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German Pages 400 [405] Year 2016
Klaus Viertbauer Heinrich Schmidinger (Hrsg.)
Glauben denken Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede im 21. Jahrhundert
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Reproduktionsfähige Druckvorlagenerstellung: Dorit Wolf-Schwarz Schrift: Minion Pro, Frutiger Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26773-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74137-3 eBook (epub): 978-3-534-74138-0
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung Denkversuche des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Klaus Viertbauer
Ausgangspunkt I Die Rede von Gott in Auseinandersetzung mit dem Subjektgedanken Trinität und Offenheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kurt Appel „als ob man von Christus nichts wüsste?“ Philosophisch-theologische Überlegungen zur Personalität Gottes . . . . . . . . . . . . . 47 Georg Essen Liturgical turn – Gottesrede in einer post-digitalen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Johannes Hoff Fälliger Stilwechsel. Gedanken zum philosophischen Leitparadigma einer zeitsensiblen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Klaus Müller Kriterien für eine glaubwürdige Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Hansjürgen Verweyen Theologie – rationale Rechtfertigung der Praxis der Nachfolge Jesu . . . . . . . . . . . . 129 Saskia Wendel Gottes Einfall in die menschliche Vernunft. Ein Vergleich zweier philosophischer Denkansätze und ihrer theologischen Rezeption . . . . . . . . 151 Josef Wohlmuth
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Inhalt
Ausgangspunkt II Die Rede von Gott in Auseinandersetzung mit der Epistemologie und den modernen Wissenschaften Prozesstheologie als Theopoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Roland Faber Von Gott reden in unübersichtlichen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Armin Kreiner Erfahrung und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Friedo Ricken Gott Glauben – Gott Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Thomas Schärtl Gott denken? – Sich von Gott zu denken geben lassen? Über schiefe Alternativen und produktive Spannungen in der theologischen Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Jürgen Werbick
Ausgangspunkt III Die Rede von Gott in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und interreligiösen Dimension Kommunikative Vernunft und Gottrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Edmund Arens Theologie und philosophische Anerkennungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Markus Knapp Gottesrede im Kontext interreligiöser Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Perry Schmidt-Leukel Gottrede als Komparative Theologie. Philosophische Grundlagen eines Paradigmenwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Klaus von Stosch Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
Vorwort Der wissenschaftliche Status der Theologie bemisst sich nicht zuletzt an der Methodik, mit der ihr Sujet, nämlich die Selbstoffenbarung Gottes als Liebe, näher bestimmt wird. In der Wahl des Instruments drückt sich die Option einer Aufbereitung für eine intersubjektiv einsehbare Kommunikation der Materie aus. Denn Theologie, als Gott-Rede, benötigt neben der historisch-kritischen Erfassung der Offenbarung (historisch-exegetische Fächer) auch ein epistemisch reflexiv gesichertes Kommunikationsparadigma (systematisch-philosophische Diskurse), um für die Kontexte des Alltags erschlossen zu werden (praktisch-katechetische Disziplinen). Die Funktion des jeweiligen Kommunikationsparadigmas besteht in der Transformation der kontextuellen Drift zwischen der historisch ergangenen Offenbarung und der bleibenden Bedeutung für die Nachwelt, die Lessing unter dem Etikett des „garstig breiten Grabens“ markiert hat. Vor diesem Hintergrund setzt der vorliegende Band ein. Er porträtiert unterschiedliche Wege der Gottrede, die für den gegenwärtigen Diskurs im deutschsprachigen Forschungsraum repräsentativ sind. Als Einstiegspunkte für die Sektionen wurden Subjektivität, Erkenntnistheorie und Gesellschaft gewählt. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine vage Vorsondierung, die nicht über die Heterogenität der einzelnen Aufsätze hinwegtäuschen soll. Innerhalb der Sektion erfolgt die Reihung alphabetisch. Der Dank der Herausgeber richtet sich zunächst an alle Kolleginnen und Kollegen, die bereit waren, ihren eigenen Ansatz von Gottrede, d. h. Theo-Logie, einer kritischen Methodenreflexion zu unterziehen und dies in Form eines Beitrags zusammenzufassen. Sodann gilt der Dank Dr. Thomas Brockmann von der WBG für die hervorragende Zusammenarbeit. Die Layoutierung wurde von Frau Mag. Dorit Wolf-Schwarz mit großer Umsicht vorgenommen. Und schließlich wäre das Projekt ohne die finanzielle Unterstützung von Seiten der Universität Salzburg sowie der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg nicht oder zumindest in dieser Form nicht realisierbar gewesen. Salzburg, Dreikönig 2016
Klaus Viertbauer Heinrich Schmidinger
Einleitung
Denkversuche des Glaubens Klaus Viertbauer, Linz
1. Glauben denken – Eine vorläufige Perspektivierung „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3,15)
Der biblische Auftrag, jedem Rede und Antwort über die einen erfüllende Hoffnung zu stehen, gilt als Initialpunkt für das Projekt christlicher Theologie. Auffälligerweise rückt dabei als Gegenstand gerade nicht eine partikulare Glaubenswahrheit in den Blick. Mit dem Begriff der Hoffnung bringt der biblische Text vielmehr eine anthropologische Grunddimension ins Spiel. Genau darin besteht die Plastizität der Gottrede: Die Redeform von Gott ist nicht a priori festgelegt. Sie steht offen, bleibt interpretierbar und lässt sich von Mensch zu Mensch neu erschließen. Was, wer und wie Gott ist, lässt sich somit nicht ein für alle Mal festlegen. Vielmehr lässt sich Gott von Mensch zu Mensch neu und individuell erkunden. Auf die Bedingung der Möglichkeit dieser Plastizität geht das Theologumenon der Schöpfung ein. Der entscheidende Passus im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht lautet: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,27)
Damit ist Folgendes ausgesagt: Im Schöpfungsakt formt Gott den Menschen nach seinem Abbild und unterscheidet ihn in Mann und Frau. Erst durch diesen Abbildcharakter des Menschen besteht nunmehr die Möglichkeit einer Relationierung der Gottrede. Weil sich im Menschen Gottes Bild auf Erden widerspiegelt, lassen sich auch dessen Attribute in Form von Analogieschlüssen relationieren: So hat die Transzendenz Gottes, deren Funktion darin besteht, Gottes Individualität auszudrücken, ihr Pendant in der Inkommensurabilität des Menschen. Gott und Mensch zeichnen sich gleichermaßen durch ihre Individualität aus. Dabei begründet man die Individualität Gottes mit Verweis auf dessen Transzendenz und die des Menschen mit Verweis auf dessen Inkommensurabilität. Die Rede von Gott lässt sich somit nur in unmittelbarer Relationierung zum Menschen leisten. Die Relationierung von „Gott“ und „Mensch“ hält sich dabei unkündbar durch alle Dimensionen der Existenz durch, sodass Gott und Mensch zwar
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untrennbar miteinander verbunden sind, sich aber niemals aufeinander reduzieren lassen. Das 4. Laterankonzil (1215) stellt dies in Form eines berühmten Analogieschlusses heraus: „Zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt es keine Ähnlichkeit, ohne dass diese von einer noch größeren Unähnlichkeit begleitet wäre“ (DH 808).
Der locus theologicus der christlichen Theologie, der diese Spannung am radikalsten in den Blick nimmt, bildet zugleich dessen formale und inhaltliche Mitte: die Christologie. In Jesus Christus verbinden sich „Gott“ und „Mensch“ derart, dass sowohl dessen jeweilige Einheit „unvermischt und unverändert“ erhalten bleibt als auch deren gemeinsame Identität „ungeteilt und ungetrennt“ besteht. Damit steckt das Konzil von Chalzedon (451) den normativen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Gottrede, prototypisch am Beispiel der Christologie vorgeführt, als Relationierung von „Gott“ und „Mensch“ vollziehen kann. Eine Reduktion, sowohl im Sinn einer Trennung von Gott und Mensch als auch im Sinn einer Identifizierung von Gott als Mensch, ist dadurch a priori unterbunden. Mit anderen Worten: In Jesus Christus, dessen Handeln und Wirken bis hin zum Tod am Kreuz, drückt sich Gottes endgültige und unkündbare Schöpfungszusage für jeden einzelnen Menschen aus. Vor dem Hintergrund der biblischen Erfahrung und deren theologischer Bearbeitung in der lateinischen Kirche degradiert sowohl „Gott“ als auch „Mensch“ streng genommen zu einem Unwort. Dieser Kritikpunkt wurde vor allem von Søren Kierkegaard gegenüber der metaphysischen Tradition von Platon bis Hegel angeprangert. Das Argument zielt auf die Differenz zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Anders formuliert: Sowohl bei „Gott“ als auch bei „Mensch“ handelt es sich um bloße Begriffe. Als Begriffe fußen sie allerdings auf einem performativen Widerspruch. Denn genauso wenig, wie es den „Menschen“ nicht geben kann, genauso wenig kann man von „Gott“ sprechen. In den Begriffen „Gott“ und „Mensch“ kommt es – so der Kern der Kritik – zu einer Verdinglichung. Durch Abstraktion von partikularen Eigenschaften und Attributen generiert man ontologische Begriffe. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, dass sich allein durch Begriffe die konkrete Existenz eines Einzelnen ausdrücken lässt. Auf diese Weise radikalisiert Kierkegaard die bereits in den frühen theologischen Konzilen implizit antizipierte Materialismuskritik und dehnt diese auf den Bereich der begrifflichen Realität aus. Konkret geht es um die Reduktion von „Gott“ auf „Mensch“. Verfährt man, wie von Kierkegaard kritisiert, droht das Theologumenon der Ebenbildlichkeit in den Projektionsverdacht überzukippen. So zielt Ludwig Feuerbachs These gerade auf eine Umwandlung der Theologie in eine Anthropologie. Anders formuliert: Die Lehre von Gott lässt sich laut Feuerbach vollständig auf die Lehre vom Menschen reduzieren. Feuerbachs Projektionsargument berührt somit nur die begriffliche Realität, wenn er von der Relationierung von „Mensch“ und „Gott“ spricht: „Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: so viel Wert der Mensch hat, so viel Wert hat sein Gott. Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen,
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die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott erkennst du den Mensch, wiederum aus dem Menschen seinen Gott […] Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.“1
Mit anderen Worten: Individuen werden unter eine allgemeine und ihrem Wesen nach fremde Begrifflichkeit gebracht. Dabei wird sowohl „Gott“ als auch der „Mensch“ in ihrer gemeinsamen Form als Einzelne entfremdet. In den Begriffen „Gott“ und „Mensch“ kommt es zu einer Reduktion von einer pluralen, offenstehenden Realität hin zu einer singularen, fassbaren Idealität. Da es sich beim Einzelnen aber nicht nur um eine besondere Form des Allgemeinen handelt, sondern das Einzelne vielmehr frei in der Gestaltung seines Selbst ist, geht das Projektionsargument ins Leere. Der Mensch als Einzelner kann sein Leben nach seinen Maßstäben und Präferenzen formen. Die Existenz menschlichen Lebens geht deren Essenz a priori voran und schließt dabei sogar die Gestaltung des Bezuges zu seinem eigenen Grund, dem es diese Freiheit überhaupt erst zu verdanken hat, mit ein. Dadurch ist sogar die radikalste Form des Umgangs mit seinem ureigenen Grund, nämlich die Ablehnung von diesem, mit eingeschlossen. Mehr noch: Selbst wenn der Mensch als Abbild Gottes Gott selbst für null und nichtig erklärt, geschieht dies immer noch in Form der oben beschriebenen schöpfungstheologischen Zusage Gottes. So bleibt der Mensch das Abbild Gottes auch noch in dem Moment, in dem er sich von diesem loszusagen versucht. Analog dazu lässt sich auch dem Sinnlosigkeitsverdacht begegnen: Der Oxforder Philosoph Alfred J. Ayer hat in seiner vielbeachteten Frühschrift Language, Truth and Logic (1936) darauf hingewiesen, dass das, was den Theismus mit dem Agnostizismus und dem Atheismus verbindet, der Begriff „Gott“ ist.2 Nun ist es aber ausgeschlossen, dass „Gott“ gemäß dem Verifikationsprinzip des Logischen Positivismus, zu dessen bekanntesten Vertretern Ayer zählt, zu einem Thema des philosophischen oder wissenschaftlichen Diskurses wird. Folglich ist nicht erst „Gott“, sondern bereits jegliche Bezugnahme darauf, ganz gleich ob ablehnend oder anerkennend, sinnlos. Denn das Prädikat der Sinnhaftigkeit lässt sich grundsätzlich nur von Objekten aussagen, die mittels empirischer Erhebung fassbar sind. Das Sinnlosigkeitsverdikt des Logischen Positivismus entkernt den Begriff „Gott“ von dessen Semantik. Da der Begriff „Gott“ keine empirische Evidenz aufweist, handelt es sich um einen semantisch leeren Begriff. Solche Begriffe können etwa Gegenstand von literarischen Abhandlungen sein. Doch, so Ayers Pointe, während sich der Poet der Fiktionalität seiner Figuren bewusst ist und daraus auch keinen Hehl macht, halten der Metaphysiker und der Theologe an der Existenz ihrer Figuren unbeirrt fest. Folglich handelt es sich beim Metaphysiker und Theologen um einen verkrachten Dichter. Offensichtlich orientiert sich Ayer unmittelbar am Begriff „Gott“ und diskutiert diesen vor dem Hintergrund dessen propositionalen Gehalts. Damit geht er von den gleichen Voraussetzungen aus wie zuvor bereits Feuerbach. In den 1 2
Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums, Stuttgart 2008, S. 52 f. Vgl. Ayer, Alfred J., Language, Truth and Logic, London 82001, S. 104–126.
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Blick kommt eine Verdinglichung der Gottrede, die mit metaphysischen Entitäten wie „Gott“ und „Mensch“ operiert. An dieser Schnittstelle setzen auch die jüngsten Äußerungen von Jürgen Habermas an. Seine Bemühungen bestehen darin, Religion an den öffentlichen Diskurs anzubinden. Im Hintergrund steht Habermas’ pessimistische Sichtweise auf den Verlauf der Moderne, die er von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer übernommen hat. Diese diagnostizierten eine Dialektik in der Aufklärung, gemäß der einerseits der Mythos eine Form von Aufklärung darstellt und andererseits die Aufklärung selbst in den Mythos zurückschlägt.3 In Form seines diskursiven Konzepts von Vernunft versucht Habermas dieser Dialektik gegenzusteuern. Gerade in seinen späten Schriften ab den 1990er-Jahren versucht er, in Anbetracht von gentechnischen Optimierungsszenarien auf der einen Seite und religiös motiviertem Terror auf der anderen Seite, Religion in seine Diskurstheorie miteinzubeziehen. Dazu formuliert Habermas in seiner Friedenspreisrede Glauben und Wissen drei Regeln, gemäß denen sich Religion zu artikulieren hat. Erstens muss „das religiöse Bewusstsein […] die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten“.4 Zweitens sind Religionen angehalten, sich „auf die Autorität von Wissenschaften ein[zu]stellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben“, und sie müssen sich drittens „auf die Prämissen des Verfassungsstaats einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen“.5 Auf diese Weise kommt es aber nicht zu einer philosophischen Durchdringung des religiösen Glaubens, sondern es wird lediglich auf die semantischen Potenziale von Religion rekurriert. Habermas selbst führt dies an dem eingangs referierten Schöpfungstheologumenon vor. Dabei ersetzt er den Gottesbezug durch eine negative und eine positive Freiheit. Die Genesisperikope lautet: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,27)
Diese zerlegt Habermas in zwei Teilaussagen, die er wiederum zu desakralisieren versucht: Sakrale Form
Nachmetaphysische Form
Aussage I
Der Mensch ist Ebenbild Gottes
Der Mensch ist ein mit Freiheit begabtes und zur Freiheit verpflichtetes Wesen
Aussage II
Der Mensch ist Geschöpf Gottes
Der Mensch verdankt sein natürliches Sosein nicht einem anderen Menschen
Vgl. Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 2005, Kap. 1: „Begriff der Aufklärung“. 4 Habermas, Jürgen, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt am Main 2001, S. 14. 5 Ebd., S. 14. 3
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Im Unterschied zu Feuerbach und Ayer versteht sich Habermas somit dezidiert nicht mehr als Religionskritiker. Seine Beschäftigung mit Religion beschreibt er selbst als Politische Philosophie.6 Damit handelt es sich um ein agnostisches Projekt, das sich auf Religion bezieht, selbst aber nicht mehr Teil des religiösen Diskurses ist: „Unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens [tritt] eine andere Differenz deutlich hervor […] der methodische Atheismus in der Art und Weise der philosophischen Bezugnahme auf die Gehalte religiöser Erfahrung“.7
Das Projekt „Glauben denken“ zielt hingegen auf eine philosophische Durchdringung der Deutungsmuster bzw. Logifizierungsstrukturen von religiösem Glauben. Es gilt, den Ort der Gottesbegegnung freizulegen und transparent zu machen. Im Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt bricht er in Form einer anthropologischen Kategorie ein.
2. Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede – Die „Hellenisierung des Christentums“ als Paradigma In einem ersten Schritt wurde gezeigt, was es überhaupt bedeutet, den Glauben zu denken. Dazu wurde die einen erfüllende Hoffnung als anthropologische Dimension bestimmt. In diesem zweiten Schritt soll nunmehr skizziert werden, wie man diese Dimension angemessen im intersubjektiven Diskurs verbürgt, um über diese Hoffnung jedem Rede und Antwort stehen zu können. Mit anderen Worten: Es geht in diesem zweiten Schritt nicht mehr um das vorsprachliche Bewusstseinsphänomen des religiösen Glaubens, sondern um die Form einer intersubjektiv erschließbaren Gott-Rede. Am Beispiel der „Hellenisierung des Christentums“ sei dies paradigmatisch veranschaulicht. Der soziokulturelle Kontext, in dem sich das Christentum von einer kleinen jüdischen Sekte zu einer in der Selbst- und Fremdwahrnehmung autarken Religion entwickelte, ist das Römische Reich mit seiner griechisch-hellenistischen Kultur. Die Emanzipation des Christentums zu einer eigenständigen Religion nimmt ihren Ausgang mit der paulinischen Heidenmission. Dadurch kommt es nicht nur zu einer radikalen Neubewertung des Missionsverständnisses (die sich letztlich nicht mehr innerhalb der jüdischen Religion durchführen ließ, wie der unterschiedlich in Gal 2 und Apg 15 überlieferte Apostelkonvent zeigt), sondern das Christentum etablierte sich zugleich als hochinteressantes Angebot am „Markt der Religionen“.8 Gerade die christliche Eschatologie, die ein Leben nach dem Tod verheißt, gepaart mit ihrer authentischen sozial-gesellschaft Vgl. Reder, Michael, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie (= Praktische Philosophie; Bd. 86), Freiburg im Breisgau 2013, S. 74–127. 7 Habermas, Jürgen, „Exkurs: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits“, nachgedruckt in: Ders., Philosophische Texte, Bd. 5: Kritik der Vernunft, Frankfurt am Main 2009, 417–450, hier: 427. – Hervorhebung vom Verf. 8 Vgl. Kollmann, Bernd, Einführung in die Neutestamentliche Zeitgeschichte, Darmstadt 2006, Kap. 8: „Die nichtjüdisch religiöse Umwelt des Neuen Testaments“. 6
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lichen Agenda, stieß bei breiten Teilen der römischen Bevölkerung (nicht zuletzt bei den im Dauerkriegszustand befindlichen Soldaten) auf fruchtbaren Boden. Das Christentum präsentierte sich als eine Lebensform, welche die sozialen, menschlichen und spirituellen Bedürfnisse weit angemessener in den Blick zu nehmen wusste, als es vergleichsweise der Isis- oder Asklepioskult tat. Das entscheidende religionsgeschichtliche Scharnier, welches das Christentum überhaupt erst „marktkonform“ machte, bestand in seiner Übersetzbarkeit. Mit anderen Worten: Die genuin jüdischen Denkfiguren mussten in eine sprachliche und denkerische Form übersetzt werden, die für ein hellenistisches Publikum verständlich war. Ein Beispiel aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert ist die Erklärung des Sonntags von Justin dem Märtyrer: „An dem nach der Sonne benannten Tag findet eine Versammlung an einem Ort statt […]. Wir alle halten gemeinsam die Zusammenkunft aus dem Grund am Sonntag, weil es der erste Tag ist, an dem Gott durch Umwandlung der Finsternis und des Urstoffes die Welt schuf und weil an diesem gleichen Tag unser Erlöser Jesus Christus von den Toten auferstanden ist“.9
Justin erklärt in dieser Textpassage ganz offenkundig einem hellenistischen Publikum, warum gerade am Sonntag die Zusammenkunft der Christen stattfindet. Dazu versucht er, die christlich-jüdischen Elemente (Schöpfung, Auferstehung) in einer hellenistischen Sprache auszudrücken. Diese Übersetzungsprozesse ziehen sich fort bis in das 4. Jahrhundert, in dem auf den ersten Konzilen die Grenzen einer derartigen „Hellenisierung des Christentums“ verdeutlicht wurden. Im Hintergrund stehen unterschiedliche theologische Schulen: Die Schule von Alexandria versuchte mit dem Instrument des Platonismus die jüdisch-christliche Offenbarung in ein einheitliches Emanationsmodell zu bringen. Dieses Vorgehen war von Erfolg geprägt und fand schnell Anhänger unter den gebildeten und wohlhabenden Schichten. Allerdings schloss es in seinen Theologien jene Glaubensinhalte, die mit der menschlichen Natur von Jesus verbunden waren, mehr und mehr aus. Die Schule von Antiochien bestand hingegen gerade auf der Betonung des inkommensurablen Charakters der menschlichen Natur. Gegenüber den christologischen Theologumena aus Alexandrien betonte die Schule von Antiochien, dass es sich bei Jesus von Nazareth um einen echten Menschen handelt, der als Mensch gelebt, gewirkt und den grausamen Kreuzestod erlitten hatte. Am von Kaiser Konstantin einberufenen Konzil von Nizäa (325) wurden dann nach langem Ringen dem erfolgreichen mittelplatonischen Emanationsmodell für die Erhellung der Beziehung von Gott-Vater und Gott-Sohn deutlich die Grenzen aufgezeigt. Das Konzil definierte in seinem Glaubensbekenntnis Gott-Sohn mit folgenden Worten: „Und an den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist, das heißt: aus dem Wesen des Vaters, Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater“.
