Gletscher: Übersetzung:Lamerz-Beckschäfer, Birgit 3896783815, 9783896783813

Auf einer Reise rund um die ganze Welt führt dieses Buch tief hinein in die eisige Welt der Gletscher. Erleben Sie die E

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German Pages 152 [154] Year 2008

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Table of contents :
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Inhalt
Der eisige Planet
Die Entstehung von Gletschern
Gletscher als Bildhauer
Klima und Gletscher
Immer in Bewegung
Zeugen der Vergangenheit
Die Gletscher der Erde
Gletscher als Ressource
Gletscher als Bedrohung
Die Zukunft der Gletscher
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Gletscher: Übersetzung:Lamerz-Beckschäfer, Birgit
 3896783815, 9783896783813

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Gletscher

Gletscher Pa t r i c k Wa g n o n , Christian Vincent, Delphine Six und Bernard Francou Aus dem Französischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer

Der eisige Planet 18

Die Entstehung von Gletschern 38

Gletscher als Bildhauer 54

Klima und Gletscher 72

Immer in Bewegung 82

Z e u g e n d e r Ve r g a n g e n h e i t 94

Die Gletscher der Erde 104

Vorangehende Doppelseite Das „Eismeer“ (Mer de Glace) ist mit zwölf Kilometern Länge und stellenweise 300 Metern Dicke der größte Gletscher Frankreichs. Glacier de Leschaux und Mer de Glace, Montblancgruppe, französische Alpen Linke Seite Erkundung einer Gletschermühle tief in den Eingeweiden des Gletschers. Die Blaufärbung beruht auf der Brechung des Sonnenlichts durch das Eis. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands Folgende Doppelseite Eis, so weit das Auge reicht: Wie ein reißender Strom befördert ein Gletscherbach am Rand der grönländischen Eiskappe im Sommer Schmelzwasser aus 1000 Metern Höhe ins Meer. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands

Gletscher als Ressource 120

Gletscher als Bedrohung 128

Die Zukunft der Gletscher 140

Vorangehende Doppelseite Sofern sie hoch genug sind, liegen Vulkane selbst in den Tropen unter einer dicken Eisschicht. Die abrupte Schmelze bei einem Ausbruch kann katastrophale Folgen haben. Chimborazo, Anden, Ecuador Linke Seite Kilometer von seinem Ursprung auf der Gletscheroberseite entfernt, endet das Eis – dem man die Strapazen der langen Reise ansieht – manchmal in einem See. Stirn des Greygletschers, Hielo Sur, Patagonien, Chile

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eit jeher betrachten wir Gletscher mit Faszination und Furcht. Gletscher lassen uns Menschen keineswegs kalt. Gletscher sind heilig. Die Inka bestiegen noch vor gut 500 Jahren die über 6000 Meter hohen Andenkolosse, um ihnen Kinder zu opfern – schmale Kost für göttliche Ungeheuer, die mit ihrem Schmelzwasser das Leben in den Tälern überhaupt möglich machten! Gletscher zerstören. Was mag Anfang des 17. Jahrhunderts ein Bauer im Chamonix-Tal empfunden haben, als die „schrecklichen Eiskeller“ seine Äcker und selbst sein Haus verwüsteten? Am imposantesten der Glacier des Bois (heute Mer de Glace), aber auch der Glacier d’Argentière, der Glacier des Bossons und der Glacier du Tour. Als das ansteigende Schmelzwasser sogar drohte, die Arve zu stauen und das ganze Tal zu überschwemmen, bat man im Juni 1644 schließlich Charles de Sales, Koadjutor des Bischofs von Genf, den Gletschern den Teufel auszutreiben. An der Spitze einer Prozession von fast 300 Bewohnern des bedrohten Dorfes Les Bois erklomm der Exorzist den Berg. Sein bischöflicher Segen hatte offenbar Erfolg, denn von jenem Tag an zog sich der Gletscher zurück. Gletscher liefern Eis. Vor gar nicht allzu langer Zeit schlugen die Bewohner der Alpentäler noch Eisblöcke von den Gletscherstirnen ab und kühlten damit ihre Lebensmittelvorräte – deshalb nannten sie die Gletscher auch „Eiskeller“. Noch heute hauen die hieleros in Ecuador mit Spitzhacken und Beilen Stücke aus dem Chimborazo-Gletscher und verkaufen sie am Fuß des Berges auf dem Markt von Riobamba. Gletscher machen Angst. Sie sind instabile Gebilde, die jeden Moment einstürzen können. Wehe dem, der sich ihnen nähert oder allzu nah an ihnen siedelt. Ihm ergeht es wie dem peruanischen Städtchen Yungay in der Cordillera Blanca, das am 31. Mai 1970 nach einem Erdbeben unter Geröll, Eis und Schlamm begraben wurde, die von der vergletscherten Nordwestflanke des Huascarán-Massivs herabstürzten. Gletscher sind Wirtschaftsfaktoren. Sie sind natürliche Wasserspeicher und speisen im Sommer mit ihrem Schmelzwasser die Stauseen der Alpentäler. Wasserkraftwerke sichern heute beispielsweise 60 Prozent der autonomen Stromversorgung der gesamten Schweiz. Gletscher sind Wahrzeichen. Nicht ohne ein Quäntchen Nostalgie betrachten wir Bilder der schwindenden Gletscher des Kilimandscharo, denn die Eisströme auf dem Dach Afrikas haben nur noch wenige Jahrzehnte zu leben. Und es macht uns zornig zu erfahren, dass eine Bergwerksgesellschaft für ihre Goldminen in Chile einen riesigen Gletscher einfach dem Erdboden gleichmachen will. I

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Die Fläche der Antarktis bildet die größte Eiskappe der Erde und ihr umfangreichstes Süßwasserreservoir. Dank eines internationalen Vertrags wird die Antarktis vorläufig nur zu Forschungszwecken genutzt. Französische Forschungsstation Dumont-d’Urville, Adelieland, Ostantarktis

Heute ist das Interesse des Menschen an Gletschern aktueller denn je. Angesichts der konkreten Bedrohung durch den Klimawandel ist die Frage nach der Zukunft der Gletscher nur legitim. Um sie beantworten zu können, muss man jedoch zunächst verstehen, wie Gletscher funktionieren, wie sie entstehen, mit welcher Zeitverzögerung sie auf Klimaveränderungen reagieren, warum sich ihre Ausdehnung in der Vergangenheit veränderte und vieles mehr. Mit solchen Fragen beschäftigen sich Glaziologen. Die Glaziologie ist eine junge Wissenschaft, die noch viel zu lernen hat. Die ersten Erkenntnisse über Gletscher verdanken wir Abenteurern wie Horace Bénédict de Saussure im 18. Jahrhundert oder Wissenschaftlern wie Joseph Vallot, der im 19. Jahrhundert die Alpen erforschte. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Alpengipfel schon längst nichts Heiliges mehr an sich hatten, führen staatliche Behörden systematische Messungen durch, um Gletscherbewegungen nachvollziehen und vorhersagen zu können. Das geschah nicht zuletzt im Hinblick auf die von Gletschern ausgelösten Überschwemmungen und anderen Katastrophen, doch auch die Bedeutung der Schnee- und Eisschmelze für die Stromerzeugung war eine wichtige Triebfeder für ihre Erforschung. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm sich auch die wissenschaftliche Forschung fast überall auf der Welt der Gletscher an und untersuchte die Mechanismen ihres Fließverhaltens. Angesichts der Besorgnis erregenden Erderwärmung tritt die Glaziologie heute erneut in den Vordergrund. Sie zeigt, dass die Gletscher der Erde als Klimaindikatoren unverzichtbar sind, um die derzeitigen Schwankungen zu analysieren und mit denen der Vergangenheit zu vergleichen. Für diese Analysen wurden vernetzte Messposten eingerichtet, die direkt an der Gletscheroberfläche Daten zu Massenhaushalt, Fließgeschwindigkeit und meteorologischen Variablen sammeln. An das globale Gletscherüberwachungsnetz WGMS ( World Glacier Monitoring Service) angeschlossen ist auch der Gletscherbeobachtungsdienst des LGGE (Laboratoire de glaciologie et de géophysique de l’environnement) und des IRD (Institut de recherche pour le développement). Dieses französische Netzwerk beobachtet fünf Gletscher in Frankreich, zwei in Südamerika und zwei Regionen in Antarktika. Die erfassten Daten sollen die wichtigste Frage zum Thema Klimawandel beantworten. Wir Autoren, allesamt Glaziologen, möchten unseren Lesern mit diesem Buch unsere Begeisterung für Gletscher nahebringen. Ihr Schicksal vorhersagen zu wollen erscheint ein ehrgeiziges Unterfangen, solange noch so vieles über künftige Klimaentwicklungen und die Reaktion der Gletscher im Ungewissen liegt. Wir hoffen jedoch, dass dieses Buch Lust darauf macht, in dieses eisige Universum einzutauchen und zu erfahren, wo auf der Erde es liegt, wie es funktioniert, welche Wechselwirkungen mit dem Klima bestehen, welche Entwicklungen es durchmacht, welche Wirtschaftsfaktoren damit zusammenhängen und welche Bedrohungen von ihm ausgehen können. Wir wünschen Ihnen viel Freude an den faszinierenden Bildern, möchten Ihnen darüber hinaus aber die nötigen Schlüssel zum Verständnis der Gletscherwelt an die Hand geben. Unser Anliegen ist es, Bewunderung und Respekt, vor allem aber Neugier auf diese Naturwunder zu wecken. I

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Viele Berge und Gletscher werden als heilige Wesen verehrt und gelten als Stellvertreter von Göttern. Jedes Jahr pilgern Tausende Hindus auf den 4200 Meter hohen Tapovan und huldigen dem Gott Shiva, dem ihm geweihten Berg Shivling (wörtlich: Shiva-Lingam, Symbol Shivas) und dem Gangotrigletscher, aus dem der größte Strom Indiens entspringt, der Ganges. Shivling und Meru, Garhwal, Himalaja, Indien

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Gletscher sind Süßwasserreservoire, die Seen und Bäche speisen und so die Täler und die dort siedelnden Menschen mit Wasser versorgen. Region Chearoco, Königskordillere, Anden, Bolivien

Der eisige Planet

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ie Schnee- und Eishülle der Erde – Fachleute sprechen von der Kryosphäre – ist vor allem in den hohen Breitengraden und in großen Höhen zu finden. Die Antarktis und Grönland nehmen in diesem eisigen Universum eine Sonderstellung ein: Sie allein machen mit umgerechnet 30 Millionen Kubikkilometern Wasser 98 Prozent der gesamten Eismasse der Erdoberfläche aus – eine stolze Zahl, bedenkt man, dass für alle übrigen Flächen gerade einmal zwei Prozent übrig bleiben!

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Antarktische Halbinsel Ronne-Schelfeis Ross-Schelfeis Ostantarktika Patagonien Neuseeland Zentralanden

Grönland Severnaja Semlija Baffin Island Ellesmere Island Alaska Rocky Mountains (Kanada) Rocky Mountains (USA) Island Spitzbergen Franz-Joseph-Land Hindukusch Nowaja Semlija Alaigebirge Skandinavien Ural Alpen Kaukasus Himalaja Karakorum Pamir Kunlun Shan Tian Shan Altaigebirge Sibirien Kamtschatka-Halbinsel

Zwei gewaltige Eisschilde: Antarktika und Grönland Vorangehende Doppelseite In den Polarregionen schmilzt das Eis langsamer. Dafür reduziert sich die Gletschermasse durch Eisberge, die sich ablösen und auf dem langen Weg durchs Meer allmählich schmelzen. Nur ein Zehntel eines Eisbergs ragt über den Meeresspiegel hinaus, der Rest liegt unter Wasser. Cumberland Bay, Südgeorgien Unten An der Westküste Grönlands liefern einige Gletscher, die sich mit einer Geschwindigkeit von mehreren Kilometern pro Jahr bewegen, große Mengen an Eisbergen und tragen so zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Illulisat-Eisfjord, Disko-Bucht, Westküste Grönlands

Das „Inlandeis“ der polaren Eisschilde ruht auf einem felsigen Untergrund, der zum guten Teil unter dem Meeresspiegel liegt. Das Gewicht der oft mehrere Kilometer dicken Eismassen drückt die Erdkruste Hunderte Meter nach unten, im Zentrum von Antarktika stellenweise fast 1000 Meter tief. Der riesige eisbedeckte Kontinent ist 24-mal so groß wie Frankreich und erstreckt sich rings um den Südpol. Die Eisschicht ist stellenweise über 3000 oder sogar 4000 Meter mächtig. Grönland ist erheblich kleiner als Antarktika – nur rund dreimal so groß wie Frankreich. Der Nordpol liegt nicht in Grönland, sondern im Nordpolarmeer, das von einer mehrere Meter dicken Packeisschicht bedeckt ist. Antarktika ist viel kälter als Grönland. An der Oberfläche der Kappe schmilzt nur wenig Eis ab, zudem nur an den Rändern des Kontinents. Im Ostteil der Antarktis, einem 4000 Kilometer langen, riesigen Plateau, liegen die Temperaturen im Jah-

resdurchschnitt bei – 50 °C. Der gefallene Schnee kann unter solchen Bedingungen natürlich nicht schmelzen, sondern verwandelt sich in Eis, das Auslassgletscher vom Inlandeis zum Rand des Kontinents befördern und dann ins Meer entlassen. Manche dieser Gletscher dehnen sich so stark aus, dass sie vor der Küste im Meer riesige treibende Eisplatten bilden. Dieses „Schelfeis“ kann Hunderte Meter dick sein und zerfällt letztlich unter der Einwirkung von Seegang und Wassertemperatur. Die kleineren Auslassgletscher treiben nur wenige Hundert Meter weit und zerbrechen schließlich in zahlreiche Eisberge: Sie „kalben“. Die grönländische Eiskappe liegt in weitaus gemäßigteren Breiten, wird von wärmeren Meeresströmungen umspült und genießt deshalb ein viel milderes Klima. Die im Vergleich zur Antarktis spärlichen Schelfeisflächen finden sich überwiegend im hohen Norden. Nach Süden erstreckt sich Grönland bis zum 60. nördlichen Breitengrad, auf dem auch Oslo liegt. Es wird beeinflusst von den Tiefdruckgebieten über dem Nordatlantik, der Südostteil zudem von der milden Nordatlantikdrift, also dem nördlichen Ausläufer des Golfstroms. Deshalb fallen im Zentrum der grönländischen Eiskappe fast 300 Millimeter Niederschläge. Im Sommer schmelzen die Küstenstreifen bis zu 50 Kilometer landeinwärts ab. Von der Eiskappe gehen gewaltige Auslassgletscher ab. Allein der Jakobshavn Isbrae an der Westküste entwässert sechs Prozent der Fläche Grönlands und schiebt sich bei seiner Ankunft an der Küste mehr als 30 Meter täglich voran. Im Gegensatz zur Antarktis sind die Küsten Grönlands ständig bewohnt und im Sommer durchaus einladend, sieht man einmal von der Mückenplage ab. Warum gerade das Grönlandeis so sensibel auf Klimaveränderungen reagiert, sehen wir uns später noch an.

„ Falls Antarktis und Grönland

vollständig abschmelzen, würde der Meeresspiegel weltweit um 72 Meter ansteigen.



Die Eismassen von Antarktis und Grönland machen zusammen rund sechs Prozent des Volumens aller Ozeane aus. Schmölzen sie vollständig ab, würde sich die Geografie der Erde radikal verändern, denn der Meeresspiegel würde um rund 72 Meter ansteigen. Allein das grönländische Inlandeis entspricht einem Volumen von 2,7 Millionen Kubikkilometern Wasser und würde die Weltmeere um sieben Meter steigen lassen – genug, um einen Großteil der Hafenstädte, zahlreiche Inseln und Gebiete mit tief liegenden Küsten einfach von der Landkarte zu wischen. Doch all das ist nichts im Vergleich zur Antarktis (27 Millionen Kubikkilometer Wasser gleich Anstieg des Meeresspiegels um 65 Meter): Wenn nur die Hälfte der südlichen Eiskappe schmölze, würden von Paris mit seiner mittleren Höhe von 33 Meter ü.d. M. nur noch ein paar Hügel aus dem Wasser ragen.

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Meereis und Eisschollen

Meer- oder Packeis (gefrorenes Meerwasser) zerbricht im Sommer in einzelne Schollen. Adelieland, Ostantarktis

Meereis in Form von Treibeis (Eisschollen) oder Packeis ist leichter und vergänglicher als Gletschereis. Es entsteht und verschwindet entsprechend den Jahreszeiten. Die leicht salzigen Eisplatten bedecken als Schelfeis rund 15 – 22 Millionen Quadratkilometer und haben ein Volumen von schätzungsweise 19 000 – 25 000 Kubikkilometern. Ihr Massenhaushalt ist im Gleichgewicht zwischen Zu- und Abnahme, sodass sie den Meeresspiegel nicht beeinflussen. Ab Herbst sind die Polkappen vollständig von einem Schelfeisgürtel eingeschlossen. Für Schiffe, die im Spätsommer den richtigen Zeitpunkt verpassen, kann das tragisch enden. Ernest Shackleton beispielsweise steuerte die Endurance am 7. Dezember 1914 durch das noch lockere Treibeis der Antarktis, das sich jedoch unversehens zu einer massiven Packeisschicht verdichtete und das Schiff fast ein Jahr lang gefangen hielt, bis die Besatzung sich am 27. Oktober 1915 zur Aufgabe entschloss. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Eis die Endurance buchstäblich zerquetscht. Zu Sommerbeginn bricht

das Packeis schließlich auf und gibt den Weg zur Küste des vereisten Kontinents wieder frei. Ausdehnung und Mächtigkeit des Schelfeises hängen von der Luft- und Wassertemperatur ab, aber auch von den Meeresströmungen, die ihrerseits vom Wind beeinflusst werden. Ein Teil des Treibeises ist mehrjährig und verändert seine Masse nicht. Die Schollen bilden sich über Jahre hinweg und bleiben in bestimmten „sicheren“ Gegenden, etwa zwischen Nordkanada und Nordgrönland, mehr oder weniger unverändert. Sogenannte einjährige Eisschollen bilden sich dagegen im Winter und schmelzen im folgenden Sommer wieder. Beide Arten liefern wichtige Informationen über die Klimaentwicklung, denn gerade weil mehrjähriges Treibeis nur rund drei bis vier Meter dick ist (sodass U-Boote es schon durchbrechen und am Nordpol auftauchen konnten) und einjähriges Eis sogar nur knapp zwei Meter, ist die sommerliche Schmelze deutlich erkennbar, und mehrere heiße Sommer hintereinander können sie erheblich beschleunigen.

Durch ihre weiße Farbe spiegeln die manchmal riesigen Eis- und Schneeflächen das Sonnenlicht so stark, dass sie für das Erdklima eine wichtige Rolle spielen. Region Patriot Hills, Antarktis

Eine spiegelnde Fläche Die winterliche Schneedecke ist trotz ihrer Kurzlebigkeit ein wesentliches Element der Kryosphäre. In den Wintermonaten überzieht sie alles Festland oberhalb des 40. Breitengrads mit einer weißen Hülle, vor allem auf der Nordhalbkugel, die in diesen Breiten riesige Kontinentalflächen aufweist. Wie das Packeis ist auch die Schneedecke das Auffälligste auf Satellitenbildern der Erde, denn die weißen Flächen reflektieren das Sonnenlicht. Je nach Jahreszeit erstrecken sie sich über vier bis 46 Millionen Quadratkilometer und bestehen aus 500 bis 5000 Kubikkilometern gefrorenem Wasser. Allerdings reagiert dieser „Wintermantel“ sehr empfindlich auf Klimaeinflüsse. Für die Erforschung der Klimaentwicklung ist er deshalb bei aller Vergänglichkeit von elementarer Bedeutung.

Hochgebirge) fungieren sie als eine Art Eisbeton, der mineralisches und organisches Material im Boden zusammenbackt. Dieses gefrorene Substrat bildet Schichten, Taschen oder Keile in einer Dicke zwischen zwei- und dreistelligen Meterzahlen, die Jahrhunderte bis Jahrtausende alt werden können. Ein solcher Dauerfrostboden oder „Permafrost“ taut im Sommer lediglich an der Oberfläche. Durch das Schmelzwasser entsteht ringsum ein weicher, schlammiger Moraststreifen, der die Sumpfflächen vergrößert. Für Transport und Bauwesen stellt das Antauen des Dauerfrostbodens ein großes Problem dar, das oft katastrophale Folgen nach sich zieht: Ungenügend im Untergrund verankerte Rohrleitungen, Häuser oder Brücken werden instabil und stürzen ein, die vollgesogenen Böden sacken ab und in den Wäldern kippen die Bäume wie betrunken in alle Richtungen.

Dauerfrostböden

Gebirgsgletscher

Auf subpolaren Kontinentalregionen oder in großen Höhen verbergen sich große Mengen Eis von der Oberfläche aus unsichtbar im Boden. Sie machen auf unserem Planeten eine erhebliche Fläche von rund 23 Millionen Quadratkilometern aus. In einigen Regionen (Sibirien, Nordkanada, im nördlichsten Europa, am Nord- und Südpolarkreis und im

Gebirgsgletscher und kleinere Eiskappen außerhalb der beiden großen Eisschilde machen nur 0,26 Prozent des in der Kryosphäre vorhandenen Eises aus, nämlich rund 80 000 Kubikkilometer; ihr völliges Abschmelzen würde den Meeresspiegel um bescheidene 24 Zentimeter ansteigen lassen. Dennoch sind diese Gletscher viel wichtiger, als es nach den

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statistischen Zahlen scheinen könnte. Zum einen reagieren sie auf Klimaschwankungen innerhalb eines Zeitrahmens, der mit menschlichen Generationen vergleichbar ist, und können schon innerhalb weniger Jahre erhebliche Veränderungen zeigen. Da sie auf dem gesamten Planeten verstreut sind, sind sie zudem als Indikatoren für einen globalen Klimawandel von unschätzbarem Wert. Gletscher gibt es außer in Australien auf allen Kontinenten, vom Himalaja über das Tian Shan-Gebirge, den Kaukasus, Alaska, die amerikanischen und kanadischen Rocky Mountains, Patagonien, die Anden, Island, Spitzbergen, Skandinavien und Neuseeland bis zu den europäischen Alpen. Da diese Eismassen zudem in aller Regel in besiedelten Gegenden liegen, hat ihr Rückgang Konsequenzen für die Wasserversorgung, denn Hochgebirgsgletscher sind quasi Wassertürme. Außerdem wachsen die von Gletschern ausgehenden Gefahren, etwa durch die Bildung von Seen oder Eisgängen. Je nach Geomorphologie (Talform, Gefälle) und geografischer Lage können unterschiedliche Arten von Gletscherlandschaften entstehen, darunter Kargletscher, Talgletscher, Hängegletscher, Plateaugletscher oder Auslassgletscher. Auch die Oberflächen sehen sehr unterschiedlich aus: Weiß sind nur freiliegende Eisflächen, die übrigen sind dunkel bis schwarz, da sich auf ihnen eine Schicht Schutt, Geröll und anderer Detritus abgesetzt hat. Im Gebirge können im Dauerfrostboden von Schutthalden oder Moränen sogenannte Blockgletscher entstehen, die geomorphologisch eigentlich keine Gletscher sind. Sie bestehen aus Schutt (Schluff, Kies und Fels), der mit dem Eis fest verbacken ist. Sie sind weder das gleiche wie „schwarze Gletscher“ (mit Schuttschicht über dem Eis) noch reine Geröllhalden. Bei Blockgletschern besteht das Eis entweder aus Schmelzwasser, das im Kontakt mit dem gefrorenen Boden erneut gefriert, oder aus fossilem Eis unter einer Gerölllage. Wegen der mächtigen Schuttschicht – beim Laurichardgletscher im hochalpinen Écrins-Massiv ist sie beispielsweise über zwei Meter dick – ist an der Oberfläche überhaupt kein Eis sichtbar, doch beobachtet man Anzeichen für ein aktuelles oder früheres Eisfließen, das Geschwindigkeiten von mehreren Metern im Jahr erreichen kann.

Patagonien besitzt gleich zwei Eiskappen: Hielo Sur (13 000 Quadratkilometer) und Hielo Norte (4000 Quadratkilometer). Beide gehören zu den größten der Erde, von den Polkappen abgesehen. San Valentin, Hielo Norte, Patagonien, Chile

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Links Obwohl auf praktisch allen Kontinenten vertreten, sind Gebirgsgletscher im Vergleich zu den Polkappen eher unbedeutend. Allerdings sind sie extrem wichtige Klimaindikatoren. Das gilt besonders für die zwischen den Wendekreisen gelegenen Gletscher. Nevado Contrahierbas, Cordillera Blanca, Anden, Peru Folgende Doppelseite Die klimasensiblen Alpengletscher können sich innerhalb weniger Jahre erheblich verändern. Da ihre Gesamtfläche nicht einmal 2300 Quadratkilometer ausmacht, würden sie im Fall einer Schmelze den Meeresspiegel um weniger als einen Millimeter ansteigen lassen. Gornergletscher und Monte Rosa, Walliser Alpen, Schweiz

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Vorangehende Doppelseite Adeliepinguine nahe der Dumontd’Urville-Station vor der Kulisse von Antarktika, einer gewaltigen Landmasse unter einer Eisschicht, die stellenweise über vier Kilometer mächtig ist. Schmölze der ganze Kontinent ab, würde der Meeresspiegel weltweit um mehr als 65 Meter ansteigen. Adelieland, Ostantarktis Links Gletscherspalten und Schmelzwasserrinnen in der Antarktis. Heute beschränkt sich die Schmelze noch auf die Halbinsel und einen schmalen Küstenstreifen des Eisschilds. Eis verliert der Kontinent vor allem durch abbrechende Eisberge. Glacier de l’Astrolabe, Adelieland, Ostantarktis Rechts Ein Blockgletscher ist ein Bodeneiskörper, dessen Eis großteils von Felsblöcken und Schutt bedeckt ist. Der vereiste Schutt gleitet langsam den Hang hinab. Blockgletscher am Glacier de Gébroulaz, Vanoise-Massiv, französische Alpen Folgende Doppelseite Manche Gletscher an der Westküste Grönlands fließen mit einer Geschwindigkeit von mehreren Kilometern pro Jahr und liefern dabei Massen von Eisbergen. Sie tragen so erheblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Gletscherstirn an der Westküste Grönlands

Von den höher gelegenen Teilen, wo der Schnee sich ansammelt und unter dem Auflastdruck der sukzessiven Schichten in Eis verwandelt, fließt der Gletscher langsam talwärts. Die Eisschmelze beschleunigt sich mit abnehmender Höhe. Illampu, Königskordillere, Anden, Bolivien

Die Entstehung von Gletschern

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tymologisch leitet sich unser Wort „Gletscher“ vom lateinischen glacies ab, das eine große Eismasse bezeichnet. Hinzu kommt die Vorstellung von Dauer. Gletscher sind insofern große natürliche Eisfelder, die sich durch abschmelzenden und wieder gefrierenden Schnee bilden und nach menschlichen Maßstäben ‚ewig‘ sind. Ein solches Eisfeld entsteht durch Schnee, der vom Himmel herabschneit, vom Wind herbeigeweht oder von Lawinen abgeladen wird. Durch Verdichtung und diverse thermodynamische Vorgänge verwandelt er sich mit der Zeit in Eis. Durch sein Eigengewicht fließt der Gletscher allmählich dem Gefälle entsprechend vom Nährgebiet zum Zehrgebiet. Am unteren Ende sorgt die Ablation unter anderem durch Schmelzen, Verdunstung und Kalben dafür, dass die Masse wieder schrumpft. Untrennbar von der Definition des Gletschers ist deshalb sein Fließverhalten.

