinde wird von Pfingsttheologen gern mit den biblischen Bildern von Braut und Bräutigam und mit einem „Hohelied der Liebe“ dargestellt.24 Die göttliche Liebe, an der die Menschen in vielfältiger Weise Anteil gewinnen, offenbart sich im Spannungsbogen von der Hingabe Gottes am Kreuz und der triumphierenden Ausgießung des Geistes durch den Schöpfer und den erhöhten Christus. In der Spannung von Karfreitag und Pfingsten wird die göttliche Liebe als tiefe Hingabe und rettende Macht der Verwandlung der Welt offenbar. In differenzierter Weise gibt das Reich Christi an dieser Liebe Anteil: in Erfahrungen und Vollzügen diakonischer Hingabe (vgl. Teil 4.4), in der gottesdienstlichen und sakramentalen Gemeinschaft und Feier (siehe Teil 5.3 u. 5.4) und in der befreienden prophetischen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit (vgl. Teil 5.5).
4.3 Das kommende Reich Gottes als
Emergenzgeschehen und die Macht freier, schöpferischer Selbstzurücknahme zugunsten von Mitmenschen
„Was muss ich tun, um in das Reich Gottes zu kommen?“ Was muss ich tun, um „das ewige Leben zu gewinnen“?1 Nach den Synoptikern verweist Jesus in seiner Antwort auf diese Frage zunächst auf das Gesetz, vor allem auf den Dekalog, die zehn Gebote: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Um das ewige Leben zu erben bzw. in das Reich Gottes zu kommen, ist also zuerst das Gesetz zu befolgen. Doch dem stehen biblische Texte gegenüber, die eine Diskontinuität von Gesetz und Reich Gottes zu betonen scheinen: „Bis zu Johannes (dem Täufer) hatte man nur das Gesetz und die Propheten; von da an 23
Macchia, Baptized in the Spirit, 51 (siehe 4.2, Anm. 4); vgl. ebd., 56: „Whether experiential or doctrinal, Spirit baptism can function in multiple ways to guide the Pentecostal movement towards a Trinitarian, Christo-formistic, pneumatologically rich and diverse, and eschatologically robust version of Christian life and thought.“ 24 Vgl. Macchia, Baptized in the Spirit, 270, im Anschluss an William J. Seymour, Behold the Bridegroom Cometh, The Apostolic Faith (Los Angeles), Jan. 1907, 2. 1 Mt 19,16ff, bes.18f; vgl. Mk 10,17ff, bes.19; Lk 18,18ff; vgl. 10,25ff unter Bezug auf Ex 20,12-16, Dtn 5,16-20, also die „zweite Tafel des Dekalogs“, sowie Lev 19,18. – Dieser Teil nimmt Gedanken auf aus Michael Welker, Das Reich Gottes, EvTh 52 (1992), 497-512.
4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen
209
wird das Reich Gottes als frohe Botschaft verkündet, und alle drängen sich danach, hineinzukommen.“2 Damit scheint eine klare Unterscheidung zweier Phasen – Gesetz und Reich Gottes – gegeben und darüber hinaus die konventionelle theologische Scheidung und Entgegensetzung von „forderndem Gesetz“ (bis zu Johannes) und „gebendem Evangelium“ (seit Johannes) gestützt. Doch schon der folgende Satz widerspricht einer solchen Auffassung: „Leichter aber ist, dass der Himmel und die Erde vergehen, als dass ein Stücklein des Gesetzes fällt.“3 „Gesetz und Propheten“ und die Verkündigung des Reiches Gottes als Evangelium sind einander nicht entgegengesetzt, sie verneinen sich nicht wechselseitig. Ihr Verhältnis ist eher im Sinne einer „Aufhebung“, d. h. eines Zusammenhangs von Relativierung und Aufbewahrung, zu fassen. Das Reich Gottes und die Verkündigung des Evangeliums bewahren die Intentionen des Gesetzes auf. Sowohl das Gesetz als auch das Reich Gottes stellen ab auf ein „Ethos der freien Selbstbegrenzung“, wie Wolfgang Huber formuliert hat4. Die weitere Antwort Jesu auf die Frage „Wie komme ich ins Reich Gottes?“ steigert das Ethos der freien Selbstbegrenzung zu einem Ethos der freien, schöpferischen Selbstzurücknahme5: „Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Güter und gib den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben, und (dann) komm her, folge mir nach!“6 Auch dieses Ethos der freien, kreativen Selbstzurücknahme zugunsten der Armen und Schwachen sowie zugunsten der Christusnachfolge nimmt Intentionen des Gesetzes auf. Es schließt vor allem an die Erbarmensgesetze an, die auf den Schutz der Schwächeren und auf die auch öffentlich erwartbare Selbstzurücknahme zugunsten der Schwächeren abstellen.7 Die Absicht des alttestamentlichen Geset2 3
Lk 16,16. Lk 16,17; siehe auch Mt 5,17ff; dazu Bertold Klappert, Worauf wir hoffen. Das Kommen Gottes und der Weg Jesu Christi, Kaiser TB 152, Gütersloh: Kaiser, 1997, 90ff. 4 Wolfgang Huber, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München: Kaiser, 1990, 205ff; siehe ders., Selbstbegrenzung aus Freiheit. Über das ethische Grundproblem des technischen Zeitalters, EvTh 52 (1992), 128ff; ders., Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh: Gütersloher, 3., überarb. Aufl. 2006, 197ff, 380f u. ö. 5 Die Betonung der Freiheit und der Kreativität der Selbstzurücknahme ist gegenüber Ideologien der sich opfernden „Selbsthingabe“ wichtig (vgl. Teil 3.5). 6 Mt 19,21; Mk 10,21; Lk 18,22; vgl. Lk 12,33. 7 Der Ruf in die Nachfolge könnte auch die Intentionen der den Kult betreffenden Gesetze aufnehmen, der Gesetze, die die geschöpfliche und öffentlich anschlussfähige Kontaktaufnahme mit Gott zum Inhalt haben. Siehe dazu Michael Welker, Security of Expectations: Reformulating the Theology of Law and Gospel, Journal of Religion 66 (1986), 237ff; ders., Moral, Recht und Ethos in evangelischtheologischer Sicht, in: Marburger Jahrbuch Theologie XIII, hg. W. Härle u. R. Preul, Marburg: Elwert, 2002, 67-81.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
zes, den Schutz der Schwächeren im Gesetz zu verankern und so zur Routine zu machen und zu gewährleisten, da erst dadurch im strengen Sinne Gerechtigkeit erzielt wird8, bleibt in der Christusnachfolge und in der Teilhabe am Reich Gottes erhalten. Allerdings werden die Erwartungen des Gesetzes jetzt radikalisiert. Das Gesetz hatte die Selbstbegrenzung und die begrenzte freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer Menschen festgelegt, eine Selbstzurücknahme, die mit der Fortsetzung des bisher gelebten Lebens des oder der sich selbst Zurücknehmenden verträglich ist: z. B. die Freilassung ihrer Sklaven im siebten Jahr, den Verzicht auf die Ausbeutung Schwächerer, den Verzicht auf Wucherzinsen9, den Verzicht auf die Nachlese auf dem Feld zugunsten der Armen10 oder die Gabe des Zehnten für die Bedürftigen11. Der Weg zum ewigen, zum gültigen Leben und zur Teilhabe am Reich Gottes hingegen erfordert eine freie Selbstzurücknahme zugunsten der Armen, die, da der eigene Besitz aufgegeben werden soll, das bisher gelebte Leben radikal verändert. Teilhabe am Reich, ein Schatz im Himmel, Zugang zum ewigen Leben, zu einem gültigen Leben, das in keiner Zeit und in keiner Weltlage relativiert werden kann – das ist mit einer den Armen zugute kommenden freien, schöpferischen Selbstzurücknahme verbunden, die weit über die Erwartungen der Erbarmensgesetze hinausgeht. Entsprechend schockiert fragen die Jünger – und nach Lukas, die „Leute, die das hörten“: „Wer kann dann noch gerettet werden?“12 Die Absicht des Gesetzes war es, gerechtes Recht, Erbarmen und Gotteserkenntnis aufzurichten. Die freie, schöpferische Selbstzurücknahme zugunsten anderer, die den Zugang zum Reich Gottes darstellt, nimmt diese Absicht auf und radikalisiert sie, wie wir gesehen haben. Wie die Gleichnisse vom unbarmherzigen Gläubiger und von den Arbeitern im Weinberg zeigen13, sind neben der Steigerung des Erbarmens mit den Armen auch weitere Formen der freien Selbstzurücknahme zugunsten anderer für den Zugang zum Reich Gottes und für die Teilhabe daran charakteristisch: die Vergebung von Schuld, die Entlohnung nach dem Grundbedarf der zu Entlohnenden und nicht nach deren Leistung, aber auch die Bereitschaft, sich eine mit dem Erbarmen verträgliche Gerechtigkeit gefallen zu lassen, eine Gerechtigkeit, die Menschen, die weniger geleistet haben oder weniger leisten können, ihren Mitmenschen dennoch gleichstellt. 8 Siehe dazu Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh: Gütersloher, 1993; Welker, Theologie und Recht, 573-585 (siehe 3.5, Anm. 18). 9 Siehe z. B. die Bestimmungen des Bundesbuchs Ex 21,2ff; 22,20ff. 10 Siehe Lev 19,9f; 23,22; 24,21f. 11 Siehe dazu Dtn 14,28f; 26,12-15. 12 Mt 19,25; Mk 10,26; Lk 18,26. 13 Mt 18,23ff u. Mt 20,1ff; siehe auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11ff) und den Zusammenhang der Vaterunser-Bitten Mt 6,10-12; Lk 11,2-4.
4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen
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Ein Ethos der freien, schöpferischen Selbstzurücknahme, das das Erbarmensgesetz überbietet und sich in der Vergebung von Schuld, in der leistungsunabhängigen, den Lebensunterhalt sichernden Entlohnung und in deren neidloser Anerkennung äußert – dieses Ethos, diese Fortsetzung und Überbietung der Intentionen des Gesetzes gibt aber nur den ersten Teil der Antwort auf die Frage: Welches sind die Zugangsweisen zum Reich Gottes? Die von freier, schöpferischer Selbstzurücknahme zugunsten anderer geprägte Sphäre darf nicht nur auf das aktive Vorgehen, auf die praktizierte Selbstzurücknahme hin wahrgenommen werden. Der Zugang zum Reich Gottes ist nicht weniger geprägt von Erfahrungen des empfangenen Erbarmens, der Vergebung oder der Entlohnung über eigenes Erwarten hinaus. Wie das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger zeigt, kann diese Erfahrung der freien Selbstzurücknahme anderer zu eigenen Gunsten sogar das Ereignis sein, das einem Menschen erst die Augen öffnet für das Reich Gottes. Menschen, die zu ihren eigenen Gunsten die freie Selbstzurücknahme anderer erfahren haben, erhalten Zugang zu dem Bereich, indem sie dieser Erfahrung dadurch entsprechen, dass sie Erbarmen und Vergebung üben und anderen Menschen die Mittel gewähren, die menschliches Leben ermöglichen. Die Bitte „Dein Reich komme!“ und die Bitte „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ sind demnach verschiedene Perspektiven auf einen Sachverhalt. Das Reich Gottes als zweifache Erfahrung freier Selbstzurücknahme – der eigenen Selbstzurücknahme zugunsten anderer und der Selbstzurücknahme anderer zu unseren eigenen Gunsten –, damit erst wird verständlich, warum es für den Zugang zum Reich Gottes paradigmatisch ist, wie Kinder zu werden (Mt 18,3ff; Mk 9,33ff; Lk 18,17). Das Kind ist beständig auf die Fürsorge der Menschen seiner Umgebung angewiesen. Es erfährt also anhaltend deren Selbstzurücknahme zu seinen Gunsten. Zugleich ist es prinzipiell stärker als der erwachsene Mensch zur Anpassung an seine Umgebung gezwungen. Das Kind erbringt diese Anpassung allerdings normalerweise in einer naiven Weise, die vor aller ausdrücklichen Selbstbeziehung und Entscheidung liegt. Damit aber lebt das Kind in jeder Beziehung ungleich stärker als der erwachsene Mensch in Wechselbezügen der Selbstzurücknahme mit anderen. Beachten wir die zweifache Selbstzurücknahme, so wird ebenfalls deutlich, warum es nach Aussage der Synoptiker die an ihren Gütern hängenden Reichen schwer haben, in das Reich Gottes zu kommen.14 Einerseits steht das Interesse an Erhaltung und Maximierung ihres Besitzes beständig mit dem Ethos der freien Selbstzurücknahme zugunsten anderer in Konflikt. Andererseits mindert der Reichtum die realen Chancen der reichen Menschen, die freie Selbstzu14
Vgl. Mk 10,23ff; Mt 19,24; Lk 18,24f; aber auch Lk 12,16ff.
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rücknahme anderer zu ihren Gunsten zu erfahren. Das Reich Gottes wird ihnen also schwer kenntlich. Die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes richtet sich auf einen Machtbereich, in dem die Erfahrung der empfangenen freien Selbstzurücknahme anderer zu eigenen Gunsten und die eigene freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer Menschen beherrschend sind. Dieser Machtbereich ist keineswegs nur mit selten vorkommenden ethischen Spitzenleistungen zu erreichen. Die Zuwendung zu Kindern und zu Kranken, Schwachen und Hinfälligen geht äußerst häufig mit freier, schöpferischer Selbstzurücknahme zu ihren Gunsten einher. Die familiale Liebe und Dankbarkeit ist ganz wesentlich von diesem Ethos getragen. Weite Teile des Bildungssystems und des Gesundheitssystems sind in vielen Gesellschaften von diesem Ethos geprägt. Doch können wir das Kommen des Reiches Gottes so weit fassen? Ist es tatsächlich in unendlich vielen Kontexten praktizierter und erfahrener Zuwendung und Liebe gegenwärtig? Die klassischen systematischen Denkansätze, mit denen das Reich Gottes erfasst werden sollte, lassen sich als verschiedene Antworten auf drei Fragen interpretieren. Diesen Fragen liegt je ein Dual zugrunde: Erstens: „Ist das Reich Gottes gegenwärtig oder zukünftig?“ Zweitens: „Ist das Reich Gottes immanent oder transzendent?“ Drittens: „Ist das Reich Gottes eine innersubjektive Größe („inwendig in euch“, wie Luther formuliert) oder äußerlich wahrnehmbar? Gegenwärtig – zukünftig, immanent – transzendent, innerlich – äußerlich. Die meisten der denkbaren Kombinationen sind kirchen- und kulturgeschichtlich wirksam geworden.15 Dabei musste nicht jeweils jede Alternative entschieden werden. So lautet etwa eine Kombination, die – bis in ihre säkularisierten Formen in Linkshegelianismus und Neomarxismus hinein – großen moralischen und politischen Einfluss gewonnen hat: Das Reich Gottes ist immanent und äußerlich, und es ist sowohl zukünftig als auch gegenwärtig. Es war auch möglich, einzelne Duale ganz zu ignorieren wie in der abstrakt-eschatologischen Haltung, die besagt: Das Reich Gottes ist transzendent und zukünftig – aber weder innerlich noch äußerlich. Solche Überlegungen mögen wie theologische Glasperlenspiele anmuten. Doch tatsächlich haben die verschiedenen Reich-Gottes-Vorstellungen, obwohl sie miteinander konfligieren oder einander sogar 15 Günter Klein, „Reich Gottes“ als biblischer Zentralbegriff, EvTh 30 (1970), 642-670, hat mit den Dualen „diesseitig-jenseitig“ und „gegenwärtig-zukünftig“ eine Kreuztabelle erstellt und die vier Positionen wie folgt beschrieben: Die „orthodoxe Auffassung“ bestimme das Reich Gottes als jenseitig und zukünftig, die neuere Eschatologie, vor allem dürfte Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung gemeint sein, sehe es als diesseitig und zukünftig an. Herbert Braun betrachte es als diesseitig und gegenwärtig, während es für Günter Klein jenseitig und gegenwärtig sei.
4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen
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ganz ausschließen, zu verschiedenen Zeiten die Menschen ergriffen und ganze Kulturen tief geprägt. Sie haben nicht nur die Frömmigkeit, sondern auch die Selbst- und Weltwahrnehmung der Christen und deren Lebensgestaltung beeinflusst. Sie haben nicht nur kirchliche Ordnungen, sondern religiöse und säkulare Moralen, politische Ideologien sowie Geschichtsschreibung und Prophetien bestimmt.16 Schon in der Alten Kirche lässt sich die Verschiebung von einer Konzeption in eine andere, mit ihr nicht vermittelbare Konstellation erkennen. Bei den Apostolischen Vätern dominiert die Lehre vom „zukünftig-jenseitige(n) Charakter des Reiches Gottes“17. Moralisierende Einbindungen der Reich-Gottes-Erwartung und spiritualisierende Deutungen ziehen die Reichsvorstellung in die Gegenwart. Gegenwart heißt dabei keineswegs sofort: äußerlich wahrnehmbare Immanenz.18 Erst Euseb von Cäsarea lehrt unter dem „überwältigenden Eindruck der historischen Wende“ durch Konstantin die „Immanenz des Gottesreichs im Weltreich“19. Wo ist das Reich Gottes? Es war doch zukünftigjenseitig und ist nun gegenwärtig-diesseitig. Doch mystisches und spekulatives Denken wirkt auch dieser Konzeption entgegen. Vor allem der Zusammenbruch des Westreichs und der Fall Roms nötigen dazu, die Reichstheologie des Euseb zu verabschieden. Allerdings ist damit nicht ein für allemal die Auffassung aufgegeben, im christlichen Imperium verwirkliche sich das Reich Gottes. Die Reformer des 11. Jahrhunderts vertreten erneut die „Überzeugung von der imperialen Realität der Gottesherrschaft“20. Das Reich Gottes ist eine immanente Größe, äußerlich wahrnehmbar und entweder schon vorhanden oder umgehend zu schaffen. Auch die an den englischen König gerichteten Aufforderungen des Reformators Martin Bucer, „einen christlichen Staat nach dem Lebensgesetz der Bürger des Christenreiches zu schaffen“21, auch das „Gottesreich zu Münster“22 oder der „Versuch, während der englischen Revolution unter Oliver Cromwell ein Reich Gottes auf Erden zu 16
Ernst Staehelin, Die Verkündigung des Reiches Gottes in der Kirche Jesu Christi, Bd. 1-7, Basel: Reinhardt, 1951-1965, hat die Reich-Gottes-Vorstellungen der Kirchengeschichte zusammengestellt. – Die Studie der EKU: Die Bedeutung der Reich-Gottes-Erwartung für das Zeugnis der christlichen Gemeinde. Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, NeukirchenVluyn: Neukirchen, 1986, 17, vgl. 11, 30 u. ö. (zit.: Reich-Gottes-Erwartung) bietet einen Überblick über die wichtigsten Ausprägungen. Siehe auch R. Mau u. M. Beintker, Art.: Herrschaft Gottes / Reich Gottes V u. VI, TRE, Bd. 15, 1986, 218ff. 17 Reich-Gottes-Erwartung, 76. 18 „Nach Clemens von Alexandrien sind die zur Stufe von ‚Gnostikern‘ aufgestiegenen Christen des Reiches Gottes teilhaftig“, nach Origenes ist das Reich Gottes eine gegenwärtige, „von der äußeren Realität (aber) radikal unterschiedene geistliche Wirklichkeit“, Reich-Gottes-Erwartung, 77f. 19 Reich-Gottes-Erwartung, 78. 20 Reich-Gottes-Erwartung, 79. 21 Vgl. Martin Bucer, De regno Christi, 1550, zit. nach Reich-Gottes-Erwartung, 82. 22 Reich-Gottes-Erwartung, 83.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
errichten“23, sind ohne die Konzeption des äußerlich-immanentgegenwärtigen Reiches Gottes unverständlich. Die politisch mittelbar ungemein folgenreichen Ansätze des Linkshegelianismus bis hin zu Karl Marx können als Säkularisate dieser Form der Reichstheologie angesehen werden. Wo ist das Reich Gottes? Im weiten Spektrum der Konfigurationen von zukünftig, transzendent und innerlich bis zu gegenwärtig, immanent und äußerlich, d. h. im weiten Spektrum von Unsterblichkeit der Seele bis hin zu religiös gewerteten aktuellen politisch-sozialen Entwicklungen scheint das Reich ungreifbar und wohlfeil zugleich zu sein. Ist das Reich Gottes ein Spielball theologischer Meinungen, frommer oder frömmelnder Wunschvorstellungen, geschichtlicher und kultureller Verschiebungen? Gegenüber dieser Verwirrung lässt sich verdeutlichen, warum das Reich Gottes als sowohl zukünftig als auch gegenwärtig, als immanent und transzendent und sowohl innerlich als auch äußerlich wahrnehmbar beschrieben werden kann und muss.24 Polemisch formuliert, müssen wir uns von den Bahnsteigvorstellungen des Reiches Gottes verabschieden. Wir müssen erkennen, warum die Fragen abwegig sind: Ist es schon eingetroffen, oder ist es noch nicht da? Kommt es jetzt, oder kommt es später, oder kommt es nie? Erkannt werden muss, dass das Reich Gottes ein emergentes Geschehen ist. Das mit dem Ausdruck „Emergenz“ bezeichnete Geschehen erschließen wir uns am leichtesten, wenn wir von dem Satz ausgehen: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Dieser Satz, genauer das Wort „mehr“ darin, löst in der Regel so etwas wie säkulare Andacht aus. Der Ausdruck „Emergenz“ sucht dieses numinose „Mehr“ und seinen Zusammenhang mit den sogenannten Teilen zu erfassen, und zwar im Blick auf markante und zugleich „schleichende“ Veränderungen „des Ganzen“. Neue Ideen emergieren, verändern zum Beispiel eine Gesprächssituation oder nötigen zur Umgestaltung einer Forschungslandschaft. Eine neue politische Macht emergiert und macht neue Definitionen der Weltlage erforderlich. In allen Fällen wird eine überraschende Konfigurationsveränderung markiert, die deutliche Gestalt gewinnt und neue Kräfte der Selbstorganisation mit sich bringt oder erfordert. Es entsteht eine „neue Qualität ..., die nicht aus den Eigenschaften der Komponenten herleitbar ... ist, die aber dennoch allein in der Wechselwirkung der Komponenten besteht“25. Der Com23 24
Reich-Gottes-Erwartung, 84. Zur Vermittlung der verschiedenen Aspekte siehe auch Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, bes. 407ff (siehe 0.4, Anm. 37). 25 Diese „moderne“ Definition von Emergenz bei Wolfgang Krohn u. Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, stw 984, Frankfurt 1992, 389, bezieht sich darauf, dass durch mikroskopische Wechselwirkung auf einer makroskopischen Ebene die neue Qualität entsteht. Im „klassischen“ Sinn sei „Emergenz die Entstehung neuer Seinsschichten (Leben ge-
4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen
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mon Sense sagt dann: Das Gespräch hat eine überraschende Wende genommen; die Wissenschaft hat sich umorganisiert; die Welt hat sich verändert. Tatsächlich aber sind diese Veränderungen darauf zurückzuführen, dass über eine Vielzahl bestimmter veränderter Wechselwirkungen von Elementen oder Teilen des Ganzen eine prinzipielle Veränderung der Wechselwirkungen dieser Teile erfolgte und so zu einer neuen Gestalt des Ganzen führte. Diese prinzipielle Veränderung der Wechselwirkung der sogenannten Teile wird dann als die Veränderung dessen wahrgenommen, was „mehr“ ist als sie. Der Ausdruck „Emergenz“ sucht dieses sogenannte „Sichverändern“ des Ganzen, diese Veränderung, die das neue „Mehr“ hervorbringt, im Blick auf die Konfigurationsveränderungen der Teile, im Blick auf die Veränderungen ihrer Wechselwirkungen zu erfassen. Er verlangt, zwei oder mehr Zusammenhänge von Entitäten oder Ereignissen im Blick auf Konfigurationsveränderungen zu vergleichen, die zu einer sogenannten „neuen Ganzheit“ führen. Das Reich Gottes ist eine weltverändernde Macht, eine wahrnehmbare Wirklichkeit, obwohl es schwer zu fixieren und zu bestimmen ist. Dies wird verstehbar, wenn wir sehen: Das Reich Gottes ist ein Emergenzgeschehen, das Menschen immer neu dazu herausfordert, die Wechselverhältnisse freier, schöpferischer Selbstzurücknahme als unverfügbare Qualitätsveränderungen konkreter Lebenszusammenhänge zu erfassen. Gerade das aber fällt Menschen schwer. Sie sehen, dass diese Wechselverhältnisse konkret und lebendig, dass sie unscheinbar und dadurch beständig gefährdet sind; sie können darin keine klar fixierbare Grundlage, keinen festen Halt für ihre Lebensführung erkennen. Zwar werden Erfahrungen freier, schöpferischer Selbstzurücknahme anderer Menschen zugunsten ihrer Mitmenschen und die eigene freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer als überraschend, oft als beglückend, als wunderbar ausstrahlende Erfahrungen wahrgenommen. Lebensverhältnisse, die wir zuvorkommend, liebevoll und friedlich nennen, sind durch die wechselseitige Bereitschaft zu freier schöpferischer Selbstzurücknahme zugunsten der Nächsten charakterisiert. Doch viele Menschen schrecken davor zurück, sich dieser bestimmenden Kraft als Kraft der Qualitätsveränderung ihrer Lebensverhältnisse anzuvertrauen. genüber unbelebter Natur oder Geist gegenüber Leben), die in keiner Weise aus den Eigenschaften einer darunter liegenden Ebene ableitbar, erklärbar oder voraussagbar sind.“ – Siehe auch Jens Greve u. Annette Schnabel (Hg.), Emergenz. Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen, stw 1917, Frankfurt: Suhrkamp, 2011, bes. Renate Mayntz, Emergenz in Philosophie und Sozialtheorie, ebd., 156ff; ferner die Beiträge im Abschnitt: „Theologies of Emergent Complexity and their Critics“ bei Philip Clayton u. Zachary Simpson (Hg.), The Oxford Handbook of Religion and Science, Oxford: Oxford Univ. Press, 2006, 749ff; und (im Anschluss an A. N. Whitehead und S. Alexander) G. H. Mead, The Philosophy of the Present, La Salle: Open Court, 1959, 65ff.
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Warum können sie die freie Selbstzurücknahme zugunsten der Mitgeschöpfe nicht als Grunderfahrung und Grundhaltung anerkennen und annehmen, eine Selbstzurücknahme, die alle Lebensverhältnisse durchdringt und prägt? Die Antwort, die die Gleichnisse vom Reich Gottes geben, lautet: Die freie, schöpferische Selbstzurücknahme zugunsten der Mitgeschöpfe wirkt in Prozessen, die wir wohl konkret mitgestalten, aber über die wir nicht verfügen können. Sie wirkt in emergenten Prozessen. Das Reich Gottes ist gegenwärtig, immanent und äußerlich wahrnehmbar in einer Weise, dass es emergent irdische Lebenszusammenhänge verändert. Es bleibt zugleich zukünftig, indem es in den Veränderungen irdischer Lebensverhältnisse nicht aufgeht, sondern als Triebkraft wirkt, die Menschen in Dienst nimmt, ohne von ihnen kontrolliert und manipuliert werden zu können. Da es prinzipiell in dieser Zukünftigkeit bleibt, können Menschen das Reich Gottes mit Recht als „transzendent“ bezeichnen.26 In der komplexen Verfassung des „kommenden“ Reiches wirkt die Macht Gottes in der Realität irdischer Lebensverhältnisse. Diese subtile und komplexe Verfassung führt dazu, dass das emergente Kommen des Reiches in hohem Maße durch gegenläufige Kräfte behindert und verstellt werden kann und verstellt wird. Das Kommen des Reiches Gottes ist nicht konkret voraussagbar. Die freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer Geschöpfe bleibt kontingent. Und gerade die verhärteten, unfreien Lebensverhältnisse, die nur durch Selbstzurücknahme, nur durch Umkehr der Starken zu verändern wären, scheinen sich in der Regel durch besonders zähe Widerstandskraft auszuzeichnen. Gerade ihre Veränderung erscheint in ganz besonderem Maße unwahrscheinlich und, wo sie gelingt, zufällig, einmalig und glückhaft. Die Austreibung dämonischer Kräfte, die die freie Willensbildung der von diesen Kräften überkommenen Menschen ausschalten und die diese Menschen zu deren eigenem Schaden und zum Schrecken ihrer Umgebung besetzt halten, ist für die Synoptiker deshalb Zeichen, dass das Reich Gottes gekommen ist.27 Eindrücklich wird die Hilflosigkeit der Mitmenschen der vom Leid betroffenen Menschen beschrieben. Mächte, denen auch die gemeinsame Handlungskraft Gutwilliger nicht gewachsen ist, sind hier am Werk. Ihre Beseitigung ist nicht planbar, nicht erlernbar, nicht erwartbar. Und doch ist die Rettung aus kollektiver Hilflosigkeit und konkretem Leid, das unabwendbar scheint, keine Chimäre. Die Aufhebung vielfältiger Formen konkreten Leids ist vielmehr für das Kommen des Reiches Gottes charakteristisch. Es ist evident, dass gerade die 26 Siehe dazu auch D. Ritschls Bedenken, „ungelöste theologische Probleme oder zu Problemen führende Phänomene durch die Verlagerung auf die Zukunft hypothetisch zu lösen“ (Dietrich Ritschl, Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken, München: Kaiser, 1984, 306). 27 Siehe dazu Welker, Gottes Geist, bes. 185ff (siehe 0.6, Anm. 16).
4.3 Das kommende Reich Gottes als Emergenzgeschehen
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Kraft der freien Selbstzurücknahme im Erbarmen, in der Vergebung und in vielen anderen Formen verfestigte Verhältnisse von Leid und Ohnmacht aufzubrechen vermag. Diesen merkwürdigen Zusammenhang, dass das Reich Gottes offensichtlich gegenwärtig und doch nur schwer zu greifen und nicht zu planen ist, erfassen die Aussagen, die von seiner Gegenwart sprechen und dabei betonen, dass es nicht raumzeitlich konkret fixierbar ist. Die berühmteste dieser Stellen ist wohl Lk 17,20f: Auf die Frage der Pharisäer, „wann das Reich Gottes komme, antwortete (Jesus) ihnen und sagte: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Siehe, hier!, oder Dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Die Unscheinbarkeit des Reiches Gottes und seine Kraft, seine Verborgenheit und seine Attraktivität, sein beharrliches emergentes Kommen und die vielfältigen Formen der Behinderung und Verstellung seiner Gegenwart machen vor allem die Gleichnisse Jesu deutlich. Sie können geradezu als eine Typologie menschlicher Abwehrhaltungen gegen das Kommen des Reiches angesehen werden. Das Reich Gottes ist in seinen Elementen unscheinbar, leicht zu übersehen und geringzuschätzen, wie die Gleichnisse28 vom Senfkorn29, vom Sauerteig30 und die verschiedenen Saatgleichnisse31 festhalten. Es ist nicht verwunderlich, wenn unkundige Menschen auf einem frisch bestellten Feld „gar nichts“ oder nur die kahle Erde wahrnehmen. Es ist aber auch nicht verwunderlich, wenn andere Menschen hier schon das tägliche Brot der nächsten Zeit und die Basis zukünftigen Lebens im Kommen sehen. Bei derselben Saat können Menschen Keime der Hoffnung und Sorge auslösendes Wachstum wahrnehmen. Verschiedene Erfahrungshorizonte, verschiedene Erwartungshorizonte lassen emergente Prozesse verschieden wahrnehmen und bedingen auch verschiedene praktische Einstellungen dazu. Nach einer Missernte wird selbst das unbeeinträchtigte Wachsen der Saat von vielen Menschen anders wahrgenommen werden als nach einer normalen Ernte. Ganz entsprechend werden die Ereignisse der freien Selbstzurücknahme von Menschen relativ zu verschiedenen Ereigniszusammenhängen verschieden wahrgenommen – oder auf verschiedene Weise übersehen und ignoriert. 28
Zur hermeneutischen Funktion der neutestamentlichen Gleichnisse siehe Christian Link, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, München: Kaiser, 1976, 288ff; zur Verbindung von Nähe und Unberechenbarkeit im Kommen des Reiches siehe H. Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchungen zur Ethik Jesu, FzB 34, Würzburg, 2. Aufl. 1981; ders., Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, Stuttgarter Bibelstudien 111, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1983, bes. 51ff. 29 Mk 4,30ff; Mt 13,31f; Lk 13,18f. 30 Mt 13,33; Lk 13,20f. 31 Mk 4,26ff; 4,1ff; Mt 13,1ff; Lk 8,4ff.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
Die freie, schöpferische Selbstzurücknahme kann scheinbar zu gar nichts führen. Es gibt viele freie Selbstzurücknahmen zugunsten anderer, durch die keine Wechselwirkungen oder gar greifbare Transformationen des Lebens ausgelöst oder kenntlich werden. In der Perspektive des Gleichnisses vom Sämann heißt das dann: Das Wort vom Reich, die Ankündigung des emergenten Kommens des göttlichen Machtbereichs, die Durchdringung der menschlichen Lebensverhältnisse durch diese Kraft wird nicht wahrgenommen, nicht verstanden – es bleibt unfruchtbar. Wo aber inmitten der Unscheinbarkeit ihres konkreten Wirkens die Kraft Gottes erkannt wird, da ist reiche Fruchtbarkeit des guten Samens erwartbar. Die Gleichnisse vom Schatz und von der Perle32 beschreiben zudem die überwältigende Freude der Menschen, die zur Erkenntnis des schwer erkennbaren Reiches Gottes gelangen und es nun schlechthin begehrenswert finden. Doch die Gleichnisse zeigen nicht nur die Schwierigkeiten auf, das in vielfältiger Konkretheit emergent und deshalb in Unscheinbarkeit kommende Reich wahrzunehmen und zu erkennen. Wie Matthäus in den Gleichnissen vom Unkraut und vom Fischnetz33 betont, behindern auch offensive Gegenkräfte und zufällig mit auftretende Ereignisse, die den Intentionen des Reiches Gottes nicht entsprechen, sein Kommen und verdunkeln seine Erkenntnis. Diese Gleichnisse schließen mit der Verheißung der eschatologischen Scheidung des gültigen, ewigen und des ungültigen, verlorenen Lebens. Auch hier ist der Anschluss an das Gesetz offensichtlich.34 Die Gerechten werden nach der Scheidung des gültigen vom ungültigen Leben im Reich wie die Sonne leuchten.35 Das ungültige, verworfene, keinen Bestand habende Leben aber führen die, die „andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben“ (Mt 13,41). Die Gleichnisse – z. B. die vom anvertrauten Geld oder von den zehn Jungfrauen – nennen darüber hinaus auch Trägheit und fehlende Umsicht der Menschen, die schon in der Reich-Gottes-Erwartung stehen.36 Das Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl37 schließlich stellt die Weigerung der Menschen dar, die in den Geschäftigkeiten der Welt aufgehen, diesem frohen Ereignis ihre Kraft und Zeit zu widmen. Nicht freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer, sondern Selbstreduktion zugunsten der alltäglichen Sorgen und Geschäfte scheint Menschen geboten, obwohl die Freude der möglichen Teilhabe am gültigen Leben absehbar, erwartbar wird. 32 33 34
Mt 13,44ff. Mt 13,36ff u. 13,47ff. Vgl. Eberhard Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, HUTh 2, Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Aufl. 1972, 197ff. 35 Mt 13,42; vgl. auch 13,49. 36 Siehe Mt 25,1ff. 37 Mt 22,1ff; Lk 14,15ff.
4.4 Königliche Gegenwart Christi und christlicher Humanismus
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Die Gleichnisse Jesu beleuchten diese vielfältigen Behinderungen der Offenbarung des Reiches und die Selbstbehinderungen der Menschen, die gerade der konkreten Nähe und der erkennbaren Freude des Reiches so hilflos gegenüberstehen. Sie sind in einer Kultur, die die freie Selbstdurchsetzung ohne Rücksicht oder mit möglichst knapp bemessener Rücksichtnahme auf andere heiligt, durchaus ein Menetekel. Doch viel stärker als jede Drohung und der Hinweis auf das Gericht ist in diesen Gleichnissen ein anderer Grundzug. Die Gleichnisse stellen dar, dass das Reich Gottes unscheinbar und schwer zu erfassen ist, sie zeigen die vielfältige Verstellung und Irritation, die mannigfaltigen bewussten und unbewussten Verweigerungs- und Abwehrhaltungen der Menschen gegenüber seinem Kommen. Damit aber ermutigen sie die Menschen, diese unnötigen Selbstbehinderungen aufzugeben. Damit werden sie verstehbar als Bekundungen von Gottes Liebe zu den Menschen. Sie erweisen sich als fürsorgliche Aufforderungen, die Freude an der Kraft Gottes zu ergreifen, die aufgrund ihrer emergenten Konkretheit und Nähe so unscheinbar ist. Mit der auf Jesu Weisung hin immer wieder ausgesprochenen Bitte des Vaterunsers: „Dein Reich komme!“ geben die Menschen zu erkennen, dass diese Aufforderungen nicht ins Leere gehen. Sie geben – bittend – Gott immer wieder ihre Bereitschaft zu erkennen: Wir wollen uns auf die Erneuerung der Welt durch die Kraft der freien schöpferischen Selbstzurücknahme zugunsten anderer einlassen.
4.4 Königliche Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft der Liebe: Diakonische Existenz und christlicher Humanismus Das kommende Reich Gottes wird durch das Leben des auferstandenen und erhöhten Christus offenbart. Und dies wird fassbar in seiner dreifachen Gestalt, der königlichen, priesterlichen und prophetischen. Mit der „Königsherrschaft Jesu Christi“ verbinden sich allerdings sehr verschiedene Vorstellungen. Mein Reich, mein Königtum „ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Dieses Wort Jesu soll, so Calvin, uns „mahnen“, dass das königliche Amt Christi „geistlicher Natur“ ist, es soll uns an die „Ewigkeit des Königreichs Christi“ erinnern.1 Nicht ein fröhliches und angenehmes Leben hier – sondern himmlisches Leben dort wird mit der Rede von der Königsherrschaft verbunden! 1 „... es geht nicht darum, dass wir ein fröhliches und kampfloses Leben führen, reichen Besitz haben, von aller Not, allem Schaden unberührt bleiben und alle Vergnüglichkeit im Überfluß haben, an der das Fleisch Gefallen hat. Nein, es geht darum, daß uns das himmlische Leben zuteil wird!“ (Calvin, Institutio, 308, 309 [II, 15,3, 4] [siehe 0.5, Anm. 13].)
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Der erhöhte Christus und sein Reich
Dennoch wird das Reich Christi auch schon auf dieser Erde in einer Nachfolge gesehen, die zu Leiden bereit ist: Das Leben in der Nachfolge Christi muss nicht nur mit den alltäglichen Konflikten und Leiden menschlicher Existenz rechnen; es muss – jedenfalls in manchen Zeiten und Kontexten – zusätzliche Verfolgungen und Bedrängnisse ertragen.2 Doch vermittelt Jesu Lebenszeugnis wirklich die Botschaft: Unter diesem König geht es euch in dieser Welt schlecht, aber dort, in einem ewigen himmlischen Jenseits, werdet ihr dafür schadlos gehalten? Das vorösterliche Leben Jesu bestärkt nicht in solcher Sicht. In der Gestalt von Heilungen, gelebter Tischgemeinschaft3 und aufbauender, tröstender Lehre, durch das von Jesus gelebte Ethos der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe, durch die erhebende Leidenschaft für die Erkenntnis der Wahrheit und die Stiftung von Frieden, aber auch durch die Erkenntnis, dass der Heilige Geist „Freude trotz großer Bedrängnis“ gibt (1Thess 1,6; vgl. Röm 14,17), wird das Leben in seiner Nachfolge zu einem frohen und freudevollen Leben. Die verschiedenen Perspektiven auf das Leben im Reich dieses Königs verbinden sich mit unterschiedlichen Vorstellungen von seiner königlichen Existenz. Auf der einen Seite des Spektrums steht die Lehre von Christus, dem Pantokrator, dem Allherrscher, dem Allmächtigen. Im Anschluss an Offb 1,8 und Mt 28,184 wird ihm dieser Beiname verliehen, den auch Gottesgestalten der Antike schon erhalten hatten. Christus als Pantokrator wird besonders eindrücklich in der byzantinischen Kunst dargestellt. Seine Gestalt füllt die Apsis orthodoxer Kirchen oder steht im Zentrum der Ikonostase. Die rechte segnende Hand symbolisiert die ruhige Souveränität der Segensmacht. Das aufgeschlagene Evangelienbuch in der Linken bezeugt die erhabene Lehrautorität. Die Kirche feiert den „König der Könige“ (1Tim 6,15) in der „Göttlichen Liturgie“ des Johannes Chrysostomus5 im Anschluss an die 2 Dies kann zur Rede von Jesus Christus als „Mittler“ in einer „Doppelgestalt“ veranlassen, z. B. der des „verborgenen Königs“ und des „offenbaren Königs“. Vgl. Emil Brunner, Der Mittler. Zur Besinnung über den Christusglauben, Tübingen: Mohr Siebeck, 1927, 497ff u. 509ff. 3 Zur großen Bedeutung des „gemeinsamen Lebens“, der Konvivenz, siehe Sundermeier, Konvivenz und Differenz, bes. 43ff (siehe 0.4, Anm. 26); ders., Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen: Vandenhoeck, 1996, 198ff; auch Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, DBW 5, hg. G. L. Müller u. A. Schönherr, München: Kaiser, 1987. 4 Aber auch generell im Anschluss an das Kyrios-Bekenntnis (vgl. Teil 1.3); vgl. ferner 1Kor 15,27f u. Offb 12,10; sowie Eberhard Busch u. Bernd Wannenwetsch, Art.: Königsherrschaft Christi, RGG4, Bd. IV, 1586-1589. 5 Fairy von Lilienfeld, Die Göttliche Liturgie des Hl. Johannes Chrysostomus mit den besonderen Gebeten der Basilius-Liturgie im Anhang, Heft B RussischKirchenslawisch-Deutsch, OIKONOMIA 2 – Heft B, Erlangen, 2. Aufl. 2000 (zit. nach Etzelmüller, siehe die folgende Anm.). Seit der Konstantinischen Wende, vom 11./12. Jh. an wird die Chrysostomus-Liturgie zur vorherrschenden Form.
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Jerusalemer Tempeltheologie.6 Im gefeierten Einzug des sogenannten „Götterkönigs“ und der damit verbundenen Gottesoffenbarung kommen königliches und priesterlich-kultisches Wirken des erhöhten Christus zusammen.7 Die enge Verbindung von königlichem und prophetischem Wirken wird demgegenüber von Theologien der „Königsherrschaft Christi“ entfaltet, wie sie im 20. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur in Deutschland, mit den Deutschen Christen, den rassistischen Kirchen in Südafrika und angesichts der Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert entwickelt werden. Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 spricht zwar nicht ausdrücklich vom „König“, wohl aber vom „Wort und Werk des Herrn“ und von dem „als de(m) Herr(n) gegenwärtig handelnden“ Jesus Christus.8 Die Belhar Confession von 19829, in Südafrika im Dialog mit der Barmer Theologischen Erklärung entwickelt10, betont zum Abschluss, dass die Kirche, auch wenn die „Autoritäten und menschlichen Gesetze“ es vielleicht verbieten, gerufen ist, „im Gehorsam gegen Jesus Christus, ihr einziges Haupt“, zu leben und zu handeln. Sie unterstreicht ihre Aussagen feierlich in 5.2., einem Abschnitt, der nur aus einem Satz besteht: „Jesus ist Herr“11. Die Barmer Theologische Erklärung hebt durchgängig die in „Vertrauen und Gehorsam“ anzuerkennende und anzunehmende Christusherrschaft hervor. „Jesus Christus … ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, sagt Barmen I. Durch Jesus Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen“, heißt es in Barmen II. In diesem durch und durch auf Jesus Christus und seine Herrschaft konzentrierten und konzentrierenden Kontext sagt Barmen III:
6 Siehe dazu die vorzügliche Darstellung bei Gregor Etzelmüller, ... zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn. Eine biblische Theologie der christlichen Liturgiefamilien, Frankfurt: Otto Lembeck, 2010, 39ff. 7 Vgl. dazu auch Teil 5.3; und Karl Christian Felmy, Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990. 8 Barmen VI und Barmen III; vgl. Martin Heimbucher / Rudolf Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 7., überarb. u. erw. Aufl. 2009. 9 Die englische Version des Bekenntnisses bei Piet Naudé, Neither Calendar nor Clock: Perspectives on the Belhar Confession, Grand Rapids u. Cambridge/U.K.: Eerdmans, 2010, 219-223. 10 Siehe dazu Dirk J. Smit, Barmen and Belhar in Conversation: A South African Perspective, in: ders., Essays on Being Reformed, Collected Essays 3, Stellenbosch: SUN MeDIA, 2009, 325-336; Naudé, Neither Calendar nor Clock, 65ff, 122f. 11 „Jesus is Lord.“ Siehe Naudé, Neither Calendar nor Clock, 223.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.