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Justin der Märtyer, Apologie, 67,3.7.
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Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Gott-Vater und Gott-Sohn lässt sich nicht mehr im Paradigma der Emanation auflösen. Gott-Sohn ist vielmehr mit Gott-Vater wesensgleich und nicht einfachhin eine ontologisch subordinierte Hypostase. Auch die monarchianistischen Versuche, Gott-Sohn als „auserwählten Sohn“ (Adaptionismus) zu denken oder von „einer Natur in unterschiedlichen Formen“ (Modalismus) zu sprechen, wurden vor dem Hintergrund einer Einheit mit der biblischen Tradition abgelehnt. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Terminus einer „Hellenisierung des Christentums“ als eine „spezifische Transformation der alexandrinischen Bildungseinrichtung und der dort praktizierten Wissenschaftskultur in theologischen Reflexionen des antiken Christentums“ bestimmen.10 Joseph Ratzinger geht sogar so weit, das Christentum im Ganzen als „die in Jesus Christus vermittelte Synthese zwischen dem Glauben Israels und dem griechischen Geist“ zu definieren.11 Ratzingers Theologie setzt an diesem Punkt an: In Jesus Christus hat sich Gott selbst, aus freien Stücken heraus, an den Logos gebunden. Gerade dadurch offenbart sich Gott dem Menschen. In seiner berühmten Regensburger Vorlesung Glauben, Vernunft und Universität formuliert er mittlerweile als Papst Benedikt XVI.: „An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert. Ist es nur griechisch zu glauben, daß vernunftwidrig zu handeln dem Wesen Gottes zuwider ist, oder gilt das immer und in sich selbst? Ich denke, daß an dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist, und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten Vers der Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. Dies ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt „σὺν λόγω“, mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre Synthese finden. Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der biblischen Botschaft und des griechischen Denkens war kein Zufall. Die Vision des heiligen Paulus, dem sich die Wege in Asien verschlossen und der nächtens in einem Gesicht einen Mazedonier sah und ihn rufen hörte: Komm herüber und hilf uns (Apg 16, 6–10) – diese Vision darf als Verdichtung des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen gedeutet werden“.12
Markschies, Christoph, Hellenisierung des Christentums. Sinn und Unsinn einer historischen Deutungskategorie, (ThLZ.F 25), Leipzig 2012, S. 121. 11 Ratzinger, Joseph, „Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen“, in: Europa. Horizont der Hoffnung, hg. von König, Franz / Rahner, Karl, Graz / Wien / Köln 1983, S. 61–74, hier: S. 68. 12 Benedikt XVI., „Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. Vorlesung des Heiligen Vaters an der Universität Regensburg am 12.09.2006“, in: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit nach München, Altötting und Regensburg 9.–14. September 2006. Predigten, Ansprachen und Grußworte (VAS 174), Bonn 2006, S. 72–84, hier: 75 f. 10
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Im groben Gegensatz zu Ratzinger bewertet Johann Baptist Metz die Hellenisierungsthese als „Halbierung des Geistes“. Demnach kommt der Glaube aus Israel und der Geist stammt aus Athen.13 Dabei kommt es zunehmend zu einer Verdrängung des Glaubens durch den Geist, was sich in den Konzilen der Alten Kirche in Form einer soteriologischen, einer christologischen und einer ekklesiologischen Verschlüsselung manifestiert. Die Platonisierung der christlichen Offenbarungsbotschaft immunisierte die Gottrede für die Bedürfnisse der Lebenswelt, was sich im Besonderen am Umgang mit dem Leid in der Welt zeigt: „Das Christentum [verlor] im Prozeß dieser Theologiewerdung seine Leidempfindlichkeit oder – theologisch gesprochen – seine Theodizeeempfindlichkeit, d. h. die Beunruhigung durch die Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden“.14
Demgegenüber fordert Metz einen Rückbezug auf die in der Schrift grundgelegte „anamnetische Dimension“ des Glaubens. Darin kommt es zu einer rituell-kultischen Vergegenwärtigung des Vergangenen. Walter Benjamin fasst dies im „Anhang B“ seiner geschichtsphilosophischen Thesen zusammen: „Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“.15
Durch die Hellenisierung der christlichen Offenbarung wurde diese anamnetische Dimension aus dem theologischen und geisteswissenschaftlichen Diskurs verdrängt. Seither fehlt es laut Metz an Zeit- und Leidempfindlichkeit. Die „blinden Flecke“ des gegenwärtigen Diskurses sind folglich der Logos, das Subjekt und der exklusive Gegenwartsbezug. Mit der „Hellenisierung des Christentums“ wurde das altkirchliche Paradigma der Gottrede in den Blick genommen. Bei aller Begrenztheit und Kritik trug es in erheblichen Maße zur Konstituierung des Christentums als Weltreligion bei. Die Kritiken von Nizäa bis heute lehren allerdings, dass es sich auch dabei nur um eine Form von Gottrede handelt. Die Funktion der Gottrede besteht allerdings darin, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, die einen erfüllt. Vor diesem Hintergrund kann Gottrede nicht ein für alle Mal festgelegt werden. Sie steht offen und muss für jede Zeit neu erschließbar bleiben.
Vgl. Metz, Johann Baptist, „Anamnetische Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswissenschaft“, in: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung (FS Jürgen Habermas), hg. von Honneth, Axel, Frankfurt am Main 1988, S. 733–738. 14 Vgl. Metz, Johann Baptist, „Gotteskrise. Versuche zur ‚geistigen Situation der Zeit‘“, in: Diagnosen zur Zeit, hg. von Metz, Johann Baptist u. a., Düsseldorf 1994, S. 76–92, hier: S. 84. 15 Benjamin, Walter, „Geschichtsphilosophische Thesen“, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. I/2, Frankfurt am Main 1991, S. 690–708, hier: S. 676. 13
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3. Ein Ausblick auf die Beiträge Von Anfang an findet sich eine Differenz zwischen dem Glaubensakt (↗ 1. „Glauben denken“) und dessen Logifizierung (↗ 2. „Zur philosophischen Durchdringung der Gottrede“) eingetragen. Während in der Antike und im Mittelalter das neuplatonisch-aristotelische Denkmodell dominierte und in der Neuzeit der Ansatz beim menschlichen Bewusstsein en vogue war, lässt sich der philosophische Diskurs der Moderne nicht mehr auf einen einheitlichen Nenner bringen. Der Versuch, den linguistic turn als unierendes Paradigma zu etablieren, ließ sich nicht einmal im Rahmen der Analytischen Philosophie aufrechterhalten. Das Bewusstseinsparadigma der Neuzeit geriet unter zweifachen Beschuss: Auf der einen Seite versuchten postmoderne Autoren im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger den Subjektgedanken zu desavouieren, auf der anderen Seite stellten die frühen Vertreter der Analytischen Philosophie, vor allem im Umfeld des Wiener Kreises, die Sinnlosigkeit des Subjektbegriffes heraus. Die weiterführenden, teils revolutionären Debatten innerhalb der Analytischen Philosophie lassen regelmäßig die Frage aufkommen, worin sich heute die Analytische Philosophie grundsätzlich von einer nicht-analytischen Philosophie unterscheidet: Das Spektrum erstreckt sich dabei, beginnend bei der Protokollsatzdebatte, die zum Ende des maßgeblich von Rudolf Carnap entwickelten Verifikationismus und zum Aufschwung des von Karl Popper vorgetragenen Fallibilismus beitrug, über historische Einbettungsversuche von wissenschaftlichen Theorien, etwa durch Thomas Kuhn und Imre Lakatos, bis hin zur veränderten Aufmerksamkeit für die Sprache, die sich von der logisch-mathematischen Idealsprache auf die Alltagssprache und dessen Sprechakte verschob und heute sogar das Bewusstseinsphänomen neu zu analysieren bereit ist.16 Das heute von einer Person unmöglich mehr überschaubare Feld der Praktischen Philosophie fusionierte vielerorts mit den Sozialwissenschaften: Die Politische Philosophie ging Symbiosen mit der Soziologie, Rechtswissenschaft und der Entwicklungspsychologie ein. Die Ethik, die sich mehr und mehr in Bereichsethiken ausdifferenziert, kooperiert mit ihren unmittelbaren Gesprächspartnern von Biologie, Physik, Neurologie und Medizin. Allein die Frage einer gleichermaßen notwendigen wie methodisch anspruchsvollen naturwissenschaftlichen Problembeschreibung zieht in den bioethischen Debatten der letzten Dekaden (man denke nur beispielsweise an die höchst kontrovers geführten Diskussionen über medizinische Modellierungen am Embryo im Zuge der PID, die Debatten über Organtransplantation oder die Möglichkeit einer Legalisierung von Sterbehilfe) nicht weniger Aufmerksamkeit auf sich als dessen juristische, moralische und ethische Evaluierung. Mit anderen Worten: Die Philosophie des 21. Jahrhundert gibt es nicht. Wer ist aber dann der Gesprächspartner für eine angemessene, d. h. diskurssensible Gottrede? Der vorliegende Band sammelt Antworten auf diese Frage. Analog zur philosophischen Diskurslage kann die Antwort hierauf nicht mehr im Singular ausfallen wie etwa noch Vgl. Bieri, Peter, „Was bleibt von der analytischen Philosophie?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 333–344.
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zu Zeiten der „Hellenisierung des Christentums“. Es gibt nicht mehr die Denkform, an der sich Theologen orientieren können. Die unterschiedlichen philosophischen Strömungen und Disziplinen bieten sich gleichermaßen als Gesprächspartner an. So eröffnet jede Strömung mit ihrer spezifischen Methodik die Erschließung einer ganz bestimmten Perspektivierung. Umgekehrt weist auch jede Methodik ihre „blinden Flecken“ in der Ausleuchtung des religiösen Glaubens auf. Vor diesem Hintergrund setzt der Band ein: Ausgehend von bzw. in Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Selbstbewusstseins bzw. des Subjektgedankens erschließen Kurt Appel (Wien), Georg Essen (Bochum), Johannes Hoff (London), Klaus Müller (Münster), Hansjürgen Verweyen (Freiburg), Saskia Wendel (Köln) und Josef Wohlmuth (Bonn) die Gottrede. Die epistemischen Voraussetzungen in der Rede von Gott wählen hingegen Roland Faber (Claremont), Armin Kreiner (München), Friedo Ricken (München), Thomas Schärtl (Regensburg) und Jürgen Werbick (Münster) als Ausgangspunkt. Die gesellschaftliche und interreligiöse Dimension markiert bei Edmund Arens (Luzern), Markus Knapp (Bochum), Perry Schmidt-Leukel (Münster) und Klaus von Stosch (Paderborn) den Abstoßpunkt. Dementsprechend ist der Band in drei Sektionen untergliedert. Innerhalb der einzelnen Sektionen werden die Beiträge in alphabetischer Reihung angeführt. Jeder einzelne Beitrag weist für sich einen eigenen Weg auf, wie sich der religiöse Glauben denken lässt und wie vor diesem Hintergrund Gott zur Sprache kommt.
Ausgangspunkt I: Die Rede von Gott in Auseinandersetzung mit dem Subjektgedanken
Trinität und Offenheit Gottes Kurt Appel, Wien
Problemanzeigen Will man heute einen Beitrag zur Gottesfrage verfassen1, der sich nicht auf die Darstellung philosophie- oder theologiegeschichtlicher Motive beschränkt, lassen sich mehrere Probleme diagnostizieren. Das erste besteht darin, dass wir eine völlig neue Verhältnisbestimmung von Gott und Zeit vorzunehmen haben. Unser heutiges vulgärmaterialistisches Zeitverständnis rechnet mit einem (unerlösten) Verlöschen des Universums im entropischen Kältetod spätestens in Zeithorizonten von 10100 Jahren, womit jede klassische Gottesvorstellung ad absurdum geführt ist (siehe Kap. 1).2 Eine weitere Problemstellung verbindet sich damit, dass die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichende Frontstellung von Theismus und Atheismus immer mehr in Auflösung begriffen ist. Dies in zweifacher Hinsicht: Erstens unterscheiden sich die verschiedenen Theismen und Atheismen untereinander so massiv, dass sie kaum mehr auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Žižek und Dawkins, um zwei bekannte Atheisten herauszugreifen, verfolgen völlig verschiedene Argumentationsstrukturen, die kaum etwas gemein haben außer der Tatsache, „atheistische“ Konsequenzen mit sich zu bringen. Ähnliches gilt auch für die Theismen, sogar innerhalb solcher christlicher Denomination. So wird es etwa extrem schwer fallen, den Gott, den Dietrich Bonhoeffer meint3, mit jenem neuscholastischer Theologien in Verbindung zu bringen. Zweitens scheint es für immer mehr Menschen unserer Zeit schwierig zu werden, sich einer der beiden Gruppen zuzurechnen. Unter den Begriff „agnostisch“, der als Alternative zur Dichotomie Theismus-Atheismus gewählt wird, fällt heute weniger jene Geisteshaltung, die meint, zu diesem Thema prinzipiell nichts aussagen zu können. Vielmehr bringt er zum Ausdruck, dass es massive Der folgende Artikel verdankt sich nicht zuletzt Einsichten meines Dissertanten Marco Casadei. Ihm und meinen Mitarbeitern Jakob Deibl, Sebastian Pittl, Isabella Guanzini und Mattia Coser, denen für viele anregende Gedanken gedankt sei, möchte ich diesen Artikel widmen. 2 Zu diesem Problem und einem alternativen Zeitkonzept, welches versucht, die Herausforderung heutigen astronomischen Zeitverständnisses anzunehmen, vgl. Appel, Kurt, Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008. 3 Zum Gottesbegriff von Dietrich Bonhoeffer, der in großer Sensibilität nachmetaphysische Horizonte eröffnet hat, vgl. Capozza, Nicoletta, Im Namen der Treue zur Erde. Versuch eines Vergleichs von Nietzsches und Bonhoeffers Denken, Münster / Hamburg / London 2003. 1
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„Regionalisierungen“ des Glaubens und des Unglaubens gibt. Ein und dieselbe Person kann bei der Hochzeit der Kinder oder dem Begräbnis der Eltern gläubig zu Gott beten und in anderen Kontexten, z. B. einer Diskussion mit Arbeitskollegen, eine atheistische Haltung einnehmen. Mit diesem Phänomen verbindet sich eine dritte Problemlage. Die Menschen unseres Kulturkreises, so scheint es, glauben, wenn sie nicht einem Vulgärmaterialismus folgen, heute mehr an Engel, Mächte, Energien, Übersinnliches als an Gott. Dies hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass die Theologie(n) völlig hypertroph geworden sind. Arbeitet man sich durch theologische Handbücher und Monographien der letzten Jahrzehnte durch, wird man förmlich „ertrinken“ an Gottesliebe, innertrinitarischer Harmonie, perfekter göttlicher Kommunikationsgemeinschaft, Alterität, Geltungsansprüchen usw. Kennzeichnend ist dabei, dass all diese Wörter viel zu groß und erfahrungslos geworden sind. Auf einer grundsätzlicheren Ebene ist zu diagnostizieren, dass die christliche Theologie vergessen hat, dass zumindest in ihren Heiligen Schriften Gott immer an bestimmte Ereignisse gebunden ist. Bezeichnungen Gottes wie „Gott Abrahams“, „JHWH“, „Vater Jesu“ usw. bringen eine Tatsache zum Ausdruck, die durch einen falsch verstandenen Universalismus immer mehr verschliffen wurde. „Gott“ ist, zumindest biblisch gesehen4, kein abstraktes Allgemeines, mit dem im Sinne eines Algorithmus begonnen oder geendet werden könnte, sondern ein Name, der als notwendig empfunden wurde, um kollektive und individuelle geschichtliche Ereignisse und deren Umbrüche zu deuten. Dies bedeutet, dass die Fragestellung nach Gott nicht abgekoppelt werden kann von der Frage nach der Möglichkeit heutiger Geschichtserzählungen und Geschichtsdeutungen. Entscheidend ist, wieweit biblische Erzählungen und ihre theologischen und philosophischen Deutungen und Fortschreibungen Kategorien für ein (theoretisches, praktisches, ästhetisches) Verständnis heutigen Weltumganges bereitzustellen vermögen. Kann die Welt „offener“, vielfältiger, sensibler wahrgenommen werden unter dem Register des Gottesnamens? Eine besondere Schwierigkeit besteht im Denken der Trinität. Rahners berühmte Formel der Entsprechung von immanenter und heilsökonomischer Trinität muss weitergedacht werden. Heute erfolgen Annäherungen an das trinitarische Gottesbekenntnis meist über den Weg ontologischer Spekulationen. „Gott ist in sich Beziehung“, lautet eine gängige Formel, aus der dann zwei Beziehungspole (Vater – Sohn) und eine Beziehungskopula (Geist) abgeleitet werden. Dabei ist schwer einsehbar, warum man, dieser Formel folgend, drei Glieder braucht und nicht bloß zwei, was ja schon Feuerbach
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Einer eigenen Überlegung bedürfte die Frage nach „Gott“ im Islam. Wenn man aus geschichtstheologischen Gründen, aber auch auf Grund heutiger Erkenntnisse der Genese des Islams davon ausgehen will, dass der Islam eine Auseinandersetzung mit dem Christentum (und dem Judentum) in spätantiker Prägung darstellt, wird man auch in seinem Gottesverständnis auf eine unhintergehbare Geschichtsbezogenheit stoßen. Vgl. dazu Neuwirth, Andrea, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010.