˚ Das „Mer de Glace“ ˙ (Eismeer)

Hängegletscher

Gletscherspalten Bergschrund

Akkumulationszone (Nährgebiet)

Akkumulationszone (Nährgebiet)

Modell eines Gletschers und seiner Umgebung

Nunatakker

Gleichgewichtslinie Gletscherstirn

Séracs

Ablationszone (Zehrgebiet) Ogiven („Forbes-Bänder“) Seitenmoräne aus der Kleinen Eiszeit Rundhöcker

Gletscherstirn

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Schutthalde

Seitenmoräne aus der Kleinen Eiszeit

Querspalten Obermoräne

45-Grad-Spalten Ogiven („Forbes-Bänder“)

Gletschermühle Ablationszone (Zehrgebiet) Gletscherbach

„Schwarze Ader“

Vorangehende Doppelseite Linke Seite: Wie ein riesiger Eisstrom fließt der Gletscher von seinem oberen Nährgebiet, wo die Anhäufung mit Schnee den Verlust durch Abschmelzen übersteigt, abwärts und füllt dabei die Täler. An seinem unteren Ende liegt das Zehrgebiet, wo mehr Eis abschmilzt, als zufließt. Gilkeygletscher, Alaska, USA Rechte Seite: Im oberen Bereich eines Gletschers fällt mehr Schnee als schmilzt. Jahr für Jahr legen sich weitere Schichten übereinander, und unter dem Einfluss von Auflast und Temperatur verwandelt sich der unten liegende Schnee nach und nach in Eis. In der Akkumulationszone – dem Nährgebiet – wächst die Gletschermasse. Hielo Norte, Patagonien, Chile

Unten In den Tropen liegt die Akkumulationszone sehr hoch, oberhalb von 5200 – 5400 Metern, in den Alpen dagegen schon oberhalb von 2800 – 3000 Metern. Alpamayo, Cordillera Blanca, Anden, Peru

Die Akkumulationszone: das Nährgebiet

So wird aus Schnee Eis

Das Nährgebiet ist der Geburtsort eines Gletschers, die Stelle, wo die Akkumulation (der Zuwachs) höher ist als die Ablation (der Abbau). Entstehen kann ein Gletscher nur dann, wenn der gefallene Schnee auch in der warmen Jahreszeit nicht vollständig schmilzt. Die Akkumulation beruht zum großen Teil auf Niederschlägen in Form von Schnee, Hagel und Graupel, aber auch von Wind und Lawinen abgelagerter Schnee, gefrorenes Regenwasser und Raureif tragen dazu bei. Die jährliche Akkumulation lässt sich manchmal an den Wänden der Gletscherspalten und Séracs ablesen: Oft lagert sich dort im Sommer eine Staubschicht ab, die den Übergang zwischen den in zwei aufeinander folgenden Jahren akkumulierten Schneeschichten sichtbar macht. Vorjährigen Schnee, der mindestens einen Sommer überdauert hat, nennt man Firn oder Firnschnee. In der kuppel-, plateau- oder kesselförmigen Akkumulationszone wandelt sich der Schnee unter dem Druck der nachfolgenden Jahresschichten in Eis um. In den Alpen beispielsweise liegt die Schneegrenze eines Gletschers im Schnitt zwischen 2800 Metern an der Alpennordseite und 3000 Metern am Südhang. Oberhalb dieser Grenze ist die „Eisbilanz“ – die Differenz zwischen Akkumulation und Ablation von Schnee – positiv: Der Gletscher wächst.

Im Hochgebirge (in den Alpen oberhalb von 4000 Metern) oder in hohen Breitengraden (an den Polarkreisen) wandelt sich der kalte, trockene Schnee nach und nach in Eis um. Er schmilzt nur im Ausnahmefall. Die Gletscher dieser Regionen nennt man „kalt“ wegen ihrer extrem niedrigen Temperaturen (–17 °C auf dem Gipfel des Montblanc, –11 °C auf 4300 Metern in den Alpen). Bei niedrigeren Breiten- oder Längengraden und unterhalb von 3600 – 3800 Metern in den Alpen spricht man von „warmen“ oder „temperierten“ Gletschern mit einer Temperatur von 0°C. Ein Teil des Schnees an der Oberfläche schmilzt, und das Schmelzwasser läuft durch die Schneedecke hindurch ab und gefriert in der Tiefe wieder. Es gibt dabei viel Energie an die Schneedecke ab und erwärmt sie so auf bis zu 0°C. An der Metamorphose von Schnee zu Eis sind mechanische und thermodynamische Phänomene beteiligt. Die Veränderungen sind zunächst mechanisch, denn unter der Einwirkung von Wind und Schwerkraft brechen die feinen Arme der Schneeflocken ab. Die thermodynamischen Abläufe sind durch den Wärmeaustausch innerhalb der Schneedecke bedingt und beschleunigen die Eisbildung. Dabei durchläuft der Schnee mehrere Phasenübergänge: Sublimation (fest zu gasförmig), Konden-

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sation (gasförmig zu flüssig); Schmelze (fest zu flüssig) und Regelation (flüssig zu fest). Die Schneekristalle werden allmählich immer körniger (runder), die Zwischenräume schrumpfen. In diesem Stadium hat der Firn eine Dichte von rund 0,55 (Wasser hat eine Dichte von 1). Anschließend kommen noch weitere, langsamere Mechanismen in Gang: Zwischen den Schneekörnern bilden sich Brücken, die sich allmählich schließen. Die Dichte des Firns steigt auf 0,84: Er ist zu Eis geworden. Die Poren schließen sich, und Luftblasen, die nun im Eis gefangen sind, geben Aufschluss über die Zusammensetzung der Atmosphäre zum Zeitpunkt der Eisbildung. Aus diesem lufthaltigen Firneis wird am Schluss luftleeres Gletschereis mit einer Dichte von fast 0,9. Wie lange die Umwandlung von Schnee zu Eis dauert, hängt von der jährlichen Akkumulation und den Wetterbedingungen ab, vor allem der Temperatur. Auf 3600 Metern dauert sie in den Alpen fünf Jahre, auf 4300 Metern zehn bis 20 Jahre und mitten in der Antarktis geschlagene 2000 Jahre.



Auf 3600 Metern dauert die Umwandlung von Schnee zu Eis in den Alpen fünf Jahre, auf 4300 Metern zehn bis 20 Jahre und mitten in der Antarktis knapp 2000 Jahre.



Gletscherbewegungen Die über mehrere Jahre hinweg aufgetürmten Schnee- und Eismassen bewegen sich durch ihr Eigengewicht langsam auf ihrem felsigen Untergrund fort. Ein Gletscher verschiebt sich immer in Richtung des größten Gefälles und passt sich dabei der Talform an. Wie ein sehr langsam dahinfließender Fluss beschleunigt der Eisstrom seinen Lauf an jedem Gefälleknick. Beeinflusst wird die Fließbewegung auch durch die Reibung auf dem felsigen Untergrund und an den Talseiten, denn an den steilsten Stellen bewegt sich der Gletscher schneller, wird jedoch in Übertiefungen oder an Talbiegungen abgebremst. Man unterscheidet bei Gletschern zwei verschiedene Arten der Fortbewegung. Beim Eisfließen oder Eisströmen verformt sich das viskose Eis: Man bezeichnet es als plastisch, weil es seine Form permanent verändert. Besonders ausgeprägt ist dies an der Gletscherbasis unmittelbar über dem Felsen und an den Rändern. Die zweite Fortbewegungsart ist das basale Gleiten, bei dem sich der Gletscher als Ganzes über dem felsigen Untergrund verschiebt. Dieses Gleiten über dem Grund kommt nur bei temperierten Gletschern mit 0°C vor, denn bei kalten Gletschern (mit einer Temperatur unter null) friert die Gletscherbasis am Untergrund fest, sodass das Eisströmen nur durch innere Deformation erfolgen kann. Dieses plastische Fließen beruht zum einen auf der zunehmenden Verformung vor Hin-

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dernissen im Felsbett und auf dem Anschmelzen der Gletscherbasis durch den erhöhten Auflastdruck vor Hindernissen, wobei das Schmelzwasser stromabwärts hinter dem Hindernis wieder gefriert (Fließen durch Regelation). Das Gleiten hängt in starkem Maße vom Wasserdruck an der Gletscherbasis ab und somit vom subglazialen Gewässernetz. Im Frühling sind die subglazialen Abflusskanäle noch schwach entwickelt, doch zu Beginn der sommerlichen Gletscherschmelze wird der Wasserdruck sehr groß und beschleunigt das Eisfließen. Im Laufe des Sommers verbreitern sich die Kanäle, sodass sich der Druck verringert, obwohl mehr Schmelzwasser von der Oberfläche abläuft. Deshalb kann sich die Fließgeschwindigkeit nach einem heftigen Gewitter plötzlich beschleunigen. Die Fließgeschwindigkeit eines Gletschers wird durch mehrere Parameter bestimmt, unter ande-

rem die Temperaturverhältnisse im Gletscher (ob er kalt oder temperiert ist, also ein basales Gleiten gestattet), seine Mächtigkeit, das Gefälle, den Wasserdruck im Kontakt mit dem felsigen Untergrund und die mehr oder weniger ausgeprägte Plastizität des Gesteinssockels. Ausschlaggebend für die Fließgeschwindigkeit sind Mächtigkeit und Gefälle: Je steiler das Gefälle und je mächtiger ein Talgletscher oder eine Eiskappe ist, desto schneller fließen sie. Die Fließgeschwindigkeit ist nicht überall im Gletscher gleich, sondern variiert in Längsrichtung (sie erhöht sich beispielsweise an steilen Stellen) und in Querrichtung, da der Gletscher am Rand durch Reibung an den Felswänden abgebremst wird. Zudem fließt er an der Oberfläche schneller als in der Tiefe. Steckte man Zweige quer über einen Gletscher ins Eis, würden sie sich nach einer Weile talwärts neigen.

Die Ablationszone: das Zehrgebiet Im unteren Bereich des Gletschers übersteigt die Ablation die Akkumulation: der Gletscher schmilzt schneller als er wächst, die Eisbilanz (die Differenz zwischen Akkumulation und Ablation) wird negativ. Dabei verschwindet nicht nur der gesamte Schnee des vorangehenden Winters, sondern das sommerliche Abschmelzen erstreckt sich auch auf das Gletschereis selbst. An seinem vorderen Ende, der Gletscherstirn, fließt der Gletscher gar nicht. Bei den meisten Gebirgsgletschern beruht die Ablation in der Regel auf der Eisschmelze, gefolgt vom Abströmen von Wasser und Verdunstung. Gelegentlich beschleunigt warmer Regen die Schmelze. Dort, wo Gletscher im Meer oder einem See enden, wie dies in der Antarktis, in Grönland, Nordkanada und Norwegen oft der Fall ist, brechen ganze Eisblöcke von der Gletscherstirn ab und bilden Eisberge – der Gletscher „kalbt“. In der Antarktis dominiert diese Art der Ablation. Mit Ausnahme der antarktischen Halbinsel hat die Erderwärmung deshalb dort noch keine oder nur diskrete unmittelbare Auswirkungen auf das Abschmelzen der Gletscheroberflächen. In der Ablationszone nimmt die Schmelze mit abnehmender Höhe zu. In den Alpen beispielsweise erhöht sich bei sauberem, weißem Gletschereis der jährliche Verlust bei einem Höhenunterschied von 100 Metern um 80 Zentimeter. In 1600 Metern Höhe kann die Eisabschmelzung deshalb bei knapp 10 Metern liegen. Meist besteht die Ablationszone aus einer langen, schmalen Gletscherzunge wie zum Beispiel am Whitegletscher in der kanadischen Arktis, dessen Zunge sieben Kilometer lang und maximal einen Kilometer breit ist. Bei manchen Gletschern in Pol- oder Küstennähe erstreckt sich die Ablationszone bis kurz vor dem Meer – der norwegische Engabreengletscher ist in den letzten Jahren bis auf eine Höhe von 40 Metern vorgerückt. Vor allem in dieser schneefreien Ablationszone fin-

den sich die typischen Gletscherformationen infolge von Gefällebrüchen (Spalten, Séracs), von Schmelzwasser (oberflächliche Kanäle, Gletschermühlen, Seen) oder Moränen („schwarze Adern“ und Längsmoränen). Nach Abschluss eines Zyklus, bestehend aus einer Akkumulations- und einer Ablationsperiode, unterteilt man den Gletscher in eine Akkumulationszone mit positiver Nettobilanz (der Gletscher wächst) und einer Ablationszone mit negativer Nettobilanz. An der Grenze zwischen den beiden Zonen – der Gleichgewichtslinie – ist die Differenz zwischen Akkumulation und Ablation gleich null. Die Grenze zwischen Schnee/Firn und Eis nennt man zu jeder Jahreszeit temporäre Schneelinie. Die höchste Position, die diese Linie im Sommer erreicht, also die minimale Ausdehnung der Schneefläche, ist am Ende der Ablationsperiode deutlich sichtbar und identisch mit der Gleichgewichtslinie, sofern kein Regelationseis vorhanden ist (Schmelzwasser, das in der Ablationszone wieder gefriert). Das Eis fließt von der Akkumulationszone in Richtung Ablationszone, jedoch nicht parallel zur Oberfläche. In der Akkumulationszone graben sich Rinnen in die nachwachsenden Schichten auf dem Gletscher immer tiefer ein, in der Ablationszone dagegen steigen sie an. Das älteste Eis befindet sich so an der Gletscherstirn, und zwar dort, wo sie den felsigen Untergrund berührt.

Praktisch weltweit führen Wissenschaftler an repräsentativen Gletschern eines bestimmten Gebiets oder Massivs über Jahrzehnte hinweg regelmäßige Messungen durch. Einer davon ist der Glacier du Gébroulaz. Seinen Massenhaushalt überwacht das Grenobler Laboratoire de glaciologie seit 1983. Glacier du Gébroulaz, VanoiseMassiv, französische Alpen

In niedrigeren Lagen findet das von oben herabströmende Eis mildere Klimabedingungen vor, sodass das Abschmelzen die Akkumulation übersteigt. In dieser sogenannten Ablationszone verliert der Gletscher an Masse. Zmuttgletscher und Matterhorn, Walliser Alpen, Schweiz

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Der Massenhaushalt von Gletschern als Klimaindikator Ganz gleich, welchen Zeitpunkt des Jahres oder welchen Teil des Gletschers man betrachtet, kommt es durch Niederschläge und diverse meteorologische Einflüsse zu einem Massenverlust oder -gewinn. Nach Abschluss eines Zyklus, bestehend aus Akkumulations- und Ablationsperiode, kann man an jedem Punkt des Gletschers die Massenveränderungen im Laufe des Haushaltsjahrs bilanzieren. In der Akkumulationszone ist diese Jahresbilanz positiv. Dank der Schneefälle zwischen Oktober und April (in unseren Breiten) legt ein Gletscher an Masse zu, man spricht auch von der „Winterbilanz“. Selbst wenn dieser Schnee im Sommer teilweise abschmilzt („Sommerbilanz“), bleibt davon am Ende der Ablationsperiode im September noch etwas in der Akkumulationszone übrig, bevor die neuen Schneefälle eintreten. In der Ablationszone weiter unten auf dem Gletscher ist die Winterbilanz am Ende der Akkumulationsperiode sehr oft positiv (im April sind beispielsweise die Alpengletscher im unteren Teil schneebedeckt), doch schmilzt dieser Schnee in der Ablationsperiode ab, und auch das freiliegende Eis

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schmilzt – es ergibt sich die Sommerbilanz der Ablationszone. Die winterlichen Schneefälle, die sommerliche Schnee- und Eisschmelze bilden somit die Jahresbilanz der Ablationszone. Um den Massenhaushalt zu bilanzieren, misst man Zuwachs und Verlust an Gletschermasse in einem bestimmten Zeitraum, beispielsweise von einem Jahr. Dazu versenken Wissenschaftler 10 Meter lange Messbaken aus Holz mithilfe einer Heizsonde in regelmäßigen Höhenabständen an mehreren Stellen der Ablationszone im Gletscher. Misst man den aus dem Eis herausragenden Teil der Messstäbe am Jahresbeginn und erneut am Ende desselben Jahres, lässt sich ermitteln, wie viel Eismasse der Gletscher in den entsprechenden Bereichen der Ablationszone eingebüßt hat. In der Akkumulationszone führen die Forscher in regelmäßigen Höhenabständen manuelle Kernbohrungen durch, um die im Vorjahr gebildete Schicht zu ermitteln und so zu messen, wie viel Schnee sich seitdem im laufenden Jahr abgelagert hat. Kennt man die Dichte dieses Schnees, kann man die Höhe der Schneesäule in die einer Wassersäule umrechnen. Man addiert die Masse, die der Gletscher in der Ablationszone verloren und die er in der Akkumulationszone gewonnen hat, und subtrahiert davon

An der Gletscherstirn wie hier am Zongogletscher, der seit 1991 vom Institut de recherche pour le développement beobachtet wird, befindet sich das älteste Eis, da es dort seine Reise durch den Gletscher beendet, die es in viel höheren Gebieten begann. Zongogletscher, Huayna Potosi, Königskordillere, Anden, Bolivien

das Wasservolumen, das der Gletscher im Laufe des Jahres verloren oder gewonnen hat. Diese Volumenschwankung dividiert man durch die Gesamtfläche des Gletschers, um kleine und große Gletscher miteinander vergleichen zu können. Man erhält so eine Wasserhöhe, die der Jahresbilanz des Gletschers als direkte Folge des Klimawandels entspricht. Beträgt die Jahresbilanz eines Gletschers beispielsweise –1 Meter Wasser pro Jahr, entspricht das verlorene Wasservolumen umgerechnet einem Meter seiner Gesamtfläche. Dieser Mittelwert für den gesamten Gletscher lässt sich mit Messungen an anderen Gletschern vergleichen

In der Ablationszone ist das Eis oft mit einer Schuttschicht bedeckt, die Wind oder Steinschlag dort abladen. Diese Decke ist lediglich oberflächlich, und bei Tauwetter erscheinen hier und dort kleine Schmelzwasserseen oder gefrorene Schutthalden. Khumbutal, Himalaja, Nepal

Von den höchsten Gipfeln der Erde im Himalaja und Karakorum gehen riesige Gletscher von mehr als 50 Kilometern Länge ab. Ihre Ablationszone ist oft mit einer Schuttschicht bedeckt – man nennt sie auch Schwarze Gletscher. Hispargletscher, Karakorum, Pakistan

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Beispiel für einen Kargletscher Tête Rousse, Montblancgruppe, französische Alpen

Beispiel für einen Hängegletscher Nordwand des Grand Pilier d’Angle, Montblancgruppe, italienische Alpen

Wenn die Trockenzeit Anfang Oktober zu Ende geht, ist die stromaufwärts gelegene Akkumulationszone noch weiß und schneebedeckt, die stromabwärts gelegene Ablationszone jedoch schmutziggrau von den Verunreinigungen, die der Wind herbeigeweht hat. Die Firngrenze – die Grenze zwischen Schnee und Eis – stimmt nun mit der Gleichgewichtslinie des Gletschers überein. Chachacomanigletscher, Königskordillere, Anden, Bolivien

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Eis ist ein geschmeidiges Material, das sich von der mechanischen Bearbeitung durch Schmelzwasser leicht verformen lässt – in diesem Fall zu einer fast 200 Meter tiefen Gletschermühle von mehreren Metern Durchmesser, durch die der Gletscherbach abstrudelt. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands

Gletscher als Bildhauer

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urch die Art seiner Entstehung und seine Bewegungen auf dem felsigen Untergrund ist ein Gletscher ein dynamisches Phänomen. Zur Beschreibung der Landschaften und Elemente, die er dabei formt, gibt es ein eigenständiges Vokabular. An der Oberfläche und in unmittelbarer Umgebung eines Gletschers finden sich zahlreiche Zeugnisse seiner Bewegungen wie Bergschründe, Gletscherspalten, Firnzacken und Ogiven. Auf seinem Weg wird der Gletscher zum Transportmittel für Eis und Fels. Er bildet Bäche, Gletschermühlen, Rinnen und Eistische. Auch die Landschaft modelliert ein Gletscher: Er wirft Moränen auf, kratzt Riefen ins Gestein und höhlt ganze Talmulden aus. Er hinterlässt Spuren, an denen seine Aktivitäten auch nach Jahrtausenden und sogar Jahrmillionen noch abzulesen sind.

Mit Reif bedeckter „Büßerschnee“, von Stalaktiten gesäumte Gletscherspalten und ein eingestürzter Sérac auf der Gipfelkuppe des Chimborazo in 6300 Metern Höhe. An der Schnittfläche der Firnzacke erkennt man klar die Jahr für Jahr abgelagerten Schneeschichten. Chimborazo, Anden, Ecuador

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Linke Seite Die Ablationszone des Mer de Glace zwischen ihren Randmoränen aus der Kleinen Eiszeit (16. – 19. Jh.) weist die typische Streifung von Ogiven auf. Mer de Glace, Montblancgruppe, französische Alpen Unten In der Akkumulationszone können Gletscherspalten bis zu 40 – 50 Meter tief sein. An den Bruchflächen der Spalte kann man die „Jahresringe“ der jährlich hinzugekommenen Schneeschichten ablesen. Mer de Glace, Montblancgruppe, französische Alpen

Gletscherspalten und Bergschründe – spektakuläre Einschnitte Weit oben im Nährgebiet kennzeichnen klaffende Spalten die Grenze zwischen dem Teil des Gletschers, der sich vorschiebt, und dem Teil, der an den seitlichen Felswänden festgefroren ist. Diese riesigen Randklüfte oder „Bergschründe“ können gut vierzig Meter tief sein. Da sie meist von Schneebrücken überspannt werden, stellen sie für Bergsteiger einen nützlichen, wenn auch gefährlichen Übergang zu den Felswänden dar. Weiter unten findet sich in der Mittellinie der Gletscherzunge die Firngrenze zwischen Akkumulationszone und Ablationszone, also die äußerste

Ausdehnung des Altschnees am Ende des Sommers. In den Alpen ist diese Grenze im September gut erkennbar, bevor sie unter dem Neuschnee wieder verschwindet. Wenn nach dem Abschmelzen des Altschnees die Gletscheroberfläche im Zehrgebiet bloß liegt, lässt sich das Fließen des Eises an zahlreichen Formationen ablesen. Am eindrucksvollsten sind sicher die Gletscherspalten. Sie entstehen durch Scherkräfte, wenn die Längsdehnung des Gletschers die Geschmeidigkeit des Gletschereises übersteigt. Die Klüfte können sich bilden, weil der Gletscher an den Talrändern abgebremst wird, während das Eis in der Mitte schneller weiterfließt. Meist variiert die Geschwindigkeit zwischen den Gletscherrändern nur geringfügig und sinkt nur in den letzten Dekametern vor dem Rand deutlich ab. Zwischen den rasch und den langsam fließenden Bereichen entsteht so eine sehr hohe Spannung, die das Eis überdehnt und aufplatzen lässt. Diese sogenannten Randklüfte sind parallel zur Fließrichtung mit etwa 45° stromauf gerichtet. Weitere Spalten können in der Mitte des Gletschers an Gefällebrüchen aufreißen. Längsspalten bilden sich parallel zur Fließrichtung, Querspalten im rechten Winkel dazu. Manchmal fügen sich Quer- und Randspalten zu großen halbkreisförmigen Klüften zusammen, die sich über die ganze Breite des Gletschers ziehen. Im Zehrgebiet sind die Spalten maximal rund dreißig Meter tief. In dieser Tiefe herrscht ein solcher Auflastdruck, dass der Grund der Spalte sich wieder schließt. Im Akkumulationsbecken liegen die Spalten meist unter Schneebrücken verborgen und können 40 – 50 Meter tief werden. Der Auflastdruck ist geringer, weil die oberflächliche Schneedecke eine geringere Dichte besitzt als das Gletschereis in der Ablationszone. Abhängig ist die Spaltenbildung zudem vom Relief des felsigen Untergrunds, von der Mächtigkeit des Gletschers und von seinem Fließverhalten. Da sich die Geometrie von einem Jahr zum anderen kaum verändert, bilden sich die Spalten immer ungefähr an den gleichen Stellen. Allerdings sind sie weder unbeweglich noch unveränderlich, denn sie wandern zusammen mit dem Eis, verschwinden stromabwärts und werden stromaufwärts durch neue ersetzt. Bei sehr ausgeprägter Spaltenbildung kommt es vor, dass Quer- und Längsspalten aufeinandertreffen und Eistürme abtrennen. Diese Firnzacken oder „Séracs“ sind äußerst instabil und können aufgrund der Fließbewegung des Gletschers urplötzlich einstürzen und zu Tal rutschen. Die Bezeichnung „Sérac“ stammt übrigens vom Schweizer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure, der sie im 18. Jahrhundert mit aufgetürmten Schachteln von Sérac-Käse verglich.