Die großen Defizite dieser Konzeption von königlichem Amt Christi und „christokratischer Bruderschaft“ werden deutlich, wenn wir sehen, wie weit Barmen III hinter dem biblischen Leitvers zurückbleibt, den seine Verfasser ihrer dritten These vorangestellt haben. Der biblische Leitvers steht im vierten Kapitel des Epheserbriefs und lautet nach Barmen III: „Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist“ (Eph 4,15f). Der biblische Text selbst hingegen spricht bemerkenswerterweise nicht von einem „Wachsen an dem Haupt“, sondern „zu dem Haupt hin“: „Wahrhaftig seiend in der Liebe lasst uns in allen Stücken hin zu ihm wachsen, welcher das Haupt ist, Christus“ (Eph 4,15). Die Barmer Interpretation mildert die dynamischen Spannungen und das dynamische Miteinander zwischen Haupt und Gliedern mehrfach ab. Die umständlich klingende Aussage von Epheser 4,16 lautet: Von ihm her (d. h. vom Haupt, von Christus her) vollzieht der ganze Leib, zusammengefügt und zusammengehalten durch jedes der Unterstützung dienende Gelenk, gemäß der Kraft, die jedem einzelnen Teil zugemessen ist, das Wachstum des Leibes zum Aufbau seiner selbst in Liebe.12
Ausdrücklich wird also vom Epheserbrief das in sich polyphone Zusammenspiel der Glieder bzw. Gelenke und Bänder des Leibes Christi hervorgehoben. Die Glieder des Leibes erhalten zwar von Christus, ihrem Haupt, her die Kraft und Orientierung ihres Wachsens. Ihnen kommt aber doch eine jeweils durch den Heiligen Geist verliehene eigene Kraft und Würde in diesem Zusammenwirken zu. Dies darf durch die Betonung der Christusherrschaft „von oben“ nicht überlagert oder gar ausgeblendet werden. Wohl ist die Sorge Barmens nachvollziehbar, dass durch die Konzentration auf „die Seinen“ die „klare Linie“, ja die konzentrierte Wucht der Wirkung dieses wahren Königs und Propheten in der Auseinandersetzung mit den feindlichen Mächten gemindert oder sogar behindert und gefährdet werden könnte.13 Doch 12 Rudolf Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK X, Köln u. NeukirchenVluyn: Benziger u. Neukirchener, 1982, 173, vgl. 192ff sowie die „Anmerkung des evangelischen Partners“ Eduard Schweizer, 195f. 13 In diesem Sinne ist die nervöse christozentrische Rhetorik im Werk Karl Barths zu verstehen, wenn er etwa die gelassene Zusage des Auferstandenen nach Mt 28,18: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf der Erde“ in geradezu ängstlich klingender Aufregung interpretiert: „Mir – m i r, der ich euch diesen
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eine Abstraktion vom Zusammenwirken der Glieder am Leib Christi oder eine Herabminderung ihrer Bedeutung in seinem Herrschaftsbereich verstellt gerade den Blick auf den königlichen Christus, den sie doch schärfen wollte. Sie verzerrt auch die Wahrnehmung seines königlichen Amtes und der Gestalt des Reiches, die damit verbunden ist. Der erhöhte Christus strebt keine „Alleinwirksamkeit“ an. „Die Seinen“ – das sind die Glieder seines Leibes, nicht nur ein Ensemble von Statisten oder ein sein Leben und Wirken nur begleitender Chor im Hintergrund. Im Licht des vorösterlichen Lebens Jesu gewinnt die Königsherrschaft Christi und der Seinen klare Konturen und entfaltet eine deutliche Botschaft der Freiheit und der diakonischen Liebe. Diese Königsherrschaft im Licht der Ausgießung des Geistes revolutioniert hierarchische und monarchische kirchliche und mittelbar auch politische Herrschafts- und Ordnungsformen. Denn dieser König ist zugleich Bruder und Freund, ja ein Armer und Ausgestoßener. Mit ihrem radikaldemokratischen und post-patriarchalen Ordnungsdenken wird diese Königsherrschaft den einen tatsächlich ungemütlich unübersichtlich erscheinen, den anderen aber exemplarisch für eine Freiheit bejahende Orientierungssuche in Gemeinden und Zivilgesellschaften. Die königliche Gestalt des Reiches Gottes wird durch die Praxis der Liebe und der durch sie vermittelten Freiheit geprägt. Liebende Annahme, Heilung, befreiende Lehre und Bildung und das Bemühen, sie möglichst allen zuteil werden zu lassen, bestimmen diese Praxis. In Kontinuität und Diskontinuität mit den Torahüberlieferungen sind Liebe und Vergebung von freier, schöpferischer Selbstzurücknahme14 zugunsten anderer bestimmt.15 Die freie, schöpferische und in der LieAuftrag und mit ihm dieses Amt gebe – m i r ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf der Erde“ (KD II/2, 481). So auch in der eindrücklichen Darstellung des „königlichen Menschen“, vgl. KD IV/2, 173ff. „Das Vorgegebene seiner Existenz als der königliche Mensch, seine effektive Kraft und Herrschaft, darf uns nicht etwa in den Hintergrund treten, zum Inhalt eines erledigt zurückbleibenden christologischen Vordersatzes werden, von dem aus wir nun gemächlich einen Nachsatz zu bilden hätten, dessen Subjekt nicht mehr er, sondern in irgend einem Abstand von ihm wir selbst wären: der Christ als ein mit Christus zwar in Beziehung stehendes, aber irgendwo selbständig außer ihm existierendes Wesen“ (ebd., 297). 14 Vgl. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 316f u. ö. (siehe 4.3, Anm. 4); BedfordStrohm, Vorrang für die Armen (siehe 4.3, Anm. 8); Michael Welker, Routinisiertes Erbarmen und paradigmatische Öffentlichkeit. „Generalisierung von Altruismus“ in alttestamentlichen Gesetzesüberlieferungen, in: Hans May (Hg.), Altruismus. Aus der Sicht von Evolutionsbiologie, Philosophie und Theologie, Loccumer Protokolle 30/92, Loccum 1996, 143-160. 15 Die Zusammenhänge von alttestamentlichen Reich-Gottes-Vorstellungen, Verkündigung und Wirken Jesu und urchristlicher Lebenspraxis erhellt vorzüglich Christian Grappe, Le Royaume de Dieu. Avant, avec et après Jésus, Genf: Labor et Fides, 2001. Vgl. zum Thema „Reich Gottes und Tora: Jesu Stellung zum jüdischen Gesetz“ Gunther Wenz, Christus, Studium Systematische Theologie 5, Göt-
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be auch freudige Selbstzurücknahme zugunsten der Nächsten ist in hohem Maße freiheitsfördernd. Die Liebe, die mit Eros, Agape und Philia unzureichend bestimmt ist16, möchte erreichen, dass dem geliebten Menschen „alle Dinge zum Besten dienen“. Auf „weiten Raum“ sollen ihre bzw. seine Füße gestellt sein. Für die Reich-GottesErkenntnis ist darüber hinaus zentral, dass nicht zuerst die Verpflichtung zu freiheitsförderndem Verhalten und Agieren, sondern die freudige und dankbare Erfahrung freier Selbstzurücknahme anderer zu unseren eigenen Gunsten unsere Aufmerksamkeit und unsere Herzen gewinnt.17 Deshalb wird den Kindern eine besondere Nähe zum Reich Gottes zugesagt (vgl. 4.3).18 Ein Ethos befreiender Freude und Dankbarkeit ist aber auch grundlegend für das Ethos menschenfreundlicher Diakonie.19 Die dankbare Sensibilität für die enormen Potentiale freier, schöpferischer Selbstzurücknahme in vielen unserer Umgebungen wird durch soziale Routinen oft überlagert. Eine dankbare Aufmerksamkeit für die großen Potentiale freier, schöpferischer Selbstzurücknahme in Familie, Freundschaft, Bildung, medizinischer Versorgung, zivilgesellschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation sollte für die starken direkten und indirekten Prägekräfte des munus regium Christi sensibilisieren. Nicht nur im Schatten der Not, sondern im Licht der Dankbarkeit sollten wir die gewaltigen diakonischen, pädagogischen, therapeutischen, rechtsstaatlichen, kirchlichen und interkulturellen globalen Herausforderungen ins Auge fassen, die uns veranlassen, um das weitere „Kommen“ des Reiches tingen: Vandenhoeck, 2011, 239ff; ferner Karl-Heinrich Bieritz, Grundwissen Theologie: Jesus Christus, KT 148, Gütersloh: Kaiser, 1997, 47ff. 16 Michael Welker, Romantic Love, Covenantal Love, Kenotic Love, in: John Polkinghorne (Hg.), The Work of Love: Creation as Kenosis, Grand Rapids / London: Eerdmans, 2001, 127-136. 17 Vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin u. New York: de Gruyter, 3., überarb. Aufl. 2007, 237ff; ders., Ethik, Berlin u. New York: de Gruyter, 2011, 328ff, 388ff. Siehe aber auch Heinz Schmidt, Reich Gottes und soziale Entwicklung. Grundelemente einer diakonischen Theologie, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 339-361 (siehe 1.5, Anm. 5); Rudolf Weth, Ecce homo – Vom neuen Sehen des Menschen in der Diakonie. Biblisch-theologische Impulse zum diakonischen Menschenbild, in: ebd., 363-390. 18 Vgl. Mt 10,14; Marcia J. Bunge, Children, the Image of God, and Christology: Theological Anthropology in Solidarity with Children, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 167-181 (siehe 0.1, Anm. 7); dies. (Hg.), The Child in Christian Thought, Grand Rapids u. Cambridge/U.K.: Eerdmans, 2001; dies. (Hg.), The Child in the Bible, Grand Rapids u. Cambridge/U.K.: Eerdmans, 2008. 19 Vgl. J. H. Wicherns Betonung der „dankbaren Liebe“ als Grundform diakonischen gemeinsamen Lebens (Johann Hinrich Wichern, Schriften zur Sozialpädagogik [Rauhes Haus und Johannesstift], Sämtliche Werke, Bd. IV,1, hg. Peter Meinhold, Berlin, 1958, 119 u. ö.); Theodor Strohm, Diakonie und Sozialethik. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche, hg. Gerhard K. Schäfer u. Klaus Müller, Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 6, Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt, 1993, 138ff.
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Christi zu bitten und uns dafür einzusetzen. Durch viele, in sich oft unscheinbare Taten der Liebe und Vergebung gewinnen das Reich Gottes und das Reich Christi Gestalt. An dieser oft unscheinbaren, aber ungeheuer machtvollen Königsherrschaft erhalten nicht nur die direkten Zeugen und Zeuginnen Anteil. William Schweiker hat Impulse der Brüder Niebuhr20 und James Gustafsons21 aufgenommen und weiter entwickelt. Er hat deutlich gemacht, dass der „christliche Humanismus“22 auch auf andere religiöse und säkulare Formen praktizierter Liebe und Mitmenschlichkeit ausstrahlt und von ihnen starke Impulse empfängt. Das freiheitsfördernde Reich Christi ist weiter als alle Kirchen aller Zeiten und Weltgegenden. „Was ihr meinen geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan“ – ob ihr meine Gegenwart in ihnen erkannt habt oder nicht.23 Wer demgegenüber die Christusherrschaft auf „Wort und Sakrament“ einschränkt, verkennt diese Weite seiner befreienden Gegenwart in der Kraft des Geistes. Falsch wäre es aber auch, ein abstraktes universales moralisches Kontinuum als dem „nur christlichen Ethos“ überlegenes Reich in Ansatz zu bringen. Denn ein solches wertfreies moralisches Reich ist ein bloßes Konstrukt.24 Die verheißene Gegenwart Jesu Christi bei den Armen, ja bei den Bedrängten und in den „geringsten Geschwistern“ (Mt 25,31-46) und damit der diakonische Dienst der Kirche bleibt in der Barmer Theologischen Erklärung leider weithin ausgespart. Dies wird besonders bedrückend daran deutlich, dass Barmen zur Verfolgung und systemati20
Siehe z. B. H. Richard Niebuhr, Christ and Culture, New York u. a.: Harper & Row, 1951; Reinhold Niebuhr, The Self and the Dramas of History, New York: Charles Scribner’s, 1955, bes. Kap. 19. 21 James M. Gustafson, Christ and the Moral Life, New York u. a.: Harper & Row, 1968. 22 Vgl. William Schweiker u. David E. Klemm, Religion and the Human Future: An Essay on Theological Humanism, Oxford: Blackwell, 2008; William Schweiker, Flesh and Folly: The Christ of Christian Humanism, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 85-102 (siehe 0.1, Anm. 7); ders., Dust That Breathes: Christian Faith and the New Humanisms, Oxford u. Malden: Wiley-Blackwell, 2010, bes. 84ff, 207ff; Liu Xiaofeng, Sino-Christian Theology in the Modern Context, 70ff (siehe 0.4, Anm. 31). 23 Vgl. Mt 25,40 bzw. 25,34ff; John F. Hoffmeyer, Christology and Diakonia, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 150-166 (siehe 0.1, Anm. 7). Siehe auch Alfeyev, Christ the Conqueror of Hell, 214 (siehe 3.4, Anm. 12): In diesem Licht ist die Nähe zur Ostkirche größer, als Alfeyev denkt: „Unlike the West, Christian consciousness in the East admits the opportunity for salvation not only for those who believe during their lifetime but also for those who were not given to believe but pleased God with their good works.“ 24 Siehe dazu die instruktive Diskussion zwischen Judith Butler, Jürgen Habermas, Charles Taylor und Cornel West in: Eduardo Mendieta u. Jonathan VanAntwerpen (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, New York: Columbia Univ. Press, 2011.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
schen Tötung der Juden, der Sinti und Roma, der körperlich und geistig behinderten und anderer Menschen schweigt. Mit der Konzentration auf den in „Wort und Sakrament handelnden Herrn“ wird von Barmen die Aufmerksamkeit auf das priesterliche Amt gelenkt. In der Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur tritt das prophetische Amt in den Vordergrund.25 Diese doppelte Konzentration in der Königsherrschaft Christi auf das priesterliche und das prophetische Amt verstellt, dass die Herrschaft des erhöhten Christus auch in Kontinuität steht zu den alttestamentlichen Gesetzestraditionen, zu den messianischen Verheißungen und zum im gesamten alttestamentlichen Kanon immer wieder zugesagten besonderen – nicht nur appellativen! Eintreten Gottes für die Bedrängten, Benachteiligten und Unterdrückten.26 25 26
Vgl. Teil 5.5. Die Verbindung der Ausstrahlungskräfte der Ämter Christi, der Gestalten seines Reiches, kann durchaus kreativ sein. Sie kann aber auch geistliche und theologische Fragen und Probleme überspielen. Nur wenn die Differenzen zwischen der königlichen, der priesterlichen und der prophetischen Gestalt des Reiches Christi, ihre Kontraste und ihre Zusammenhänge und Wechselwirkungen beachtet werden, ergibt sich ein angemessenes Bild vom erhöhten Christus und seinem Reich. – Geradezu zur „Tragik“ (s. u.) werden demgegenüber die geistlichen, theologischen und kirchlichen Verhältnisse, wenn die Gestalten des Reiches Christi gegeneinander ausgespielt werden. Jon Sobrino hat, Impulse von Ignacio Ellacuría aufnehmend, die Überzeugung vertreten: „Die Auferstehung Jesu gestaltet schon jetzt mittels der Ausgießung des Geistes die gegenwärtige Geschichte.“ (Jon Sobrino, Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer, Ostfildern: Matthias Grünewald, 2008, 40.) Er hat seine Christologie und seine Lehre von der Kirche im Licht der „Nachfolge“ entwickelt, die darauf ausgerichtet ist, „den Armen Leben zu geben“ (ebd., 92, vgl. 499ff u. ö.) und die Kirche als Kirche der Armen zur wahren Kirche werden zu lassen (ders., The True Church and the Poor, Maryknoll: Orbis, 1984, bes. Kap. 4, 5 u. 10). Er konzentriert sich auf die königlichen und widerständig-prophetischen Dimensionen der Nachfolge und wählt im Anschluss an Mt 5,48 („Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“) gelegentlich eine metaphorische Sprache, die ihm bei geringem theologischem Einfühlungsvermögen den Vorwurf eintragen kann, er vermische Gottes Wirken und menschliches Wirken. „Den Armen Leben geben“ – kann das nicht nur Gott selbst!? In diesem Sinne hat Joseph Ratzinger Sobrino eine „Umwandlung der biblischen Botschaft“ vorgeworfen, die „auf eine fast tragische Weise zutage (träte), wenn man bedenkt, wie diese versuchte Nachahmung Gottes sich konkret ausgewirkt hat und auswirkt.“ (Jon Sobrino, Brief an den Generaloberen des Jesuitenordens – Dezember 2006, in: Knut Wenzel [Hg.], Die Freiheit der Theologie. Die Debatte um die Notifikation gegen Jon Sobrino, Ostfildern: Matthias Grünewald, 2008, 32.) Auf eine wesentlich deutlicher prekäre Weise hat Benedikt XVI. in seinen Enzykliken im Stil der Politischen Theologie Carl Schmitts eine über „wirksame Macht verfügende“ und „von allen anerkannte“ „politische Weltautorität“ beschworen, die alle wirtschaftlichen, militärischen, sozialen und ökologischen Probleme der Gegenwart zu lösen hätte. Diese Vision ist verbunden mit dem Programm einer „Reinigung der Vernunft“ durch „Öffnung hin zur Transzendenz“ und zur „übernatürlichen Wahrheit der Liebe“. Klaus Tanner hat treffend beobachtet, dass der
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Die Konzentration auf das königliche Amt muss seine Transformationen in das priesterliche oder das prophetische Amt kritisch korrigieren, um das königliche Amt in seinem Dienst der Liebe, der Diakonie, der humanistischen Ausstrahlung deutlich hervortreten zu lassen. Kritisch korrigiert werden müssen alle Versuche, von den Gliedern an seinem Leib und von den ferneren Zeuginnen und Zeugen abzusehen, die durch den Geist am königlichen Amt beteiligt werden und an der königlichen Gestalt des Reiches Gottes Anteil gewinnen. Kritisch korrigiert werden müssen alle Versuche, diesem Amt und diesem Reich eine nur himmlische und transzendente Existenz zuzusprechen. Das alles heißt aber nicht, die Verbundenheit und Einheit der drei Ämter und der drei Gestalten des Reiches Gottes zu bestreiten und die eschatologische Weite des königlichen Wirkens Christi in Frage zu stellen. Die unverzichtbare Betonung der eschatologischen Weite des Wirkens Christi und seines Reiches darf allerdings die Erkenntnis nicht übersehen oder auch nur herabspielen lassen, dass die königliche Gegenwart Christi auch ausstrahlt in säkularisierte und politische Lebensformen. Wenn heute Menschen Bildung und Gesundheitsvorsorge für alle erstreben, freiheitliche Gemeinden und Zivilgesellschaften gestalten wollen und nicht aufhören, die unbedingte Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde einzuklagen, dann sind – bewusst oder nicht – Kräfte des königlichen und prophetischen Wirkens Christi unter ihren Motivations- und Orientierungskräften. In ruhiger, beharrlicher Weise wirkt das königliche Amt bzw. die königliche Gestalt des Reiches Gottes gemeinsam mit dem prophetischen Amt bzw. der prophetischen Gestalt auf radikaldemokratische Verhältnisse hin. Dabei ist das Zusammenwirken von jüdischchristlichen Traditionen und Impulsen mit aufklärerischer Kritik und Säkularisierungen dieser Impulse ungemein fruchtbar. Dieses religiössäkulare Zusammenwirken, in dem der christliche Glaube den Geist des erhöhten Christus wirken sieht, ist für immer mehr Weltgegenden vorbildgebend.
Papst diese Aufstellungen mit einem „ontologisch-metaphysischen Naturrechtsverständnis“ zu unterlegen sucht, das an altkirchliche Logos-Spekulationen anschließt (Klaus Tanner, Politische Theologie nach Benedikt XVI., in: Francis Schüssler Fiorenza / Tanner / Welker, Politische Theologie, 65ff, 74ff [siehe 0.4, Anm. 24]). Wenn diese Spekulationen in eine Perspektive der Christusnachfolge gebracht werden sollten, so würde hier die „Lehre der Kirche“ wohl im Bereich der „priesterlichen Gestalt des Reiches Gottes“ anzusiedeln sein. Der junge Ratzinger hatte die naturrechtlichen Traditionen durchaus kritisch beurteilt, und auch als Kardinal hatte er sich nur mit milder Skepsis darauf berufen (vgl. Michael Welker, Zukunftsaufgaben Politischer Theologie. Über Religion und Politik nach Habermas und Ratzinger, ebd., 83ff).
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Der erhöhte Christus und sein Reich
4.5 Der öffentliche und der eschatologische Christus Diese Christologie plädiert dafür, die Lehre vom dreifachen Amt Christi durch eine Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Christi zu ergänzen. Damit wird die Erkenntnis Calvins aufgenommen, dass Jesus Christus, der Messias, der Gesalbte, mit dem Heiligen Geist gesalbt worden ist, damit er „den Seinen“ an seinem Geist und an seinen Ämtern Anteil gebe (vgl. Teil 4.1). Jesus Christus behält den göttlichen Geist nicht für sich. Er verleiht ihn auch nicht nur einigen ausgewählten Amts- und Würdenträgern oder kirchlich Heiliggesprochenen. Die dynamische Gegenwart und das weite Wirken des auferstandenen und erhöhten Christus und die Ausgießung des Heiligen Geistes mit der Konstitution des ganzen nachösterlichen Leibes Christi werden – wenn man die dreifache Gestalt des Reiches Christi beachtet – in ihrem Zusammenhang erkennbar. Luthers und Barths zentrale Erkenntnis, der auferstandene und erhöhte Jesus Christus „ist nicht ohne die Seinen“, erhält damit ein schärferes und lebendigeres Profil. Auch die in den letzten Jahren oft umrätselte und immer wieder geforderte „Geistchristologie“ kommt auf diese Weise in den Blick. Pfingsttheologische Anliegen, eine auf Jesus Christus konzentrierte Lehre von der Heiligung und eine differenzierte Lehre von den geistlichen Charismen in der Christusnachfolge miteinander zu verbinden, können mit der Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Christi aufgenommen werden (Teil 4.2). Dass auf diesem Wege die Herrschaft Christi in der Kraft des Geistes differenziert wahrgenommen und dargestellt werden kann, dürfte vor allem von denen begrüßt werden, die seit langem eine „öffentliche Theologie“ zu entwickeln fordern. Im Licht der christologisch konzentrierten dreifachen Gestalt des Reiches Gottes können die mit dieser Programmformel verbundenen Anliegen geprüft, geklärt und in ihren Zusammenhängen erkennbar werden. Das Konzept der öffentlichen Theologie ist polemisch verwendet worden gegen reduktionistische Formen von Theologie, die Christus und seine Herrschaft nur auf den einzelnen Menschen und sein persönliches Seelenheil konzentrieren wollten. Der Gottesdienst der Kirche mit ihrer in freien Gesellschaften öffentlichen Verkündigung, die theologische Lehre, die kirchenamtlichen Verlautbarungen und der mehr oder weniger ausgeprägte diakonische Dienst der Kirche in den verschiedenen Ländern dieser Welt machen es leicht, den unzweifelhaft öffentlichen Charakter kirchlichen Wirkens und der sie begleitenden Theologien zu behaupten. Man kann also fragen: Welche Theologie wäre nicht immer auch öffentlich? Einen klaren Vorschlag, der die Erwartungen an eine öffentliche Theologie steigert und präzisiert, hat Wolfgang Huber unterbreitet:
4.5 Der öffentliche und der eschatologische Christus
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Als ‚öffentliche Theologie‘ bezeichne ich das theologische Vorhaben, die Fragen des gemeinsamen Lebens und seiner institutionellen Ausgestaltung in ihrer theologischen Relevanz zu interpretieren und den Beitrag des christlichen Glaubens zur verantwortlichen Gestaltung unserer Lebenswelt zu ermitteln. Mit ‚öffentlicher Theologie‘ meine ich zugleich eine Form der Theologie, die sich nicht auf eine innertheologische Sondersprache zurückzieht, sondern sich um allgemeine Verständlichkeit wie um die Kommunikation mit anderen Wissenschaften bemüht.1
Öffentliche Theologie geht nach Huber also aus von Fragen des gemeinsamen Lebens und identifiziert Beiträge und Relevanz des christlichen Glaubens in diesem Kontext. Sie artikuliert diese Beiträge in einer öffentlich und interdisziplinär vermittelbaren Sprache.2 Monologische Äußerungen im gottesdienstlichen Raum, Belehrung über Inhalte des Glaubens und diakonische Ausstrahlung allein konstituieren noch keine öffentliche Theologie. Eine öffentliche Theologie muss, mit Habermas gesagt, orientierende Übersetzungsleistungen in die Zivilgesellschaft und in andere Wissensgebiete hinein erbringen.3 Eine öffentliche Theologie ist noch nicht gegeben, wenn die Relevanz von Theologie und Kirche bloß behauptet und die Anpassung des allgemeinen Lebens an religiöse Erwartungen und Standards bloß gefordert wird. Schärfer normativ profiliert und damit auch umstrittener sind die Gestalten öffentlicher Theologie, die sich als kultur-, sozial- und gesellschaftskritische emanzipatorische Theologien präsentieren. Varianten politischer Theologien (die „neue politische Theologie“ seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts), feministische Theologien, Befreiungstheologien, postkoloniale oder entkolonialisierende Theologien erhoben und erheben den Anspruch auf öffentliche Wirksamkeit.4 Sie erweckten und erwecken immer wieder Zweifel, ob sie sich in legitimer Weise auf Jesus Christus und seinen Geist beziehen oder ob sie nicht eher von moralischen, kulturkritischen und politikkritischen Geistern bestimmt werden. Diese Anfragen, die sich bis zur schrillen Denunziation von Befreiungstheologien als marxistisch inspirierten Entwicklungen steigern können5, stehen in der Spannung zwischen einem fatalen Kleinglauben, der die Weite der Herrschaft Christi nicht wirklich wür1 2
Huber, Gerechtigkeit und Recht, 12f (siehe 4.3, Anm. 4). Vgl. Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Öffentliche Theologie 5, Gütersloh: Kaiser, 1994, 418ff. 3 Jürgen Habermas, „The Political“: The Rational Meaning of a Questionable Inheritance of Political Theology, in: Mendieta/VanAntwerpen, The Power of Religion, 25ff (siehe 4.4, Anm. 24). 4 Siehe dazu Jürgen Moltmann, Politische Theologie in ökumenischen Kontexten, in: Francis Schüssler Fiorenza / Tanner / Welker, Politische Theologie, 1ff (siehe 0.4, Anm. 24); Elisabeth Schüssler Fiorenza, Die kritisch-feministische The*logie der Befreiung, ebd., 23ff. 5 Vgl. Jon Sobrino, Brief an den Generaloberen des Jesuitenordens – Dezember 2006, 32 u. ö. (siehe 4.4, Anm. 26).
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Der erhöhte Christus und sein Reich
digt, und möglicherweise berechtigten Sorgen vor einer Vermischung und Verwechslung von politischen, moralischen und religiösen Anliegen und Geistern. Schließlich firmierten unter dem Begriff öffentliche Theologie Konzepte und Entwürfe, die sich mit der Analyse von Zivilgesellschaft und Zivilreligion befassen, die oft soziologisch interessant und aufschlussreich, aber nur in einzelnen Fällen inhaltlich-theologisch, christologisch und pneumatologisch gefüllt und innovativ waren.6 Auch Interessen, im politischen und moralischen Tagesgeschehen nicht nur die Stimme zu erheben, sondern ihr auch einigen religiösen Nachdruck zu verleihen, boten sich als „öffentliche Theologie“ an. Die hohen Anforderungen an eine christliche öffentliche Theologie und an die Entwicklung ihres christologischen Profils sowie die Schwierigkeiten, ihnen gerecht zu werden, lassen sich anhand der Position von David Tracy verdeutlichen. Tracy hatte schon seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts betont, dass eine öffentliche Theologie ein positives Verhältnis zum gesellschaftlichen Pluralismus gewinnen müsse. Die Theologie müsse sich darüber im Klaren sein, dass sie in drei Öffentlichkeiten bzw. aus drei Öffentlichkeiten heraus spricht: Gesellschaft, Wissenschaft und Kirche.7 Die verschiedenen Öffentlichkeiten verlangen die Entwicklung verschiedener Formen von Theologie.8 Sehr bald wurde deutlich, dass die Konzentration auf nur drei Öffentlichkeiten (Gesellschaft [genauer: Zivilgesellschaft], Wissenschaft und Kirche) für die Analyse spätmoderner Gesellschaften nicht ausreicht.9 Denn die Zivilgesellschaft deckt die verschiedenen Öffentlichkeiten der politischen, der medialen, der rechtlichen, der therapeutischen und der wirtschaftlichen Organisations- und Kommunikationsprozesse nicht ab. Eine öffentliche Theologie in pluralistischen Umgebungen muss also mit anspruchsvolleren gesellschaftsanalytischen Modellen arbeiten, wenn sie denn mit gesellschaftsanalytischen Vorgaben einsetzen will. Tracy hat sich dieser Herausforderung nur für eine begrenzte Zeit gestellt und an die Stelle der Analyse eines strukturierten gesellschaft6 Herausragende Beispiele: Robert N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: Heinz Kleger u. Alois Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Religion – Wissen – Kultur 3, München: Kaiser, 1986, 19-41; Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt: Fischer, 1973; Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt: Suhrkamp, 1977; Eilert Herms, Die Bedeutung der Weltanschauungen für die ethische Urteilsbildung, in: Friederike Nüssel (Hg.), Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 49ff. 7 Siehe David Tracy, The Analogical Imagination: Christian Theology and the Culture of Pluralism, New York: Crossroad, 1981, 3ff. 8 Tracy experimentiert mit dem Formen Fundamentaltheologie, Systematische und Praktische Theologie (Tracy, The Analogical Imagination, 54ff). 9 Siehe dazu Welker, Kirche im Pluralismus, 13ff (siehe 3.2, Anm. 49).
4.5 Der öffentliche und der eschatologische Christus
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lichen Pluralismus die Beschäftigung mit der bloßen „Pluralität“ moralischer, politischer und religiöser Engagements gesetzt.10 Eine klare theologische Alternative hätte sich ihm geboten, wenn er seinen Ansatz bei den (nur) drei Öffentlichkeiten auf eine latente christologische Orientierung hin geprüft hätte. Er hätte dann den gesellschaftlichen Pluralismus gelassen in einem theologischen und christologischen Rahmen analysieren können.11 Was müssen wir wahrnehmen, wenn wir uns auf den öffentlichen Christus und sein Reich konzentrieren? Das königliche Amt Christi bzw. die königliche Gestalt des Reiches Gottes innerhalb und außerhalb der Kirchen besitzt eine unaufhaltsame Dynamik. Ein großer Strom von im Einzelnen oft unauffälligen Taten der freien, schöpferischen Selbstzurücknahme, der Liebe, der Annahme, der Zuwendung und der Vergebung setzt ganz enorme emergente Entwicklungen frei. Diese im weitesten Sinne diakonische Wirksamkeit übt auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse großen Einfluss aus, ist aber schwer bestimmbar, wenn sie nicht in institutionalisierten und organisierten Formen auftritt. Und auch die christologische Orientierungskraft verbindet sich mit familialen, freundschaftlichen, nachbarschaftlichen, sozialmoralischen und professionell-therapeutischen Impulsen. Dietrich Bonhoeffer hat 1933 in seinem Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“12 die Erwägung angestellt, dass im Extremfall problematischer und gefährlicher sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen ein „unmittelbar politisches Handeln der Kirche“ geboten wäre, das nicht nur darin bestünde, „die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“, wobei er für diesen revolutionären Schritt die Billigung durch ein „evangelische(s) Konzil“ voraussetzte.13 Weite Bereiche des kirchlichen und außerkirchlichen Wirkens im Reich Christi königlicher Gestalt dienen tatsächlich dem Verbinden der Opfer unter dem Rad und dem Versuch, möglichst dem vorzubeugen, dass weitere Opfer unter das Rad gelangen. Es ist das prophetische Amt und die prophetische Gestalt des Reiches Gottes, die mit einem breiten Spektrum von nachdenklich stimmender Rede und Belehrung bis hin zu lautem öffentlichem Einspruch, symbolpolitischen Aktionen und gewaltfreiem Widerstand das Rad zu bremsen und ihm in die Speichen zu fallen sucht. Es wäre falsch, nur die diakonische oder nur die prophetische Gestalt der Christusnachfol10 David Tracy, Plurality and Ambiguity: Hermeneutics, Religion, Hope, San Francisco: Harper & Row, 1987. 11 Dabei wäre allerdings deutlich geworden, dass die Wissenschaft zu eng ist, um die prophetische Dimension des Reiches Gottes zu erfassen, und dass nur Teilbereiche der zivilgesellschaftlichen Kommunikationsprozesse theologisch relevant sind. 12 In: Dietrich Bonhoeffer, Berlin 1932-1933, DBW 12, hg. Carsten Nicolaisen u. Ernst-Albert Scharffenorth, München: Kaiser, 1997, 349-358. 13 DBW 12, 353 u. 354.
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Der erhöhte Christus und sein Reich
ge in der Kraft des Geistes Christi als relevant für eine öffentliche Theologie anzuerkennen. Und es wäre ebenso falsch, der einen oder der anderen Form von vornherein die theologische und christologische Legitimität abzusprechen. Gehen wir vom öffentlichen Christus und seinem Reich aus, so kann die öffentliche Wirksamkeit und Macht als solche nicht theologisch interessant werden. Das Reich Gottes gewinnt auch in der oft unscheinbaren Erfahrung von einzelnen Menschen, in der Begegnung mit ihnen und im Wirken an ihnen Gestalt. Jedes theologische Interesse an öffentlicher Wirkung muss sich kritisch die Frage stellen, ob eine Berufung auf Jesus Christus nur zur Verstärkung eines auch anderweitig moralisch und politisch wünschenswerten und anstehenden Vorhabens verwendet wird. In letzter Instanz maßgeblich ist für eine öffentliche Theologie in christologischer Orientierung, ob sie der eschatologischen Gegenwart und Weisung Christi Folge leistet, die die ganze Fülle seines vor- und nachösterlichen Lebens birgt und offenbaren wird. Die eschatologische Gegenwart und Weisung Christi, seine eschatologische Person, ist nicht einfach mit der sogenannten endzeitlichen Parusie (der sogenannten Wiederkunft Christi) gleichzusetzen. Die eschatologische Person Jesu Christi begegnet uns in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit seinem kommenden Reich; und wir erwarten und erhoffen seine vollkommene Offenbarung in seinem vollendeten Reich. Wie unsere Untersuchungen zum Reich Gottes gezeigt haben, ist es immer beides: sowohl eine gegenwärtige als auch eine zukünftige Wirklichkeit. Präsentische und futurische Eschatologie dürfen deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden.14 Das Reich Gottes ist emergent im Kommen, und die königliche, priesterliche und prophetische Herrschaft Christi ist in diesem emergenten Geschehen in den einzelnen Gewichtungen manchmal undeutlicher, manchmal deutlicher erkennbar. Es bedarf beständig der Unterscheidung der Geister, um die Christusherrschaft und die Herrschaft anderer Geister nicht miteinander zu verwechseln oder gegeneinander zu polarisieren, sondern klar, konstruktiv und kritisch voneinander abzugrenzen.15 Die eschatologische Person Jesu Christi, sein Reich und seine Gottheit begegnen uns aber nicht nur in zeitlichen und historischen Perspektiven. Das vollendete Reich Gottes, auf das der Glaube hofft, umschließt alle Zeiten und Weltgegenden. Mit großer Klarheit und Bestimmtheit warnen die biblischen Überlieferungen vor den falschen Propheten, die behaupten oder je behaupten werden: „Seht, hier ist der Messias!, oder: Dort ist er!“16 Dies gilt auch für alle räumlichen und zeitlichen Bestimmungen seiner Ankunft. Die Parusie Jesu Christi wird 14 15
Vgl. Teil 4.3. Siehe dazu Bonhoeffer, Sanctorum Communio, DBW 1, 140ff (siehe 0.5, Anm. 17); Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 2, 121-125 (siehe 4.1, Anm. 8). 16 Mt 24,23ff; Mk 13,21f; Lk 17,23f.
4.5 Der öffentliche und der eschatologische Christus
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sich an keinem natürlichen Ort auf dieser Erde und nicht auf unserem Zeitstrahl ereignen. Der auferstandene und erhöhte Christus wird sich in seiner Fülle offenbaren, und er wird in alle Zeiten und Weltgegenden eingehen, so wie auch wir mit unserem ganzen Leben über den irdischen Tod hinaus auf Gericht und Rettung hoffen. Der Glaube kann eine Perspektive auf das Leben einnehmen, die keineswegs absurd ist, obwohl sie natürliche Erfahrungen übersteigt. Man kann sich dies verdeutlichen mit der Frage: Wer war und wer ist diese geliebte Person, die ich gerade oder vor längerer Zeit verloren habe? Ist sie das Kind, das ich nur aus Geschichten und Bildern kenne? Ist sie der Schatten, den ich aus meiner eigenen Jugend dunkel in Erinnerung habe? Ist sie die vertraute Person in all ihren Entwicklungen, mit der ich einen kürzeren oder längeren Lebensweg teilte? Ist sie der hinfällige, sterbende Mensch, dem ich mit großer Trauer ins Angesicht sah? Die Ewigkeits-Eschatologie hält die lebendige (nicht nur punktuell erinnerte) Gesamtheit dieser Person fest. Nicht im Fleisch, nicht in der Natur, wohl aber im Geist ist diese ganze leibliche Existenz gehalten und aufbewahrt. Es ist deshalb sowohl treffend als auch zutiefst missverständlich, wenn die Bekenntnisse von einer „Wiederkehr“ der eschatologischen Person Jesu Christi sprechen. Der historische Jesus wird nicht wiederkommen, auch nicht der Auferstandene in seinen nachösterlichen Erscheinungen vor den ersten Zeuginnen und Zeugen. Die eschatologische Person Jesu Christi, die geprägt ist vom gesamten kommenden Reich, wird aber in Kontinuität stehen zum vorösterlichen Jesus und zum nachösterlichen Auferstandenen. Sie wird ein vertrauter und vertrauenswürdiger Richter und Retter sein. Die Aussagen über die endgültige Theophanie sind notgedrungen hochgradig visionär.17 Wenn wir uns der Offenbarung der göttlichen Identität Jesu Christi annähern wollen, so dürfen wir uns nicht mit eindrücklichen Erweisen seiner öffentlichen Relevanz zufrieden geben. Wir müssen vielmehr die Verbindung des öffentlichen Christus mit der Macht seines Geistes und der neuschöpferischen Kraft Gottes zu erfassen suchen. Wir tun dies, indem wir uns auf die priesterliche und prophetische Dimension seines Wirkens und seines Reiches ausrichten.
17 Siehe Michael Welker u. Michael Wolter, Die Unscheinbarkeit des Reiches Gottes, in: Reich Gottes, Marburger Jahrbuch Theologie XI, hg. W. Härle u. R. Preul, Marburg: Elwert, 1999, 103-116; zu den äußerst schwierigen Konzepten des „Sitzens zur Rechten Gottes“ und, auch allgemein-religiös, des „Heils“ siehe Konrad Stock, Zur Rechten Gottes, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 261-269 (siehe 1.5, Anm. 5); Christoph Markschies, „Sessio ad dexteram“. Bemerkungen zu einem altchristlichen Bekenntnismotiv in der Diskussion der altkirchlichen Theologen, in: ders., Alta Trinità Beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 1-69; Jan Assmann, Das Heil: Religiöse Zukunftsvorstellungen im kulturellen Gedächtnis, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 463-478 (siehe 1.5, Anm. 5).
Teil 5 Wahrer Mensch – wahrer Gott
5.1 Offenbarung Gottes in Jesus Christus: Nähe und Tiefe der Menschwerdung – Reichtum und Weite der Erlösung. Der Weg dieser Christologie Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart! Jesus Christus offenbart Gott selbst! Die Liebe Gottes, Gottes Menschenfreundlichkeit und unbedingte Nähe werden dem Glauben mit diesen Sätzen erschlossen und verbürgt. Doch die Faszination, die die Verheißung von Gottes Nähe in Jesus Christus auslöst, hält menschlicher Erfahrung und menschlichem Nachdenken schwer stand. Auch wenn die Frömmigkeit sich vom Kreuz Jesu Christi bewegen lässt, auch wenn die Menschen von der ikonischen Präsenz Jesu Christi in den Bildern vom Kind in der Krippe und vom sterbenden Jesus am Kreuz berührt werden, so bleibt doch die bohrende Frage: Wie kann von dieser Person und von diesem Leben das Evangelium ausgehen, das die Herzen der Menschen bewegt, das ihr Leben hält, prägt, grundlegend erneuert und verändert, so dass die großen Worte von „Rettung und Erlösung“ durch Jesus Christus glaubwürdig sind? Wird Gott nicht gerade in der Niedrigkeit und Ohnmacht von Krippe und Kreuz unkenntlich? Wo bleiben die Hoheit und die Herrlichkeit, die rettende Macht und die Kreativität, die wir mit dem Wort „Gott“ verbinden, wenn wir auf Jesus Christus und sein Leben blicken? Wie immer wir Gott in Namen zu fassen und auf Begriffe zu bringen versuchen – sind die Person und das Leben Jesu Christi nicht viel zu gering, um die Gottheit zu offenbaren? Eine weitere Herausforderung stellen die subtilen Anfragen dar, die auf die inneren Spannungen im Bekenntnis selbst aufmerksam machen: Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart. Was eigentlich besagt das Wort „hat“ in diesem Satz? x Bezieht sich die Aussage auf ein vergangenes Ereignis? x Oder bezieht sie sich auf ein Geschehen, das bis in die Gegenwart hinein machtvoll wirkt? Manche Sprachen wie das Englische können diese Spannung kurz und klar ausdrücken: God revealed Godself in Jesus Christ! – ein vergangenes, ein abgeschlossenes Ereignis.
5.1 Offenbarung Gottes in Jesus Christus
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God has revealed Godself in Jesus Christ! – ein bis heute fortwirkendes Geschehen. Entscheidet sich der Glaube für das vergangene Geschehen, so kann er überzeugend an der inkarnatorischen Nähe und kenotischen Tiefe (an der Menschwerdung Gottes in Jesus und seiner Selbsterniedrigung bis zum ohnmächtigen Tod am Kreuz) festhalten. In Jesus Christus lebte ein wirklicher Mensch unter den Menschen und starb einen wirklichen Tod. Der Glaube steht aber damit vor dem Dilemma zu erklären, wie wir von einer noch heute wirkenden Offenbarung Gottes sprechen können, wenn es um ein Menschenleben geht, das vor fast 2000 Jahren gelebt wurde – selbst wenn es große Ausstrahlungskraft besitzt. Was hat dieses vergangene Leben mit den großen Verheißungen zu tun, die sich auch für uns heute damit verbinden? Wie lassen sich die Überzeugungen des Glaubens noch hochhalten: Durch Jesus Christus will Gott die Menschen aller Zeiten befreien, retten und erlösen von den Mächten der Sünde und des Todes!? Durch Jesus Christus und in ihm gewinnen die Menschen und die ganze Schöpfung Anteil am göttlichen, am ewigen Leben!? Wenn sich Gottes Offenbarung nur auf ein Ereignis der Vergangenheit bezieht – wie tragfähig sind unter dieser Voraussetzung die mit Jesus Christus und der Offenbarung verbundenen Verheißungen? Wie können wir von einem fortgesetzten schöpferischen und rettenden Wirken Gottes in der Offenbarung und durch die Offenbarung in Jesus Christus sprechen? Werden die Soteriologie (die Lehre vom Erlösungswerk Christi) und die Eschatologie (die Lehre von der christlichen Hoffnung, vom Reich Gottes und vom ewigen Leben) auf dieser Grundlage nicht nichtssagend? Verliert der christliche Glaube nun nicht den soteriologischen Reichtum und die eschatologische Weite? Wird er nicht geistlich leer und nichtig? Spätestens unter diesem Druck wird der Glaube geneigt sein, anders zu optieren und zu versichern: Das Wort „hat“ in dem Satz „Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart!“ ist nicht im Sinne eines in der Vergangenheit abgeschlossenen Geschehens zu verstehen, sondern als eine bis heute wirksame und machtvolle Gegenwart, ein bis heute und für alle Zeiten machtvolles Ereignis. Der Glaube wird vielleicht mit dem Brief an die Hebräer hinzufügen: „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit!“ (Hebr 13,8) Er ist der „Abglanz der Herrlichkeit Gottes und das Abbild seines Wesens“, durch ihn ist die Welt erschaffen (Hebr 1,2f.13). Dem entspricht die Betonung des Kolosserbriefes: „Gott wollte in seiner ganzen Fülle in ihm (in Jesus Christus) wohnen“; es ist „alles durch ihn und auf ihn hin geschaffen“ (Kol 1,19 und 16). Auch auf Aussagen des Johannes kann sich der Glaube berufen: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30; vgl. Joh 1,1 und 10,38). „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (Joh 14,6). Die an Jesus Christus und durch ihn an Gott glauben, erlangen nicht weniger als „das ewige Le-
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
ben“ und „die Herrlichkeit“ (Joh 17,2ff.22ff; vgl. auch Mt 11,27; Lk 10,22; Apg 4,12 u. ö.) Doch je vollmundiger der Glaube nun die uns gestern, heute und in Ewigkeit rettende und bewahrende Leuchtkraft der Person und des Lebens und Wirkens Jesu Christi und seine Einheit mit dem Schöpfer hervorhebt, desto unglaubwürdiger droht das zu werden, was ihn an der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zunächst faszinierte: die inkarnatorische Nähe und die kenotische Tiefe. Der christliche Glaube an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus scheint vor einer schwierigen Alternative zu stehen. Hat sich Gott wirklich in diesem menschlichen Leben erschlossen, ist Gott wirklich den Menschen in einem menschlichen Leben nahe gekommen, so müssen wir den historischen Abstand zwischen einst und heute ernst nehmen! „Das Wort wurde Fleisch, und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14) vor fast 2000 Jahren. Genauer, nicht wir, sondern die ersten Zeuginnen und Zeugen sahen – vielleicht – seine Herrlichkeit. Wollen wir aber Gottes Offenbarung in ihrer auch heute rettenden und auch in Zukunft erlösenden Kraft zur Sprache bringen, betonen wir die Macht und Herrlichkeit des Christusgeschehens, so scheinen die inkarnatorische Redlichkeit und der kenotische Ernst zu verschwinden. Vieles spricht dafür, dass dieses Dilemma im Zentrum der meisten Krisen liegt, mit denen der christliche Glaube auch heute zu kämpfen hat (vgl. Teil 0.4-0.6). Wie sind die Faszinationskraft des Kindes in der Krippe und des sterbenden Mannes am Kreuz und unsere religiösen Vorstellungen eines von Gott geborgenen, erhaltenen, geretteten und erhobenen menschlichen Lebens zusammenzubringen? Wie können wir behaupten, dass dieser Mensch Jesus Christus und sein Leiden Gott selbst offenbart habe? Sollten wir uns nicht stattdessen lieber den mehr oder weniger gelungenen allgemeinen Gottesgedanken zuwenden – wie dem „Grund des Seins“ (Tillich), dem „Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher) oder der „Alles bestimmenden Wirklichkeit“ (Bultmann, Pannenberg)? Dieses Dilemma – das auf den Konflikt zwischen einem christologisch und biblisch orientierten Glauben und einer entsprechenden Theologie einerseits und einem allgemeinen „Gottesglauben“, einem religiösen Theismus andererseits hinausläuft –, dieses Dilemma bringt sich im Zeitalter der Globalisierung verschärft zur Geltung. Denn stärker als je zuvor werden die Menschen mit zahllosen Gottesvorstellungen und Gottesbildern konfrontiert, die sich wechselseitig relativieren. Die sogenannte Sonderstellung des Christentums unter den Religionen mit seiner Konzentration auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zeigt sich in ihrer Problematik deutlicher als je zuvor. Religiosität und Theologie der Moderne haben auf diese Problemlage reagiert, indem sie die Offenbarung der Nähe Gottes mit einer Frömmigkeit verbunden haben, die sich nicht auf Jesus Christus bezieht, sondern Gott im menschlichen Selbstbewusstsein zu entdecken und zu
5.1 Offenbarung Gottes in Jesus Christus
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erkennen sucht. Im innersten Selbstbewusstsein kommt Gott uns und kommen wir Gott ganz nahe. Einige wenige Theologen haben dies noch mit der Versicherung verbunden, dass wir damit der Haltung Jesu zu Gott und dem Selbstbewusstsein Jesu entsprächen.1 Doch in der Regel ist in dieser Frömmigkeit und Theologie der Bezug auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus einfach ausgeklammert und aufgegeben worden. Geblieben ist eine religiöse Grundhaltung, die das Zusammenspiel von Nähe und Ferne Gottes im innersten Selbstbewusstsein vor sich zu haben meint (vgl. Teil 0.5). Der Vorteil dieser nachdenklichen Frömmigkeit schien darin zu liegen, dass sie nicht nur dem Christentum, sondern allen Religionen zugesprochen werden konnte. Auch schwach religiöse und säkularisiert eingestellte Menschen konnten auf diesem Weg gewonnen und sogar als „anonyme Christen“2 vereinnahmt werden. Faktisch aber hat diese Haltung die Selbstsäkularisierung des Christentums im Westen befördert, eine Entwicklung, die in vielen christlichen Kirchen um sich gegriffen hat. Es handelt sich um eine systematische theologische Selbstentleerung, die mit einem massiven religiösen Bildungsverfall einhergeht. Eine unsicher herumexperimentierende Religiosität, inflationärer Symbolkitsch („Was will uns dieses Blümchen heute sagen?“, „Im heutigen Gottesdienst wollen wir einmal über Wasser nachdenken!“) und eine Banalisierung der Frömmigkeit und des kirchlichen Lebens sind damit verbunden. Konservative Kulturkritiker haben diese Entwicklung mit dem Etikett „Christophobie“, Angst vor Christus und dem Christentum, versehen. Nicht ein fundamentalistischer Christ aus dem „Bible Belt“ der USA, sondern ein in Südafrika geborener orthodoxer Jude und brillanter Jurist hat öffentlichkeitswirksam die kulturelle und historische Amnesie, zu der der religiöse Bildungsverfall führt, mit den Worten kommentiert, Europa sei von einer Christophobie beherrscht. Diese Christophobie blockiere (oder sie behindere zumindest schwer) den Rückgriff auf Europas kulturelle und geistige Grundlagen, deren Pflege und kreative Weiterentwicklung.3
1 Vereinzelte besonders scharfsinnige theologische Denker haben das Problem, sich im „reinen Selbstbewusstsein“ zu erfassen, erkannt und dieses Scheitern mit Jesu Kreuz in Verbindung zu bringen versucht. Vgl. Friedrich Gogarten, Die Verkündigung Jesu Christi. Grundlagen und Aufgabe, Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 3, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1965, letzter Teil; dazu kritisch Welker, Der Vorgang Autonomie, 129ff (siehe 0.5, Anm. 14). 2 Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Bd. 6, Einsiedeln: Benziger, 1965, 545554 u. ö. Siehe dazu Nikolaus Schwerdtfeger, Der „anonyme Christ“ in der Theologie Karl Rahners, in: Mariano Delgado u. Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Theologie aus Erfahrung der Gnade. Annäherungen an Karl Rahner, Schriften der Diözesanakademie Berlin 10, Berlin: Morus, 1994, 72-94. 3 Vgl. den Verweis auf Weiler, Ein christliches Europa (siehe 0.4, Anm. 3).