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in seiner Schrift „Das Wesen des Christentums“ hellsichtig angemerkt hat5. Denn der Geist ist in diesem Gedankenkonstrukt letztendlich überflüssig, da ja Vater und Sohn schon in sich ganz auf Beziehung (oder in deutschen Landen meist auf Kommunikation) ausgelegt wären. Auf diese Weise schwindet also die Eigenbedeutung des Heiligen Geistes. Auf alle Fälle ist festzuhalten, dass theologisch gesehen das trinitarische Gottesbekenntnis den Monotheismus nicht ersetzt, sondern eine spezielle Auslegung des monotheistischen Gottes darstellt, der im Lichte des Christusereignisses geglaubt wird. Dazu kommt, dass sich gerade beim Zugang zur Trinität besonders zeigt, dass ihr Ausgangspunkt immer in konkreter Deutung von Glaubens-, Gebets-, Lese- und Geschichtserfahrungen liegen muss, sie also letztlich ihre Bewährungsprobe an der Erschließungskraft von geschichtlich-gesellschaftlichen Ereignissen hat. Im Folgenden soll die Gottesfrage an Hand von zentralen biblischen Texten entwickelt werden. Leitfaden ist dabei das Moment der Offenheit des Seins, die in der Begegnung mit dem Gottesnamen deutlich wird. Die herangezogenen Perikopen können keiner detaillierten exegetischen Analyse unterzogen werden, sondern werden, auf Grundlage exegetischer Erkenntnis, auf entscheidende Aussagen über das Gott-Welt-Verhältnis und damit das Weltverständnis überhaupt befragt6. Begleitende philosophische Überlegungen erfolgen meist implizit, an manchen Stellen in Form von Exkursen. Die Denkbewegungen Kants und v. a. Hegels und ihre Fortschreibungen im 20. Jahrhundert (Heidegger, Merleau-Ponty, Derrida, Agamben, Bahr, Benjamin, Deleuze, Lacan u. a.) stehen allerdings im Hintergrund vieler exegetisch-theologischer Annäherungen an die Gottesfrage, ohne dass dies im Detail ausgewiesen werden könnte.
Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums (= Gesammelte Werke; Bd. 5), hg. von Schuffenhauer, Werner, Berlin 1973, S. 394. 6 Eine wesentlich ausführlichere Analyse liegt vor in Appel, Kurt, „Christentum als Sicht eines Neuen Humanismus. Geschichtstheologisch-Geschichtsphilosophische Erwägungen im Ausgang von Bibel, Musil und Hegel“, in: Preis der Sterblichkeit. Christentum und Neuer Humanismus im Ausgang von Hegel, Hölderlin, Musil, Lacan (in Erscheinung). Vgl. ebenso Appel, Kurt, Apprezzare la morte, Cristianesimo e nuovo umanesimo a partire dalla Bibbia, Hegel e Musil, Bologna 2014. 5
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1. Gott und die Offenheit der Zeit: Gen 1,1–2,4a Schema: Gen 1,1–2,4a7 Tag Eins Zeit Zweiter Tag Raumgestaltung Dritter Tag Raumgestaltung Vierter Tag Tempo Fünfter Tag Raumgestaltung Sechster Tag Raumgestaltung Siebenter Tag Zeit
Op.1 (nacht und Tag) Op.2 (Himmelsgewölbe und Ozean) Op.3 (Ozean und Land) Op.4 (geschmücktes Land) Op.5 (Sonne, Mond, Sterne, Festzeit) Op.6 (Wassertiere, Flugtiere) Op.7 (Landtiere) Op.8 (Mensch als Mann und Frau) sabbat
Die erste große Erzählung der Bibel handelt von der Erstellung der Erde als lebendige Landschaft. Näherhin berichtet sie vom Ausgang aus dem primordialen Chaos, welches nicht zuletzt satirisch auf die damaligen Supermächte Ägypten und Babylon verweist. Zunächst ist der erste Satz der Bibel zu betrachten: „Am/Als Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, der, wie in antiken Schriften üblich, als Titel des folgenden Textes, d. h. der gesamten Bibel, fungiert. Der titelgebende Schöpfungsprozess wird sofort vom ersten Satz des auf die Überschrift folgenden Haupttextes konterkariert: „Und die Erde wüst und leer, Finsternis über der Urflut“. Evoziert ist damit das altorientalische Chaos, welches allerdings nicht, wie sonst üblich, als ontologische Größe fungiert, sondern historische Konnotation hat. Diese zeigt sich einerseits in der Gegengeschichte des ersten Schöpfungsberichtes, der Flutgeschichte (Gen 6–9), in der die Flut als Ausdruck menschlicher Gewalttätigkeit begriffen wird (Gen 6,5;11), andererseits im vierten Schöpfungswerk, in dem Gott als Schöpfer von Sonne und Mond auftritt, wodurch die Hauptgottheiten (und ihre irdischen Repräsentanten) der damaligen Supermächte Ägypten und Babylon depotenziert werden, die im folgenden Verlauf der Bibel gerade in ihrer militärischen Stärke als die eigentlichen Chaosmächte dechiffriert werden. Es ist also bereits der anfängliche Schöpfungsprozess untrennbar mit einem politisch-geschichtlichen Geschehen konnotiert. Gott offenbart sich in der Schöpfung, die sich im Ausgang und der Überwindung menschlicher Gewalttätigkeit und als Erstellung der Erde als lebendige Landschaft vollzieht. Der Hauptakzent liegt dabei, wie die obige Skizze zeigt, auf dem Thema Zeit. Diese markiert den Beginn, das Zentrum und das Ende des ersten biblischen Textes, der paradigmatisch für das Folgende ist. Der Tag Eins als Anfang und Grundlage der Zeit hat eine dreiteilige Struktur: „Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag“. Die Reihenfolge Abend – Morgen dreht unsere Zeitvorstellung um 180 Grad. Die biblisch-liturgische Zeit, die dem Tag Eins entspricht, be7
Vgl. Zenger, Erich, Gottes Bogen in den Wolken, Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte (= Stuttgarter Bibelstudien; Bd. 112), Stuttgart 1983. Weiterhin Borgonovo, Gianantonio, „L’inno del Creatore per la bellezza della creazione (Gn 1,1–2,4a)”, in: Ders. (Hg.), Torah e storiografie dell’Antico Testamento, Torino 2012, S. 393–428.
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ginnt nämlich mit der auf den Tod zulaufenden abendlichen Zeit (Zeit I), erleidet dann die nächtlich-tödliche Unterbrechung (Zeit II) und erfährt in der morgendlichen Zeit eine Neuschöpfung (Zeit III). Dieses Schema begegnet in der Bibel auch im zentralen christlichen Theologumenon der Auferweckung Jesu „am dritten Tag“. Dieser ist nicht nur chronologische Angabe, sondern setzt die Auferweckung Jesu mit dem Gedanken der Neuschöpfung von Himmel, Erde und Zeit, also mit Zeit III in Verbindung. Die Zeit als geprägte Festzeit ist Thema des vierten Tages (Gen 1,14–19), in dem die Sterne als Zeichen für die Festzeiten geschaffen werden. Damit leuchtet ein wichtiges theologisches Moment auf: Im Zentrum der Zeit steht das Fest, in dem Gott sich auf entscheidende Art und Weise selbst offenbart. Fragt man nach, was Neuschöpfung bedeutet, wäre die Antwort, dass sie die Transformierung chronologisch ablaufender Zeit in Festzeit Gestalt werden lässt. Die entscheidende Aussage der ersten Perikope liegt im siebenten Tag. Um ihn zu verstehen, muss gesehen werden, dass das Schöpfungswerk nach dem sechsten Tag vollendet ist. Im ersten Teil (den Tagen Zwei und Drei) wird die Erde gastlich bereitet. Dem in Aussicht genommenen Leben wird nicht nur Raum gegeben, sondern dieser wird auch festlich geschmückt, was eine der Sinngebungen der im vierten Werk geschaffenen Pflanzen neben ihrer Funktion als Nahrung darstellt. Der zweite Teil handelt von der Ankunft der lebendigen Gäste, die ihren Abschluss in der Schaffung des Menschen hat. Dieser wird als Repräsentant Gottes eingesetzt zum Hüter des Kosmos, was insofern eine radikale politische Aussage darstellt, als diese Funktion, die dem König vorbehalten war, auf alle Menschen ausgedehnt wird. Theologisch bedeutsam ist auch, dass die Repräsentanz Gottes durch eine Differenz bezeichnet wird. Der Mensch als Mann und Frau, d. h. in einer nicht vollkommen aufeinander abbildbaren Dualität („Alterität“, „Differenz“) ist Zeigestab Gottes. Mit der Ankunft der tierischen und menschlichen Gäste und dem Menschen als Hüter einer Art Hausordnung ist die biblische Landschaft vollendet. Und tatsächlich bringt der siebente Tag inhaltlich nichts Neues: „Vollendet waren der Himmel und die Erde, und all ihre Schar. Vollendet hatte Gott am siebenten Tag seine Arbeit, die er machte, und feierte am siebenten Tag von all seiner Arbeit, die er machte. Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, denn an ihm feierte er von all seiner Arbeit, die machend Gott schuf.“ (Gen 2,1–3; Übersetzung M. Buber/F. Rosenzweig)
Es wäre zu kurz gegriffen, im siebenten Tag lediglich einen Verweis auf die Unterbrechung der Arbeit zu sehen.8 In diesem Falle wäre das chronologische Schema zwar mit einer neuen Qualität versehen (6+1), aber nicht grundsätzlich durchbrochen. Der siebente Tag reicht weiter: Er bezeichnet nichts anderes als die Offenheit, die innere Verwandlung der Zeit selber. Die ersten sechs Tage bezeichnen eine Totalität an Geschehen, welches in sich vollkommen abgeschlossen ist. Der siebente Tag als festlicher Zusatz der Zeit schlägt in die immanent in sich beschlossene Sechs-Tage-Zeit eine Lücke, die verhindert, dass die Welt in reiner Immanenz aufgeht, gewissermaßen mit sich zusam Sehr schön wird dies gezeigt in Agamben, Giorgio, „Ochsenhunger. Betrachtungen über den Sabbat, das Fest und die Untätigkeit“, in: Ders., Nacktheiten, Frankfurt am Main 2010, S. 173–188.
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menfällt9. Radikal wird diese ursprüngliche Funktion des Sabbats durch den christlichen Sonntag (den „achten“ Tag als Steigerung und Verdeutlichung der Funktion des siebenten) verdeutlicht. Der Sonntag konnte, wie die sogenannte vorkonziliare Liturgie deutlich machte, mit jedem Wochentag zusammenfallen, öffnete aber den Wochentag hin auf seine festliche Tiefendimension. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der siebente Tag einen nicht chronologischen Zusatz, ein Supplement der Zeit bedeutet, welches die immanente Geschlossenheit der Zeit radikal transzendiert und öffnet. Er ist kein „weiterer“ Tag, sondern inmitten der anderen Tage deren nicht aus ihnen ableitbare Sinngebung und Neuschöpfung. Die anderen Tage laufen von selbst ab, folgen einer (chronologischen) Regel, während der siebente Tag sich dem Lauf der Schöpfung im letzten entzieht. In dem Moment, in dem er der willentlichen Kontrolle (der Natur, des Menschen usw.) unterläge, wäre seine Besonderheit beseitigt und die Zeit vollkommen immanentisiert. Der siebente Tag wird so auch zum kritischen Moment in Bezug auf eine rein immanente Welterklärung. Heute wird versucht, die Welt als lückenlosen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu fassen, als eine ständige Addition von positivierbaren Augenblicken. Was darin nicht vorkommen kann, ist Subjektivität, insofern diese nie vollkommen verobjektivierbar ist, immer in Differenz zur ihrer vollkommenen Präsentierbarkeit steht. Kein Mensch könnte eine lückenlose Biographie auch nur einer Sekunde seiner Existenz schreiben, denn erstens bringt jede gedanklich-sprachliche Aufnahme bereits eine rückblickende und vorausschauende Verschiebung und Veränderung des aufgenommenen Geschehens mit sich, zweitens bleibt immer eine Kluft zwischen dem Denkenden und Gedachten zurück. In diesem Sinne bewahrt der Gedanke des siebenten Tages die Zeit vor ihrem Zusammenfallen mit sich selbst und eröffnet damit überhaupt erst Subjektivität. Im Übrigen liegt darin auch das theoretische Defizit aller objektivistischen Zeitbetrachtungen, wie sie in der Astronomie, der Evolutionsbiologie und anderen Naturwissenschaften vorausgesetzt werden. Sie alle kommen darin überein, dass das Subjekt in einen objektivierbaren und quantifizierbaren Zeitstrom eingefügt werden kann. Dagegen ist zu betonen, dass das Phänomen Zeit weder auf einen „Strom“ noch ein Nacheinander von Momenten rückführbar ist, sondern aus der Differenz erwächst, in der jedes Subjekt zu sich selbst in seinem Weltbezug steht, insofern es sich selbst in keinem Bild und keiner Objektivierung einholen kann.10 Vgl. dazu auch Agamben, Giorgio, Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt am Main 2006. 10 Man könnte in diesem Zusammenhang auf Leibniz verweisen, der aufzeigt, dass das Subjekt nicht in der Zeit steht, sondern sich auf je bestimmte Weise „zeitigt“. Vgl. dazu Appel, Kurt, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008, S. 40–63. Kant spricht davon, dass die Form der Anschauung [in dem Fall die Zeit] nichts ist als „die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen seiner Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird, d. i. ein innerer Sinn seiner Form nach“ (KrV, B 67 f.) In dieser Passage bringt Kant Zeit und Subjekt in eine radikale Nähe, wobei erstere Entsprechung des Hiatus von Affizieren und Affiziertwerden innerhalb der Tätigkeit der Selbstaffektion des Subjekts ist. Besonders radikal bringt Maurice Merleau-Ponty diese Nähe zur Geltung: „[…] die Dimensionen der Zeit […] sind sämtlich in eins der Ausdruck eines einzigen Sprunges, eines einzigen Dranges, der nichts anderes ist als die Subjektivität selber. Wir müssen also die Zeit als Sub9
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In Bezug auf die Gottesfrage ist festzuhalten, dass der siebente Tag direkt auf Gott verweist, ihn also zum Ausdruck bringt. Dies bedeutet, dass Gott im wahrsten Sinne des Wortes „überflüssig“ und jenseits aller Notwendigkeiten11 und chronologischen Mechanismen weilt und nicht angeeignet werden kann. Der siebente Tag bildet keine Voraussetzung der anderen Tage, weder ontologisch im Sinne einer ersten Ursache noch transzendentalphilosophisch im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit ihrer Existenz, er ist nicht aus ihnen ableitbar, allerdings signiert er die Zeit mit einer radikalen Offenheit (Zu-kunft), aus der überhaupt der Sinn der Ex-sistenz erwächst. Zwei Philosophen seien genannt, deren Überlegungen deutliche Strukturparallelen mit dem Theologumenon des siebenten Tages aufweisen, nämlich Kant und Heidegger. Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft der Kausalität der Natur eine Kausalität aus Freiheit gegenüberstellt bzw. festhält, dass die „Wirkung […] in Ansehung ihrer intelligiblen Ursachen als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur angesehen werden [kann]“12, so bringt er die Grenze aller total(itär)en Verknüpfungsmöglichkeit unseres Verstandes zum Ausdruck. Damit verbunden ist die Tatsache, dass die Kausalität aus Freiheit nicht die Lücken zu schließen vermag, die sich in der Verknüpfung der Verstandessynthesis auftun, insofern diese bloß die Regel einer immer weiter fortschreitenden Verknüpfung angeben kann (regulativ ist), niemals aber die Totalität als solche zu erreichen vermag (also konstitutiv wäre). Kant weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Kausalität zu den dynamischen Kategorien zu zählen ist13, d. h. in ihr eine Verknüpfung von Ungleichartigem (Ursache – Wirkung) erfolgt. Hier ist nicht der Ort, auf diese Unterscheidung näher einzugehen, wichtig ist für unseren Gedankengang nur, dass in die völlig immanent scheinende Ursache-Wirkung-Verknüpfung eine Differenz eingeschrieben ist, die niemals zu überbrücken und „füllbar“, aber auch nicht als eigene Entität verobjektivierbar ist. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Heideggers später Schrift „Zeit und Sein“14. In dieser Schrift, in der Heidegger verschiedene Anläufe nimmt, die ontologische Differenz (auch „Ereignis“ genannt) zur Sprache zu bringen, d. h. die Zeit gerade nicht von der Anwesenheit und Verfügbarkeit her zu denken, fällt der höchst bedeutsame Satz, dass „der Versuch in ‚Sein und Zeit‘ § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, […] sich nicht halten [lässt]“15. Heidegger versucht hier einen Gedanken zu formulieren, der, wie gleich gezeigt werden wird, auch in der Bibel von großer Bedeutung ist, nämlich dass der tiefste Sinn des Raujekt, die Subjekt als Zeit begreifen.“ Vgl. Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 480. 11 Vgl. auch die Ausführungen Eberhard Jüngels zur Notwendigkeit Gottes: Jüngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 72001, S. 16–44. 12 KrV, A 537. 13 KrV, B 110; vgl. auch A 530. 14 Heidegger, Martin, „Zeit und Sein“, in: Ders., Zur Sache des Denkens (= Gesamtausgabe; Bd. 14), Tübingen 1969, S. 1–25. 15 Ebd., S. 24.
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mes in einer Aufspreizung und Öffnung besteht, in einem Bruch und einer Differenz des Geschehens, die niemals linear überbrückbar sind16.