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Ungewöhnliche Büßer Penitentes (wörtlich „Büßer“) kommen typischerweise auf tropischen und subtropischen Gletschern vor (Anden, Himalaja, Karakorum). Die im Deutschen auch als „Büßerschnee“ bezeichneten Schneeoder Eiskegel sind mehrere Dezimeter bis mehrere Meter hoch und ragen in gleichmäßigen Abständen auf der Gletscherfläche verteilt auf, sodass sie wie eine Bußprozession wirken. Für ihre Entstehung müssen mehrere Faktoren zusammentreffen: eine intensive Sonneneinstrahlung, das Fehlen starker Niederschläge über mehrere Wochen und eine begrenzte Abschmelzung.

Ogiven Ein weiteres auffälliges Phänomen, das man gelegentlich in der Ablationszone auf der Gletscheroberfläche findet, sind Ogiven oder „Forbes-Bänder“. Der aus dem Englischen übernommene Name geht zurück auf den Forscher James David Forbes, der die Erscheinung 1842 erstmals beschrieb. Es handelt sich um abwechselnd helle und dunkle Streifen, die quer zum Gletscher verlaufen und in Fließrichtung zu Spitzbögen ausgezogen sind. Sie kommen nur auf manchen Gletschern vor, da für ihre Entstehung ganz bestimmte Nähr- und Zehrverhältnisse vorliegen müssen. Ogiven bilden sich stromabwärts von Eisbruchzonen, sofern das Eis diese Zone innerhalb desselben Jahres durchquert und sie zudem stromabwärts von der Gleichgewichtslinie liegt. Durchläuft der Gletscher einen Teil der Zone im Sommer, füllen sich die Spalten mit Schmelzwasser und Staub, im Winter ausschließlich mit Schnee. Am Fuß der Eisbruchzone schließen sich die Spalten unter Kompression wieder. Die im Sommer mit Wasser und Staub gefüllten Klüfte sehen nun dunkel aus, die im Winter mit Schnee gefüllten weiß. So entstehen abwechselnd helle und dunkle „Jahresringe“, die auf der Gletscheroberfläche talwärts gleiten und sich dabei in Fließrichtung biegen, weil der Gletscher in der Mitte schneller fließt als an den Rändern.

Diese Schnee- und Eiszacken wenden sich der Mittagssonne zu. Da sie aufgrund ihrer gleichmäßigen Anordnung auf dem Gletscher wie eine Bußprozession in der Karwoche wirken, bezeichnet man sie als Penitentes (Büßer) oder Büßerschnee. Ampato, Vulkankordillere, Anden, Peru

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Supraglaziales Schmelzwasser, Gletschermühlen und Kanäle In der Ablationszone schmilzt das Eis an der Gletscheroberfläche und bildet dort Pfützen, die sich unter Sonneneinstrahlung ausdehnen und das Eis ringsum anschmelzen. Dieses supraglaziale Schmelzwasser bildet oft Rinnsale, die an der Oberfläche abfließen. Nicht selten strudeln sie lautstark in vertikalen Spalten aus und sorgen darin für eine massive mechanische Erosion des Gletschereises. Diese Phänomene nennt man Gletschermühlen, weil ihr Lärm an alte Wassermühlen erinnert. Solche Mühlen kommen in ganz unterschiedlichen Dimensionen vor. Im Mer de Glace in der Montblancgruppe erreichen sie beispielsweise eine Tiefe von über 60 Metern. Das nach unten sickernde

Wasser läuft über feine Risse und Spalten ab und verbreitert sie allmählich zu regelrechten Kanälen, die es zu den Strömen am Gletschergrund ableiten. Von dort fließt es über den felsigen Untergrund hinweg bis zur Gletscherstirn und tritt durch das Gletschertor als Gletscherbach wieder aus. Begünstigt durch den Abfluss und das Abschmelzen eines Gletschers kommen manchmal uralte Kanäle wieder zum Vorschein.

„ Oberflächliche Schmelzwasserrinnsale, die lautstark in Gletscherspalten abstrudeln, nennt man Gletschermühlen, weil ihr Lärm an alte Wassermühlen erinnert.



Staub, Kies und Eistische Liegt die Gletscheroberfläche unter Schnee, wirkt sie blendend weiß, das tiefe Gletschereis dagegen saphirblau. Oft kommt es jedoch vor, dass der Gletscher mit einer Schicht Sand, Kies oder sogar kolossalen Felsbrocken bedeckt ist und all dies bei seiner Vorwärtsbewegung talwärts automatisch mitschleppt. Der dunkle Staub aus mineralischen und organischen Partikeln, der sogenannte Kryokonit, begünstigt die Absorption des Sonnenlichts. Das darunter liegende Eis schmilzt schneller, es entstehen kleine Hohlräume von mehreren Zentimetern Durchmesser. Ist die Staubschicht sehr dick, bildet sie kleine Kegel an der Gletscheroberfläche. Ab einer gewissen Mächtigkeit der Staub- und Kiesschicht von rund ein bis zwei Zentimetern ist

Wie ein Sonnenschirm schützt der Felsblock seinen Eissockel vor dem Abschmelzen. Da das Eis ringsum längst abgetaut ist, ragt er als „Eistisch“ aus der Gletscherfläche heraus. Khumbugletscher, Himalaja, Nepal

das Gletschereis vor dem Schmelzen geschützt. Oft liegen riesige Felsblöcke auf einer Gletscheroberfläche. Rings herum schmilzt das Eis, aber nicht darunter. Die dabei entstehenden „Eistische“ mit dem Felsen als Tischplatte lehnen sich im Sommer zur Sonnenseite, auf der Nordhalbkugel also nach Süden, und leisten so im Nebel als Orientierungshilfen gute Dienste. Oft ist die gesamte Oberfläche eines Gletschers mit Kies von einem Erdrutsch oder einem Felsabbruch bedeckt. Deshalb weisen viele Gletscher ein starkes Gefälle von einem Rand zum anderen auf. Im Gegensatz zu Eis, das unmittelbar mit der Luft in Berührung kommt, schützt die Schuttschicht das darunter liegende Eis vor dem Schmelzen. Sie wandert mit dem Gletscher und begleitet ihn talwärts.

Moränen Bei seiner Vorwärtsbewegung schleppt der Gletscher zahlreiche Felsbrocken unterschiedlicher Größe mit, die von den Bergwänden herunterfallen oder die er an den Talrändern mitreißt, und lädt sie beim Rückzug seitlich oder an der Gletscherstirn wieder ab. Diese Ablagerungen nennt man Moränen, im ersten Fall Randmoränen und im zweiten

Endmoränen. Sie entstanden beim abwechselnden Vorschub und Rückzug der Gletscher im Laufe der letzten Eiszeiten. Bei maximaler Ausdehnung der Gletscher vor 20 000 Jahren und dem darauf folgenden Rückzug vor 10000 Jahren führten die Gletscher Felsbrocken weit entfernter Gebirge mit sich und ließen sie bei ihrem Rückzug an ganz anderen Stellen zurück. Solche „Findlinge“ haben oft eine lange Reise hinter sich. Man findet besonders viele an den Ufern des Genfer Sees (Schweiz) und den Dombes in der Nähe von Lyon (Frankreich).

Schrammen und polierte Felsen Ein Gletscher ist ein hervorragendes Polierwerkzeug. Auf seinem Weg über den felsigen Untergrund schleifen die an der Unterseite mitgeführten Feststoffe das Gestein glatt und reißen mehrere Millimeter tiefe und manchmal mehrere Meter lange Schrammen („Kritzungen“) in den Fels. Befindet sich feinkörniger Sand an der Schnittstelle zwischen Eis und Untergrund, wird das Gestein regelrecht glatt poliert. Man spricht dann von Rundhöckern oder „Hammelrücken“. Bei der Erosion entsteht das sogenannte Gletschermehl, das in großen Mengen von den Gletscherbächen ausgeschwemmt wird.

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In der Akkumulationszone oder im Winter verbergen sich Gletscherspalten unter einer dicken Schneedecke – für Bergsteiger eine ernst zu nehmende Gefahr. Chopicalqui, Cordillera Blanca, Anden, Peru

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Linke Seite Von einem Schmelzwasserbach gegrabener intraglazialer Hohlraum mit einem Durchmesser von zwei bis drei Metern. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands Rechts Séracs sind extrem wacklige Eistürme, die durch die Vorwärtsbewegung des Gletschers aus dem Gleichgewicht geraten und zu einem völlig unvorhersagbaren Zeitpunkt einstürzen. Glacier d’Argentière, Montblancgruppe, französische Alpen Folgende Doppelseite Im Zehrgebiet kann das Schmelzwasser ein regelrechtes Gewässernetz an der Eisoberfläche bilden, unter anderem mit breiten Schmelzwasserbächen. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands

Links Kryokonit besteht aus mineralischen oder organischen Verunreinigungen, die der Wind auf die Gletscheroberfläche weht. Aufgrund ihrer dunklen Färbung absorbieren sie das Sonnenlicht und begünstigen so die Schmelze, bis sich mehrere Zentimeter tiefe und mehrere Dezimeter breite Kryokonitlöcher bilden. Kangerlussuaq-Gletscher, Westküste Grönlands Rechte Seite Durch sein Eigengewicht, seine Bewegung und den Schutt, den er an seiner Basis mitführt, scheuert, hobelt, ritzt, poliert und erodiert ein Gletscher sein Gesteinsbett. Nach seinem Rückzug erkennt man die von der riesigen Walze im Gestein zurückgelassenen Narben. Felsen wie diesen, der von einem uralten Gletscher glatt poliert und gerillt wurde, bezeichnet man als Rundhöcker oder „Hammelrücken“. Mattertal, Wallis, Schweiz

Langsam fließt der Gletscher über seinen felsigen Untergrund und passt sich seiner Form an. Bei starkem Gefälle oder unebenem Boden entstehen im Gletscher tiefe Spalten, die seine Oberfläche in isolierte Firnzacken zerstückeln. Chopicalqui, Cordillera Blanca, Anden, Peru

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Auf Gletschern herrscht ein raues Klima, auch für meteorologische Messstationen. Chimborazo, Anden, Ecuador

Klima und Gletscher

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esucht man einen Gletscher nach mehreren Jahren erneut, sieht man in der Regel, dass sich seine Stirn vorgeschoben oder zurückgezogen hat. Im Écrins-Massiv beispielsweise war es für unsere Urgroßeltern vom Pré de madame Carle bis zur Gletscherstirn des Glacier Blanc nur eine Stunde Fußweg. Heute braucht man für dieselbe Strecke gut zwei Stunden. Auch die Mächtigkeit des Gletschers hat sich verändert. Seit einigen Jahren etwa muss der Steig von Montenvers regelmäßig um ein paar Stufen verlängert werden, damit Bergsteiger überhaupt zum Mer de Glace gelangen können. Was aber bewirkt diese Volumenschwankungen? Was vor zwei Jahrhunderten noch ein Mysterium war, erscheint uns heute selbstverständlich: Das Klima bedingt Fluktuationen der Gletschermasse, und zwar unter Umständen ganz erhebliche. Wie beeinflusst das Klima Zu- oder Abnahme des Gletschervolumens? Wie wirkt es sich auf ihre Ausdehnung aus? Welche Phänomene stecken dahinter? Gletscher erzählen eine Geschichte, doch um sie zu verstehen, müssen wir zunächst die Wechselwirkungen zwischen Klima und Gletschern besser kennen.

Durch eine dicke Moränenschicht vor dem Sonnenlicht geschützt, reagieren Schwarze Gletscher (Vordergrund) und Blockgletscher (Hintergrund) kurzfristig weniger empfindlich auf Klimaeinflüsse. Los Horcones InferiorGletscher, Aconcaguamassiv, Anden, Argentinien

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Die Schlüsselfaktoren der Akkumulation

Linke Seite Die von der gleißenden Tropensonne zerklüftete Ablationszone des Gletschers weist vielfältige Eisformationen wie Stalaktiten und Penitentes auf. Nordgipfel des Illimani, Königskordillere, Anden, Bolivien Unten Um besser zu verstehen, wie ein Gletscher auf Klimaschwankungen reagiert, installieren Forscher Wetterstationen, die den Temperaturaustausch zwischen Gletscher und Atmosphäre messen. Caquella (Vulkan), Sur Lipez, Anden, Bolivien

Ein Gletscher entsteht aus dem Wechselspiel von Akkumulation und Ablation: Im stromaufwärts gelegenen Nährgebiet gewinnt er an Masse, stromabwärts im Zehrgebiet büßt er sie wieder ein. Um genau zu sein, regeneriert der obere Teil des Gletschers durch das Eisströmen den unteren Teil. Ist die winterliche Schneedecke in den Alpen sehr ausgedehnt, nährt sie nicht nur die stromaufwärts gelegenen Gletscherabschnitte, sondern schmilzt auch im unteren Teil langsamer und schützt den Gletscher so länger in den folgenden Sommer hinein. Reichliche Schneefälle in der Akkumulationszone halten den Gletscher gesund. Nach einem trockenen Winter ist der Gletscher dagegen weniger gut geschützt, da die Schneedecke im Sommer schneller abschmilzt. Im Zehrgebiet liegt das Gletschereis früher blank und absorbiert stärker das Sonnenlicht. Das wiederum verstärkt die Abschmelzung. Die Akkumulation kommt durch Schneefälle zustande, aber auch durch Schneewehen, Schmelzwasser oder Lawinen. Vor allem Letztere spielen oft eine entscheidende Rolle, etwa wenn ein Gletscher in geringer Höhe in ein kleines Kar eingezwängt ist und nur dank seiner extrem steilen Wände und der daran abgehenden Lawinen überhaupt existieren kann. Ohne Schneefälle gibt es keinen Gletscher, und sei es auch noch so kalt. In den Anden beispielsweise weisen die zwischen dem 20. und 30. Grad südlicher Breite mitten in den trockensten Wüsten der Erde aufragenden Siebentausendergipfel wie Ojos del Salado oder Monte Pissis keine Spur von Gletschern auf, allenfalls Schneefelder als Reste der seltenen Gewitter. Diese Wächten verwandeln sich

nach und nach in Büßerschnee, der je nach Dicke der Schneemassen bis zu mehrere Meter hoch sein kann, bevor er sich durch Sublimation innerhalb weniger Monate bis Jahre buchstäblich in Luft auflöst. Andere Gletscher dagegen erhalten in ihrem Nährgebiet so viel Schnee, dass ihre Zunge sich sehr weit hinunter ins Tal erstrecken kann, teilweise bis mitten in üppig grüne Landschaften mit Temperaturen weit über null. Das gilt beispielsweise für die Gletscher an der Westküste der Südinsel Neuseelands, deren Nährgebiete Niederschläge von mehr als zehn Metern Wasser jährlich erhalten, was mehreren Dekametern Neuschnee entspricht. Diese im oberen Teil des Gletschers akkumulierten Schneemassen wandeln sich allmählich in Eis um und fließen Jahr für Jahr talwärts bis in gemäßigt-feuchte Baumfarnwälder hinein, deren Temperatur im Jahresdurchschnitt über 10°C liegt. In den Alpen erreichen die winterlichen Schneefälle in einer Höhe von rund 3400 Metern im Schnitt vier bis fünf Meter. Im Laufe des Sommers verschwindet im Großen und Ganzen knapp die Hälfte dieser Schneedecke. In den niederen Lagen um 2500 Meter übersteigt die Akkumulation im Winter kaum zwei Meter Schnee, die bis zum darauf folgenden August vollständig abschmelzen.

Verblüffende Entdeckungen La Paz, Bolivien, Ende Juni 1995. Zwei Glaziologen des IRD (Institut de recherche pour le développement in Grenoble) starten zu Messungen auf dem Zongogletscher, der seit 1991 Gegenstand systematischer Feldstudien ist. Sie stellen ihr Fahrzeug in 4800 Metern Höhe unterhalb des Gletschers ab und klettern bei schönstem Sonnenschein über eine Moräne aus der Kleinen Eiszeit den Berg hinauf. In 5150 Metern Höhe ist die Luft auf der Moräne kühl, und ein schneidender Wind weht vom Gletscher herüber, der einen Eindruck intensiver Kälte weckt, obwohl das Thermometer der Wetterstation mit lediglich – 2 °C keineswegs extreme Minuswerte anzeigt. Dennoch ist es den Forschern unmöglich, ihre dicken Windjacken auszuziehen oder länger als ein paar Minuten ohne Handschuhe zu arbeiten. Beim Betreten des Gletschers ist die Überraschung groß: Die von weitem makellos glatt und weiß wirkende Oberfläche ist in Wahrheit mit unzähligen, sehr gleichmäßig angeordneten Penitentes von 30 – 50 Zentimetern Höhe gespickt. Die Glaziologen arbeiten sich mühsam über die holperige, unwirtliche Oberfläche auf dem Gletscher vor. Nach mehreren niederschlagsfreien Wochen knirscht der Harsch unter den Steigeisen. Der Büßerschnee ist zum Glück so solide, dass die Männer von Grat zu Grat vorankommen. An der Gletscherstirn in

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4900 Metern Höhe finden sie den Gletscherbach, der nur ein kümmerliches Rinnsal bildet und hier und da wieder gefriert. Dass der Gletscher kaum schmilzt, ist angesichts der Kälte natürlich nicht verwunderlich. Zwei Tage darauf kehren die beiden zum Gletscher zurück. Wie so oft in der bolivianischen Trockenzeit herrscht strahlend schönes Wetter. Diesmal jedoch weht in 5150 Metern kein frischer Wind, und unter der gleißenden Tropensonne ist es brütend heiß. Trotz der großen Hitze ist die Temperatur jedoch kaum höher als zwei Tage zuvor, näm-

lich –1 °C. Am Gletscher erwartet die Forscher die nächste Überraschung: Die Schnee- und Eisdecke ist angeschmolzen und die „Büßer“ sind jetzt alles andere als standhaft. Zu ihren Füßen rinnt das Schmelzwasser in Strömen und nagt an den Schneetürmchen, die da und dort bereits schwanken und einstürzen. Verblüfft verfolgen die Glaziologen das Schauspiel. Wie kommt es, dass nur ein Grad plus oder minus eine so massive Schneeschmelze in Gang setzt, nachdem die Gletscheroberfläche kaum zwei Tage zuvor noch so eisig und stabil war? Ganz offensichtlich sind neben der Tem-

peratur weitere meteorologische Parameter im Spiel – aber welche? Um die Sonneneinstrahlung kann es sich nicht handeln, auch nicht um eine Wolkendecke, die den Treibhauseffekt verstärken würde, denn der Himmel ist genauso makellos blau wie zwei Tage zuvor. Ist es der Wind? Die Luftfeuchtigkeit? Inzwischen liefern meteorologische Messungen auf diesem und anderen Gletschern weltweit Antworten auf diese Fragen.

Nützliche Klimaindikatoren Mit Ausnahme sehr hoher, trockener Regionen sind Gebirgsgletscher in gleich welcher geografischen Lage in der Regel temperiert, das heißt, sie weisen eine gleichmäßige Temperatur von 0 °C auf. Eine Veränderung der Wärmezufuhr an ihrer Oberfläche hat weder an der Oberfläche noch in der Tiefe des Gletschers eine Temperaturschwankung zur Folge, sondern zieht einen Phasenübergang beziehungsweise eine Änderung im Aggregatzustand von Eis zu Wasser oder Dampf nach sich. Insofern bedingt jede Veränderung der Wärmezufuhr an ihrer Oberfläche eine Veränderung der Eismasse. Der „oberflächliche“ Massenhaushalt an einem gegebenen Punkt entspricht der Massendifferenz zwischen Akkumulation und Ablation und spiegelt insofern selbst kleinste Abweichungen meteorologischer Parameter und insbesondere schon winzigste Klimaschwankungen. Deshalb sind Gebirgsgletscher sehr empfindliche Klimaindikatoren – allerdings muss man ihren Massenhaushalt richtig zu deuten wissen.

Das manchmal seit Jahrtausenden, an den Polkappen seit Jahrhunderttausenden, an Berggipfeln gefangene kalte Eis enthält wertvolle Informationen über das Klima vergangener Epochen. Mithilfe von Kernbohrungen wird es aus der Tiefe geholt und anschließend im Labor analysiert. Eiskernbohrung auf dem Gipfel des Chimborazo, Anden, Ecuador

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Topografische und meteorologische Messungen Coropuna, Vulkankordillere, Anden, Peru

Die Energiebilanzrechnung der Gletscheroberfläche Um die Wechselwirkung zwischen Gletscher und Klima nachvollziehen und Gletscher als Klimaindikatoren nutzen zu können, muss man zunächst den Wärme- beziehungsweise Energieaustausch zwischen Gletscher und Atmosphäre untersuchen und sich klarmachen, welche verschiedenen Arten von Energie auf die Gletscheroberfläche einwirken und welche von ihr ausgehen. Für eine solche Energiebilanzrechnung benötigt man meteorologische Daten, wie sie eine automatische Wetterstation sammelt. Sie wird direkt auf der Eisfläche installiert und misst kontinuierlich Lufttemperatur und -feuchtigkeit, Windgeschwindigkeit und -richtung, das einstrahlende und das von der Gletscheroberfläche abstrahlende Sonnenlicht sowie die von der Atmosphäre ausgehende und vom Gletscher abgegebene Wärmestrahlung. Zählt man noch die gemessenen Energieströme hinzu (solche, die den Gletscher eher aufheizen und solche, die ihn eher abkühlen), erhält man die Energiebilanz der Gletscheroberfläche, also die zur Erwärmung oder zum Schmelzen von Eis oder Schnee zur Verfügung stehende Wärmemenge. Diese Analyse gestattet Rückschlüsse auf die Reaktionen des Gletschers (Massenverlust oder -zuwachs) und auf diverse meteorologische Parameter (Strahlung, Temperatur, Feuchtigkeit, Nebelbildung, Wind etc.). Die Energiebilanz bildet sozusagen die physikalische Brücke zwischen den meteorologischen Parametern und der Massenbilanz. Versteht man diese Beziehung, kann man zudem in umgekehrter Richtung argumentieren und die Massenschwankungen eines Gletschers über längere Zeiträume deuten. Diese Schwankungen spiegeln Veränderungen meteorologischer Parameter, also die Klimaentwicklung.

Sonnenstrahlung und Niederschläge Die Wetterstationen auf zahlreichen Gletschern überall auf der Erde erinnern uns daran, dass bis auf wenige Ausnahmen die Sonne die wesentliche Energiequelle an der Gletscheroberfläche ist. Was für den Gletscher zählt, ist genauer gesagt, wie viel er von der Sonnenstrahlung absorbieren kann. Liegt er beispielsweise vollständig unter einer Schneedecke, die das Licht stark reflektiert, werden nur zwi-

schen zehn und 40 Prozent der Sonneneinstrahlung absorbiert, und die Wärmezufuhr bleibt gering. Ist die winterliche Schneedecke jedoch im folgenden Spätsommer abgeschmolzen, liegt das staubige blanke Eis frei und kann über 80 Prozent der Sonneneinstrahlung absorbieren und entsprechend viel Energie konsumieren. Auch Niederschläge spielen dabei eine wesentliche Rolle, denn eine solide Schneeschicht schützt den Gletscher, indem sie einen Großteil des Sonnenlichts reflektiert. Bei Regen dagegen taut der Schnee auf der Oberfläche des Eiskörpers, die entsprechend weniger Sonnenlicht reflektieren kann.

Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Wind Eine der grundlegenden Eigenheiten der Gletscheroberfläche, ganz gleich ob aus Schnee oder Eis, besteht darin, dass ihre Temperatur nie über 0 °C ansteigen kann. Wenn an einem Sommertag in den Alpen warme Luft über dem Gletscher zirkuliert, kommt es zu einem Wärmeaustausch: Die Luft kühlt sich an der Gletscheroberfläche ab, zugleich lässt die von der Fläche aufgenommene Energie das Eis schmelzen. Damit dieser Vorgang anhält, muss die warme Luft regelmäßig erneuert werden, und zwar durch Wind: Ohne Wind funktioniert der Wärmeaustausch nicht richtig.

Je wärmer die Luft, desto größer der Energiegewinn des Gletschers, und das ist in niedrigen Lagen der Fall. Am Mer de Glace etwa erreicht die Luft über dem Gletscher im Sommer tagsüber in 1600 Metern Höhe eine Temperatur von 15°C, was einer maximalen Energiezufuhr entspricht. In 3500 Metern dagegen steigt die Lufttemperatur selbst im Sommer selten über null: Die Energiemenge an der Gletscheroberfläche ist minimal.

„ Die Temperatur der Gletscheroberfläche, ganz gleich ob aus Schnee oder Eis, kann nie über 0°C ansteigen.



Ist die Luft sehr trocken, kann sie sich schon beim oberflächlichen Kontakt mit dem Gletscher mit Wasserdampf anreichern, wobei sich Eis oder Schnee durch Sublimation direkt in Wasserdampf umwandelt. Dieser unmittelbare Phasenübergang von fest zu gasförmig verbraucht Energie, und auch dabei gilt: ohne Wind keine Verdunstung. Ist die Luft dagegen sehr feucht, kann sie auf der Gletscheroberfläche zu Wasser oder Raureif kondensieren. Dabei gewinnt der Gletscher Energie. Diese mit dem Energieaustausch verbundenen Oberflächenphänomene – sogenannte turbulente Transfers – sind abhängig von der Luftbewegung durch Wind, der über die Gletscheroberfläche streicht.

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Gletscher und Treibhauseffekt Wie jeder irdische Körper gibt auch ein Gletscher an die Atmosphäre Energie in Form einer thermischen Strahlung ab, die von seiner Temperatur abhängig ist. Diese Energie wird zum Teil von der Atmosphäre absorbiert und an die Eisoberfläche zurückgestrahlt – das Ergebnis ist der berüchtigte Treibhauseffekt. Von den Hauptgasen der Erdatmosphäre tragen hierzu Wasserdampf und Kohlendioxid am meisten bei. Je trockener die Luft, desto weniger der vom Boden ausgehenden thermischen Energie wird von der Luft an den Boden zurück abgestrahlt. Dieses Phänomen zeigt sich deutlich in klaren Nächten. Der Energieverlust eines Gletschers durch Wärmeabstrahlung wird kaum oder gar nicht durch einen Treibhauseffekt kompensiert. Die Temperatur an seiner Oberfläche sinkt bis zum Sonnenaufgang. Für eine Bergbesteigung ist diese ausgeprägte Regelation sehr günstig. Bei sehr hoher Luftfeuchtigkeit und dichter Wolkendecke dagegen kann der Treibhauseffekt den Energieverlust des Gletschers zum Teil ausgleichen. Es ist nicht so kalt, die Nachtfröste sind nicht so stark – für Bergsteiger ein Indiz, dass sie die vorgesehene Schneewanderung verschieben und lieber gemütlich in der warmen Berghütte bleiben sollten. Die Wolkendecke sowie die Luftfeuchtigkeit – die im Übrigen ebenfalls von der Lufttemperatur abhängig ist, denn je wärmer die Luft, desto mehr Wasserdampf kann sie speichern – sind die grundlegenden meteorologischen Variablen, die den Wärmehaushalt eines Gletschers bestimmen.