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
Der Weg dieser Christologie Diese Christologie sucht eine Alternative zur offenen oder verdeckten Auflösung des christlichen Glaubens im subjektivistischen Glauben und in theistischer Metaphysik. Sie macht deutlich, dass mehrere Wege der Erkenntnissuche begangen werden müssen. Wenn wir andere Menschen, Lebenswege, historische Situationen wirklich kennenlernen wollen, suchen wir mehrere Zugangsweisen zu ihnen. Dies sollte auch für das Bemühen um die Erkenntnis des lebendigen Gottes und der Offenbarung in Jesus Christus gelten. 1. Die Frage nach dem historischen Jesus führt auf den ersten dieser Wege. Eine Christologie kann und darf von dieser Frage nicht absehen, wenn sie die Offenbarung Gottes in diesem Menschen ernst nehmen will. Der historische Jesus ist weder ein Stein in der Wüste noch ein bloßer Platzhalter für eine „Christologie von unten“, die bei einer abstrakten „Menschheit“, einem Selbstbewusstsein, einer Gottesgewissheit oder ähnlichen nur scheinbar „kerygmatischen“ Größen ansetzen will. Der historische Jesus ist eine nicht leicht zu erfassende, ausstrahlungsstarke Person in nicht leicht zu bestimmenden historischen Kontexten. Dennoch ist das Fragen und Suchen nach wahrer Erkenntnis dieser Person und dieses Lebens nicht sinnlos. Der manchmal irritierende und manchmal ergebnislos endende Wechsel der historischen und wissenschaftlichen Methoden des Fragens nach ihm sollte die weiterführenden Hilfestellungen der Wissenschaft in dieser Frage nicht missachten lassen. Die sogenannte „dritte Frage nach dem historischen Jesus“ hat eine fruchtbare Entwicklung mit unzweifelhaften Erkenntnisfortschritten in Gang gebracht, von der diese Christologie profitiert (vgl. Teil 1.1-3). Auch der wissenschaftlich nicht direkt interessierte Glaube sollte sich von den wichtigsten der gewonnenen Einsichten und erhobenen Wahrheitsansprüche belehren lassen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Im ersten Teil dieses Buches haben wir Wege der Wahrheitssuche in der Frage nach dem historischen Jesus vorgeschlagen, die sich auch in Zukunft begehen lassen (Teil 1.4). Es wird also einerseits ein gewonnenes Erkenntnisniveau beschrieben. Es wird aber auch gezeigt, wie unter Würdigung und Verteidigung der bisher gewonnenen Wahrheitsansprüche das Fragen nach dem historischen Jesus offen und lebendig bleibt. 2. Das Fragen nach dem historischen Jesus allein führt nicht zur Christologie. Er würde aus dem historischen Gedächtnis verschwunden sein als noch ein weiterer messianischer Prätendent aus dem ersten Jahrhundert, dessen Ansprüche sich am Ende als Wahn herausstellten. Doch wir haben alle von Jesus gehört. Etwas muss
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geschehen sein, das seine Geschichte weiterführte. Alle neutestamentlichen Verfasser sind eindeutig überzeugt davon, dass dieses „Etwas“ die Auferstehung war.4
Die Wirklichkeit der Auferstehung ist nicht weniger komplex als das Leben des historischen Jesus. Im Gegenteil. Das Leben des Auferstandenen bewahrt seine vorösterliche Existenz mit ihrer reichen Ausstrahlung in neuer Gestalt. Der Auferstandene umfasst in seiner „königlichen Herrschaft“ die Fülle des vorösterlichen Lebens. Viele Wege der „Nachfolge“ schließen an das Leben Jesu in der Kraft seiner Auferstehung an. Die Kirche versteht sich als der „Leib Christi“, als Trägerin seiner nachösterlichen Existenz. Dabei strahlt das Leben Jesu und des erhöhten Christus in seiner diakonischen Kraft viel weiter aus als nur in die verfassten Kirchen. Um dies zu verdeutlichen, muss die Christologie zeigen, dass die Auferstehung keine physische Wiederbelebung ist. Die Verwechslung von Auferstehung mit physischer Wiederbelebung wird besonders emphatisch vertreten auf Seiten von Fundamentalisten und von Agnostikern (manchmal auch verwirrten Theologen; vgl. Teil 2.1), die diese „Auferstehung“ behaupten und dann, je nach Lager, fanatisch verteidigen bzw. spöttisch oder gereizt leugnen. Diese Auffassung hält gründlicher Exegese nicht stand. Auch zur Frage der Auferstehung ist ein Erkenntnisniveau erreicht, das nicht unterschritten werden sollte – das dennoch weitere Fragen nach der Wirklichkeit der Auferstehung und des göttlichen Geistes offen lässt, die die Theologie zukünftig beschäftigen müssen (vgl. Teil 2.2-3). Zu bearbeiten sind anthropologische, pneumatologische und erkenntnistheoretische Fragen nach der Wirklichkeit des Geistes, nach einem Verständnis des Leibes, der sowohl eine natürliche als auch eine psycho-pneumatologische Größe ist. Die Theologie sollte dabei das Gespräch mit der Philosophie, der Psychologie und den Naturwissenschaften suchen. Es geht dabei um nicht weniger als um die spannende Frage nach geistigen und geistlichen Wirklichkeiten. Philosophische, psychologische und andere wissenschaftliche Erkenntnisse geistiger Wirklichkeiten sollten von der Theologie geprüft werden, auch wenn sich von ihnen her nicht die Theologie des Auferstandenen entwickeln lässt. Sie muss bei der Transformation des vorösterlichen Lebens Jesu in das nachösterliche ansetzen, um auf den Wegen der Christologie zu bleiben (Teil 2.4-2.5). 3. Das vorösterliche Leben Jesu und seine Auferstehung dienen der Offenbarung Gottes und mit dieser Offenbarung der Rettung, Erlösung und Erhebung der Menschheit und der Schöpfung. Die soteriologische Bedeutung der Offenbarung erschließt sich in ihrem ganzen Ernst und in ihrer ganzen Tiefe aber erst, wenn gesehen wird, dass das irdische 4 Polkinghorne, Science and Religion in Quest of Truth, 121 (siehe Einleitung, Anm. 4); Übersetzung M. W.
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Leben Jesu auf seinen Tod am Kreuz hinausläuft und dass mit der Auferstehung nicht weniger erfolgt als Gottes Auseinandersetzung mit den Mächten und Gewalten, die die Welt unter die Macht der Sünde bringen und Jesus ans Kreuz schlagen. Am Kreuz wird offenbar, dass Gott in seiner Offenbarung nicht nur in ein menschliches Leben eingetreten ist (Inkarnation), sondern auch in die Tiefe geschöpflicher Not, in abgründiges Leiden und schuldhaftes Verstricktsein der Menschen (Kenosis). Deutlich wird aber auch, dass die als „gute Mächte“ angesehenen Ordnungs- und Organisationsformen, die menschliches Leben in der Orientierung an Wahrheit und Gerechtigkeit zu lenken beanspruchen – Politik, Recht, Religion, Moral und öffentliche Meinung –, dass sie alle am Kreuz gegen Gottes Offenbarung zusammenwirken (Teil 3.3-3.4). Mit der Rede von Sünde und Sühne, Opfer und Stellvertretung wird ein ganzes Feld von Phänomenen vor Augen gebracht, die die Erzeugung größter Notlagen, gefährlichster Verschleierung, aber auch geistiger und geistlicher Auseinandersetzung damit zu erfassen suchen. Auch diese schwierige Begriffswelt erfordert weitergehende Erschließung. Nicht weniger als die Grenzen moralischer, rechtlicher, politischer und religiöser Steuerungsmöglichkeiten müssen die Theologie hier beschäftigen. In noch kaum entwickelten Gesprächen mit den Rechtswissenschaften, den Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaften müssen die Phänomene „systemischer Verzerrung“ erschlossen werden, für die das Symbol des Kreuzes und die weithin unverständlich gewordene Rede von der „Sünde“ stehen (Teil 3.5). Nicht nur das Mitleiden Gottes, sondern auch Gottes schöpferische und neuschöpferische Auseinandersetzung mit den Anmaßungen menschlicher Macht, mit der Sünde und mit dem Fluch des Todes müssen die „Theologie des Kreuzes“ beschäftigen. Auch hierzu entwickelt diese Christologie neue Denkansätze. 4. Die differenzierte christologische Erschließung des vorösterlichen Lebens Jesu, seiner Auferstehung und seines Kreuzes erlaubt es, die sogenannte „Hohe Christologie“, die Lehre vom erhöhten Christus und von seiner Gottheit, im Anschluss an die biblischen Überlieferungen und klassische theologische Positionen zu entfalten. Einen wichtigen Impuls für diese Christologie bietet Calvins Lehre vom „dreifachen Amt Christi“, dem königlichen, dem priesterlichen und dem prophetischen Amt. Diese Lehre ist streng verbunden mit der Erkenntnis, dass der auferstandene Christus seinen Geist „ausgießt“, um seinen Zeuginnen und Zeugen an seinem königlichen, priesterlichen und prophetischen Wirken Anteil zu geben (vgl. Teil 4.1). Mit der Lehre vom dreifachen Amt wird die Fülle der oft diffusen Erwartungen an den Messias, den Gesalbten, geordnet und strukturiert. Gesalbt wurden die Könige, die Priester und die Propheten des Alten Testaments bei der Einführung in ihr Amt. Als gesalbte Amtsträger sollten sie ihren Aufgaben nachkommen und den von Gott und den Menschen an sie gerich-
5.1 Offenbarung Gottes in Jesus Christus
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teten Erwartungen entsprechen. Jesus Christus nun ist weit mehr als ein Amtsträger, und die gelegentliche Rede von ihm als einer „Amtsperson“ verleitet zu Fehlassoziationen. Unzureichend bleibt die in neuerer Theologie oft aufgestellte Behauptung, die klassische Trennung von Person und Amt müsse in der Christologie „überwunden“ werden. Damit ist die Aufgabenstellung der Lehre vom vor- und nachösterlichen Jesus Christus nicht angemessen erfasst. Wie Calvin richtig betont, übt Christus sein dreifaches Amt „nicht ohne die Seinen“ aus. Der auferstandene und erhöhte Christus „gießt seinen Geist aus“, um seine Zeuginnen und Zeugen mit seinen Kräften zu erfüllen. Diese Weite der Wirkung des Messias, die möglicherweise Gebiete der Vorstellungswelt des mit himmlischer Macht ausgestatteten „Menschensohnes“ einholt (siehe dazu Teil 1.5), stellt diese Christologie mit der Rede von der „dreifachen Gestalt des Reiches Christi“ vor Augen (vgl. 4.4, 5.3-5.5). Der auferstandene und erhöhte Christus muss in Kontinuität und Diskontinuität mit dem vorösterlichen Jesus wahrgenommen werden. Die Lehre vom dreifachen Amt erlaubt zu sehen: Das Wirken des vorösterlichen Jesus und seine Verkündigung des kommenden Reiches Gottes gewinnt in seiner königlichen Herrschaft nachösterliche Gestalt. Das diakonische Wirken Jesu, seine Botschaft der Liebe, seine gewaltlose Veränderung menschlicher Herrschaftsformen wird durch ihn und die Seinen nachösterlich fortgesetzt und entfaltet. Der Auferstandene regiert in der Kraft seines Geistes, die er „den Seinen“ verleiht und in der er die königliche Gestalt seines Reiches konstituiert. Das in dieser Gestalt des Reiches Gottes lebendige Ethos der Liebe, der freien, schöpferischen Selbstzurücknahme zugunsten anderer ist stärker als die Mächte der Selbsterhaltung. In der freien, schöpferischen Selbstzurücknahme wächst menschliches Leben zugunsten anderen Lebens über sich hinaus, überwindet es exemplarisch die Endlichkeit, trotzt es der Drohung der Macht der Endlichkeit. „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (Hld 8,6).5 Das Niveau der Erkenntnis, das mit dieser Betrachtung der königlichen Gestalt des Reiches Gottes erreicht ist, ist festzuhalten – wobei diese Christologie weitere Wege der Suche nach Erkenntnis markiert. Mochte die klassische Lehre vom dreifachen Amt oft in einer Rubrizierung und Zusammenstellung verschiedener Funktionen des „Amtsträgers“ erstarren – die Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Gottes muss einen Zusammenhang dynamischer Lebens- und Entwicklungsprozesse ins Auge fassen, die von der Person Jesu und der Ausstrahlungskraft seines Geistes bestimmt werden.
5 Dafür, dass das Hohelied nicht nur für die Verbindung von religiösem und familialem Denken und Erleben in der jüdischen Theologie, sondern auch in der Sabbatkultur äußerst bedeutsam ist, hat mir Paul Mendes-Flohr die Augen geöffnet.
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5. Die im engeren Sinne gottesdienstliche Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Christus wird in seinem priesterlichen Amt bzw. in der priesterlichen Gestalt seines Reiches offenbar. Auch das gottesdienstliche Geschehen, in manchen westlichen Industrienationen in lähmenden liturgischen und rhetorischen Routinen erstarrt, kann in wahrhaft christologischer, pneumatologischer und biblischer Orientierung eine ungeheure Dynamik der vermittelten und empfangenen Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis bieten. Im Licht der Sakramente Taufe und Abendmahl kann diese Dynamik an Klarheit gewinnen. Theologische Reflexion wird dadurch genötigt, das eingreifende Ereignis des Herrschaftswechsels in der Taufe und die Leuchtkraft der Gegenwart des Auferstandenen im Abendmahl zu erfassen. Nicht weniger als eine differenzierte Erfahrung der Gegenwart des dreieinigen Gottes wird mit diesen zentralen sakramentalen Ereignissen erschlossen. So sinnvoll es ist, dass manche Kirchen die Christusnachfolge im diakonischen Dienst in das Zentrum ihres Lebens stellen, andere Kirchen in der Liturgie und in der Feier des Abendmahls Ausgangspunkt und Höhepunkt ihres Leben sehen – diese Christologie kulminiert in der Darstellung des prophetischen Amts Christi und der prophetischen Gestalt des Reiches Gottes (Teil 5.5-6). Die prophetische Gestalt ergänzt und erweitert die diakonische Ausstrahlung des Reiches. Sie sensibilisiert für die vielfältigen Behinderungen der Königsherrschaft Christi – und zwar nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der verfassten Kirchen. Sie weckt immer wieder neu die Leidenschaft für das Fragen nach der Wahrheit, die Suche nach Gerechtigkeit und den Einsatz dafür bis hin zum gewaltlosen Widerstand. Durch die prophetische Gestalt des Reiches Gottes gewinnt aber auch die priesterliche Dimension ihren Ernst. Die gottesdienstliche Feier, die Seelsorge, Lehre und Verkündigung der Kirchen müssen immer wieder neu vor den Gefahren selbstsicherer, abgehobener Rituale und rhetorischer Routinen bewahrt werden. In der prophetischen Gestalt der Nachfolge Christi werden einerseits die aktuellen Fragen und Leiden der Menschen und ihrer Umgebungen ernst genommen. Es wird andererseits der Blick auf die Weite und Kreativität des Offenbarungsgeschehens gelenkt: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm 8,18).
5.2 Größe und Grenzen der klassischen Zwei-NaturenLehre (Nizänum, Chalcedonense, Barth, Tillich, Bonhoeffer, Coakley) Von der Auferstehung her erweist sich das Kreuz als ein Offenbarungsereignis, das weit mehr offenbart als den leidenden Gott. Es zeigt,
5.2 Größe und Grenzen der klassischen Zwei-Naturen-Lehre
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dass die für das gemeinschaftliche Leben der Menschen unverzichtbaren und deshalb gern fraglos als gut angesehenen irdischen Mächte – die Religion, das Recht, die Moral, die Politik, die öffentliche Meinung – korrumpierbar sind und höchst gefährlich werden können. Diese Mächte können unter dem Schein, für Gerechtigkeit zu sorgen, die Moral hochzuhalten und sogar Gott wohlgefällig zu handeln, religiös unantastbare Werte zu wahren und der Stimme des gesunden Volksempfindens Raum zu geben, auf Verderben bringende Weise zusammenwirken, wie es geschah, als sie sich vereinten, um Jesus den Kreuzestod sterben zu lassen. Der auferstandene und erhöhte Christus stellt sich nicht gegen diese Mächte als solche, sondern er demaskiert sie als unheilvoll in ihrem Wirken unter der Macht der Sünde. Er beruft und befähigt Menschen dazu, an der großen Gegenbewegung teilzunehmen, die durch wechselseitiges Dienen, durch gottesdienstliche Sammlung und Sendung, durch die prophetische Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit und deren Verheißung gekennzeichnet ist. So offenbart er im Blick auf das Kreuz, dass Gott aus Schlechtem und Bösem Neues und Gutes schaffen kann. Kreuz und Auferstehung offenbaren Gottes schöpferisches und neuschöpferisches Wirken. Das Kreuz offenbart nicht nur die Selbstgefährdung und Selbstzerstörung von Menschen und menschlichen Gemeinschaften, ihre Gefangenschaft unter der Macht der Sünde, ihre aktive und passive Verstrickung. Kreuz und Auferstehung offenbaren auch, dass und wie Gott sich mit den Mächten auseinandersetzt, die uns unter dem Anschein, uns zu schützen und uns zu helfen, wissentlich oder unwissentlich ins Verderben führen. Dabei ist dieses Geschehen keineswegs nur als ein Gericht über die Institutionen und sozialen Mächte anzusehen. Es betrifft auch die einzelnen Menschen mit ihrer Religiosität, mit ihrer Moral, mit ihrer politischen Loyalität, mit ihrem gesunden Menschenverstand. Es betrifft uns Menschen, die wir diese Mächte stützen, die wir von diesen Mächten geschützt werden wollen und die wir doch immer wieder auch unter ihnen leiden. Kreuz und Auferstehung, die die Sünde der Welt und Gottes machtvolle, aber auch weiterhin umstrittene Auseinandersetzung damit offenbaren, verweisen nicht auf einen numinosen Gott, der im transzendenten Hintergrund irgendwie webt und wirkt. Die absolute Selbstverstrickung und Verlorenheit der Welt, die sich am Kreuz zeigt, überwindet Gott und offenbart sich so als der radikal neuschöpferische Gott. Nur der radikal neuschöpferische Gott kann aus der Verfallenheit der Menschen unter die Macht der Sünde herausführen. Im auferstandenen und erhöhten Christus wird „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“ offenbar. So formuliert das Glaubens-
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bekenntnis der allgemeinen I. Kirchenversammlung zu Nizäa (325).1 Diese Formulierung nimmt das erweiterte Bekenntnis auf, das wir als Nizänum kennen, das aber wohl erst in Konstantinopel im Jahre 381 ausformuliert worden ist und das deshalb den etwas umständlichen Titel Nizäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis (NicaenoConstantinopolitanum) trägt.2 Anders als das westliche Apostolische Glaubensbekenntnis3 gilt dieses Bekenntnis im Osten und ebenso im Westen seit 451 als autoritativ, und es hat diese Position – mit einer allerdings bedeutsamen Textvariante4 – ungebrochen bis in die Gegenwart gehalten.5 Jesus Christus ist „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“. Das Nizänische Glaubensbekenntnis verdeutlicht dies, indem es das einzigartige Verhältnis Jesu Christi zu Gott dem Schöpfer und das einzigartige Verhältnis Christi zur irdischen Welt darlegt. Jesus Christus ist nicht geschaffen, sondern einerlei Wesens mit dem Schöpfer (homoousios). Er ist der auf einzigartige Weise geborene Sohn Gottes, und zwar vor allen Zeitaltern, „vor allen Äonen“. Dieser vor allen Zeitaltern aus Gott geborene Sohn Gottes ist nun aber zugleich wahrer Mensch, der von der jungen Frau Maria geboren wurde, der wirklich 1
Neuner/Roos, 121 (siehe Einleitung, Anm. 3); vgl. Henricus Denzinger, Enchiridion Symbolorum. Definitionum et Declarationum de Rebus Fidei et Morum, Freiburg: Herder, 1955, 29f (zit.: Denzinger). 2 Neuner/Roos, 164f; Denzinger, 41f. 3 Neuner/Roos, 543, Denzinger, 1ff; belegt seit dem 6. Jh. 4 Siehe dazu Lukas Vischer (Hg.), Geist Gottes – Geist Christi. Ökumenische Überlegungen zur Filioque-Kontroverse, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 39, Frankfurt: Otto Lembeck, 1981; bes. die Beiträge von André de Halleux, Für einen ökumenischen Konsensus über das Hervorgehen des Heiligen Geistes und die Zufügung des Filioque im Glaubensbekenntnis, 65-78; Boris Bobrinskoy, Das Filioque gestern und heute, 107-120; Jürgen Moltmann, Dogmatische Vorschläge zur Lösung des Filioque-Streites, 144-152; Dumitru Staniloae, Der Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und seine Beziehung zum Sohn als Grundlage unserer Vergöttlichung und Kindschaft, 153-163. Zu den fruchtbaren Differenzen zwischen Staniloae und Moltmann im Blick auf das Filioque siehe Daniel Munteanu, Der tröstende Geist der Liebe. Zu einer ökumenischen Lehre vom Heiligen Geist über die trinitarischen Theologien J. Moltmanns und D. Staniloaes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2003, bes. 108ff u. 162ff. Siehe auch Bernd Oberdorfer, Filioque. Geschichte und Theologie eines ökumenischen Problems, FSÖTh 96, Göttingen: Vandenhoeck, 2001; Kathryn Tanner, Christ the Key, Current Issues in Theology, Cambridge/UK u. a.: Cambridge Univ. Press, 3. Aufl. 2011, 188ff. 5 Siehe John Norman Davidson Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, UTB 1746, Göttingen: Vandenhoeck, 2. Aufl. 1993, 294ff; dazu Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg/Basel/Wien: Herder, 3., verbesserte u. ergänzte Aufl. 1990, 753ff; ders., Fragmente zur Christologie. Studien zum altkirchlichen Christusbild, hg. Theresia Hainthaler, Freiburg/ Basel/Wien: Herder, 1997, 112ff; Lewis Ayres, Nicaea and its Legacy: An Approach to Fourth-Century Trinitarian Theology, Oxford u. a.: Oxford Univ. Press, 2004, Nachdruck 2006, 85ff.
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und leibhaftig auf dieser Erde gelebt hat, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, gelitten hat und begraben worden ist. Das Nicaeno-Constantinopolitanum stellt diesen Zusammenhang von Gottheit und Menschheit als Herabkunft vom Himmel dar, für uns Menschen und zu unserem Heil, dann als Auferstehung und Erhöhung in den Himmel zur Teilhabe an der Herrschaft des Schöpfers und als sein von dort zu erwartendes „Kommen in Herrlichkeit“ zum Gericht über die Lebenden und die Toten. In diesen Bewegungen vom Himmel herab, zum Himmel hinauf, zur Gottesherrschaft, zur Teilhabe an der Gottesherrschaft und im Herabkommen in Herrlichkeit zum Gericht ist Christus Herr aller Menschen, übt er seine göttliche Herrschaft aus, unterhält er ein Reich, das „kein Ende haben wird“. In seiner Auslegung des Zweiten Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus6 hat Luther dies in existentieller Zuspitzung zusammengefasst: Er betont, der Zweite Artikel bekenne, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch, „mein HERR“ sei, der mich für sich selbst gewinne, „auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm() diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit“. Diese Zueignung der Menschen zu sich aber habe Christus durch sein Leiden und seinen Tod bewirkt, durch den er „mich verlornen und verdammpten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen und von allen Sunden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels“. Die Gottheit Christi wird einmal sehr knapp im Blick auf sein einzigartiges Verhältnis zum Schöpfer ausgesagt, zum anderen im Blick auf seine Bewegung „zwischen Himmel und Erde“ (Inkarnation, Auferstehung und Himmelfahrt und Parusie zum Gericht) und schließlich durch die Aufrichtung des ewigen Reiches Gottes, für das die Menschen durch Christi Sterben und Auferstehung gewonnen werden. Die Orientierung an räumlichen Bewegungen „von oben“ und „von unten“ wird dann zur abstrakten Orientierungsgrundlage zahlreicher Christologien. In den großen altkirchlichen Bekenntnissen wird strikt festgehalten, dass mit der Gottheit Christi zugleich seine wahre Menschheit betont werden müsse. Dies nötigte zu sehr schwierigen Lehrbildungen, die zunächst eine (letztlich trinitätstheologische) Selbstdifferenzierung in Gott zu denken erforderten, ohne die Lehre vom Einen Gott preiszugeben. Es musste versucht werden, die Einheit und die Differenz von Gottheit und Menschheit Jesu Christi zu fassen. Die sogenannte ZweiNaturen-Lehre sollte das leisten. Wir verdeutlichen uns deren Probleme im Anschluss an Karl Barths Auslegung des Nicaeno-Constantinopolitanums, im Anschluss an Paul Tillichs Kritik der Zwei-NaturenLehre und im Blick auf theologische Anfragen an die klassischen For-
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BSLK, 511 (siehe Einleitung, Anm. 2).
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mulierungen des Konzils von Chalcedon im sogenannten Chalcedonense.7 Die Selbstdifferenzierung in Gott Karl Barth geht in seinen Ausführungen zum Nicaeno-Constantinopolitanum davon aus, dass die Gottheit Christi sich nicht als Apotheose, als Vergottung eines Menschen, eines großen Menschen, verstehen lasse. Sie dürfe weder individualistisch noch kollektivistisch gedeutet werden, als handle es sich um die Personifizierung einer großen Idee, einer allgemeinen Wahrheit.8 Immer wieder betont Barth die Unfähigkeit der Menschen, von sich aus zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Er hebt hervor, dass wir Gottes Feinde sind, dass wir im Widerspruch gegen Gott stehen und dass wir aus dieser Situation heraus von Gott befähigt werden müssen zu erkennen, dass Jesus Christus Gottes Sohn und unser Herr ist. Nicht weniger als ein Wunder ereignet sich in und an der gefallenen Welt. Nicht weniger als ein Wunder ist erforderlich, um die Christuserkenntnis zu erwirken. Eindrücklich formuliert Barth: Wie die Schöpfung creatio ex nihilo ist, so ist die Versöhnung ein Akt der Totenerweckung. Wie wir Gott dem Schöpfer das Leben verdanken, so verdanken wir Gott dem Versöhner das ewige Leben. Um dies zu erfassen, muss zunächst verstanden werden, dass nicht die Offenbarung und Versöhnung Christi Gottheit schafft, sondern dass Christi Gottheit die Offenbarung und die Versöhnung schafft (vgl. 436f). Dies fasst Barth so zusammen: „Er ist der Sohn oder das Wort Gottes für uns, weil er es zuvor in sich selber ist“ (437). Er ist sich dabei sehr wohl dessen bewusst, dass diese Betonung der Wendung „zuvor in sich selber“ als eine metaphysische Spekulation angesehen und diskreditiert werden kann (vgl. 437f). Mit großer Sympathie zitiert er Luther, der darauf insistiert, dass der Weg zu Gott „von unten nach oben“, von der menschlichen Natur aus zur Erkenntnis der Gottheit Gottes führen müsse. Er hält dennoch die nachdrückliche Betonung des „zuvor in sich selber“ für wichtig, damit nicht Gottes Gott-Sein für uns zu einer notwendigen Eigenschaft Gottes gemacht werde. Barth sieht es als gefährliche, untheologische Spekulation (vgl. 441) an, wenn der Mensch auf diesem Weg als für Gott unentbehrlich gedacht werde. „... das Dogma von der Gottheit Christi durchbricht das 7
Im Jahr 451; siehe Neuner/Roos, 129f (siehe Einleitung, Anm. 3); Denzinger, 70f (siehe 5.2, Anm. 1). 8 Vgl. Barth, KD I/1, § 11, Gott der Sohn, 422f. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen im Text (in Klammern) darauf; zu Barths Lehrbildung siehe Walter Kreck, Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik. Zur Diskussion seines Verständnisses von Offenbarung und Erwählung, Neukirchener Studienbücher 11, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1978, 82ff; aber auch Hans Urs von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Einsiedeln: Johannes Verlag, 4. Aufl. 1976, 116ff; Eberhard Jüngel, Barth-Studien, Ökumenische Theologie 9, Zürich/Köln u. Gütersloh: Benziger u. Gütersloher, 1982, 136ff.
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Korrelationsverhältnis zwischen göttlicher Offenbarung und menschlichem Glauben“ (443).9 Nach diesen Eingangsüberlegungen legt Barth den Zweiten Artikel des Nicaeno-Constantinopolitanums aus, den er das belangvollste Dokument des Dogmas von der Gottheit Christi nennt. Er sieht das „Zuvor-in-sich-selber-Sein“ auch mit der Seinsweise des „einzig Geborenen vom Vater“ zum Ausdruck gebracht, mit der Wendung, dass es sich bei Christus um den vom Vater vor allen Äonen Gezeugten handle. „‚Vom Vater vor aller Zeit gezeugt‘ heißt: nicht in der Zeit als solcher geworden, nicht geworden in einem Ereignis innerhalb der geschaffenen Welt“ (448). Die Aussage, Christus sei „Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott, gezeugt, nicht geschaffen“, besagt einerseits, „daß wir im Wirken und Wesen Gottes Licht und Licht, Gott und Gott zu unterscheiden haben … Sodann, daß diese Unterscheidung als Unterscheidung in Gott selbst zu verstehen ist. Also nicht so zu verstehen, als ob auf der einen Seite Gott, auf der anderen Seite ein Geschöpf zu finden sei, sondern so, daß auf beiden Seiten in gleicher Weise der eine Gott zu finden ist“ (449). Ein differenziertes In-sich-Sein haben wir hier zu erfassen, und damit konzentrieren wir uns nach Barth auf die „Dialektik der Offenbarung“. Immer wieder betont Barth, dass es sich bei der Rede von Zeugung und Geburt um eine Bildrede handle, um eine „brüchige( ) und anfechtbare( ) Bildrede“ (453), dass wir hier an die Grenzen der Sprache gelangen, dass die Versuche der Veranschaulichung problematisch und gefährlich seien: „Wir können nur in der Unwahrheit von der Wahrheit reden. Wir wissen nicht, was wir sagen, wenn wir Gott Vater und Sohn nennen“ (455). Und doch ist diese Rede klärend: „Zeugen ist weniger als schaffen, sofern jenes das Hervorbringen des Geschöpfs aus dem Geschöpf, dieses (das Schaffen aber) das Hervorbringen des Geschöpfs überhaupt durch den Schöpfer bezeichnet. Zeugen ist aber mehr als Schaffen, sofern es ... das Hervorbringen Gottes aus Gott, Schaffen dagegen bloß das Hervorbringen des Geschöpfs durch Gott bezeichnet“ (455f). Ein Hervorbringen aus Gott in Gott! Diese Steigerung im Vergleich zur Schöpfung will im Blick auf die Offenbarung Gottes in Christus verstanden werden. Auch die Aussage, „Jesus Christus ist das Wort 9
„... darin besteht die wirklich unerlaubte Metaphysik, die sich die Reformatoren notorisch nicht geleistet haben: jenes uns vermeintlich zugängliche, überschauliche und verständliche Korrelationsverhältnis zu verabsolutieren, es als die Wirklichkeit zu verstehen, in der sich Gott dem Menschen und dem menschlichen Denken und Reden sozusagen ausgeliefert habe, statt zu bedenken, daß unser Stehen in diesem Verhältnis jederzeit reine Illusion und unser Denken darin, unser Reden darüber reine Ideologie sein kann, wenn beides nicht in Gott selbst begründet ist und durch Gott selbst immer wieder bestätigt wird. Weil und sofern das wahr ist, was das Dogma sagt: daß Gottes Wort das Wort Gottes ist, darum und insofern ist auch jenes Korrelationsverhältnis wahr“ (443f).
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Gottes“, bringe diese innere Differenzierung in Gott zum Ausdruck. Sie fehle im Nicaeno-Constantinopolitanum.10 In vielfältiger Weise wird also die Verschiedenheit und Einheit in Gott in der Offenbarung ausgesprochen, und gerade wegen der Unangemessenheit der jeweiligen Bildrede ist es ratsam, den Begriff der Gottheit Christi nicht nur auf den einen oder anderen Nenner bringen zu wollen (vgl. 459). Die Aussage: „Wir glauben Jesus Christus als ‚einen Wesens mit dem Vater‘“ (460) ist gegen ein Verständnis gerichtet, das die Unterscheidungen in Gott sozusagen in zwei Götter erstarren lässt, was die Wendung „gleichen Wesens“ nicht leisten könnte. Die Wendung „einen Wesens“ wehrt das (arianische) Missverständnis ab, Jesus Christus sei nur ein Übermensch, ein, wie Barth sagt, „Halbgott( ) von unten“ (462). Sie wehrt aber auch das (subordinatianische) Missverständnis ab, das Jesus Christus der ersten Person der Gottheit als „Halbgott von oben“ unterordnet. Die kraftvolle Rede, Jesus Christus sei einen Wesens mit dem Vater, grenzt also gleich mehrere Irrlehren aus. Die letzte Wendung, die Barth in diesem Zusammenhang auslegt, lautet: „Wir glauben an Jesus Christus als den, ‚durch welchen Alles geschaffen wurde‘“ (464). Hier handelt es sich um ein wörtliches Zitat von Joh 1,3.11 Völlig hilflos steht das Denken vor dieser Aussage, wenn es, wie es meistens geschieht, Schöpfung mit Natur und Kosmos verwechselt bzw. darauf reduziert. Nach Barth lenken wir mit dieser Wendung den Blick zurück zum Offenbarungsereignis in der Auferweckung. Barth betont: Jesus Christus ist das Wort, durch welches Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen hat. Eben als dieses Wort des Vaters ist es im Unterschied zu allem durch ihn Geschaffenen dem Vater gleich – ist es wahrer Gott von Ewigkeit. Im Anschluss an Thomas von Aquin12 riskiert Barth die Behauptung, dass Gottes Wort nicht nur das
10 Sie sage aber dasselbe wie die Bildrede vom Sohn Gottes. „Man darf vielleicht sagen, daß das erste Bild (vom Sohn Gottes) sachnäher ist, wenn wir das Handeln Gottes in Jesus Christus inhaltlich als Versöhnung“ verstehen. Das zweite Bild, das Bild: Jesus Christus ist das Wort Gottes, sei sachnäher, „wenn wir es formal als Offenbarung verstehen“ (457). 11 Entsprechend Joh 1,10; 1Kor 8,6; Kol 1,15f; Hebr 1,2. Zur äußerst schwierigen Klärung der Verbindungen von Christologie, Logostheologie und Schöpfungslehre vgl. Winrich Löhr, Art.: Logos, Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. XXIII, 2010, 406ff; Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 36ff, 41ff (siehe 2.2, Anm. 1). 12 Thomas von Aquin, Summa Theologica I qu. 34 art. 3; zum fruchtbareren Ansatz der Frage nach der „Einheit des Wirkens der Gottheit und Menschheit in Christus“ vgl. III qu. 19 art. 1 und der Frage nach der „Ursächlichkeit der Auferstehung Christi“ III qu. 56. Zu den Versuchen der Scholastik, im Anschluss an Thomas eine „dreifache Tätigkeit Christi“ zu unterscheiden, vgl. Karl Adam, Der Christus des Glaubens. Vorlesungen über die kirchliche Christologie, Düsseldorf: Patmos, 2. Aufl. 1956, 233ff; zur „Krise des metaphysischen Gottesgedankens“ vgl. Friedrich Mildenberger, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in
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Ebenbild des Vaters sei, sondern auch das „Urbild der Welt“. Die Beteiligung des Sohnes am schöpferischen Geschehen Gottes mache jedenfalls deutlich, dass Gott, der Sohn, mit seiner Menschwerdung „in sein Eigentum“ (Joh 1,11) kommt (466). Schwierigkeiten mit der Zwei-Naturen-Lehre Die Lehre von der Selbstdifferenzierung in Gott ist nur ein erster Schritt hin zur Erhellung der Einheit und Differenz von Gottheit und Menschheit Jesu Christi. Paul Tillich hat die großen Erkenntnisanstrengungen der Alten Kirche gewürdigt, die zur Schaffung des christologischen Dogmas führten. Die dogmatische Arbeit der frühen Kirche hatte ihr Zentrum in der Schöpfung des christologischen Dogmas. Alle anderen dogmatischen Aussagen, vor allem die über Gott und den Menschen, über den Geist und die Trinität, geben die Voraussetzung oder sind die Konsequenzen des christologischen Dogmas ... Alle Angriffe auf die christlichen Dogmen wenden sich direkt oder indirekt gegen das christologische Dogma.13
Ein Dogma ist ein Grundsatz, ein Lehrsatz, eine verbindliche Glaubensaussage, in der ein zentraler Glaubensinhalt so festgehalten wird, dass von ihm aus der Zusammenhang aller Glaubenserkenntnisse erhellt werden kann. Mit Recht betont Tillich, dass die Dogmen nicht aus Freude an religiöser Spekulation geschaffen werden, sondern dass es sich um „schützende Lehren“ handle, die gegen Entstellungen des Glaubens außerhalb und innerhalb der Kirche gerichtet seien. Tillich beklagt nun, dass das so zentrale christologische Dogma mit unzureichenden begrifflichen Mitteln entwickelt worden sei. Er greift vor allem die Lehre von den „zwei Naturen“ an, der göttlichen Natur und der menschlichen Natur in Jesus Christus, die klassisch auf der Synode von Chalcedon formuliert wurde: Wir bekennen einen und denselben Christus, den Sohn, den Herrn, den Einziggeborenen, der in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert besteht. Niemals wird der Unterschied der Naturen wegen der Einigung aufgehoben, es wird vielmehr die Eigentümlichkeit einer jeden Natur bewahrt, indem beide in eine Person oder Hypostase zusammenkommen.14
dogmatischer Perspektive, Bd. 2: Ökonomie als Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1992, 12ff. 13 Tillich, Systematische Theologie II, 151 (siehe 3.5, Anm. 12). Die Seitenzahlen (in Klammern) im folgenden Text beziehen sich auf diesen Band. 14 Neuner/Roos, 130 (siehe Einleitung, Anm. 3); zum schwierigen Begriff der Hypostase siehe Peter Lampe, Hypostasis as a Component of New Testament Christology (Hebrews 1:3), in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 6371 (siehe zum Buch 0.1, Anm. 7).
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Tillich klagt nicht einfach darüber, dass hier Begriffe aus Denk- und Sprachräumen herangezogen worden seien, die den biblischen Überlieferungen fremd waren. „Die Theologie muß frei von den Begriffen und frei für die Begriffe sein, die sie gebraucht.“ Sie muss sich allgemeiner Begriffe bedienen, um ihre Botschaft auszusagen, aber sie muss zugleich diese Begriffe immer wieder kritisch überprüfen (153). Sein Vorwurf lautet: „Die Lehre von den zwei Naturen in Christus ist zwar in der Fragestellung richtig, nicht aber in der Anwendung der begrifflichen Mittel. Der grundlegende Fehler liegt in dem Begriff ‚Natur‘. Auf den Menschen angewandt ist der Begriff ‚Natur‘ zweideutig, auf Gott angewandt ist er falsch“ (154). Was aber war die Aufgabenstellung, der sich die Entwicklung des christologischen Dogmas ausgesetzt sah? Nach Tillich war eine doppelte Gefahr abzuwehren: einmal die Verneinung des Christuscharakters in Jesus als dem Christus, zum anderen die Verneinung des Jesuscharakters in Jesus als dem Christus. Wird der Christuscharakter in Jesus als dem Christus verneint, so wird die Gottheit Christi verdunkelt.15 Wird der Jesuscharakter in Jesus als dem Christus verneint, so droht die Irrlehre einer doketischen Christologie, die die wahre Menschheit Christi nicht auszusagen vermag. Sie tendiert dahin zu sagen, dass das ganze Leiden und Sterben Christi nur ein „Schein“ gewesen sei und dass auch die Gegenwart des Auferstandenen ein bloßer Schein sei. Die Problematisierung entweder der Gottheit Christi oder der Menschheit Christi hat die Alte Kirche in eine vielgestaltige Auseinandersetzung mit Häresien hineingezogen. In dieser Auseinandersetzung ist eine hochkomplexe theologische Begriffswelt ausgebildet worden. Tillich verdeutlicht die Probleme, indem er u. a. die arianische Auffassung und die athanasianische Auffassung einander gegenüberstellt. Athanasius behauptete mit Recht, daß nur der Gott, der wirklich Gott ist, das Neue Sein schaffen kann; kein Halbgott vermag es. Der Begriff homoousios (von gleicher Macht des Seins) sollte diesen Gedanken zum Ausdruck bringen. Aber dagegen konnten die Arianer geltend machen: Wird damit nicht das Bild des Jesus der Geschichte vollkommen unverständlich? Es war für Athanasius und seine Anhänger ... schwer, darauf zu antworten (155).
Dialektische Vermittlungsversuche zwischen der wahren Gottheit und der wahren Menschheit erzeugten also eine Vielfalt von Spannungen, Fehlgewichtungen, perspektivischen Verzerrungen. Aber sie führten auch zu fruchtbaren dogmatischen Überlegungen, die verhinderten, 15 Es droht die Irrlehre einer sogenannten „ebionitischen Christologie“, eine von Irenäus judenchristlichen Kreisen zugeschriebene Lehre, die die bloße Menschheit Jesu betone, der aber in der Taufe eine besondere Würde erhalten habe.
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dass, mit Tillichs Worten gesagt, der Jesuscharakter des Christus völlig verloren ging bzw. der Christuscharakter Jesu geleugnet wurde. Bei dieser Aufgabe handelt es sich nicht um ein nur theoretisch interessantes Anliegen der Kirche, sondern um ein existentiell notwendiges, nämlich um die Fähigkeit, die Frage nach der Erlösung zu beantbeantworten. Wird nur die göttliche Natur betont, so wird das Paradox eines supranaturalen Mirakels erzeugt. „Erlösung kann aber nur von dem kommen, der voll an der menschlichen Situation partizipiert, nicht von einem auf Erden wandelnden Gott, der in jeder Hinsicht verschieden von uns ist“ (159). Dementsprechend betont Tillich im Anschluss an Luther, dass eine Christologie von Christi Menschheit, von seinem Kreuz und von seinem Leiden ausgehen muss. Nur eine „niedrige Christologie“, wie er formuliert, ist „die in Wahrheit ... eigentlich hohe Christologie“ (159). Doch wie kann verhindert werden, dass nun eine ebionitische Christologie droht, die eine Heilserkenntnis und eine Heilsgewissheit gar nicht erst aufkommen lässt oder in der Betonung der bloßen Menschheit Jesu zerstört? Nach Tillich kann dies nicht geschehen, indem die göttliche Natur dieses Christus betont wird, weil der Naturbegriff vieldeutig und missverständlich ist. Die Behauptung, daß Jesus als der Christus die persönliche Einheit einer göttlichen und menschlichen Natur ist, muß durch die Aussage ersetzt werden, daß in Jesus als dem Christus die ewige Einheit von Gott und Mensch historische Wirklichkeit geworden ist. In seinem Sein ist das Neue Sein wirklich, und das Neue Sein ist die wiederhergestellte Einheit zwischen Gott und Mensch. Wir lassen daher den unangemessenen Ausdruck „göttliche Natur“ fallen und ersetzen ihn durch den Begriff: „ewige Gott-Mensch-Einheit“. ... Statt der „zwei Naturen“, die wie zwei Blöcke nebeneinander liegen und deren Einheit in keiner Weise verstanden werden kann, eröffnen uns Relationsbegriffe ein wirkliches Verständnis für das dynamische Bild Jesu als des Christus (160; Hervorhebung M. W.).
Bonhoeffer über die Probleme der Zwei-Naturen-Lehre In seiner Berliner Christologie-Vorlesung (Sommer 1933)16 hat Dietrich Bonhoeffer konstruktive Vorschläge zur Zwei-Naturen-Lehre entwickelt im Anschluss an das Chalcedonense, wo es heißt: „Wir bekennen einen und denselben Christus, den Sohn, den Herrn, den Einziggeborenen, der in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert besteht.“17 Bonhoeffer geht von diesen vier Bestimmungen aus. Er betont, dass sie gerichtet waren gegen die sogenannten Monophysiten (z. B. Apollinaris von Laodicea, Eutyches), die lehren, dass in Christus 16 Dietrich Bonhoeffer, Vorlesung „Christologie“ (Nachschrift), in: DBW 12, 279348 (siehe 4.5, Anm. 12); die Seitenzahlen (in Klammern) im folgenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 17 Neuner/Roos, 130 (siehe Einleitung, Anm. 3).