2. Gott und die Offenheit des Raumes: Gen 2,4b–25 „JHWH Gott pflanzte einen Garten in Eden, ostwärts, und legte darein den Menschen, den er gebildet hatte. JHWH Gott ließ aus dem Acker allerlei Bäume schießen, reizend zu sehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ (Gen 2,8-9; Übersetzung M. Buber/F. Rosenzweig)
Die historisch-kritische Bibelexegese weist uns darauf hin, dass sich die zweite Schöpfungserzählung im Vergleich zur ersten einer anderen Tradition und Epoche verdankt. Wie immer dies auch im Konkreten sein mag, so ist doch festzuhalten, dass auf der Ebene des Endtextes beide Eingangserzählungen eng verwoben sind und miteinander in Dialog treten.17 Am Ende des ersten Schöpfungstextes tauchte als Höhepunkt der geheimnisvolle siebente Tag auf, den ich als Öffnung der Zeit zu interpretieren versucht habe, wobei auch die Frage offen blieb, was Gott eigentlich an diesem siebenten Tag feiert, worin das festliche und gute Moment seiner Schöpfung besteht18. Gott hält am Ende des sechsten Tages fest, dass die Schöpfung, die er gemacht hatte, „gut“ war, wobei dieses Wort in der folgenden Perikope wieder aufgenommen wird im Zusammenhang mit einem Baum. Bietet also der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse die Lösung, was das Gute ist, dass es zu feiern gilt? Im ersten Schöpfungstext wird eine Landschaft des Lebens vorgestellt, welche Gott den ankommenden Gästen bereitet, im zweiten ist der Leser nun in einen Garten als Ort festlicher Begegnung hineinversetzt. In der Geographie des biblischen Gartens verweisen die Bäume zunächst einmal auf ein Zentrum, nämlich auf den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens. Es wird damit die traditionelle Sonnensymbolik zum Ausdruck gebracht, d. h. Gott selbst ist durch den Lebensbaum dargestellt und er strahlt als aufgehende Sonne über den Garten aus. Wir haben also das klassische Szenario eines Zentrums, welches bis in den letzten Winkel der Peripherie hineinreicht und diese an der eigenen Fülle teilhaben lässt. Von daher ist es völlig klar, dass zunächst keinerlei Verbot ausgesprochen wird, vom Baum des Lebens zu essen. Allerdings wird dieses Szenario auf eigenartige Weise durchbrochen. Oft wurde bemerkt, dass dem Baum des Lebens ein Baum der Erkenntnis zur Seite gestellt wurde. Von daher scheinen meiner Meinung nach auch alle Ansichten zu kurz gegriffen, die Kants Raumkonzeption als überholt betrachten unter dem Hinweis, dass dieser die euklidische Geometrie als Vorverständnis mitführte. So sehr dies natürlich stimmt, so liegt doch Kants Auffassung vom Raum als begrifflich nicht einholbarer Anschauungsform jeder Raumkonzeption zu Grunde und ist gerade nicht auf die euklidische Geometrie limitiert. 17 Für eine ausführlichere Diskussion des zweiten Schöpfungstextes vgl. Appel, „Christentum als Sicht eines neuen Humanismus“; für eine detaillierte exegetische Untersuchung siehe Borgonovo, Gianantonio, „La grammatica dell’esistenza alla luce della storia di Israele (Gen 2,4b–3,24)“, in: Torah, S. 429–466. 18 Vgl. dazu Appel, „Christentum als Sicht eines Neuen Humanismus“. 16
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Wie aber stellt sich das Verhältnis dieser beiden Bäume dar? Wichtig zur Beantwortung dieser Frage ist das „und“, mit dem der Baum der Erkenntnis mit dem vorhergehenden Szenario verbunden ist. Es gibt den Garten mit den Bäumen, die Teil haben am Baum des Lebens „und“ den Baum der Erkenntnis. Dieses „und“ kann einerseits implizieren, dass der Baum der Erkenntnis dem Baum des Lebens zur Seite gestellt ist und seinen Ort ebenfalls in der Mitte des Gartens hat. Von diesem Gedanken her ist es dann verständlich, wenn die beiden Bäume immer mehr zu einem Baum verschmelzen. Allerdings kann das „und“ auch dahingehend verstanden werden, dass der „Baum der Erkenntnis“ in keiner Lokalisierung festmachbar ist, also gleich dem siebenten Tag eine Art Zusatz zum Gesamtszenario bildet. „Von allen Bäumen magst essen du, essen, aber vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von dem sollst du nicht essen, denn am Tag, da du von ihm issest, musst sterben du, sterben.“ (Gen 2,16b–17; Übersetzung M. Buber/F. Rosenzweig)
Das ursprüngliche Verbot betrifft das Essen vom Baum der Erkenntnis, d. h. dem Menschen ist zwar der Zutritt zur Quelle allen Lebens, dem Baum des Lebens, erlaubt, den Zusatz allerdings darf er nicht betreten. Was also gewahrt bleiben muss, ist ein Moment der Exterritorialität, eine Exzentrik und Versetzung der Inbesitznahme durch unseren Blick (und unser Begehren). Ohne dieses Moment hätte der Mensch völlige Verfügungsgewalt über das Leben, er wäre allmächtig, sein Blick und seine Erkenntnis wären total(itär).19 Ganz entscheidend ist die Aussage, die damit über Gott gewonnen werden kann: So wie in der ersten Perikope der siebente Tag das zeitliche Zeichen der Offenheit Gottes war, ist in der zweiten Perikope der Baum der Erkenntnis räumliches Zeichen dieser Offenheit. Auch er steht in Bezug auf die anderen Bäume, sowohl in deren Zentrum – wenn das „und“ als Beiordnung zum Baum des Lebens gelesen wird – als auch in deren Peripherie im Sinne eines nicht begehbaren Zusatzes. Ist in der klassischen theologisch-metaphysischen Tradition Gott das Zentrum allen Seins, ist die Situation hier komplexer. Gott ist gewissermaßen die Bewegung und der Übergang von Zentrum und Zusatz: Er ist weder peripher am Rande noch einfach die Sonne/das Sein im Zentrum, sondern Zentrum und Peripherie bilden einen ineinander übergehenden, nicht fixierbaren und vom Menschen nicht einnehmbaren Bereich. Wie sich im Folgenden zeigt, kann der Mensch diese Sphäre Gottes nur in dem Maß „betreten“, in dem er die Differenz und Entzogenheit zu wahren weiß. Der direkte Zugriff im Sinne einer totalen Verfügungsgewalt des Menschen über Gott, wie sie sich heute in vielen theologischen Gedankengängen zum Ausdruck bringt, führt genau zu dessen Verfehlung. Gott bildet eine Landschaft, die niemals direkt begangen werden kann, da jede direkte Vereinnahmung zum völligen Verlust („das Böse“ wäre als Gottesferne und absolute Gewalt des Menschen zu verstehen20) derselben führt. Auch die traditionellen Ontologien, selbst in ihren negativen Fassungen, wollen den direkten Weg ins Zentrum in den Blick nehmen. Gott wird dann als causa sui, als Erstur Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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sache, an der das Sein teilhat, als der Eine, der hinter allem steht und waltet, vorgestellt. Die große Wende erfolgt durch Kants Vernunftkritik und in weiterer Folge durch Hegel. Dessen erstes großes Hauptwerk, die Phänomenologie des Geistes, ist gerade nicht der metaphysische Schritt zurück hinter Kant, sondern das große Wissen um die Tatsache, dass das Absolute nur über den Weg einer Versetzung und „Umkehrung des Bewusstseins“21 zur Sprache zu bringen ist. Die ersten Kapitel der Phänomenologie des Geistes bis hin zur Religion handeln davon, dass das Subjekt sich in seiner Welt wiederzufinden trachtet – die Welt also als Spiegel des Selbst fungiert – und sich damit Halt, Identität und Macht geben will.22 Stationen dieses Selbstfindungsprozesses sind die sinnliche Gewissheit, die objektfixierte Wahrnehmung, der Verstand und seine Gesetzeswelt, die beobachtende und die praktische Vernunft, die Erotik, die sittliche Einbettung in Staat und Familie und nicht zuletzt die Geltungsansprüche des urteilenden Subjekts in der Bildung, im Glauben, in der Freiheit, der Moralität und dem Gewissen. Am Ende dieses ersten Durchganges der Phänomenologie macht das Bewusstsein die Erfahrung, dass es sich weder in der vereinnahmenden Beurteilung des Anderen noch in praktischen und moralischen (Selbst)vergewisserungen (Handeln, Verzeihung) eine letzte Verortung geben kann. Damit erfährt es einen radikalen Selbstverlust, der Ausgangspunkt der Religion ist. In der theoretischen Vernunft, gipfelnd in der Reflexivität des Aufklärungsprozesses und der dadurch ausgelösten Freiheitserfahrung, vermochte das Subjekt sich bereits von jeder Gegenständlichkeit zu lösen. Dadurch setzte es die europäisch-abendländische Geschichte in Gange, durch einen ungeheuren bis dato so nicht vorhandenen Abstraktionsprozess von allen (objekthaften) Bezügen historischer, kultureller und religiöser Art, in denen es sich vorfand. Das Subjekt hat sich auf diese Weise als radikale Negation seiner Umwelt und der es leitenden Traditionen wiedergefunden. Die Religion bedeutet in der Sicht der Phänomenologie des Geistes demgegenüber das Ende aller Projektionen, auch jener letzten großen europäischen Projektion, in der sich das Subjekt in Negations- und Distanzierungsvollzügen (in der Arbeit, in der Bildung, in der Freiheit usw.) gegenüber seiner Umwelt zu fassen meinte. Hegels radikale Figur einer Negation der Negation setzt genau da ein, wo sich das Subjekt weder positiv im Sinne einer direkten Selbstidentifizierung in bestimmten Sphären seiner Umwelt noch negativ in seinem abstrakten Distanzierungsprozess zu fassen vermag. Jede religiöse Ausdrucksform ist bei Hegel daher nicht eine direkte Darstellung des Absoluten, sondern die Symbolisierung eines völligen Zerbrechens jeder positiven oder negativen Selbstbespiegelung. Von daher sind bei ihm alle religiösen Ausdrucksformen Zeichen einer Differenz, eines Verweises auf das Andere des auf sich selbst und seine Welt reflektierenden Subjekts. Dies ist, wie noch angedeutet wird, auch der Bibel nicht Hegel, Georg W. F., Phänomenologie des Geistes (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke; Bd. 3), hg. von Moldenhauer, Eva / Michel, Karl Markus, Frankfurt am Main 1986, S. 68–81. 22 Für eine detailliertere Analyse vgl. Appel, „Christentum als Sicht eines Neuen Humanismus“. Für die Gesamtanlage der Philosophie Hegels, insbesondere der Phänomenologie des Geistes siehe Liebrucks, Bruno, Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes (= Bd. 5: Sprache und Bewußtsein), Frankfurt am Main 1970; Hegel, Phänomenologie des Geistes. 21
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fremd, wenn sie für Gott ein Tetragramm (JHWH) einsetzt, welches sich jeder Aussprache und unmittelbaren Bedeutungsgebung entzieht. Der berühmte Satz Hegels „Gott ist tot“, mit dem dieser das Kreuzesgeschehen und damit das Christentum (in lutherischer Tradition) zusammenfasst, bedeutet daher nicht, dass an die Stelle Gottes irgendein weltimmanentes Gesetz oder auch die reine Abwesenheit eines schreckenerregenden „Nichts“ gesetzt werden könnte – Hegel wehrte sich gegen Vorwürfe des Pantheismus (und Atheismus) –, vielmehr bezeichnet es das Ende eines göttlichen Prinzips, durch das sich der Mensch selbst absolut durchsichtig werden könnte und in dem sich der Mensch einen letzten absoluten Standpunkt verliehe. Hegels Dialektik, seine Negation der Negation, steht wohl als erster abendländischer Denkversuch (im Gefolge von Kant23) in engster Nähe zu jenem Gott, der in der Aufspreizung eines Raums zwischen Zentrum und Peripherie, gewissermaßen „innerhalb“ einer Versetzung und Verschiebung des Seins und der vom Subjekt anvisierten Ereignisse, jenseits jeder direkten In-den-Blick-Nahme „lokalisiert“ werden muss. Theologisch wurde diese „Gotteskrisis“ bisher zu wenig berücksichtigt, allerdings wäre das Diktum von Metz, dass die kürzeste Definition von Religion Unterbrechung ist, ohne diesen Hintergrund kaum verständlich zu machen.24
3. Gott und die Offenheit des Hinfälligen: Gen 4 Es wurde im vorhergehenden Kapitel angedeutet, dass der Sündenfall in der Tatsache besteht, dass der Mensch in der Besetzung der durch den Baum der Erkenntnis bezeichneten Offenheit sich selbst ins Zentrum rückt, von wo aus er allmächtig über sich, Gott und die Welt verfügen will. Absolute Verfügungsgewalt wäre in diesem Sinne das Böse, dem Gott den Tod gegenüberstellt. Der Tod ist nicht zuerst Strafe für das Vergehen des Menschen, sondern dasjenige, was ihn von der absoluten Verfügungsgewalt über sich und andere trennt. Wenn der Mensch daher am Ende der Sündenfallperikope nicht mehr vom Baum des Lebens nehmen darf, dann deshalb, weil er sich das Leben absolut, ohne Lücke und Entzug aneignen wollte. Interessant ist der Ausspruch der Schlange (Gen 3,5), dass der Mensch nicht sterben wird, wenn er vom Baum der Erkenntnis nimmt. Dies ist nicht einfach als Lüge zu Thomas von Aquin und mit ihm die theologische Denktradition denkt Gott sozusagen vom Baum des Lebens her, ohne die Verschiebungen des zweiten Baumes zu berücksichtigen. Auf diese Weise kommt es zur ständigen Aporie, dass, wie der Baum des Lebens alle anderen Bäume aufsaugte, auch der metaphysische Monotheismus ständig in den Pantheismus abgleitet, eine Konsequenz, die niemand luzider als Spinoza aufgezeigt hat. 24 Vgl. dazu Metz, Johann Baptist, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992, besonders S. 149–158. Vgl. dazu auch Metz, Johann Baptist / Reikerstorfer, Johann, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg im Breisgau 2006. Eine genaue Nachzeichnung der Genese des Denkens der Religion als Unterbrechung bei J.B. Metz bietet Mickovic, Ján Branislav, Den Widerspruch denken. Das Leidensverständnis in den Theologien von Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz, Freiburg im Breisgau 2014. 23
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verstehen – auch sonst beschreibt die Schlange sehr präzise und der Wahrheit entsprechend, welche Konsequenzen die Frucht des Baumes der Erkenntnis mit sich bringt –, vielmehr verbirgt sich eine Art geschichtstheologischer Fragestellung hinter dieser Prophezeiung: Wird es dem Menschen gelingen, die Offenheit des Erkenntnisbaumes zu schließen und die eigene Sterblichkeit, die sozusagen das letzte Moment ist, welches den Menschen von Allmacht und vollkommenem Selbstbesitz trennt, zu überwinden? Wird daher der Mensch in der Lage sein, das Sein in eine völlig immanente Entität zu verwandeln, ohne Gott und ohne die Transzendenz der Offenheit, oder wird ein letzter Differenzpunkt bestehen bleiben? Letztlich geht also die Wette dahin, ob der Mensch sich an die Stelle Gottes zu setzen vermag oder nicht. Alle diesbezüglichen Versuche mussten zuerst danach trachten, die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit zu überwinden, und davon handeln die folgenden Erzählungen der Bibel.25 Eva erwirbt von JHWH einen Mann, heißt es in Gen 4,1. Mit dem Erwerb von Kain beginnt das genealogische Denken, in dem der Mensch mittels Nachkommenschaft Unsterblichkeit erlangen will. Der lückenlose Ursache-Wirkungs-Zusammenhang hat, wie K. Heinrich wohl richtig vermutet26, seine Wurzel in dieser Denkform. Der Erstgeborene Kain steht für das Zentrum. Er, nach dem Bild Adams gezeugt (vgl. Gen 5,3), symbolisiert dessen Weiterleben und dessen erfolgreiche Selbstbespiegelung. Gegenüber Kain bildet Abel – gleich dem siebenten Tag und dem Baum der Erkenntnis – die dritte periphere Gestalt. Sein Name erinnert an die Hinfälligkeit des Windhauches, er ist der Vergängliche und genealogisch gesehen der Überflüssige, der eine potenzielle Gefahr für den genealogischen Zusammenhang des Subjekts und seines Bildes darstellt. Abel genießt als Repräsentant der Peripherie und als Zeichen des Zusatzes nicht nur das Wohlwollen JHWHs, sondern sein Tod leitet noch einmal eine fundamentale Änderung des Menschseins ein. Auf der einen Seite konfrontiert uns die Bibel mit der kainitischen Genealogie, aus der alle Kulturleistungen und Herrschaftssysteme, allen voran die Stadt, erwachsen (Gen 4,17–22). Auf der anderen Seite erfolgt nach Abels Tod eine alternative Lebensform, die sich in „Set“, dem dritten Kind von Adam und Eva, symbolisiert. Dieser „Setzling“ evoziert den Begriff des Ersatzes. Fortan gibt es neben der kainitischen Existenz, die Abbild der Genealogie, Fortschreibung des Eigenen ist, die Existenz als „Ersatz“ für das Schwache, hingeordnet also nicht auf selbstmächtiges Leben und die Kontinuität des Eigenen (wie Kain in Bezug auf Adam), sondern Sein-Für, Repräsentanz einer Abwesenheit, Zeugnis des unverfügbaren Opfers der Geschichte. Dieses Bild vertieft sich im Folgenden: Set wird ein Sohn geboren, nämlich Enosch (Gen 4,26), dessen Name ebenfalls den Menschen in seiner Hinfälligkeit evoziert27. Vgl. dazu Butting, Klara, „Abel steh auf!“, in: BiKi 58 (2003), S. 16–20. Ferner: Deibl, Jakob, „Theologisch-Sprachkritische Überlegungen im Ausgang von Bibel, Hölderlin und Rilke“, in: Preis der Sterblichkeit (in Erscheinung). 26 Vgl. Heinrich, Klaus, Parmenides und Jona, Basel / Frankfurt am Main 1992. 27 Jakob Deibl entwickelt in Anschluss an Gianni Vattimo theologische Konsequenzen für ein Denken aus der Perspektive der Verwundbarkeit und Endlichkeit menschlichen Daseins. Vgl. dazu Deibl, Jakob, Menschwerdung und Schwächung. Annäherung an ein Gespräch mit Gianni Vattimo. Mit einem Vorwort von Gianni Vattimo, Göttingen 2013. 25
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Von besonderer Bedeutung ist die Erwähnung, dass man damals begann, den Namen JHWHs auszurufen. Der Fall bestand in der Aneignung absoluter, lückenloser, damit aber auch unverletzbarer Existenz. Dagegen steht die Hinfälligkeit der Linie Abel-SetEnosch, deren Offenheit und Peripherie Verwundbarkeit impliziert. Genau mit dieser verbindet sich der Gottesname, dessen Entsprechung in der Ausgesetztheit für den Anderen, d. h. einem Sein-Für besteht.
4. Gott und die Offenheit des Gastes: Gen 18 „Und es erschien ihm [Abraham] JHWH am Zelteingang, während er sitzend war bei den Eichen von Mamre: Bei der Hitze des Tages erhob er seine Augen, als er schaute. Da siehe: Drei Männer stehend ihm gegenüber. Als er sie gesehen hatte, rannte er vom Zelteingang weg ihnen zu begegnen. Und er verneigte sich zur Erde und sprach: Mein Herr, wenn ich in deinen Augen Gnade gefunden habe, zieh nicht an deinem Knecht vorüber. […] Und JHWH sprach: Soll ich verbergen vor Abraham, was ich tue? Abraham, seiner soll werden ein mächtiger und großer Volksstamm, und Segen werden erlangen durch ihn alle Volksstämme der Erde, denn ich habe ihn dazu erkannt, dass er gebiete seinen Söhnen und seinem Haus, dass einhalten sollen sie den Weg JHWHs im Tun von Gerechtigkeit und Recht, auf dass JHWH kommen lasse über Abraham das, was er über ihn verheißen hat.“ (Gen 18,1–3; 17–19) „Und Mose sagte zu JHWH: „Doch du hast gesagt: ‚Ich erkenne dich beim Namen und auch hast du Gnade in meinen Augen gefunden.‘ Nun aber, wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, dann lass mich doch deinen Weg wissen, so dass ich dich erkenne, um Gnade in deinen Augen finden zu können.“ […] Und dann sprach JHWH zu Mose: „Auch dies, was du gesagt hast, will ich tun, denn du hast Gnade in meinen Augen gefunden und ich erkenne dich mit Namen.“ Und dann sagte er [Mose]: „Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen.“ Darauf sagte er [JHWH]: „Ich werde meine ganze Güte an deinem Angesicht vorüberziehen lassen und werde mich dir im Namen JHWH offenbaren […]. Und JHWH ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: JHWH JHWH, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue […].“ (Ex 33,12b–13a.17a; 34,6)
Die mit Set und Enosch verbundene Lektion wird seitens des Menschen immer wieder vergessen, die Linie Kains behält die Oberhand, wie sich bald an Hand des Turmbaus von Babel (Gen 11,1–9) zeigen wird. In ihm liegt, wie J. Ebach auf grandiose Weise herausgearbeitet hat28, ein großes Vereinheitlichungsprojekt bis in die Sprache hinein, was bereits in dem in den meisten Übersetzungen unterschlagenen Beginn der Perikope zum Ausdruck kommt: „Und es geschah: Die ganze Erde hatte ein und dieselbe Sprache.“ (Gen 11,1) Der Spracheintopf ist also nicht der Ausgangspunkt, sondern Ergebnis des kainitischen Projekts der Dominanz und des absoluten Machtanspruchs und Vereinheitlichungswillens. Das Problem besteht nicht in der Sprachenvielfalt, sondern in der Aufhebung aller Differenzen und der Auferlegung einer reduktionistischen Sprache („Sie sprachen ein Mann zum Genossen: Lasst uns Ziegel ziegeln“), die jeden Spielraum 28
Vgl. Ebach, Jürgen, „‚Wir sind ein Volk‘. Die Erzählung vom ‚Turmbau zu Babel‘. Eine biblische Geschichte in aktuellem Kontext“, in: Weltdorf Babel: Globalisierung als theologische Herausforderung, hg. von Collet, Giancarlo, Münster 2001, S. 20–43.