Jedes Jahr im Frühling messen Glaziologen mithilfe eines manuellen Kernbohrers, wie viel Schnee sich im vergangenen Winter angesammelt hat. Diese Entwicklung muss über Jahrzehnte engmaschig überwacht werden, bis man abschätzen kann, wie gesund die Gletscher sind und welche Klimaschwankungen in diesen Höhen tatsächlich auftreten. Glacier de Talèfre, Montblancgruppe, französische Alpen

Gletscherschmelze als Ergebnis komplexer Vorgänge Sonneneinstrahlung, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wind, Wolkendecke und natürlich Niederschläge: All diese meteorologischen Parameter sind für den Wärmeaustausch zwischen Luft und Gletscher verantwortlich. Ist die Summe dieses Austauschs negativ, weist die Energiebilanzrechnung ein Defizit aus, das heißt, das oberflächliche Schmelzwasser gefriert wieder und die Temperatur der Gletscheroberfläche sinkt, wie es beispielsweise in klaren Nächten in den Bergen oft der Fall ist. Weist die Bilanz dagegen ein Plus aus, steigt die Oberflächentemperatur auf über 0°C an: Schnee und Eis schmelzen, etwa an einem Sommertag, wenn die Gletscheroberfläche einen Großteil der Sonnenstrahlung absorbiert und turbulente Transfers umso mehr zur Wärmeentwicklung in den unteren Luftschichten beitragen, je wärmer die Luft und je stärker der Wind ist. Der Gletscher strahlt natürlich weiterhin Wärme an die Luft ab, doch wird der Energieverlust im Wesentlichen durch die übrigen Zuflüsse kompensiert. Damit können wir erklären, was im Juni 1995 auf dem Zongogletscher geschah. Erinnern wir uns: Am ersten Tag wehte ein kühler Wind über den Glet-

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scher und hinterließ den Eindruck klirrender Kälte, obwohl das Thermometer nur –2 °C anzeigte. Die Gletscheroberfläche war mit hartem Büßerschnee übersät. Am Gletschertor trat ein kümmerliches Schmelzwasser-Rinnsal aus und gefror zum Teil gleich wieder. Der Gletscher war kaum geschmolzen. Zwei Tage später weht bei strahlend schönem Wetter kein Windhauch, die Luft ist zum Schneiden, obwohl die Temperatur –1°C beträgt. Die Gletscheroberfläche ist tropfnass, und die „Büßer“ stehen sozusagen mit den Füßen im Wasser. Im Laufe der zwei trockenen Tage hat der Gletscher durch Sonneneinstrahlung reichlich Energie „getankt“. Obwohl seine Oberfläche 60 Prozent davon reflektiert, bleiben immer noch 40 Prozent übrig, die absorbiert werden und eine nicht unerhebliche Wärmemenge darstellen. Am ersten Tag kam es durch den kräftigen Wind zu ausgeprägten Turbulenzen. Da es kalt war, trug die Lufttemperatur nur wenig zur Erwärmung bei, dafür war die Sublimation aufgrund der trockenen Luft und des Windes sehr ausgeprägt. Da die Sublimation jedoch viel Energie benötigt, verbrauchte sie zusammen mit der Wärmeabstrahlung des Gletschers an die Atmosphäre die gesamte Sonnenwärme. Als Folge schmolz der Gletscher nicht

oder nur kaum, und seine Oberflächentemperatur blieb negativ und begünstigte die Regelation. Zwei Tage darauf kam es bei schwachem Wind zu keinen Turbulenzen mehr. Ein großer Teil der Sonnenwärme blieb erhalten und brachte den Schnee zum Schmelzen. Die nun 0 °C „warme“ Gletscheroberfläche war nass, der Gletscher verlor an Masse. Obwohl die Lufttemperatur im Vergleich zum vorigen Besuch praktisch unverändert war, nagte nun fließendes Schmelzwasser an den Eistürmen, bis sie einstürzten. Der ganze Vorgang zeigt, dass keineswegs die Lufttemperatur allein für die Gletscherschmelze verantwortlich ist. Rechte Seite In seiner Akkumulationszone ist für einen Gletscher vor allem wichtig, wie viel Schnee fällt und seinen Haushalt auffüllt. Um wie viel er in seiner Ablationszone schmilzt, hängt von mehreren meteorologischen Parametern ab (unter anderem Temperatur, Sonneneinstrahlung, Luftfeuchtigkeit und Nebelbildung). Abramowgletscher, Alaigebirge, Usbekistan

Abstrakte Kunst oder Gletscherzeichnung? Die kreuz und quer von einem dichten Netz von Gletscherspalten und Schuttmoränen überzogene Fläche bezeugt, dass der Gletscher ein gelinde gesagt komplexes Fließverhalten aufweist. Hinzu kommen durch Abschmelzen entstandene Formationen. Skeidaràrjökull, Island

Immer in Bewegung

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ie Ausdehnung eines Gletschers hängt nicht nur davon ab, was an seiner Oberfläche vor sich geht, sondern auch von seiner Fließbewegung. Zuwachs an Masse erhält der Gletscher durch Akkumulation in seinem Nährgebiet; er verliert sie in seinem Zehrgebiet durch Ablation. Der Verlust durch die Abschmelzung wird so kontinuierlich wettgemacht. Die Fließgeschwindigkeit eines Alpengletschers liegt zwischen ein- und zwei- oder sogar dreistelligen Meterzahlen pro Jahr. Unter stabilen Klimabedingungen könnte sich zwischen Nähren und Zehren ein Gleichgewicht herausbilden, doch in Wirklichkeit ist das nie der Fall. Das Klima wandelt sich, und der Gletscher passt sich ihm ständig an. Schmilzt mehr Eis als nachwächst, zieht sich die Gletscherzunge zurück, die Abschmelzfläche wird entsprechend kleiner. Ist hingegen der Nachschub größer als die Abschmelze, wächst der Gletscher. Diese Veränderungen geschehen jedoch nicht von heute auf morgen, sondern ziehen sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte hin.

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Als wollten sie sein unablässiges talwärts Strömen verdeutlichen, ziehen sich die Mittelmoränen majestätisch über die gesamte Ablationszone des größten Alpengletschers. Sie entstanden durch Steinschläge am Zusammenfluss der beiden Gletscherarme weiter stromaufwärts. Großer Aletschgletscher, Berner Oberland, Schweizer Alpen

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Gletscherfluktuationen und Klima

Linke Seite In dieser Konfluenzzone sieht man anhand der gebogenen Linien der Schuttmoränen gut, dass der Gletscher in einer Kurve verläuft. Malaspinagletscher, Alaska, USA

Unten Von Gletschervorstoß spricht man, wenn seine Stirn sich weiter talwärts vorschiebt. Nichts hält einen Gletscher auf, nicht einmal ein Wald. Takugletscher, Alaska, USA

Das Verhalten von Gletschern lässt sich nicht ohne Weiteres nachvollziehen oder vorhersagen. Während die Massenbilanz an der Oberfläche unmittelbar auf die Klimabedingungen reagiert, gilt für Veränderungen der Länge und Oberfläche eines Gletschers eine viel längere, von einem Gletscher zum anderen stark abweichende Reaktionszeit. Der größte Alpengletscher, der Schweizer Aletsch, büßte seit 1880 rund 2500 Meter von seiner Länge ein, während der nur wenige Kilometer entfernte, also denselben Klimaveränderungen ausgesetzte Rhônegletscher in derselben Zeit nur um 1200 Meter kürzer wurde. Im Montblancmassiv beantworten die Stirnen des Mer de Glace und des Glacier des Bossons Klimaschwankungen sehr unterschiedlich: Die Stirn des Glacier des Bossons zieht sich zwar seit 1850 insgesamt zurück, allerdings nicht kontinuierlich, sondern in Wellenbewegungen, während das „Eismeer“ sich gleichmäßig, jedoch mit deutlicher Zeitverzögerung gegenüber dem Nachbargletscher verkürzt. Diese Fluktuationen beruhen auf ganz unterschiedlichen Reaktionszeiten: Die Stirn des Bossonsgletschers reagiert fast ohne Ver-

zögerung auf Schwankungen in der Massenbilanz seiner Oberfläche und damit auf die Klimabedingungen, das Mer de Glace dagegen mit zwei Jahrzehnten Verspätung. Verblüffend ist die jüngste große Zunahme der Alpengletscher: Von 1955 bis 1982 erlebte der Glacier des Bossons eine lange Wachstumsphase aufgrund eines günstigen Massenhaushalts an seiner Oberfläche. Das Mer de Glace dagegen zog sich von 1955 bis 1970 weiter zurück und fing erst ab 1970 wieder an, seine Zunge vorzuschieben. Ebenso verkürzte sich der Glacier des Bossons zwischen 1982 und 1993 um mehr als 400 Meter, während sich die Stirn des „Eismeers“ weiter vorschob und erst ab 1993 wieder den Rückzug antrat. Es gibt Dutzende weiterer Beispiele für Gletscher, die auf exakt dieselben klimatischen Bedingungen völlig unterschiedlich reagieren. Worauf beruhen diese Schwankungen? Das Verhalten eines Gletschers hängt von zahlreichen Parametern ab, etwa seiner Größe, seinem Gefälle, der Natur seines felsigen Untergrunds, seinem intra- und subglazialen Gewässernetz. All diese Faktoren beeinflussen die Fließgeschwindigkeit, das Strömverhalten und demzufolge die Reaktionen der Gletscherzunge. So zieht sich beispielsweise ein großer Gletscher mit riesigem Eisvolumen stark zurück, wenn er nicht mehr ausreichend „ernährt“ wird, denn dadurch fehlen ihm gewaltige Mengen Eis. Je ausgeprägter das Gefälle, desto kürzer ist die Reaktionszeit der Gletscherzunge, und der Gletscher passt sich rasch veränderten Klimabedingungen an, wie dies beim Glacier des Bossons der Fall ist. Ein langsames Eisfließen wie beim Mer de Glace bedingt eine längere Reaktionszeit. Ihr Fließverhalten kompliziert die Reaktion von Gletschern ganz enorm, denn es wird unter anderem von den Dimensionen des Gletschers bestimmt, die wiederum von seiner Reaktion abhängig sind. Um diese Reaktion eines Gletschers nachvollziehen und simulieren zu können, benötigt man ein mathematisches Modell, das in der Lage ist, das Strömen zu simulieren. Noch komplizierter wird die Sache dadurch, dass viele Gletscher eine spezielle Konfiguration aufweisen, die ihr Fließverhalten und damit ihre Reaktion auf Klimaveränderungen beeinflusst. In der Regel bewegen sich Gletscher nicht auf einheitlichen Gefällen oder in gerade verlaufenden Tälern, sondern manche fallen am Schluss steil ab oder bilden gefährliche Eisbrüche wie der Gletscher am Allalinhorn im Saastal in den Walliser Alpen. Die Längenveränderungen dieser Gletscher hängen nur in geringem Umfang mit den Klimabedingungen zusammen. Ebenso klimaunempfindlich sind Schwarze Gletscher, denn ihre schützende Moränen-Deckschicht isoliert sie, und entsprechend schwach ausgeprägt sind ihre Fluktuationen. Beispiele hierfür sind etwa der Ghiacciaio della Brenva und der Ghiacciaio del Miage auf der italienischen Seite der Montblancgruppe.

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Kalbende Gletscher Die Reaktion eines Gletschers auf das Klima ist auch davon berührt, ob die Gletscherzunge im Wasser ausläuft, also einem See oder dem Meer. Dort brechen Eisberge vom Gletscher ab, er„kalbt“ und erhöht damit die Ablation. Das kann gleichbedeutend sein mit einem beschleunigten Rückzug des Gletschers, wie es derzeit beim Rhônegletscher der Fall ist: Seit 2006 hat sich an der Gletscherstirn ein Teich gebildet, der sich nach Einschätzung von Schweizer Glaziologen in den kommenden Jahrzehnten zu einem riesigen See ausweiten und den Rückzug des Gletschers massiv beschleunigen wird. Viele Gletscher in Alaska, Patagonien oder Spitzbergen enden im Meer oder in Seen. Der Hubbardgletscher in Alaska ist ein solcher kalbender Küstengletscher, verhält sich jedoch radikal anders als seine Nachbarn, und zwar ganz unabhängig vom Klima. Von seiner Quelle auf dem 5959 Meter hohen Mount Logan erstreckt er sich über eine Fläche von 3500 Quadratkilometern und bricht dann am Meer ab. Während sich jedoch sämtliche Gletscher Alaskas während der Kleinen Eiszeit im 16. bis 19. Jahrhundert vorschoben, zog sich der Hubbardgletscher massiv zurück. Ebenso unvermutet wuchs er seit 1895 um 2,5 Kilometer, während die meisten seiner Nachbarn schrumpften. Bei seinen jüngsten Vorstößen verschloss der Hubbardgletscher 1986 und 2002 gleich zweimal die Einfahrt zum Russellfjord. Wegen dieses Eisstausees stieg der Wasserpegel im Fjord und entsprechend der Druck auf den Eisriegel, der nach einigen Monaten am 15. August 2002 nachgab und innerhalb von rund dreißig Stunden drei Millionen Kubikmeter Wasser ins Meer ergoss.

Temperierte Gletscher gleiten über dem Grund Generell fließt ein Gletscher durch Deformation des Eises oder durch basales Gleiten auf dem felsigen Untergrund. Dieses „Sohlgleiten“ hängt unmittelbar zusammen mit der Temperatur an der Gletscherbasis, dem Wasserdruck an der Schnittstelle zwischen Eis und Fels sowie der Unebenheit und Natur des Untergrunds. Bei kalten Gletschern, deren Temperatur unter null liegt, ist der Eisblock auf dem Fels festgefroren, sodass jedes Fließen ausschließlich auf der plastischen Verformung des Eises beruht. In diese Kategorie gehören sehr hoch gelegene Gletscher, in den Alpen oberhalb von 3800 Metern. Gletschergebiete in geringeren Höhen weisen manchmal Minusgrade auf, wenn das Eis aus größeren Höhen herabströmt. Ist die Gletscherbasis jedoch 0 °C „warm“, gleitet der Eiskörper über dem Untergrund, und das gilt für die meisten Alpengletscher. Die Gleitgeschwindigkeit hängt von der Unebenheit des Felsbetts ab und erhöht sich durch zunehmenden Auflastdruck an der Basis des Gletschers. Über lockeres Sediment

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gleitet er besonders schnell, da die losen Feststoffe sich im Schmelzwasserfilm leichter verformen. Die Geschwindigkeit an der Basis erreicht bis zu knapp 90 Prozent der Oberflächengeschwindigkeit, doch dieses Verhältnis unterliegt zwischen mehreren Gletschern und sogar zwischen verschiedenen Stellen innerhalb desselben Gletschers großen Schwankungen. Im Durchschnitt fließt ein temperierter Gletscher an der Sohle nur halb so schnell wie an der Oberfläche. Die Geschwindigkeit hängt eng mit dem subglazialen Gewässernetz zusammen. Im Winter ist es nur in begrenztem Umfang vorhanden, da kaum Schmelzwasser anfällt und die im Sommer entstandenen Kanäle sich unter dem Auflastdruck des Eiskörpers nach und nach wieder schließen. Zu Beginn der Tauperiode im Frühling steigt der Druck in den Kanälen abrupt an, weil ihr Lumen die von oben herabrinnenden Wassermassen nicht bewältigen kann, und folglich beschleunigt sich die Gletscherbewegung. Im Laufe des Früh- und vor allem Hochsommers vergrößert sich der Durchmesser der Rinnen: Der Druck sinkt und damit auch die basale Geschwindigkeit. Mehrere Experimente in der Schweiz und in Schweden belegen eine enge Korrelation zwischen der Fließgeschwindigkeit und dem in Bohrlöchern gemessenen Wasserdruck. Auch bei starken Regenfällen ist eine Beschleunigung zu beobachten.

Blockschollenbewegungen Manche Gletscher der Erde weisen eine ganz eigentümliche Dynamik auf. Von Zeit zu Zeit schieben sie sich einige Wochen oder Monate lang abrupt mit großer Geschwindigkeit voran. Ihre Oberfläche zerfällt dabei in chaotische Bruchstücke mit tiefen Spalten und ineinander verschachtelten Eisblöcken. Ein solches plötzliches, chaotisches Vorrücken bezeichnet man als Blockschollenbewegung oder mit dem englischen Begriff „Glacial Surge“. Bei diesen „galoppierenden Gletschern“ rückt die Gletscherfront mit einem hohen Tempo von mehreren Kilometern in wenigen Monaten oder Jahren voran, und an ihrer Oberfläche fließen sie mit dem Zehnbis Hundertfachen des normalen Strömens. Einige Hundert Gletscher dieser Art wurden bisher weltweit identifiziert: 200 in Alaska, 40 im Pamir, 20 im Tian Shan, sieben im Kaukasus sowie mehrere in Island, auf Spitzbergen, auf der Kamtschatka-Halbinsel, in den chilenischen Anden und auf Grönland. Blockschollenbewegungen beobachtet man gleichermaßen bei kalten und temperierten, großen und kleinen Gletschern, bei solchen mit lockerem Untergrund und festem Gesteinssockel. Die Intervalle zwischen den Surges betragen bei einem Gletscher jeweils ziemlich regelmäßig zehn Jahre bis mehrere Jahrzehnte. Der US-amerikanischen Glaziologen wohlbekannte Variegated Glacier in Alaska durchläuft solche Surges im Abstand von rund 15 Jahren. Der Mechanismus der Blockschollenbewegung ist noch nicht völlig erforscht. Beobach-

Wie ein träger Eisfluss schlängelt sich der Gletscher über die Talsohlen. Seine Geschwindigkeit variiert je nach Topografie, Temperatur, Gefälle des Gesteinssockels und subglazialem Wasserstand zwischen wenigen Metern bis zu mehreren Hundert Metern im Jahr. Gangotrigletscher, Garhwal, Himalaja, Indien

zeit hinaus vor, bis der Gletscher eine größere Fläche bedeckte als 1850, und „fraß“ dabei einen Wanderweg, der über seine Moränen führte, und eine zum Dörfchen Macugnaga gehörende Skipiste. Die in der Nähe des Gletschers gelegene Berghütte musste geschlossen werden. Leider fingen die Probleme damit erst an, denn 2002 nahm ein See, der sich mitten auf dem Gletscher gebildet hatte, beängstigende Dimensionen an. Auf Empfehlung von Glaziologen entschied die Zivilschutzbehörde, den See abpumpen zu lassen. Nach diversen Anläufen, die aufgrund technischer Schwierigkeiten abgebrochen wurden, entleerte sich der See Ende Juli 2002 ganz von allein.

Der schnellste Gletscher Grönlands

tungen machen deutlich, dass die abrupte Beschleunigung auf einer Störung des subglazialen Gewässernetzes beruht. Verstopft sich das unter dem Gletscher gelegene Kanalnetz, steigt der Wasserdruck, die Gleitgeschwindigkeit wird sehr hoch und der Gletscher bewegt sich ruckartig vor. Der Variegated Glacier erreichte bei seiner Blockschollenbewegung von 1983 eine Fließgeschwindigkeit von 15 Metern pro Tag im oberen Bereich und von 50 Metern pro Tag im unteren Teil. Unter solchen Bedingungen rückt die Gletscherfront mit beeindruckendem Tempo vor. Der Medweschij (Pamir, Tadschikistan) schob sich in weniger als zwei Monaten 1,5 Kilometer voran. Auf dem Höhepunkt der Surge bewegte sich die Gletscherzunge geschlagene 105 Meter pro Tag vorwärts. Natürlich hält ein solches Tempo nicht lange an, da die Akkumulati-

onszone die dafür benötigten Eismassen nur begrenzte Zeit liefern kann: Der Gletscher verlangsamt sich, seine Front hält unter Umständen sogar ganz an und friert fest. Das Nährgebiet des Gletschers dagegen normalisiert sich und nimmt sein normales Dickenwachstum wieder auf, bis ein bestimmter Grenzwert erreicht ist und die Auflast die subglazialen Kanäle erneut verstopft und damit die nächste Surge auslöst. Alpengletscher bleiben von solchen Blockschollenbewegungen in aller Regel verschont, allerdings kommt es bei manchen zu Surges im Miniaturformat, beispielsweise beim Ghiacciaio del Belvedere auf der italienischen Seite des Monte Rosa. Aus bislang unbekannten Gründen beschleunigte sich die Gletscherzunge im Jahr 2000 und schob sich über ihre Seiten- und Endmoränen aus der Kleinen Eis-

Nicht fehlen darf in diesem Zusammenhang die jüngste Entwicklung des Jakobshavn Isbrae, der Auslassgletscher des Ilulissat-Eisfjords und schnellster Gletscher Grönlands ist. Er liegt an der Westküste der Insel und entwässert 6,5 Prozent der Gesamtfläche der Eiskappe. Von 1850 bis 1962 zog sich seine Zunge 26 Kilometer weit zurück. Von 1962 bis zum Ende der 1990er-Jahre blieb er weitgehend konstant und zog sich dann zwischen 2000 und 2003 nochmals 10 Kilometer zurück. Im Laufe der letzten Jahre allerdings veränderte sich das Bild völlig: Während die Gletscherzunge sich zwischen 1985 und 1997 von 6,7 auf 5,7 Kilometer pro Jahr verlangsamte und mächtiger wurde, beschleunigte sie um 1997 wieder und erreichte 2003 eine Geschwindigkeit von 12 600 Metern pro Jahr. Die Massenbilanz der grönländischen Eiskappe wird davon stark in Mitleidenschaft gezogen. Man schätzt, dass allein der Jakobshavn Isbrae im Laufe der letzten Jahre den Meeresspiegel um jährlich 0,06 Millimeter ansteigen ließ. Der „Gletscherexpress“ wäre damit für vier Prozent des mittleren Anstiegs des Meeresspiegels im 20. Jahrhundert (1,5 – 2 Millimeter jährlich) verantwortlich – für einen einzelnen Gletscher eine beachtliche Zahl! Um die Massenentwicklung der Gletscher und Polkappen abschätzen zu können, muss man natürlich zunächst die Mechanismen verstehen, die ihren Fließbewegungen zugrunde liegen.

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Rückt ein Gletscher sehr schnell mit mehreren Metern pro Tag vor, zerbricht er in unzählige Blöcke zu einer völlig zerklüftet wirkenden Eisfläche. Franz-Joseph-Gletscher, Südinsel Neuseelands

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Oben Bei der Fließbewegung verformt sich das Eis, wird hier und dort abgebremst und staut sich auf, beschleunigt und streckt sich an anderen Stellen; es tun sich klaffende Spalten auf, deren Anordnung von der Topografie des felsigen Untergrunds und der angrenzenden Bergwände abhängt. Stauning Alper, Ostküste Grönlands Rechte Seite Ein Gefällebruch des Felsenbetts bedingt eine Beschleunigung der Gletscheroberfläche, die sich in tiefen Querspalten anzeigt. Sie wirken unveränderlich, bewegen sich jedoch in Wirklichkeit mit dem Eiskörper fort und schließen sich stromabwärts, während sich stromaufwärts neue öffnen. Kangurugletscher, Annapurnamassiv, Himalaja, Nepal

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Rechte Seite Die ausgeprägten Randmoränen stammen aus der Kleinen Eiszeit, als dieser Schwarze Gletscher noch weitaus dicker und kraftvoller war. Gebiet im Nordosten des Makalumassivs, Himalaja, Tibet Folgende Doppelseite Die Sockelzone der majestätischen Granitzacken wurde von längst verschwundenen Gletschern glatt geschliffen und erinnert daran, dass die Erde vor gerade einmal 20 000 Jahren eine Eiszeit durchmachte, in der dieses Tal noch unter einer dicken Gletscherschicht verschwand. Valle del Francés, Torres del Paine, Patagonien, Chile

Zeugen der Vergangenheit

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m 18. Jahrhundert konnten sich Naturforscher nicht vorstellen, dass sich die Gletscherfläche im Laufe der Zeit erheblich verändert. Sie hatten keine Ahnung von den großen Eiszeiten der Vergangenheit und den Klimaschwankungen, die sie auslösten. Zwar waren die in den Ebenen verstreuten Felsblöcke vielen aufgefallen, doch glaubte man, sie seien durch die Sintflut von weither angeschwemmt worden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lieferten aufmerksame Beobachter einleuchtende Belege dafür, dass diese Findlinge nur durch Gletscher herbeigeschafft worden sein konnten, und zwar zu einer Zeit, als sie eine erheblich größere Fläche bedeckten. Diese Erkenntnis setzte sich allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Wissenschaftlern endgültig durch. Seither hat die Glaziologie große Fortschritte gemacht. Beobachtungen liefern Belege für die ständige Bewegung und Veränderung der Gletschermassen. Gletscher halten die Klimageschichte fest, denn ihre Ausdehnung variiert nicht nur über Jahrmillionen, sondern fluktuiert auch im Laufe eines Jahrhunderts, Jahrzehnts und einzelnen Jahres.