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menschliche und göttliche Natur zu einer Natur, zur göttlichen Natur, verbunden seien.18 Bonhoeffer formuliert: Nach dieser Lehre ist „Christus ... kein individueller Mensch, er hat die menschliche Natur wie ein Kleid übergestreift.“ Mit dem Monophysitismus drohen doketische Formen die Christologie zu zerstören. „Denn wenn nicht in unserer Natur Gottes Natur offenbar würde, wie sollte dann unsere Natur vergottet, gerettet, geheilt werden können!“ (325) Die Einheit Jesu mit Gott wurde demgegenüber von den Nestorianern als Einheit des Willens, als Einheit der Haltung verstanden, eine Position, die von dem Konzil zu Chalcedon als Dyophysitismus, als ein Auseinanderreißen der beiden Naturen, verworfen wurde. Bonhoeffer kontrastiert Monophysitismus und Dyophysitismus: „Dort das Geheimnis der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur, hier die nüchterne Trennung beider, die Rationalität der Zweiheit gegenüber dem Mysterium der Einheit. Dort das Mysterium der Vergottung des Menschen, hier das Ethos des allmählich zu Gott sich erhebenden, in seinen Willen sich fügenden Willens des Knechtes. Dort die leidenschaftlichere Glut, die stärkere Inbrunst, das zähere Festhalten, hier die größere Klarheit und Nüchternheit“ (326). Der Monophysitismus ist eine Irrlehre, eine Häresie, weil in ihm die menschliche Natur Christi verschlungen wird von der göttlichen Natur. Der Dyophysitismus ist eine Häresie, weil in ihm die Menschheit und Gottheit so auseinandergerissen werden, dass die Einheit der Person Christi nicht mehr gedacht werden kann. Demgegenüber betont das Chalcedonense: ein Christus, eine Person, eine Hypostase – aber zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, in dieser Person. Bonhoeffer beobachtet scharfsinnig, dass diese Betonung erkauft wird mit einer Reihe von Abwehrbewegungen (unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert), die alle gemeinsam deutlich machen, dass über die menschliche und göttliche Natur in Jesus Christus nicht wie über dingliche Gegebenheiten gesprochen werden kann. Diese Abwehrbewegungen, diese negativen Formulierungen bringen eine Bewegung in das theologische Denken. Diese Bewegung nimmt die Begriffe der Natur bzw. der zwei Naturen auf, um sie zugleich zu sprengen. „Das Chalcedonense ist eine sachliche, alle Denkformen sprengende, lebendige Aussage des Christus. In klarste, aber paradoxe Lebendigkeiten ist alles hineingezogen“ (328). Es gibt nur einen Christus in zwei Naturen, die aber unvermischt, unverwandelt, ununterschieden und ungetrennt zu denken sind. Damit werden alle Denkformen aufgehoben, die versuchen, die zwei Naturen in dingliche Verhältnisse zu fassen. Wie aber ist die Einheit zu denken? Die Auskunft der Dogmatik über Jahrhunderte hinweg lautete: Sie ist als unio hypostatica, als Einheit der Person, zu denken, die die Integrität beider Naturen wahrt – die 18
Zu den Schwierigkeiten der Zuschreibung dieses Kampfbegriffs siehe Adolf Martin Ritter, Art.: Monophysiten/Monophysitismus, RGG4, Bd. V, 1454-1456.
5.2 Größe und Grenzen der klassischen Zwei-Naturen-Lehre
253
Natur Gottes in ihrer Gottheit, Wesentlichkeit und Unveränderlichkeit, und die Natur des Menschen in ihrer Endlichkeit und Veränderlichkeit. Beide Naturen verbinden sich in Christus in einer unitio, in einer Einigung, in einer unio personalis und in einer communio naturarum. Eine Einheit der Person und eine Gemeinschaft der Naturen müssen wir hier ins Auge fassen. Bonhoeffer verdeutlicht dies daran, dass gesagt werden darf, Gott ist Mensch, aber nicht: Gottheit ist Menschheit (vgl. 329). Die dogmatische Tradition hat den hier vorliegenden Sachverhalt mit dem Fachbegriff bezeichnet, es liege eine communicatio idiomatum vor, eine gegenseitige Mitteilung der Eigenschaften der Naturen. Sie hat diese communicatio idiomatum in verschiedenen Formen entfaltet, deren wichtigste das genus majestaticum ist. „Dieses sagt aus, daß die Attribute der göttlichen Natur von der menschlichen Natur ausgesagt werden können und müssen.“ Geschieht dies etwa in den problematischen Allaussagen: „Jesus ist allmächtig. Jesus ist allgegenwärtig“, so droht, wie Bonhoeffer klar sieht, die Gefahr des Monophysitismus. Es droht die Verwandlung der menschlichen Natur in die göttliche Natur, die die Einsichten des Chalcedonense – unvermischt, unverwandelt – in Frage stellt.19 Dogmengeschichtlicher Höhepunkt in der Entfaltung der Lehre von den zwei Naturen war der sogenannte Kenosis-Streit zwischen den theologischen Fakultäten Tübingen und Gießen im 17. Jahrhundert. Genauer war es ein Streit zwischen den sogenannten Kenotikern und den Kryptikern. Die Kenotiker in Gießen betonten, die Einheit der beiden Naturen sei so zu denken, dass Christus in der Menschwerdung auf den Gebrauch der göttlichen Kräfte real verzichtete, während die Kryptiker in Tübingen lehrten, Christus habe auf den Gebrauch der göttlichen Kräfte nicht verzichtet, sondern diese seien in seiner Menschwerdung verhüllt worden. Bonhoeffer kommentiert: „Die Kryptiker dringen auf die Identität des Menschgewordenen ... mit dem Gottmenschen“ und geraten wieder in die Richtung einer doketischen Christologie. Demgegenüber betonen die Kenotiker mit Phil 2, es gehe um eine wirkliche Erniedrigung, 19
Die reformierte Theologie hat dem entgegengesetzt: finitum incapax infiniti, das Endliche ist unfähig, das Unendliche anzunehmen, aufzunehmen. Die reformierte Position ist dann aber selbst in Schwierigkeiten geraten mit ihrer Betonung, der logos sei überall, aber als Gottmensch sei er an einem bestimmten Ort: das berühmte Extra Calvinisticum, die Lehre Calvins, der logos sei auch nach der Vereinigung mit der menschlichen Natur außer ihr. Die Lutheraner haben dem entgegengehalten, dass das Endliche wohl nicht durch sich selbst, doch durch das Unendliche fähig sei, das Unendliche anzunehmen: finitum capax infiniti non per se sed per infinitum. Sie haben diesen Zusammenhang der beiden Naturen zu denken versucht, indem sie die Lehre von den beiden Ständen Christi, dem status exinanitionis (Stand der Erniedrigung) und dem status exaltationis (Stand der Erhöhung), entwickelten und die Dynamik der Inkarnation und der Menschwerdung prozessual zu erfassen versuchten (vgl. zur schöpfungstheologisch und pneumatologisch vielschichtigen Problemlage bei Bonhoeffer 331ff).
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
„Christus sei wirklich gestorben“. Aber auch dies kann mit der Kenosis nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht werden, denn wenn Christus „den Gebrauch seiner göttlichen Eigenschaften immer wieder in sich zurückgedrängt“ (333) habe, dann geht die Realität der Entäußerung verloren. Kenotiker und Kryptiker haben sich seinerzeit, 1624, auf die salomonische Formel – oder, wie Bonhoeffer sagt, auf die „unansehnliche“ Formel – geeinigt, der „erniedrigte Christus habe die göttlichen Eigenschaften gebraucht, wann er wollte, und nicht gebraucht, wann er wollte“. Demgegenüber hält Bonhoeffer fest, dass die Theologie des Chalcedonense mit ihren negativen Abgrenzungen eine überlegene Position darstellt, gerade weil sie diese Spekulationen über Einheit und Differenz beharrlich abwehrt. Bonhoeffer sieht im Chalcedonense den vorbildlichen Versuch, das Denken auf die Wirklichkeit Jesu Christi zu konzentrieren, der, wie er sagt, „das Faktum des Gott-Menschen als die Voraussetzung stehen“ lässt (339). Gerade dieses Stehenlassen ist das Resultat der Christologie des Chalcedonense. Alle Versuche werden abgelehnt, einen Gott-Menschen zu konstruieren. Abgelehnt wird einerseits eine eindeutig positive Aussage über Jesus Christus in dem Sinne, dass in undifferenzierter Weise von Christus gesprochen werden kann. Abgelehnt wird aber auch ein dingliches Denken, das zwei Naturen wie zwei Dinge konstruiert, gegeneinander stellt oder miteinander in Beziehung setzt. Abgelehnt wird die Reflexion über die Wie-Frage, wie Gottheit und Menschheit sich unterscheiden und aufeinander beziehen. In all dem wird, wie Bonhoeffer sagt, auf eine „positive Christologie“ konzentriert, die die Hilfskonstrukte der zwei Naturen immer wieder benutzt, aber sie zugleich hinter sich lässt. Bonhoeffer summiert: Wer ist dieser Gott? Es ist der Menschgewordene wie wir Mensch geworden sind. Er ist ganz Mensch. Darum ist ihm nichts Menschliches fremd gewesen. Der Mensch, der ich bin, ist Jesus Christus auch gewesen. Von diesem Menschen Jesus Christus sagen wir, dieser ist Gott. ... Das Gottsein dieses Menschen ist nicht etwas zum Menschsein Jesus Christus Hinzukommendes (340).
Aber wie haben wir dieses Gottsein im Blick auf den Menschen zu denken? Es ist Gottes Urteil über diesen Menschen! Gottes Wort ist es, das diesen Menschen Jesus Christus selbst als Gott qualifiziert. Aber der wesentliche Unterschied [zu allen übrigen Menschen] ist der, daß das von oben kommende Wort Gottes hier in Jesus Christus zugleich selbst ist. Darum, weil Jesus Christus das Urteil Gottes über sich selbst ist, weist er zugleich auf sich und auf Gott (340f).
In Jesus Christus legt Gott sich selbst fest. Gott fällt ein Urteil über diesen Menschen, das aber zugleich ein Urteil Gottes über sich selbst, eine Selbstfestlegung Gottes ist. Auf diese Weise versucht Bonhoeffer, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu fassen. Gott sieht seine
5.2 Größe und Grenzen der klassischen Zwei-Naturen-Lehre
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Ehre darin, in Menschengestalt da zu sein. Gott sieht seine Ehre darin, sich als Schöpfer im Geschöpf zu offenbaren. Von diesem Ereignis, das in Christus offenbar wird, müssen wir ausgehen, nicht von einer Idee Gottes oder von einer Idee des Menschen, nicht von einer abstrakt gedachten Natur Gottes und einer abstrakt gedachten Natur des Menschen, sondern von diesem in der Auferstehung offenbar gewordenen Ereignis. Gott legt sich selbst fest, indem er den Menschen Jesus Christus als Gott qualifiziert. Die Abwehrformeln des Chalcedonense drängen darauf hin, diese Wirklichkeit anzunehmen, sich diese Wirklichkeit gefallen zu lassen. Sie drängen darauf hin, von dem Menschen Jesus Christus auszugehen, in ihm die Gottheit zu erkennen und zu bekennen, darin unser Involviertwerden in sein Leben zu erkennen und so die Gewissheit unserer Bestimmung zur Teilhabe an Gottes Leben zu gewinnen. Dies zu verstehen und zu entfalten ist Aufgabe der Christologie. Was leistet Chalcedon? In einer feinsinnigen Untersuchung hat Sarah Coakley die Leistungskraft klassisch-dogmatischer Verlautbarungen im Allgemeinen und des Chalcedonense im Besonderen bedacht.20 Sie diskutiert zunächst den Vorschlag von Richard Norris, Chalcedon wolle nur eine linguistischregulative Orientierungshilfe anbieten (146).21 Sie stimmt ihm in den Beobachtungen zu, dass keine klaren Definitionen von „Natur“ und „Hypostase“ angeboten werden. Doch es sei nicht angemessen, im Sinne eines Konzepts von George Lindbeck an bloße „Leitlinien zweiter Ordnung“ zu denken und diese gegen „Versicherungen erster Ordnung über das innere Wesen Gottes oder Jesu Christi“ zu stellen (vgl. 150). Von einem modernen Zeitgeist gelenkte Polemiken gegen „Verdinglichung“ verfehlten die Erkenntnis, dass auch linguistisch-regulative Orientierungshilfen nicht ohne ontologische Bindung22 auskommen (vgl. 152). Bereits 1985 hatte Janet Soskice vor einem naiven theologischen Realismus gewarnt, der in religiöser und antireligiöser Gestalt auftreten kann. Sie hat für einen subtilen Umgang mit den Grenzen der Leis20
Sarah Coakley, What Does Chalcedon Solve and What Does It Not? Some Reflections on the Status and Meaning of the Chalcedonian ,Definition‘, in: Stephen T. Davis, Daniel Kendall u. Gerald O’Collins (Hg.), The Incarnation: An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, Oxford: Oxford Univ. Press, 2002, 143-163. (Die Seitenangaben [in Klammern] im folgenden Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.) Vgl. auch Gerald O’Collins, The Incarnation: The Critical Issues, ebd., 1ff; Rowan Williams, Art.: Jesus Christus, II. Alte Kirche, TRE 16, 1988, 726-745. 21 Vgl. Richard Norris, Chalcedon Revisited: A Historical and Theological Reflection, in: Bradley Nassif (Hg.), New Perspectives on Historical Theology, Grand Rapids: Eerdmans, 1996, 140-158. 22 „Second-order guidelines“ und „first-order affirmations about the inner being of God or of Jesus Christ“; „ontological commitment“, Übersetzungen M. W.
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tungskraft deskriptiver Sprache plädiert und gezeigt, in welcher Weise metaphorische Rede sowohl in (natur-)wissenschaftlichen als auch religiösen Kontexten fruchtbar verwendet werden kann.23 In Auseinandersetzung mit John Hicks Vorwurf, die Orthodoxie und Chalcedon hätten der Lehre von den Zwei Naturen keinen Inhalt geben können24, die Rede von der Inkarnation sei „nur metaphorisch“ zu verstehen25, warnt Coakley vor der Vorstellung, die metaphorische Rede entferne uns von der Wirklichkeit, statt uns mit ihr zu konfrontieren (vgl. 154). Sie macht darauf aufmerksam, dass die Rede vom Paradox – im Sinn von „anders als erwartet“ – häufig negativ besetzt worden ist als inkohärent oder sich selbst widersprechend. Die positive Bedeutung würde demgegenüber den Verheißungscharakter einer Wirklichkeit hervorheben, die uns überraschende Wirklichkeit, und in diesem Sinne gebrauche Chalcedon metaphorische Rede. Die oft gegenüber der „nur“ metaphorischen Rede eingeklagte sogenannte wörtliche oder eigentliche oder buchstäbliche Rede wird von Coakley schließlich in ihrem Facettenreichtum beleuchtet. Sie zieht zahlreiche Verlässlichkeit verheißende Erwartungen auf sich (156ff). Coakley argumentiert, dass die Bekenntnisformulierungen von Chalcedon (wie auch von Nizäa) auf ein Heilsereignis zurückblicken, auf dessen ontologischer Wirklichkeit sie bestehen. Das Interesse des Bekenntnisses an regulativer und metaphorischer Rede beinhalte keinesfalls einen Mangel an ontologischer Bindung (vgl. 160). Die Bekenntnisrede bestimmt einen Horizont, sie setzt Rahmen, Grenzen, aber sie respektiert dabei auch Grenzen der Rede von Gott. Nicht eine spekulative Begeisterung für die Verborgenheit und Unerkennbarkeit Gottes, wohl aber ein an der Offenbarung orientierter Respekt für die besondere Wirklichkeit Gottes ist dabei leitend.26 Ganz bewusst haben wir die Dokumente klassischer christologischer Dogmenbildung in die Perspektiven der Theologie des 20. und frühen 21. Jahrhunderts gerückt. Sowohl das Nizänum als auch das Chalcedonense denken betont in dualen Strukturen. Vater und Sohn, Gott aus Gott, oben und unten, Himmel und Erde, Gottheit und Mensch23
Vgl. Janet Martin Soskice, Metaphor and Religious Language, Oxford: Clarendon, Nachdruck 1988, bes. 142ff, 151ff; zur anthropologischen und ethischen Bedeutung dieser Einsichten siehe dies., The Kindness of God: Metaphor, Gender, and Religious Language, Oxford: Oxford Univ. Press, 2007, bes. 7ff, 157f. 24 John Hick, Jesus and the World Religions, in: ders. (Hg.), The Myth of God Incarnate, London: SCM Press, 1977, 167-185, 178. 25 John Hick, The Metaphor of God Incarnate, London: SCM Press, 1993, 104. 26 Vgl. auch Sarah Coakley, Powers and Submissions: Spirituality, Philosophy and Gender, Oxford u. Malden: Blackwell, 2002, 40ff u. 130ff, über „Contemplation“ und „Spiritual Senses“ im Anschluss an Dom John Chapman und Wittgenstein. Für einen pneumatologisch und biblisch-theologisch orientierten Zugang zur Neuaufnahme altkirchlicher Lehrbildung plädiert eindrücklich David Brown, The Divine Trinity, La Salle: Open Court, 1985, 159ff.
5.3 Priesterliche Gegenwart Christi: Gottesdienst und Taufe
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heit, zwei Naturen – und dem folgen auch die Interpretationen in unserer Zeit. Das Nicaeno-Constantinopolitanum fügt ausdrücklich Ausführungen über den Heiligen Geist hinzu und weist auf ein trinitätstheologisches, ekklesiologisches und eschatologisches Denken hin, das in und mit den dualen Strukturen nur unzureichend oder gar nicht eingeholt werden kann. Ein gottesdienstlich und sakramental orientiertes Nachdenken über die priesterliche Gegenwart Christi in der Kraft seines Geistes und ein Nachdenken über seine prophetische Gegenwart unter biblischer Orientierung in Wahrheit und Gerechtigkeit suchenden Gemeinschaften soll dies zu tun versuchen. Mit seiner Hilfe soll entfaltet und vertieft werden, was die Lehren von der differenzierten Einheit Gottes und von den zwei Naturen in einer Person kurz und bündig auszusagen suchten: Gott hat sich in Jesus Christus geoffenbart; durch ihn, den Menschgewordenen, Auferstandenen und Erhöhten, offenbart sich Gott selbst.
5.3 Priesterliche Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft des Glaubens: Der Gottesdienst und die Taufe als Herrschaftswechsel Das königliche Wirken Christi und die königliche Gestalt seines Reiches sind vieldimensional und besitzen große Ausstrahlungskraft nicht nur in Kirchen und Religionen, in der Bildung, in therapeutischen und diakonischen Organisationen und Institutionen, in Moral und Recht. Eine vielleicht nicht ganz so weite Ausstrahlung, aber doch eine deutliche Prägekraft lassen sein priesterliches Amt und die priesterliche Gestalt seines Reiches erkennen (siehe Teil 4.4). Die priesterliche Dimension der Herrschaft Jesu Christi und seines Reiches wurde aufgrund der starken Stimme des Hebräerbriefs oft ganz auf das schwierige Thema „Hohepriester und Opferkult“ konzentriert.1 Jesus Christus ist der von Gott selbst erwählte ewige2 Hohepriester, und er bringt das Opfer nicht im irdischen Tempel, sondern im Himmel dar, „um ein barmherziger und treuer Hoherpriester vor Gottzu sein 1 Hebr 2,17; 3,1; 4,14f; 5,1ff; 6,20; 7,26ff; 8,1ff; 9,7ff.24ff; 10,1ff.10ff; 13,11ff; vgl. Romano Guardini, Der Herr. Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi, Aschaffenburg: Paul Pattloch, Lizenzausgabe 1948, 598ff. 2 „... nach der Ordnung Melchisedeks“, so Hebr 5,6.10; 6,20; 7,1.10.11.15.17 im Anschluss an eine dunkle, das Amt des Königs und des Priesters verbindende Gestalt nach Ps 110,4 u. Gen 14,1-24. Vgl. Erich Gräßer, An die Hebräer (Hebr 16), EKK XVII/1 und (Hebr 7,1-10,18), EKK XVII/2, Zürich/Braunschweig u. Neukirchen-Vluyn: Benziger u. Neukirchener, 1990 u. 1993, Bd. 1: 288ff; Bd. 2: 9f. Gräßer beschreibt Melchisedek nach Gunkel historisch als einen „kanaanäische(n) Stadtkönig mit sakraler Funktion, als Prototyp des jebusitischen Priesterkönigs“, ebd., Bd. 2, 13.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
und die Sünden des Volkes zu sühnen“ (Hebr 2,17).3 Der Hebräerbrief schlägt damit einen großen Spannungsbogen vom von Gott erwählten himmlischen Hohepriester, der zur Rechten Gottes thront (Hebr 1,3; 8,1), bis hin zum Elend des in den Tod gehenden „Hirten seiner Schafe“ (Hebr 2,5-18; 13,20).4 Er spricht so tatsächlich einen zentralen Bereich der Wirksamkeit des erhöhten Christus an. Er erfasst aber nicht die ganze Weite der Anteilgabe an seinem Leben durch die Kraft seines Geistes, und er erfasst auch nur einen Teilbereich seines priesterlichen Wirkens. Gegenüber dieser Engführung des munus sacerdotale5 muss das priesterliche Wirken Jesu Christi in der Weite und Vieldimensionalität des gottesdienstlichen Geschehens überhaupt wahrgenommen werden. Francis Fiorenza hat, wie bereits erwähnt, den Blick dafür geschärft, dass die Erscheinungen des auferstandenen Christus mit dem Friedensgruß, dem Brotbrechen, dem Erschließen der Schrift, mit dem Taufbefehl und der missionarischen Sendung der Jünger Grundgestalten des gottesdienstlichen Lebens der (frühen) Kirche und seiner Ausstrahlungskräfte umreißen.6 Friedensgruß, Abendmahl, Taufe, Schriftauslegung, Sendung – eine Polyphonie der gottesdienstlichen Existenz ist mit dem priesterlichen Amt verbunden, an dem wiederum das „allgemeine Priestertum aller Glaubenden“ Anteil gewinnt und das sich in der priesterlichen Gestalt des Reiches Gottes konkretisiert. „Nach Luthers berühmter Torgauer Formel ist ein Gottesdienst nichts anderes, ‚denn dass unser lieber Herr selbst mit uns redet durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang‘.“7 Christoph Schwöbel charakterisiert diesen gottesdienstlichen Dialog zwischen Christus und der Gemeinde vorbildlich in seiner ganzen Breite:
3 Zur Opfertheologie des Hebräerbriefs siehe Brandt, Opfer als Gedächtnis, 174204 (siehe 3.5, Anm. 17). 4 Vgl. John Macquarrie, Jesus Christ in Modern Thought, London: SCM Press, 1990, 128ff; Samuel Vollenweider, Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament, in: Marburger Jahrbuch Theologie XXIII: Christologie, 28f (siehe zum Jahrbuch 3.3, Anm. 35). 5 Die damit verbundenen Schwierigkeiten haben offensichtlich Karl Barth dazu veranlasst, in seiner Behandlung der Lehre vom dreifachen Amt Christi die Ausführungen über Christus, den Hohepriester, durch Christus, den „an unserer Stelle gerichteten Richter“, zu ersetzen (KD IV/2, 231ff; vgl. dazu 4.1, Anm. 18). 6 Vgl. noch einmal Fiorenza, The Resurrection of Jesus, 213-248, 238ff (siehe 2.5, Anm. 10); vgl. auch Welker, Die Wirklichkeit der Auferstehung, bes. 318ff (siehe 2.5, Anm. 10). 7 Christoph Schwöbel, „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“ (Mt 16,15). Eine systematisch-theologische Skizze zur Lehre von der Person Christi, in: Marburger Jahrbuch Theologie XXIII: Christologie, 47 (siehe zum Jahrbuch 3.3, Anm. 35); zum Luther-Zitat siehe WA 49, 588, 16-18. Vgl. ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, 301ff.
5.3 Priesterliche Gegenwart Christi: Gottesdienst und Taufe
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In den unterschiedlichen Weisen, in denen von Christus im Gottesdienst geredet wird, in den Narrationen der Evangelien, den kerygmatischen Zusagen, lehrhaften Aussagen, liturgischen Formeln und diskursiven Erörterungen der Briefliteratur geht es um das Evangelium, um das Reden Gottes in seinem Wort mit uns, das – auch als Gesetz – seine Pointe im Evangelium hat, der Zusage der erbarmenden Liebe Gottes, die uns als von Gott entfremdeten Geschöpfen Gemeinschaft mit Gott mitteilt. Umgekehrt geht es in unserem Reden zu Christus oder durch Christus zu Gott dem Vater in den Gebetsanreden als Dank, Bitte, Klage und Lobpreis um unser Bedürftigsein nach gewährter Gottesgemeinschaft und in der doxologischen Rede um die Teilhabe an Gottes Herrlichkeit in Christus durch den Geist.8
Schwöbel betont, dass sich in diesem reichen Kommunikationsgeschehen die „personale Gegenwart“ Christi ereignet9, durch die sich 8 9
Schwöbel, „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“, 47. Auch Dietrich Ritschl hat die Frage nach dem Christus praesens durch die Interaktion von Christus und seiner Kirche zu beantworten versucht: „The Church not only knows of the Christus praesens and his work, she is also being dealt with by him. The Church can, therefore, address him in doxological language, although she is incapable of defining the peculiar mode of his existence.“ (Dietrich Ritschl, Memory and Hope: An Inquiry Concerning the Presence of Christ, New York u. London: Macmillan, 1967, 220f. Siehe auch ders., Concerning Christ: Thinking of Our Past, Present and Future With Him, Richmond: 1980, 14ff.) Mit dem Wahlspruch des benediktinischen Mönchtums „ora et labora“ hat Ritschl die doxologische Existenz der Kirche mit ihrer diakonischen Sendung verknüpft (vgl. Memory and Hope, 225ff). In späteren Schriften hat er die Diakonie auf das therapeutische Wirken zugespitzt und ein Leben in therapeutischer und doxologischer Grundhaltung als „Auslegung des Doppelgebotes der Liebe (Mt 22,37-40)“ angesehen (Ritschl, Zur Logik der Theologie, 338 [siehe 4.3, Anm. 26]). – Ritschls Schüler haben diese Anliegen mit Überlegungen zu einer Geistchristologie und einer Weisheitschristologie weiter verfolgt. Ulrike Link-Wieczorek hat in einer Studie zu angelsächsischen Inkarnations-Christologien und Geistchristologien (Ulrike Link-Wieczorek, Inkarnation oder Inspiration? Christologische Grundfragen in der Diskussion mit britischer anglikanischer Theologie, FSÖTh 84, Göttingen: Vandenhoeck, 1998) Gottes Öffnung für die an der Offenbarung teilhabenden Menschen und die Beteiligung der Zeuginnen und Zeugen am Leben des Auferstandenen thematisiert. Die Geistchristologie ist nach Link-Wieczorek der Ort, von dem wir auszugehen haben, wenn wir von der Inkarnation, der Fleischwerdung des Wortes, in rechter Weise sprechen wollen. Die Inkarnation wird als solche erkennbar, indem deutlich wird, dass bereits im vorösterlichen Leben Jesu „die Fülle der Gottheit leibhaftig gegenwärtig“ ist, dass hier bereits die Kräfte des ewigen, des gültigen Lebens am Werk sind, auch wenn diese Kräfte noch vor Kreuz und Auferstehung dem Unverständnis, dem Missverständnis, der Verachtung und dem Widerstand der Menschen unterworfen bleiben. Durch Kreuz und Auferstehung wird offenbar, dass die Verkündigung des kommenden Reiches durch Jesus von Nazareth bereits die Gegenwart Gottes unter den Menschen ansagte, die durch das Leben des Auferstandenen im Geist mit seinen Zeuginnen und Zeugen dann irdische Gestalt gewinnt (ebd., 240ff). – Michael Preß hat ein breites Spektrum von „trinitarisch geprägten“ Geistchristologien in biblischen Überlieferungen und neueren theologischen Entwürfen rekonstruiert. Sein eigener Entwurf ist stark beeindruckt von Boris Bobrinskoy, Le Mystère de la Trinité. Cours de théologie orthodoxe, Paris: Les éditions du Cerf, 1986: „Bobrinskoys Christologie greift die besten or-
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
uns nicht nur der erhöhte Christus zuwendet und zu erkennen gibt, sondern auch der angemessene Zugang zu Gott dem Schöpfer und dem Heiligen Geist erschlossen wird.10 Der recht verstandene und recht gefeierte Gottesdienst dient der Erschließung, Festigung und Vertiefung der Gotteserkenntnis. Und diese Gotteserkenntnis ist immer auch Heilserkenntnis. Der recht gefeierte Gottesdienst erschließt damit nicht einfach einen optimierten Gottesgedanken oder eine optimierte religiöse Empfindung. Er versetzt hinein in ein Beziehungsgeschehen, in dem der erhöhte Christus als Sohn Gottes die Herrlichkeit des dreieinigen Gottes und die Weite von Gottes schöpferischem Wirken offenbart. Dieses Offenbarungsgeschehen ist nicht erwartbar mit geistlichen, emotionalen und intellektuellen Spitzenerfahrungen verbunden, obwohl sich diese durchaus im Gottesdienst ereignen können. Gottes Person und Gottes Leben wollen interessant, vertraut und bewegend werden, Gottes Person und Gottes Leben wollen interessant, vertraut und bewegend bleiben, Gott und Gottes Leben wollen den Menschen zugute kommen – in dieser anspruchsvollen Bescheidenheit der göttlichen Selbstvergegenwärtigung vollzieht sich häufig der Erlebnis- und Erkenntnisfluss des gottesdienstlichen Geschehens in vielen Kirchen und Gemeinden auf dieser Erde.11 Durch die Einheit mit Jesus Christus wird der Schöpfer als gütiger Gott und Vater erkennbar. Durch die Einheit mit Jesus Christus wird der Heilige Geist erfahrbar als der Geist, der die Menschen liebevoll rettet und erhebt, ihnen Anteil gibt am Leben des Auferstandenen und Erhöhten. Klassisch formuliert dies Luther in der Auslegung des Dritthodoxen Traditionen auf: die Verwurzelung der theologischen Reflexion in der liturgischen Praxis, das vielperspektivische trinitarische Denken und die Gleichwertigkeit von Geist und Christus. Eine ausgeführte Christologie fehlt aber“ (Michael Preß, Jesus und der Geist. Grundlagen einer Geist-Christologie, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 2001, 31). Preß schwebt eine durch Gebet und Verkündigung geprägte Christologie vor, die zu einer trinitätstheologisch orientierten „regulativen und doxologischen Rede von der eschatologischen Vollendung Gottes in seiner Gemeinschaft mit den Menschen“ Anlass gibt (ebd., 293). 10 Vgl. Schwöbel, „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“, 50ff (siehe 5.3, Anm. 7). 11 Den damit verbundenen großen Reichtum stellt eindrücklich dar Christoph Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes, Praktische Theologie und Kultur 2, Gütersloh: Kaiser, 2000, bes. 217ff. Dafür, dass die mit gemeindlicher Versammlung, gottesdienstlicher Konzentration und inhaltlich-theologischer Verkündigung verbundene Ausstrahlungskraft für das Selbstverständnis und die Neuorganisation der Kirche orientierend werden sollte, plädiert Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh: Gütersloher, 2010; siehe auch die Diskussion in: dies. (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Arbeiten zur Praktischen Theologie 41, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2009; zur starken Ausstrahlungskraft des gottesdienstlichen Christus praesens in die diakonische und prophetische Gestalt des Reiches Gottes hinein siehe John B. Cobb, Christ in a Pluralistic Age, Philadelphia: Westminster, 1975, 177ff.
5.3 Priesterliche Gegenwart Christi: Gottesdienst und Taufe
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ten Glaubensartikels: „Denn wir könnten … nimmermehr dazu kommen, dass wir des Vaters Huld und Gnade erkennten, ohne durch den HERRN Christus, der ein Spiegel ist des väterlichen Herzens, außer welchem wir nichts sehen denn einen zornigen und schrecklichen Richter. Von Christus aber könnten wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den Heiligen Geist offenbart wäre.“12 Das „Wissen von Christus“ ist nicht ein Sammeln von trockenen Informationen über ihn. Die Offenbarung Jesu Christi durch den Heiligen Geist berührt, ergreift und verwandelt die Menschen, die sich als „die Seinen“ angenommen sehen und verstehen. Durch die Verkündigung und das gottesdienstliche Geschehen begegnet ihnen Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch, als Bruder und Freund, der einer der ihren war und ist, und als Gott und Herr, der sie rettet und erhebt. Treffend formuliert Christoph Schwöbel: In der Einheit seiner Person, die durch die Beziehung zu Gott dem Vater und den Geist konstituiert ist, lebt Christus als der Sohn Gottes das wahrhafte Gottsein und als menschliches Ebenbild Gottes wahrhaftes Menschsein im Leben eines wirklichen Menschen.13
Als menschliches Ebenbild Gottes stellt Jesus Christus den Menschen nicht ein unerreichbar „ideales Menschsein“ vor Augen, sondern die vollendete göttliche und menschliche Liebe und Güte, die die Mitmenschen und Geschöpfe ergreifen und ihnen an der Gemeinschaft von Gott und Mensch Anteil geben will. In besonders klarer und intensiver Weise wird dieses Geschehen in den sakramentalen Feiern von Taufe und Abendmahl offenbar. Sie werden von der Kirche im Auftrag Jesu Christi (Mt 28,19f) und nach seinem Vorbild gefeiert. In der immer neuen Überprüfung, ob die Sakramente der Weisung Jesu Christi und den biblischen Überlieferungen gemäß gefeiert werden, lässt sich die Kirche vom priesterlichen Wirken Jesu Christi leiten. In der Taufe vollzieht sich an den getauften Menschen ein Herrschaftswechsel.14 Als „natürliche Wesen“ sind sie eingebunden in die von Gott für „gut“ (hebräisch TOB, d. h. lebensförderlich) erklärte Schöpfung, die aber von göttlichen und paradiesischen Verhältnissen
12 Großer Katechismus, in: BSLK, 660; Schreibweise leicht modernisiert, M. W. (siehe Einleitung, Anm. 2). 13 Schwöbel, „Wer sagt denn ihr, dass ich sei?“, 54 (siehe 5.3, Anm. 7); diese Lebendigkeit der Christusgegenwart bringt die Rede vom „metaphysical Christ“ in eine ständige Defensive; vgl. John Macquarrie, Christology Revisited, London: SCM Press, 1998, 98ff, bes. 99; Edward Farley, Divine Empathy: A Theology of God, Minneapolis: Fortress, 1996, 278ff. 14 Der folgende Text wurde teilweise beigetragen zu: Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche, hg. EKD, Gütersloh: Gütersloher, 2008, 30ff.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
deutlich unterschieden ist.15 Geschöpfliches, menschliches Leben ist immer gefährdetes Leben. Es ist bedroht durch Krankheit, Not und Sterblichkeit. Es ist darüber hinaus beständig bedroht durch selbstverschuldete oder erlittene Gleichgültigkeit, Gewalt und Grausamkeit, nicht nur individuell verursacht, sondern auch in gemeinsam geplanter, organisierter Gestalt. Leiden und Tod, Not und die Macht der Sünde begleiten und umgeben geschöpfliches Leben. Wird in der Taufe nur das „Geschenk des neugeborenen Kindes“ und die „gute Gabe eines neuen irdischen Lebens“ gefeiert, so wird das, was in der Taufe vollzogen wird, nur zu einem Bruchteil erfasst. In der Taufe nimmt der schöpferische und rettende Gott die getauften Menschen öffentlich, zeichenhaft erfahrbar und zeugnisfähig in eine Lebensgemeinschaft hinein, die das irdische, hinfällige, endliche und durch die Mächte der Bosheit und Sünde vielfältig gefährdete Leben schöpferisch durchdringt und rettend übersteigt. Günter Thomas beantwortet die Frage: „Was geschieht in der Taufe?“ mit der Aussage, es geschehe die „Wendung eines von Gott gewürdigten Lebens zur Inanspruchnahme für das Reich Gottes“16. In der Taufe feiern die Getauften und mit ihnen die ganze Kirche Jesu Christi die göttliche Zusage und Verheißung einer Lebensgemeinschaft mit Gott, die ihr irdisches Leben trägt, zu einer besonderen Würde erhebt und rettend auch über den irdischen Lebensvollzug hinaus bewahrt. Deshalb muss die christliche Taufe mit der Rede und mit der Erklärung von schwer verstehbaren, für viele Menschen anstößigen Wörtern verbunden bleiben: x Befreiung von den Mächten der Sünde und des Todes; x Bewahrung zum ewigen Leben; x Gemeinschaft mit Christus und mit dem lebendigen Gott; x Begabung mit der Kraft und den Kräften des Geistes. Diese Dimensionen und Gaben des „neuen Lebens“ werden im Glauben dankbar angenommen und erschlossen. Mit der Taufe ereignet sich das Geschenk der Fülle des Glaubens, der viel mehr ist als ein Gott irgendwie zustimmendes „Ja“ des Menschen.17 Es ereignet sich die gütige und gnädige Zuwendung Gottes zu den getauften Menschen,
15 Gen 1,4.10.12.18.21.25.31; vgl. Michael Welker, Was ist Schöpfung? Zur Subtilität antiken Weltordnungsdenkens, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2006, Universitätsverlag Winter: Heidelberg, 2007, 84-88. 16 Günter Thomas, Was geschieht in der Taufe? Das Taufgeschehen – zwischen Schöpfungsdank und Inanspruchnahme für das Reich Gottes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011, 43; vgl. auch Miroslav Volf, After Our Likeness: The Church as the Image of the Trinity, Sacra Doctrina, Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 1998, 152ff. 17 Zur doppelten Objektivität des Glaubens, die die subjektive Zustimmung und das persönliche Bekenntnis trägt und übergreift, siehe Teil 0.5.
5.3 Priesterliche Gegenwart Christi: Gottesdienst und Taufe
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durch die Gott sie befähigt, ein von ihm begründetes tiefes und reiches Vertrauensverhältnis zu ihm zu gewinnen.18 Die christliche Taufe ist an der Taufe Jesu orientiert19, so wie sich die Feier des Abendmahls an der Einsetzung des Mahls durch Jesus von Nazareth ausrichtet. Beide Sakramente werden nur dann in ihrer vollen Bedeutung erfasst, wenn die in ihnen zugesagte „Befreiung von der Macht der Sünde“ ernst genommen wird. Die Menschen werden befreit von der Angst, Sorge und Lähmung durch die inneren und äußeren Mächte, die sie zu bewusster oder unbewusster Abwendung von Gott und ihren Mitmenschen treiben, mit ihren vielen verheerenden Folgen.20 Die Tiefendimension dieser Befreiung lässt sich erkennen, wenn wir fragen, was die Taufe Jesu für ihn selbst bedeutet.
18 Dieses persönliche Vertrauensverhältnis findet seinen stärksten Ausdruck im Gebet. Luther hat für seinen Freund, den Barbier und Wundarzt Peter Beskendorf, eine bewegende Anleitung geschrieben: „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund“, in der er die Schwierigkeiten mit dem Gebet und dessen Segen beschreibt. Er zeigt, wie das Gebet vor Gottes Angesicht – orientiert am Vaterunser, an Psalmen, am Glaubensbekenntnis, an den Zehn Geboten – vom Nachdenken über sich selbst und die Mitmenschen begleitet werden kann. Wir sollen uns im Gebet 1) belehren lassen, nachdenken über Gott und uns, sehen, was Gott uns schenkt und von uns erwartet, 2) Gott danken, 3) Gott beichten, 4) Gott um seine Hilfe anrufen. Luther spricht von einem „vierfachen Kränzlein“ im Gebet, das er täglich binde. (Ulrich Köpf / Peter Zimmerling [Hg.], Martin Luther. Wie man beten soll. Für Meister Peter den Barbier, Göttingen: Vandenhoeck, 2011.) Siehe auch Wolf Krötke, Beten heute, Evangelium konkret, München: Kösel, 1987, 11ff; Rudolf Bohren, Das Gebet 1, edition bohren 2, hg. Manfred Josuttis, Waltrop: Spenner, 2003, 49ff; zur Differenzierung von Bitte und Klage, Lob und Dank siehe Eva Harasta, Lob und Bitte. Eine systematisch-theologische Untersuchung über das Gebet, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2005, bes. 37ff u. 233ff; Rudolf Bohren, Das Gebet 2, edition bohren 4, hg. Manfred Josuttis, Waltrop: Spenner, 2005, 99ff, 251ff; zum Gebet als Schlüssel zur Gotteslehre siehe Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I: Prolegomena, Erster Teil: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt, Tübingen: Mohr Siebeck, 1979, 192-240; zur Weite der biblischen Gebetsorientierung, besonders im Alten Testament, siehe das große Werk von Patrick D. Miller, They Cried to the Lord: The Form and Theology of Biblical Prayer, Minneapolis: Fortress, 1994. Miller erschließt auch fruchtbare Ansätze zu einer Religionen übergreifenden Gebetspraxis. Zu deren Chancen und Schwierigkeiten siehe Hermann Barth, Im Namen Jesu Christi beten. Beobachtungen und Folgerungen zur Frage des gemeinsamen Gebets von Christen und Angehörigen anderer Religionen, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 391-405 (siehe 1.5, Anm. 5). 19 Mt 3,13ff; Mk 1,9ff; Lk 3,21ff. 20 Im Blick auf das Abendmahl ist daran zu erinnern, dass es in der „Nacht des Verrats“ gestiftet wird. Es wird eingesetzt, um die Menschen immer wieder neu aus der Gefangenschaft durch die Mächte dieser Welt zu befreien und in Gottes Frieden hineinzuführen (siehe dazu Teil 5.4). Auch die christliche Taufe dient dieser Hineinnahme in die Gottesherrschaft, der bleibenden Hineinnahme in den Frieden Gottes.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
Der Bericht von Jesu Taufe ist ein Bericht von seiner Einsetzung zu weltgeschichtlicher, genauer: schöpfungsgeschichtlicher und eschatologischer Wirksamkeit. Er spricht davon, dass der getaufte Jesus ein einzigartiges Verhältnis zum Schöpfer hat, den er als gütigen Vater offenbart, und zu den göttlichen Kräften „aus der Höhe“. Er hat Teil an diesen göttlichen Kräften, und er gibt Anteil an diesen Kräften. Die biblischen Texte drücken das mit dem Bild aus, dass sich die Himmel über dem getauften Jesus öffnen und dass der Geist Gottes auf ihn herabkommt.21 Die „Öffnung des Himmels“ ist für die biblischen Überlieferungen nicht nur ein Naturphänomen. Wohl kommen Licht und Wasser, Wärme und Kälte vom Himmel. Wohl wird das Leben auf dieser Erde ganz entscheidend von den natürlichen Kräften „aus der Höhe“ beeinflusst und geprägt. Aber „die Himmel“ sind nach den biblischen Überlieferungen auch der Ort der kulturellen und geistlichen Mächte und Kräfte, die uns Menschen unverfügbar sind, die uns überkommen, die das Leben auf dieser Erde in einer Weise steuern und lenken, die wir kaum oder gar nicht beeinflussen können.22 Indem Jesus sich taufen lässt, öffnet sich über ihm dieser Machtbereich. Auf ihn kommt die schlechthin gute, schöpferische, lebensförderliche, rettende Kraft Gottes herab: der Heilige Geist. Diesen Geist Gottes, der nach der Taufe auf Jesus Christus ruht, behält er nicht für sich. Er gibt denen Anteil an diesem Geist, an dieser Kraft Gottes, die auf seinen Namen bzw. auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft werden.23 Mit seiner Bitte um die Taufe tritt Jesus ausdrücklich in den Kreis der Menschen, die ihre teils hilflose, teils schuldhafte Verstrickung in irdische Ordnungen und Mächte und damit ihre Gefangenschaft durch die Macht der Sünde erkennen. Er tritt in den Kreis der Menschen, die 21 Der sich in allen Evangelien findende Vergleich, dass der Geist Gottes auf ihn herabkommt „wie eine Taube“ (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22; Joh 1,32), könnte (vgl. 1Petr 2,20f) an die Erzählung von Noahs Taube mit der Botschaft von der Rettung nach der Sintflut Gen 8,8ff anschließen; vgl. Thomas, Taufe, 47 (siehe 5.3, Anm. 16). 22 Siehe Welker, Universalität Gottes, 203ff (siehe 3.5, Anm. 17); Barth, KD III/1, 109ff, u. III/3, 490ff; Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, 56ff (siehe 0.5, Anm. 13); daran anschließend Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München: Kaiser, 1985, 173ff; Isolde Karle, „Erzählen Sie mir was vom Jenseits.“ Die Bedeutung des Himmels für die religiöse Kommunikation, EvTh 65 (2005), 334-349; Günter Thomas, Hoffen auf einen ‚Neuen Himmel‘. Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht, ebd., 382-397; ders., Neue Schöpfung. Systematisch-theologische Untersuchungen zur Hoffnung auf das „Leben in der zukünftigen Welt“, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2009; Michael Welker, Schöpfung des Himmels und der Erde, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 20 (2005): Der Himmel, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 2006, 313-323. Den Zusammenhang von himmlischer Existenz Jesu und „Einheit mit dem Vater“ beleuchtet in vielen Perspektiven Robert W. Jenson, Systematic Theology, Vol. 1: The Triune God, New York / Oxford: Oxford Univ. Press, 1997, 90ff u. 194ff. 23 Vgl. Teil 4.2.