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ausschaltet. Letztlich stellt der Turmbau nichts anderes dar als den Versuch des Menschen, den Baum des Lebens nachzubauen, ein absolutes totales Zentrum zu errichten unter Ausschluss des „Zusatzes“ und aller „Verschiebungen“. Bekanntermaßen ist dieses Projekt gescheitert und man könnte sagen, dass „Gott“ auch die nächste Runde im Kampf des Menschen um die Erringung unverletzbarer Unsterblichkeit gewonnen hat. Resultat ist ein neues Aufblühen des sprachlich-kulturellen Pluralismus, wie er in der Genealogie von Gen 11,10–32 zum Tragen kommt. In dieser Genealogie tritt das erste Mal der erste große Protagonist der Heilsgeschichte auf, nämlich Abra(ha)m. Dieser ist nicht im Zentrum des Weltgeschehens, sondern steht im „äußeren“ Zweig der Set-Linie. Sein „Außenseiter“-Sein, seine Funktion als weiterer Zusatz und als Repräsentant der Peripherie zeigt sich im Auftrag, der in Gen 12,1–4 an ihn ergeht: Er muss seine Kultur und seine Genealogie verlassen, um fortan als Gast Träger des Heilsgeschehens zu sein. Mit der Figur des Gastes wird eine für die Bibel in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Kategorie eingeführt. Gen 18, in der die Figur des Gastes auftritt, nimmt einerseits für den Fortgang des Heilsgeschehens eine höchst bedeutsame Stellung ein, insofern Abraham und Sarah die Verheißung von Nachkommenschaft erfahren, andererseits ist sie, wie die oben angeführten Textausschnitte andeuten wollen, auch semantisch auf enge Weise mit dem Zentrum der Tora29, der Offenbarung des Gottesnamens JHWH verbunden. Gen 18, in vielen Übersetzungen mit eher fragwürdigen Überschriften versehen, die dem Geschehen Subtilität und Spannung nehmen30, berichtet auf feinfühlige Weise zunächst davon, wie Abraham, mittlerweile seit längerer Zeit weilender Gast im Verheißungsland, drei Fremde bedingungslos aufnimmt und als Gäste empfängt. Schrittweise enthüllt sich dabei die Tatsache, dass sich in den drei Gästen bzw. in der gastlichen Aufnahme und der an sie gebundenen Verheißung Gott selber offenbart. Dass Gen 18 vom Gastthema geprägt ist, zeigt auch der an die Aufnahme der drei Fremden anschließende Szenenwechsel, wo Lot, der der Gastlichkeit Abrahams nicht nachsteht und die Sakralität des Gastes sogar über die eigene Familie stellt, mit dem absolut ungastlichen Ort Sodom konfrontiert ist. Abraham nimmt die drei Fremden gastfreundlich auf, ohne nach deren Namen, Herkunft oder Ziel zu fragen, d. h. er vermeidet jede aneignende Identifizierung der vorbeiziehenden Gestalten. Damit wird er der Figur des Gastes auf besondere Weise gerecht. Auf herausragende Weise zeigt H. D. Bahr in seinem Buch „Die Sprache des Gastes“31 einige Besonderheiten dieser merkwürdigen, bislang wenig bedachten Figur auf: Der Gast entzieht sich der binären Einteilung Eigenes/Anderes und Immanenz/Transzendenz, in Vgl. Borgonovo, Gianantonio, „Per una nuova lettura del Pentateuco“, in: Torah, S. 215–317, besonders S. 217. Borgonovo weist mittels erzähl- und sprachanalytischer Methoden auf, dass Ex 32–34 nicht nur inhaltlich, sondern auch formal im Zentrum der Tora steht. Vgl. demgegenüber Zenger, Erich, „Die Tora/der Pentateuch als Ganzes“, in: Ders. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 1995, S. 39. 30 Die Überschrift in der Einheitsübersetzung lautet: „Gott zu Gast bei Abraham“, was ungefähr den gleichen Effekt hat, wie wenn bei einem Kriminalroman der Name des Täters im Titel des Buches stünde. 31 Vgl. Bahr, Hans Dieter, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig 1994. 29
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dem er gewissermaßen im Zentrum des Eigenen steht, ohne doch diesem anzugehören. Es ist auch zu beobachten, dass der Gast nicht als Eigenschaft, d. h. als mit einer Negation verbundene Qualität dienen kann – „gastlich“ ist immer der Gastgeber, niemals aber der Gast. Damit rückt eine Tatsache in das Blickfeld, die auch für „Gott“ und „göttlich“ gälte, allerdings in völliger Gedankenlosigkeit vergessen wurde, wenn „göttlich“ als Prädikation unter anderen diente. Der Gast ist ferner eine Figur, die nie bei sich ist, also dem narzisstischen Spiegelmotiv des Ich=Ich entgegengestellt ist. Es handelt sich bei ihm um eine Gestalt, deren Existenz an das Geschehen einer Aufnahme gebunden ist, die also nicht „an sich“ ist. Seit alters her wurde sie in engste Verbindung mit dem Heiligen gestellt, sodass Gastlichkeit, wie in Gen 18 angedeutet, sogar das heiligste Gesetz sein konnte. Mit dem Heiligen teilt der Gast den Umstand, dass er im Falle einer Aneignung (Profanierung) vollkommen (als Gast) zum Verschwinden gebracht wird. Von zentraler Bedeutung ist auch, dass der Gast als exterritoriales Moment im Eigenen dessen Offenheit bedeutet. Weiterhin sei angemerkt, dass der Gast von alters her Geschenke an den Ort seiner Aufnahme mitbrachte. Diese allerdings bringen nicht eine Logik des Tausches zum Ausdruck, vielmehr symbolisieren sie die Tatsache, dass der Gast sich selber schenkt und gibt und damit auch eine dialektische Verkehrung von Gast und Gastgeber statthat. Wir werden in seiner Aufnahme zu Gästen am Sich-Geben des Gastes, d. h. Gäste unserer Gäste, an ihren Erzählungen und ihren Darreichungen (d. i. ihrer Person). Theologisch kann kurz darauf hingewiesen werden, dass die Bibel mit dem Buchstaben Beta, also dem Symbol eines offenen Hauses, beginnt und die Tatsache in Erinnerung ruft, dass von einem Haus erst gesprochen werden kann, wenn dieses eine Offenheit aufweist, wenn es das Moment eines Übergangs von Eigenem und Fremdem kennt. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass Gott selber in der Bibel auf ganz entscheidende Weise als Gast zur Sprache kommt. JHWH, der Gott des Exodus, gastet im Bundeszelt und ist dabei als Gast auch Gastgeber seines Volkes. Auch Jesus wird in den Evangelien in vielen Geschichten als Gast dargestellt32. Es ist von keiner Wohnstatt Jesu die Rede, sehr wohl aber davon, dass er immer wieder als Gast zum Gastgeber seiner Gäste wird. Von daher ist es auch verständlich, dass sich Jesus in seiner letzten Lektion, die er als Lehrer gegeben hat, als endzeitlicher Weltenrichter mit der Figur des Gastes identifiziert (Mt 25,35). Es wurde bereits angedeutet, dass der biblische Gott immer als Beziehungsgröße fungiert: als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als Vater Jesu. Dies wird noch verdeutlicht durch die Figur des Gastes: Insofern Gott als Gast bei seinem Volk verweilt, bindet er sich an die Aufnahme. Es macht weder Sinn, von einem Gast an sich zu sprechen, noch wäre es eine korrekte Ausdrucksweise, davon zu sprechen, dass der Gast von den ihn Aufnehmenden „gemacht“ und „hervorgebracht“ wird. Vielmehr behält seine Figur immer ein Moment der Entzogenheit gerade in der Bindung an die ihn Aufnehmenden. Dies verdeutlicht noch einmal die Problematik, sowohl der Rede von einem „an sich seienden“ Gott, wie er als causa sui in der griechischen Metaphysik gedacht wird, 32
Auf ganz besondere Weise geschieht dies in der sogenannten Emmausperikope Lk 24,13–35, die als Fortschreibung von Gen 18 verstanden werden kann.
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als auch des Gedankens eines „abgeleiteten“, „verursachten“ oder „projizierten“ Gottes, der ja gerade durch ersteren Gedanken abgehalten werden sollte, weshalb christliche Theologie den metaphysischen Gedanken der „causa sui“ aufnehmen konnte. Der Gast allerdings quert beide Alternativen und zeigt seine Entzogenheit in der Aufnahme, was im Übrigen auch ein Grundmoment christlichen Betens darstellt, insofern Gott sich radikal an die Aufnahme des Betenden bindet, ohne dass dadurch die Entzogenheit einer (betenden) Vereinnahmung weichen dürfte. Philosophisch sei betont, dass das „zu Gast sein“ nicht nur zeitlich-existenziell das Grundmoment der Existenz ausmacht (jedes menschliche Leben ist zunächst zu Gast im Körper der Mutter). Das „Subjekt“ empfängt sich und andere auf gastliche Weise in der Sprache, der Überlieferung, in seinem Bei-sich-selbst-Sein und es ex-sistiert erst durch die Offenheit dieser Aufnahme/dieses Aufgenommenseins. In diese Richtung weist auch eine der großen Einsichten von Immanuel Kant, nämlich der Satz „Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können“33, der als Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption fungiert. Der hier angesprochene Begleiter ist niemals verobjektivierbar, wie nicht zuletzt das Paralogismuskapitel eindrücklich zur Darstellung bringt. Man kann fragen, ob das Motiv eines unseren denkenden Selbstvollzug begleitenden Zusatzes nicht eine säkularisierte Fassung der alten christlichen Vorstellung einer Begleitung durch „Engel“ darstellt, die das Individuum als nichtobjektivierbarer „Zusatz“ in die ureigene Berufung geführt haben. Wie immer dem sein mag, so konfrontiert uns das Gastmotiv auf genuine Weise mit jener Offenheit, die sich untrennbar mit dem biblischen Gottesnamen verbindet.
5. Gott und die Offenheit des Namens: Ex 33–34 Es wurde bereits festgehalten, dass das Ausrufen des Namens JHWH mit Enosch, dem Menschen in seiner Verletzbarkeit und Hinfälligkeit, in Verbindung gebracht wurde. In dem Hinweis, dass man mit Enosch begann, den Namen Gottes anzurufen, liegt zumindest auf der Ebene des Endtextes eine gewisse Merkwürdigkeit. Denn im Gegensatz zum sonstigen Text, der von den Masoreten, jüdischen Gelehrten des 1. Jahrtausends, zwecks Lesbarkeit sorgfältig vokalisiert wurde, behielt der Gottesname JHWH die reine Konsonantenform und wurde daher nicht ausgesprochen34. Auch die Septuaginta, die griechische Version des Alten Testaments, verzichtet auf eine Nennung des Gottesnamens und verwendet stattdessen die Bezeichnung „Kyrios“. Man könnte natürlich darauf hinweisen, dass das Nichtaussprechen des Namens historisch erst ab einem gewissen Zeitpunkt virulent wurde, allerdings ist, wenn der End33 34
KrV, B 131 f. Selbst in antiken Textzeugnissen stehen wir vor der Tatsache, dass die vier Konsonanten des Gottesnamens im Gegensatz zum sonstigen biblischen Text, der seit der Perserzeit in aramäischen Buchstaben überliefert wurde, die althebräische Form beibehielten und sich auf diese Weise vom sonstigen Text absetzten.
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text (sowohl in der hebräischen Version der Masoreten als auch in der griechischen Septuaginta-Version) als entscheidende Bezugsgröße genommen wird, grundsätzlicher zu überlegen, was das Anrufen eines unaussprechbaren Namens bedeutet. Dieses Problem begleitet jede Lektüre der Bibel, ganz besonders die des Psalters, der als Gebet gewordene Tora ganz im Zeichen der Anrede Gottes steht, ohne über dessen Namen zu verfügen35. Auf besondere Weise wird der Gottesname in der Tora zweimal im Zusammenhang mit Epiphanien thematisiert36, und zwar in Ex 3,14 und in Ex 34,6. Die erste der beiden genannten Stellen wird von Buber/Rosenzweig sehr feinfühlig folgendermaßen übersetzt: „Ich werde dasein, als der ich dasein werde“. Der „Gott der Väter“, also der Gott, der bereits mit einer ganz spezifischen Geschichte verbunden ist, legt seinen Namen in Richtung eines ebenso offenen wie beziehungsvollen Geschehens aus. Man könnte die genannte Stelle und die unabgeschlossene Zeit-Form des Satzes auch folgendermaßen übertragen: „Ich werde mich daseiend erweisen als …“ Der Leser ist konfrontiert mit der Offenheit eines Ereignisses, welches sich je neu konkretieren muss. Dabei steht diese Konkretion in einem Rückverweis zum Gott der Väter, also zu dem Gott, der Abraham und seiner Nachkommenschaft eine Bundeszusage gegeben, d. h. seinen eigenen Namen an deren Heil gebunden hat. In diesem Sinne kann man festhalten, dass der Gottesname radikal verbal zu verstehen ist, d. h. als Geschehen, welches um einen Bund kreist, in den der Leser als Nachkomme Abrahams hineingenommen ist und im Lichte von dessen Geschichte der JHWH-Name für zukünftige Konkretisierungen dieses Bundes geöffnet bleibt bzw. in diesen Konkretisierungen seine Bewahrheitung findet. Abraham wurde im ersten Buch der Tora aus der bestehenden Gesellschaftsordnung und Genealogie herausgeführt und empfängt in der daraus resultierenden Ausgesetztheit die Verheißung, dass er zum Zeichen des Segens für die Völker wird. In Ex 3 wird die unterdrückte und versklavte – sich im Gedenken der Väter formierende – gesellschaftliche Größe Israel in die Nachfolge der Gestalt Abrahams hineingenommen und erfährt seitens JHWHs die „Kenntnis seiner Schmerzen“ (Ex 3,7). Der sich herausbildende verletzt(e) „schreiende“ Körper Israels37 wird zum Erben Abrahams und erfährt eine Realisierung jenes Namens, welcher die Schirmherrschaft über Enosch bis hin zu Abraham und seinen Nachkommen innehatte. Diese Realisierung vollzieht sich konkret in einem das „Sklavenhaus Ägypten“ verlassenden neuen Exodusereignis (gewissermaßen den Exodus Abrahams weiterführend) und institutionalisiert sich, wie der den Exodus begleitende Dekalog (Ex 20,1–17) zeigt, in einer Gesellschaftsordnung, die auf Vgl. dazu Ps 36, wo dies in besonderer Weise reflektiert wird. Vgl. dazu Lohfink, Norbert, „Innenschau und Kosmosmystik. Zu Psalm 36“, in: Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg / Basel / Wien 1999, S. 172–187. Für eine theologische Reflexion im Anschluss des Gottesnamens vgl. Appel, Kurt, „Vom Preis des Gebets“, in: Ders. (Hg.), Preis der Sterblichkeit (in Erscheinung). 36 Eine eigene Epiphanie erfolgt auch in Ex 20–24, besonders in 24,10, allerdings wird in dieser Perikope nicht in expliziter Weise auf den JHWH-Namen reflektiert. 37 Johann Reikerstorfer arbeitet in seiner Theologie, ausgehend von der Theodizeefrage, den Schrei als Ort der Gottesoffenbarung aus. Vgl. Reikerstorfer, Johann, Weltfähiger Glaube. Theologisch-politische Schriften, Wien / Berlin 2008. 35
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ein solidarisches und egalitäres Miteinander des befreiten Gottesvolkes zielt.38 Was die Anrufung des unaussprechlichen Gottesnamens betrifft, gibt uns der Text von Ex 3 einen entscheidenden Schlüssel: Sie erfolgt im Schrei des gequälten Volkes und in dessen die Geschichte neu erzählender „Rückerinnerung“ an die Zuwendung und das Leben, welches den „Vätern“ in der Fremde zuteil wurde. Mit anderen Worten: Enosch und in dessen Gefolge das Volk des Sklavenhauses stellen bereits durch die Tatsache ihrer Verletzbarkeit, die sie von der kainitisch-pharaonischen Linie und ihren Konstrukten und Abschirmungen unterscheidet, den Ort der Anrufung des Gottesnamens dar. Dieser Linie folgt das Herzstück der Bibel, nämlich Ex 34,6: „JHWH JHWH, Gottheit, barmherzig, gnädig, langmütig, reich an Huld und Treue […]“. Es fällt auf, dass an dieser Stelle der Gottesname verdoppelt wird, was einerseits im Sinne eines Nominalsatzes gelesen werden kann, in tieferer Weise aber als Verdoppelung der Gottessignatur zu deuten ist, d. h. als besondere Gewichtung dieser Textstelle. Kontext von Ex 34 ist die Bundeserneuerung zwischen Gott und Israel, welches sich in der Abwesenheit von Mose von JHWH ab- und dem „goldenen Kalb“, also seinen eigenen Projektionen, zugekehrt hatte. Im Zuge dieses Verrats kommt es in Ex 33 zu einer tiefgründigen Begegnung von Mose und JHWH, die, wie im vorhergehenden Kapitel angedeutet, viele Stichwortverbindungen zu Gen 18 aufweist und deren zentrale Thematiken das (gegenseitige) Kennen des Namens, das Finden von Gnade und der Vorüberzug der Herrlichkeit JHWHs vor Mose (und dem Gottesvolk) sind. Auf fast enigmatische Weise ist in der sich zunehmend verdichtenden Begegnung von Mose und JHWH, noch vor der Offenbarung des Namens, die Rede davon, dass Mose nicht das „Antlitz“, sondern das „Hinten“ von JHWH sehen wird.39 JHWHs Kennen des Namens Mose (und Abrahams), der Vorüberzug JHWHs an Mose und seinem Volk – wobei bei diesem Vorüberzug, wie L. Schwienhorst-Schönberger feststellt, nicht zuletzt der Vorüberzug vor den Sünden mitgemeint ist – und die Sicht von JHWHs Herrlichkeit bereiten die höchste Form der Namensoffenbarung Gottes, die Kenntnis SEINES Namens vor. Der Leser tritt also in eine sich zunehmend steigernde Intimität zwischen JHWH und Mose ein. Abraham und Mose sind beide höchst verletzbare Figuren, deren Leben auf offene, „unerhörte“ Horizonte jenseits des genealogisch-familiären Ethos verweist, was sich bei Abraham bis hin zur Bereitschaft der Opferung seiner Genealogie in Gestalt Isaaks zum Ausdruck bringt. Gerade mit dieser Öffnungsbewegung auf das Offene der Zukunft hin verbinden sich ein Erkanntsein durch JHWH und ein zunehmender Eintritt in die Herrlichkeit seines Namens. Die merkwürdige Stelle, wonach Mose zwar die Herrlichkeit JHWHs, nicht aber dessen Antlitz sehen wird40, hat neben der bereits im Zuge des Sündenfalls begegnenden Prob Vgl. Zenger, Erich, Das Buch Exodus, Düsseldorf 31987. Zur Diskussion um die Frage nach der Möglichkeit der Sicht JHWHs, wie sie in Ex 33 f. thematisiert wird, vgl. Schwienhorst-Schönberger, Ludger, „Sehen im Nicht-Sehen. Mose auf dem Berg Sinai“, in: Gottes Wahrnehmungen. Helmut Utzschneider zum 60. Geburtstag, hg. von Gehrig, Stefan / Schneider, Stefan, Stuttgart 2009, S. 102–122. Eine etwas andere Position vertritt Dohmen, Christoph, Exodus 19–40 (= HThKAT), Freiburg im Breisgau 2004, S. 316–360, besonders S. 351 f. 40 Vgl. dazu Dohmen, Exodus 19–40, 349 f.; auf gegenüber Dohmen andere mögliche Akzentuierun38 39
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lematik, dass eine „frontale“ Konfrontation mit Gott diesen verfehlt und tödlich für den Menschen ist, auch die Dimension, dass die Beziehung mit dem Namen eine tiefere ist als eine Begegnung von Antlitz zu Antlitz. Unabhängig davon, ob die Sicht des „Hinten“ von JHWH eine stärker zeitliche Konnotation hat (Dohmen) oder ob man stärker akzentuiert, dass es sich um ein Gehen in der „Spur“ JHWHs in Richtung des Verheißungslandes handelt (Schwienhorst-Schönberger), ist das entscheidende Moment, dass die zeremonielle Distanz von Antlitz zu Antlitz, wie sie in den orientalischen Königshöfen üblich war, überwunden wird. Der JHWH-Name verbindet sich retrospektiv mit der Öffnung für die Hinfälligkeit und den Schrei des Menschen, prospektiv mit neuen Erfahrungen und Horizonten, nicht zuletzt in der Vision der Überwindung aller pharaonischen „Panzerungen“, und schafft Raum für eine berührbare Existenz, die intimer ist als eine distanzierte Begegnung zweier unabhängiger Subjekte sein könnte. Damit ist der Weg für die Offenbarung des JHWH-Namens, wie sie in Ex 34,6 zum Ausdruck kommt, vorbereitet. Die Barmherzigkeit als innerstes Moment des Gottesnamens, die darin zum Ausdruck gebracht wird, weist semantisch auf die Gebärmutter und die Eingeweide hin, d. h. es wird eine Beziehung eröffnet, die in die tiefsten körperlichen Regionen hineinreicht. Der Herrlichkeit JHWHs in seinem Namen korrespondiert ein gegenseitiges Sich-Öffnen bis in die innerste Existenz hinein. JHWH und seine Adressaten leben in einer Begegnungsstruktur, die im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht. Diese Dimension kommt auf paradigmatische Weise bei Jesus zum Ausdruck, der sich Not und Ängste seiner Schüler ebenfalls bis in die Eingeweide hineinreichen lässt (z. B. Mk 6,34; leider gibt die Einheitsübersetzung den Terminus „splanchnizomai“ mit dem affektarmen „Mitleid haben“ wieder) und damit zum authentischen Träger des JHWH-Namens wird. Zwei Aspekte sind im Zusammenhang der Barmherzigkeit zu erwähnen: Eine ihrer beiden Hauptdimensionen betrifft die bereits thematisierte Compassion41, das Sich-Öffnen auf den affektiven Gefühlshaushalt und das Leid des Anderen, die zweite die Schuldvergebung.42 Der Hauptaspekt der Schuld liegt dabei nicht in der Urteilsschwäche des Menschen und in dessen unzureichendem Handeln oder dessen „unvollständiger“ Liebe (wahre Liebe wird immer einen Aspekt der Unvollständigkeit haben; die Liebe, von der oftmals in der Theologie gesprochen wird, erscheint doch eher als monströse Angelegenheit, gewissermaßen als „böse“ Gnadenlosigkeit). Vielmehr besteht die Schuld darin, dass der Mensch die Schwäche, die Endlichkeit und die Ambivalenz seiner Existenz nicht anerkennen will. In diesem Sinne ist die Vergebung verbunden mit einem gen, die besonders das Moment der Barmherzigkeit und der Gottesbegegnung herausstreichen, weist Ludger Schwienhorst-Schönberger hin. Vgl. Schwienhorst-Schönberger, „Sehen im Nicht-Sehen“, S. 110–113. 41 Für eine Theologie der Compassion vgl. Metz, Johann Baptist, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg im Breisgau 2011. 42 Beide Dimensionen der Barmherzigkeit werden auf großartige Weise in Mk 2,1–12 zum Ausdruck gebracht. Vgl. dazu Appel, Kurt, „Die Ankunft des Messias im Text. Gedanken zur Messianität Jesu im Ausgang des Jesusbuches von Benedikt XVI“, in: Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion, hg. von Tück, Jan-Heiner, Mainz 2011.