1820

1936

1954

1994

2000

Eisige und weniger eisige Zeiten Die Erde hat im Laufe ihrer Geschichte mehrere Eiszeiten durchlaufen, die zwischen zwei- und dreistelligen Jahrmillionen anhielten. Entsprechend der Anordnung der Kontinente auf der Erde, der Gebirge auf den Kontinenten, des biologischen Lebens und der vulkanischen Aktivität wechselten sie sich mit sehr langen Warmzeiten ab, in denen es auf der Erde weder Gletscher noch Eiskappen gab. Seit 30 – 40 Millionen Jahren befindet sich die Erde wiederum in einer Kaltzeit: Auf dem Kontinent, der nach dem Auseinanderbrechen des Urkontinents Gondwana langsam zum Südpol driftete, bildete sich vor rund 34 Millionen Jahren der antarktische Eisschild. Der grönländische Eisschild entstand sogar erst vor rund sieben Millionen Jahren. Eiszeiten sind allerdings nicht allzu stabil. Die Vergletscherungen durchliefen im Laufe der letzten Jahrhunderttausende auf dem gesamten Planeten weitreichende Fluktuationen: die Eiszeiten und Zwischeneiszeiten. Während der Vereisungsphasen entstanden die Eiskappen Skandinaviens und Kanadas, insgesamt erstreckten sich Gletscher bis in die heutigen Niederlande und bis New York. Da sie einen Großteil des Wassers auf der Erde einlagerten, lag der Meeresspiegel rund hundert Meter niedriger als heute, sodass man trockenen Fußes den Ärmelkanal überqueren konnte. Gegen Ende der letzten Eiszeit vor knapp 20 000 Jahren gab es in den Alpen Gletscher, wie man sie heute nur noch in Alaska findet, und der Rhônegletscher erstreckte sich bis kurz vor Lyon. Heute weiß man, dass der Wechsel von Kaltund Warmzeiten seit 700 000 Jahren in Zyklen von 100 000 Jahren erfolgt und in erster Linie auf Schwankungen der Insolation (Sonneneinstrahlung) beruht. Diese Variationen sind verknüpft mit der Entfernung zwischen Erde und Sonne und mit der Neigung der Rotationsachse der Erde. Allerdings erklärt die unterschiedliche Insolation allein nicht die Klimaveränderungen, die mit Temperaturschwankungen von durchschnittlich fünf bis sechs Grad Celsius an der Erdoberfläche einhergehen. Weitere Faktoren verstärken die Auswirkung der variablen

Links Entwicklung des Glacier de Pré-deBar seit 1820. Man sieht deutlich, dass der Gletscher sich zwischen 1954 und 1994 erneut vorschob. Glacier de Pré-de-Bar, Montblancgruppe, Schweizer Alpen Linke Seite Seit dem Höhepunkt der Kleinen Eiszeit in den Alpen um 1850 haben sich die Gletscher großenteils zurückgezogen, wie man an den alten Moränen erkennt. Heute besitzen sie nur noch 60 – 70 Prozent ihrer einstigen Ausdehnung. Zmuttgletscher und Dent Blanche, Walliser Alpen, Schweiz

Sonneneinstrahlung, darunter die Albedo, also das Rückstrahlvermögen der Erdoberfläche, der in der Atmosphäre gebundene Wasserdampf (der vom Volumen her das wichtigste Treibhausgas darstellt) und die Meeresströmungen in der Tiefsee, die eine wesentliche Rolle für den Wärmeaustausch auf unserem Planeten spielen. Noch immer sind viele Fragen offen, auch wenn die Analyse von Eisbohrkernen aus der Antarktis oder Grönland bereits einige Antworten geliefert hat, denn sie bieten wertvolle Aufschlüsse über die Zusammensetzung der Atmosphäre in früheren Epochen.

„ Vor 20 000 Jahren lag der Meeresspiegel rund hundert Meter niedriger als heute, sodass man trockenen Fußes den Ärmelkanal überqueren konnte.



Die letzte Zwischeneiszeit Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 10 000 Jahren waren die Klimaschwankungen im Holozän verhältnismäßig schwach ausgeprägt. Direkte Temperaturmessungen mit Thermometern sind erst seit dem 18. Jahrhundert möglich, sodass man bei der Beurteilung länger zurückliegender Klimaveränderungen auf indirekte Daten zurückgreifen muss. Die Analyse von Pollen, Jahresringen, Torfmooren, lakustrischen Sedimenten (aus Seen) und Eisbohrkernen ergibt über jeweils zehn Jahre Abweichungen der mittleren Temperaturen von plus/minus zwei bis drei Grad Celsius vom Mittelwert des 20. Jahrhunderts. Was die Gletscher über die Klimageschichte der letzten Jahrtausende zu erzählen haben, lässt sich an der Landschaft ablesen. Der Temperaturunterschied war geringfügig, jedoch ausreichend dafür, dass sich die Gletscher mehrere Meter bis Kilometer zurückzogen oder vorschoben. Schweizer Wissenschaftler ermittelten die Längenfluktuationen einiger Schweizer Gletscher (Aletsch, Gorner und Grindelwald) im Laufe der letzten 3500 Jahre. Natürlich liegen keine direkten Längenmessungen für diesen Zeitraum vor (die ersten Messungen der Gletscherstirnen erfolgten Ende des 19. Jahrhunderts in den Alpen beziehungsweise in Skandinavien). Die Untersuchungen basieren auf der Analyse und Datierung fossiler Baumstämme und Torfmoore am Fuß beziehungsweise an den Rändern der Gletscher oder in den Moränen – in Bereichen also, die der Eiskörper bei seinem Rückzug preisgab.

Die letzten tausend Jahre Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Alpengletscher um 1200 v. Chr. kürzer waren als heute und sich um den Beginn der christlichen Zeitrechnung in einer ähnlichen Situation befanden wie derzeit. Sie machen zudem deutlich, dass die Gletscher vom 14. bis zur Mitte des 19. Jahrhun-

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derts von den erheblich kühleren Klimabedingungen der Kleinen Eiszeit profitierten, denn dank positiver Massenbilanzen schoben sich die Gletscherzungen weiter talwärts vor. Vom Ende des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war dieser Vorstoß besonders ausgeprägt. Die vorrückenden Gletscher schoben Rand- und Endmoränen vor sich her, die man heute mühelos in der Landschaft erkennt. Da solche Moränen aus der Kleinen Eiszeit von Alaska über Neuseeland bis zum Himalaja in sämtlichen Gebirgen der Erde zu finden sind, kann man davon ausgehen, dass die Klimaabkühlung den gesamten Planeten betraf. Die Ursachen für den Temperaturrückgang sind noch nicht restlos geklärt, doch die Hauptursache war offenbar eine Abnahme der Sonnenwärme. Durch die Analyse der Sonneneinstrahlung anhand der Beobachtung der Sonnenflecken (die Intensität der Sonnenstrahlung ist proportional zur Anzahl der Flecken), die Astronomen des 17. und 18. Jahrhunderts durchführten, und der Messung radioaktiver Isotopen wie Beryllium (10Be) im Eis zeigte sich, dass die an der Erdatmosphäre eintreffende Sonneneinstrahlung, die heute bei rund 1364 Watt pro Quadratmeter liegt, während der Kleinen Eiszeit um drei bis fünf Watt pro Quadratmeter geringer gewesen sein muss. Aber die Sonne ist nicht allein schuld, denn auch andere Faktoren wie Vulkanausbrüche oder abnorme Niederschläge spielten vermutlich ebenfalls eine beachtliche Rolle. Auch wenn die globale Dimension dieser Klimaperiode heute außer Zweifel steht, verliefen die Gletschervariationen in den verschiedenen Regionen der Erde nicht synchron. So erfolgte die letzte Vorstoßphase der Gletscher zu Beginn der Kleinen Eiszeit in den Alpen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Skandinavien jedoch erst gegen Ende desselben Jahrhunderts.

Das 20. Jahrhundert Seit Anfang des 20. Jahrhunderts befinden sich in allen Gebirgen der Erde Gletscher auf dem Rückzug. Allerdings läuft dieser Vorgang alles andere als einheitlich ab. In mehreren Regionen der Erde wachsen Gletscher, teilweise sogar in spektakulärem Umfang. Seit über 20 Jahren ist überall auf der Erde eine Gletscherschmelze zu beobachten – mit gewissen Ausnahmen. In den Alpen beispielsweise haben die Gletscher der seit 150 Jahren anhaltenden Rückzugstendenz zum Trotz phasenweise sogar an Masse zugelegt, so etwa Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts und in jüngerer Zeit zwischen 1954 und 1981. Die letzten 100 Jahre waren allerdings beherrscht von zwei massiven Abschmelzperioden, nämlich von 1942 bis 1953 und von 1982 bis heute. Warum? Die Alpengletscher reagieren empfindlich auf die winterlichen Niederschlagsmengen und die sommerlichen Hitzephasen, die sie tauen lassen. Während des sechs- bis neunmonatigen Winters im Hochgebirge fällt Schnee auf den Gletscher und er-

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nährt ihn. Diese Akkumulationsperiode schirmt den Gletscher wirksam gegen die im Winter ohnehin schwache Sonneneinstrahlung ab, und die niedrigen Temperaturen verhindern ein Abtauen. Verwundbar ist der Gletscher dagegen in der sommerlichen Ablationsperiode, wenn die Abschmelzung je nach Temperatur, Oberflächenzustand (Schnee oder blankes Eis) und Wolkendecke ganz erheblich schwanken kann. In 2400 Metern Höhe schmilzt der Glacier d’Argentière seit 30 Jahren im Durchschnitt um vier Meter pro Jahr. 2003 jedoch verlor er während der Hundstage über sechs Meter. Auf dem Mer de Glace in 1800 Metern Höhe wird seit 20 Jahren jedes Jahr ein mittlerer Schmelzverlust von rund zehn Metern Eis gemessen – der Rekord waren 14 Meter im Jahr 2003! Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestimmen vor allem die Schwankungen im Schmelzverhalten, also die sommerlichen Klimabedingungen, die Veränderungen der Gletscher. Über mehrere Jahre betrachtet, können jedoch gerade die Schwankungen der winterlichen Niederschläge diese Fluktuationen nachhaltig beeinflussen. Der massive Rückzug der 1940er-Jahre beispielsweise war die Folge schneearmer Winter in Verbindung mit sehr heißen Sommern. Ab 1953 kühlten sich die Sommer bis 1981 im Durchschnitt ab. Die Gletscher profitierten davon mit einem Vorstoß in die Täler: Die Zunge des Glacier des Bossons schob sich im Laufe von 28 Jahren um 535 Meter vor, die des Glacier d’Argentière um 400 Meter, jedoch mit knapp 17 Jahren Verspätung. Gegen Ende dieser „Wachstumsphase“ zwischen 1977 und 1981 begünstigten starke winterliche Schneefälle zusätzlich die Massenbilanz, bis ab 1982 erneut eine Ablationsperiode einsetzte. Seither befinden sich die Gletscher in einer langen Phase des Rückzugs, die bis heute andauert. Sie steht eindeutig in Verbindung mit der massiven Zunahme der sommerlichen Abschmelzung infolge sehr heißer Sommer. Der Jahresvergleich macht das enorme Ausmaß der Gletscherschmelze deutlich: Zwischen 1984 und 2006 (in 22 Jahren) zog sich die Front des Glacier des Bossons um 671 Meter zurück; seit 1991 ist die Front des Mer de Glace in 15 Jahren um 350 Meter zurückgewichen, die des Glacier d’Argentière um 526 Meter. Sämtliche Gletscher der österreichischen, italienischen, französischen und Schweizer Alpen befinden sich aus denselben Gründen massiv auf dem Rückzug.

Das heute mit glazialen Sedimenten angefüllte Tal lag während der letzten Eiszeit (rund 100 000 – 20 000 Jahre vor unserer Zeit) teilweise unter Gletschern, die von der Eiskappe des nahe gelegenen Hielo Norte herabströmten. Tal des Río Ibañez, Patagonien, Chile

Gestern noch von Gletschern bedeckt, heute unter ihrem Schmelzwasser ertrunken, sind die ausgeschliffenen Täler seit dem Rückzug der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit zu Seen geworden. Lago Los Leones, Hielo Norte, Patagonien, Chile

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Ein typisches Bild im Himalaja: majestätische Gipfel, darunter mehrere Siebentausender, deren Gletscher mit riesigen, oft über 10 Meter hohen Penitentes übersät sind. Hier befinden wir uns in einem trockenen Gebiet des Himalaja. Chagogletscher, Nordteil des Makalumassivs, Himalaja, Tibet

Die Gletscher der Erde

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ie Kleine Eiszeit, in der sich die Gletscherstirnen je nach Region im Schnitt um ein bis drei Kilometer voranschoben, war zweifellos ein globales Phänomen, doch ging die Kaltzeit nicht überall auf der Welt gleichzeitig zu Ende. Manche Gletscher waren schon Anfang des 19. Jahrhunderts im Rückzug begriffen, andere fingen erst Ende desselben Jahrhunderts damit an. Im 20. Jahrhundert schrumpften offenbar alle weltweit unter Beobachtung stehenden Gletscher. Allerdings verläuft diese Entwicklung wiederum nicht bei allen Gletschern der Erde gleich. Die Gletscherfluktuation kann sich von einem Gebirge zum anderen ganz unterschiedlich darstellen.

Überragt vom 7495 Meter hohen Pik Ismoil Somoni, der bis 1999 Pik Kommunismus hieß, präsentiert sich das Pamirgebirge mit gewaltigen Gletschern, von denen manche über 80 Kilometer lang sind. Nordhang des Pik Ismoil Somoni, Pamir, Tadschikistan

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Mit 90 000 Quadratkilometern vergletscherter Oberfläche ist Alaska nach Grönland und der Antarktis das drittgrößte Gletschergebilde der Erde. Seit 50 Jahren trägt die Abschmelzung dort massiv zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Ruthgletscher, Mount Bradley und Mount Dickey, Alaska, USA

Gletscher in hohen Breiten Abgesehen von den gewaltigen Eismassen der Antarktis und Grönlands befinden sich die meisten großen Eiskörper, deren Abschmelzen den Meeresspiegel merklich verändern würde, rings um den Nordpolarkreis. Grönland ist allein von seiner Masse her sicherlich überwältigend, doch darf man auch nicht die vielen, vielen vergletscherten Inseln vergessen, von Spitzbergen über Nowaja Semlija, Severnaja Semlija, Franz-Joseph-Land, Baffin-, Ellesmere- und Axel Heiberg-Insel bis Island, oder etwa die großen Gletscher Alaskas, deren mächtigste rings um den Golf von Alaska aufragen. Der größte Gletscher Europas ist der isländische Vatnajökull mit einer Ausdehnung von knapp 8300 Quadratkilometern (dem Dreieinhalbfachen aller Alpengletscher), doch die kolossalste Eismasse ist bei weitem Alaska mit 90 000 Quadratkilometern. Es macht allein 13 Prozent der Gebirgsgletscher unseres Planeten aus. Von diesen Eisschilden gehen gigantische Auslassgletscher ab, Eiszungen von 50 – 60 Kilometern oder mehr, die sich ins Meer ergießen, teilweise in Form ausgedehnter Fächer wie der 3880 Quadratkilometer große Malaspinagletscher, der sich an der Front auf 50 Kilometer verbreitert. Der alaskische Columbia Glacier wird von Forschern des Institute of Arctic and Alpine Research (INSTAAR) in Boulder, Colorado (USA) überwacht. Der (2006) noch 51 Kilometer lange Gletscher endet im Prince William Sound. Das Endstück seiner Zunge ist 15 Kilometer lang, zwei Kilometer breit und 550 Meter mächtig, von denen 480 Meter unter Wasser liegen. Der Gletscher treibt nicht, sondern ruht auf einem Felsbett, auf dem er sich mit

einer Geschwindigkeit von 24 Metern pro Tag voranschiebt (Daten von 2001). Von allen Gletschern Alaskas gibt der Columbia mit jährlich gut fünf Kubikkilometern Eis am meisten Süßwasser ans Meer ab. Alle kalbenden Gletscher Alaskas ziehen sich seit einigen Jahren deutlich zurück, doch der Columbia Glacier schlägt alle Rekorde, obwohl sein Rückzug im Wesentlichen erst 1980 einsetzte: Seither ist er 14 Kilometer kürzer geworden und hat auch etwas von seiner stellenweise 900 Meter dicken Mächtigkeit verloren: In 25 Jahren hat er 400 Meter „abgespeckt“, an seiner Stirn sogar knapp 500 Meter. Die Forscher am INSTAAR in Boulder fragten sich, warum gerade dieser Gletscher so rasch abschmilzt, und ihrer Meinung nach ist die Klimaerwärmung, die Alaska und der Arktis seit 25 Jahren zu schaffen macht, nicht die einzige Ursache. Eine Rolle spielt auch die Erwärmung dieser Gebiete seit dem Ende der Kleinen Eiszeit. Der Muirgletscher an der Glacier Bay begann seinen Rückzug schon zu dieser Zeit, die übrigen alaskischen Gletscher, darunter der Wolverine am Golf von Alaska oder der weiter landeinwärts in der Alaska Range gelegene Gulkanagletscher dagegen erst in den 1990er-Jahren. Der „Gesundheitszustand“ der arktischen Eiskappen ist alles andere als gut. Das gilt vor allem für diejenigen, deren Auslassgletscher ins Meer kalben, wie beispielsweise auf Spitzbergen. Weiter nördlich scheinen die Gletscher auf Inseln, die fast vollständig von ganzjährigem Meereis eingeschlossen sind, von diesem Rückgang noch weitgehend unberührt zu sein; doch auch dort belegen Messungen auf dem nordkanadischen Archipel und im Norden Alaskas immerhin eine Zunahme der Verluste seit 1977 und eine Verstärkung des Trends seit den 1990er-Jahren. Addiert würde der Beitrag dieser Eismassen zur Erhöhung des Meeresspiegels bei etwas über 40 Prozent dessen liegen, was alle Gebirgsgletscher der Erde zusammen leisten – Grund genug, um ihre Entwicklung engmaschig zu überwachen, zumal die Regionen, in denen sie sich befinden, in den letzten Jahrzehnten den stärksten Temperaturanstieg verzeichneten.

Der Einfluss des Meeresklimas Küstengletscher in Südnorwegen und Neuseeland profitieren im Winter von ausgesprochen starken Schneefällen. Sie sind deshalb interessant, weil sie als einzige vorrücken, während sich anderswo die meisten übrigen Gletscher eindeutig auf dem Rückzug befinden. Das Volumen aller norwegischen Gletscher entspricht mehr oder weniger dem der Alpengletscher, doch im Gegensatz zu diesen haben die skandinavischen Exemplare an der Atlantikküste zwischen 1988 und 1996 beachtlich zugelegt. Der Nigardsbreen beispielsweise ist ein 48 Quadratkilometer großer Auslassgletscher, der vom Jostedalsbreen abgeht. Bis 1962 wies der Plateaugletscher I 109

eine negative Nettobilanz von –1,2 Metern Wasser aus. Berücksichtigt man die Eisdichte, entspricht dieser Massenverlust einer mittleren Dickenabnahme um 1,3 Meter Eis. In Kontinentaleuropa dagegen waren bei vielen Alpengletschern bis Mitte der 1980er-Jahre nur begrenzte Verluste oder sogar Zuwächse zu beobachten. Außer 1969 und 1988 legte der Nigardsbreen zwischen 1962 und 2000 im Schnitt fast 0,5 Meter Wasser pro Jahr zu. Von 1996 bis 2000 verlangsamte sich der Zuwachs jedoch auf 0,2 Meter Wasser pro Jahr, bevor sich der Trend 2000 wieder umkehrte. Die Gletscherstirn zog sich vom Ende der 1930er-Jahre bis zur Mitte der 1970er-Jahre kontinuierlich jedes Jahr ein Stück zurück, stabilisierte sich dann jedoch, rückte von 1988 bis heute um geschlagene 280 Meter vor und zeigte auch 2003 noch eine merkliche Vorwärtsbewegung. Was ist der Grund für diese Erholung, während die europäischen Kontinentalgletscher ansonsten seit Mitte der 1980er-Jahre massive Defizite aufweisen, die für einen allgemeinen Rückzug sprechen? Nach 1965 und vor allem ab 1988 waren die

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Winter in Südnorwegen mehrere Jahre hintereinander sehr schneereich. Besonders betroffen war der Südwestteil der skandinavischen Bergketten, die den atlantischen Tiefdruckgebieten schutzlos ausgesetzt sind. Die weiter landeinwärts gelegenen schwedischen Gletscher bekamen von all dem Schnee nicht viel ab. Wenn Skandinavien vom Islandtief beeinflusst wird, sind die Winter in den Alpen in aller Regel mild und verhältnismäßig trocken. Anders herum erlebt Skandinavien kalte, trockene Winter, wenn sie in Europa, insbesondere Südeuropa, feucht und schneereich sind. Dieses oft sehr ausgeprägte Phänomen bezeichnet man als Nordatlantische Oszillation. Es gibt auch in anderen Teilen der Erde vergleichbare regionale Klimaschwankungen, die ähnliche Phasenverschiebungen nach sich ziehen. Die bekanntesten davon sind das El Niño-Phänomen und sein südpazifisches Gegenstück La Niña. Unter ihrem Einfluss rückten die neuseeländischen Gletscher im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre merklich vor, während die tropischen Andengletscher stark zurückgingen.

Oben Der Elbrus ist mit 5633 Metern der höchste Berg Europas. Er dominiert den Kaukasus, eine gewaltige Bergkette zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer. Das Adylsutal, im Hintergrund der Elbrus, Kaukasus, Russland Rechte Seite Trotz seiner 30 000 Quadratkilometer großen Gletscherfläche und mehrerer Achttausender unter seinen Gipfeln weiß man nicht allzu viel über die jüngste Entwicklung der Gletscher im Himalaja, da keine kontinuierlichen glaziologischen Beobachtungen vorliegen. Osthang und Gipel des Makalu, Himalaja, Tibet

Gletscher in niedrigen Breiten Himalaja und Karakorum bilden mit knapp zwölf Prozent der vergletscherten Berggebiete weltweit gemeinsam eine der ausgedehntesten Gletschermassen der Erde. Fast eine Milliarde Menschen leben von dem Wasser, das diese Bergketten in Gestalt von Indus, Ganges, Brahmaputra, Saluen, Mekong und anderen großen Flüssen freigiebig verteilen. Leider liegen uns nur allgemeine und im Verhältnis zu den riesigen Flächen viel zu wenige Daten über diese Gletscher vor. Eines erscheint dennoch sicher: Sie befinden sich seit mehreren Jahrzehnten auf dem Rückzug. Der von japanischen Wissenschaftlern untersuchte kleine Gletscher AX010 im nepalesischen Shorong Himal beispielsweise ist mindestens seit Beginn der Studie 1978 und beschleunigt seit 1989 rückläufig. In Indien wiesen Forscher des IRD kürzlich nach, dass sämtliche Gletscher eines 915 Quadratkilometer großen Bereichs zwischen 1999 und 2004 0,85 Meter ihrer Dicke verloren, wobei die Abnahme unterhalb von 5000 Metern mit vier bis zehn Metern jährlich besonders ausgeprägt war. Dank der immer präziseren Beobachtung mittels Satelliten werden uns bald interessante Daten zum Verhalten großer Gletscher zur Verfügung stehen, deren untere Hälfte unter

einer Geröllschicht liegt und die deshalb als weniger empfindlich für Klimaschwankungen gelten. Da sie jedoch den größten Teil der großen Eiskörper ausmachen, hängt viel von ihrem Verhalten ab, denn es geht um die Beurteilung und Überwachung der tatsächlichen Schmelzwassermenge, die aus einer Bergkette abfließt. Logischerweise müsste sich die Menge aufgrund der Gletscherschmelze eine Zeitlang vergrößern, langfristig jedoch im Zuge des Gletschersterbens nachlassen. Sobald man sich dem Äquator nähert, selbst wenn man sich auf die innertropische Zone zwischen den Wendekreisen (23°N – 23°S) beschränkt, findet man sehr viel kleinere vergletscherte Flächen, und die wenigen vorhandenen verteilen sich auf ein paar Massive. Sehr wahrscheinlich machen alle innertropischen Gletscher heute schon keine 2000 Quadratkilometer mehr aus, bedecken also insgesamt eine etwas kleinere Fläche als die Alpengletscher. Die afrikanischen und indonesischen Gletscher sind nur noch Restgletscher von insgesamt weniger als sechs Quadratkilometern, doch gerade deshalb von enormem symbolischem Wert. Der größte Teil der tropischen Gletscher befindet sich in den Zentralanden zwischen Bolivien und Kolumbien. Sie sind deshalb interessant, weil sie sehr sensibel auf das Klima reagieren und uns Informatio-

nen über Klimatrends im tropischen Hochgebirge liefern, das für permanente Messstationen unzugänglich ist. Außerdem spielen sie eine wichtige Rolle für die Wasserversorgung der Gebiete an ihrer Peripherie. Seit 1976 – 1980 hat sich der Rückzug der Gletscherzungen beschleunigt; begleitet von einem mittleren Defizit von 0,4 – 0,6 Metern Wasser jährlich bei großen Gletschern, deren Nährge-

„ Sämtliche Gletscher der Zentralanden

unterhalb von 5100 – 5400 Metern Höhe werden in wenigen Jahrzehnten schlicht und einfach verschwunden sein.



biet oberhalb von 5500 Metern liegt, und von 0,8– 1,2 Metern Wasser jährlich bei kleinen Gletschern in niedrigeren Lagen. Kleine Gletscher unterhalb 5100 – 5400 Metern sind völlig vom derzeitigen Klima abgekoppelt und besitzen keine Akkumulationszone mehr, die sie ernährt. Die großen Gletscher, deren Nährgebiet permanent oberhalb von 5400 – 5500 Metern liegt, ziehen sich zwar auch zurück, jedoch gemächlicher. Es ist keine Übertreibung, dass sämtliche Gletscher der Zentralanden unterhalb von 5100 – 5400 Metern Höhe in wenigen Jahrzehnten schlicht und einfach verschwunden sein werden.