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sich der Herrschaft Gottes unterstellen und in der Gemeinschaftstreue Gottes leben wollen. In der Taufe geht es nicht nur – und nicht einmal zuallererst – um die Reinigung von persönlicher Schuld und Verfehlungen. Es geht um die Ausrichtung unseres Lebens auf einen neuen Herrn, auf Gott selbst und auf Gottes Reich. Nicht die Weltmacht – zu Jesu Zeit die Römer, in unserer Zeit vielleicht der entfesselte Kapitalmarkt –, aber auch nicht irgendeine Religion oder Ideologie herrscht in letzter Instanz über uns. Gott selbst bzw. der Messias Gottes, der Gottes Gerechtigkeit und Liebe mit sich bringt, ist unser Herr. Dies wird in der Taufe bekannt und anerkannt und im Glauben angenommen. Deshalb ist die Taufe für alle Zeiten ein revolutionärer Akt und ein radikaler Herrschaftswechsel. Mit der Taufe werden die Getauften nicht nur der Herrschaft Christi und des dreieinigen Gottes „unterstellt“. Sie werden an ihr beteiligt. Mit der Taufe erhalten sie Anteil an Jesu königlichem, priesterlichem und prophetischem Amt. Die damit verbundene radikale Veränderung hierarchischer Gemeinschaftsformen ist in den biblischen Erzählungen von der Taufe Jesu durch Johannes besonders deutlich im Blick auf die Priesteraristokratie erkennbar. Johannes provoziert mit der Taufe als Reinigungsritus die Priesterhierarchie in Jerusalem und den Tempelkult. Die Taufe Jesu treibt diese Provokation auf die Spitze. Warum? Der Kult und die Opferhandlungen im Jerusalemer Tempel, die von der Taufe des Johannes provokativ ersetzt werden, fanden am JomKippur, dem alljährlichen großen Versöhnungstag, ihren Höhepunkt (vgl. Lev 16). Nur an diesem Tag wurde der Name Gottes ausgesprochen. Nur an diesem Tag trat der Hohepriester hinter dem Vorhang in das Allerheiligste, um durch einen Blutritus für sich, für das Heiligtum und für ganz Israel Sühne zu schaffen. Nur an diesem Tag trat der Hohepriester vor die Bundeslade, die Begegnungsstätte zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Welt. Von der Vorbereitung des Hohepriesters auf den Tag der direkten Begegnung mit Gott heißt es Lev 16,4: „Ein geweihtes Leinengewand ... soll er anhaben, er soll seinen ganzen Körper in Wasser baden.“ Die Geschichte von der Taufe Jesu, von der Transparenz zwischen Himmel und Erde und von der direkten Begegnung mit Gott spielt offenbar auf den großen Versöhnungstag an. Doch nicht mehr der Hohepriester, nicht mehr der Tempel, nicht mehr der Jom-Kippur und nicht mehr das kultische Opfer sind Instanz, Raum, Zeit und Medium der Begegnung. Die direkte Begegnung Jesu mit Gott ereignet sich am Jordan, nachdem Jesus seinen ganzen Körper in Wasser gebadet hat.24 24 Auch die zweite Geschichte in den neutestamentlichen Überlieferungen, die von einer Beglaubigung Jesu vom Himmel herab spricht, die sogenannte Verklärungsgeschichte, spielt offenbar auf den Reinigungsritus am großen Versöhnungstag an, wenn es dort heißt, dass Jesu Kleider „blendend weiß wie Licht“ werden (Mt 17,2; Mk 9,3; Lk 9,29). Reinigungsbad, helles, heiliges Gewand – eine Anspie-
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Die Theophanie und die Autorisierung Jesu durch Gottes Wort und durch den Heiligen Geist weisen auf ihn als den von Gott gewollten Vertreter Gottes hin. Vom Himmel her wird Jesus direkt als Sohn Gottes autorisiert. Die Synoptiker sprechen von einer Stimme, die Jesus selbst wissen lässt: „Du bist mein lieber Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen!“ (Mk 1,11; Lk 3,22; Mt 3,17: „Das ist mein geliebter Sohn“) oder die sogar das umstehende Volk zu Zeugen dieser Autorisierung macht. An dieser direkten Autorisierung Jesu durch Gott, die – wie der Herrschaftswechsel – im Glauben erkannt, ergriffen und angenommen wird, gewinnen diejenigen Anteil, die auf Jesu Namen bzw. auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft werden. Die Dramatik dieses Geschehens, dieses Herrschaftswechsels, wird von Paulus so ausgedrückt: So sind wir ja mit Christus begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden sind und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in der Auferstehung gleich sein. Wir wissen doch, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, so dass wir hinfort der Sünde nicht dienen (Röm 6,4-6).
Diese Aussagen sind nicht nur für unser heutiges Bewusstsein schwer nachvollziehbar. Auf jeden Fall scheinen sie in tiefem Konflikt mit der weit verbreiteten Kindertaufpraxis zu stehen. Wer kann die neugeborenen Kinder mit Sünde und Kreuz zusammenbringen? Wer kann sie als „unseren alten Menschen“ bezeichnen, der – wenn auch nur zeichenhaft – durch den Tod hindurchgehen sollte? Annahme als Kind Gottes – das passt zur Kindertaufe. Taufe auf den Tod Jesu – das hingegen klingt nach einer düsteren und weltfernen Theologie, die wir am liebsten ganz hinter uns ließen. Doch bei Paulus steht hinter seinen Worten die Einsicht, dass die Bindungen dieser Welt einschließlich unserer fleischlich-leiblichen Existenz zu Bindungen werden können, die uns versklaven, die uns unter die Macht der Sünde geraten lassen, die uns von Gott und von dem uns durch Gott bestimmten Leben entfernen. Paulus und andere neutestamentliche Überlieferungen verstehen die Taufe deshalb als einen Akt, der uns an einem neuen Leben Anteil gibt, in dem wir von diesen Mächten frei werden. Gott will uns am göttlichen Leben Anteil geben. In der Taufe gehen wir deshalb zeichenhaft durch den Tod hindurch, um auf die Auferweckung mit Christus vorbelung auf den Hohepriester am großen Versöhnungstag liegt wohl in beiden Ereignissen vor. Zur Verklärungsgeschichte als Antizipation der Auferstehung in orthodoxer und protestantischer Sicht siehe Vasile Cristescu, Die Anthropologie und ihre christologische Begründung bei Wolfhart Pannenberg und Dumitru Staniloae, Internationale Theologie 9, Frankfurt u. a.: Peter Lang, 2003, 234ff.
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reitet zu werden und am ewigen Leben Gottes schon hier und heute Anteil zu bekommen.25 Die Taufe ist ein Akt der Erneuerung, ein Akt, in dem Menschen zu Kindern Gottes werden und zugleich den Mächten dieser Welt zeichenhaft entzogen, ja entrissen werden. Dieser Akt kann in jeder Phase des menschlichen Lebens vollzogen werden. Er kann durchaus schon am Beginn des menschlichen Lebens erfolgen. Schon an seinem Beginn kann dieses irdische und zeitliche Leben zeichenhaft hineingenommen werden in das ewige Leben, nämlich in das Leben mit Gott und aus Gott.26 Dieser Eintritt in das neue Leben mit Gott ist mit einer so radikalen Ablösung von den Mächten und Kräften dieser Welt verbunden, dass nur die Rede vom Tod, ja vom Tod am Kreuz diese Radikalität, diese Einmaligkeit des Herrschaftswechsels erfasst.27 Am Kreuz wird die Situation der völligen Hilflosigkeit und Verlorenheit der Welt unter der Macht der Sünde Ereignis. Eine neue Schöpfung aus dem Chaos kann allein diese Situation überwinden. Die Taufe auf den Namen Jesu, die Taufe auf den Namen des dreieinigen Gottes bezeugt eine solche radikale Wende des menschlichen Lebens. Durch die Taufe lassen Menschen sich von den rettenden Kräften Gottes erfüllen, die aus Tod und Chaos heraus neues Leben schaffen.28 Die Taufe setzt den Wechsel unter die Herrschaft Jesu Christi, die zugleich Bruderschaft und Freundschaft ist, voraus, kommt von ihm her und nimmt seine Lebensgemeinschaft dankbar an. Jesu Taufe durch Johannes ist verbunden mit einer Offenbarung der Heilsbedeutung Jesu Christi: „Und alle Geschöpfe werden das Heil Gottes sehen ...“ (Lk 3,6). Joh 1,29ff hebt ausdrücklich diese auf das Heil hinweisende Bedeutung der Taufe durch Johannes hervor: Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: 25 Dazu Edmund Schlink, Die Lehre von der Taufe, Kassel: Stauda, 1969, bes. 43ff; aber auch John Behr, The Mystery of Christ: Life in Death, Crestwood: St. Vladimir’s Seminary Press, 2006, 96f, 117f. 26 Zur umsichtigen Diskussion der Probleme der Kindertaufe siehe Wolfram Kerner, Gläubigentaufe und Säuglingstaufe. Studien zur Taufe und gegenseitigen Taufanerkennung in der neueren evangelischen Theologie, Heidelberg: W. Kerner, 2004; zur radikalen Absage an sie siehe Barth, KD IV/4, 186ff; dazu wiederum Kerner, Gläubigentaufe, 115f. 27 Vgl. Teil 3.1 u. 3.4. 28 Diese radikale Wende halten altkirchliche, aber auch alt- und mittelhochdeutsche und orthodoxe Taufformeln in Erinnerung, die von der wiederholten Absage an den Teufel, an den Satan, sprechen, um den Herrscher- und Herrschaftswechsel, der in der Taufe stattfindet, zu verdeutlichen. Demgegenüber muss man allerdings fragen, ob Menschen dem Bösen tatsächlich aus eigener Kraft wirksam „absagen“ können. Auch ohne die dunklen Kontraste können wir zeigen, dass die christliche Taufe nicht eine Umkehr ins Ungewisse und Offene hinein ist, sondern eine Taufe auf den Namen Jesu Christi.
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Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Auch ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbar werde, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser.
Dieser Jesus, auf den der Geist herabkommt, der als Gottes Sohn ausgewiesen wird, tauft selbst nicht mit Wasser, sondern mit dem Heiligen Geist. Er verleiht die Kraft des Geistes, die den Glauben, die Liebe und die Hoffnung und eine Vielzahl von Geistesgaben in den Menschen freisetzt und die damit der Sünde und den Mächten dieser Welt entgegenwirkt. Die Taufe mit dem Heiligen Geist und die verliehene Macht des Geistes ist kein Numinosum und schon gar nicht eine magische Angelegenheit. Sie ist geprägt von Jesu Person und Leben, von seiner Verkündigung und von seinem Wirken. Die getauften Menschen werden von der Identität Jesu, von seiner Person und von seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferweckung geprägt (vgl. Kol 2,12). Deshalb nennen sie sich Christinnen und Christen. Sie beziehen den Namen Jesu Christi auf sich selbst, auf ihre eigene Identität. Auch dies wird im Glauben angenommen. Obwohl diese Identität strikt empfangen wird, obwohl sie den Menschen geschenkt wird, mündet sie nicht in eine passive Grundhaltung. Im Gegenteil. Die Menschen, die ja nicht nur mit Wasser, sondern auch mit dem Geist Christi getauft sind, werden an Christi Macht und Herrschaft beteiligt. Sie werden befähigt, Gott zu verherrlichen in Worten und in Taten. Sie werden gesendet. Sie werden zu einer missionarischen Existenz als Zeuginnen und Zeugen befähigt. Diese missionarische Existenz findet Ausdruck im helfenden Handeln, in festlichem Zusammenleben29 und in Verkündigung, Lehre, gemeinsamer gottesdienstlicher Feier bis hin zur Taufe anderer Menschen. Die Bindung der missionarischen Existenz an Jesu Identität und an sein Kreuz in Taufe und Lehre ist wichtig, um sie immer wieder neu von imperialen und kolonialistischen Formen der „Integration ins Christentum“ zu unterscheiden, die in der Geschichte der Kirche zur Herrschaft gekommen sind und leider immer wieder zur Herrschaft kommen. Durch die Taufe und die Lehre erinnern die Zeuginnen und Zeugen sich und ihre Mitmenschen an die Gefahr, dass auch die Religion und auch der eigene Glaube unter die Macht der Sünde geraten können. Die Taufe auf den Namen Jesu und auf den dreieinigen Gott, die strenge Orientierung an ihm und an seinem Leben, seinem Wirken und seiner Weisung wirkt dieser Gefahr entgegen. Sie erfordert deshalb aber auch ein entschiedenes Engagement in der Bildung, beginnend in der geistlichen Kleinkinderbildung, Kinderbildung und Jugendbildung. „Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“ (Gal 3,27). Christus als Gewand, die Getauften als mit Christus bekleidet – diesen Schutz, diese Festlegung der öffentlichen Identität 29
Zur Teilhabe am königlichen Amt siehe Teil 4.4.
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und diese persönliche Geborgenheit verbindet Paulus mit einer revolutionären Gleichstellung der getauften Menschen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau: denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). 1Kor 12,13 formuliert entsprechend: „Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt.“ Durch die Taufe werden Freiheit und Gleichheit unter den Menschen geschaffen und ausgebreitet, wie sie für die recht verstandene Königsherrschaft Christi charakteristisch sind.30 Indem alle Getauften Christus als Gewand anziehen, werden sie aber nicht uniformiert und vereinheitlicht, sondern sie erhalten verschiedene Gaben und Kräfte des Geistes, durch die sie miteinander und füreinander Gott bezeugen und Gottes Willen erschließen. Sie werden zu verschiedenen Gliedern am Leib Christi. Die in politischen, biologischen und sonstigen Differenzen angelegten Herrschaftsverhältnisse werden „aufgehoben“. Sie werden relativiert und aufbewahrt in einer freien und gleichen Gemeinschaft und in einer Einheit, die die schöpferischen Verschiedenheiten der Geistesgaben zur Entfaltung bringt. Klare politische, militärische und andere Hierarchien entsprechen nicht der Gemeinschaft der auf Christus Getauften. Das menschlichallzumenschliche Bilden von Interessengruppen, von Gruppen, die auf bestimmte Leitbilder und Führungspersönlichkeiten konzentriert oder gar fixiert sind, muss im Herrschaftsbereich Christi immer wieder problematisiert und relativiert werden. 1Kor 1,13 reagiert Paulus auf Streitigkeiten von Leuten, die sich zu Paulus, zu Apollos, zu Kephas, aber auch zu Christus rechnen. Kritisch fragt er: „Seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden?“ Mit der Taufe werden wir nicht auf Paulus, nicht auf Martin Luther, nicht auf den Papst oder die Kirche, nicht auf eine bestimmte Konfession getauft, sondern auf den Namen Jesu Christi und auf den Namen des dreieinigen Gottes. Die Annahme der Identität Christi verbindet die Getauften mit dem Gott Israels und dem Schöpfer der Welt sowie mit dem Geist Gottes, der „mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und zugleich geehrt wird“.31
30 31
Vgl. Teil 4.4. Vgl. Teil 5.2. Die Annahme der Identität Christi und das dem dreieinigen Gott Zugerechnetwerden bzw. Sich-Zurechnen ist für die christliche Taufe elementar. Deshalb ist die Taufe ein Band ökumenischen Friedens. Vgl. Friederike Nüssel / Dorothea Sattler, Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, 73f u. 148f; und die Erklärung zur wechselseitigen Taufanerkennung im Magdeburger Dom vom 29. April 2007, Konvergenzerklärungen der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Taufe, Nr. 6.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
5.4 Das Abendmahl / die Eucharistie: Kultische Gegenwart des erhöhten Christus und des dreieinigen Gottes. Ökumenische Aufgaben Fast alle Kirchen dieser Welt stimmen darin überein: Das Abendmahl ist Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens. Aus intensiven Gesprächen zwischen den großen Kirchen auf Weltebene seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts gingen „Dokumente wachsender Übereinstimmung“1 hervor, was die Bestimmung, die Bedeutung und den rechten Vollzug der Feier des Abendmahls bzw. der Eucharistie angeht. Einig sind sich die Kirchen darin, dass sie das Sakrament im Auftrag Jesu Christi feiern. Deshalb sind die biblisch bezeugten Worte der Einsetzung des Abendmahls zentral für die Orientierung und für die Verständigung zwischen den Kirchen bei offenen Fragen oder wenn es bei bestimmten Fragen sogar zu Konflikten kommt.2 Zum Gedächtnis Jesu Christi Nach der gewichtigen Überlieferung des Paulus, aber auch nach Lukas3 soll das Abendmahl zum Gedächtnis Jesu Christi gefeiert werden: Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, nahm er das Brot, dankte, brach es und sprach: „Dies ist mein Leib, für euch (gegeben). Dies tut zu meinem Gedächtnis!“ Ebenso auch den Kelch nach dem Mahl mit den Worten: „Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis!“ 1 Die sogenannten „Konsenstexte“ sind veröffentlicht in drei großen Sammelbänden: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, hg. Harding Meyer u. a., Paderborn u. Frankfurt: Bonifatius u. Lembeck, Bd. I (1931-1982), 2. Aufl. 1991; Bd. II (1982-1990), 1992; Bd. III (1990-2001), 2003 (die Bände werden zit.: Dokumente mit Bandnummer). Die Dialogergebnisse werten aus André Birmelé, Le Salut en Jésus Christ dans les dialogues oecuméniques, o. O., Les Éditions du Cerf u. Éditions Labor et Fides, 1986, 131ff; Eckhard Lessing, Abendmahl, Bensheimer Ökumenische Studienhefte 1, Göttingen: Vandenhoeck, 1993 (zit.: Lessing, Abendmahl); Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl?, Gütersloh: Gütersloher, 4. Aufl. 2012 (zit.: Welker, Abendmahl). 2 Ich habe vorgeschlagen, von einer „Wahrung der eucharistischen Sukzession durch Schrifttreue“ zu sprechen und auf dieser Basis eine vertrauenswürdige und wahrheitsorientierte ökumenische Gesprächsgrundlage zu suchen, die allerdings auch der Selbstkritik auf protestantischer Seite dienen muss. Dazu aufschlussreich Lidija Matošević, Lieber katholisch als neuprotestantisch. Karl Barths Rezeption der katholischen Theologie 1921-1930, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2005, bes. 75ff. Zum Folgenden ausführlicher: Lessing, Abendmahl; Welker, Abendmahl. Vgl. auch Isolde Karle, Eucharistie oder Abendmahl? Zur sakramentalen Präsenz Jesu Christi, in: Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus, 299-318 (siehe zum Buch 1.5, Anm. 5). 3 Lk 22,19: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“
5.4 Priesterliche Gegenwart Christi im Abendmahl
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Denn sooft ihr dieses Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis dass er kommt (1Kor 11,23-26).
Mit der Feier des Abendmahls wird Jesus Christus ein Gedächtnis gestiftet. Dies bedeutet „weit mehr … als einen bloßen Akt intellektueller Erinnerung an ein vergangenes Ereignis“. Das Gedächtnis ist eine „erneute Inkraftsetzung (re-enactment)“.4 Jesu Christi Leben, Tod und Auferstehung werden nicht nur individuell und gemeinsam „verinnerlicht“, sie werden öffentlich verkündigt, ihnen wird ein lebendiges Denkmal, ein lebendiges Monument gesetzt. Die Erinnerung an Jesus Christus wird weitergetragen, ausgebreitet, sein Gedächtnis wird erneuert, belebt und intensiviert. Das „ganze Versöhnungshandeln Gottes“ wird in der Konzentration auf Christi Person vergegenwärtigt.5 – Doch wie kommt es zum rechten Gedächtnis? Wozu fordert Jesus Christus seine Jünger „in der Nacht, da er verraten ward“, auf? Fordert er sie auf, Brot und Wein zu weihen, zu konsekrieren, damit Brot und Wein mit dieser Weihe in Leib und Blut Christi verwandelt werden (Transsubstantiation)? Fordert er sie auf, durch diesen Akt ein Mahl vorzubereiten, ob es dann vollzogen wird oder nicht? Oder fordert er sie auf, die Mahlfeier zumindest zeichenhaft zu vollziehen, wie er sie mit ihnen vollzieht? Stillmesse oder Kommunion? Hier gab und gibt es leider eine starke Spannung zwischen der römischkatholischen Position einerseits und den orthodoxen und protestantischen Positionen andererseits. Klar hatte das gegenreformatorische Konzil zu Trient in seiner 13. Sitzung 1551 formuliert: „Denn noch hatten die Apostel die Eucharistie nicht von der Hand des Herrn empfangen, als er doch schon in Wahrheit aussagte, das, was er gebe, sei sein Leib.“6 Elf Jahre später, in seiner 22. Sitzung 1562, formuliert das Konzil in „Lehrsätzen über das hochheilige Messopfer“ den Verwerfungssatz: „Wer sagt, die Messen, in denen der Priester allein sakramental kommuniziere, seien unerlaubt und deshalb abzuschaffen, der sei ausgeschlossen.“7 4
Denver-Bericht 1971, in: Dokumente I, 407, 408 (siehe 5.4, Anm. 1); vgl. dazu Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck, 1992, bes. 130ff; ders., Communicative and Cultural Memory, in: Peter Meusburger, Michael Heffernan u. Edgar Wunder (Hg.), Cultural Memories: The Geographical Point of View, Knowledge and Space 4, Heidelberg u. a.: Springer, 2011, 15ff; Michael Welker, Kommunikatives, kollektives, kulturelles und kanonisches Gedächtnis, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 22: Die Macht der Erinnerung, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 2008, 321-331. 5 Canterbury-Erklärung 1973, in: Dokumente I, 153. 6 Neuner/Roos, 385 (siehe Einleitung, Anm. 3). 7 Neuner/Roos, 399.
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Diese Auffassung wird von den biblischen Überlieferungen, Paulus voran (vgl. neben 1Kor 11,23-26 auch 1Kor 10,16b: „Ist das Brot, das wir brechen, nicht die Gemeinschaft mit dem Leib Christi?“), nicht gestützt. Mk 14,22 stellt die Aussage: „Dies ist mein Leib“ dem Teilen des Brotes und der Aufforderung, es zu nehmen, ausdrücklich nach. Und erst nach dem Trinken aus dem Kelch – und zwar ausdrücklich: aller – folgt die Aussage: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (Mk 14,24). Auch nach Mt 26,26-28 gehen das Teilen und Austeilen des Brotes und die Gabe des Kelches sowie die Aufforderungen: „Nehmt und esst!“ und „Trinkt alle daraus!“ der Identifikation von Brot und Wein mit Leib und Blut Christi voraus. Nicht weniger deutlich ist Lk 22,1920. Es war also wohlbegründet, dass die römisch-katholische Kirche im 20. Jahrhundert die eigene Position behutsam an die der orthodoxen und evangelischen Kirchen annäherte.8 Immer stärker setzte sich – auch in den von Rom autorisierten ökumenischen Gesprächen auf Weltebene – die Überzeugung durch: „Das Abendmahl ist eine gottesdienstliche Handlung der im Namen Jesu versammelten Gemeinde.“9 Die Ergebnisse der ökumenischen Gespräche entsprachen in wesentlichen Aussagen der gemeinsamen Erklärung der reformatorischen Kirchen in Europa 1973 (Leuenberger Konkordie), die in der 19. These deutlich formuliert: „Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln.“10 Die durch das Zweite Vatikanische Konzil angestoßene Liturgiereform hat denn auch die Einheit von Priester- und Gemeindekommunion ausdrücklich bejaht: „Sehr wünschenswert ist es, dass die Gläubigen, so wie es auch der Priester selbst zu tun hat, den Leib des Herrn von den Hostien empfangen, die in derselben Messe konsekriert worden sind.“11 Gregor Etzelmüller summiert den damals erreichten Stand in der Frage des Abendmahls zwischen den Kirchen:
8 9
Siehe dazu Welker, Abendmahl, 44ff (siehe 5.4, Anm. 1). Die Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1957 und die „Erklärungen“ zu den Thesen von 1962, in: Das Mahl des Herrn. 25 Jahre nach Arnoldshain. Ein Votum des theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1982, These 3. 10 Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973, in: Rudolf Mau, Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen, Teilbd. 2, Bielefeld: Luther, 1997, 293. Vgl. Welker, Abendmahl, 42ff (siehe 5.4, Anm. 1). 11 Missale Romanum. Editio Typica Tertia. Grundordnung des Römischen Messbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Messbuch, Bonn, 3. Aufl. 2007, 85.
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In Orientierung am letzten Abendmahl Jesu ist es der jüngsten Liturgiereform gelungen, die Feiergestalt der römischen Messe so zu erneuern, dass sie als mimetische Nachahmung des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern erkannt werden kann. Indem die Gemeinde in die Ursprungssituation aller christlichen Mahlfeiern, nämlich das letzte Abendmahl Jesu einkehrt, empfängt sie, was die Jünger empfangen haben, als Jesus zu ihnen sprach: „Nehmet, esset, das ist mein Leib. [...] Trinket alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,26f.).12
Hinter den in jahrelangen ökumenischen Gesprächen auf Weltebene und in der Arbeit der Kommissionen des Konzils erreichten Erkenntnisstand fällt die Enzyklika Ecclesia de Eucharistia (2003) von Johannes Paul II. drastisch zurück, indem sie die Anbetung der Elemente Brot und Wein im Tabernakel auch außerhalb der Abendmahlsfeier ausdrücklich wieder zu fördern sucht und die Feier der Eucharistie ohne Gemeinde wieder gutheißt.13 Noch radikaler verabschiedet Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. im zweiten Band seiner Studien zu Jesus von Nazareth die gemeinschaftliche Mahlfeier. Er stellt die Frage: „Was genau hat der Herr zur Wiederholung aufgetragen?“14 Mit dem Argument, dass sicher nicht die Feier eines Paschamahls („falls das Letzte Mahl Jesu ein solches war“) und auch nicht eine normale Mahlfeier gemeint sein könne, und im Blick auf den von Paulus angesprochenen „unwürdigen“ Missbrauch der Mahlfeier in Korinth15 wird auch das zeichenhafte Mahl ausdrücklich aufgegeben: Zur Wiederholung aufgetragen ist so nur das, was Jesus an diesem Abend neu getan hat: das Brotbrechen, das Gebet des Segens und des Dankens und mit ihm die Worte der Verwandlung von Brot und Wein. Wir könnten sagen: Durch diese Worte wird unser Jetzt in den Augenblick Jesu hineingenommen.16
Die gewichtige, klare und eindeutige biblische Botschaft von Teilen, Geben und Nehmen („Sooft ihr esst und trinkt!“) wird damit verdrängt. Die schmählich um die Kommunion gebrachte und missachtete Gemeinde soll wohl mit der wolkigen Wendung getröstet oder doch eher „vertröstet“ werden – einer Wendung wie aus der Schule Rudolf
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Etzelmüller, ... zu schauen die schönen Gottesdienste, 131 (siehe 4.4, Anm. 6). Vgl. Ecclesia de Eucharistia, Abschn. 25 u. 31. Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 159 (siehe 1.3, Anm. 20). Das folgende Zitat ebd., 15 1Kor 11,20ff.27. Dazu Otfried Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11, 23b-25, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl. 1994, 203-240; Welker, Abendmahl, 73ff (siehe 5.4, Anm. 1). 16 Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 159 (siehe 1.3, Anm. 20).
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Bultmanns: „Wir könnten sagen: Durch diese Worte wird unser Jetzt in den Augenblick Jesu hineingenommen.“17 Man muss deutlich feststellen, dass dies ein ökumenisch höchst betrüblicher Konflikt ist, den die Spitze des römisch-katholischen Klerus nur zu großem Schaden ihrer eigenen Kirche zu erneuern sucht.18 Sie wird diesen ökumenischen Konflikt – auch mit der orthodoxen Theologie – auf Dauer nicht gegen die biblischen Grundlagen und die theologische Wahrheit aufrechterhalten können. Sie muss sich fragen, ob der Vorwurf, den sie den nicht römisch-katholischen Kirchen macht, sie seien „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“, weil sie „die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben“19, nicht – trotz langer Tradition und quantitativer Größe – auf sie selbst zurückfällt. Dieses Dilemma sollte aber nicht die fruchtbaren Differenzen und die gemeinsamen Probleme römisch-katholischer und protestantischer Positionen im Zusammenhang mit dem Abendmahl übersehen lassen. Vor allem sollten die großen gemeinsamen Zukunftspotentiale einer priesterlichen Orientierung an der Feier des Abendmahls deutlich vor Augen treten: Nicht weniger als die kultische Gegenwart des erhöhten Christus und des dreieinigen Gottes kann durch diese sakramentale Feier erschlossen werden. Fruchtbare ökumenische Differenzen Die symbolische Handlung des Teilens, Gebens und Nehmens, des Essens und Trinkens von Brot und Wein in der Feier des Abendmahls vermittelt eine tiefe und intensive Gewissheit sowie eine höchst konkrete Gemeinschaftserfahrung. Besonders in den reformierten Traditionen ist diese Gewissheit stark betont worden: Christus hat verheißen, „daß sein Leib so gewiß für mich am Kreuz geopfert und gebrochen und sein Blut für mich vergossen sei, so gewiß ich mit Augen sehe, daß das Brot des HERRN mir gebrochen und der Kelch mir mitgeteilet wird...“ Er hat mir verheißen, dass er „meine Seel mit seinem gekreuzigten Leib und vergossenen Blut so gewiß zum ewigen Leben speise und tränke, als ich aus der Hand des Dieners empfange und leiblich genieße das Brot und den Kelch des HERRN ...“ Schließlich heißt es, dass Christus uns 17 Siehe dazu die ebenso behutsame wie berechtigte Kritik von Joachim Ringleben, Lutherische Anfragen an Joseph Ratzingers Darstellung der Passion Jesu, in: Söding, Tod und Auferstehung Jesu, 130ff (siehe 1.3, Anm. 23). 18 Hierzu lehrreich der Konflikt zwischen Paulus und Petrus nach Gal 2 angesichts des Rückfalls des Petrus hinter eine bereits von ihm vollzogene Wahrheits- und Freiheitserkenntnis; vgl. dazu Michael Welker, Kirche ohne Kurs? Aus Anlaß der EDK-Studie ‚Christsein gestalten‘, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1987, 60f. 19 Erklärung Dominus Iesus, in: Michael J. Rainer (Red.), „Dominus Iesus“. Anstößige Wahrheit oder anstößige Kirche? Dokumente, Hintergründe, Standpunkte und Folgerungen, Wissenschaftliche Paperbacks 20, Münster u. a.: Lit, 2001, 20.
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durch dies sichtbare Zeichen und Pfand will versichern, daß wir so wahrhaftig seines wahren Leibes und Blutes durch Wirkung des Heiligen Geistes teilhaftig werden, als wir diese heiligen Wahrzeichen mit dem leiblichen Mund zu seinem Gedächtnis empfangen ... und daß all sein Leiden und Gehorsam so gewiß unser eigen sei, als hätten wir selbst in unserer eigenen Person alles gelitten und (vollbracht).20
Diese elementare Gewissheit ist verbunden mit einer unüberbietbar konkreten Erfahrung der sakramentalen Gegenwart Christi und einer höchst intensiven Gemeinschaftserfahrung. In der Feier des Abendmahls steht die Gemeinde nicht nur in Interaktion, sondern in Koaktion, verbunden mit einer elementaren Erfahrung von Gleichheit aller und wechselseitiger Annahme.21 Gegenüber der hochgradig abgestimmten gemeinsamen Erfahrung in der Feier des Abendmahls wird die Predigt, die Wortverkündigung, in sehr verschiedener Weise aufgenommen. Ihre Wirkung ist abhängig von dem Geschick und der Begabung, der Intelligenz und Sprachfähigkeit und vieler anderer Eigenschaften der verkündigenden Menschen und auch ihrer Hörerinnen und Hörer.22 Ihre Resonanz ist abhängig von der Zeit und den Umständen, von dem Erfahrungs- und Bildungshintergrund der Menschen, unter denen sich die Verkündigung ereignet. Die Feier des Abendmahls wirkt den Gefahren der unterschiedlichen Rezeptionsfähigkeit und der Kontextabhängigkeit entgegen. An kaum einem Ort unseres Lebens, auch an keinem Ort der kirchlichen Gemeinschaft wird so elementar deutlich, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Der Beitrag der sakramentalen Grundsituation auf die Entwicklung einer Kultur der Humanität und Gleichheit, des Rechts und der egalitären Moral kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die konkrete Gewissheit, „für mich und für uns gegeben“, jetzt und hier, in dieser konkreten Gemeinschaft, ist kraftvoll und segensreich. Sie kann aber auch ein subjektives Rechtsempfinden von Individuen und kleinen Gruppen stärken, die sich nach außen abschirmen und isolieren, die Gruppen- und Nischenideologien entwickeln. Die trügerische moralische und religiöse Selbstsicherheit wird gerade deshalb 20 Der Heidelberger Katechismus, GTB Siebenstern 258, hg. Otto Weber, Gütersloh: Gütersloher, 2. Aufl. 1983, Antworten auf Frage 75 u. 79, 41f u. 44; siehe auch Brian A. Gerrish, Grace and Gratitude: The Eucharistic Theology of John Calvin, Minneapolis: Fortress, 1993, 1ff u. 157ff. 21 Geiko Müller-Fahrenholz und Reiner Strunk haben mit Recht mir gegenüber die Kritik geäußert, dass mein Buch „Was geht vor beim Abendmahl?“ die bedeutende diakonische Ausstrahlung der Abendmahlsfeier nicht hinreichend würdige. Sie zu erkennen und zu pflegen ist auch wichtig, um die Verbindung von priesterlichem und königlichem Amt zu erfassen. Vgl. Teil 4.5. 22 Als der resonanzstark predigenden Pfarrerin Cindy Jarvis einige Zeit nach dem Wechsel in eine neue Gemeinde in Philadelphia gesagt wurde, ihre Predigt sei immer besser verständlich geworden, da gab sie zu bedenken: „Vielleicht ist auch Ihr Hören immer besser geworden!“
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gefährlich, weil in dieser Situation alle direkt anwesenden „Nächsten“ bereit sind, sie zu stützen und zu stärken. Mit Recht haben Protestanten und Orthodoxe die hohe Bedeutung und unverzichtbare Praxis der versammelten Gemeinde in der Feier des Abendmahls betont. Die biblischen Überlieferungen konfrontieren uns aber auch mit der Spannung zwischen den Aussagen „für euch gegeben“ und „für viele gegeben bzw. vergossen“.23 Durch diese Spannung wird die unverzichtbare Betonung der konkreten versammelten Gemeinde in der Feier des Abendmahls nicht aufgehoben. Die konkrete versammelte Gemeinde wird aber in den größeren Kontext der Kirche aller Zeiten und Weltgegenden gestellt. Die Gegenwart des auferstandenen Christus verbindet die konkrete versammelte Gemeinde mit einer unübersehbaren Vielzahl der das Abendmahl feiernden Gemeinden in der christlichen Kirche der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, in einer Fülle von Konfessionen, Theologien und kirchlichen Formationen. Diese Weite haben die Theologien der orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche oft besser wahrgenommen als stark gemeindetheologisch orientierte reformatorische Positionen.24 Mit Recht haben sie deshalb auch immer wieder die Sorge um die angemessene Liturgie und Feier des Abendmahls und um einen seriösen Vorsitz dabei zum Ausdruck gebracht. Das Abendmahl ist kein Experimentierfeld, auf dem sich die religiösen Geschmäcker der verschiedenen Gemeinden einfach ausleben können.25 Die Differenzen in den ökumenischen Perspektiven auf das Abendmahl sind also an dieser Stelle hilfreich und geben Orientierung. Gemeinsam können die verschiedenen konfessionellen Positionen 23 Mk 14,23f; Mt 26,27; vgl. Mk 10,45 u. Mt 20,28. Siehe auch die umsichtigen Reflexionen auf diese Spannung bei Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. II, Neukirchen/Moers: Neukirchener, 1962, 706ff; und Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Bd. 2, 154ff (siehe 1.3, Anm. 20). 24 Siehe z. B. Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, Ökumenische Theologie 16, Bd. III, Solothurn/Düsseldorf u. Gütersloh: Benziger u. Gütersloher, 1995, 77ff; Johannes Betz, Eucharistie als zentrales Mysterium, in: Mysterium Salutis, 4,2: Das Heilsgeschehen in der Gemeinde, hg. Johannes Feiner u. Magnus Löhrer, Einsiedeln/Zürich/Köln: Benziger, 1973, 265ff; zur Würdigung dieser Weite der Wahrnehmung auch aus Herrnhuter und mennonitischer Perspektive siehe Peter Zimmerling, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeinde. Geschichte, Spiritualität und Theologie, Holzgerlingen: Hänssler, 1999, bes. 153ff u. 171ff; u. A. James Reimer, Mennonites and Classical Theology: Dogmatic Foundations for Christian Ethics, Anabaptist and Mennonite Studies 1, Kitchener/Ontario u. Scottdale/Pennsylvania: Pandora u. Herald, 2001; Fernando Enns, Ökumene und Frieden. Theologische Anstöße aus der Friedenskirche, Theologische Anstöße 4, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012. 25 Zum Umgang mit dieser berechtigten Sorge siehe Welker, Abendmahl, 139ff (siehe 5.4, Anm. 1); und Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche, vorgelegt von der EKD, Gütersloh: Gütersloher, 2003, 53ff.
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problematische Entwicklungen (wie Feier ohne versammelte Gemeinde oder gestalterische Willkür der versammelten Gemeinde) verhindern. Die Nacht des Verrats Die Untersuchung der Dialoge zwischen den großen Kirchen auf Weltebene führte zur Entdeckung eines ebenso erstaunlichen wie erschreckenden „blinden Flecks“. Die mit der „Nacht des Verrats“ und mit der „Verkündigung des Todes Christi“ in den Liturgien so deutlich betonten Perspektiven werden kaum, in den meisten Dokumenten gar nicht, beachtet. Sie werden nicht beachtet, obwohl sie eine wichtige Differenz von Abendmahl und Passahmahl verdeutlichen können und obwohl sie ein Thema beleuchten, das gerade den Protestanten immer wichtig war: die Befreiung von der Macht der Sünde. Während das Passah den Aufbruch einer verschworenen Gemeinschaft inmitten der Bedrohung von außen kultisch feiert, hat das Abendmahl die Gefährdung und Selbstgefährdung der Gemeinschaft auch von innen vor Augen. In der Feier des Abendmahls wird die Gefährdung der Gemeinschaft mit Jesus von innen vergegenwärtigt und betont. Jesus feiert das Abendmahl mit den Jüngern, die ihn verlassen und fliehen werden26, mit Petrus, der ihn dreimal verleugnen wird27, und selbst Judas wird nicht ausgeschlossen, obwohl der Weheruf über ihn gesprochen wird.28 Die Betonung, dass die Christinnen und Christen in der Feier des Abendmahls den Tod Jesu Christi verkündigen, macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass in dieser Feier das Bewusstsein der Not und Verlassenheit am Kreuz erneuert wird. Das aber heißt: Im Abendmahl wird – erinnernd und ein Gedächtnis stiftend – das Bewusstsein der Hilflosigkeit der Menschen, der Gemeinden, einer ganzen relativen Welt angesichts der dämonischen Verstrickung, die am Kreuz offenbar wird, erneuert.29 Am Kreuz Christi wird in zutiefst erschreckender Weise deutlich, dass wir Menschen selbst die Religion, selbst das Recht, die Moral, die Politik und die öffentliche Meinung zur Zerstörung unseres Verhältnisses zu Gott und unserer Lebensverhältnisse gebrauchen, ja missbrauchen können. In der Feier des Abendmahls vergegenwärtigt sich die Gemeinde, die den Tod Christi verkündigt, noch einmal die Situation des Kreuzes. Sie erneuert für sich und nach außen das Bewusstsein, zu Menschen, zu Gemeinden, zu einer Welt zu gehören, die sich in Hilflosigkeit, Dummheit, Gleichgültigkeit und Bosheit von Gott abschneidet, sich selbst gefährdet und sich selbst zerstört. Sie erneuert das Bewusstsein, zu einer Menschheit zu 26 27 28
Mt 26,56; vgl. 26,31; Mk 14,50, vgl. auch Joh 16,32. Mt 26,57f.69-75; Mk 14,53f.66-72; Lk 22,54-62; Joh 18,12-18.25-27. Mt 26,24f ; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), EKK I/4, Düsseldorf/Zürich u. Neukirchen-Vluyn: Benziger u. Neukirchener, 2002, 86, vgl. ebd., 89ff; vgl. Mk 14,21; Lk 22,21f. 29 Vgl. Teil 3.4.
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gehören, die immer wieder mit allen Mitteln die Gegenwart Gottes und das Heil und Wohl der Welt zu verstellen und zu verzerren versucht. Die weitgehende Ausblendung dieser biblischen Perspektiven auf das Abendmahl ließ in den ökumenischen Dokumenten und Konsenstexten ein Feld unbearbeitet, das in den ökumenischen Verständigungen noch immer ein polemisches Gegeneinander möglich macht. Dieses Themenfeld lässt sich mit zwei Wendungen markieren, die in eine Spannung treten können: die „Befreiung von der Macht der Sünde“ und die „Bewahrung zum ewigen Leben“. Die Rede, dass das Abendmahl Befreiung von der Sünde wirkt, finden wir ausdrücklich bei Mt 26,28: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ Die Rede von der Bewahrung zum ewigen Leben findet sich vor allem in johanneischen Texten, besonders Joh 6,51: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herab gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch …“ Ausdrücklich betont Johannes, dass diese Rede selbst für die Jünger äußerst anstößig ist. Die Rede davon, dass das lebendige Brot, das vom Himmel herab gekommen und das Fleisch des Menschensohnes ist, von den Menschen gegessen werden muss, stößt allgemein auf Widerstand und Ablehnung. In den ökumenischen Konsenstexten zeigt sich, dass die reformatorischen Kirchen, vor allem die Lutheraner, die Betonung der Sündenvergebung und damit die Betonung der unverfügbaren Wende der menschlichen Existenz durch Gottes Handeln in die Gespräche einzubringen versuchen. Es zeigt sich, dass vor allem die orthodoxen Positionen, aber auch die römisch-katholische Theologie die Bewahrung auf dem Weg zur Teilhabe an der göttlichen Herrlichkeit, die Bewahrung „der Kirche zur himmlischen Vollkommenheit“ hervorheben.30 Insgesamt machen die ökumenischen Dokumente die Gefahr deutlich, dass die Betonung der Sündenvergebung zunehmend zu einer Floskel erstarrt und dass faktisch die „Theologie der Bewahrung“ sich ökumeneweit durchsetzt. Dabei droht das Gedächtnis des Kreuzes Christi zu verblassen und damit die große Gefährdung der Gemeinschaft der Menschen mit Gott und untereinander sowie die radikale Angewiesenheit der Menschen auf eine unverfügbare Wendung ihres Geschicks in extremer Not und Selbstgefährdung.31 Verbunden mit dieser unklaren Auffassung von Sünde und Sündenvergebung ist die Tatsache, dass unterschätzt wird, wie radikal Gott selbst im Abendmahl die Sünder annimmt. Damit werden leider die menschlichen und auch die kirchlichen Befugnisse überschätzt, anderen Menschen die Teilnahme bzw. die Zulassung zum Abendmahl aus rechtlichen oder moralischen Gründen zu verweigern. 30 31
Vgl. Welker, Abendmahl, 147ff (siehe 5.4, Anm. 1). Vgl. auch Teil 5.5.
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Wohl hat sich die Kirche immer wieder auf die ihr verliehene „Schlüsselgewalt“ berufen, die nach Matthäus dem Petrus, nach Johannes den Jüngern zugesprochen werde.32 Aber sie muss sich fragen, ob die radikale Annahme der sündigen Menschen durch Gott im Abendmahl an dieser Stelle der Kirche nicht Grenzen setzt. Die jederzeit mögliche Verstrickung auch der ganzen Kirche unter die Macht der Sünde muss im Licht des Abendmahls ernst genommen werden. Der Kontext der „Nacht des Verrats“ als Kontext der Einsetzung des Abendmahls muss in seiner ganzen Abgründigkeit wahrgenommen werden. Ganz entsprechend macht Paulus deutlich, dass es keinen moralisch begründeten Ausschluss vom Abendmahl geben kann. Menschen steht es also nicht frei, durch ein individuell oder gemeinschaftlich gefälltes Urteil andere Menschen direkt vom Abendmahl auszuschließen. Allein Christus selbst richtet, so dass nur ein Selbstausschluss von der Abendmahlsfeier in Frage kommt33, der einem Menschen freilich durch Lehre und Verkündigung nahe gelegt werden kann. Die Kirchenzucht ist also mit diesem Vorbehalt nicht aufgehoben. Ein Ausschluss von der Kirchengemeinschaft schließt auch die Bitte um einen Selbstausschluss vom Abendmahl ein. Doch die Verwendung des Ausschlusses vom Abendmahl als eine Einschränkung der vollen Mitgliedschaft am Leib Christi, als eine besondere religiöse und moralische Maßregelung (der „kleine Bann“) geht an der Offenbarung des Abgrunds der Liebe Gottes in diesem Sakrament vorbei. Die Kirche muss im Licht des Abendmahls einerseits die eigene Gefährdung und Selbstgefährdung unter der Macht der Sünde erkennen und ernst nehmen. Sie muss andererseits sehen, dass sie das Abendmahl nicht für gezielte rechtliche, moralische und andere normative Maßnahmen verwenden darf, dass ihr gerade hier eine Grenze gesetzt wird. Vom erhöhten Christus umgeben und durchdrungen In der Feier des Abendmahls ist die Kirche Christi von der Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Christus geradezu umgeben. Sie gedenkt seines vorösterlichen Lebens bis hin zu seinem Tod am Kreuz. Sie erinnert an die Nacht des Verrats und verkündigt seinen Tod am Kreuz. Sie verkündigt diesen Tod als heilvolle Hingabe von Leib und Blut zugunsten der Menschen, die sich von Gott distanzieren, die sich auf vielfältige Weise selbst gefährden und dies auch noch verschleiern. Sie verkündigt die Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Christus, und sie bittet um das Kommen seines Reiches im Vaterunser. Sie
32 Mt 16,19; Joh 20,23; siehe auch Philipp Melanchthon, Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner Loci Theologici (1553), hg. Ralf Jenett u. Johannes Schilling, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2. ergänzte Aufl. 2010, 370ff; Dietrich Pirson, Art.: Schlüsselgewalt, RGG4, Bd. VII, 926-928. 33 1Kor 11,28; 28ff; vgl. Welker, Abendmahl, 78ff (siehe 5.4, Anm. 1).