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tiefen Blick für die Ambivalenz des menschlichen Daseins „zwischen“ Gut und Böse, Selbsterhalt und Selbsthingabe usw., für die menschliche Hinfälligkeit und Zerbrechlichkeit gerade auch in moralisch-praktischer Dimension. Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang der Schuld auftritt, ist die Zeitfrage. Wenn in Ex 34,7 von der „Gnade“ die Rede ist, die JHWH tausenden Generationen bewahrt, aber auch von Ahndung der Schuld dreier Generationen (so viele, wie in einem Haus damals zusammenlebten), ist damit die überbordende Fülle der Gnade, die alle vergangenen und zukünftigen Generationen umfasst, zum Ausdruck gebracht. Ebenso aber auch die Tatsache, dass Vergebung nicht bedeutet, eine Tat ungeschehen zu machen (deshalb die Schuldauswirkung auf drei Generationen43). Es geht dagegen um kleine Akzentverschiebungen, um neue Verbindlichkeiten, herantastende Berührungen und angebahnte Begegnungen, welche die Geschichte des Menschen zu humanisieren vermögen, die dazu beitragen, Vergangenheit neu deuten zu können. Der mit dem JHWH-Namen verbundene festliche siebente Tag eröffnet daher in der Feier des Lebens auch einen – ein klein wenig – anderen, „versöhnteren“ Blick auf die Vergangenheit. Er ist nicht zuletzt der Zusatz der Zeit, der einen unendlichen Deutungsspielraum ermöglicht, in der die Vergangenheit ihre letzte Härte und Gnadenlosigkeit verliert. Die Anrufung des Namens erwies sich in der nicht verleugneten Hinfälligkeit menschlicher Existenz, in der Intimität eines das Lebendige verbindendenden Empfindsamkeit und einer Compassion bis in die Eingeweide hinein, in die sich sozusagen der JHWH-Name in seiner Herrlichkeit einschreibt. Wenn er nicht ausgesprochen wurde, so auch, weil er eine Unterbrechung im Logos, in den Texturen und Verhärtungen unserer Welt darstellt. Es kann festgehalten werden, dass das göttliche Tetragramm quasi die Pause bezeichnet, die den Menschen innehalten lässt und den Eintritt in den biblischen Text und seine affektiven Landschaften ermöglicht44. Diese Funktion des JHWH-Namens kommt auf tiefe Weise im Johannesevangelium zum Ausdruck, wenn Jesus dort als „Tor der Rettung“ bezeichnet wird (Joh 10,9), d. h. als jenes Tor, welches den Zugang zum affektiven Raum schafft, der im JHWH-Namen gemäß Ex 34,6 zum Ausdruck gebracht wird.
In der Bibel ist auf grandiose Weise der Schuldzusammenhang (dessen Konsequenz, aber auch dessen Überwindung) von drei Generationen in Gen 37–50 thematisiert. Vgl. dazu den herausragenden Kommentar von Ebach, Jürgen, Genesis 37–50 (= HThKAT), Freiburg im Breisgau 2007. 44 Pierangelo Sequeri arbeitet seit vielen Jahren an der Entwicklung einer Theologie der Affektivität. Vgl. dazu seinen auf Deutsch erschienenen Beitrag Sequeri, Pierangelo, „‚Nur einer ist der Gute‘ (Mt 19,17). Theologie der Affektion als Umkehr der Ontologie“, in: Ästhetik trifft Theologie (= QD; Bd. 246), hg. von Arens, Edmund, Freiburg im Breisgau 2012, S.46–72. Vgl. auch Sequeri, Pierangelo, Sensibili allo spirito. Umanesimo religioso e ordine degli affetti, Milano 2001. 43
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6. Gott und die Offenheit des Körpers: Joh 20,19–30 „Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und als die Türen verschlossen waren, wo die Schüler waren, wegen der Furcht vor den Judaiern, kam Jesus und stellte sich in ihre Mitte, und er sagt ihnen: Friede euch! Und dies sprechend, zeigte er die Hände und die Seite ihnen. Es freuten sich nun die Schüler, sehend den Herrn. (Es) sprach nun zu ihnen wieder: Friede euch, gleichwie mich geschickt hat der Vater, schicke auch ich euch. Und dies sprechend, anhauchte er und sagt ihnen: Empfangt heiligen Geist; von welchen immer ihr erlasst die Sünden, erlassen werden sie ihnen, von welchen ihr behaltet, behalten sind sie. Thomas aber, einer von den Zwölf, der Didimos genannte, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Es sagten nun ihm die anderen Schüler: Wir haben gesehen den Herrn. Der aber sprach zu ihnen: Wenn nicht ich sehe an seinen Händen das Mal der Nägel und lege meinen Finger in das Mal der Nägel und lege meine Hand in seine Seite, nicht werde ich glauben. Und nach acht Tagen wieder waren drinnen seine Schüler und Thomas bei ihnen. Es kommt Jesus, während die Türen verschlossen waren, und er stellte sich in die Mitte und sprach: Friede euch. Dann sagt er zu Thomas: Bring deinen Finger hierher und sieh meine Hände und bring deine Hand und lege sie in meine Seite und nicht werde ungläubig, sondern gläubig. Es antwortete Thomas und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott. Es sagt ihm Jesus: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Selig, die nicht Sehenden und Glaubenden!“ (Joh 20,19–30; Übersetzung Münchner Neues Testament45)
Den johanneischen Schriften verdankt das Christentum tiefgehende Überlegungen über den Körper Gottes46. In der Offenbarung des Johannes wird wieder der Baum des Lebens thematisiert (Offb 22,2), der dem Menschen nach dem Fall unzugänglich wurde. Dies deshalb, weil seitens des Menschen versucht wurde, auf das Leben einen unmittelbaren und absoluten Zugriff, der keinen Entzug und keine Absenzen kennt, zu bekommen. In der Johannesoffenbarung ist das Szenario, in dem der Baum des Lebens wieder in die Mitte der Menschheit treten kann, auf das Engste mit dem geschlachteten Lamm Gottes und seiner Wunde verbunden. Das Leben bildet, symbolisiert durch Jesus als das Lamm Gottes, eine Sphäre der Verwundbarkeit, Ausgesetztheit, Berührbarkeit und Offenheit, die das zentrale Thema des „versiegelten“ Buches der Geschichte der Johannes-Offenbarung darstellt. Lesbar wird es durch die Wunde Jesu, das Kreuz und die in ihm zum Ausdruck gebrachte Annahme menschlicher Leidensgeschichten. Wunde bzw. Kreuz Jesu und die Geschichte der Menschheit, wie sie in der Bibel und auf ganz beson Die hier vorgelegte Übersetzung modifiziert die Satzzeichen am Ende. Denn die Satzzeichensetzung der letzten Sätze im Münchner Neuen Testament spiegelt zwar gängiges Vorverständnis wieder, ist aber nicht dem griechischen Original zu entnehmen. Das Münchner Neue Testament überträgt folgendermaßen: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt? Selig die nicht Sehenden und Glaubenden! Besonders der Kommentar von Roberto Vignolo zeigt auf, dass die letzten Sätze von Joh 20 nicht als Tadel des Thomas zu verstehen sind. Vgl. Vignolo, Roberto, Personaggi del quarto vangelo. Figure della fede in San Giovanni, Milano 2003. 46 Tiefgründige Reflexionen über den Körper Gottes, verbunden mit einer sehr interessanten Auslegung von Joh 20, finden sich bei Neri, Marcello, Il corpo di Dio. Dire Gesù nella cultura contemporanea, Bologna 2010. 45
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dere Weise in der Johannesoffenbarung verdichtet vorliegen, bilden auf diese Weise eine Einheit, eine Art affektiver Textur und zweite Haut, mit der sich der Leser bekleidet und die ihm den Zugang zum Gottesnamen eröffnet. Wenn in christlicher Ikonographie der Baum des Lebens mit dem Kreuz Jesu zusammengedacht wurde, entspringt dies genau der Tiefenstruktur des biblischen Textes. In der oben angeführten Perikope, die dem Ende des Johannesevangeliums entnommen ist, werden diese Überlegungen noch einmal vertieft aufgenommen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass heute die Aussage über die Fleischwerdung des Logos, welche die Eingangsthematik des Johannesevangeliums bildet, kaum mehr in ihrer Radikalität wahrgenommen wird. Sie bedeutet zunächst, dass der Logos gerade in seiner Verkörperung „bei Gott ist“ und „Gott ist“ (Joh 1,1). Wenn theologisch betont wird, dass die Verkörperung Gottes dessen Inkarnation in Jesus von Nazareth bedeutet, ist damit noch nicht der ganze Bedeutungsinhalt dieses Gedankens ausgeschöpft. Denn der entscheidende Gedanke, der gerade mittels Jesus erschlossen wird, besteht darin, dass Gott Körper ist, in körperlicher Präsenz beim Hörer des Evangeliums steht. In Joh 20,19–23 ist von einer Begegnung Jesu mit seinen Schülern die Rede, die zeitlich am Abend des ersten Tages situiert ist. Der Leser ist mit dieser Zeitangabe an den Anfang des Schöpfungswerkes zurückverwiesen, d. h. er wird, so ist zu vermuten, mit den Schülern, denen der auferstandene Jesus begegnet, zum Ort einer Neuschöpfung werden. Evoziert ist mit der Angabe „Abend“ aber auch noch die abendliche, todesverfallene Zeit, in der sich die Schüler befinden. Die nächste essenzielle Bemerkung lautet, dass die Türen „verschlossen“ waren. Dem JHWH-Namen und Jesus als Tor in die Schrift oder deutlicher gesagt als Eingang in eine Neuschöpfung durch die Schrift werden diese verschlossenen Tore gegenübergestellt, denen die Furcht des Schülerkreises Jesu korrespondiert. In einer radikalen Kontrastierung tritt Jesus, die verschlossenen Türen überwindend, in die „Mitte“ und bietet den Friedensgruß dar. Der Hörer dieser Perikope hat es also mit einem ersten Szenario der Öffnung zu tun: Jesus als Konkretion des JHWH-Namens überwindet die verschlossenen Türen und mit ihnen die Angst zugunsten des Friedens. Geht man davon aus, dass das Johannesevangelium eine Relektüre der gesamten Schrift (s.u.), nicht zuletzt auch der Synoptiker darstellt, so vollzieht sich mit dieser kurzen Bemerkung die Erfüllung des Benediktus-Gebetes am Eingang des Lukas-Evangeliums (Lk 1,68–79), wo verheißen ist, dass die Schüler Jesu ihm vor seinem Angesicht, gerettet vor den Feinden, Vergebung der Sünden erhaltend, furchtlos dienen dürfen. Uns begegnet also an dieser Stelle eine Eröffnung der Schrift auf ihre tiefste Sinndimension und eine Eröffnung des verschlossenen Raumes unserer Existenz auf die Ankunft des Messias hin. Diese Eröffnung wird dadurch verstärkt, dass Jesus seinen Schülern Seite und Hände zeigt, d. h. sie mit seinem gekreuzigten Körper konfrontiert. Die Schrift wird durch das Tor des JHWH-Namens, wie er in Jesus verbalisiert und Ereignis geworden ist, geöffnet auf die Wahrnehmung des verwundeten gekreuzigten Körpers47. Im nächsten Satz 47
Sebastian Pittl vertieft das Motiv der Wahrnehmung des verwundeten gekreuzigten Körpers in Anleh-
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ist zum ersten Mal das Leitwort des gesamten Textabschnittes Joh 20,19–29 genannt: das „Sehen“ der Schüler. Diese sind nicht einfach mit den „Zwölf “ gleichzusetzen, da letztere ausdrücklich durch Thomas repräsentiert werden (s.u.). Es ist vielmehr bei den „Schülern“ an alle zu denken, die Jesus nachfolgen, und v. a. an die Hörer des Johannesevangeliums, welches, wie noch näher zu zeigen sein wird, das Tor zur Schrift eröffnet. In der Sicht des Kreuzes, im Aufbau einer affektiven Beziehung zum zerbrechlichen und verletzbaren Körper vollzieht sich eine erste Sicht des Auferstandenen und damit Friede und Neuschöpfung. Von besonderem Interesse ist V 21. Dieser liegt in verschiedenen Textvarianten vor. In einigen ist davon die Rede, dass Jesus spricht, in anderen (wohl vorzuziehenden, vgl. die Version der Ausgabe von Nestle-Aland48) erfolgt eine ganz passivische Formulierung: „Es sprach nun zu ihnen wieder“. In diesen Versionen ist also Jesus nicht ausdrücklich als Subjekt genannt. Auch wenn durch den Folgesatz klar ist, dass dieses Sprechen mit Jesus in Verbindung steht, ist es doch von Bedeutung, dass hier das Subjekt quasi verborgen oder indirekt bleibt. Dies erinnert nicht nur an das göttliche Passiv, sondern zeigt auch die Tatsache an, dass der erneute Friedensgruß nicht mehr einfach von einem endlichen gegenüberstehenden Subjekt aus adressiert ist, sondern quasi den gesamten Raum erfüllt. Der Name Jesu und sein Sendungsauftrag vollziehen sich in einem alle Leser und Schüler umfassenden affektiven Raum, in dessen Zentrum, wie noch deutlicher zu sehen sein wird, der offene Körper des Kyrios ist. Die Anhauchung und der Empfang des Geistes bringen die nächste Eröffnung, nämlich diejenige des JHWH-Namens, in dessen Zentrum die Vergebung von Schuld und der Bund mit den (moralisch, physisch und sozial) verletzten Kindern Abrahams stehen. Mit Joh 20,24 vollzieht sich ein deutlicher Szenenwechsel.49 Im bisherigen Szenario stand Jesus einem nicht näher bezeichneten Schülerkreis, in dem sich der Leser wiederfinden konnte, gegenüber. Jetzt dagegen fällt das Augenmerk auf Thomas, einen der Zwölf. Es ist das einzige Mal im Johannesevangelium, dass auf den Zwölferkreis verwiesen wird. Damit wird die Art und Weise des Sehens der Leser des Johannesevangeliums, welche im Friedensgruß und in der affektiven Eröffnung der ersten Szene den Auferstandenen immer intimer erkennen durften, der Sichtweise der Zwölf, der historischen Weggefährten Jesu, gegenübergestellt, die naturalistisch-empiristisch geprägt ist, die also den Körper Jesu im Sinne einer unmittelbaren objekthaften Anwesenheit erfassen will. Der entscheidende Umschwung erfolgt in V 26 mit einer Zeitangabe: „Und nach acht Tagen […]“. In der ersten Sequenz hatte es der Leser mit der Öffnung eines „lokalisierbaren“ Raumes (gekennzeichnet durch verschlossene Türen) hin zu einem affektiven Raum zu tun. Jetzt tritt eine zeitliche Neuorientierung ein. Der Abend des ersten Tages verwies auf den Beginn der Schöpfung, aber in ihrer Dimension als abendliche, todesverfallene nung an Ignacio Ellacurías Theologumenon des gekreuzigten Volkes Gottes. Vgl. dazu Pittl, Sebastian, La realidad histórica del pueblo crucificado como lugar de la teología: Reflexiones sobre el lugar hermenéutico de la teología en el pensamiento de Ignacio Ellacuría, Madrid 2013, S. 97–118. 48 Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, hg. von Aland, Kurt und Barbara, Stuttgart 261979, S. 316. 49 Hier sei noch einmal auf das Buch von Neri, Il corpo di Dio verwiesen, in dem dieser sehr schön die verschiedenen Ebenen von Joh 20, was die Zeugenschaft Jesu betrifft, herausarbeitet (besonders S. 34–42).