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Gletscher an hyperkontinentalen Standorten Ende der 1990er-Jahre waren im tibetischen Hochland und auf seinen diversen Bergketten mit Ausnahme des Himalaja und des Karakorum rund 30 000 Quadratkilometer vergletschert, die gleiche Fläche wie im weiter südlich gelegenen Himalaja. Zwischen der tibetischen Hochebene im Norden und der riesigen Taklamakanwüste im Süden erstreckt sich das 3000 Kilometer lange Kunlun ShanGebirge mit mehreren Siebentausendern. Es ist vor allem im Westteil eine der trockensten Bergketten der Erde, denn dort fallen jährlich auf den Gipfeln weniger als 500 Millimeter und in den Tälern weniger als 100 Millimeter Niederschläge. Die Bergflanken werden von Sanddünen bedrängt, die manchmal bis direkt an den Gletscherrand heranreichen. Die Eiskörper sind im Sommer mit Staub bedeckt, den der Wind aus der Taklamakan herüberweht. Die Rand- und Endmoränen bleiben nicht, wo sie entstehen, sondern wandern mit der Gletscherzunge und markieren ihre Ausdehnung mit gewaltigen Schuttwülsten. Diese als Blockgletscher oder englisch rock glacier bezeichneten Eiskörper bestehen aus Dauerfrostboden

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(Permafrost) und fließen sehr langsam. Von der Oberfläche rieselt Wasser durch den Schutt und gefriert teilweise, sobald es mit dem Dauerfrostboden in Berührung kommt. Dieser wiederum besteht zu 30 – 40 Prozent aus Eis vermischt mit Gesteinsschutt und strömt wie ein plastischer, viskoser Körper durch sein Eigengewicht allmählich voran. Bei den Riegeln entlang den Rändern der kalten Gletscher handelt es sich insofern nicht um echte Moränen, sondern um mehrere Generationen von Blockgletschern, die sich übereinander türmen. Im Kunlun Shan ist dieses Phänomen schon seit fast 10 000 Jahren im Gang. Man unterscheidet dort deutlich einzelne „Wellen“ von Blockgletschern. Die ältesten, am weitesten talwärts liegenden, sind mit einer dicken Lössschicht bedeckt (einem äolischen Sediment aus Schluff), die immer dünner wird, je weiter man sich den jüngeren Moränen nähert. Chinesische Forscher ermittelten vorwiegend anhand von Luftaufnahmen und Satellitenbildern bei diesen Gletschern Anzeichen für einen Rückzug. Bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein waren sie stabil oder dehnten sich sogar leicht aus, doch seit 1989 ist eine wenn auch noch diskrete, so doch eindeutige Schrumpfung im Gang. Im Becken des Yurunkax mit etwas unter 3000 Quadratkilometern

Wie lange noch wird das Riesenkreuzkraut am Kilimandscharo vom Schmelzwasser der afrikanischen Gletscher profitieren können? Kilimandscharo, Tansania

Gletschern sollen es seit rund 15 Jahren 0,5 Prozent gewesen sein. In den an Tibet grenzenden Gebieten, die dem südindischen Monsun unterliegen, und im Tian Shan im nördlichen Zentralasien ist die Gletscherschmelze glaziologischen Untersuchungen zufolge seit dem Ende der 1970er-Jahre sehr ausgeprägt. Im Gegensatz zu Meeresgletschern reagieren diese kontinentalen Eiskörper weniger sensibel auf Klimaschocks: Von Ende September bis April erstarren sie bei tiefsten Temperaturen. Da sich wegen der trockenen, stürmischen Winter keine echte Schneedecke bildet, tauen sie im kurzen Sommer mit gelegentlichen Niederschlägen von Juni bis August auf. Verlangsamt wird die Schmelze durch den Dauerfrostboden an ihren Rändern und die Tatsache, dass es sich um kalte Gletscher handelt. Im Vergleich zu Gletschern im Südosten und Südwesten der tibetischen Hochebene, die seit 20 Jahren massiv rückläufig sind, sind sie relativ gut erhalten.

Die Eisfelder Patagoniens Die großen Eisfelder Patagoniens liegen unterhalb der gemäßigten Zone zwischen dem 53. und 40. südlichen Breitengrad. Sie bestehen aus ausgedehnten, manchmal durchgehend vergletscherten Flächen von mehreren Tausend Quadratkilometern. Das nordpatagonische Eisfeld (47° S) umfasst mehr als 4000 Quadratkilometer, das südpatagonische „Hielo Sur“ (49°– 51° S) annähernd 13 000 Quadratkilometer. In Patagonien gibt es doppelt so viele kalbende Gletscher wie in Alaska. Die andinen Eisfelder in niedrigeren Breiten werden durch massive Niederschläge ernährt, verstärkt noch durch äußerst aktive atmosphärische Störungen, die vom Südpazifik her mit voller Wucht auf die Bergmassive einpeitschen. Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, welcher klimatischen Logik die großen Gletscher folgen, die ihrerseits große Eiskappen entwässern: Im Laufe des 20. Jahrhunderts schoben sie sich abwechselnd vor und zogen sich zurück, sehr oft ohne erkennbares Schema. Allerdings zeigt der Vergleich zwischen neueren Satellitenbildern und Luftaufnahmen aus den 1970er-Jahren offenbar eine Schrumpfung der Nord- und Südkappe um insgesamt einen Meter. Auch in diesem Fall machen die Autoren der Studie nicht nur das Klima für die Schmelze verantwortlich, denn es erklärt nur die Hälfte des mittleren Dickenverlusts. Zu berücksichtigen sei darüber hinaus eine Verschlankung aufgrund der dynamischen Streckung der Gletscherzungen. Wäre dies der Fall, müssten die Gletscher allerdings im unteren Bereich

schneller fließen, was jedoch die wenigen bisher verfügbaren Messdaten nicht systematisch belegen.

Grönland – ein Kontinent unter ständiger Beobachtung Die verfügbaren Untersuchungen zu Zustand und Entwicklung des grönländischen Eisschilds weisen insgesamt eine große Unsicherheitsmarge auf, denn sie berücksichtigen sämtliche Beobachtungen, Feldmessungen und diverse satellitentechnische Verfahren (Telemetrie, Radar, Gravimetrie). Abgesehen von einigen Feldmessungen wurden sie erst zu Beginn der 1990er-Jahre aufgenommen, sodass uns heute noch der nötige Abstand fehlt, um langfristige Trends zu erkennen. Alle diese Beobachtungen belegen einen signifikanten Massenverlust in den Küstenregionen, insbesondere an der Südostseite des Kontinentalgletschers. In Zentralgrönland dagegen ist der Eisschild offenbar stabil und neigt sogar eher zur Verdickung. Die auf Abschmelzung und dem Abbrechen von Eisbergen beruhenden Massenverluste übersteigen angeblich insgesamt den Massenzuwachs, wobei die

Eisbilanz je nach Schätzung im Bereich von – 5 bis – 12 Zentimeter Wasser pro Jahr liegt. Die Defizite scheinen sich im Laufe der letzten Jahre beschleunigt zu haben. Handelt es sich um eine Folge der Erderwärmung oder die Auswirkung eines längerfristigen Prozesses, wie es beim Rückzug der Gletscher seit mindestens einem Jahrhundert, also seit dem Ende der Kleinen Eiszeit, der Fall ist? In jedem Fall leistet Grönland in den letzten Jahren möglicherweise einen bedeutenden Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels. Die jüngsten Schätzungen gehen von knapp 0,3 Millimeter im Jahr aus, also zehn Prozent der seit 1993 mit Satelliten gemessenen Erhöhung des Meerespegels. Zu bedenken ist, dass für einen Anstieg des Meeresspiegels um 0,3 Millimeter sämtliche Alpengletscher schlagartig abschmelzen müssten! Darüber hinaus hat sich das Tempo vieler Auslassgletscher des Eisschilds eindeutig beschleunigt, was an der Peripherie des Kontinentalgletschers die Eisdecke ausdünnt. Grönland wird heute von zahlreichen Forschern und diversen Satelliten mit Argusaugen überwacht, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass sein Eisschild einer der Hauptschuldigen für den bis zum Ende des 21. Jahrhunderts erwarteten Anstieg des Meeresspiegels sein wird. Durch abbrechende Eisberge leistet Grönland einen erheblichen Beitrag zum derzeit messbaren Anstieg des Meeresspiegels. Es steht deshalb im Mittelpunkt der Studien zahlreicher Glaziologen. Ilulissat-Eisfjord, Westküste Grönlands

Die Antarktis – eine ausgewogene Bilanz In der Antarktis sind Beobachtungen allein schon aufgrund der Ausdehnung des polaren Eisschilds noch schwieriger als andernorts. Jüngsten Schätzungen zufolge weist die Massenbilanz der Westantarktis ein geringfügiges Minus aus, die der Ostantarktis dagegen ein geringes Plus. Allerdings unterliegen diese Schätzungen erheblichen Unsicherheiten, zumal die Beobachtungen kaum 15 Jahre andauern. Heute ist der Südkontinent Gegenstand diverser Untersuchungen. Welche Rolle das Schelfeis und die Auslassgletscher für die Stabilität des Eisschilds spielen, ist nach wie vor eine offene elementare Frage, die Glaziologen noch jahrelang beschäftigen wird. Problematisch ist beispielsweise die Beurteilung, wie sensibel das Schelfeis auf die Erwärmung der Meere reagiert, und ob sich ein Rückgang oder gar ein Verschwinden dieser Eisplatten durch eine Beschleunigung des Eisflusses in Richtung Meer signifikant auf die Massenbilanz der Westantarktis und damit auf den Pegel der Weltmeere auswirken würde. Die Ostantarktis bereitet in dieser Hinsicht offenbar weniger Sorgen. Die bei weitem größte Gletschermasse der Erde erstreckt sich auf einem Felssockel, der zum größten Teil unter dem heutigen Meeresspiegel liegt. Der Ostteil des Eisschilds verzeichnet derzeit sogar einen leichten Zuwachs aufgrund vermehrter Niederschläge im Innern des Kontinents. Die Situation auf der antarktischen Halbinsel dagegen lässt kaum Zweifel zu: Bei steigenden Temperaturen schmelzen und schrumpfen dort die meisten Gletscher. Die vor kurzem unter großer Anteilnahme der Medien zu beobachtende Auflösung einiger Schelfeisplatten hängt möglicherweise ebenfalls mit dieser Entwicklung zusammen, doch ist der Rückzug der Gletscher als Indikator für den aktuellen „Gesundheitszustand“ dieses Teils der Antarktis erheblich zuverlässiger. Ob eine solche Entwicklung in absehbarer Zukunft auch in der Ostantarktis stattfinden könnte, lässt sich derzeit nicht mit Gewissheit sagen, obwohl sich die Anzeichen für einen Rückzug offenbar auch dort häufen. Rechnet man Gewinne und Verluste gegeneinander auf, ist die Massenbilanz der Antarktis dank der vermehrten Niederschläge in ihrem Ostteil insgesamt ausgewogen. Derzeit leistet der Südkontinent insofern noch keinen maßgeblichen Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels.

Mit einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen dem Eisfluss in Richtung Meer und dem „Nachschub“ an Schnee im Landesinneren spielt der Südkontinent heute offensichtlich noch keine maßgebliche Rolle für den derzeitigen Anstieg der Weltmeere. Eisberg mit Streifen von uralten Gletscherspalten, Adelieland, Ostantarktis

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Oben Mit dem absehbaren Verschwinden der letzten Gletscher Afrikas und West-Neuguineas wird es tropische Gletscher bald nur noch in den Anden geben, vor allem in Peru und Bolivien. Illampu, Königskordillere, Anden, Bolivien Rechte Seite Zwischen dem Nordkap und dem Nordpol liegt die Inselgruppe Svalbard unter vielen kleinen Eiskappen. Die größte Insel, Spitzbergen, verdankt ihren Namen ihren vielen zugespitzten Gipfeln. Zentrum von Spitzbergen, Norwegen

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Vor allem in großen Höhen reagieren Gletscher in tropischen Breiten sehr empfindlich auf die Erderwärmung. Sie sind deshalb besonders nützliche Klimaindikatoren. Gipfel des Illampu, Königskordillere, Anden, Bolivien

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Den Hindus ist der Gangotrigletscher heilig. Seine Stirn nennen sie Gomukh, wörtlich das „Kuhmaul“, aus dem ein Quellfluss des Ganges entspringt. Stirn des Gangotrigletschers, Garhwal, Himalaja, Indien

Gletscher als Ressource

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as Verhältnis zwischen Mensch und Gebirge ist seit Urzeiten religiös besetzt. In manchen Regionen wie dem Himalaja oder den Anden gelten Eis und Gletscher noch heute als heilig, und die Berge, auf denen sie ruhen, stellen in den Augen der Bevölkerung Gottheiten dar. Das ist nicht verwunderlich, denn die Gletscher schenken ihnen das lebenswichtige Wasser. Der Mensch hat gelernt, mit Gletschern zu leben und sie zu nutzen. Seit langem schon kühlt er mit ihrem Eis seine Lebensmittelvorräte (deshalb nennen die Alpenbewohner viele Gletscher auch „Eiskeller“). Seit einigen Jahrzehnten erzeugen Wasserkraftwerke mit dem aus großen Höhen fließenden Schmelzwasser elektrischen Strom. Gletscher sind Spielwiesen für (fast) jedermann geworden: Abgesehen vom Hochgebirge, das nach wie vor gut ausgerüsteten, erfahrenen Bergsteigern vorbehalten ist, haben viele Wintersportgebiete ihre Skipisten auf Gletscher ausgedehnt, die – zumindest derzeit noch – auch im Sommer nutzbar sind. Tief im Innern einiger Gletscher locken Eisgrotten Touristen an, und im kanadischen Columbia-Eisfeld kann man sich auf dem Athabascagletscher sogar mit speziellen Reisebussen umherkutschieren lassen.

Nur 40 Kilometer von La Paz entfernt, speist der Zongogletscher mit seinem Schmelzwasser mehrere Stauseen, die von 4750 bis 950 Meter hintereinander am Berghang angelegt wurden und Strom für die Hauptstadt produzieren. Zongogletscher, Königskordillere, Anden, Bolivien

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La Paz, mit 3300 bis 4100 Metern die höchstgelegene Hauptstadt der Erde, ist während der sechsmonatigen Trockenzeit für Trinkwasserversorgung und Stromerzeugung mit Wasserkraftwerken auf die umliegenden Gletscher angewiesen. La Paz mit dem Illimani, Königskordillere, Anden, Bolivien

Kolossale natürliche Wasserspeicher Ein Sechstel der Weltbevölkerung nutzt das Schmelzwasser von Schnee und Eis für seinen täglichen Bedarf an Trinkwasser und Brauchwasser für Haushalt und Landwirtschaft. In manchen Regionen füllt es zudem die Staudämme von Wasserkraftwerken. Die norwegischen Gletscher beispielsweise liefern den „Treibstoff“ für Wasserkraftwerke, die 95 Prozent des elektrischen Stroms im ganzen Land erzeugen. Unterhalb vergletscherter Hänge werden vielerorts Stauseen angelegt, deren Pegel von der Gletscherschmelze abhängig ist. Auch in der Schweiz erzeugen Wasserkraftwerke 60 Prozent der gesamten Stromproduktion. Allein Schnee und Gletscher machen schätzungsweise knapp 30 Prozent der gesamten mit Wasserkraft erzeugten Elektrizität aus. Der Vorteil von Gletschern besteht darin, dass das von ihnen gespeicherte Wasser in der trockenen, heißen Jahreszeit genutzt werden kann. In Gegenden mit ausgeprägtem Wechsel zwischen Feucht- und Trockenzeiten sind solche natürlichen Wassertürme oft besonders wertvoll. In den Alpen wirken sich Gletscher auf den Wasserpegel der Flüsse nur in unmittelbarer Nähe der Berge aus. Von einem glaziären Regime spricht man, wenn 15 – 20 Prozent des Wassereinzugsgebiets ganzjährig mit Schnee oder Gletschern bedeckt sind. In der Nähe der Gletscher führt der Fluss im Juli und August bei maximaler Schnee- und Eisschmelze am meisten Wasser. Weiter stromabwärts spricht man von einem nivalen Regime mit Höchstpegel während der Schneeschmelze im Juni. In diesem Fall wirkt sich die Gletscherschmelze im Vergleich zu den tauenden Schneeflächen des Einzugsgebiets

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nur geringfügig aus. Noch weiter stromabwärts trägt das Schmelzwasser nur noch unwesentlich zum Pegel bei, während Regenfälle den größten Teil der Durchflussmenge ausmachen. Langfristig führt die Klimaerwärmung voraussichtlich zu einem Anstieg der Gewässerpegel im Winter und Vorfrühling und zu einer Abnahme im Hochsommer, wenn der Bedarf in den gemäßigten Breiten eigentlich am höchsten ist. Kurzfristig könnte die Gletscherschmelze die Pegel dagegen in der warmen Jahreszeit ansteigen lassen. Im westlichen Teil des Himalajas und im Karakorum beispielsweise macht die Gletscherschmelze im Sommer derzeit mehr als die Hälfte des Volumens der Wasserläufe aus. In Südamerika nutzen Großstädte wie La Paz (Bolivien), Huaraz (Peru) und Quito (Ecuador) heute ebenfalls das von den Gletschern herabfließende Wasser, vor allem während der Trockenzeit. Eine Schrumpfung der Gletscherflächen in den Wassereinzugsgebieten würde sich mittelfristig mit Sicherheit nachteilig für die Bevölkerung dieser Ballungsräume auswirken. In der peruanischen Cordillera Blanca beispielsweise würde sich die jahreszeitliche Schwankung der Wasserpegel in Flüssen und Bächen verändern: In den noch großflächig vergletscherten Einzugsbereichen würde das derzeitige glazio-nivale durch das pluvio-nivale Regime abgelöst werden, das heißt, die Durchflussmengen würden sich nach den aktuellen Niederschlägen richten und während der fünfmonatigen Trockenzeit auf null sinken. Vor dem sommerlichen Austrocknen würden in einer Übergangsphase die Wasservorräte der Gletscher nach und nach abfließen und dabei die Durchflussmenge in den stark vergletscherten Gebieten zunächst auf hohem Niveau halten.

Das Schicksal des Esperanzagletschers Es kommt vor, dass Gletscher wirtschaftlichen oder touristischen Projekten buchstäblich im Weg stehen. In Peru und Bolivien mussten zu Beginn der Kleinen Eiszeit angesichts der vorrückenden Gletscher Bergwerke aufgegeben werden. Als die Eiskolosse die Eingänge zu den Minen versiegelten, waren die Menschen machtlos. Noch heute ist es nicht einfach, einen Gletscher „umzuleiten“. Das Anschwellen der Eisflächen in den Alpen zwischen 1960 und 1980 zwang beispielsweise die Betreiber von touristischen Einrichtungen und Wasserkraftwerken, ihre Liftanlagen zu verlegen. Gletscher können sich auch wirtschaftlichen Interessen „widersetzen“ – was schwer wiegt, wenn es um Gold geht. Das Projekt Pascua Lama in Chile sorgte in den Medien für viel Wirbel und löste weltweit zahlreiche Demonstrationen aus. Das Vorhaben weckte massive Ressentiments gegen industrielle Aktivitäten, die unmittelbar die Natur bedrohen. Abgesehen von sachlichen Argumenten zeigt gerade diese heftige Reaktion, wie sehr

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Schnee und Gletscher der Menschheit bis heute am Herzen liegen. Der weltweit operierende Bergbaukonzern Barrick Gold sucht seit vielen Jahren nach einer Möglichkeit, die Gold- und Silberminen in den Zentralanden Chiles auszubeuten. Sie liegen auf sehr hohen, sehr trockenen Hochebenen; nur die höchsten Gipfel zwischen 5000 und 5500 Metern sind mit einigen wenigen Gletschern überzogen. Da sie keine Nährgebiete mehr besitzen, beschränken sie sich auf vergleichsweise winzige Flächen. Schon vor einigen Jahren wiesen geophysikalische Proben Gold- und Silbervorkommen in dieser Region nach, vorwiegend im Innern des Bergs, auf dem sich der kleine Esperanzagletscher erstreckt. Die vergletscherte Fläche umfasste 2005 höchstens acht Hektar bei einer Mächtigkeit von allenfalls 36 Metern. Bis die Prospektoren von Barrick Gold auftauchten, hatte sich nie jemand für den Gletscher interessiert. Wie in anderen Gegenden Chiles drang Barrick Gold in die Dutzende Kilometer vom nächsten Dorf entfernten hohen, abgeschiedenen, kahlen Berge vor und trassierte Strecken für die Prospektion, den Transport der Schürfgeräte und den Abtransport der Bodenschätze. Doch Barrick Gold hatte seine Rechnung ohne drei kleine Gletscher auf den Berggipfeln gemacht. Als Barrick Gold die Sprengung dieser Gletscher ankündigte, um die Minen im Tagebau ausbeuten zu können, ging eine Welle der Empörung durch das ganze Land. Zu Recht sorgten sich die Bauern in den unterhalb der geplanten Mine gelegenen Tälern über die Folgen der Schürftätigkeit: Wie würde sich der Wasserpegel der Flüsse verändern, wenn der Esperanzagletscher nicht mehr da wäre? Musste mit einer Verseuchung der Bäche gerechnet werden? Die jährlichen Niederschläge in dieser Region in 4300 Metern Höhe betragen maximal 50 – 200 Millimeter. Die Bauern sind deshalb für die Bewässerung ihrer Felder auf die Gebirgsbäche angewiesen. Lediglich die Talsohlen sind fruchtbar, der Rest der kargen Landschaft besteht aus Geröll. Mehrere Gutachten und Gegengutachten haben die Auswirkungen des Tagebaus untersucht. Der Bauernverband wandte sich sogar an europäische Glaziologen, um fernab aller süd- oder nordamerikanischen Interessen eine objektive Stellungnahme zu bekommen.



Als das Bergbauunternehmen die Sprengung dieser Gletscher ankündigte, um die Minen im Tagebau ausbeuten zu können, ging eine Welle der Empörung durch das ganze Land.



Die Wahl fiel auf französische Glaziologen. Ihr Gutachten beschäftigte sich mit dem Einfluss der Gletscherschmelze auf die Durchflussmenge der stromabwärts vom Gletscher gelegenen Wasserläufe und den Folgen eines Verschwindens des Esperanzagletschers. Die vor Ort durchgeführten Analysen zeigten, dass die Schneeschmelze im betroffenen Wassereinzugsgebiet in 4300 Metern Hö-

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In Bolivien gibt es diesen Beruf schon nicht mehr, in Ecuador noch für begrenzte Zeit: hieleros schlagen Eisklumpen vom Gletscher ab und verkaufen sie auf dem Markt. Charquinigletscher, 1995, Königskordillere, Anden, Bolivien

he in den sechs Sommermonaten eine Durchflussmenge von 25 –100 Liter pro Sekunde ausmacht. In trockenen Sommern (fast) ohne Niederschläge spielen die Gletscher insofern mit 2 5 – 50 Litern pro Sekunde eine wichtige Rolle. Wie in vielen Gegenden der Erde dienen sie auch dort als Wassertürme und liefern dann Wasser, wenn es benötigt wird. Weiter stromabwärts in den ersten Bewässerungsgebieten beträgt die sommerliche Durchflussmenge bei Niedrigwasser 750 Liter pro Sekunde. In dieser Höhe ist die Gletscherfläche im Verhältnis zur Gesamtfläche des Wassereinzugsgebiets winzig klein. Die Glaziologen berechneten, dass sich ein Verschwinden des Esperanzagletschers auf die Niedrigwasserstände mit sechs bis 13 Litern pro Sekunde auswirken würde, was weniger als zwei Prozent des sommerlichen Niedrigwassers ausmacht und unter der Messgenauigkeit der Durchflussmessungen lag. Der Beitrag der Gletscher zur Durchflussmenge des Flusses ist in dieser Höhe insofern schwach. Darüber hinaus ist der Esperanzagletscher ebenso wie viele kleine Nachbargletscher ohnehin auf dem Rückzug: extrapoliert man die in den letzten vier Jahrzehnten beobachteten Flächenvariationen, dürfte der Gletscher in zehn bis zwanzig Jahren so oder so verschwunden sein. Barrick Gold schlug vor, das Wasser aufzufangen, um den verminderten Beitrag des Schmelzwassers zum Wasservolumen in der Trockenzeit auszugleichen. Den Gegnern des Projekts reicht das jedoch nicht aus: Viele fordern, das Eis des Esperanzagletschers müsse bewahrt und zu kleinen Nachbargletschern transportiert werden. Wissenschaftler warnen vor den Risiken einer solchen Lösung, denn der Transport mit Lastwagen brächte eine enorme Energieverschwendung und zusätzliche Umweltverschmutzung mit sich. Trotz dieser Warnung scheint die Entscheidung für die Erhaltung und Umbettung der Eismassen endgültig zu sein. Einfach einige Jahre abzuwarten, bis die kleinen Gletscher sich von ganz allein aufgrund der Erderwärmung in Luft aufgelöst haben, ist dem Bergwerksunternehmen offenbar unmöglich.

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Bei einem Eissturz bildet das pulverisierte Eis eine todbringende Lawine. Südflanke des Annapurna, Himalaja, Nepal

Gletscher als Bedrohung

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ie Beziehung zwischen Mensch und Gletscher ist seit jeher von Schicksalsschlägen geprägt, deren Spuren in den Archiven, aber auch im kollektiven Gedächtnis zu finden sind. In Europa wagte sich bis ins 18. Jahrhundert kaum jemand bis zu Gletschern und Gipfeln vor. Die Talbewohner hatten Angst vor dem Hochgebirge, vor allem wegen der oftmals von Gletschern ausgehenden verheerenden Naturkatastrophen. Während der Kleinen Eiszeit waren viele Siedlungen sogar unmittelbar gefährdet, als die Gletscher bis in die Täler vorrückten. Mit Prozessionen erflehten Hunderte Gläubige und ihr Bischof himmlischen Beistand, damit der Gletscher sich zurückzog und ihr Dorf verschonte. Letztlich wissen wir noch sehr wenig über die Kräfte und Bewegungen der natürlichen Eiskolosse. Trotz aller Fortschritte in Wissenschaft und Technik, mit denen der Mensch sich vor Katastrophen zu schützen versucht, ist diese Bedrohung noch immer nicht gebannt, und der Mensch steht wie einst demütig den Naturgewalten gegenüber.