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richtet schließlich den Blick auf die Parusie Christi, indem sie seinen Tod verkündet, „bis er kommt“. Martin Luther hat die steile Behauptung aufgestellt, in Jesu Christi Worten: „Das ist mein Leib – für euch gegeben!“ sei das ganze Evangelium beschlossen. „Christus spricht ...: Nimm hin, es soll deine sein. (Er will,) daß wir seiner brauchen.“ Es sei nötig, dass „du ... auch glaubst, daß dein Tod, deine Sünde, deine Hölle dir da überwunden und vertilgt sei, und (du) also erlöset seist.“34 Im Abendmahl ergreifen wir „das Leben und alles Gut, dazu auch Gott selbst“.35 Das Sakrament sei nicht weniger als eine Brücke, ein Schiff, eine Tragbahre ins ewige Leben.36 „... so hast du alle Gewalt, die Gott selber hat, d. i. daß wir ein Kuche werden mit dem Herrn Christo, daß wir treten in die Gemeinschaft seiner Güter und er in die Gemeinschaft unsres Unglücks. ... Du hast es alles überschwenglich, was dein Herz begehrt, und sitzest nun im Paradies.“ Christi „Frömmigkeit und Reichtum (verschlingen) meine Sünde und Elend, so daß ich darnach eitel Gerechtigkeit habe ...“37 Umgeben vom trinitarischen Wirken Gottes Doch die Kirche ist in der Feier des Abendmahls nicht nur vom auferstandenen und erhöhten Christus umgeben. Sie feiert auch dankbar und froh die Gegenwart des dreieinigen Gottes. Das Abendmahl als Eucha34
Luther zit. nach Karl Barth, Ansatz und Absicht in Luthers Abendmahlslehre, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten, 1922-1925, hg. Holger Finze, Gesamtausgabe III, Zürich: Theologischer Verlag, 1990, 268; zur Entwicklung von Luthers Sakramentslehre siehe Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 5: Luthers Theologie, hg. Johann Haar, München: Kaiser, 1974, 255ff; zur Gefahr der Überbetonung des Wortes in dieser Lehre siehe Eeva Martikainen, Evangelium als Mitte. Das Verhältnis von Wort und Lehre in der ökumenischen Methode Hans Joachim Iwands, Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums, N. F. 9, Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 1989, 127ff. 35 Luther zit. nach Barth, Ansatz und Absicht, 288; zum engen Zusammenhang von Gottesliebe und Nächstenliebe nach Luther siehe Tuomo Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums, N. F. 8, Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 1989, 95ff, 114ff, 165ff; Eeva Martikainen, Doctrina. Studien zu Luthers Begriff der Lehre, Schriften der Luther-AgricolaGesellschaft 26, Helsinki, 1992, 83ff; zur tiefen Gründung der Nächstenliebe in der Liebe Gottes zu den Menschen siehe Anders Nygren, Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, Teil I, Studien des apologetischen Seminars 28, Gütersloh: Bertelsmann, 1939, 45ff, 125ff; H. R. Niebuhr, Christ and Culture, 15ff (siehe 4.4, Anm. 20). 36 Vgl. Luther nach Barth, Ansatz und Absicht, 276. 37 Luther zit. nach Barth, Ansatz und Absicht, 281f. Barth kommentiert, ebd., 284: „Keine Sündenvergebung, keine Barmherzigkeit Gottes, keine rettende Gemeinschaft mit Christus, die dem Menschen nicht durchlaufend zu Vergebung, Barmherzigkeit und Gemeinschaft mit Christus würde. Aber auch keine Moral, keine Verpflichtung, keine Beziehung zum Menschen, die etwas anderes wäre als die durchlaufende Neuordnung des Verhältnisses zu Gott durch die Rechtfertigung.“
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ristie ist eine Feier der Danksagung, auch wenn der Aspekt der Eucharistie nicht das ganze Geschehen angemessen erfasst. Eine Eucharistie, eine Danksagung, liegt schon vor im Blick auf die Gaben Brot und Wein. Eine Eucharistie ergeht an Gott den Schöpfer als Dank für die Schöpfungsgaben Brot und Wein. Die Schöpfungsgaben sind erheblich mehr als bloße „Gaben der Natur“.38 Natürliches Wachsen und kulturelles Gestalten von Seiten der Menschen müssen zusammenkommen, um aus Trauben und Ähren Brot und Wein zu bereiten. Das aber ist nach biblischen Überlieferungen ohne das schöpferische Wirken Gottes, ohne das Wirken des schöpferischen Geistes, gar nicht denkbar. Darüber hinaus versteht es sich keineswegs von selbst, dass in allen Zeiten und in allen Weltgegenden Menschen zusammenkommen können, um real und symbolisch Brot und Wein miteinander zu teilen. Der Gedanke an Hungersnöte, ökologische Verwüstungen, gefährliche ansteckende Krankheiten, Feindschaft und Lieblosigkeit unter den Menschen macht deutlich, dass dieses Zusammenspiel geschöpflichen Wirkens nicht selbstverständlich gelingt. Dass Brot und Wein überhaupt vorhanden und verfügbar sind, dass Menschen relativ gesund und friedlich zu gemeinsamer Mahlfeier zusammenkommen können, das ist bereits Grund genug, Gott dem Schöpfer zu danken und sich seines schöpferischen Wirkens zu freuen. In der kultischen Feier des Abendmahls gehen der Dank und das Gotteslob aber über diesen Dank für die Schöpfungsgaben und die entsprechende Erhaltung und Bewahrung der Menschen entschieden hinaus. Der bloße Dank für die Schöpfungsgaben, die Freude über eine friedliche und freundlich miteinander kommunizierende Gemeinschaft konstituieren noch keine Feier des Abendmahls. Das Abendmahl ist vielmehr geprägt von der Anamnese, von der Erinnerung an die Nacht des Verrats, an das Leiden und Sterben Jesu Christi. Es ist geprägt von der Verkündigung seines Todes. Es konzentriert auf die Erinnerung an die Hingabe Christi, an sein Leiden und Sterben am Kreuz. Damit aber wird im Abendmahl auch der Ungerechtigkeit, Friedlosigkeit und Gottesferne der Menschen unter dem Kreuz, der „Sünde der Welt“, ein Gedächtnis gestiftet. Ungerechtigkeit, Friedlosigkeit und Gottesferne der Menschen treten hier in höchster Zuspitzung vor Augen. Die Not und diese Gefährdung der guten Schöpfung Gottes unter der Macht der Sünde sind in der Anamnese, in der Erinnerung an das Leiden und den Tod Jesu Christi, gegenwärtig. Schließlich feiert das Abendmahl die Herabkunft des Heiligen Geistes, die Rettung und Erhebung der Menschen, denen die Schöpfungsgaben Brot und Wein zu „Brot und Wein vom Himmel“, zu Leib und Blut Christi werden, die sie mit dem Auferstandenen in engste, unverbrüchliche Lebensgemeinschaft bringen. 38 Polkinghorne/Welker, An den lebendigen Gott glauben, 96f (siehe Einleitung, Anm. 4).
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Vor allem die Konvergenzerklärung von Lima39 hat das Bewusstsein für die Vergegenwärtigung des trinitarischen Wirkens Gottes im Abendmahl geweckt.40 In der Feier des Abendmahls wird also für weit mehr gedankt als für die bewahrte Schöpfung. Es wird auch für weit mehr gedankt als für die bewahrte Kirche. Gepriesen wird Gott für die Neuschöpfung. Die sogenannte Danksagung ist deshalb mit Recht in vielen Texten genauer Verherrlichung genannt worden. In der Verherrlichung, in der Doxologie, weisen Menschen über alle ihre Vorstellungen von normalem, gutem und gelingendem Leben hinaus. Sie preisen Gott, der sie mit der Macht seines Geistes erfüllt, zum Leib Christi erbaut und zu Trägerinnen und Trägern seines Lebens macht. Brot und Wein, die Gaben der Schöpfung, werden zu Gaben der neuen Schöpfung. Brot und Wein werden zu Leib und Blut Christi, das die Menschen leibhaftig mit ihm verbindet, sie zu Gliedern der neuen Schöpfung werden lässt. Über die Bewahrung der Schöpfung hinaus wird im Abendmahl die Befreiung von der Macht der Sünde und die Kraft der Neuschöpfung gefeiert. Dieses neuschöpferische Geschehen verdankt sich dem Wirken des Heiligen Geistes und dem Wirken des dreieinigen Gottes. Brot und Wein werden in der Kraft des Geistes zu Gaben der neuen Schöpfung, zu Brot und Wein vom Himmel41, die nicht nur die Geschöpfe zeichenhaft nähren, sondern den Leib Christi erbauen. Durch diese Neuschöpfung kommen die Menschen in die größte Nähe zu Gott. Sie werden zu Trägerinnen und Trägern von Gottes schöpferischer Kraft. Sie werden zu Gliedern am Leib Christi, zu Trägerinnen und Trägern seiner verherrlichten irdischen Existenz.
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Dokumente I, 545ff, bes. 557ff (siehe 5.4, Anm. 1). Bahnbrechend für das trinitarische Verständnis des Abendmahls war ein Gesprächskreis in Frankreich, „die schon seit 1937 bestehende ‚Gruppe von Dombes‘, die sich aus katholischen, lutherischen und reformierten Theologen zusammensetzt(e), aber keinen offiziellen Status hat(te) ... Sie legt(e) einen Text unter dem Titel ‚Auf dem Wege zu ein und demselben Glauben?‘ (1972) vor“ und stand im Austausch mit der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) im Weltrat der Kirchen, die 1971 die Studie „Die Eucharistie im ökumenischen Denken“ veröffentlichte (Lessing, Abendmahl, 44, vgl. 44f [siehe 5.4, Anm. 1]). Wie Lessing treffend hervorhebt, bieten beide Texte im Kern eine trinitätstheologische Struktur, indem sie das Abendmahl in den Perspektiven Danksagung an den Vater, Erinnerung (Anamnese/Memorial) Christi und Gabe des Heiligen Geistes behandeln. Sie setzen damit ein Vorbild für viele weitere Studien, unter anderem für den wichtigen lutherisch/römisch-katholischen Text „Das Herrenmahl“ von 1978 und vor allem für den Lima-Text (siehe Lessing, Abendmahl, 45). 41 Welker, Abendmahl, 166ff (siehe 5.4, Anm. 1).
5.5 Prophetische Gegenwart Christi
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5.5 Prophetische Gegenwart Christi mit den Seinen und die befreiende Kraft der Hoffnung: Christologisch und biblisch orientierte Verkündigung in Wahrheit und Gerechtigkeit suchenden Gemeinschaften Das prophetische Amt Jesu Christi ist das für viele Menschen anstößigste unter seinen Ämtern.1 Jesus Christus verbindet in seiner prophetischen Verkündigung Heilsankündigung und Gerichtspredigt, zukünftige, gegenwärtige und auf die Ewigkeit bezogene Eschatologie.2 Wiederholt kündigt er seine Leiden an3 und sieht seine Auferstehung voraus – was seine Jünger und die Menschen in seiner Umgebung nicht verstehen. Auch dass Petrus ihn verleugnen wird, sieht er voraus.4 Er kündigt die Durchsetzung des göttlichen Willens an, der ihn – wie das Gebet in Getsemani deutlich macht5 – in seiner menschlichen Existenz in Angst und Trauer versetzen kann: „… nimm diesen Kelch von mir, wenn du willst – aber dein Wille geschehe!“ Die prophetische Erkenntniskraft schließt also die Anfechtung nicht aus.6 Es zeigt sich, welch starke Konflikte die prophetische Existenz mit sich bringt. In welche Konflikte geraten diejenigen, die an Jesu Christi prophetischer Gegenwart aktiv Anteil nehmen wollen? Natürlich drängen sich ihnen immer auch die moralischen, sozialen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Krisen und Konflikte auf, die in ihren konkreten Umgebungen auftreten. Dazu kommen die Konflikte, an denen Menschen in globalen Zusammenhängen über Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik meist passiv Anteil haben. Zahlreiche Kontexte tun 1 Dies wird aber noch nicht in den neutestamentlichen Texten deutlich, die ihn ausdrücklich mit dem Titel Prophet in Verbindung bringen (z. B. Mk 6,4.15; 8,28; Lk 7,16; 13,31ff; Joh 6,14; Apg 3,22; 7,37); der Königstitel im Kontext der Kreuzigung und der Priestertitel im Hebräerbrief besitzen stärkere Ausstrahlungskraft. 2 Siehe Theißen/Merz, Der historische Jesus, 248, 221ff (siehe 1.1, Anm. 5). 3 Mt 16,21-23; 17,22f; 20,17-19; Mk 8,31-33; 9,30-32; 10,32-34; Lk 9,22.43b45; 18,31-34 – mit Steigerung und mit zunehmender Klarheit über Details seines Geschicks: Der Menschensohn wird der religiösen Elite in Jerusalem ausgeliefert – er wird „den Menschen“ ausgeliefert – er wird auch „den Heiden zur Verspottung“ ausgeliefert. Zum „gewaltsamen Geschick“ und zum Leiden der biblischen Propheten generell siehe Odil Hannes Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten. Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum, WMANT 23, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1967, bes. 317ff; Norbert Lohfink, Charisma. Von der Last der Propheten, in: ders., Unsere großen Wörter. Das Alte Testament zu Themen dieser Jahre, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2. Aufl. 1979, 241ff. 4 Mt 26,57f.69-75; Mk 14,53f.66-72; Lk 22,31-34.54-62; Joh 18,12-18.25-27. 5 Mt 26,36-46; Mk, 14,32-42; Lk 22,39-46. 6 Vgl. dazu Carl Heinz Ratschow, Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh: Bertelsmann, 1957; siehe auch Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 157ff.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
sich auf, in denen prophetische Erkenntnis und prophetische Stimmen bitter nötig sind, in denen auch wir unsere Warnungen und Mahnungen, unseren Protest und unsere Ermutigung, unser Ja und unser Nein zur Geltung bringen wollen. Haben wir aber nur diesen Ozean von Problemen vor Augen, so drohen vor dessen Übermacht Resignation und Zynismus. Es bedürfte geradezu einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes und ganzer Scharen von Prophetinnen und Propheten, um diese Problemfülle zu bearbeiten. Doch mit solcher Sicht wird der prophetische Auftrag in der Nachfolge Jesu Christi nicht annähernd erfasst. Prophetische Rede in der Nachfolge Jesu Christi ist in erster Linie Gott dienende Rede, die Gott selbst zur Sprache und zur Wirkung kommen lassen will. „Vielfach und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern geredet durch die Propheten. Am Ende dieser Tage hat er zu uns durch den Sohn geredet, … den Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seiner Wirklichkeit …“ (Hebr 1,1-3). Die prophetische Rede in der Gegenwart Christi fragt nach seiner Weisung und nach Gottes Willen in den Konflikten der Gegenwart. Sie ist deshalb auf selbstkritische Prüfung angewiesen.7 Nach den biblischen Überlieferungen äußern sich nur die falschen Propheten, die „Lügenpropheten“, gern und schnell und am liebsten im Chor der politisch gestützten moralischen Mehrheiten.8 Die wahre Prophetie fragt nach der Erkenntnis von Wahrheit und der Verwirklichung von Gerechtigkeit in konkreten Situationen – im Licht von Gottes Wort. Die wahre Prophetie prüft sorgfältig, ob sie nur die eigene oder eine gerade aktuelle öffentliche Meinung ausspricht oder ob sie eine an Gottes Wort orientierte Botschaft vermittelt. Der prophetische und der Gottes Wort verkündigende priesterliche Dienst sind also in der Nachfolge Christi eng verbunden und oft mit schwerer Selbstprüfung und Anfechtung verknüpft.9 7 Vgl. Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Anfänge der dialektischen Theologie, 197ff (siehe zum Buch 3.4, Anm. 3); zu den damit verbundenen hohen Anforderungen an jede „Kulturtheologie“ siehe Sung Hyun Oh, Karl Barth und Friedrich Schleiermacher 1909-1930, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2005, bes. 220ff u. 285ff. 8 Zum Problem der Lügengeister und Lügenpropheten siehe Welker, Gottes Geist, 87ff (siehe 0.6, Anm. 16). 9 Ein bewegendes Zeugnis vermittelt David J. Garrow, Bearing the Cross: Martin Luther King, Jr. and the Southern Christian Leadership Conference, New York: Viking Penguin, 1986, 58, zit. bei Thomas G. Long, Hebrews, Interpretation, Louisville: John Knox, 1997, 9: Mitten im Busstreik von Montgomery erreichten Martin Luther Kings Erfahrungen von Verfolgung und Hass, Bedrohung und Leid ihren Tiefpunkt. Über vierzig Telefonanrufer hatten ihm und seiner Familie Schaden an Leib und Leben angedroht. „Late one night, King returned home from a meeting only to receive yet another call warning him to leave town soon if he wanted to stay alive. Unable to sleep after this disturbing threat, he sat at the kitchen table and worried. In the midst of his anxiety something told him that he could no longer call on anyone for help but God. So he prayed, confessing his
5.5 Prophetische Gegenwart Christi
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Das prophetische Wort ist auch nicht vom diakonischen Dienst des königlichen Amtes zu trennen. Die Prophetie in der Nachfolge Christi dient konsequent der Liebe und dem Schutz der Schwachen. Sie fördert nicht die Ausbreitung von Hass und Gewalt. Die Prophetie in der Nachfolge Jesu Christi hält „die Seinen“ konsequent auf seinem Weg. „Das gemeinsame Amt der Propheten war …, die Kirche in der Erwartung zu halten und sie zugleich zu stärken bis zum Kommen des Mittlers; und so klagten die Gläubigen zur Zeit der Zerstreuung, daß ihnen diese von Gott geordnete Wohltat entzogen war.“10 Die wahre Prophetie überschneidet sich also einerseits mit dem konkreten Dienst der Diakonie und Liebe (das königliche Amt), sie sucht andererseits der großen Linie des Gottesdienstes in der Erkenntnis des wahren und gerechten Gottes und seiner Wege zu folgen (das priesterliche Amt). Die Prophetie in der Nachfolge Jesu Christi atmet in dieser Verbindung der Ämter den langen Atem der eschatologischen Hoffnung: Nicht mein Wille, sondern Gottes Wille geschehe! Ganz entsprechend zeigen die beiden anderen Ämter und Gestalten des Reiches Gottes mehr oder weniger deutlich eine prophetische Ausstrahlung auf. Die Teilhabe an Jesu Christi königlicher Gegenwart möchte sich vielleicht manches Mal mit einem bescheidenen und ruhigen Leben in praktizierter und erfahrener Nächstenliebe begnügen. Doch das aktive Engagement für Schwache, Arme, Unterdrückte und Benachteiligte gewinnt auch dann prophetische Ausstrahlung, wenn es nicht ausdrücklich mit einer öffentlichen Kritik an den Zuständen verbunden ist, die Armut und Benachteiligung verursachen. Der ruhige diakonische Dienst innerhalb und außerhalb der Kirchen kann unter Umständen durch sein beharrliches Vorbild tiefer aufrütteln und stärker provozieren als viele laute moralisch-politische Stellungnahmen. Dennoch ist er vom prophetischen Wirken unterschieden. Er setzt auf konkrete Linderung von Not und auf emergente Entwicklungen der „Reich-Gottes-Arbeit“ (vgl. Teil 4.3). Das prophetische Zeugnis dagegen spricht Kritik und Selbstkritik offen aus.11 Das erzeugt Spannungen und Konflikte in Gemeinden, Kirweakness and his loss of courage. ‚At that moment,‘ he said later, ‚I could hear an inner voice saying to me „Martin Luther, stand up for righteousness. Stand up for justice. Stand up for truth. And lo, I will be with you, even until the end of the world.“‘ It was, realized King, the voice of Jesus speaking a word of promise, a word of reassurance, a timely word of comfort and strength.“ 10 Calvin, Institutio, 307 (II, 15,1) (siehe 0.5, Anm. 13). 11 Siehe dazu Walter Rauschenbusch, A Theology for the Social Gospel (1917), Library of Theological Ethics, Louisville: Westminster John Knox, 2010, bes. 118ff, 131ff; Reinhold Niebuhr, The Nature and Destiny of Man, Vol. II: Human Destiny (1943), Gifford Lectures, New York: Charles Scribner’s, 1964, bes. 23-34 u. 244ff; dazu Milenko Andjelic, Christlicher Glaube als prophetische Religion. Walter Rauschenbusch und Reinhold Niebuhr, Internationale Theologie 3, Frankfurt u. a.: Peter Lang, 1998, 55ff, 136ff u. 183ff; Johann Baptist Metz, Jenseits
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chen und Gesellschaften. Diese Spannungen und Konflikte werden besonders heftig, wenn das priesterliche und das prophetische Wirken einander entgegengesetzt werden: Wir wollen erbauliche Gottesdienste – nicht religiös-politische Machenschaften! Glaube und Lehre der Kirche – statt sozialkritischer Agitation! Ohne den Segen ruhig-freudevoller und erbaulicher Gottesdienste in Frage zu stellen, haben die meisten Kirchen dieser Erde von früh an die enge Verbindung von priesterlichem und prophetischem Dienst ausdrücklich gewollt und bejaht.12 Mit der lebendigen zeitbezogenen gottesdienstlichen Verkündigung in Predigt und Bildung, mit der wissenschaftlich-kritischen Ausbildung ihrer Amtsträger und Amtsträgerinnen werden beide Gestalten der Reich-Gottes-Nachfolge in geregelten Formen verbunden. Zugleich achten die Kirchen darauf, dass die Prophetie sich nicht als theologiefreie und nicht an Gottes Wort gebundene moralische Kritik der sozialen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verselbständigt. Dabei sind allerdings ihre Sorgen vor religiösen Routinen, die nur Wohlfühl-Stimmungen verstärken bzw. auch unehrliche und vernebelnde Wohlfühl-Stimmungen erzeugen, meistens weniger ausgeprägt als die Angst vor einem religiös entfesselten „moralischen Kampf aller gegen alle“. Das prophetische Amt, die prophetische Gestalt des Reiches Gottes gewinnt besonders im Blick auf das Kreuz Christi klare Konturen. Wer dies erkennen will, darf die Botschaft des Kreuzes nicht auf den Aspekt der Offenbarung des leidenden und mitleidenden Gottes, auf Gottes Auseinandersetzung mit dem Tod und ähnliche leitende Vorstellungen reduzieren (dazu Teil 3.4 und 3.5). Gottes Nähe in der Armut, Schwachheit und Ohnmacht des Gekreuzigten, Gottes Leiden an der Sünde der Welt darf die Auseinandersetzung Gottes mit den Mächten und Gewalten dieser Welt in Kreuz und Auferstehung nicht verdunkeln. Um diese Auseinandersetzung zu erkennen, muss das Geflecht der realen Konflikte Jesu in der Geschichte seiner Kreuzigung erfasst werden. Jesus Christus, der den Menschen die Botschaft vom kommenden Reich Gottes brachte, der ihnen die Kräfte der Heilung, die Kräfte der Zubürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, Forum Politische Theologie 1, München u. Mainz: Kaiser u. Matthias Grünewald, 2. Aufl. 1980, bes. 70ff; Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, bes. 150ff (siehe 4.3, Anm. 8); Moltmann, Politische Theologie in ökumenischen Kontexten, 1ff (siehe 4.5, Anm. 4); in Verbindung mit konkreten diakonischen Herausforderungen: Rudolf Weth, Diakonie in der Wende vom Sozialstaat zum Sozialmarkt, in: ders. (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1996, 111-118; Cornel West, Prophetic Religion and the Future of Capitalist Civilization, in: Mendieta/VanAntwerpen, The Power of Religion in the Public Sphere, 92-100 (zum Buch siehe 4.4, Anm. 24); u. Judith Butler and Cornel West, Dialogue, ebd., 101ff. 12 Die verkündigende und doxologische Dimension der neutestamentlichen Prophetie hebt Gillespie, The First Theologians, hervor (siehe 2.5, Anm. 1).
5.5 Prophetische Gegenwart Christi
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wendung zu den Kindern, zu den Schwachen, den Ausgestoßenen, den Kranken, den Notleidenden vermittelte, dieser Jesus Christus wird von Religion, Recht, Politik, öffentlicher Moral und Meinung verurteilt, und zwar in komplexer Einmütigkeit!13 Nicht einzelne üble Gestalten, sondern die „Ordnungsmächte“, die sich alle gern als „gute Mächte“ präsentieren, die uns „wunderbar bewahren“ – sie alle wirken am Kreuz gegen Jesus von Nazareth und gegen die Gegenwart Gottes in Jesus Christus zusammen. Das Kreuz offenbart die Welt „unter der Macht der Sünde“, es offenbart die „Nacht der Gottverlassenheit“, nicht nur für Jesus selbst – sondern auch als eine beständig drohende Gefahr für diese Welt. Es offenbart, dass alle öffentlichen und mächtigen Schutzmechanismen – wie Recht, Politik, Religion, Moral und öffentliche Meinung – für uns Menschen und für unsere Gesellschaften versagen, ja zur Falle werden können. In zugespitzter Weise werden vor diesem Hintergrund die große Herausforderung und die hohe Bedeutung des prophetischen Amtes deutlich. Genauer, die hohe Bedeutung der christlichen Verkündigung, der theologischen Lehre, der unverzichtbaren Aufgaben der Wahrheit und Gerechtigkeit suchenden Gemeinschaften neben dem konkreten diakonischen Engagement und darüber hinaus – all dies wird in der Dimension des prophetischen Amtes deutlich. Zunächst wird erkennbar, warum die prophetische Verkündigung unbedingt schriftgebundene Verkündigung sein muss. „Durch die Propheten und in jüngster Zeit durch Jesus Christus hat Gott zu uns gesprochen.“14 Der biblische Kanon konzentriert in den neutestamentlichen Zeugnissen auf das „Wort Gottes in der Gestalt und Botschaft Jesu Christi“. Die alttestamentlichen Zeugnisse, ein über ein Jahrtausend gewachsener Kanon, weisen nicht nur in vielfältigen Formen auf Jesu königliches, priesterliches und prophetisches Wirken voraus. Ihre prophetischen Stimmen stehen, wie auch das Neue Testament, unter dem Druck der jeweiligen Weltmacht: Ägypten, Assur, Babylon, die Perser, die Griechen und schließlich die Römer. Die biblischen Propheten entfalten ihre Botschaften unter Weltmachtdruck. Sie stehen aber auch in vielfältigen Spannungen mit den politischen und religiösen Traditionen und Institutionen ihrer jeweiligen Zeit in ihrem eigenen Land. Sie warnen damit eindringlich vor dem Angebot zu einfacher religiös-politisch-ideologischer Lösungen in sozialen, politischen und religiösen Konfliktlagen. Mit der häufigen Betonung: „nach der Schrift“, „auf dass die Schrift erfüllt würde“, „nach dem Gesetz und den Propheten“ unterstreichen Jesu Verkündigung und die neutestamentlichen Schriften diese unver-
13 14
Vgl. Teil 3.4. Hebr 1,1-2; vgl. Barths auch unter dem Druck der verwüstenden Irrlehre der Deutschen Christen entwickelte Lehre: „Das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt“ als Offenbarung – Schrift – Verkündigung (KD I/1, 89ff).
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
zichtbare Bindung an ihre umfassende Quelle der Inspiration und der geistlich erhellenden Prophetie.15 Wie das königliche Amt und die königliche Gestalt des Reiches Gottes, so geht auch die Wirksamkeit des prophetischen Amtes weit über den Bereich der Kirchen hinaus. Ja, es kann sich durchaus gegen eine selbstherrliche, selbstgerechte oder ideologisch verblendete Kirche und Kirchlichkeit wenden. Die zunehmende Bereitschaft vieler Kirchen, ihre Theologinnen und Theologen an Hochschulen und Universitäten, im selbstkritischen Dialog mit säkularen Wissenschaften und unter ihrer kritischen Beobachtung ausbilden zu lassen, bezeugt diesen Willen zur Selbstkritik in „wahrheitssuchenden Gemeinschaften“.16 Auch die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Theologie und Rechtswissenschaften, die auf äußerst fruchtbare Traditionen zurückblicken kann17, sollte wieder über den Bereich der historischen For15 Unter der Programmformel „Biblische Theologie“ bemühen sich exegetische, systematische und praktische Theologinnen und Theologen in aller Welt seit Jahren um eine intensivierte interdisziplinäre und ökumenische Zusammenarbeit. Sie soll die Orientierungskraft des biblischen Kanons in akademischer Theologie, christlicher Verkündigung und Lebenspraxis methodisch und im Blick auf zentrale Themen neu würdigen und der zunehmenden Isolation der Disziplinen entgegenwirken. Vgl. Bernd Janowski u. Michael Welker (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1986; 3. Aufl. 1991; Bernd Oberdorfer, Biblisch-realistische Theologie. Methodologische Überlegungen zu einem dogmatischen Programm, in: Sigrid Brandt u. ders. (Hg.), Resonanzen. Theologische Beiträge, FS Michael Welker, Wuppertal: Foedus, 1997, 63-83; Bernd Janowski u. Michael Welker (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 12: Biblische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1998; Michael Welker, The Tasks of Biblical Theology and the Authority of Scripture, in: Wallace Alston (Hg.), Theology in the Service of the Church, FS Thomas W. Gillespie, Grand Rapids: Eerdmans, 2000, 232-241; vgl. im Band Michael Welker u. Friedrich Schweitzer (Eds./Hg.), Reconsidering the Boundaries Between Theological Disciplines. Zur Neubestimmung der Grenzen zwischen den theologischen Disziplinen, Theologie, Forschung und Wissenschaft 8, Münster: Lit, 2005, bes. die Beiträge von Patrick D. Miller, Theology from Below: The Theological Interpretation of Scripture, 3-13; Don Juel, The Project of a ‚Biblical Theology‘ as a Reshaping of the Boundaries Between Systematic and Exegetical Theology. Response to Michael Welker, 31-34; Ellen F. Davies, Salvific Surprise: The Shared and Complementary Tasks of Exegetical and Critical or Constructive Theologicans, 35-44; vgl. ferner Paul Hanson, Bernd Janowski u. Michael Welker (Hg.), Biblische Theologie, Altes Testament und Moderne 14, Lit: Münster 2005; Leo G. Perdue, Robert Morgan u. Benjamin D. Sommer, Biblical Theology: Introducing the Conversation, Library of Biblical Theology, Nashville: Abingdon, 2009. 16 Vgl. Polkinghorne/Welker, An den lebendigen Gott glauben, Kap. 9 (siehe Einleitung, Anm. 4); Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt: Suhrkamp, 1973, bes. 299ff; Härle, Dogmatik, 14ff (siehe 4.4, Anm. 17). 17 Vgl. dazu Christoph Strohm, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008; John Witte, Jr., The Reformation of Rights: Law, Religion,
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schung, der Arbeit am Kirchenrecht und der Kooperation in kirchenleitenden Administrationen hinaus intensiviert werden.18 Der prophetische Dienst in der Verkündigung bedarf also nicht nur der immer neuen christologischen Orientierung und der Schriftorientierung. Er muss auch beständig durch intensive interdisziplinäre, auf verbindende spezifische Themen konzentrierte Zusammenarbeit in Wahrheit und Gerechtigkeit suchenden Gemeinschaften geschult und gepflegt werden.19 Zur angemessenen Würdigung und Pflege der „prophetischen Gestalt des Reiches Gottes“ gehört schließlich auch die selbstkritische gründliche Aufarbeitung der normativen Wirkungsgeschichte der biblischen Traditionen – mit und gegen die Kirchen – in der Entwicklung freiheitlicher Gesellschaften20 und der modernen Menschenrechtskultur. „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs. Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe.“21 Diese These ist durchaus umstritten. Hans Joas and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge u. a.: Cambridge Univ. Press, 2007, Nachdruck 2010; ders., Law and Protestantism: The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2002; ders. u. Frank S. Alexander (Hg.), Christianity and Law: An Introduction, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2008. 18 Vgl. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 17ff, 197ff (siehe 4.3, Anm. 4); Welker, Theologie und Recht (siehe 3.5, Anm. 18). 19 Dass auch das im Dialog Theologie und Naturwissenschaften geschulte Denken konstruktiv auf christologische, eschatologische und pneumatologische Fragen Bezug nahmen kann, zeigt John Polkinghorne, The Faith of a Physicist: Reflections of a Bottom-Up Thinker, The Gifford Lectures for 1993-4, Princeton: Princeton Univ. Press, 1994; ders., Science and Religion in Quest of Truth (siehe Einleitung, Anm. 4); siehe auch ders. u. Michael Welker (Hg.), The End of the World and the Ends of God: Science and Theology on Eschatology, Harrisburg: Trinity, 2. Aufl. 2000; Ted Peters, Robert John Russell u. Michael Welker (Hg.), Resurrection: Theological and Scientific Assessments, Grand Rapids: Eerdmans, 2002. 20 Zur Jahrtausendwende stufte Freedom House 1999: Freedom in the World. The Annual Survey of Political Rights & Civil Liberties 1998-1999, New York, 88 Länder der Erde als „frei“ ein, von denen 79 mehrheitlich christlich waren, drei weitere der 88 Länder – Südkorea, Taiwan und Mauritius – waren durch einflussreiche christliche Bevölkerungsanteile geprägt. 21 Georg Jellinek, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Wege der Forschung XI, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1964, 53f; vgl. John Witte, Jr. u. Frank S. Alexander (Hg.), Christianity and Human Rights: An Introduction, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 2010; John Witte, Jr. u. Johan D. van der Vyver (Hg.), Religious Human Rights in Global Perspective, Bd. 1: Religious Perspectives, Bd. 2: Legal Perspectives, The Hague, Boston u. London: Martinus Nijhoff, 1996; inhaltlich dürftig oder völlig ausgeblendet bleiben die normativen religiösen Grundlagen und Triebkräfte in zahlreichen Textsammlungen und Untersuchungen, z. B. gibt Micheline R. Ishay, The Human Rights Reader: Major Political Essays,
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hat eine „neue Genealogie der Menschenrechte“ propagiert, die die strittige Diskussion: jüdisch-christliche oder aufklärerische Genese der Menschenrechte? durch die Leitidee der „Sakralität der Person“ zu erübrigen und zu überbieten sucht.22 Im Blick auf diese These wäre zunächst zu prüfen, wie weit sich die reale Ausstrahlungskraft dieser Leitidee nicht ganz entscheidend einer die Religionen übergreifenden facettenreichen rituellen Lebenspraxis verdankt. Durch die meist religiös begründete beständige praktischkultische Pflege der Würde der Person – von der Kindertaufe und analogen Riten über die Passageriten bis zur zeremoniellen Beerdigung – wird die Überzeugung von der „Sakralität der Person“ intensiv inkulturiert. Diese religiös geprägte Lebenspraxis strahlt dann auf die Theorie- und Lehrbildung aus, die ohne diesen massiv Loyalität beschaffenden Hintergrund zur bloßen Propaganda verkäme. Zu prüfen wäre ferner, ob die biblische dynamische Normativität in der Spannung von Rechtsevolution und Kultur des Erbarmens nicht als beständige Impulsgabe für diese Leitidee und auch als Immunsystem gegen theoretische und praktische Infragestellungen der Sakralisierung der Person gewirkt hat. Zu prüfen wäre, wie die säkularisierenden und universalisierenden Impulse aufklärerischen Denkens und ihre Auswirkungen auf Bildungssysteme und politische Kultur die religiösen Entwicklungsenergien stimulierten und zugleich gegen sie Klimata erzeugten, in denen sich die Leitidee der Sakralität der Person empfehlen konnte. Hans Joas schließt mit der Hoffnung, dass „auf Dauer … Menschenrechte und Sakralisierung der Person nur eine Chance“ hätten, wenn sie „institutionell und zivilgesellschaftlich gestützt werden, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens inkarniert werden“.23 Soll dies nicht nur ein frommer Wunsch bleiben, so wird man die Abblendung, wenn nicht Ausblendung komplexer zivilgesellschaftlichen Prägekräfte in Form von religiösen Tiefenrationalitäten und rituellen Praktiken kritisch überprüfen müssen. Kritisch überprüft werden muss mit Joas auch die Abblendung des
Speeches, and Documents from Ancient Times to the Present, New York u. London: Routledge, 2. Aufl. 2007, den auch noch schlecht selegierten biblischen Überlieferungen weit weniger Raum als Texten von Karl Marx, vgl. 31-35, 50-52, 64f, 86-89 gegenüber 218-233, 255ff, 263-272; siehe auch Thomas Pogge, Weltarmut und Menschenrechte. Kosmopolitische Verantwortung und Reformen, Ideen & Argumente, Berlin / New York: de Gruyter, 2011. Biblische Orientierung und ökonomiekritische Politik sucht zu verbinden Ulrich Duchrow, Alternativen zur kapitalitischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohenden Ökonomie, Gütersloh u. Mainz: Gütersloher u. Matthias Grünewald, 1994. 22 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp, 2011, bes. 23ff u. 251ff. 23 Joas, Die Sakralität der Person, 281.
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fruchtbaren formativen Dauerkonflikts zwischen religiösen und säkularen Orientierungsansprüchen und Orientierungsleistungen. Die Diskussion um die Tragfähigkeit biblischer Begründungen der Leitidee der Menschenwürde ist keineswegs abgeschlossen.24 Das (oft konflikthaft inszenierte, aber kirchen- und kulturgeschichtlich fruchtbare) Zusammenwirken von „symbolisch dichten“, biblisch-theologisch inspirierten und theologiekritisch-aufklärerischen Traditionen25 bleibt ein höchst fruchtbares Forschungsfeld. Ihre gemeinsamen Auswirkungen auf die Bildungsprogramme und politischen Programme im Aufbau demokratischer Gesellschaften sind beträchtlich und auch weiterhin von hoher Bedetung.26 „Das 21. Jahrhundert könnte mehr noch als die zweite Hälfte des zwanzigsten ein Jahrhundert der Demokratie werden – ein Jahrhundert von teils gut, teils mäßig, teils miserabel funktionierenden Demokratien im Umfeld einer stattlichen Schar von autoritär oder totalitär verfassten Staaten.“27 Erstaunlich knapp sind in den meisten soziologischen und politologischen Beiträgen zum Themenkomplex „Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Menschenwürde“ die theologisch gebildeten religionssoziologischen, geschweige denn inhaltlich-theologischen Untersuchungsansätze. Die „übergroße Mehrheit“ demokratischer Gesellschaften ist von meist stark fortwirkenden christlichen Traditionen und Säkularisierung zugleich geprägt.28 Deshalb muss auch gefragt werden, wie sich das spannungsreiche Zusammenwirken der prophetischen theologischen und religiösen Triebkräfte sowie der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen auf die Entwicklung lebendiger und radikal-demokrati24 Siehe Berndt Hamm u. Michael Welker (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 15: Würde des Menschen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2001; Peter Lampe, Menschliche Würde in frühchristlicher Perspektive, in: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 17, Gütersloh: Kaiser, 2001, 288ff; Wilfried Härle, Der Mensch Gottes. Die öffentliche Orientierungsleistung des christlichen Menschenverständnisses, in: ebd., 529ff; Petra Bahr u. Hans Michael Heinig (Hg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, Religion und Aufklärung 12, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006; Stephan Schaede, Würde – Eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, ebd., 7ff; eher theologisch ernüchternd: Christopher McCrudden, Human Dignity and Judicial Interpretation of Human Rights, European Journal of International Law 19 (2008), 655-724. 25 Klaus Tanner, Stabilisierung durch Dauerreflexion, in: ders., Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung, Theologie – Kultur – Hermeneutik 9, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2008, 231-237. 26 Zu einer abgewogenen Beurteilung der Vorzüge und Nachteile der derzeitigen – maximal 36 – Demokratien und zu Kriterien ihrer Optimierung siehe Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 5. Aufl. 2010, 453ff. 27 Schmidt, Demokratietheorien, 503. 28 Schmidt, Demokratietheorien, 422.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
scher Zivilgesellschaften auswirkt.29 Die Konzentration auf das prophetische Amt Jesu Christi und die prophetische Gestalt des Reiches Gottes bleibt eine zentrale theologische Aufgabe – auch um der theologisch orientierten konstruktiven Auseinandersetzung mit komplexen systemischen Verzerrungen im Zusammenwirken von Religion, Politik, Recht, Moral und Bildung willen.
5.6 Neue Schöpfung, Rettung, Erhebung und Erlösung in Christus: Die Erwartung seiner Parusie zum Gericht und zum seligen ewigen Leben Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet! (Goethe, Faust, 2. Teil, Mitternacht1; 1832) Was ist dein einiger trost in leben und in sterben? Das ich mit Leib und Seel, beyde in leben und in sterben nicht mein, sonder meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der … mich auch durch seinen heiligen Geist des ewigen lebens versichert, und jm forthin zu leben von hertzen willig und bereit macht. (Heidelberger Katechismus von 15632)
Die Lehre von der dreifachen Gestalt des Reiches Christi stellt ein reiches und lebendiges Bild der Offenbarung Gottes in Jesus Christus vor Augen. In Kontinuität und Diskontinuität zu seinem vorösterlichen Leben offenbart er sich selbst als der Auferstandene und Erhöhte. Er offenbart die Kraft und Macht des Heiligen Geistes, „die Seinen“ in sein königlich-diakonisches, priesterliches und prophetisches Leben hineinzunehmen. Er offenbart die schöpferische und neuschöpferische Gegenwart Gottes mit ihren rettenden, erhebenden und erlösenden Kräften. Diese Offenbarung des dreieinigen Gottes ist wegweisend für die ökumenische Kirche aller Zeiten und Weltgegenden. Diese Offenbarung erlaubt es, die verschiedenen Frömmigkeitsprofile der christlichen Konfessionen und christlichen Lebensstile in ihren Differenzen, Gemeinsamkeiten und möglichen wechselseitigen Verstärkungen zu verstehen und zu schätzen. Konfliktträchtige Selbstprofilierungen kön29 Siehe dazu Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, Gütersloh: Kaiser, 1999; David Fergusson, Church, State and Civil Society, Cambridge/UK: Cambridge Univ. Press, 2004; Ralph Fischer, Kirche und Zivilgesellschaft. Probleme und Potentiale, Stuttgart: Kohlhammer, 2008. 1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. III, hg. Erich Trunz, Hamburg: Christian Wegner, o. J., Zweiter Teil, Fünfter Akt, 344. 2 BSRK, 682f (siehe 0.6, Anm. 13).
5.6 Die Erwartung der Parusie
293
nen durch das gepflegte Interesse an fruchtbaren Kontrasten und kreativen Formen des Zusammenwirkens ersetzt werden. Die Erkenntnis, dass die königlichen und die prophetischen Wirkkräfte des Reiches Gottes auch in kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit Formen kirchlichen Lebens treten können, erleichtert den Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Religionen und mit säkularen Engagements zur Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Trotz dieser Weite und dieses Reichtums muss die entfaltete Offenbarungserkenntnis mit christophoben Einstellungen innerhalb und außerhalb der Kirchen rechnen. Menschen werden immer wieder andere Gottesbilder und Gottesgedanken suchen und empfehlen. Sie werden immer wieder an christlichen Theologien und Gestalten christlicher Lebensführung Anstoß nehmen. Sowohl die inneren Spannungen (z. B. in der Auffassung, welche Gewichtung und Rangordnung den drei Gestalten des Reiches Gottes untereinander zukommen soll) des im Licht der Offenbarungserkenntnis gelebten Lebens als auch die äußeren kritischen Anfragen, die andersartigen religiösen Gewissheiten und gegenläufigen Wahrheitsansprüche werden die Suche nach vollkommenerer Gotteserkenntnis und Heilserkenntnis nicht zur Ruhe kommen lassen. Immer wieder werden sich metaphysische, transzendentalphilosophische, existenzialistische und andere Denkformen und Formen der Erfahrungsverarbeitung empfehlen – als klarere, tiefere und die religiösen Orientierungsformen übergreifende Angebote. Immer wieder wird die abgründige Sehnsucht nach vollkommenerer Liebe, tieferem Trost, nach gerechteren Lebensformen, nach klarerer Gotteserkenntnis, nach schöneren und erhebenderen religiösen Erlebnissen eine Steigerung und einen krönenden Abschluss der Offenbarungserkenntnis suchen und einklagen. Kann die Lehre von der Parusie Jesu Christi, von der „wirkmächtige(n) Gegenwart bzw. Ankunft Christi zur universalen Einrichtung des Reiches Gottes durch Gericht, Erlösung und Vollendung der Welt“3, diese Bedürfnisse befriedigen? Kann sie eine abschließende Perspektive auf die Offenbarung und eine Auskunft über die endgültige Gestalt des Reiches Gottes bieten? In kirchlichen Bekenntnissen und in der Theologie ist immer wieder von einer „Wiederkehr“ Jesu Christi zur Vollendung seines Reiches gesprochen worden. Das ist eine missverständliche Rede, weil sie mit der absurden Vorstellung verbunden werden kann, der vorösterliche Jesus würde wiederkehren, oder es würden sich die nachösterlichen Auferstehungserscheinungen in irgendeiner Form wiederholen. Demgegenüber machen die biblischen Überlieferungen ernüchternd klar, 3 Hartmut Rosenau, Art.: Parusie. III. Dogmatisch, RGG4, Bd. VI, 965; siehe auch Hans-Joachim Kraus, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1983, 553ff; Hans Schwarz, Christology, Grand Rapids u. Cambridge/UK: Eerdmans, 1998, 324ff.
294
Wahrer Mensch – wahrer Gott
dass die Parusie Christi nicht ein Ereignis in natürlicher Raumzeit ist: Wer behauptet, der Messias, der Menschensohn, trete zu seiner endgültigen Offenbarung „hier oder dort“ auf, der ist ein falscher Prophet, dem auf keinen Fall Vertrauen geschenkt werden darf.4 Matthäus und Lukas verwenden das Bild des Blitzes für die Parusie: „Denn wie der Blitz von Osten (Aufgang) ausgeht und bis zum Westen (Untergang) scheint, so wird die Parusie des Menschensohns sein.“5 Doch auch dieses Bild ist noch zu naturalistisch und erdnah. Mk 13,27 spricht davon, dass der Menschensohn Engel aussenden und Auserwählte zusammenführen wird „vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.“ Der Menschensohn kommt nicht nur an einen einzelnen Ort und in eine bestimmte Zeit. Sein Kommen in alle Zeiten und Weltgegenden ist Inhalt der visionären Sicht. Entsprechend fassen die Visionen ein Vergehen der irdischen Welt ins Auge. Nicht nur das individuelle menschliche Leben ist endlich und sterblich. Auch „Himmel und Erde werden vergehen“, sie werden „fliehen vor Gottes Angesicht“.6 Die tröstliche Botschaft aber ist die Botschaft der Auferstehung. Das Vergehen von Himmel und Erde erfolgt nicht ins Nichts hinein oder in eine dunkle Transzendenz. Das Vergehen erfolgt hinein in die „neue Schöpfung“. Eines der wichtigsten Ergebnisse langjähriger Zusammenarbeit zwischen Theologinnen, Theologen und Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern über die schwierigen Fragen der Eschatologie war die Erkenntnis, dass die eschatologischen Symbole der biblischen Überlieferungen von Kontinuität und Diskontinuität zwischen der vergehenden und der kommenden eschatologischen Wirklichkeit sprechen. „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben; das Vergängliche erbt nicht das Unvergängliche“ (1Kor 15,50) – eine harte Botschaft von der Diskontinuität. Dem aber steht die Bezeugung der Auferstehung entgegen, in der die fleischliche Existenz in die leibliche und die leibliche Existenz in die geistige Existenz hinein „aufgehoben“ und in ihr verwandelt bewahrt wird.7 Mit der Rede von der neuen Schöpfung, 4 5
Vgl. Mk 13,21-23; Mt 24,23-26; Lk 21,25-28; 17,20-22; vgl. 4.5, Anm 16. Mt 24,27; Lk 17,24; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1825), EKK I/3, Düsseldorf/Zürich u. Neukirchen-Vluyn: Benziger u. Neukirchener, 1997, 431ff. 6 Mt 5,18; 24,35; Mk 13,31; Lk 21,33; 2Petr 3,10.13; Offb 20,11; vgl. die Darstellung von Endzeitszenarien in dem Band Polkinghorne/Welker, The End of the World (siehe 5.5, Anm. 19), bes. William R. Stoeger, Scientific Accounts of Ultimate Catastrophes in Our Life-Bearing Universe, 19ff; u. biblisch Teil III: Themes of the End-Time, 141ff. 7 Vgl. Teil 2.4 u. 2.5; Polkinghorne/Welker, The End of the World, Einleitung, 113; Peters/Russell/Welker, Resurrection (siehe 5.5, Anm. 19), bes. die Beiträge von Robert John Russell, Bodily Resurrection, Eschatology, and Scientific Cosmology: The Mutual Interaction of Christian Theology and Science, 3-30; Michael Welker, Theological Realism and Eschatological Symbol Systems, 31-42; John Polkinghorne, Eschatological Credibility: Emergent and Teleological Processes, 43-55; Nancey Murphy, The Resurrection Body and Personal Identity: Possibilities and
5.6 Die Erwartung der Parusie
295
vom neuen Himmel und von der neuen Erde wird die Diskontinuität betont; mit der Rede von Schöpfung, Himmel und Erde wird an der Kontinuität festgehalten.8 Diese eschatologische Transformation ist tröstlich und bedrückend zugleich. Einerseits wird kein Leid und kein Tod mehr sein, andererseits ist keine fleischliche Existenz mehr und damit kein irdischsinnliches Vorstellungsvermögen. Einerseits wird mit freudevollen Bildern von einem himmlischen Festmahl und von einem Hochzeitsfest9 betont, dass das „ewige Leben“ nicht nur tatsächlich lebendig, sondern freudevoll lebendig und selig ist, andererseits ist diese Lebendigkeit uns ohne sinnliche Wahrnehmung kaum vorstellbar. Die Verheißung des freudevollen ewigen Lebens ist darüber hinaus mit der Vorstellung eines durch Christus vollzogenen Gerichts, einer durch ihn vorgenommenen Scheidung und Reinigung verbunden.10 Die Diskontinuität zwischen Schöpfung und Neuschöpfung ist mit Brüchen und Abbrüchen verbunden. Man hat es immer wieder als tröstlich bezeichnet, dass das eschatologische Gericht durch den liebenden und gütigen Jesus Christus selbst vollzogen wird, der selbst diejenigen annimmt und im Voraus tröstet, die ihn verlassen, fliehen und verraten werden.11 Er ist der göttlich „Mitleidende, der versteht“12. Doch das Gericht wird auch durch den Gekreuzigten vollzogen, der nicht nur am eigenen Leib die Aggressivität und Brutalität der Welt ertragen hat, sondern auch die Solidarität mit den „geringsten Schwestern und Brüdern“ als Anhaltspunkt seiner wahren Gegenwart bestimmt13, vom Parteigänger der Armen, der „an Allen, die in der Welt hoch, groß, mächtig, reich sind, vorübersah“.14 Es wird vollzogen von dem göttlichen Propheten, der die normativen
Limits of Eschatological Knowledge, 202-218; Andreas Schuele, Transformed into the Image of Christ: Identity, Personality, and Resurrection, 219-235. 8 Siehe z. B. 2Kor 5,17; Gal 6,15; Offb 21,1; schon Jes 65,17; 66,22. 9 Mt 22,2ff; 26,29; Mk 14,25; Offb 19,7; 21,2; vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 364ff (siehe 4.2, Anm. 12); zu weiteren Bildern der Freude des Reiches Gottes siehe Catherine Keller, Forces of Love: The Christopoetics of Desire, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 115-133 (siehe zum Buch 0.1, Anm. 7). 10 Mt 25,33; Joh 5,22ff; 16,8ff; vgl. Gregor Etzelmüller, ... zu richten die Lebendigen und die Toten. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2001, 243ff; Jürgen Moltmann, Is there Life after Death?, in: Polkinghorne/Welker, The End of the World, 238-255, zum Purgatorium 247f (zum Buch siehe 5.5, Anm. 19). 11 Vgl. Teil 5.4; Welker, Abendmahl, 49ff, 147ff (siehe 5.4, Anm. 1). 12 The „fellow-sufferer who understands“, Whitehead, Process and Reality, 532 (siehe 2.4, Anm. 6). 13 Vgl. Mt 25,31-46; Hoffmeyer, Christology and Diakonia, 152ff (siehe 4.4, Anm. 23); siehe auch Teil 4.4. 14 Barth, KD IV/2, 188, vgl. 182ff.