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Schöpfung. Demgegenüber stellt der achte Tag (1+7) eine Neuschöpfung der Zeit und eine Radikalisierung des siebenten Tages dar. Mit dem „achten Tag“ erfolgt nach der Öffnung des Raums in der ersten Szene nun eine Öffnung der Zeit auf ihr eschatologisches Zentrum hin. Die Zeit verliert so ihre „Abbildbarkeit“ und Messbarkeit, ihre objektiv-chronologische Dimension. An diesem achten Tag erfolgt dann auch die neuerliche Ankunft des auferstandenen Jesus, der Thomas auffordert, die Hände in seine Seite zu legen. Von ganz entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass gerade nicht geschildert wird, dass Thomas der Aufforderung Jesu nachgekommen wäre, vielmehr ist seine Antwort viel tiefgründiger und grundlegender. Mit dem Satz „Mein Herr und mein Gott“ spricht er das höchste Bekenntnis in der gesamten Bibel aus. Nicht zufällig erinnert es an das Messiasbekenntnis des Petrus, des traditionellen Repräsentanten der Zwölf, und überbietet es sogar, denn die Sicht des Thomas verbindet sozusagen die physische Sicht des unmittelbaren Schülerkreises und die „geistige“ Sicht des Lesers des Evangeliums. Dabei kann gefragt werden, worauf sich dieses höchste Bekenntnis des Thomas gründet. Wäre es einfach Resultat einer physisch-empirischen Wahrnehmung gewesen, hätte sich nichts bewegt in diesem Text und der „achte“ Tag wäre nicht wirklich angebrochen. Demgegenüber ist zu akzentuieren, dass Thomas die verwundete Seite Jesu, also die Offenheit des jesuanischen Körpers geschaut hat. Er hat also nicht mehr „etwas“ erblickt, sondern die Offenheit des Körpers selber. Dem entsprechend ist auch der folgende Satz Jesu „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt“ nicht als Tadel für Thomas zu lesen, sondern als dessen Bestätigung. Sein Bekenntnis ist Ausdruck eines Glaubens, der von einer Öffnung der Sicht über die unmittelbare Anwesenheit eines Körpers hinaus zu dessen Offenheit handelt. Die abschließende Seligpreisung „Selig die nicht Sehenden und Glaubenden!“ fungiert dann als Unterschrift, als Signatur50 des Buches. Genau in der gläubigen Sicht des Körpers, welche die Unmittelbarkeit des Objekthaften (im Hegelschen Sinne) aufgehoben hat, wird sich der Logos des Evangeliums erschließen. Damit ist eine viel tiefere Sicht des Körpers überhaupt verbunden. Dieser ist kein Objekt, wie es viele unserer empfindungsresistenten Wissenschaften und Philosophien vermeinen, sondern, wie Maurice Merleau-Ponty in seinem Meisterwerk Phänomenologie der Wahrnehmung auf grandiose Weise herausgearbeitet hat, aufgespannt zwischen aktuellem und habituellem Körper, „das Vehikel des Zur-Welt-seins“51, die reine Offenheit auf Welt hin. In der Existenz des Jesus von Nazareth hat sich dessen Offenheit und SeinFür eingeschrieben und eingeprägt in den Wahrnehmungshorizont seiner Schüler. Der radikalste Ausdruck davon, „Erhöhung“ im wahrsten Sinne des Wortes, wurde dabei das Kreuz, in dem Jesu Körper ganz der verletzbaren und endlichen Existenz des Menschen geöffnet wurde. Diesen Blick nimmt Jesus selber hinein in das Bekenntnis „Siehe, der Mensch“ (Joh 19,5)52, welches die folgenden Variationen des Sehens, des Leitwortes des Kapitels 20, einleitet. Jeder Körper steht immer in einem Spielraum zwischen Prä Vgl. zum Begriff der Signatur Agamben, Giorgio, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt 2009. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 106 f. 52 Ich verdanke dem Mailänder Bibelwissenschafter Roberto Vignolo den Hinweis, dass das „Siehe, der Mensch“ nicht als Aussage des Pilatus, sondern als Selbstoffenbarung Jesu zu lesen ist. 50 51
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senzen und Absenzen; in jedem Gestus und jeder Bewegung weist der Körper über seine unmittelbare Präsenz hinaus, was etwa im Tanz auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. Auch das Körperorgan schlechthin, die Haut, ist reiner Durchgang, gerade in der Begrenzung des Körpers dessen Zur-Welt-Sein und Offenheit. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass Jesu Körper am Kreuz in der Ausgesetztheit auf sein Anderes verweist, dass die Immanenz des leidenden Körpers zur Signatur Gottes wird. Theologisch könnte man darauf hinweisen, dass Jesus gerade nicht eine unmittelbare pagane Inkarnation des Göttlichen darstellt, sondern in der Transparenz und Offenheit des empfindsamen Körpers Verweis auf Gott als das Andere seiner und nur in dieser Verweisstruktur Wohnstatt des „Vaters“ IST. Damit bildet er den Berührungs- und Durchgangspunkt, d. h. den Empfindungs-Spielraum – auch die Haut ist immer ein Spielraum von Empfindungen, der Durchgangspunkt von Eigen- und Anderswahrnehmung – zweier Sphären, die Gemeinschaft des aktuellen und des habituellen Körpers, des Menschen und Gottes. In diesem Sinne ist auch das Mitleiden Gottes kein äußerlich-sentimentales, sondern die Empfindung des sich öffnenden (und Berührung erfahrenden) Menschen wird zum Empfindungsraum des Körpers Gottes selber. Genau diese Empfindsamkeit ist es, die sich in der Auferstehung Jesu weitet vom Gekreuzigten hin zum Kreis der Schüler und Nachfolgenden, womit der Barmherzigkeit noch einmal eine tiefere und konkretere Dimension zukommt. Entscheidendes Medium der Verbindung dieses neuen affektiven und sozialen Körpers (Kirche) und damit des Körpers Gottes ist dabei, wie die johanneischen Schriften aufzeigen, die Offenheit eines Textes, fokussiert im Johannesevangelium.
7. Gott und die Offenheit des Textes In Mk 2,1–12 wird neben vielem anderen53 auch auf die Differenz hingewiesen zwischen der Art und Weise, wie Jesus die Schrift auslegt und wie dies die Schriftgelehrten tun. Jesus ist ganz bei seiner (Um)Welt präsent, in inniger, affektiver Nähe, und er ist durchdrungen von dem Textkörper der Schrift und ihrem barmherzigen Herzen, aus dem heraus er in der Kraft Gottes heilt und Sünden vergibt. Dagegen bleiben die Schriftgelehrten in sitzender, also unbeweglicher Distanz (Mk 2,6: „Es waren aber einige der Schriftgelehrten dort sitzend […]“) und ersetzen den affektiven durch einen objektivierenden Blick. Dies weist den Leser darauf hin, dass die Bibel nicht einfach als Aneinanderreihung vergegenständlichbarer Inhalte gelesen werden will, sondern eine affektive Landschaft darstellt, in welche der Leser eintritt und die er sich im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen lässt. In dieser Form der Annahme wird sie dem Leser gewissermaßen zur zweiten Haut, zu einem Körper sui generis und zur Kultur einer ganz besonderen Empfindsamkeit, aus der heraus die Welt sympathetisch-compassiv wahrnehmbar wird. 53
Zu einer Interpretation dieser Perikope vgl. Appel, Die Ankunft des Messias im Text.
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Im Johannesevangelium gibt es viele Signale für eine diesbezügliche Sicht. Bereits der Satz in 1,14 „und wir sahen seine Herrlichkeit […]“, nämlich die des verkörperten Logos, weist nicht zuletzt auf den folgenden Text dieses Buches als Ort der Begegnung der Herrlichkeit Gottes hin. Die Aufforderung Jesu in 2,37 an Andreas und einen anonym bleibenden Schüler (den Leser!) – beide kommen von Johannes dem Täufer her, der im Johannesevangelium als Repräsentant der Propheten des Alten Testaments fungiert, d. h. beide nehmen mit anderen Worten gesagt ihren Ausgangsort aus dem Schriftkorpus (des Alten Testaments) –, zu ihm zu kommen und zu sehen, lädt zu einem Eintritt in diesen Schriftkorpus im Lichte des JHWH-Ereignisses in Jesus ein. Von besonderer Bedeutung für die Frage nach Gott als Offenheit des Textes sind die Ausführungen ab Joh 14. Bis dahin werden sieben (Zahl der Fülle und Vollständigkeit!) paradigmatische Zeichen Jesu dargestellt, die dessen Existenz als Konkretion des JHWH-Namens deuten („ICH BIN“), wobei das höchste dieser Zeichen die Auferweckung des Lazarus darstellt, die Jesus als „die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,24) ausweisen. Joh 14, in dem gewissermaßen ein neues Zeichen, wiederum als Zusatz und Supplement zu einer in sich vollendeten Totalität, angekündigt wird, führt als Hintergrund den Weg Jesu zur Ausgesetztheit des Kreuzes mit, an dem Jesus verherrlicht, also zur Wohnstatt des Namens JHWHs wird. Diese Verherrlichung wird in der Sicht des Geistes möglich. Als das „achte“ Zeichen wird der Geist in zwei Aussagen thematisch, die in Joh 14 getätigt werden: „Amen, amen, ich sage euch, der an mich Glaubende, die Werke, die ich tue, auch jener wird (sie) tun, und größere als dieser wird er tun, weil ich zum Vater gehe.“ (Joh 14,12). Unmittelbar daran schließt sich die Ankündigung eines „Fürsprechers“ an, des Parakleten, des „Geistes der Wahrheit, den die Welt nicht aufnehmen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht erkennt“ (Joh 14,17). Was die erste Aussage betrifft, so wird man das „Größere“ der Werke, welches die an Jesus Glaubenden vollbringen, kaum quantitativ verstehen können (etwa in dem Sinne, dass sie noch mehr Tote auferwecken, Lahme heilen, Menschen mit Brot speisen, Wasser zu Wein wandeln usw.). Vielmehr ist das eigentliche größere Zeichen der Text des Johannes-Evangeliums selbst. In diesem wird die gesamte Tora als Herzstück des Tenach rekapituliert54 und auf die Ankunft der Herrlichkeit des Namens JHWHs hin geöffnet. Wie das JHWH-Tetragramm die Signatur eines Eintritts des Göttlichen in den Text, verbunden mit einer Unterbrechung des noetischen und affektiven Selbstverständnisses des Lesers markiert, so bezeichnet jetzt Jesus als das „Tor der Rettung“ (Joh 10,9) die Öffnung des Lesers und der biblischen Textlandschaft auf die Herrlichkeit des Gottesnamens, der Wohnstatt am gekreuzigten Körper Jesu nimmt. Darin liegt die besondere Bedeutung des Parakleten. Dieser eröffnet, wie Joh 20 anhand der Gestalten von Maria von Magdala (die eine zweimalige Wendung des Blicks erfährt, um dem Auferstandenen zu 54
Tatsächlich spannt das Johannesevangelium einen Bogen von der Schöpfungsgeschichte, also von Gen 1 (vgl. Joh 1,1), bis hin zur Schlussnotiz der Tora in Dtn 34 (vgl. Joh 20,30 f.), indem es Bezug auf die Zeichen und Erweise nimmt, die dort thematisiert werden. Vgl. dazu Vignolo, Roberto, „Raccontare Gesù secondo i quattro vangeli“, in: La figura di Gesù nella predicazione della chiesa, hg. von Angelini, Giuseppe, Milano 2005, S. 155–195, hier: S. 183.
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begegnen), des „anderen Schülers“ und von Thomas darzustellen sucht, die spezifische Sicht darauf, dass es sich beim gekreuzigten Körper nicht um einen positivier- und objektivierbaren Leichnam handelt und dass das Grab nicht makabre Aufbewahrungsstätte verlorenen Lebens ist, sondern dass das Grab auf einen Entzug und eine Abwesenheit verweist (vgl. 20,17) , aus der überhaupt erst die tiefere Dimension des Körpers ersichtlich wird. Dessen eigentliche Präsenz besteht in einem Spielraum von Anwesenheit und Abwesenheit, der „ersichtlich“ wird in dem Maß, in dem der „physische“ Körper (falls es so etwas überhaupt gäbe) über sich selbst hinausweist und sich einschreibt in den intersubjektiven, affektiven Körper der Mitempfindenden. Darüber hinaus ist der Paraklet – als größtes Zeichen! – der Verfasser des Evangeliums, d. h. derjenige, der diesen affektiven Körper in einen Text verwandelt, in dem die gesamte schriftgewordene Heilsgeschichte, d. h. die Bibel, hin auf die Sicht der Herrlichkeit des (Gottes)namens geöffnet wird. Der Paraklet weitet also Jesu Körper zu einem Textkörper, der niemals positiv ausfüllbar ist (Joh 20,30; 21,25: „[…] wenn geschrieben würde, was Jesus tat, nicht, meine ich, könnte die Welt fassen die zu schreibenden Bücher.“), sondern geöffnet bleibt auf einen Zeiten und Räume querenden gemeinsamen affektiven Raum, in dem die Herrlichkeit des JHWH-Namens präsent wird.
8. Die Trinität als Offenheit Gottes Diese Überlegungen haben nicht zuletzt entscheidende Bedeutung für das trinitarische Gottesbekenntnis: Jesus ist der Logos Gottes, der Kyrios, die Verwirklichung des JHWH-Namens, indem er – als festliches Ereignis, als Gast, als Ersatzexistenz (SeinFür), in der Verwundbarkeit und Ausgesetztheit seines Körpers, als Eröffnung eines affektiven Raumes der Liebe und als „Textlandlandschaft“ – als Verweis auf den Vater und Zeichen auf den Vater hin gesehen wurde. Diese Deutung ist aber nicht einfach dem JHWH-Namen und der Schrift im Sinne eines Algorithmus eingeschrieben. Es gibt keinen intellektuellen „Zwang“, keine immanente Notwendigkeit, aus der Textur der Welt im Allgemeinen und Jesu im Besonderen den Verweis auf den Vater herauszulesen. In diesem Sinne ist der Geist gleich dem siebenten Tag (als „achtes Zeichen“) ein Supplement. Er folgt keinen immanenten texthermeneutischen oder ontologischen Zwängen. So wenig aber die Bedeutung der Schrift (als Verweis auf Gott) unmittelbar aus dem Logos (des Textes) ableitbar ist, so wenig ist sie Folge eines rein willentlichen Aktes des „lesenden“ Subjekts. Vielmehr kann das Subjekt gerade im Eintritt in den Text Gedanken und Empfindungen wahrnehmen, die über all sein Vorwissen und über jeden Algorithmus hinausgehen. In diesem Sinne erfährt der Text durch den Geist eine Öffnung hin auf den Leser (das Subjekt) und der Leser (das Subjekt) hin auf den Text. Gegenüber beiden aber wahrt der Geist eine ebenso transzendente wie anarchische Dimension, da er alle Ableitungen und Inhalte überschreiten und verwandeln kann. Gerade diese anarchische, d. h. jeden Ursprung transzendierende Dimension des Geistes ist es auch, die auf den Vater verweist, der jedem ursprünglichen Denken entzogen ist.
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Im Christentum gibt es im Zusammenhang mit dem trinitarischen Bekenntnis die alte Formel „im Geist durch den Sohn (Logos) hin zum Vater“, was eine andere Bedeutungsnuance eröffnet als die ontologische Rede von einer innertrinitarischen vollendeten Beziehung, in der der Geist das Bindeglied der idealen Liebe Vater – Sohn/Logos darstellt. Dass „durch den Sohn/durch den Logos“ weist in den affektiven Raum eines Körpers, der, ausgehend von Jesus, sich weitet in den universalen Text einer affektiven Landschaft, die Räume, Zeiten und Personen quert und verbindet. Als hermeneutischer Ort, an dem die Auslegung des Logos stattfindet, wurde die Barmherzigkeit JHWHs (Ex 34,6) und in weiterer Verdichtung die Liebe (1 Joh 4,16b) erfahren. Die Agape als der Inhalt des Geistes transzendiert jede objekthafte, endliche und abschließbare Aussagbarkeit und vermag diese auch zu verwandeln und zu weiten. Der Geist der Liebe ist dem Logos weder äußerlich im Sinne eines „anderen“ Inhalts noch „springt“ er in einer Automatik aus demselben heraus. Vielmehr ist er jener fragile, leise und gefährdete Zusatz55, durch den sich der Logos weitet und zum Verweis auf den ANDEREN wird, der für einen zusätzlichen Moment unserem Körper nahezukommen und ihn zu berühren vermag und zur Signatur des OFFENEN wandelt.
Literaturempfehlung Appel, Kurt, Kants Theodizeekritik. Eine Auseinandersetzung mit den Theodizeekonzeptionen von Leibniz und Kant, Frankfurt a.M. 2003. Appel, Kurt, Entsprechung im Wider-Spruch. Eine Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der politischen Theologie des jungen Hegel, Münster 2003. Appel, Kurt, Zeit und Gott. Mythos und Logos der Zeit im Anschluss an Hegel und Schelling, Paderborn 2008. Preis der Sterblichkeit. Christentum und Neuer Humanismus (QD 271), hg. Appel, Kurt, Freiburg i.B. 2015.
Vgl. zu dieser Gefährdung des Absoluten Guanzini, Isabella, L’origine e l’inizio. Hans Urs von Balthasar e Massimo Cacciari, Pisa 2012. Isabella Guanzini setzt sich in diesem Buch kritisch sowohl mit der „Heilsgewissheit“ von Hans Urs von Balthasar als auch mit der Konzeption Cacciaris auseinander, die das Heil an das Tun des Menschen überantwortet. Sie entwickelt in ihrem Buch eine Geschichtstheologie, welche die Geschichte offenhält und in dieser Offenheit der Verletzbarkeit des Menschen gerecht wird. In diesem Sinne ist es zu hinterfragen, ob tatsächlich dem Menschen das gesamte Gewicht der Geschichte aufgebürdet werden kann oder ob nicht ein sich in ihr entziehendes Moment verborgen liegen mag, aus dem – wenigstens in entscheidenden Geschichtsumbrüchen – Hoffnung geschöpft werden kann. Diese darf allerdings nicht eine sich gegen konkrete geschichtliche Herausforderungen immunisierende Heilsgewissheit nach sich ziehen.
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„als ob man von Christus nichts wüsste“? Philosophisch-theologische Überlegungen zur Personalität Gottes Georg Essen, Bochum
1. Die Krise des philosophischen Theismus in der Sattelzeit der Neuzeit. Ein philosophiehistorischer Rückblick in systematischer Absicht Im Halbjahrhundert um 1800, der Sattelzeit der Neuzeit, stoßen wir auf Diskurskonstellationen, in denen das von jeher spannungsreiche Verhältnis von Philosophie und Theologie sowie von Wissenschaft und Religion im Bezugsrahmen der kritischen Philosophie Kants neu verhandelt wurde. Unter ihnen ragen drei Kontroversen hervor, die zweifelsohne zu den ganz großen geistesgeschichtlichen Debatten der Philosophie- und Theologiegeschichte gehören: der „Pantheismusstreit“ von 1785, der „Atheismusstreit“ von 1798/99 sowie der „Theismusstreit“ von 1811/12.1 Die Bedeutung dieser Streitsachen liegt darin, dass in ihnen das Thema verhandelt wurde, das im Mittelpunkt unseres Interesses steht. Stets ging es – in immer neuen Anläufen – um die gedankliche Fundierung und die vernunftförmige Ausweisbarkeit des Gottesbegriffs. Gewissermaßen als Katalysator war insbesondere Friedrich Heinrich Jacobi an allen Streitsachen beteiligt. In seinen Auseinandersetzungen, zunächst mit Moses Mendelsohn über Lessings angeblichen Pantheismus, dann mit Fichte über die vermeintlich atheistischen Konsequenzen der von diesem vorgenommenen Identifizierung Gottes mit dem Gedanken einer moralischen Weltordnung und schlussendlich mit Schelling über die Möglichkeit einer wissenschaftsförmigen Gotteserkenntnis und die inhaltliche Bestimmung des Gottesgedankens, stand ein Thema für Jacobi stets im Mittelpunkt seines Interesses: die Frage nach der Denkbarkeit des Begriffs eines personal verstandenen und deshalb zu Schöpfung und Offenbarung freien Gottes. Für Jacobi jedenfalls ist innerhalb des von Kant her eröffneten Denkraums diese Möglichkeit epistemologisch 1
Vgl. Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, hg. von Essen, Georg / Danz, Christian, Darmstadt 2012; Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Mit Texten von Goethe, Hegel, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u a. und Kommentar, hg. von Jaeschke, Walter, Hamburg 1999.