Schmelzwasserseen im Gletscher – eine unsichtbare Gefahr

Vorangehende Doppelseite Bricht ein vergletscherter Vulkan aus, lässt die intensive Hitze das Eis mit einem Schlag schmelzen. Dabei entstehen oft sehr gefährliche Lahare – Schlammströme, die alles auf ihrem Weg talwärts vernichten. Ausbruch des Sabancaya im Dezember 1995, Vulkankordillere, Anden, Peru Unten Die Katastrophe am Tête Rousse (Montblancgruppe, französische Alpen) am 11./12. Juli 1892 Der Einbruch im Gletscher entstand, als die Decke des Hohlraums einstürzte, in dem sich ein Schmelzwassersee angesammelt hatte. Fotografie von Ch. Kuss, 13. August 1892

Eine der heimtückischsten Gefahren, die buchstäblich wie ein Damoklesschwert über den Bewohnern von Bergtälern hängen, sind Katastrophen im Zusammenhang mit Wassertaschen, die sich in Hohlräumen im Gletscher bilden. Sie sind von außen weder sichtbar noch auf irgendeine andere Weise erkennbar. Wenn sie plötzlich bersten, donnert das darin enthaltene Schmelzwasser als glaziale Flutwelle zu Tal. Die Ortschaft Saint-Gervais-les-Bains bei Chamonix wurde in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1892 von einer solchen Katastrophe heimgesucht. In nicht einmal einer halben Stunde vernichtete ein gigantischer Schlammstrom Kurhaus und Thermalbad im Ortsteil Le Fayet: In den Trümmern fand man 175 Tote, die Zahl der Verschwundenen ist unbekannt. Den damaligen Wissenschaftlern war die Ursache der Katastrophe sofort klar. Im Bett des Gießbachs, über das der Schlammstrom abgegangen war, stiegen sie bergauf bis zum 3100 Meter hohen Glacier de Tête Rousse: „Mitten in seiner 50 Meter hohen Stirn klaffte ein fast 20 Meter hohes und 38 Meter breites ovales Loch“, schrieb ein Ingenieur der französischen Forstbehörde. Im

Innern der Höhle führte ein subglazialer Stollen 85 Meter tief in den Gletscher zu einem weiteren, von der Gletscheroberfläche aus sichtbaren Hohlraum, der einen Schmelzwassersee mit einem Volumen von 100 000 Kubikmetern enthalten hatte. Dieser hatte im Gletscher eine subglaziale Röhre gegraben und die Gletscherstirn durchbrochen, während zugleich ihre Eisdecke einbrach. Insgesamt stürzten 200 000 Kubikmeter Wasser und Eis zu Tal und rissen unterwegs Steine, Erde und Holz mit sich, bis schließlich schätzungsweise 800 000 Kubikmeter Schlamm auf dem Talgrund über den Kurort hereinbrachen. Über die Entstehung der Wassertasche wurden zahlreiche Hypothesen aufgestellt, ohne dass eine davon letztlich beweisbar wäre. Nach dem schrecklichen Schicksalsschlag blieb die Angst vor weiteren Schlammlawinen. Den damaligen Fachleuten waren stromaufwärts der Einsturzstelle Gletscherspalten aufgefallen, die sich nach unten vergrößerten, und man verdächtigte sie als Auslöser der Wassertasche. Das oberflächliche Schmelzwasser, so dachte man, habe sich vermutlich in einer dieser Spalten aufgestaut, sie vergrößert und so unsichtbar einen wassergefüllten Hohlraum entstehen lassen. Bis heute ist diese These nicht bewiesen. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Gletscherspalte sich in der Tiefe so ausweitet, dass darin 100 000 Kubikmeter Wasser Platz fänden. Selbst wenn eine solche Höhle sich allmählich über lange Zeiträume vergrößert hätte, ist unklar, wo die Energie herstammte, die das Eis zum Schmelzen brachte. Das in Spalten ablaufende Schmelzwasser hat nämlich kaum mehr als 0 °C und damit nicht genügend Energie, um große Mengen Eis zu tauen. Immerhin grub die Forstbehörde 1904 einen Stollen durch den Felsen bis zum Gletscherbett, damit sich ansammelndes Wasser ablaufen konnte. 2007 gibt es diesen Tunnel noch immer; Jahr für Jahr wird er von der eigens für die Instandhaltung der Bergböden Hochsavoyens zuständigen Behörde RTM überprüft. Die Frage, ob nach wie vor ein Risiko besteht und der Stollen überhaupt sinnvoll ist,

Glacier de Tête Rousse, innerer Hohlraum. Zeichnung von F. Schrader nach einer Fotografie von M. Peloux, 1892

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steht noch im Raum. Die Katastrophe am Tête Rousse beeindruckte die Menschen seinerzeit zutiefst und ist vermutlich eines der Ereignisse, die der Glaziologie in Frankreich zum Aufschwung verhalfen. Plötzliche Abgänge von Gletscherwasser sind häufig zu beobachten, wenn auch das Unglück am Tête Rousse durch seine Tragweite einen besonderen Stellenwert hat. Schaut man sich die Durchflussmengen gletschernaher Sturzbäche genauer an, entdeckt man auch dort oft überraschend hohe Wasserpegel, die durch starke Regenfälle allein nicht erklärbar sind. Der Gletscher der Gemeinde Trient im Schweizer Wallis ist beispielsweise berüchtigt dafür, dass er seinen Gletscherbach urplötzlich zum reißenden Sturzbach anschwellen lässt. Auch am Trientgletscher richteten Wassertaschen schon erhebliche Schäden an, etwa 1942, als schlagartig 850 000 Kubikmeter Wasser abgingen. Meist jedoch setzt er regelmäßig innerhalb weniger Stunden einige Zigtausend Kubikmeter frei, ohne dass es zu Katastrophen kommt; Auslöser ist das Platzen einer Wassertasche, die von den Einwohnern „La Tine“ genannt wird. Wie die Wassertaschen im Trientgletscher entstehen, ist noch ungeklärt, doch die Menschen im Tal unter ihm haben die Ufer des Gletscherbachs entsprechend verstärkt.

Bedrohungen durch Gletscherseen Besser sichtbar, aber nicht weniger gefährlich sind Seen, die sich beim Rückzug von Gletschern vor ihrer Stirn bilden. Kommt es nämlich nach sehr kalten oder schneereichen Jahren zu einer massiven Zunahme des Gletschers, schiebt sich seine Zunge sehr rasch wieder vor und riegelt unter Umständen ein benachbartes Tal ab, sodass sich der Schmelzwasserbach darin staut. Es sammelt sich eine erhebliche Menge Wasser, die sich manchmal mit katastrophalen Folgen schlagartig entleert. Zu solchen Ereignissen kam es gleich mehrfach, als die Gletscher während der Kleinen Eiszeit stark an-

Die Katastrophe am Tête Rousse (Montblancgruppe, französische Alpen) am 11./12. Juli 1892

Oben links Verschont gebliebene Häuser des Dorfes Bionnay. Fotografie von Ch. Kuss, 14. Juli 1892 Oben rechts Trümmer des Thermalbads von Saint-Gervais, Fotografie von Ch. Kuss, 14. Juli 1892

schwollen, in der Schweiz etwa der Glacier du Giétro. Zwischen 1806 und 1818 hatte er nach und nach das Tal der Dranse blockiert, und hinter der eisigen „Staumauer“ hatte sich ein See gebildet. Einwohner und Behörden beobachteten das Geschehen genau und beauftragten den Ingenieur Ignace Venetz, eine Lösung zu finden. Er entschied sich für den Bau eines Stollens, der etwas oberhalb des Wasserpegels durch das Eis verlaufen sollte, damit das Wasser ablaufen konnte, sobald es die Höhe der Stollenöffnung erreichte. Man wollte so den Pegel des Sees senken und die Gefahr für die Ortschaften Bagnes und Martigny bannen. Die Bevölkerung war seit langem vorgewarnt, passte jedoch nach mehreren Fehlalarmen nicht mehr auf. Wie vorgesehen, erreichte das Wasser den Stollen und floss darüber ab, doch ließ das Wasser das Eis viel schneller schmelzen, als Ignace Venetz geahnt hatte. Der Wasserstrom geriet außer Kontrolle, riss 44 Dorfbewohner in den Tod und zerstörte Hunderte Häuser. Ähnliche Katastrophen spielten sich an anderen Schweizer Gletschern ab, insbesondere am Allalinhorn in den Walliser Alpen. Plötzliches Hochwasser ist jedoch nicht auf Eiswachstumsphasen beschränkt, sondern kommt auch bei schrumpfenden Gletschern vor. Wenn die Zunge sich bergauf zurückzieht, lässt sie Moränen zurück, die teilweise dicht genug sind, um das Wasser des Gletscherbachs aufzustauen. Sie bilden eine Art natürliches Rückhaltebecken mit Stausee. In der peruanischen Cordillera Blanca forderten solche Gletscherseen im 20. Jahrhundert mehrmals zahllose Todesopfer. Die meisten dieser Seen bildeten sich nach 1930, als beim Gletscherrückzug Moränen als Staumauern zurückblieben. Zwischen 1930 und 1950 entstanden Dutzende solcher be-

drohlichen Wasserbecken, teilweise in eindrucksvoller Größe mit mehreren Millionen Kubikmetern Inhalt. Einige davon entluden sich, als ihre „Staumauern“ barsten. Eine dieser Katastrophen suchte 1941 die Stadt Huaraz heim und tötete 4000 Menschen – ein Drittel der Bevölkerung. Angesichts wiederholter ähnlicher Fälle beauftragte man französische Glaziologen und Hydrologen, kritische Stellen in der Cordillera Blanca zu identifizieren und künstliche Abflüsse anzulegen. Die meisten der gefährlichen Seen wurden auf diese Weise „entschärft“. Heute ist vor allem der Himalaja von den Folgen des Gletscherrückzugs betroffen: Mindestens 50 Seen werden dort inzwischen als extrem bedrohlich eingestuft. Auch in den Alpen gibt es ähnliche Gefahren: 1986 konnte eine Katastrophe gerade noch abgewendet werden, indem man in aller Eile den Gletschersee des Glacier d’Arsine im Écrins-Massiv durch einen künstlichen Abflusskanal entlastete. Der kleine See war in den 1950er-Jahren infolge des Gletscherrückzugs entstanden und hatte sich im Laufe der Jahre innerhalb seiner stabilen, dichten Moränen vergrößert. Da niemand seine Entwicklung im Einzelnen verfolgt hatte, waren die Einheimischen überzeugt, den See habe es schon immer gegeben. 1969 wies das Grenobler Laboratoire de glaciologie nach, dass von dem inzwischen auf 530 000 Kubikmeter angewachsenen See kaum eine Gefahr ausging. Er lag sicher innerhalb seiner Endmoränen und konnte nicht überlaufen. Allerdings konnte sich die Situation jederzeit verändern. Da finanzielle Mittel fehlten, wurde die glaziologische Untersuchung abgebrochen und der Lac d’Arsine sich selbst überlassen. Im Juli 1985 beobachteten Glaziologen besorgt neue Entwicklungen: Das

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Links Um die Gefahr einer schlagartigen Entleerung von Gletscherseen zu bannen, senkt man in Peru die Wasserspiegel mittels Siphons oder Abflussrinnen um mehrere Meter. Die Lagunen Artesoncocha und Parón unterhalb des Artesonrajugletschers, Cordillera Blanca, Anden, Peru Rechte Seite Wenn die Schneedecke im Winter instabil ist, kann ein Eisfall auf dem Taconnazgletscher Lawinen auslösen, die für die Infrastrukturen im Tal darunter eine ernste Gefährdung darstellen. Glacier de Taconnaz, Montblancgruppe, französische Alpen

Volumen des Sees hatte 800 000 Kubikmeter erreicht und sein Wasserspiegel lag nun nur noch zwei Meter unterhalb der Oberkante der Moräne. Anhand ihrer Erfahrungen mit peruanischen Seen war den Forschern klar, dass ein Überlaufen des Sees zwangsläufig eine Katastrophe nach sich ziehen würde: Wenn die Moräne brach, würden sich 800 000 Kubikmeter Wasser ins Guisanetal ergießen und ganze Siedlungen vom Dorf Le Casset bis nach Briançon bedrohen. Die Wissenschaftler warnten den Präfekten; die für Hochsavoyens Landschaft zuständige Baubehörde RTM senkte im Frühling 1986 mit Tiefbauarbeiten den Wasserpegel und wendete die drohende Gefahr ab. Der See des Glacier du Rochemelon im französischen Vanoise-Massiv ist ein Beispiel dafür, dass Gletscher auch heute noch böse Überraschungen bereithalten. Im August 2004 inspizierte ein Team,

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bestehend aus Glaziologen des Grenobler Laboratoire de glaciologie und Ingenieuren der RTM Hochsavoyen, den rund zehn Kilometer oberhalb von Bessans im Ribontal gelegenen See. Er war einige Jahre zuvor entdeckt und oberflächlich in Augenschein genommen, jedoch nicht systematisch überwacht worden. Gebildet hatte er sich in den 1950er- und 1960er-Jahren in 3200 Metern Höhe im oberen Teil des Rochemelongletschers. Zwischen einem Felsgrat und dem Gletscher gefangen, schwoll der See im Laufe der Zeit allmählich an, und Ende August 2004 standen die Glaziologen verblüfft vor einer ausgedehnten Wasserfläche. Mithilfe der mitgebrachten Instrumente ermittelten sie ein Volumen von stolzen 600 000 Kubikmetern Wasser. Besorgniserregend war jedoch vor allem, dass der freie Uferrand des Gletschers, der als Staumauer diente, am 31. August nicht einmal mehr

1,50 Meter über den Wasserspiegel hinausragte, und am 17. September sogar nur noch 80 Zentimeter. Mit Eintritt der winterlichen Schneefälle musste jederzeit mit einem Überlaufen des Sees gerechnet werden. Die Forscher alarmierten die Präfektur, die den RTM beauftragte, die Krise abzuwenden. Zuallererst musste möglichst rasch der Wasserpegel gesenkt werden. Im Oktober 2004 wurden Rohrleitungen und Siphons angebracht. Vor dem Winter konnten die Arbeiten jedoch nicht fertiggestellt werden und wurden erst im Juni 2005 wieder aufgenommen. Angesichts des schwierigen Zugangs zum Gletscher wäre es sehr kostenaufwendig gewesen, den See auf einmal leerzupumpen, da hierfür extrem starke Pumpen und Hubschraubertransporte notwendig gewesen wären. Man entleerte den See deshalb etappenweise: Zunächst senkte man den Pegel mithilfe von Siphons um fünf Meter, denn wegen des in dieser Höhe erheblichen Luftdrucks konnten mit dieser Methode maximal sechs Meter Wasser abgepumpt werden. Anschließend sprengte man mit Dynamit eine Lücke in den Eisriegel, jedoch gerade so, dass man an die Wasseroberfläche gelangte, ohne dass der See durch die Rinne abfloss, und setzte erneut Siphons ein. Als das Volumen unter 200 000 Kubikmetern lag, ließ man den Rest durch die Eisrinne ablaufen. Das Wasser ergoss sich in die Rinne und erweiterte sie, bis der See leer war. Die Arbeiten dauerten bis Ende August 2005 an. Werden solche Ereignisse in Zukunft häufiger auftreten? Ob wirklich die Erderwärmung für den Gletschersee von Rochemelon verantwortlich war, ist nicht sicher. Anhand von Luftaufnahmen stellte man fest, dass der See zwischen 1953 und 1962 entstand, als die Eisbilanzen der Gletscher noch positiv waren. Untersuchungen des Laboratoire de glaciologie zufolge bildete sich der See, nachdem lokal große Schneemassen angefallen waren. Eine Schneewehe schuf demnach auch die Senke, in der sich das Schmelzwasser sammelte. Der kleine abflusslose Tümpel schwoll dann im Laufe der Jahre bis September 2004 auf seine eindrucksvollen Dimensionen an.

Eisfälle und Lawinen Auch Séracs, die riesigen instabilen Eistürme auf Gletschern, sind nicht selten Auslöser von Katastrophen. Ein besonders mörderischer Eisfall spielte sich 1970 am Nevado Huascarán in der peruanischen Cordillera Blanca ab und kostete allein in der Stadt Yungay rund 18 000 Einwohnern das Leben. Am 31. Mai 1970 erschütterte um 15.23 Uhr ein Erdbeben das ganze Land. Selbst der 6655 Meter hohe Nordgipfel des Huascarán schwankte. Dabei lösten sich gewaltige Fels- und Eisbrocken und stürzten aus den Gipfelzonen herab. Der Bergsturz an der Nordwestflanke des Huascarán bestand zunächst aus sieben bis acht Millionen Kubikmetern Fels und einer Million Kubikmetern Eis, die auf die darunter liegenden Gletscher stürzten und dort eine Lawine in Gang setzten, die auf ihrem Weg talwärts weitere rund vier bis fünf Millionen Kubikmeter Eis losriss. Schon in rund 4500 Metern Höhe muss die Lawine ein Volumen von mehr als zehn Millionen Kubikmetern gehabt haben. Die Massen von Geröll, Wasser und Schlamm wälzten sich 17 Kilometer weit bis zum Río Santa, war jedoch so gewaltig, dass sie selbst von seinem Tal nicht aufzuhalten war, sondern einen 90 Meter hohen Grat überwand und sich über die Stadt Yungay ergoss. Der mehrere Meter mächtige Schlammstrom zermalmte einen Großteil der Ortschaft.

„ 1970 kostete ein Eisfall am Huascarán in Peru allein in der Stadt Yungay rund 18 000 Einwohnern das Leben.



Die Lawine, die 2002 vom Kolkagletscher ins Kolban-Tal (Nordossetien) abging, verlief nach einem ähnlichen Schema wie am Huascarán, doch wurde diese Katastrophe von den Medien fast vollständig verschwiegen, vermutlich wegen der in dieser Region herrschenden politischen Spannungen. An jenem Abend des 20. September 2002 löste sich von einer Flanke eines der Gipfel des Kasbekmassivs (Kaukasus) in einem Gebiet von rund 1,5 Kilometern in einer Höhe zwischen 3600 und 4200 Metern eine Lawine von mehreren Millionen Kubikmetern Eis und Geröll. Die Eis- und Felsblöcke zerbrachen beim Aufprall auf der Zunge des Kolkagletschers in 3200 Metern. Dabei rissen sie offenbar auch einen Teil des Gletschers mit, sodass Dutzende Millionen Kubikmeter Fels und Eis zu Tal stürzten. Unterwegs verschlang die Lawine einen Teil der Moränen und Sedimente und schwoll dabei weiter an. Wenige Minuten nach dem Beginn des Bergsturzes erreichte die kolossale Walze das 18 Kilometer tiefer gelegene Dorf Karmandon und tötete Dutzende Bewohner. Weiter talwärts kamen die 80 Millionen Kubikmeter Fels und Eis schließlich in einer engen Schlucht zum Stillstand, doch die flüssigen Anteile der Lawine wälzten sich als Schlammstrom nochmals 15 Kilometer weiter.

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Insgesamt forderte die Lawine 120 Menschenleben, doch damit war der Alptraum nicht zu Ende: Der abgeladene Schutt bildete am Eingang zur Schlucht einen Staudamm, sodass die Dörfer, die von der Lawine selbst verschont geblieben waren, nun überschwemmt wurden. Bis zu zehn Millionen Kubikmeter Wasser stauten sich auf und stellten für die Einwohner weiter talwärts eine unmittelbare Bedrohung dar, da der natürliche Staudamm jeden Augenblick bersten konnte. Ab dem 22. Oktober 2002 sank der Pegel im Stausee von selbst, vermutlich dank natürlicher Abflusskanäle im oder unter dem Eis. Auch in den Alpen stellen Eisbrüche mitunter eine große Gefahr dar. Im Hochgebirge sind Bergsteiger nicht selten damit konfrontiert, meist auf „obligatorischen“ Abschnitten, die sie nicht meiden können, um zu einem markierten Aufstieg zu gelangen oder über eine leichte Route abzusteigen. In diesem Fall ist „leicht“ keineswegs synonym mit ungefährlich, doch zumindest in Frankreich sind Wissenschafter nicht dazu berufen, vor den im Hochgebirge auf Bergsteiger lauernden Gefahren zu warnen. In bewohnten Gebieten sieht das anders aus: Sobald sich dort eine natürliche Gefahr abzeichnet, hat die Gemeinschaft und damit auch die Wissenschaft die Pflicht, die betroffene Bevölkerung zu schützen. Das ist etwa der Fall bei den Eistürmen des Weißhorngletschers im Schweizer Wallis oder auf dem Taconnazgletscher im Montblancmassiv. Beide Eisbruchzonen stellen eine ähnliche Bedrohung dar. Der Taconnazgletscher wird in rund 3200 Metern Höhe von einem fast vertikalen Riegel mit 80 –100 Meter hohen Séracs durchschnitten. Das Eiskliff beruht auf der Topografie des felsigen Untergrunds, der an dieser Stelle einen ausgeprägten Gefällebruch aufweist, den der Gletscher nicht „am Stück“ überqueren kann. Das aus der Gipfelzone des Dôme du Goûter herabströmende Eis bricht an dieser Stelle ab, zerschellt auf der Fläche darunter und sammelt sich erneut, sodass der Gletscher seinen Weg zum Zungenende in rund 1800 Metern Höhe fortsetzen kann. Von der Oberkante des Eisbruchs stürzen sehr häufig Eisblöcke herab. Im Sommer verlaufen solche Eisfälle folgenlos, da sie innerhalb der menschenleeren Gletscherfläche bleiben. Liegt der Gletscher dagegen im Winter unter einer instabilen Schneedecke, können solche Eisfälle gewaltige Eis- und Schneelawinen auslösen, die erst kurz vor den Dörfern im Tal zum Stehen kommen. Im Februar 1999 wälzte sich eine Lawine sogar über den eigens gebauten Damm hinweg bis auf eine Skipiste – zum Glück in der Nacht, als sich dort niemand aufhielt. Seither wurden die Schutzwälle verstärkt, doch ist die Gefahr nicht restlos gebannt, denn es ist sehr schwer vorherzusagen, welche Massen an Schnee und Eis bei einer Lawine ins Rutschen geraten könnten. Die Lawine von 2006 bewies erneut, welch ungeheure Kraft Eis besitzt: Sie zermalmte mühelos einen Prallpfeiler aus Beton. Die Vorhersage von Eisbrüchen und in ihrem Gefolge von Lawinen ist eine der Herausforderungen an die glaziologische Forschung der Zukunft.

Am 31. Mai 1970 brachen infolge eines Erdbebens am Nordgipfel des Huascarán Massen von Felsen und Eis ab und gingen als gewaltige Walze aus Schutt, Eis und Wasser zu Tal. Ihr Weg endete im kleinen Dorf Yungay, das vollständig dem Erdboden gleichgemacht wurde. Mehr als 18 000 Tote waren zu beklagen. Nord- und Südgipfel des Huascarán, Cordillera Blanca, Anden, Peru

Gletscher auf Vulkanen Einige Regionen der Erde sind schwer vorhersehbaren Gefahren durch Gletscher ausgesetzt. Als Lahar, Gletscherlauf oder (isländisch) Jökulhlaup bezeichnet man sturzbachartige Schlammströme, die beim plötzlichen Abtauen eines Eisfelds auf einem Vulkan abgehen. Ein Beispiel hierfür ist der kolumbianische Nevado del Ruiz, dessen Bilder 1985 um die Welt gingen. Als der 5389 Meter hohe Vulkan am 13. November 1985 um 21 Uhr ausbrach, taute seine nur 25 Quadratkilometer große Eiskappe in der Hitze auf, toste als Schmelzwasser den Hang

hinab und riss unterwegs alles mit, was ihr in die Quere kam. Wenige Stunden später brach die Schlammwalze über das Dorf Armero herein und tötete 23 000 Menschen. Die Häuser wurden großenteils zerstört, viele davon verschwanden völlig unter den Schlammmassen. Die Bilder eines sterbenden kleinen Mädchens inmitten hilfloser Reporter prägten sich Fernsehzuschauern der damaligen Zeit für immer ein. Etwas Ähnliches passierte auf Island in der Nähe der Eiskappe des Vatnajökull. Auf aktiven Vulkanen gelegene Gletscher schmelzen bei deren Ausbrüchen in der Tiefe und bilden gewaltige Was-

sertaschen, die schließlich über subglaziale Kanäle an den Rändern der Eiskappe ausbrechen. Die Isländer lernten schon vor langer Zeit, sich vor den ebenso unvermittelten wie unvorhersagbaren Überschwemmungen zu schützen, doch die an der Südostküste der Insel verlaufende Straße wird in regelmäßigen Abständen von solchen Jökulhlaups verwüstet. Meist bleibt es bei Sachschäden, es sei denn, ein Autofahrer hat das Pech, genau in diesem Moment dort entlangzufahren. Inzwischen versuchen isländische Glaziologen mehr oder weniger erfolgreich, derartige Gletscherläufe vorherzusagen.

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Der Vulkan Cotopaxi wird rund um die Uhr überwacht, denn seit einigen Jahren mehren sich die Anzeichen für ein Wiedererwachen. Ein Ausbruch hätte eine Katastrophe ähnlichen Ausmaßes zur Folge wie der des kolumbianischen Nevado del Ruiz im November 1985, der allein in der Stadt Armero 23 000 Menschen in den Tod riss. Am Cotopaxi sind vor allem die Ortschaft Latacunga und einige Stadtviertel von Quito mit Zigtausenden Einwohnern gefährdet. Cotopaxi, Anden, Ecuador

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Rechts Ist eine Erde ohne Gletscher vorstellbar? Ist es denkbar, dass ihre großen Eisschilde verschwinden? Doch so weit ist es zum Glück noch lange nicht! Gletscherfront des Breidamerkurjökull, Süd-Island Folgende Doppelseite Seit mehreren Jahren beobachtet man in den Anden in immer höheren Lagen Anzeichen für eine Gletscherschmelze, wie die Stalaktiten an den Rändern der Gletscherspalten auf dem Gipfel des 6300 Meter hohen Chimborazo bezeugen. Chimborazo, Anden, Ecuador

Die Zukunft der Gletscher

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on den ersten Beobachtungen bis zur modernen Gletscherforschung gibt uns die Glaziologie tiefe Einblicke in die Entstehung der Gletscher, ihre Klimasensibilität und ihre Vergangenheit. Angesichts der Fragen nach Auslösern und Folgen der Erderwärmung auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert hat dieser Forschungszweig heute einen ganz besonderen Stellenwert. Sind die derzeitige Klimaerwärmung und Gletscherschmelze wirklich ein Ausnahmephänomen? Welches Schicksal erwartet die Gletscher und Eisschilde unseres Planeten in den nächsten hundert Jahren? Auf welche Konsequenzen müssen wir uns einstellen?

Restgletscher Gletscher besitzen nach wie vor ihre eigentümliche Trägheit gegenüber Klimaveränderungen: Selbst bei einem abrupten Temperaturanstieg auf der Erde würden sie sich nicht von heute auf morgen in Luft auflösen. Da die letzte Kleine Eiszeit gerade einmal 150 Jahre zurückliegt, findet man durchaus noch Restgletscher, die Überbleibsel dieses ganz anderen Klimas sind, jedoch zwangsläufig in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten verschwinden werden. Diese Gletscher entstanden in einer für sie günstigeren Epoche unter anderem mit mehr Niederschlägen und niedrigeren Temperaturen, „hadern“ jedoch mit dem derzeitigen Klima. Das gilt vor allem für viele Eiskörper in niedrigen Höhenlagen, die so gut wie keine Akkumulationszone mehr besitzen: Selbst in ihrem höchsten Bereich taut der Schnee innerhalb desselben Jahres vollständig ab. Der Gletscher regeneriert sich nicht mehr und zehrt das vorhandene Eis unerbittlich auf, bis nichts mehr davon da ist. Ein solcher Fall ist der Glacier de Sarennes im Grandes Rousses-Massiv, dessen Massenbilanz von allen französischen Alpengletschern am längsten beobachtet wird (seit 1949). Er liegt zu niedrig, zu sehr nach Süden ausgerichtet – und regeneriert sich nicht mehr. Selbst wenn das derzeitige Klima unverändert so wie in den letzten 50

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Jahren bliebe, würde er innerhalb der nächsten 20 Jahre sang- und klanglos verschwinden. Auch der Chacaltayagletscher, einst das Aushängeschild des Club Andino Boliviano von La Paz, der dort in über 5300 Metern Höhe die höchste Skihütte der Welt betrieb, war 2005 gerade noch einen Hektar groß. Als der Eiskörper 2004 in zwei Teile zerfiel, musste man den Tatsachen ins Auge blicken und den Skilift demontieren. Alles spricht dafür, dass es den Chacaltayagletscher um 2010 nicht mehr geben wird.