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Wahrer Mensch – wahrer Gott
Überforderungen und normativen Erwartungskonflikte unter den Menschen im Licht des kommenden Reiches Gottes offenlegt.15 Nicht die Wiederherstellung eines „seligen Naturzustands“, sondern die Transformation in eine neue Schöpfung, in der „Gerechtigkeit wohnt“ (2Petr 3,13) und in der Gott unter den Menschen seine Herrlichkeit leuchten lässt, ist die Pointe der doppelten Verheißung von Gericht und Freude.16 Doch welcher Status kommt all diesen Visionen von der Parusie Christi zu, wenn sie sich doch nicht in dieser unserer Zeit und Welt ereignen wird? Die ganz entscheidende Einsicht der Ewigkeits-Eschatologie lässt sich anhand der Aussagen über die Auferstehung und das kommende Reich Gottes gewinnen. Die große tröstende Botschaft liegt gerade darin, dass sich die Parusie nicht nur ereignen wird, sondern dass sie sich immer schon ereignet hat und ereignet, dass Gericht und Rettung, Erhebung und Erlösung in dieser relativen wirklichen Welt und über sie hinausgehend immer schon ergehen.17 Jede Sehnsucht nach Neuschöpfung, nach Rettung, Erhebung und Erlösung wird also immer zurückgelenkt auf das gekommene und kommende Reich Gottes, das die irdisch gelebten und irdisch vollendeten Leben der Menschen durchdringt und übergreift. Das königlich-diakonische, das priesterliche und das prophetische Leben sind Vorwegnahmen, die Gottes Schöpfung in der von Paulus markierten Spannung leben lassen: x „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18). x Und: „Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn“ (2Kor 3,18). 15 Vgl. Michael Welker, ‚Richten und Retten‘. Systematische Überlegungen zu einer unverzichtbaren Funktion der Religion, in: Jan Assmann, Bernd Janowski u. Michael Welker (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München: Fink, 1998, 28-35; Etzelmüller, ... zu richten die Lebendigen und die Toten, 321ff (siehe 5.6, Anm. 10). 16 Etzelmüller, ... zu richten die Lebendigen und die Toten, 321ff, hat sehr subtil den Prozess der Heilung auch der Erinnerungen der Opfer und der Täter beschrieben; Günter Thomas, Neue Schöpfung, 471ff u. 499ff (siehe 5.3, Anm. 22), hat im Blick auf die Vision von der „Herabkunft des himmlischen Jerusalems“ die Eröffnung eines neuen Gemeinschaftsraums und Möglichkeitsspektrums durch die leuchtende Gegenwart der Doxa Gottes als Anliegen der Neuschöpfung vor Augen gestellt. 17 Vgl. Gerhard Sauter, Eschatologische Rationalität, in: ders., In der Freiheit des Geistes. Theologische Studien, Göttingen: Vandenhoeck, 1988, 166ff; ders., Our Reasons for Hope, in: Polkinghorne/Welker, The End of the World, 209-221 (siehe zum Buch 5.5, Anm. 19); siehe ebd., auch Kathryn Tanner, Eschatology without a Future?, 222-237; u. Miroslav Volf, Enter into Joy! Sin, Death, and the Life of the World to Come, 256-278.
5.6 Die Erwartung der Parusie
297
Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus eröffnet schon in diesem Leben und in dieser Zeit Zugänge zum ewigen Leben. Dabei ist dieses Leben strikt im Kommen begriffen, es ist in der Bitte und in der Hoffnung zu vergegenwärtigen, gegen alle Neigungen zu religiöser und moralischer Selbstgerechtigkeit und zu einem entsprechenden Triumphalismus.18 Die Offenbarung wirft ein scharfes Licht auf die Angst und Ohnmacht des irdischen Lebens, auf seine Resignation und Verzweiflung angesichts geschöpflicher Kälte, Brutalität und des Scheins letzter Vergeblichkeit. Die Offenbarung beleuchtet aber noch viel heller die Bestimmung des Lebens zur Geborgenheit in der Tiefe Gottes des Schöpfers, in der Lebendigkeit des Geistes und in der Teilhabe an der Auferstehung. Sie macht Mut, schon in dieser befristeten Lebenszeit auf die Macht der Liebe, der Gerechtigkeit und Wahrheit zu vertrauen. Sie weckt und stärkt so die wirksame Hoffnung auf Teilhabe am Leben des erhöhten Christus19, am göttlichen Leben, an einem Leben vollendeter Freiheit, vollendeten Friedens und vollendeter Seligkeit.
18 Zu Analogien zwischen alt- und neutestamentlichen Perspektiven siehe Andreas Schuele, „On earth as it is in heaven“: Eschatology and the Ethics of Forgiveness, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 185-202 (siehe zum Buch 0.1, Anm. 7). 19 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 694 (siehe 3.5, Anm. 39) spricht von einem „Sichzuvorkommen( ) der ewigen Zukunft Gottes zum Heil der Geschöpfe“ bis zur eschatologischen Heilsvollendung; Pheme Perkins, Resurrection: New Testament Witness and Contemporary Reflection, Garden City: Doubleday, 1984, 309ff, zeigt, wie in verschiedenen biblischen Überlieferungen die „language of the resurrection“ beide Dimensionen der Eschatologie verbindet; dies gelingt auch der Rede vom „Corporate Christ“, vgl. John Polkinghorne, The Corporate Christ, in: Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today?, 103-111 (siehe zum Buch 0.1, Anm. 7).
Nachwort
Dieses Buch ist die stark erweiterte Fassung der sechs Gunning Lectures, die ich 2004 am New College in Edinburgh gehalten habe. Den schottischen Kollegen, ganz besonders David Fergusson, Larry Hurtado und Alistair Kee, danke ich für die Einladung zu diesen Vorlesungen, für ihre Gastfreundschaft und für fruchtbare theologische Gespräche. Zentrale Gedanken dieser Christologie habe ich zuvor in der Horace De Y. Lentz Memorial Lecture 2001/02 im Rahmen einer Gastprofessur an der Harvard Divinity School vorgetragen.1 Sarah Coakley, Elisabeth und Francis Schüssler Fiorenza danke ich für viele theologische Impulse auch über diese Zeit hinaus. Im Jahr 2008 hatte ich Gelegenheit, zehn Vorlesungen zur Christologie mit Kollegen und Postdocs aus Hongkong und der Volksrepublik China intensiv zu diskutieren, wofür ich der Hong Kong Baptist University und besonders Herrn Kollegen Phee Seng Kang sehr dankbar bin. Mein besonderer Dank gilt dem Center of Theological Inquiry, Princeton (CTI) und seinen Direktoren Wallace Alston und William Storrar. Die Einladungen, als Senior Consultant Scholar und als Scheide-Fellow das Center zu besuchen, gaben mir Freiräume zur Arbeit an Fragen der Christologie und der Eschatologie, aber auch die Gelegenheit zu Gesprächen mit den Scholars in Residence aus aller Welt und mit Princetoner Kollegen und Kolleginnen. Sehr förderlich war diesem Buch die langjährige interdisziplinäre Kooperation mit Heidelberger Kollegen und Kolleginnen an der Theologischen Fakultät, im Graduiertenkolleg „Religion und Normativität“ und in den Gesprächskreisen „Kulturanalyse“ und „Natur- und Geisteswissenschaften“ im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg (IWH) und in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Schlüsselerkenntnisse brachten mir mehrjährige internationale und interdisziplinäre Dialoge zwischen Theologie und Naturwissenschaften über Fragen der Eschatologie2 und der Anthropologie.3 In großer Dankbarkeit weise ich darauf 1 Who is Jesus Christ for us Today?, in: Harvard Theological Review 95 (2002), 129-146; deutsch: Wer ist Jesus Christus für uns heute?, in: Lippische Landeskirche, Kleine Schriften 9 (2003), 1-23. 2 Vgl. Polkinghorne/Welker, The End of the World (siehe 5.5, Anm. 19); Peters/Russell/Welker, Resurrection (siehe 5.5, Anm. 19). 3 Vgl. E. K. Soulen u. L. Woodhead (Hg.), God and Human Dignity, Grand Rapids: Eerdmans, 2006; Welker, The Depth of the Human Person (siehe 2.4, Anm. 9).
Nachwort
299
hin, dass viele der internationalen und interdisziplinären Kooperationen über die Jahre hinweg gefördert wurden vom Center of Theological Inquiry, Princeton, vom Center of Science and Religion, Berkeley, dem Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg, der John Templeton Foundation, der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stiftung und der Stiftung Volkswagenwerk. Etliche Erkenntnisse dieses Buches wurden in Vorträgen im In- und Ausland nicht nur an Universitäten zur Diskussion gestellt, sondern auch auf kirchlichen Tagungen, auf Pfarrkonventen und in Kirchenleitungsgremien. Längere Beiträge zu Taufe und Abendmahl sind in kirchliche „Orientierungshilfen“ eingegangen.4 Von den in kirchlichen Kontexten geführten Gesprächen hat dieses Buch ebenso profitiert wie vom theologischen Engagement der Studierenden der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg und der Harvard Divinity School. Besonders dankbar verbunden bin ich dem Kreis meiner Doktorandinnen, Doktoranden und Postdocs sowie den Heidelberger Studierenden in der Vorlesung „Christologie“ im Sommersemester 2009. Meine früheren Wissenschaftlichen Assistenten und heutigen Kollegen Günter Thomas (Bochum) und Andreas Schüle (Richmond, Virginia) haben mich mit der Herausgabe einer deutschen und einer amerikanischen Festschrift zu Themen der Christologie überrascht und erfreut.5 Sie haben dafür Sorge getragen, dass ich vor Abschluss dieses Bandes noch einmal mit vielen mir nahestehenden Kollegen und Kolleginnen in den Dialog über Fragen der Christologie treten konnte. Für vielfältige Hilfe bei der Besorgung von Literatur und bei der Erstellung der Register danke ich meinen ehemaligen und jetzigen studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Herrn Dennis Dietz, Frau Judith Krüger, Frau Irmela Küsell, Herrn Simon Layer, Frau Charlotte Reda, Frau Maren Ossenberg-Engels, Herrn Thomas Renkert, Herrn Christoph Wiesinger und meiner Sekretärin, Frau Caroline Gödde. Für kritische Lektüre und Kommentare zu Teilen dieses Buches bin ich meinen Assistenten und Assistentinnen verbunden, Herrn PD Dr. Gregor Etzelmüller, Frau Nina-Dorothee Mützlitz, Frau Hanna Reichel, Frau Dr. Heike Springhart und Herrn Dr. Alexander Maßmann, der darüber hinaus die Vorbereitungen für die Drucklegung koordiniert hat. Dem Neukirchener Verlag und Herrn Ekkehard Starke danke ich für konstruktive Zusammenarbeit.
4 Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche, Gütersloh: Gütersloher, 2003; Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche, Gütersloh: Gütersloher, 2008. 5 Thomas/Schüle, Gegenwart des lebendigen Christus (siehe 1.5, Anm. 5); Schuele/Thomas, Who is Jesus Christ for Us Today? (siehe 0.1, Anm. 7).
300
Nachwort
Ganz besonders danke ich meiner Frau, Ulrike Welker. Sie fördert seit vierzig Jahren die theologische Reflexion im täglichen Gespräch und durch kritische Lektüre meiner Entwürfe und Druckvorlagen. Auch die Arbeit an diesem Buch hat sie mit großem Engagement begleitet. Als Ausdruck der Freude über unsere Lebens- und Weggemeinschaft ist es ihr gewidmet. Heidelberg, im Herbst 2011
M. W.
Register Bibelstellen Gen 1,4................. 262 1,10ff ............ 262 1,26f ............. 193 3,22a ............. 153 5,1ff .............. 193 8,8ff .............. 264 9,6................. 193 14,1-24 ......... 257 Ex 4,22................. 95 20,2-17 ......... 184 20,12-16 ....... 208 21,2ff ............ 210 22,20ff .......... 210 24,18............... 96 32,*7-14 ....... 193 32,*30-34 ..... 193 Lev 4f .................. 193 5 ................... 187 5,7................. 187 5,11............... 193 8-10 .............. 193 14,3-7 ........... 193 16................. 187, 193, 268 16,20-22 ....... 193 17,11........... 187f 19,9f ............. 210 19,18............. 208 23,22............. 210 24,16..... 162, 210 24,21f ........... 210 Dtn 1,31................. 95 4,7f ................. 22 5,6-21 ........... 184 5,16-20 ......... 208 6,4................... 72 12,33............. 187
14,28f ........... 210 26,12-15 ....... 210 32,6 ................ 95 32,18f ............. 95
Spr 8,30................. 96
3,11 .............. 133 8,28 .............. 133
Ijob 28,23ff ........... 96
Jes 7,10ff .............. 95 7,14................. 96 9,5f ................. 95 11,1ff ............ 134 11,2............... 202 12,6................. 95 42,1ff ............ 134 42,1-4 ............. 91 50,8................. 22 52,13-53,12 .. 193 53,2............... 174 61,1f ............... 91 61,1ff ............ 134 63,15............. 172 63,16............... 95 65,17............. 295 66,22............. 295
Ps
Jer
Hld 8,6................. 241
Ri
1Sam 2,6 ................ 138 2Sam 7,14 ............... 95f 1Kön 1,38 ................ 95 1Chr 28,5 ................ 95 29,23 .............. 95
2,7 .................. 96 22 ................. 165 22,2 .............. 177 34,19 .............. 22 40 ................. 191 50 ................. 191 51 ................. 191 69 ................. 191 72 ................ 193 75,2 ................ 22 85,10 .............. 22 89,27f ............. 95 89,28 .............. 96 110,4 ............ 257 119,151 .......... 22 145,18 ............ 22
15,*10-20 ..... 193 26,19............. 193 31,9................. 95 31,15............... 22 31,20............. 172 Ez passim ............ 96 Dan 7 ................... 122 7,13................. 91 7,15ff .............. 95 8,17................. 96 Hos 11,1................. 95
302 Joel 3,1................. 199 3,1ff .............. 206 3,5................... 72 Mi 5,1................... 95 5,3................... 95 Zef 3,14f ............... 95 Sach 2,14................. 95 5,5-11 ........... 193 9,9f ................. 95 Weish 7,22ff .............. 96 9,10................. 96 9,17................. 96 Sir 24,1-22 ........... 96 4Esr 13.................... 95
Mt 1,1................... 90 1,16................. 91 1,18f ............... 22 1,21-23 ........... 96 2,1-12 ............. 20 2,16-18 ........... 22 3,13ff ............ 263 3,16............... 264 3,17............... 266 5,3................... 82 5,5................... 82 5,17ff ............ 209
Register 5,18 .............. 294 5,31ff ............. 81 5,48 .............. 226 6,10-12 ......... 210 6,33 ................ 63 7,6 .................. 75 8,5-13 ............. 84 10,14 ............ 224 11,20 .............. 91 11,27 ............. 95, 197, 236 12,14 ............ 180 12,18-21 ......... 91 12,40ff ........... 90 13,1ff ........... 217 13,31ff ......... 217 13,36ff ......... 218 13,57 .............. 90 15,21-28 ......... 84 15,22 .............. 90 15,24 .............. 75 16,15 ............ 258 16,16 .............. 91 16,19 ............ 279 16,20 .............. 91 16,21-23 ....... 283 17,2 .............. 265 17,3ff ............. 90 17,22f ........... 283 18-25 ............ 294 18,3ff ........... 211 18,21-35 ....... 167 18,23ff ......... 210 19,13-15 ......... 60 19,16ff ......... 208 19,21 ............ 209 19,24 ............ 211 19,25 ............ 210 19,28-30 ......... 81 20,1ff ........... 210 20,1-16 ......... 167 20,17-19 ....... 283 20,28 ............ 276 20,30f ............. 90 21ff ................ 70 21,4ff ............. 90 22,1ff ........... 218 22,2ff ........... 295 22,37-40 ....... 259 22,43ff ........... 90
23,10............... 91 24,23ff .......... 232 24,23-26 ....... 294 24,27............. 294 24,35............. 294 25,1ff ............ 218 25,31-46 ...... 225, 295 26-28 ............ 277 26,4............... 180 26,24f ........... 277 26,26-28 ..... 272f 26,27............. 276 26,28............. 278 26,29............. 295 26,31............. 277 26,36-46 ....... 283 26,39ff ............ 31 26,56............. 277 26,57f ... 277, 283 26,59............. 180 26,69-75 ....... 277 26,69-82 ....... 283 27,11ff ............ 90 27,11-26 ....... 180 27,15-26 ....... 175 27,18ff .......... 180 27,20..... 173, 180 27,22f ..... 21, 173 27,26ff .......... 179 27,46............. 177 27,52f ........... 109 28,1-8 ........... 115 28,9....... 118, 120 28,11-15 ....... 116 28,17..... 118, 120 28,18..... 220, 222 28,19..... 120, 197 28,19f ........... 261 Mk 1,1f ................. 96 1,9ff .............. 263 1,10............... 264 1,11......... 95, 266 1,29................. 56 2,5................. 167 3,6................. 180 4,1ff .............. 217 4,26ff ............ 217
303
Bibelstellen 6,4........... 90, 283 6,15......... 90, 283 7,24-30 ........... 84 7,27................. 75 8,27............... 170 8,28ff ............ 283 8,29................. 91 9,3................. 265 9,4ff ................ 90 9,7................... 95 9,30-32 ......... 283 9,33ff ............ 211 9,36f ............... 59 9,41................. 91 10,2ff .............. 81 10,13-16 ......... 59 10,17ff .......... 208 10,21............. 209 10,23ff .......... 211 10,26............. 210 10,32-34 ....... 283 10,45............. 276 10,46ff .......... 90f 11,10............... 91 12,13-17 ......... 81 12,36f ............. 90 13,21-23 ....... 294 13,21f ........... 232 13,27............. 294 13,31............. 294 14,1............... 180 14,21............. 277 14,22ff .......... 272 14,23f ........... 276 14,25............. 295 14,32-42 ....... 283 14,36............... 31 14,50ff .......... 277 14,53f ........... 283 14,55............. 180 14,61............... 91 14,64............. 180 14,65............. 179 14,66ff .. 277, 283 15,1-15 ......... 180 15,2ff .............. 90 15,6-15 ......... 175 15,10ff .......... 180 15,11ff .. 173, 180 15,13f ..... 21, 173
15,15 ............ 179 15,26 .............. 91 15,32 .............. 90 15,34 .... 165, 177 15,37 ............ 177 15,39 .............. 95 16,1-8 .......... 116 16,12 ............ 117 16,14 ............ 117 16,19 ............ 118 Lk 1,5 .................. 70 1,32f ............... 95 1,33 ................ 90 1,35 ................ 96 2,2 .................. 56 2,6 .................. 96 2,7 .................. 22 2,8-20 ............. 20 2,11 ................ 90 3,6 ................ 267 3,16 ................ 91 3,21ff .. 263f, 266 3,23 ................ 70 4,18f ............... 91 4,24 ................ 90 4,38f ............... 56 4,41 ................ 91 7,1-10 ............. 84 7,16 .............. 283 8,4ff ............. 217 9,20 ................ 91 9,22 .............. 283 9,29 .............. 265 9,30ff ............. 90 9,43b-45 ....... 283 10,22 .... 197, 236 10,25ff ......... 208 10,25-37 ....... 167 11,2-4 ........... 210 11,29ff ........... 90 12,16ff ......... 211 12,31 .............. 63 12,33 ............ 209 13,18ff ......... 217 13,31ff ......... 283 13,32 .............. 81 13,33 .............. 90 14,15ff ......... 218
15,11ff .......... 210 15,11-32 ....... 167 16,16f ........... 209 16,18............... 81 17,16............... 90 17,20-22 ....... 294 17,20f ........... 217 17,23f ........... 232 18,9-14 ......... 167 18,15-17 ......... 59 18,17............. 211 18,18ff .......... 208 18,22............. 209 18,24f ........... 211 18,26............. 210 18,31-34 ....... 283 18,38f ............. 90 19,38............... 90 19,47............. 180 20,41ff ............ 90 21,19............... 90 21,25-28 ....... 294 21,33............. 294 22,2............... 180 22,19............. 270 22,19f ........... 272 22,21f ........... 277 22,31-46 ....... 283 22,42............... 31 22,54-62 ...... 277, 283 23,2f ............... 90 23,13ff .......... 180 23,13-25 ....... 175 23,18.............. 21, 173, 181 23,21............. 173 23,22f ............. 21 23,23............. 173 23,37f ............. 90 23,38............. 179 23,46............. 177 23,1-25 ......... 180 24.................. 111 24,1-12 ......... 116 24,16............. 111 24,25-27 ....... 119 24,26............... 91 24,30............. 120 24,30f ........... 111
304 24,32............. 112 24,37............. 119 24,38............. 118 24,39f ... 118, 120 24,41f ........... 118 24,43............. 120 24,45............. 120 24,46............... 91 24,51..... 118, 120 Joh 1,1ff ............... 73, 235, 248 1,1-18 ... 96, 248f 1,12............... 197 1,14............... 236 1,16............... 202 1,17................. 90 1,29ff ........... 179, 185, 267 1,32............... 264 1,36....... 179, 185 1,41........... 91, 96 2,14................. 56 2,15................. 57 4, 34.............. 202 4,19................. 90 4,24............... 132 4,25........... 91, 96 4,44................. 90 4,46b-54 ......... 84 5,2-9 ............... 57 5,18............... 180 5,22ff ............ 295 5,46................. 90 6,14......... 90, 283 6,37-40 ......... 135 6,42............... 103 6,51............... 278 6,54ff ............ 179 7,25............... 180 7,40ff ............ 90f 8,37............... 180 8,40............... 180 8,56ff .............. 90 9,17................. 90 10,24............... 91 10,27............... 91 10,30............. 235 10,33............. 180
Register 10,38 ............ 235 11,53 ............ 180 12,13ff ........... 90 13,23 ............ 116 14,2 ................ 53 14,6 ...... 136, 235 14,23 ............ 148 16,8ff ........... 295 16,32 ............ 277 17,1-3 ... 197, 236 17,21 ............ 148 17,22ff ......... 236 18,12-18 ....... 277 18,25-27 ...... 277, 283 18,28-19,16 .. 180 18,31 ............ 180 18,33ff ........... 90 18,36 ............ 219 18,38 ............ 180 18,39f ........... 175 19,1-3 ........... 179 19,12 .... 173, 180 19,12ff ........... 90 19,15 ... 173, 180f 19,19f ........... 179 19,26f ........... 116 19,30b .......... 177 20 ................. 119 20,1-10 ......... 116 20,16ff ......... 120 20,19f ........... 118 20,23 ............ 279 20,27f ........... 120 20,28 ............ 118 20,31 .............. 91 21,4 .............. 119 21,7 .............. 116 21,12f ........... 120 21,20 ............ 116 Apg 1,3 ................ 121 2,1ff ............. 206 2,9ff ............... 56 2,21 ................ 72 2,26 ................ 91 2,33 ................ 91 3,15 .............. 107 3,18 ................ 91
3,18-20 ........... 91 3,22............... 283 4,12............... 236 7,37............... 283 8,32............... 179 9,3f ........ 107,113 9,3-9 ............. 113 9,7................. 122 9,9................. 113 9,14................. 73 9,21................. 73 9,22................. 91 17,3................. 91 18,5................. 91 18,28............... 91 22,6-11 ......... 113 22,9............... 122 22,11............. 113 22,16............... 73 26,12-18 ....... 113 Röm 1-4 ................ 141 1,1-4 ............... 90 1,2-4 ............... 96 1,3................. 124 1,3f ................. 95 1,4................ 167, 178, 197 1,26f ............. 127 2,20............... 184 3,21............... 141 3,25............... 179 5,5................. 126 5,6-8 ............... 96 5,9................. 179 5,12ff ............ 103 6,4-6 ............. 266 7,7................. 184 7,12............... 184 7,14..... 124, 183f 7,23ff ............ 184 7,25............... 183 8,2................. 184 8,3......... 124, 179 8,6................. 124 8,11............... 178 8,18....... 242, 296 8,26................. 51 8,29............... 107
305
Bibelstellen 9,5................. 124 9,5................... 96 10,9f ............... 72 10,13............... 72 12,4f ............. 126 13,13............. 127 14,17............. 220 15,8-12 ........... 96 15,56............. 184 1Kor 1,2................. 72f 1,13............... 269 1,18............... 180 1,23f ............. 180 2,1-10 ........... 174 2,2................. 135 2,8........... 21, 173 2,9f ............... 207 2,12............... 131 5,1................. 127 5,3-6 ............. 125 5,7................. 179 6,9f ............... 127 6,13ff ............ 127 6,19............... 126 6,19f ............. 125 8,6................. 248 9,1......... 113, 198 10,8............... 127 10,16............. 179 10,16b........... 272 11,20ff .......... 273 11,20............. 127 11,23-26 ..... 271f 11,23b-25 ..... 273 11,25............. 179 11,27............. 273 11,28ff .......... 279 12.................. 132 12,3................. 72 12,11ff .......... 126 12,12ff .. 126, 206 12,13............. 269 12,27............. 126 14,2................. 51 14,2f ............ 128 14,15ff .......... 128 14,26............... 72 15,3-9 ........... 108
15,14 .............. 99 15,20 ............ 107 15,21ff ......... 103 15,22 .............. 90 15,23-28 ....... 196 15,27f ........... 220 15,44 ............ 119 15,44b .......... 103 15,44ff ... 90, 178 15,49 ............ 113 15,50 ............ 294 15,56 ............ 141 16,22 .............. 72 2Kor 3,3 ................ 124 3,18 .............. 296 4,6 ................ 113 4,10 .............. 126 4,11 .............. 124 5 .................. 194 5,16 ................ 88 5,17 ...... 148, 295 9,15 ................ 72 12,8 ................ 72 12,21 ............ 127 Gal 1,15f ............. 113 1,16 .............. 108 2 .................. 274 2,20 .............. 148 3 .................. 141 3,14 ................ 90 3,16 ................ 90 3,26f ............. 148 3,27 .............. 268 3,28 ........ 76, 269 3,29 ................ 90 5,17 .............. 124 5,19ff ........... 127 6,8 ................ 124 6,15 .............. 295 6,17 .............. 126 Eph 1,7 ................ 179 1,10 .............. 205 2,13f ............. 179 3,2 ................ 205
4,15f ....... 34, 222 5,2................. 179 5,5................. 196 5,19................. 72 Phil 1,20............... 126 2 ................... 253 2,9-11 ............. 72 3,8................. 113 Kol 1,13ff ............ 196 1,15f ..... 235, 248 1,18............... 107 1,19............... 235 1,20............... 179 1,25............... 205 2,9................... 13 2,12............... 268 3,16................. 72 1Thess 1,6................. 220 2Thess 1,9................. 197 1Tim 3,16b............. 178 6,14f ............... 90 6,15............... 220 2Tim 4,1................. 196 4,18............... 196 1Petr 1,19............... 179 2Petr 1,10f ............. 196 2,20f ............. 264 3,10ff ............ 294 3,13............... 296 1Joh 1,7................. 179 5,6ff .............. 179
306 Hebr 1,1ff ....... 96, 235, 248, 257f, 284, 287 1,13............... 235 2,5ff .............. 258 2,10............... 172 2,12............... 192 2,17. 90, 257, 258 3,1................. 257 4,14f ............. 257 5,1ff .............. 257 5,10......... 90, 257 6,20......... 90, 257 7,1ff .............. 257 7,26......... 90, 257
Register 8,1ff ............ 257f 8,3 .................. 90 9,7ff ............. 257 9,11 ................ 90 9,12ff ........... 179 9,24ff ........... 257 9,26ff ........... 179 10,1ff ........... 257 10,10ff ........ 192, 179, 257 10,19 ............ 179 13,8 .............. 235 13,11ff ......... 257 13,20 ............ 258 7-10 .............. 199
Jud 1,21ff ............ 197 Offb 1,5................. 107 1,6................. 197 1,8................. 220 5,6................. 185 5,6-22,3 ........ 179 5,9................... 72 12,10............. 220 19,7............... 295 20,11............. 294 21,1f ............. 295 21,5............... 170 22,1ff ............ 179
Namen
307
Namen Abromeit, H.-J. 18 Adam, K. 248 Ahn, B.-M. 37 Alexander, F.S. 289 Alfeyev, H. 178, 225 Allison, D.C. jr. 71 Alston, W. 288 Althaus, P. 110 Altizer, Th. 164 Ammon, Ch.F. 65 Andjelic, M. 285 Anselm v. Canterbury 185 Aristoteles 78, 92, 130, 161, 168 Assmann, H. 35 Assmann, J. 233, 271, 296 Athanasius 250 Augustinus 33, 39, 190 Aulén, G. 185 Ayres, L. 244 Bade, J. 91 Bader, G. 185 Baldermann, I. 117 Balthasar, H.U.v. 178, 246 Barth, H. 263 Barth, K. 25f, 38, 40, 48, 50f, 114, 132, 140, 164, 166, 174, 181f, 198, 200, 203, 205-207, 222, 228, 242, 245-248, 258, 264, 267, 270, 280, 284, 287, 295 Basilius v. Caesarea 33, 220 Bat Ye’or 30 Bauckham, R. 72, 74 Bauer, B. 65f, 152 Baur, F.Chr. 100 Bedford-Strohm, H. 220, 223, 286, 292 Behr, J. 178, 267 Beinert, W. 132 Beintker, M. 213 Bellah, R. 230 Berger, K. 54, 74 Berger, P.L. 230 Bergunder, M. 205
Bethge, E. 18 Betz, J. 276 Bieritz, K.-H. 224 Bingemer, M.C. 36 Birmelé, A. 270 Bobrinskoy, B. 244, 259 Boehm, G. 51 Boesak, A. 36 Boff, L. 35, 183 Bohren, R. 263 Bonhoeffer, D. 16-19, 23-28, 38, 44, 52, 154, 159-164, 183, 220, 231f, 242, 251-254 Bordt, M. 130 Bornkamm, G. 62f, 67, 70 Bourdieu, P. 190 Bousset, W. 73 Brandon, S.G.F. 58 Brandt, S. 174, 179, 182f, 186f, 189f, 191f, 200, 258, 288 Braun, H. 212 Breytenbach, C. 58, 75 Brock, R.N. 192 Brown, Dan 65 Brown, David 256 Brunner, E. 140, 220 Bubner, R. 145 Bucer, M. 213 Bulgakov, S. 178 Bultmann, R. 20, 42, 55, 62, 67, 78, 99, 102-107, 110, 197, 236, 274 Bunge, M. 224 Buren, P.v. 173 Burkert, W. 189 Busch, E. 220 Butler, J. 225, 286 Calvin, J. 42-44, 91, 195, 197-203, 219, 228, 240f, 253, 275, 285, 288 Campenhausen, H.v. 117 Cazelles, H. 90, 93, 94, 97 Celsus 55, 101 Chapman, D.J. 256 Charlesworth, J. 54, 56f, 132
308 Chilton, B. 58 Choi, M.J. 37 Chung, H.K. 37 Clayton, Ph. 215 Clemens v. Alexandria 33 Coakley, S. 242, 255f Cobb, J. 260 Cone, J. 36, 183 Cristescu, V. 266 Cromwell, O. 213 Crossan, J.D. 54, 57-61, 74-78, 83, 89 Crüsemann, F. 184 Cullmann, O. 73, 162 Dalferth, I. 44, 159f, 168-171, 185, 197 Danto, A. 155 Darby, J.N. 205 Davies, E.F. 288 Davis, S.T. 255 Dawkins, R. 195 Dayton, D.W. 204 De Wette, W.M.L. 101 Deichgräber, R. 72 Derrida, J. 190 Descartes, R. 39, 130 Deuser, H. 184 Dinkel, Ch. 260 Dodd, C.H. 73 Dörner, A. 79 Dorner, I.A. 198 Duchrow, U. 290 Dunn, J. 70, 73f, 203f Ebeling, G. 67, 263 Eckstein, H.J. 73, 106 Ehrenberg, H. 50 Ellacuría, I. 35, 226 Engels, F. 143, 152 Enns, F. 276 Erlemann, K. 71 Etzelmüller, G. 220f, 272f, 295f Eusebius v. Caesarea 33, 199 Eutyches 251
Register Fabella, V. 36 Falk, H. 58 Farley, E. 261 Faupel, D.W. 204 Felmy, K.Ch. 221 Fergusson, D. 67, 104, 292 Feuerbach, L. 37, 49f, 143, 152 Fichte, J.G. 43, 144, 153 Fiddes, P.S. 172 Fiorenza, F. 35, 133, 227, 258 Fischer, J. 168 Fischer, R. 292 Fishbane, M. 22 Flogaus, R. 148 Flusser, D. 75 Frank, J. 31 Frey, Ch. 116 Freyne, S. 94 Fromkin, D. 30 Fuchs, E. 67 Füglister, N. 93 Fulda, H.F. 147 Funk, R. 70 Gabler, J.Ph. 101 Garrow, D.J. 284 Gaventa, B.R. 22, 71 Gavrilyuk, P. 176 Gerhard, J. 199 Gerrish, B. 275 Gese, H. 74, 90, 94-98, 179, 185-188, 198 Gestrich, Ch. 193 Geyer, H.-G. 175 Gibson, M. 179 Gillespie, Th. 128, 286 Girard, R. 189 Gnilka, J. 77 Goethe, J.W.v. 128, 167, 292 Gogarten, F. 140, 237 Gräb, W. 45f Grappe, Ch. 223 Gräßer, E. 172, 257 Gregersen, N. 191 Gregor v. Nazianz 33 Gregor v. Nyssa 33, 178
309
Namen Greidanus, S. 93 Greve, J. 215 Grieshaber, HAP 20 Grillmeier, A. 244 Guardini, R. 257 Gustafson, J. 225 Habermas, J. 143, 147, 155, 225, 227, 229 Hahn, F. 66, 73 Hall, D.J. 172 Halleux, A.de 244 Hamm, B. 136, 139, 291 Hampel, V. 95 Hanson, P. 78, 288 Harasta, E. 263 Hare, D.R.A. 95 Härle, W. 224, 288, 291 Harnack, A.v. 140 Hays, R.B. 71, 207 Hegel, G.W.F. 16, 19, 45, 66, 97, 100, 142-153, 158-168, 171 Heidegger, M. 19, 164 Heimbucher, M. 221 Hengel, M. 15, 70-74, 78, 162, 175, 179f Hengstenberg, E.W. 90-92, 97 Henrich, D. 39, 43, 146, 153 Herberg, W. 68 Herder, J.G. 64 Herms, E. 44, 230, 291 Hennig von Lange, A. 47 Heß, M. 152 Hick, J. 256 Hinga, T.M. 36 Hirsch, E. 92, 135 Hodgson, P. 204 Hoffmeyer, J. 225, 295 Hofius, O. 96f, 185, 273 Hölderlin, F. 20, 145 Hollenweger, W.J. 207 Holtzmann, H.J. 65 Honemann, V. 136 Hopkins, D. 34 Horrell, D.G. 76 Hromádka, J.L. 67
Huber, W. 209, 223, 228f, 289 Hubert, H. 190 Hurtado, L. 70-74 Irenäus v. Lyon 250 Ishay, M.R. 289 Iwand, H.J. 280 Janowski, B. 22, 93, 152, 179, 185-188, 193f, 288, 296 Janowski, J. Ch. 152, 185, 189 Jarvis, C. 275 Jean Paul 149, 164 Jellinek, G. 289 Jens, W. 20 Jenson, R. 264 Jeremias, J. 78 Joas, H. 289f Johannes Chrysostomus 220 Johannes Paul II 31, 273 Jörns, K.-P. 186, 194 Josephus 54f Juel, D. 90, 95, 288 Jüngel, E. 16, 20, 42, 144, 149, 152, 159f, 164-168, 175, 185, 201, 218, 246 Justin 33 Kabasèlè, F. 36 Kähler, M. 67f, 200 Kant, I. 39, 41, 55, 66, 143f, 146 Karle, I. 260, 264, 270 Karlstadt, A. 136 Karrer, M. 58 Karttunen, T. 24 Käsemann, E. 62, 67-69 Kasper, W. 207 Kaufmann, Th. 136 Keller, C. 295 Kelly, J.N.D. 244 Kemmerling, A. 39, 130 Kendall, D. 255 Kendel, A. 107 Kerner, W. 267 Kesich, V. 124 Kessler, H. 132 Kierkegaard, S. 41f
310 King, M.L. 284f Kitamori, K. 16, 159f, 171f, 176 Klappert, B. 114, 209 Klausner, J. 75 Klein, G. 212 Klemm, D. 225 Koch, K. 196 Kock, Th. 136 Kooi, C. van der 203 Koopman, N. 199 Köpf, U. 20, 263 Köpping, K.P. 39 Kramer, W. 73 Kraus, H.-J. 293 Kreck, W. 246 Krohn, W. 214 Krötke, W. 263 Kuhn, Th.S. 55 Kühn, U. 170 Küng, H. 151 Künneth, W. 110 Küppers, G. 214 Küster, V. 35f Lampe, P. 65, 75, 78, 249, 291 Land, S.J. 205 Leipoldt, J. 108 Lenin, W.I. 143 Leppin, V. 139 Lessing, E. 270, 282 Lessing, G.E. 64 Levinson, J. 132 Lilienfeld, F.v. 220 Lindbeck, G. 255 Link, C. 47 Link, Ch. 145, 217 Link-Wieczorek, U. 259 Liu, X. 37, 225 Loader, W.R.G. 90 Loewenich, W.v. 140 Lohfink, N. 283 Löhr, W. 248 Lubac, H.de 30 Lucian 55 Lüdemann, G. 99, 105-107, 111, 113-115, 117, 123
Register Luhmann, N. 143, 192, 230 Luther, M. 13, 16, 19, 33, 52, 132, 135-143, 148, 154, 159-161, 163, 165f, 206, 212, 228, 245f, 251, 258, 260, 263, 269, 280 Luz, U. 78, 277, 294 Macchia, F. 203-208 Mack, B.L. 60 Macquarrie, J. 258, 261 Madigan, K.J. 132 Malek, R. 37 Malina, B. 83 Mannermaa, T. 280 Mara bar Serapion 54 Marcus, J. 71 Markschies, Ch. 74, 233 Marquardt, F.W. 94 Martikainen, E. 280 Martin, D. 203 Marx, K. 37, 143, 152f, 214, 290 Matošević, L. 270 Mau, R. 213, 272 Mauss, M. 190 Maybaum, I. 173 Mayntz, R. 215 McCrudden, Ch. 291 McGill, A.C. 172 McGinn, B. 140 McGrath, A. 195 Mead, G.H. 215 Meeks, W.-A. 76 Meier, J.P. 74, 94 Meisner, J. 31 Melanchthon, M. 36 Melanchthon, Ph. 136, 279 Mendes-Flohr, P. 241 Merklein, H. 217 Merz, A. 54, 64, 67, 70, 76-78, 91, 95, 283 Metz, J.B. 285 Meyer, H. 270 Migliore, D.L. 200f Mildenberger, F. 248 Miller, P. 90, 184, 263, 288 Moltke, H.v. 30
311
Namen Moltmann, J. 16, 19, 35, 98, 159165, 171, 204, 212, 229, 244, 264, 286, 295 Moltmann-Wendel, E. 34 Momose, P.F. 171 Morgan, R. 288 Müller, J. 182 Müller-Fahrenholz, G. 275 Munteanu, D. 244 Murphy, N. 294 Naudé, P. 221 Neill, S. 55, 67 Neusner, J. 94 Newman, C.C. 107 Newman, P.W. 204 Ng, W.H. 129 Niebuhr, H.R. 225, 280 Niebuhr, R. 182, 225, 285 Nieraad, J. 129 Nietzsche, F. 37, 129, 142f, 153-160, 164f, 167 Nijhoff, M. 289 Nirmal, A.P. 36 Noordmans, Oe. 132, 206 Norris, R. 255 Nüssel, F. 230, 269 Nyamiti, Ch. 36 Nygren, A. 280 O’Collins, G. 255 Oberdorfer, B. 114, 244, 288 Oduyoye, M.A. 36 Oeming, M. 90 Oh, S.H. 284 Origenes 213 Palamas, G. 148 Panikkar, R. 36 Pannenberg, W. 106-113, 117, 166, 178, 192, 236, 248, 266, 288, 297 Paulus v. Tarsus 51, 71-73, 88, 96, 99, 108f, 113f, 117, 119, 122-128, 131, 135, 141f, 148, 156f, 173, 180, 183, 206, 218, 266, 269-274, 279, 296 Paulus, H.E.G. 65, 101 Pelikan, J. 32