„ Selbst wenn das derzeitige Klima

unverändert so wie in den letzten 50 Jahren bliebe, würde der Glacier de Sarennes im Grandes Rousses-Massiv innerhalb der nächsten 20 Jahre sang- und klanglos verschwinden.



Szenarien der Klimaentwicklung im 21. Jahrhundert Während das 1988 vom UNEP (UN-Umweltprogramm) und der WMO (Weltorganisation für Meteorologie) einberufene Zwischenstaatliche Gremium für Klimaveränderungen (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) kurz vor der Ver-

Im Laufe dieses Jahrhunderts werden die Gletscher aller Wahrscheinlichkeit nach so gut wie überall auf der Erde stark zurückgehen. Gebirge mit ausgedehnten Gletschern in großen Höhen werden ihre kostbaren Eiskolosse noch etwas länger behalten – das gilt etwa für Alaska, Patagonien, Island, den Himalaja und den Karakorum. Hispargletscher, Karakorum, Pakistan

öffentlichung seines neuen Berichts über die Klimaentwicklung bis 2100 steht, bildet das Schicksal der Gletscher im Zusammenhang mit der Erderwärmung logischerweise ein zentrales Thema. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts steigt die Temperatur an der Erdoberfläche, von 1900 bis 2000 im Schnitt um 0,6 °C (in Frankreich sogar um 0,9 °C). Seit 20 Jahren beschleunigt sich die Zunahme, allein zwischen 1980 und 2007 um knapp 0,5°C. Die 1990erJahre waren die heißeste Dekade seit Beginn der systematischen Temperaturmessungen. Besonders ausgeprägt ist die Erwärmung offenbar in den Bergregionen: In den Alpen stiegen die Werte seit 1982 um 0,7°C, da die Differenz zwischen Tag- und Nachttemperaturen (generell zwischen Maximum und Minimum) sich mit zunehmender Höhe normalerweise verringert.

Auch die meist vergletscherten, sehr hoch gelegenen Gebiete bekommen seit 50 Jahren eine eindeutige Erwärmung zu spüren, die im arktischen Winter bis zu 4°C ausmachen kann. Manche Regionen der Erde scheinen allerdings davon noch nicht betroffen zu sein, etwa die Antarktis (mit Ausnahme der Antarktischen Halbinsel) und Teile von Grönland und Labrador sowie bestimmte Meeresgebiete auf der Südhalbkugel. Die natürlichen Ursachen der Erderwärmung sind im Laufe eines Jahrhunderts nicht zu unterschätzen. Natürliche Variationen der Sonneneinstrahlung, Vulkanaktivität und intrinsische Schwankungen des Klimasystems der Erde (insbesondere im Zusammenhang mit der Reaktionszeit der Ozeane) können die Energiebilanz der Erdoberfläche und damit auch das Klima erheblich beeinflussen. Allerdings bestätigt der Weltklimarat, dass die gesamte Klimaerwärmung der letzten 20 Jahre allem Anschein nach nur erklärbar ist, wenn man menschliche Aktivitäten berücksichtigt. Durch Industrie und Landwirtschaft verstärkt der Mensch den Treibhauseffekt in der Erdatmosphäre durch die nachhaltige Freisetzung von Treibhausgasen wie Kohlendioxid, Methan, troposphärischem Ozon oder Distickstoffoxid, die etwa bei der Nutzung fossiler Brennstoffe, Entwaldung, Viehzucht, intensiver Reis-

kultur, Düngung oder schlichtweg durch den Autoverkehr entstehen. Anhand der von den Staaten weltweit beschlossenen Umweltschutzmaßnahmen und der absehbaren wirtschaftlichen Entwicklung bestimmter Länder lässt sich abschätzen, wie viel Treibhausgase im Laufe des 21. Jahrhunderts in die Atmosphäre gelangen werden. Wissenschaftler haben mehrere plausible Szenarien entwickelt und simulieren mithilfe numerischer Modelle die künftige Entwicklung des Klimas unter Berücksichtigung mehrerer Auslöser der Erderwärmung, darunter der Treibhausgase, aber auch der so genannten „Kohlenstoffsenken“ in Form von Ozeanen, Vegetation oder Böden, die in der Lage sind, vor allem Kohlendioxid zu absorbieren. Nach dem Bericht des Weltklimarats von 2007 sieht das optimistischste Szenario eine durchschnittliche Zunahme der Lufttemperatur an der Erdoberfläche um +1,5 °C von heute bis 2100 vor, das pessimistischste Szenario eine Erhöhung um +6°C. Bei dieser Variante hätte der massive Temperaturanstieg ungeheure Konsequenzen, doch ist derzeit noch schwer zu sagen, welche landschaftlichen Veränderungen tatsächlich eintreten würden. Die Modelle sagen spürbare regionale Unterschiede voraus, wie man sie bereits Ende des 20. Jahrhun-

derts beobachtete. Die Erwärmung dürfte auf den Kontinenten stärker ausgeprägt sein als in den Ozeanen, im hohen Norden mehr als am Äquator und deutlich weniger in der Antarktis und der südlichen Hemisphäre. Der Temperaturanstieg wird sich auch auf die Niederschläge auswirken: Die Erwärmung wird eine stärkere Verdunstung nach sich ziehen, die ihrerseits eine vermehrte Wolkenbildung und mehr Niederschläge bedingt. Für die Gletscher klingt das zunächst positiv, da die Akkumulation eine Zeitlang die Ablation übersteigen würde, doch darf nicht übersehen werden, dass auch die Schneegrenze vermutlich deutlich höher liegen wird.

Gletscher in tropischen Gebirgen sind kleiner, zerbrechlicher und sensibler für die gerade in diesen Regionen erwartete Klimaerwärmung. Die meisten in mäßigen Höhen angesiedelten Eiskörper werden bis 2100 verschwunden sein. Artesonrajugletscher, Cordillera Blanca, Anden, Peru

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Simulationen der künftigen Entwicklung des Glacier de Saint-Sorlin nach einem gemäßigten Szenario mit einer Klimaerwärmung um + 2 bis + 2,5 °C bis 2100 (im Vergleich zum Mittelwert von 1981 – 2004)

Voraussagen über die Entwicklung der Gletscher Es ist nicht einfach, die künftige Entwicklung von Gletschern vorherzusagen. Abgesehen von den verschiedenen Klimaszenarien muss man dabei berücksichtigen, wie Gletscher im Einzelnen auf Schwankungen von Temperatur und Niederschlagsmengen reagieren, und unter anderem mithilfe von Abflussmodellen die dynamische Reaktion des Gletschers auf Schwankungen seines oberflächlichen Massenhaushalts untersuchen. Die zur Beantwortung solcher Fragen erforderlichen Beobachtungen und Arbeiten mit Modellen sind derzeit Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Studien. Zu berücksichtigen ist zudem auch das spezifische Fließverhalten jedes Gletschers. Ein wesentlicher Parameter ist die Mächtigkeit des Gletschers, doch die ist nur bei einigen wenigen bekannt. Wie empfindlich Gletscher auf Klimaveränderungen reagieren werden, ist deshalb derzeit noch sehr schwer zu quantifizieren, doch einige Zahlen liegen bereits vor. Würde die Temperatur beispielsweise in den Alpen im Sommer um 1 °C ansteigen, hätte dies massive Auswirkungen auf die unteren Gletscherbereiche, die in 2000 Metern Höhe (wo die jährliche Abschmelzung rund neun Meter Eis beträgt) pro Jahr zusätzlich einen bis 1,50 Meter abschmelzen würden, oberhalb von 3600 Metern jedoch nur 20 – 40 Zentimeter. Eine Erwärmung um

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1 °C würde die Gleichgewichtslinie der Alpengletscher um 100 –160 Meter ansteigen lassen.

Der Fall Saint-Sorlin Blieben alle übrigen meteorologischen Variablen gleich (Niederschläge, Einstrahlung, Luftfeuchtigkeit, Windgeschwindigkeit), wären bei einer durchschnittlichen Klimaerwärmung um + 2/+ 2,5 °C bis 2100 im Vergleich zum Referenzzeitraum 1981 – 2004 die allermeisten Gletscher, deren Nährgebiet unterhalb von 3300 – 3500 Metern liegt, mit großer Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts völlig verschwunden oder zu einer dünnen Eishaut zerflossen. Eine solche Simulation berücksichtigt die Empfindlichkeit der Massenbilanzen gegenüber Klimaeinflüssen. Für den Glacier de Saint-Sorlin im Grandes Rousses-Massiv der französischen Alpen, den das Grenobler Laboratoire de glaciologie seit 1957 engmaschig überwacht und dokumentiert, wurde ein glaziäres Abflussmodell entwickelt. Seine heutige Fläche beträgt drei Quadratkilometer. Bleibt das Klima unverändert wie den letzten 50 Jahren, wird sich die Gletscherfront weitere rund 700 Meter zurückziehen (bei einer derzeitigen Gesamtlänge von unter drei Kilometern). Seine Fläche würde damit in etwa einem Jahrzehnt auf rund zwei Quadratkilometer schrumpfen.

Bei einem gemäßigten Szenario mit einer Erwärmung um + 2/+ 2,5 °C bis 2100 würde sich die Gleichgewichtslinie um knapp 300 Meter nach oben verschieben. Beim Saint-Sorlin-Gletscher liegt sie auf 2930 Metern und würde entsprechend auf 3230 Meter ansteigen. Da sein oberes Ende 3300– 3400 Meter hoch liegt, würde er bis 2060 auf eine winzige Eiszunge von nur ein paar Dutzend Hektar zusammenschrumpfen und Ende des 21. Jahrhunderts restlos verschwunden sein. Gletscher, deren Akkumulationszone großenteils oberhalb von 3500 Metern oder sogar 4000 Metern liegt, wie dies bei den großen Eiskörpern der Montblancgruppe oder des Écrins-Massivs der Fall ist, wären davon weit weniger betroffen. Bei allen annehmbaren Szenarien würde es deshalb auch im Jahr 2100 in den Alpen noch Gletscher geben, wenn auch auf einige wenige hohe Lagen beschränkt und deutlich kleiner als heute. Globale Vorhersagen über die Zukunft der Gletscher sind zwangsläufig ungenau, zumal die Klimaszenarien ohnehin mit zahlreichen Ungewissheiten behaftet sind. Temperatur, Niederschläge, Bewölkung, Sonneneinstrahlung – all diese meteorologischen Parameter beeinflussen sich nicht zuletzt auch wechselseitig. Um die Auswirkungen eines Temperaturanstiegs um 1°C auf die Alpengletscher auszugleichen, müsste sich die Niederschlagsmenge um 30 Prozent erhöhen, doch lassen die Aufzeichnungen der Niederschläge seit 100 Jahren keine signifikanten Schwankungen erkennen. Simulationen künftiger Niederschlagsmengen sind extrem schwierig und führen je nach eingesetztem Modell zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Der Weltklimarat sagt allerdings Veränderungen von unter 20 Prozent voraus, noch dazu mit erheblichen regionalen Abweichungen. Insofern ist davon auszugehen, dass etwaige Veränderungen der Niederschlagsmenge nicht ausreichen werden, um die Gletscherschmelze auszugleichen.

Was wird aus den Gletschern der Erde im 21. Jahrhundert? Im 20. Jahrhundert entwickelten sich die Gletscher regional sehr unterschiedlich. Die Masse an Beobachtungsdaten und die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Standorten machen Voraussagen über die künftige Entwicklung aller Gletscher

Während der heißesten Tage des Sommers von 2003 stieg die Schneegrenze in den obersten Bereich des Saint-SorlinGletschers, das blanke Eis trat an die Oberfläche. Unter solchen Bedingungen reicht die praktisch nicht vorhandene Akkumulationszone nicht aus, um den Gletscher zu ernähren. Saint-Sorlin, Grandes RoussesMassiv, französische Alpen

der Erde sehr schwierig, zumal die einzelnen Regionen völlig unterschiedlich auf den Klimawandel reagieren. Einige Studien zeigten allerdings, dass die Empfindlichkeit der Gletscher gegen Niederschlagsund Temperaturschwankungen je nach Klimatyp variiert. In der Nähe von Ozeanen gelegene Gletscher wie in Norwegen oder Neuseeland reagieren sehr empfindlich sowohl auf Temperaturen als auch auf Niederschläge. Starke Schneefälle im Winter bauen die Nährgebiete der Gletscher auf und halten einen mächtigen Eisstrom in Gang. Die Gletscherzungen fließen rasch in niedrigere Höhen, oft bis zum Meer, wo die Klimabedingungen sehr ausgiebig vom Gletscher zehren. Eine Klimaerwärmung würde diese Ablation noch verstärken und in immer höhere Lagen verschieben: Die Schneegrenze würde nach oben wandern. Solche „maritimen“ Gletscher werden von Klimaveränderungen sehr in Mitleidenschaft gezogen, und nur diejenigen mit sehr hoch liegendem Akkumulationsgebiet hätten einer massiven Erwärmung etwas entgegenzusetzen. Umgekehrt reagieren Gletscher im kalten, trockenen arktischen Klima kaum auf Klimaschwankungen. Auch Gletscher in kalten, trockenen hyperkontinentalen Klimata wie dem Hochland von Tibet sind widerstandsfähiger. Gletscher in gemäßigten Breiten mit Meeresklima wie in den Alpen dagegen leiden sehr unter der Erderwärmung, und das wird sich in Zukunft nicht ändern. Einige von ihnen sind bereits ganz oder fast ganz verschwunden. Nach dem gemäßigten Szenario (+ 2 °C im 21. Jahrhundert) gäbe es den Arolla- und den Saint-Sorlin-Gletscher bis 2100 nicht mehr. Lediglich die höchsten Gletscher könnten einer deutlichen Erwärmung standhalten. Im Gegensatz zu den Alpengletschern, die wenigstens im Winter geschützt sind, tauen tropische Gletscher zumindest in ihrem unteren Teil das ganze Jahr über und leiden deshalb unter dem Klimawandel besonders stark. Allerdings unterliegen die komplexen Abläufe, die diese Schmelzvorgänge steuern, ganz unterschiedlichen meteorologischen Variablen wie der Windgeschwindigkeit oder der Luftfeuchtigkeit, deren Vorhersage heute noch äußerst heikel ist. Trotz der großen regionalen Unterschiede dürften die Gletscher der Erde global betrachtet in den kommenden Jahrzehnten angesichts der von Meteorologen angekündigten Szenarien einen klaren, schnellen Rückzug erleben. Die Abschmelzung der

Gletscher und kleinen Eiskappen unseres Planeten würde somit fünf Zentimeter zu dem vom gemäßigten Modell für das 21. Jahrhundert vorhergesagten Anstieg des Meeresspiegels um 35 Zentimeter beitragen, von denen 29 Zentimeter allein auf der thermischen Ausdehnung der Ozeane beruhen würden. Grönlands Beitrag würde dabei geschlagene zwei der fünf Zentimeter ausmachen. Völlig unklar ist hingegen, welche Rolle die Antarktis dabei spielen würde. Ihr Beitrag könnte sogar im negativen Bereich liegen, denn ihre Gesamtfläche würde im Durchschnitt selbst an Masse zulegen, und zwar sogar dann, wenn die Antarktische Halbinsel einen Großteil ihrer Gletscher einbüßte.

Welche Konsequenzen wird die Gletscherschmelze haben? Vor dem Hintergrund der vorausgesagten Erderwärmung und des Schwunds der vergletscherten Flächen ist die Frage nach den möglichen Risiken der Gletscherschmelze berechtigt. Lahare im Ge-

folge von Vulkanausbrüchen sind offensichtlich von einem Klimawandel nicht betroffen, sie würden sich im Gegenteil sogar positiv auswirken, denn je kleiner die Gletscherfläche auf dem Vulkan ist, desto geringer ist auch die davon ausgehende Gefahr. Schmölze der Gletscher ganz ab, würde lediglich das Risiko eines Vulkanausbruchs bleiben. Bei Wassertaschen wiederum sind Vorhersagen von vornherein unmöglich, denn wenn die Gleichgewichtslinie sich weiter nach oben verschiebt, kann diese Gefahr bei manchen Gletschern steigen, bei anderen dagegen sinken. Die heute schon erkennbare Bedrohung durch die Zunahme der Gletscherseen dagegen wird sich in Zukunft aufgrund des rapiden Rückzugs der Eiszungen noch deutlich verschärfen. Mit dem Anstieg der Wasserpegel in den Seen steigt der Wasserdruck auf die „Staumauern“, die oft nur aus Moränen bestehen und alles andere als stabil sind. Diese Gefahr nimmt Tag für Tag ein wenig zu. Plötzliche Entleerungen sind vor allem in dicht besiedelten Gebieten unterhalb unbeaufsichtigt schrumpfender Gletscher zu befürchten. 2002 wurden allein in den

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kleinen Himalajastaaten Nepal und Bhutan 44 Gletscherseen als potenziell gefährlich eingestuft, doch nur einer davon – der Tso Rolpa im nepalesischen Rolwalingtal – wird künstlich entlastet und systematisch überwacht. Bleibt noch die Gefahr durch Eisfälle. Im Hochgebirge steigt die Grenze zwischen kaltem Gletscher (mit Temperaturen im Minusbereich) und temperiertem Gletscher (mit genau 0 °C). Dort, wo ein Übergang von kaltem zu temperiertem Eis stattfindet, gerät die Dynamik des Gletschers völlig aus den Fugen. Einerseits verformt sich das Eis leichter, doch andererseits – und darin liegt das Problem – kann unter dem Auflastdruck Schmelzwasser auf dem felsigen Untergrund zirkulieren und das Sohlgleiten des Gletschers beschleunigen. Bei steilem Gefälle, wie man es in Abbruchzonen vorfindet, kann das nicht mehr auf dem Fels festgefrorene Eis unvermittelt ins Rutschen geraten und gewaltige Eisfälle in Gang setzen. Bestimmte Séraczonen in kritischen Höhen wie diejenigen auf dem Taconnazgletscher oder auf dem Normalweg entlang der Südwand der Grandes Jorasses könnten in absehbarer Zeit en bloc zu Tal gehen.

Bedrohte Wasserreservoire Mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung deckt durch Gletscher oder jahreszeitliche Schneefälle seinen Wasserbedarf unter anderem für Trinkwasser, den Betrieb von Wasserkraftwerken und die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Eine Kli-

Links Die meisten Gletscher im Himalaja und Karakorum sind durch ihre mächtige Schuttschicht besser als andere gegen Abschmelzung geschützt und werden noch Jahrhunderte überdauern. Der Gangotrigletscher und die Gipfel des Bhagirathimassivs, Garhwal, Himalaja, Indien Oben Es ist schwer zu sagen, wie sich der grönländische Eisschild entwickeln wird. Die schon jetzt zu beobachtende sommerliche Abschmelzung der Randgebiete wird sich sicher verstärken, jedoch durch eine vermehrte Akkumulation im Zentrum der Insel ausgeglichen werden. Westrand des Eisschilds, Kangerlussuaq-Gletscher, Grönland Folgende Doppelseite Was wäre, wenn selbst auf dem „Dach der Welt“, dem Mount Everest, kein Eis und Schnee mehr läge? Unvorstellbar! Kanshunggletscher, Osthang des Mount Everest und des Lhotse, Himalaja, Tibet

maerwärmung könnte allein in dieser Hinsicht katastrophale Folgen nach sich ziehen. Gletscher dienen als Süßwasserreservoire, da sie in der niederschlagsreichen Zeit Schnee und Eis einlagern und in der Trockenzeit mit ihrem Schmelzwasser Bäche und Flüsse speisen. Würde ein Teil der Gletscher merklich kleiner oder verschwände sogar ganz, würde der Wasserhaushalt im Jahresverlauf auf den Kopf gestellt: In der Regenzeit gäbe es reichlich Wasser, nicht jedoch in der Trockenzeit. In Bolivien und Peru ist das bereits der Fall, denn dort sind mehr als die Hälfte der Gletscher klein, liegen in geringen Höhen und werden deshalb in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein. Messungen des IRD in stark vergletscherten Wassereinzugsgebieten belegen, dass ein Drittel des Wassers, das im Laufe eines Jahres das Einzugsgebiet verlässt, dies während der Trockenzeit zwischen Mai und Oktober tut. Während der vier trockensten Monate (Mai bis August) lag dieser Anteil immerhin noch bei 20 Prozent. Ohne Gletscher bliebe zwar das Gesamtvolumen pro Jahr unverändert, doch würde während der Trockenzeit zweimal weniger Wasser freigesetzt, und zwischen Mai und August sogar gar nichts. Mit zunehmender Entfernung vom Gletscher verringert sich das Problem natürlich, denn je weiter man sich entfernt, desto weniger der Gesamtwassermenge stammt von Gletschern. In den ausgesprochen trockenen Gebieten und den Küstenstreifen Perus und Nordchiles hingegen spielt die Entfernung kaum eine Rolle, denn dort tragen die Gletscher trotzdem wesentlich zur Wasserversorgung der Bevölkerung

bei. In der Umgebung von Chimbote an der peruanischen Nordküste beispielsweise fallen nicht mehr als 50 Millimeter Niederschläge pro Jahr, sodass die dort vorherrschende intensive Spargelkultur nur durch Bewässerung möglich ist. Das Wasser stammt aus dem Rio Santa, der es im Wesentlichen von den weit entfernten Gletschern der Cordillera Blanca bezieht. Sogar die Wasserversorgung der peruanischen Hauptstadt mit ihren knapp zehn Millionen Einwohnern hängt von den Gletschern der Hunderte Kilometer entfernten Andenkette ab. Beschleunigt sich die Gletscherschmelze, wird zunächst sehr viel Wasser zur Verfügung stehen, wenn nämlich das bisher in den Gletschern eingeschlossene fossile Wasser freigesetzt wird. Dieser Trend wird sich jedoch nach einer Weile umkehren, wenn genügend Gletscherfläche abgetaut ist. Dann wird es in den Trockenzeiten zu massiver Wasserknappheit kommen, es sei denn, die Regierungen der betroffenen Länder haben entsprechende Vorkehrungen getroffen, etwa durch den Bau von Staudämmen als Ersatz für die Gletscher oder die Nutzbarmachung neuer Wasserquellen. Dieses Problem betrifft besonders Bergländer mit langer Trockenzeit, etwa die Küste Perus, den Norden von Chile und die bolivianische Hochebene, aber auch den Karakorum und den westlichen Himalaja mit ihren sehr hohen Bevölkerungszahlen. In jedem Fall sind die für eine Milliarde Menschen zu erwartenden Konsequenzen der Gletscherschmelze beängstigend, zumal viele dieser Länder finanziell gar nicht in der Lage sein werden, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen.

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D A N K S A G U N G Die diesem Buch zugrunde liegenden Arbeiten der Autoren erfolgten am Laboratoire de glaciologie et géophysique de l ’environnement in Grenoble (Centre national de la recherche scientifique/Université Joseph-Fourier) und an der „Unité Great Ice“ (Institut de recherche pour le développement und südamerikanische Partnerinstitute). Diese Forschungsarbeiten wären nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung zahlreicher Personen, die uns mit ihren Feldmessungen unter oft schwierigen Bedingungen eine Vorstellung von der Entwicklung der Gletscher weltweit im Laufe der letzten Jahrzehnte gegeben haben. Besonders danken möchten die Autoren ihren Kollegen Emmanuel Le Meur und Martin Gerbaux, die ihre Ergebnisse zur Entwicklung des Gletschers von Saint-Sorlin zur Verfügung stellten. Sie danken darüber hinaus allen Freunden und Kollegen, die bereitwillig mit Fotos und Korrekturlesen zu diesem Buch beigetragen haben, sowie Cécile Geiger vom Verlag Glénat für ihre Mitwirkung an der Erstellung und Fertigstellung dieses Bandes.

B I L D N A C H W E I S © Augusta Cerutti : S. 99 (Mitte) ; © Fontaine de Siloé/cliché Denis Rigault/Sammlung Paul Payot/Conseil général de Haute-Savoie: 99 (oben) ; © Bernhard Edmaier: S. 36 – 37, 40, 69, 83, 86, 87, 90 – 91, 141 ; © Bernard Francou: S. 74 ; © Bruno Jourdain: S. 34 ; © Jean-François Hagenmuller: S. 4 – 5, 30 – 31, 42, 135 ; © Stéphane Houdier: S. 106 – 110 ; © Emmanuel Le Meur: S. 114 – 115 ; © RTM Haute-Savoie: S. 132 – 133 ; © Delphine Six: S. 12, 47, 147 ; © Pascal Tournaire: S. 20 – 21, 23, 25, 51, 61, 65 , 84 – 85, 92, 112, 113 ; © Christian Vincent: S. 35, 45, 50, 58, 59, 80 ; © Patrick Wagnon: S. 6, 8 – 11, 14 –17, 19, 24, 26 – 29, 32 – 33, 39, 41, 43, 44, 46, 49, 52 – 53, 55 – 57, 60, 62 – 64, 66 – 68, 70 – 71, 73, 76 – 79, 81, 88 – 89, 93, 95 – 98, 100 – 103, 105, 111, 116 –119, 121 – 127, 129, 130 – 131, 134, 136 – 139, 142 – 145, 148 – 151 ; © D. R.: 99 (unten); Diagramm S. 146: © Emmanuel Le Meur, Martin Gerbaux.

Die französische Originalausgabe ist 2007 bei Éditions Glénat unter dem Titel Glaciers. Forces et Fragilités erschienen. © 2007 Éditions Glénat, BP 177, F – 38008 Grenoble Cedex Der Primus Verlag dankt Prof. Dr. Peter Rothe für die fachliche Durchsicht des Umbruchs.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © der deutschen Ausgabe 2008 by Primus Verlag, Darmstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Kartografie: Rémi Kamb Konzept und grafische Gestaltung: Isabelle Chemin Gestaltung und Satz der deutschen Ausgabe: schreiberVIS, Seeheim Printed in China www.primusverlag.de ISBN 978-3-89678-381-3