Perdue, L. 288 Perkins, Ph. 297 Pesch, R. 91 Peters, T. 206, 289 Pirson, D. 279 Plaskow, J. 182 Plathow, M. 159 Plato 148 Plinius d.J. 55 Pogge, Th. 290 Polkinghorne, J. 15, 17, 45, 126, 224, 239, 281, 288f, 294-296, 297f Praxeas 33 Preß, M. 259 Rad, G.v. 96, 231 Rahner, K. 44, 237 Ratschow, K.H. 283 Ratzinger, J. (Benedikt XVI) 15, 31, 77f, 99, 143, 147, 175, 181, 226f, 273f, 276 Rauschenbusch, W. 285 Reed, J.L. 54, 56, 61 Rehbein, B. 41 Reimarus, H.S. 64 Reimer, J.A. 276 Renan, E. 66 Riley, G. 119 Ringleben, J. 113f, 169, 274 Ritchie, N. 36 Ritschl, D. 216, 259 Ritter, A.M. 252 Rosenau, H. 170, 293 Rosenkranz, K. 100 Rothe, R. 27 Rubenstein, R.L. 164 Ruge, A. 152 Russell, R.J. 289 Saarinen, R. 190 Sanders, E.P. 58, 74 Sattler, D. 269 Sauter, G. 296 Schaede, St. 194, 291 Scheeben, J. 199 Scheler, M. 129 Schelling, F.W.J. 101, 145
312 Schiller, G. 21 Schlatter, A. 108 Schleiermacher, F.D.E. 41f, 65, 100, 198, 200, 232, 236, 284 Schlink, E. 199f, 267 Schlusemann, R. 136 Schmidt, H. 224 Schmidt, M.G. 291 Schmitt, C. 226 Schnabel, A. 215 Schnackenburg, R. 72, 91, 222 Schneider, H. 47 Schneider-Flume, G. 128 Schoberth, I. 128 Scholem, G. 94 Schrage, W. 135, 162 Schreiner, K. 136 Schröter, J. 196 Schüle, A. 19, 90, 295, 297 Schumacher, B.N. 132 Schüssler Fiorenza, E. 34f, 229 Schwarz, H. 293 Schwebel, H. 21 Schweiker, W. 41, 189, 225 Schweitzer, A. 62-70, 288 Schweizer, E. 222 Schwemer, A.M. 74, 175 Schwengel, H. 41 Schwerdtfeger, N. 237 Schwier, H. 78 Schwöbel, Ch. 258-261, 283 Seel, M. 51 Selvatico, P. 35 Seymour, W.J. 208 Simmel, G. 27 Simpson, Z. 215 Sinner, R.v. 205 Smit, D. 21, 221 Smith, M. 58 Sobrino, J. 35, 226, 229 Söding, Th. 78, 274 Sokrates 60 Solivan, S. 205 Sölle, D. 164 Sommer, B.D. 288 Soskice, J.M. 255f
Register Soulen, K. 298 Spalatin, G. 135f, 140 Staehelin, E. 213 Staniloae, D. 148, 198-201, 244, 266, 276 Steck, O.H. 283 Still, T.D. 76 Stock, A. 21 Stock, K. 42, 233 Stoeger, W.R. 294 Strahm, D. 34-36 Strauß, D.F. 65, 99-101, 103, 105-107, 111 Strobel, R. 34 Strohm, Ch. 288 Strohm, Th. 224 Strunk, R. 275 Struppe, U. 94 Stuhlmacher, P. 96f, 167, 185 Suchocki, M. 174, 183 Sueton 54f Sundermeier, Th. 36, 220 Tacitus 54f Tanabe, H. 171 Tanner, Kathryn 244, 296 Tanner, Klaus 35, 226, 291 Tauler, J. 139 Taylor, Ch. 147, 225 Tertullian 18, 33, 46, 206 Theißen, G. 54, 64, 67, 70f, 74, 76-83, 91, 95, 124, 283 Thomas v. Aquin 199, 248 Thomas, D. 21 Thomas, G. 19, 90, 191, 262, 264, 296 Thomas, M.M. 36 Thompson, M.M. 71 Thurneysen, E. 25 Tietz-Steiding, Ch. 27 Tillich, P. 38, 41, 182, 197, 201, 214, 236, 242, 245, 249-251 Torrance, T. 132 Tracy, D. 230f Trempela, P 199 Troeltsch, E. 27
313
Namen Vahanian, G. 164 Van Voorst, R. 54f Vermes, G. 22, 58, 70, 74-76, 89 Vischer, L. 244 Vischer, W. 93 Vögele, W. 229 Volf, M. 73, 262, 296 Vollenweider, S. 258 Vyver, J.D.van der 289 Wagner, F. 45 Wainwright, G. 198f Walch, J.G. 185 Wannenwetsch, B. 220 Weaver, J.D. 185 Weber, O. 43, 276 Weigel, G. 29f Weiler, J.H.H. 29, 237 Weiß, J. 66 Weiße, Ch.H. 65 Welch, C. 92
Wenz, G. 46, 107, 223 West, C. 225, 286 Weth, R. 221, 224, 286 Whitehead, A.N. 124, 136, 215, 295 Wichern, J.H. 224 Wiehl, R. 39 Wilckens, U. 78 Wilke, Ch.G. 65 Williams, R. 255 Winter, St. 191 Witherington, B. 55 Witte, J. 288f Wittgenstein, L. 256 Wolter, M. 77, 127, 233 Woodhead, L. 298 Wrede, W. 64, 66 Wright, N.T. 55, 67, 119-123, 125, 197, 205 Zimmerling, P. 203, 263, 276 Zinzendorf, N.v. 276
314
Register
Begriffe Abbild 235, 284 Abendmahl 126, 133, 242, 258, 261, 263, 270, 272-282, 295
A. u. Passah 273, 277 Anamnese 281f Brot und Wein 125, 271-274, 281f Eucharistie / Danksagung 270f, 273, 276, 281f Gegenwart Christi 122, 219, 227, 257, 272, 275, 283f Mahlfeier 271, 273, 281 Messopfer 271 Nacht des Verrats 263, 277, 279, 281 Schöpfungsgaben 125, 281 Stillmesse 271, 273 Tabernakelfrömmigkeit 273 Transsubstantiation 271
Ablass 137 Ahnvermögen 42 Akkulturation / Inkulturation 80, 290 Anfechtung 177, 283f Angst 24, 47, 118, 173, 182, 237, 263, 283, 286, 297 Anthropologie 33, 58, 127, 168, 189f, 207, 266, 286 Antichrist 37, 143, 156-158, 205 antisemitisch 93 Antizipation 93, 107, 266 Apotheose 246 Archäologie 54, 56f, 61, 70 Archäologismus 54, 62
Armut 16, 20, 52, 173, 285f Ästhetisierung 51 Atheismus 20, 142, 158-160 Auferstehung 15-17, 32, 46f, 65, 71, 76-78, 94, 97-125, 127, 132-135, 141, 161, 163, 168f, 173, 177f, 189, 194, 196, 198, 201, 205, 207, 226, 239-245, 248, 255, 258f, 266, 271, 274, 283, 286, 289, 294, 296297 Audition 108 Geistleib 108 Jünglingserscheinung 115f Lichterscheinung 108, 111-114, 119, 122 Wiederbelebung 15, 101-106, 111-123, 196, 239
Aufklärung 145, 148, 291 Augenzeugen 73
Banalisierung / Banalität 40, 42, 44, 146, 237 Barmer Theologische Erklärung 34, 221, 223, 225 Barmherzigkeit 22, 167, 171, 220, 280 Befreiung, 34-37, 80, 163, 186, 204f, 221, 262f, 277f, 282, 289 Befreiungstheologie 31, 35, 37, 87, 205, 229
Bekenntnis 14, 16, 23f, 47f, 55, 62, 72, 99, 118, 123, 178, 234, 244, 262 Bewahrung 16, 151, 184, 199, 262, 278, 281f Bibel / Schrift 15, 18, 35, 58, 87f, 92-94, 111f, 116, 119, 121, 133, 258, 287f Schriftauslegung 17, 34, 67, 120, 133, 239, 258 Schriftbindung 270, 287, 289 Biblische Theologie 34, 96, 193, 248, 256, 271, 288, 291
Bild 20f, 23, 28, 51, 75, 83-85, 89, 95, 182f, 192f, 206, 226, 248, 250f, 264, 292, 294, 296 Wiederkehr der B.er 47, 51
Bildung 23, 30, 32, 44, 90, 136, 147, 149, 153, 156, 172, 223f, 227, 237, 257, 268, 286, 291f Kinderbildung 268
Blut 125, 187f, 270-274, 278-282, 294 Blutritus 187, 265 Cartesianismus 40 Chalcedon / Chalcedonense 242, 244, 246, 249, 251-256 Charismatiker 58, 133 Christentum 17, 19, 23f, 28f, 31, 36, 41, 73, 147, 152-158, 186, 193, 237, 248, 268 Christentumstheorie 291 post-christlich 164, 169
Christologie
communicatio idiomatum 253 Dyophysitismus 252 Exempel-Christologie 13, 66, 169, 185, 258, 261, 282, 285 Herr / kyrios 32, 52, 56, 69, 7-77, 92, 103, 107, 113, 115f, 118, 120, 138, 146, 173f, 196, 202, 205, 220-222,
315
Begriffe 226, 245f, 249, 251, 261, 263, 265, 270-273, 280, 296 homoousios 244, 250 kenosis 178, 224, 235f, 240, 253 Logos 33, 86, 170, 201, 227, 248, 253 Menschensohn 33, 69, 74, 76, 86, 91, 95f, 98, 122, 207, 241, 278, 283, 294 Monophysitismus 251-253 Zwei-Naturen-Lehre 242, 245, 249-257
Christophobie 28f, 237 Christus
Ämter Christi (s. a. König, Priester, Prophet) 33, 90, 94, 98, 191, 195, 198-204, 219f, 222-228, 231, 240242, 257f, 265, 268, 275, 283-288, 292 als Kulturfaktor 28, 29-31, 153 Aufrührer 162 Befreier 33, 35 Christusnachfolge 36, 38, 160, 163, 201, 209, 227f, 232, 242 Erhöhung 207, 245, 253 Erniedrigung 91, 139-141, 161, 188, 234, 253 Gottesknecht 69, 96, 134, 193 Gotteslästerer 162 Gottmensch 169, 203, 253 Gottverlassenheit 140, 145, 150, 162, 167, 173, 177, 287 Hoheitsprädikate / -titel 73, 86, 91, 161, 176, 234 Immanuel 39, 41, 95f Lamm Gottes 188, 267 Leiden 16, 18, 24f, 38, 46, 82, 91, 135-139, 141-143, 150, 159, 162f, 166, 171-173, 176f, 179, 220, 236, 240, 242f, 245, 250f, 262, 275, 281, 283, 286, 296 Menschwerdung 151, 158, 192, 234f, 249, 253f, 257 Pantokrator 23, 220 Präexistenz 96, 103 Schmerzensmann 21 Schöpfungsmittler 91, 249 sessio ad dexteram 91, 233, 258 Sohn Gottes 70-76, 91, 96, 98, 103, 167, 169, 192, 207, 244, 248, 260f, 266 Weisheitschristologie 259 Weltenrichter 91 Zwei-Naturen-Lehre 242, 245, 249, 251
Dahingabe 41, 125, 166, 177, 179, 181, 187f, 191-194, 200, 207f, 279, 281 Dämonen 69f, 75, 81, 102 Exorzismen 75, 77, 81
Dankbarkeit 212, 224 David 90, 94-96, 124 Dekalog 184, 208 Demokratie / demokratisch 183, 223, 227, 291 Denkform, binäre 16f, 80, 131, 256f Diakonie 158, 224, 227, 259, 275, 285f Dogma 13, 246-249 Dogmatik 38, 40, 132, 135, 148, 197-202, 224, 246, 248, 258, 263, 276, 283, 288 Doxologie 72 Egalitarismus 60, 183, 275 Emanzipation 35f, 148, 160, 229 Emergenz 17, 214, 216-219, 231f, 285, 294 Emmaus 111f, 118f Entdeckung / Erfindung 39, 65, 87, 100, 119, 277 Entweltlichung 103 Erbarmen / Mitleid 21, 36, 134, 158, 160, 185, 210f, 217, 223, 240, 286 Erbarmensgesetze 209f
Erhebung 16, 45, 52, 77, 140, 239, 281, 292, 296 Erinnerung 49, 68, 94, 128, 149, 163, 233, 271, 281f, 290 Erlösergestalten 97 Erlösung 28, 55, 196, 234, 239, 251, 292f, 296 Erscheinung 32, 60, 96, 101, 108, 111-114, 117f, 120, 128, 222 Erwählung 207 Erwartung 76, 87, 97, 153, 199, 213, 222, 285, 292 Erwartungshorizont 90, 198, 217 Erwartungskonflikt 296
Eschatologie / eschatologisch 17, 35, 69, 170, 204, 207, 212, 232, 233, 235, 283, 293f, 296f Dispensationalismus 205 Endzeit 17, 69, 205, 207 Hoffnung 26, 35, 95, 121, 138, 151, 159, 161f, 196, 204, 212, 217, 235, 264, 268, 283, 285, 297 Neuschöpfung 113, 171f, 177, 194,
316 197, 201f, 233, 240, 243, 264, 282, 292, 295f Parusie 17, 46, 64, 232f, 245, 280, 292-296 Vollendung 144, 172, 232, 260f, 293, 296f Weltgericht 103
Ethos 23, 83, 157f, 160, 209, 211f, 220, 224f, 241, 252 Evangelium 13, 20, 23, 36, 48, 59, 64f, 69, 113, 127, 132, 137, 142, 152, 168, 170, 172, 200, 206, 209, 234, 259, 263, 280, 294 Ewigkeit / ewig 219, 235f, 248, 278, 283 existential 50, 103, 105, 245 Familie 18, 60, 156, 175, 224, 241, 284 Feier (Abendmahl / Liturgie) 17, 208, 242, 261-263, 268, 270-277, 279-282 Feminismus, 34f, 229 Kyriologie / Kyriarchie 34 Sexismus 131
Fleisch / sarx 88, 119, 124, 126f, 153, 219, 233, 236, 278, 294 Freiheit 30, 34, 50, 61, 67, 131, 136, 139, 144, 150, 157, 184, 209, 223, 226, 269, 289, 292, 296f Freilassung 181, 210 Friede 30, 99, 124, 174, 220, 263, 276 Frömmigkeit 23, 27, 38, 44, 46, 51, 71, 136, 140, 161, 178, 185, 202205, 213, 234, 237, 280 Fundamentalismus 28, 46 Gebet 17, 72, 128, 200, 207, 258, 260, 263, 273, 283
Anbetung 273 Andacht 144, 150, 161, 214 Anrufung 77 Lob / Doxologie 45, 125f, 128, 191, 200, 258f, 263, 268, 281, 282, 285 Vaterunser 210, 263, 279
Gedächtnis 74, 186, 189-192, 200, 233, 238, 270f, 275, 277f, 281, 258 Erinnerungsraum 90, 198
Geheimnis 18, 20, 51, 111, 144, 149, 152, 159f, 164-166, 178, 252
Register Geist / Heiliger Geist (s. a. G. / menschl. G.) 14-16, 24, 47f, 5153, 71f, 91, 98, 103, 119, 124-134, 145-147, 152, 160, 168, 175-178, 184, 197-199, 201-208, 216, 220, 222f, 226-229, 233, 239f, 241, 244, 249, 257, 259-261, 264, 266, 268f, 281f, 284, 292, 296 Ausgießung 16, 53, 72, 91, 98, 126, 132, 134, 199, 203-208, 223, 226, 228, 240, 284 Gaben / Charismen 52, 203-206, 228, 269 Macht 51, 53, 129-131, 163, 166, 178, 202, 268
Geist / menschlicher Geist (s. a. G. / Hl. G.) 15, 24, 47f, 51, 71f, 91, 98, 103, 119, 125, 127-134, 147, 152, 160, 168, 175-177, 184, 197199, 201-208, 216, 220, 222f, 226228, 233, 240f, 244, 249, 257, 259-261, 264, 266, 268f, 284, 292, 296 Gemeinde 44, 62, 69, 94, 102, 108, 125, 128, 147, 149-151, 157, 160, 163, 204, 207f, 222, 258, 272-277 Gemeinschaft 16, 23, 48, 62, 71, 79, 82, 133f, 142, 147, 150, 176f, 184, 189, 192, 200, 203, 206-208, 253, 259-262, 269, 272, 275-278, 280f, 292 Gemeinschaftstreue 265
Gerechtigkeit 16f, 21f, 25, 34f, 38, 40, 63, 88, 93, 105, 119, 121f, 134, 137-141, 147, 169, 174, 176, 179, 184f, 189, 191, 197, 206, 208-210, 216, 220, 223, 229f, 240, 242f, 245, 249f, 257, 260, 265, 269, 275- 277, 280, 282-289, 292, 296f Gericht (s. a. Eschatologie, Parusie, Weltgericht, Dispensationalismus) 25, 46, 104, 138, 176, 205, 219, 243, 245, 291-296 Gesalbter / gesalbt (s. a. Messias) 198, 202, 228, 240 Geschichte / geschichtlich 14f, 21, 27, 33-35, 45f, 50-59, 62-66, 6770, 73-74, 77f, 81-89, 94, 97f, 100-103, 106-109, 111, 116-118, 136, 142-144, 148, 152, 155, 159, 161, 163, 170f, 196, 198, 213, 226, 232, 236, 238f, 244, 250, 268, 286-289, 293 Geschichtsschreibung 213, 291
Geschöpf 52, 76, 103, 138, 169, 216, 247, 255
317
Begriffe Gesellschaft / gesellschaftlich 60, 75, 128, 146, 153, 174, 206, 230, 280, 292 Gesetz 22, 75, 86, 93, 134, 137, 140142, 174, 183f, 188, 208-210, 218, 223, 259, 287 Gesetzeskorpora 184 Gesetzeskritik 67 Gesetzestraditionen 226 Gesetzlichkeit 110
Gethsemane 31, 283 Gewissheit 15, 39-45, 110, 113, 146, 149, 177, 188, 255, 274f Glaube 13, 24, 25, 30, 35, 38-50, 52, 67, 90, 92, 99, 104, 106, 114, 128, 132f, 136, 139f, 144, 146, 153, 165, 177f, 185, 195, 198, 200, 206, 226f, 232f, 235f, 238, 268, 283, 285f Glaubenserkenntnis 16, 41 Glaubensgemeinschaften 28, 132, 195 Kinderglaube 46 Glaubensbekenntnis / Credo 14, 42, 46, 133, 244, 263 Glaubensinhalt 13, 249
Gleichnis 59, 210f, 217f Globalisierung 40, 236 Gnade 42, 72, 104, 113, 137f, 202, 261 Golgatha 20f, 144, 162 Gott 76, 220, 236 Absolutheitsaxiom 165 Allherrscher 220 Allmacht 19, 92, 220, 223, 253 Apathieaxiom 165, 176 Gottesbegriff 159, 164f Gottesbilder 185, 293 Gottesdienst 22, 134, 151, 204, 228, 237, 257-260 Gotteserkenntnis 44f, 50f, 141, 160, 184, 210, 242, 246, 260, 293 Gottesferne 145, 177, 281 Gottesfurcht 138f Gottesgedanke 26, 131, 135, 149, 152f, 164, 236, 260, 293 Gottesgewissheit 69, 238 Gottesherrschaft 61, 71, 75, 77, 82, 166, 170, 196, 213, 217, 245, 263 Gotteslehre 170f, 263 Gottesprädikate 165 Gottesstaat 33 Gottfeindlichkeit 207 Gottlosigkeit 144, 153, 205, 207 Gott-Mensch-Einheit 251 Gott-Mensch-Verhältnis 163 Gottverlassenheit 140, 145, 150, 162, 167, 173, 177, 287 Gottvertrauen 177
Gottwohlgefälligkeit 175 theozentrisch 39, 258 Unveränderlichkeitsaxiom 165, 252
Götze 50 Grab 110, 112, 114-118, 123 leeres Grab 111, 114f, 117
Heidelberger Katechismus 13, 52, 275, 292 Heil 22, 53, 55, 72, 104, 162, 168, 170, 172, 179, 186, 188, 233, 245, 267, 278, 297
Heilsbotschaft / -ankündigung 99, 283 Heilsereignis 99, 256 Heilserkenntnis 251, 260, 293 Heilsgeschehen 103, 184-188, 276 Heilsgeschichte 69 Heilsgewissheit 140, 188, 251
Heiland 31, 52, 103 Heiligkeit / heilig 22, 193 Heiligtum 152, 188, 265 Heiligung 203, 228 Heilung 62, 75, 167, 173, 223, 286, 296 Hermeneutik 93, 145, 220, 288, 291 Herrlichkeit 13, 69, 91, 113, 139141, 154, 173f, 234-236, 242, 245, 259f, 266, 278, 284, 296 Herrschaft / Herrscher 61, 79, 81, 167, 170, 173f, 196, 199f, 213, 221, 223, 226, 228f, 232, 239, 241, 245, 257, 265, 267-269 Herrschaftsinteressen 31 Herrschaftswechsel 257, 261, 265-267 Weltherrscher 95
Himmel / himmlisch 20, 26, 102, 108, 118, 200, 209f, 222, 245, 256f, 264f, 278, 281f, 294f Himmelfahrt 28, 46, 245 Hinduismus 35f Historizität 66, 107-110, 114 Hoffnung 26, 35, 95, 121, 138, 151, 160-162, 196, 204, 212, 217, 235, 264, 268, 283, 285, 297 Hoffnungslosigkeit 173, 177, 196 Holocaust / Auschwitz 164, 173 Humanismus 30, 36, 159, 219, 225 Humanität 275 Ideologie 34, 145, 247, 265 Illusion 23, 51, 68, 119, 247 Individuum 39, 42-46, 48, 52, 103, 113, 122, 124, 126, 130, 148, 150,
318 153, 174, 183, 246, 252, 262, 271, 275, 279, 294 Inkarnation 21, 151, 158, 161, 171, 191, 234-236, 240, 245, 249, 253257, 259, 290 Inspiration 78, 157, 164, 229, 259, 288, 291 Institution 23, 34, 128, 229, 231, 243, 257, 287, 290 Integration 36, 79f, 82f, 201, 205, 268 Integrität 252 interdisziplinär 16, 107, 127, 185, 204, 229, 260, 288f Interesse 87, 155, 269 Interpretation 34, 40, 55, 67, 74, 90, 97, 103, 106, 110, 113, 132, 167, 183f, 188f, 192, 207, 212, 229, 256, 284, 288 Irritation 38, 45, 58, 83, 116f, 144, 155, 186, 219, 238 Irrlehre 30, 248, 250, 252, 287 Islamophobie 30 Israel 21f, 56, 71, 76, 92, 95f, 133f, 187f, 206, 265, 268, 283 Jenseits 27, 39, 61, 121, 144, 148-149, 153f, 195f, 205, 212f, 220, 264 Jerusalem 56f, 75, 77, 79-81, 84, 108f, 173, 175, 181, 221, 265, 283 Jesus nachösterlicher J. 15, 52, 66, 77, 111, 114, 119, 125f, 134, 196-198, 204, 228, 232f, 239, 241, 293 vorösterlicher J. 15f, 20, 51f, 61, 69, 76, 85, 96-98, 107-115, 117, 119, 126f, 133, 166, 173, 178, 189, 196, 198, 200f, 207, 216, 220, 223, 233, 239-241, 243f, 257, 259, 262f, 267, 279, 282, 292-297
Judentum 16, 21f, 29, 54-58, 60, 64, 67, 69, 71-77, 79, 82, 84, 86, 94, 110, 115, 120f, 126, 132, 156-158, 162, 164, 173, 175, 179f, 184, 190, 205, 223, 226f, 231, 237, 241, 250, 269, 290 Jünger / Jüngerin 16, 21, 64, 81, 94, 99, 101, 105-109, 111f, 116-120, 133, 210, 258, 271, 273, 277-279, 283 Kanon 55, 59, 81, 86, 98, 180, 226, 271, 287 Kapernaum 56, 84 Karfreitag 20f, 28, 105, 113f, 144f, 208
Register Katechismen Luthers 13, 245 Katechismus 52, 132, 261 Katholizismus 23, 87, 91, 94, 107, 132, 199, 203, 270-274, 276, 278, 282 Kerygma 67f, 102, 104, 110, 167-170, 238, 259 Kind 20-22, 34, 50, 59f, 68, 75, 157, 183, 211f, 224, 233-236, 244, 262, 266f, 286 Kirche 17-20, 23, 28, 31, 34, 44-46, 48, 52f, 77f, 87, 89, 90, 97, 108, 114, 125f, 133-137, 139, 144-146, 148, 151, 155, 159, 161, 172, 178, 183-185, 195, 198f, 201-203, 206, 212f, 220-231, 237, 239, 242, 248f, 251, 257-262, 268, 270, 272, 274-282, 285f, 288f Ekklesiozentrik 78, 202, 257 Kirchentrennung 199 Kirchenzucht 279
Kirchengeschichte 20, 33, 213 Klage 153, 259, 263, 285 Kleinbauer 38, 82, 156 Knecht 53, 72, 84, 206, 252 Kolonialismus 23, 34f, 131, 268 Kommunikation 40, 42f, 61, 85, 130f, 147, 229-231, 259, 264, 271, 292 Konfession 269, 276, 292 Konfessionalismus 91f König (auch k. Amt Christi) 77, 83, 94-96, 98, 198-203, 205, 218-223, 225-227, 231f, 239-242, 257, 265, 268f, 275, 283, 285, 287f, 292f, 296 Konsekrierung 191, 271f Kontext / kontextuell 16f, 18, 28, 31, 32f, 35, 37f, 40, 53, 83-86, 88f, 91f, 96, 126, 145, 155, 174, 183, 186, 193, 212, 221, 229, 256, 275f, 279, 283 vierfache Multikontextualität 36, 52, 83-88, 91, 97, 220
Korrelation 247 kosmisch 33, 39, 43, 103f, 248
makro-, meso-, mikrokosmisch 58, 59
Krankheit 31, 41, 60, 75, 109, 159, 167, 195, 212, 262, 281, 287 Kreativität 29, 94, 133, 196, 209, 226, 234, 237, 242, 293 Kreuz 16-21, 27f, 31, 38, 45f, 51, 57, 97-99, 102-104, 121, 134f, 137f, 141-146, 149, 153-168, 171-185,
319
Begriffe 189-191, 194f, 198, 201, 208, 234237, 240, 242f, 251, 259, 266-268, 274, 277-279, 281, 283, 286, 287
Kreuzesphilosophie 145, 149, 153, 158 Kreuzestheologie 21, 35, 140-143, 153, 158-161, 163, 165, 168, 170172, 194 Schmerzensmannfrömmigkeit 21
Krieg 18, 23, 25, 30, 79, 143, 157, 189 Kritik, historische 78, 90, 106 Kult 22, 75, 80, 167, 184-188, 191, 193, 200, 209, 265, 270, 274, 277, 281, 290 Kultur Kulturgeschichte 119, 130, 212, 291 Kulturkritik 229, 237
Kunst 20f, 27f, 51, 64, 129, 178, 220 Lebendigkeit 14, 32, 126, 252, 261, 295, 297 lebensförderlich / -abträglich 131, 155, 157, 159, 184, 261, 264 Lebensführung 215, 292, 293 Lebenskraft 102, 125, 187 Legende 14, 22, 46, 55, 62, 85, 107f Leib / soma 15f, 52, 82, 109, 112f, 115, 117, 119, 121-127, 133f, 197, 199, 203, 206f, 222, 227f, 239, 266, 269-275, 279-284, 292, 295 Leibfeindlichkeit 127 Leibhaftigkeit 13, 83, 107f, 120-125, 133, 178, 245, 259, 282 Leiblichkeit 120-127, 191f, 233, 266, 274f, 294
Leid 16-18, 21-25, 27, 38, 46, 50f, 67, 82, 91, 135-139, 141-143, 150, 159, 162f, 166, 171-173, 176f, 179, 182, 193, 195, 200, 216, 220, 236, 240, 242-245, 250f, 262, 275, 281-284, 286, 295f Leidenschaft 26, 30, 36, 63, 129, 160, 220, 242, 252 Liebe 17, 50, 67, 116, 126, 129, 134, 137, 139, 156-158, 160, 166-174, 175f, 195-197, 201, 207f, 212, 215, 219-227, 231, 234, 241, 244, 259-261, 265, 268, 279f, 285, 293, 295, 297 Liturgie 17, 23, 32, 190f, 202, 207, 220f, 242, 259f, 272f, 276f Chrysostomus-Liturgie 220
lutherisch 14, 141, 144, 172, 199, 253, 274, 278, 280, 282, 289
Macht 16, 18f, 23-27, 29, 39, 41, 43f, 46f, 50f, 53, 60, 77, 79, 81f, 95, 113, 129-137, 142, 155-157, 160, 163, 166, 168f, 174, 177-179, 181, 184, 186, 189, 194-197, 202f, 208, 214-216, 225f, 232-236, 240f, 243, 250, 262-268, 271, 277, 279, 281f, 287, 292 Weltmacht 21, 76, 80-82, 173, 175, 181f, 265, 287
Märtyrer 95 Marxismus 143, 164, 229 Neomarxismus 143, 212
Medien 31, 51, 79, 106, 152, 174, 189, 283 Menschenbild 224, 291 menschenfreundlich 224, 234 Menschenverachtung 23, 32, 159 Menschenverstand 16f, 23, 33, 47, 99, 114, 155, 243 Menschenwürde 227, 286, 291 Menschheit 23, 46, 135f, 139-141, 158, 163, 174f, 177, 203, 207, 238f, 245, 248-254, 277 Messias / Messianismus 22, 25, 29, 69, 71, 76, 90-98, 101, 111, 161, 202, 204, 226, 228, 232, 238, 240f, 265, 294 Messiasgeheimnis 66, 119
Metaphysik 26f, 41, 43, 48, 78, 86, 92, 127, 130, 136, 151, 154-157, 163-165, 169f, 176, 197, 238, 246248, 261, 293 Mission 36, 122, 133, 305, 258, 268 Mitmensch 50, 60, 83f, 125, 127, 208, 210, 215f, 225, 263, 268 Monismus 16, 131, 154 Monotheismus 23, 71f Moral 21, 29f, 32, 34, 37f, 41, 43, 64, 67, 75, 82, 85, 87f, 128f, 146f, 150, 154-157, 174, 179, 181, 183f, 186, 194, 302, 309, 212f, 225, 229-232, 240, 243, 257, 275, 277280, 283-287, 292, 297 Herdenmoral 157 Kleine-Leute-Moralität 157 moralisieren 66, 160, 213
Mose 68, 96, 152 Mysterium 35, 91, 93, 98, 140, 154, 178, 252, 259, 267, 276 Mystik 17, 33, 67, 139, 150, 163, 213 Mythos 60, 65, 69, 79, 99-106, 162, 169f, 189, 256
Entmythologisierung 99, 102-105, 162
320 Nachfolge 31f, 160, 163, 166, 177, 202, 209, 220, 226, 239, 242, 284f Kreuzesnachfolge 161, 163, 165 Nachfolge-Ethik 169
Nächster 65, 152, 158, 182, 203, 208, 215, 217, 224, 267, 276, 280, 285 Nationalsozialismus / Faschismus 18, 34, 93, 159, 173, 221, 226 Naturalismus 15, 110, 294 Naturwissenschaft 15, 17, 136, 148, 239, 289, 294 Nicaeno-Constantinopolitanum 14, 242-248, 256f Nihilismus 143 Norm 80, 82, 169, 175f, 181f, 190, 194, 229, 279, 289f, 295 Not 25, 31, 240, 287 Numinosum 16, 46f, 132, 148, 214, 243, 268 Objektivität 41, 55, 62, 122, 262 Offenbarung (s. a. Auferstehung, Parusie) 13-16, 20, 22-25, 29, 31, 34, 38, 47 Abwesenheit 153, 158, 166, 175 Gottesoffenbarung 118, 169, 221 Offenbarergestalt 96 Offenbarungsereignis 172, 178, 242, 248 Offenbarungsgeschichte 94, 96 Selbstoffenbarung 47f
Öffentlichkeit 16, 30, 47f, 60, 66, 70, 94, 100, 106, 117, 126, 137, 145, 173f, 179-184, 191, 198, 209, 223, 225, 228-233, 237, 240, 243, 262, 268, 271, 277, 284-287, 291 Ohnmacht 16, 18-21, 23-27, 46, 91, 133, 136, 138, 149, 160, 176f, 184, 195, 217, 234f, 286, 297 Kreuz 16, 25, 176f, 286 Ohnmacht des Gesetzes 184 Ohnmachtsempfinden 182, 184
Ökonomie 32, 60, 131, 143, 152, 249f, 285 Ökumene 13, 36, 98, 199f, 229, 244, 269f, 272-274, 276-280, 282, 288, 292 Taufanerkennung 267, 269
Ontologie 25, 193, 227, 255f Opfer 35, 179, 185-194, 200, 209, 226, 231, 240, 257f, 265 konsekrieren 271 sacrifice 179, 189-192
Register Satisfaktion 185 victim 179, 189-192, 296 Opferkult 186-193, 257, 265 Opferritual 188 Opferschema 187-192 Opferspender 190 Opfertier 187 Stellvertretung 164, 179, 185, 189, 193f, 240
Ordnung 23, 43, 59, 85, 119, 129, 155, 172, 174, 181f, 189, 213f, 222f, 255, 257, 264 Ordnungsdenken 223 Ordnungsmächte 287
Organismus 75, 91, 101, 125f, 206 Orientierung
Orientierungsanspruch 290 Orientierungshilfe 245, 255, 261, 276 Orientierungskraft 19, 36, 176, 194, 227, 231, 288, 290 Orientierungslosigkeit 30, 46, 150, 177, 223
Orthodoxie 23, 143, 148, 164, 178, 198f, 212, 220f, 225, 237, 256, 259, 266f, 271f, 274, 276, 278 Ostern 20, 28, 76, 104-107, 109, 113f, 117, 123 Paradigma 17, 36, 71, 184, 204, 211, 223
Paradigmenwechsel 55, 70, 102
Passion 15, 21, 57, 205, 274 Passionsgeschichte 166
Patriarchat 13, 34, 206 post-patriarchal 223
Person 13f, 29, 31, 33, 39, 43f, 4851, 61, 66, 68, 72, 75, 77, 85f, 93, 101, 103, 105, 108f, 111, 119, 124-126, 132f, 163, 166, 170f, 177, 188, 191, 193, 198, 202, 206, 228, 232-234, 236, 238, 241, 248f, 252, 258, 260f, 265, 268, 271, 275, 290
Personalismus 129 Selbstbeziehung 39f, 42, 168, 178, 211
Perspektive 23, 35-37, 68-70, 75-79, 83, 92, 97, 134f, 154, 176, 180, 190, 211, 218, 220f, 227, 232f, 250, 264, 276-278, 282, 293, 297 multiperspektivisch 52 Perspektivendifferenzierungen 64 Perspektivenwahl 79 Perspektivenwechsel 190
Pfingstkirchen 56, 87, 101, 126, 202-208, 228
321
Begriffe Phänomen 41f, 109, 130, 147, 174, 183, 189f, 192f, 197, 199, 216, 240 Phänomenologie 20, 45, 146f, 152
Philosophie
Kreuzesphilosophie 149, 153, 158, 161 Philosophiekritik 100 Popularphilosophie 40, 42, 46
Pietismus 28, 204 Pluralismus 16, 36, 40, 53, 155, 206, 230f, 260 Pneumatologie 37, 47f, 51, 53, 73, 124, 126, 132, 160, 168, 171, 197, 201, 203f, 207f, 230, 239, 242, 253, 256, 289 Pogrom 23 Polyphonie 16f, 24-27, 52, 113, 133, 160, 207, 222, 258 Postkolonialismus 35, 229 Postmoderne 16, 53, 155 Priester (auch p. Amt Christi) 38, 80, 84, 90f, 94, 96, 98, 152, 155, 191, 195, 198-202, 219, 221, 226f, 232f, 240, 242, 257f, 261, 265, 271f, 274f, 283-287, 292, 296 Projektion 37, 66 Prophet (auch p. Amt Christi) 32f, 38, 58, 65, 69, 80-82, 86, 90f, 93f, 98, 128, 134, 193-195, 198-202, 205, 208f, 213, 219, 221f, 226f, 231-233, 240, 242f, 257, 260, 265, 283-296 Prophetie 184, 200, 284-288
Protestantismus 78, 92, 100, 146, 155, 203, 266, 270f, 274, 276f, 289 Neuprotestantismus 44f, 270
Psychologie / psychologisch 22, 27, 33, 66, 69, 109, 239 Rassismus / Apartheit 34, 36, 131, 221 Realismus 14, 17, 75, 115, 294 Recht 16, 21-23, 32, 123, 134, 147, 150, 157, 174f, 179-181, 183-186, 194, 200, 205, 210, 226f, 240, 243, 257, 276f, 285, 287-289, 292 Kirchenrecht 289 Menschenrechte 227, 289-291 Rechtsevolution 290 Rechtsstaat 153, 224 Rechtswissenschaften 240, 288, 291
Rechtfertigung 181, 280 Werkgerechtigkeit 165
Reformation 18, 52, 87, 135-138, 140-142, 152, 171, 197, 202, 221, 247, 276, 278, 288f reformiert (Konfession) 52, 199, 253, 274, 282, 288 Reich / Reich Gottes 16f, 25, 27, 30, 34, 37, 44, 47, 51, 53, 60, 63, 66, 75f, 79, 84, 90, 94f, 98, 122f, 129, 134, 157, 167, 173, 177f, 193-220, 223-228, 231-235, 241f, 245, 257, 259, 262f, 265, 279, 285f, 292-296
drei Gestalten des R.es G.es 195, 201f, 223, 226-228, 231, 241f, 258, 260, 285-289, 292f R.-G.-Arbeit 285 R.-G.-Erwartung 213f, 218 R.-G.-Gleichnisse 75
Reinheit 75, 77, 79-81, 89, 191, 226, 265, 295 relativieren 82, 97, 145, 155, 181, 209f, 236, 269 Religion 19, 21, 23, 26f, 35, 38, 40, 43-46, 49, 51, 53, 60, 63, 66, 82, 87, 89, 94, 109, 143-148, 151f, 154, 156, 158f, 162, 174, 179, 182, 185, 195, 197, 200, 202, 209, 225, 227, 229-231, 236f, 240, 243, 257, 263, 265, 268, 277, 285, 287-293, 296 postreligiös 152 Religionskritik 32, 37f, 45, 142f, 148, 154, 164f Wiederkehr der R. 47
Religiosität 15f, 19, 23, 25-27, 29f, 34-48, 51-55, 60f, 63, 71, 75, 77, 81-85, 87f, 93, 100, 106, 122, 127, 129, 135-137, 143, 145, 147, 150, 152-155, 158, 160, 162f, 171-175, 180-185, 189f, 194, 203f, 213f, 225, 227, 229-231, 233, 236f, 240f, 243, 249, 255f, 260, 264, 275f, 279, 283, 286f, 289-291, 293, 297 religiös-politisch 34, 180, 286f Selbstbanalisierung 41, 44, 219, 237
Retter 36, 69, 71, 97, 133, 138, 177, 199, 225, 233, 260f, 288 Rettung 69, 133, 178f, 194, 216, 233f, 239, 264, 281, 292, 296 Rettungsbedürftigkeit 184 Rettungsverheißung 194
Revolution / revolutionär 55, 58, 60, 135f, 142, 162, 206, 213, 223, 231, 265, 269, 289 Rhetorik 35, 45, 222, 242
322 Richter / richten (s. a. Gericht) 135, 160, 172, 191, 196, 200, 205, 258, 233, 261, 295f Ritus / Ritual 28, 112, 120, 129, 186-189, 193, 242, 290 Sakrament 17, 102, 126, 185f, 208, 222, 225f, 242, 257, 261, 263, 270f, 274f, 279f säkular 15, 28, 40, 43-45, 107, 128, 146, 148, 153f, 157, 160, 164, 183, 190, 197, 212-214, 225, 227, 237, 288, 290f, 293 Säkularisierung 147, 203, 291 Selbstsäkularisierung 44, 89, 202, 237
Salomo 56, 90, 254 Schmerz 91, 144, 149, 152, 161, 165, 171f, 177 Schöpfung 16f, 33, 43, 51f, 78, 99, 113, 121, 133-135, 139, 162, 169172, 176-178, 180, 195-197, 201f, 208-212, 215-219, 223f, 231, 235f, 239-249, 255, 260-262, 264, 267, 269, 281f, 292, 294-296 creatio ex nihilo 170f, 246, 248
Schuld 90, 142, 185-189, 191, 210f, 240, 264 Schutz der Schwachen 134, 156-158, 184, 192, 199, 209, 243, 249, 268, 285 Schwäche 18, 21, 27, 34, 42, 57, 77, 79, 82, 134, 139, 141-144, 157161, 184, 197, 209, 212, 237, 285f Seele 33, 109, 121, 125, 127, 132, 137, 214, 228 Segen 44, 118, 196, 220, 263, 275, 286 Selbstaffirmation 184 Selbstbewusstsein 39, 46, 49-51, 63, 66, 77, 146-150, 161f, 236-238 Selbstbeziehung 42, 166, 174, 182f Selbsterkenntnis 50, 130, 148 Selbsterniedrigung 46, 235 Selbstgerechtigkeit 23, 140, 288, 297 Selbstgewissheit 41, 45 Selbstlosigkeit 166, 168, 182f Selbstvergegenwärtigung 37, 125, 133f, 166, 260 Selbstverhältnis 39, 43, 163 Selbstverständnis 69, 95 Selbstzerstörung 243 Selbstzurücknahme 208-212, 215-219, 223f, 231, 241
Register Seligkeit 17, 82, 157, 245, 292, 295-297 Sensibilität 34, 52, 64, 73, 89, 105, 181, 224, 242 Sinn 31, 45, 47, 68, 78f, 99, 102f, 111, 149, 165, 175, 178, 186, 190f, 195, 214, 238, 256, 272, 274 Sinnfälligkeit 111-113, 118, 120, 146, 188, 295 Sklave / Sklavin 58, 60, 76, 126, 179, 206, 210, 269 Solidarität 36, 224, 295 Soteriologie 93, 129, 168, 170f, 185, 199, 235, 239 Sozialgeschichte 56, 70, 75, 77f Sozialkritik 161, 286 Soziologie 44, 76, 190, 192, 215, 230, 291 Spekulation 30, 43, 50, 65, 72, 101, 105, 114f, 123, 135-138, 144f, 149f, 152, 155, 159f, 163, 168, 171, 205, 213, 227, 246, 249, 254, 256 Spiritualität 30, 32, 60, 73, 121, 123, 126f, 202-205, 207f, 213, 256, 276 Stellvertretung 91, 164, 179, 185, 188f, 193f, 240 Sterblichkeit 50, 124, 262, 294 Subjektivismus 38-40, 44, 46f, 50-52, 104, 238 Subjektivität 27, 43, 46, 144, 150, 153, 168 Subjektwerdung 149, 164 Sühne 179, 184, 185-188, 190, 193f, 240, 258, 265 Sühnetheologie 185, 188f Sühnopfer 184, 186, 190, 194
Sünde 16, 41, 50, 52, 61, 67, 75, 80, 90, 124, 133, 137f, 141f, 160, 167, 171f, 174, 176-189, 193-196, 222, 235, 240, 243, 258, 262-268, 273, 277-282, 286f
Macht der S. 160, 179-181, 184, 243, 278f
Symbol 122, 237
Symbolhandlung 81, 167 Symbolpolitik 70, 78-84, 181, 231
systemische Verzerrung 240, 292 Taufe 21, 77, 80f, 120, 126, 133, 180, 199, 208, 242, 250, 257f, 261-269
Geisttaufe 203f, 206, 208 Herrschaftswechsel 257, 261, 265-267
323
Begriffe Kinder- / Säuglingstaufe 266f, 290 Taufbefehl 133, 258
Tempel 56f, 77, 80-82, 84, 125f, 181f, 192, 257, 265 Tempelkritik 77 Tempeltheologie 22, 221
Theismus 20, 26, 160, 236, 238 Theodizeefrage 197 Theologie
Kerygma-Theologie 110, 168, 170 Kreuzestheologie 18, 21, 35, 140-143, 153, 158-161, 163, 165, 168, 172, 170f, 194 Nachfolgetheologie 32 Pfingsttheologie 204, 208, 228 Politische Theologie 35, 162, 226f, 229, 286
Theophanie 118, 120, 233, 266 Theosis 140, 148, 163, 244, 246, 252, 280 Tischgemeinschaft 60f, 84, 86, 167, 173, 220 Tod Gottes 18, 142, 145, 149-154, 158, 161, 164f, 175 Todverfallenheit 186 Toleranz 183 Totalitarismus 30, 291 Totalität 93, 127, 148, 155 Transzendentalphilosophie 39f, 44, 46, 55, 128, 293 Transzendentalspießertum 40, 45
Trinität / Trinitätslehre 17, 33, 56, 73f, 132, 145, 168, 177, 190f, 201, 208, 233, 244f, 247, 249, 256f, 259, 262, 280, 282, 289 Perichorese 201f
Trost 15, 21f, 52, 128, 150, 197, 220, 222, 244, 292-296 überirdisch 115, 251 Umkehr 80, 216, 267 Unendlichkeit 45, 49f, 89, 124, 129, 131, 144, 149, 152, 166, 171, 212, 253 Unglaube 104, 117f, 120, 128, 195 Unheil 104, 175, 186, 243 Universalität 44, 63f, 95, 134, 147f, 150, 153, 155, 162f, 206, 225, 264, 290, 293 Universum 197 Unschuld 21, 40, 131, 181, 245 Unsterblichkeit 132, 214 Unterdrückung 21, 23, 34, 36, 182f, 221, 226, 285
Urchristentum 55, 67, 78f, 101, 108, 167 Verantwortung 90, 209, 224, 229, 290 Verblendung 131, 181, 194, 288 Verborgenheit 24, 44, 79, 82, 130, 139, 165, 174, 217, 220, 256 Verdammnis 138, 174, 245 Verderben 124, 131, 154, 200, 243 Verfolgung 22f, 173, 180f, 207, 220, 225, 284 Vergänglichkeit 27, 121, 124, 127, 294 Vergebung 17, 52, 75, 80, 133, 167, 172, 190, 196, 210f, 217, 223, 225, 231, 273, 278, 280 Verheißung 46, 49, 72, 88, 91f, 95f, 134, 206f, 218, 225f, 234f, 243, 256, 262, 274, 285, 295f Verkündigung 13-15, 23, 31, 43, 48, 52, 61, 63f, 66, 68f, 75, 82, 84-86, 89-93, 99, 101-104, 115-117, 128, 140, 153, 166-168, 175, 177, 185, 189, 192, 196, 200f, 209, 213, 223, 228, 241f, 259, 261, 268, 271, 275, 277, 279, 281, 283-289 Verlorenheit 18, 90, 152, 160, 167, 177f, 186, 189, 194, 204, 210, 218, 233, 243, 245, 251, 254, 267 Vernunft / Verstand 27, 39f, 42, 47f, 50, 52, 57, 62, 63, 65f, 78, 101, 128, 130f, 140, 146, 155, 202, 215, 219 Verrat 21, 271, 295 Versöhnung 36, 99, 148-150, 167, 185f, 200, 208, 246, 248, 271 Jom Kippur 265 Versöhnungsgeschehen 148f
Verstockung 118 Vertrauen 15, 18, 39, 44, 48, 75, 83, 133, 140, 142, 157, 160, 163, 195, 221, 233, 260, 263, 294, 297 verworfen 95, 160f, 218, 252 Verzweiflung 18f, 24, 88, 117, 133f, 138, 150, 173, 177, 297 Vieldimensionalität 25, 257f Vision 20, 30, 76f, 85, 99, 101, 105f, 109-113, 119, 122, 160, 163, 181, 206, 226, 233, 294, 296 Vollkommenheit 147, 169, 196, 199, 207-209, 226, 232, 250, 278, 293
324 Wahrheit 15, 17, 24, 38, 42, 45f, 49, 69, 87, 90, 106, 134, 144-147, 151-154, 157f, 171, 181, 184, 206, 208, 220, 226, 235, 240, 242f, 246f, 251, 257, 270f, 274, 283f, 287, 289, 297 Wahrhaftigkeit 14, 92, 95, 105, 169, 222, 242, 245, 247, 261, 275 Wahrheitsanspruch 15, 45, 84, 87, 146, 238, 293 Wahrheitssuche 45, 85, 87, 98, 238, 288
Weisheitslehrer 69 Weisheitstheologie 96 Weissagung 91, 100, 200 Weltanschauung 32, 39, 55, 102, 131, 154-157, 197, 230 Weltgesellschaft 40 Widerstand 17f, 24, 34, 56, 75, 80, 82, 105, 181, 231, 242, 259, 278 Wiedergeburt 71 Wunder 21, 31, 65, 126, 271, 246 Mirakel 104, 125, 196 Wundererzählungen 100, 200
Wunderglaube 65
Register Zeichen 20, 51, 75, 122, 156, 158, 173, 188, 216, 262, 266f, 271, 273, 275, 282 Zeuge / Zeugnis 13, 15, 21f, 32, 54, 61, 67-69, 73f, 77, 83, 84-86, 88, 91f, 94, 97f, 104, 106-108, 111f, 115f, 119-125, 133, 136, 162f, 178-182, 195-198, 201, 203, 207, 225, 227, 233, 236, 240f, 247, 259, 262, 266, 268, 284f, 287 Zivilgesellschaft 147, 223f, 227, 229-231, 290-292 Assoziationen 153 Zivilreligion 229f
Zukunft 16, 18, 63, 69, 77, 88, 130, 143, 151, 157, 163, 166, 187, 212214, 225, 232, 236-239, 264, 274, 276, 283, 297 zukünftig-jenseitig 213 Zukunftshoffnung 88 Zukunftshorizont 89
Zweifel 19, 54, 81, 92, 117f, 120, 123, 177, 195, 229 Zwei-Naturen-Lehre s. Christologie