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verstellt. Die Gründe, die für Jacobis Positionierung ausschlaggebend sind, müssen uns nicht weiter interessieren; es genügt der Hinweis, dass Jacobi die in den diversen Systementwürfen seiner Zeit auf den Weg gebrachte Verklammerung von Vernunft- und Subjektbegriff dafür verantwortlich machte. Das Ergebnis lief Jacobi zufolge darauf hinaus, dass der Theismus, für den die Vorstellung der Persönlichkeit Gottes ebenso zentral ist wie die Denkbarkeit eines freien Weltverhältnisses Gottes, nachhaltig in die Krise geraten war. Er misstraute mithin der Faszination, welche die Philosophie des Spinoza auf seine Zeitgenossen ausübte, und begegnete der in ihr liegenden religionsphilosophischen Grundoption mit Skepsis. Sie sollte nämlich vor dem Hintergrund des in die Krise geratenen christlichen Gottesgedankens eine neue, der Vernunft selbst nachvollziehbare Gewissheit der Immanenz des Transzendenten eröffnen. Das Gegenprogramm, auf das Jacobi setzte, zielte darauf ab, auf die Vernunftförmigkeit des Gottesbegriffs zu verzichten und ihn stattdessen allen gedanklichen Vermittlungen zu entheben, was aber heißt, ihn der reflexionslosen Unmittelbarkeit des Gefühls zuzuordnen.2 Eine Erinnerung an die philosophisch-theologischen Streitsachen dürfte bereits deshalb sinnvoll sein, weil die Krise des klassischen Theismus, die in den zurückliegenden Jahren diagnostiziert wird, keineswegs neu ist3. Bis auf das nicht zu unrecht „Sattelzeit“ der Neuzeit genannte Halbjahrhundert um 18004 müssen wir offenbar zurückgehen, um das Ausmaß des grundlegenden Plausibilitätsverlustes zu erfassen, den der überlieferte Gottesgedanken und seine lehrmäßigen Bestimmungen in der Moderne erfahren mussten. Ein extramundanes Wesen, das mit übernatürlicher Kausalität in der Welt wirkt, ließ sich am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch schwer mit dem aufgeklärten Selbst- und Weltverständnis des Menschen vermitteln. Die bleibende Aktualität der damals geführten Debatten um die Persönlichkeit Gottes dürfte in der Tat darin liegen, dass die sich verändernde gesellschaftliche, kulturelle und soziale Realität in der Moder Vgl. Schick, Stefan, Vermittelte Unmittelbarkeit. Jacobis „salto mortale“ als Konzept zur Aufhebung des Gegensatzes von Glaube und Spekulation in der intellektuellen Anschauung der Vernunft (= Epistema; Bd. 423), Würzburg 2006. 3 Zu aktuellen Debatten, auf die ich im Folgenden nicht näher eingehen kann, Dogma und Denkform. Strittiges in der Grundlegung von Offenbarungsbegriff und Gottesgedanken (= ratio fidei; Bd. 25), hg. von Müller, Klaus / Striet, Magnus, Regensburg 2005; Persönlich und alles zugleich. Theorien der All-Einheit und christliche Gottesrede (= ratio fidei; Bd. 40), hg. von Meier-Hamidi, Frank / Müller, Klaus, Regensburg 2010; Müller, Klaus, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006. Zur neueren Monotheismusdebatte, die namentlich durch die religionspolitisch brisante Frage nach den Gewaltimplikationen der jüdisch-christlichen Gottesrede ausgelöst wurde, vgl. Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus (= QD; Bd. 196), hg. von Söding, Thomas, Freiburg 2003; Die Moral der Religion. Kritische Sichtungen und konstruktive Vorschläge, hg. von Wils, Jean P., Paderborn 2004; vgl. ferner Essen, Georg, Ethisch Monotheïsme en menselijke vrijheid. Theologische peilingen naar het pluralisme van de moderniteit/Ethischer Monotheismus und menschliche Freiheit. Theologische Annäherungen an den Pluralismus der Moderne, Nijmegen 2003. 4 Zum Sattelzeit-Theorem, das im Hintergrund der folgenden Ausführungen steht, vgl. Koselleck, Reinhart, „Einleitung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, in Deutschland, Bd. 1, hg. von Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart, Stuttgart 1972, XIII–XXVII, bes. XV–XIX; ders., „Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit“, in: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), hg. von Herzog, Reinhart, München 1987, S. 269–283; ders., Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977. 2
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ne ganz unmittelbar zum Subtext dieser Debatten gehört. Anders gewendet: Der Streit um die Persönlichkeit Gottes ist ein Streit um die Selbstdeutung des Menschen! Dieser Zusammenhang tritt mit aller Klarheit in der Position Fichtes zutage, mit der dieser den Gedanken der Persönlichkeit Gottes glaubte ablehnen zu müssen5. Es geht hier ja nur vordergründig um den Projektionsverdacht, dem zufolge die anthropomorphe Übertragung der Persönlichkeitsvorstellung auf Gott diesen verendlichen würde. Bei Fichte verliert der Gottesbegriff vielmehr seine prinzipientheoretische Stellung zur Begründung des religiösen Bewusstseins. Er ist stattdessen eine, wie man vielleicht sagen könnte, abgeleitete und mithin sekundäre Abstraktion, die sich allererst als Resultat einer Reflexion einstellt, mit der sich das religiöse Bewusstsein im Vollzug seines moralischen Handelns seiner selbst vergewissert. Die weitere Argumentation Fichtes muss uns nicht interessieren, wenn nur deutlich geworden ist, dass dem Subjektbegriff die epistemologische Funktion übertragen wird, den Gottesbegriff zu generieren. Damit aber dürfte nun zugleich hinreichend deutlich geworden sein, dass sich der Theorierahmen grundsätzlich ändert, in dem der religionsphilosophische Streit um die Persönlichkeit Gottes geklärt werden kann. Im Zentrum der seinerzeitigen Denkanstrengung steht nicht der Gottesbegriff als solcher, sondern der ihn fundierende Subjektbegriff. Das hatte, wie bereits angedeutet, Jacobi klar erkannt, aber darüber hinaus auch sein Kontrahent im Theismusstreit6. Sowohl in seiner Freiheitsschrift als auch in der Weltalterphilosophie legt Schelling dar, dass der Begriff der Freiheit mit dem der Persönlichkeit Gottes aufs engste miteinander verbunden ist7. Diese Einsicht begründet folgerichtig das Interesse, den Gottesbegriff im Rahmen einer philosophischen Begründung der menschlichen Freiheit zu bestimmen. Für Schelling kommt jedoch noch eine andere Überlegung hinzu, über die er sich mit Jacobi entzweit hatte. Weil es mit der bloßen Behauptung der Persönlichkeit Gottes nicht getan ist, muss nach einer wissenschaftlichen Begründung des infrage stehenden Theismus Ausschau gehalten werden. Das wiederum bedeutet, dass die prinzipientheoretische Bestimmung des Gottesbegriffs im Freiheitsgedanken die Anstrengung einfordert, den Gedanken der Persönlichkeit Gottes als solchen zu begreifen. Mit anderen Worten: Das Verständnis der Freiheit entscheidet darüber, in welcher Weise wir den Gottesbegriff inhaltlich bestimmen. Zu den Argumentationsfiguren, mit denen der späte Schelling die ebenso vernunftförmige wie begriffsexplikative Generierung eines personalen Gottesbegriffs begründet8, nur so viel: Der Grundgedanke besteht darin, dass die ihrer eigenen Kontingenz Zum Atheismusstreit vgl. Danz, Christian, „Der Atheismusstreit um Fichte“, in: Philosophisch-theologische Streitsachen, S. 135–213. 6 Vgl. Essen, Georg, „Der Theismusstreit (1811/12). Die Kontroverse zwischen Jacobi und Schelling über die ‚Göttlichen Dinge‘“, in: Philosophisch-theologische Streitsachen, S. 211–257. 7 Zu der hier vorausgesetzten Schellingdeutung vgl. vor allem Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie 1, Freiburg u. a. 2011, S. 360–374; Krüger, Malte Dominik, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie (= Religion in Philosophy and Theology; Bd. 31), Tübingen 2008; Meier, Frank, Transzendenz der Vernunft und Wirklichkeit Gottes. Eine Untersuchung zur Philosophischen Gotteslehre in F. W. J. Schellings Spätphilosophie (= ratio fidei; Bd. 21), Regensburg 2004. 8 Zu Schellings Begriff der Persönlichkeit Gottes vgl. Danz, Christian, „Der Gedanke der Persönlichkeit 5
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gewahr werdende Vernunft zu der Einsicht vorstößt, sich selbst nicht begründen zu können. Folglich könne sie ihrer eigenen Existenz wie der von ihr begriffenen Wirklichkeit einen, wie es bei Schelling heißt, unvordenklichen Grund lediglich voraussetzen. Daraus ergibt sich nicht nur die Einsicht in die Externalität des Sinnes für eine der Selbstbegründung nicht fähigen Vernunft, sondern es erlaubt auch Rückschlüsse auf die inhaltliche Bestimmtheit des infragestehenden Sinnbegriffs: Nur vollkommene Freiheit kann, so lautet die Kurzformel, Sinngrund und Sinnerfüllung der menschlichen Freiheit sein. Und desweiteren gilt, dass sich der unvordenkliche Grund in Freiheit dazu bestimmt haben muss, die Welt und den Menschen zu setzen. Denn die im Medium freier Reflexion erzeugte Kontingenzevidenz widerspricht der Behauptung, dass die Setzung von Welt und Mensch notwendig ist. Wichtig ist schließlich, dass die reinrationale Philosophie, welche die Idee Gottes als vollkommene Freiheit denkt, dem Denken nur die Möglichkeit eines wirklichen, zum Selbsterweis freien Gottes eröffnet.
2. Methodische Zwischenüberlegungen zur Verwendung des Theismusbegriffs Die bisherigen Ausführungen sind zur Gänze philosophischer Art gewesen und erfolgten in der Instanz autonomer Philosophie. Eine philosophiebereite Theologie, wie ich sie verstehe9, ist einerseits an einer Philosophie interessiert, deren Selbstständigkeit von der Theologie nicht angetastet wird; methodische Einhegungsversuche, wie sie uns z. B. in Rahners Transzendentaltheologie oder aber in Pannenbergs theologischer Universalhermeneutik begegnen, verfolge ich ausdrücklich nicht. Desgleichen aber bin ich als Dogmatiker an neuzeitlichen Philosophietraditionen interessiert, die ihrerseits die Selbständigkeit der Theologie in einer Weise unangetastet lassen, wie es der Eigenart des theologischen Wahrheitsbegriffs entspricht. Eben weil dessen Eigenart darin besteht, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens unableitbar geschichtlich gegeben und an die Form des geschichtlichen Gegebenseins bleibend gebunden ist, ist die Theologie an Philosophiekonzeptionen interessiert, die abweichend von Hegel das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung nicht im Medium einer Aufhebungsdialektik konzipieren. Für den uns interessierenden Zusammenhang ist vor allem von zentraler Bedeutung, dass mit Schellings Aufweis, die Idee Gottes als vollkommene Freiheit zu bestimmen, die Vernunft über die Wirklichkeit Gottes – hier bewegt sich Schelling ganz auf der Linie Kants –ausdrücklich nicht verfügt. Auch verbietet es der transzendentale Charakter der Idee Gottes aus ihr auf ein geschichtliches Offenbarungshandeln Gottes zu Gottes in Schellings ‚Philosophie der Offenbarung‘“, in: „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. von Buchheim, Thomas / Hermanni, Friedrich, Berlin 2004, S. 179–195; Hermanni, Friedrich, „Der Grund der Persönlichkeit Gottes“, in: Ebd., S. 165– 178. 9 Zum hier vertretenen philosophisch-theologischen Ansatz vgl. Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie I–II, Freiburg u. a. 2011; ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u. a. 2001.
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schließen. Wohl aber erlaubt ein solches Denken, Offenbarung und freie Mitteilung als primäre Prädikate des Gottesbegriffs anzusetzen. Diese wenigen Andeutungen zum epistemologischen Status der bisherigen philosophischen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass sie Kants transzendentalphilosophischer Begründung einer Differenz von Begriff, Sein, Denken und Erkennen von der Sache her folgen. Parallelen ergeben sich desgleichen im Bemühen, das Wissen transzendentalkritisch zu begrenzen, um Platz für den Glauben und die Freiheit zu schaffen. Die Linie von Kant auf den späten Schelling zulaufen zu lassen, ist nun aber für eine Theologie, die eine christliche sein will, geboten, sofern und weil sie vom Begriff der Offenbarung nicht lassen kann. Indem nämlich Schelling „alles Gewicht auf den freien Ursprung der Offenbarung legt und sie als die ‚Manifestation des allerfreiesten, ja persönlichsten Willens der Gottheit‘ begreift“, bietet er ja tatsächlich eine Alternative zu Hegels absolutem System.10 Die von Schelling her eröffnete Einsicht in die Differenz von Offenbarungs- und Vernunftwahrheit erzwingt jedoch eine Neubesinnung auf die Frage, auf welchem Wege sich unsere Aussagen über die Existenz und das Wesen Gottes gewinnen lassen und wie sie zu begründen sind. Die von Schelling auf den Weg gebrachte Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung erzwingt eine Korrektur der traditionellen Begründung von Aussagen über das Wesen Gottes. Die These, der ich mich im Folgenden zuwenden werde, lässt sich im Anschluss an Kants Theismusbegriff wie folgt zusammenfassen: Kant zufolge stellt sich der philosophische Theismus Gott als ein Wesen vor, „das durch Verstand und Freiheit der Urheber aller Dinge“ sei11. Zwar folgt auch der theologische Theismusbegriff dieser Definition, hält aber daran fest, dass die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte Jesu das sachliche Ausgangsdatum des christlichen Bekenntnisses zu dem Gott ist, der als von Welt und Mensch verschiedene Wirklichkeit der „Schöpfer des Himmels und der Erde“ ist. Zwar teilt der christliche Glaube mit dem Theisten, den Kant vor Augen hat, die Überzeugung, dass Gott ein „lebendiger Gott“ ist12. Aber das Wissen darum ist theologischerseits ein positiver, das heißt ein der Vernunft gegebener Inhalt. Dass Gott ursprünglich, dass er bleibend frei ist, ist eine Erkenntnis, die sich – wovon der alttestamentliche Gottesname in Ex 3, 14 beredt Zeugnis gibt – der unverfügbar freien Selbstgegenwart Gottes verdankt. Erst durch das unableitbar freie Offenbarungshandeln Gottes wird sein Wesen für uns zugänglich. Aussagen über die infrage stehende Personalität Gottes sind, mit anderen Worten, Gegenstand einer offenbarungstheologischen Begründung.
Pröpper, Anthropologie 1, S. 360–374, hier: S. 369. Zur Frage, ob Schellings Offenbarungsphilosophie den philosophischen Kredit nicht überzeichnet und wesentliche Gehalte, die zu denken er der positiven Philosophie überträgt, nicht faktisch dem Geltungsbereich einer systematischen Theologie zukommen, die in der faktisch ergangenen Offenbarung den Erkenntnisgrund ihrer Aussagen erblickt, vgl. ebd., S. 371–374; Meier, Transzendenz, S. 229–292. 11 Vgl. KrV, B 659–662. 12 Ebd. 10
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3. „… als ob man von Christus nichts wüsste“? Skizzen zur offenbarungstheologischen Begründung der Personalität Gottes Was mit der zuletzt genannten These im Einzelnen gemeint ist, möchte ich in mehreren Schritten ausführen und begründen. Dabei konzentriere ich mich einerseits auf die dogmatische Begründung der infrage stehenden Personalität Gottes. Andererseits reflektiere ich vor dem Hintergrund der hier vorausgesetzten Differenz von Offenbarungs- und Vernunftwahrheit auf das Verhältnis des philosophischen zum theologischen Gottesbegriff. Erstens! Dass Gott sich selbst durch sein unableitbares Offenbarungshandeln dem Menschen zu erkennen gibt, betrifft nicht allein die Erkenntnis seiner Existenz, sondern begründet zugleich die sein Wesen betreffenden Aussagen. Das methodische Verfahren, Wesensaussagen zu generieren, ist für die Theologie ein anderes als für den philosophischen Theismus, dem die personal konnotierten Eigenschafts- und Wesensbestimmungen im Rekurs auf die menschliche Selbsterfahrung und mithin per analogiam beigelegt werden. Theologisch verhält es sich stattdessen so, dass Aussagen über das Wesen Gottes unter Einschluss der diesem zugehörigen Eigenschaften aus Gottes Offenbarungshandeln zu erkennen sind. In methodischer Hinsicht ist, was die aussagenlogische Generierung des Wesensbegriffs betrifft, eine Einsicht entscheidend, welche der protestantische Theologe Hermann Cremer in der These festhält, dass „in der Offenbarung sich das ganze Wesen Gottes bethätigt und erschließt“. Und weiter heißt es bei ihm: Gottes Verhalten zu uns sei die „vollendete Bethätigung seines Wesens“.13 Zwar gilt nur für den Menschen, nicht jedoch für den freien Gott, der selbst schon erfüllte Liebe und darin vom Menschen nicht abhängig ist, dass er ohne die Selbstmitteilung von Freiheiten füreinander kein reales Selbst hat. Doch die Bedeutung der Geschichte Jesu als Ort der Anwesenheit der Liebe Gottes in ihr ermächtigt zur Aussage, dass sich Gott in Freiheit selbst dazu bestimmt hat, sich in dieser Geschichte wirklich als er selbst zu erschließen. Dass er in diesem Geschehen sein Wesen betätigt hat und es für uns darin offenbar geworden ist, führt schließlich auch zu jener Spitzenaussage johanneischer Theologie, dass Gott die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8). Wobei auch zu beachten ist, dass erst aufgrund von Gottes offenbarendem Handeln, durch das er uns sein Wesen erschließt, für uns bestimmbar wird, „was die Liebe ist, die nun ihrerseits legitim mit Gott identifiziert werden kann und muss“.14 Bevor ich auf den Satz „Gott ist Liebe“ näherhin eingehe, ist zweitens die Transformation der hier zugrunde liegenden Denkform eigens zu thematisieren, mit der der Cremer, Hermann, Die christliche Lehre von den Eigenschaften Gottes. Unveränd. Nachdr. d. Ausg. v. 1897, hg. von Burkhardt, Helmut, Giessen u. a. 1983, S. 33, S. 19. Zu den offenbarungstheologischen Voraussetzungen meiner Überlegungen vor allem Pröpper, Thomas, „Zur vielfältigen Rede von der Gegenwart Gottes und Jesu Christi“, in: Evangelium und freie Vernunft, S. 245–265, hier: S. 250–254; Pannenberg, Wolfhart, Systematische Theologie 1, Göttingen 1988, S. 424–429. 14 Barth, Karl, Die Kirchliche Dogmatik II/1, S. 310. Vgl. ebd., S. 306–334. 13
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Begriff der Wesensoffenbarung als Implikat von Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte Jesu gedacht werden kann. Wenn Karl Barth in scheinbarer Selbstverständlichkeit den Gedanken entfaltet, dass das göttliche Wesen das Sein Gottes in der Tat ist und zwar dergestalt, dass das in der Offenbarung für uns sichtbare Wesen, eben weil es seine Tat ist, ineins sein Sein ist, dann verdeckt Barth aber die philosophisch-theologischen Schwierigkeiten, einen solchen Gedanken überhaupt zu fassen. Diese Schwierigkeiten sind auf die traditionell-metaphysische Fassung des Gottesbegriffs zurückzuführen15, mit der nicht einsichtig gemacht werden konnte, wie der Zusammenhang zwischen Wesen und Handeln Gottes so gedacht werden kann, dass Gott sich in seinem geschichtlichen Handeln frei dazu bestimmt, sein Wesen für uns zu erschließen. Zudem führte der Rückgriff auf den hier vorausgesetzten Wesensbegriff zu dem Problem, die liebende Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen nicht in der Weise als seine Selbstmitteilung denken zu können, dass er in ihr sein Wesen erschließt und offenbar macht. Hinzu tritt die Schwierigkeit, Gott in seiner ewigen Selbstidentität als im Prozess seiner Heilsökonomie so gegenwärtig zu denken, dass sie wirklich etwas austrägt für die Identität seines ewigen Wesens. Ich belasse es bei diesen wenigen Andeutungen zur Problematik einer dogmatischen Denkform, die auf die These zulaufen, dass das zur Explikation der christlichen Glaubenswahrheit herangezogene Subjektdenken der Moderne offenkundig eine größere Affinität zu ihr aufweist als die metaphysischen Denkweisen früherer Epochen. Es sprechen mithin nicht nur fundamentaltheologische, sondern gerade auch dogmatische Gründe dafür, sich konstruktiv-kritisch auf das Subjekt- und Freiheitsdenken der Neuzeit einzulassen, um die Wahrheit des christlichen Glaubens in einer Weise zu explizieren, die ihrer Eigentümlichkeit entspricht. Der dritte Aspekt, auf den ich aufmerksam machen möchte, bezieht sich noch einmal auf die johanneische Spitzenaussage „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4, 8), die, so Wolfhart Pannenberg, „zu den ganz wenigen Worten der Bibel gehört, die explizit das Wesen Gottes definieren“.16 Es besteht exegetisch weitgehende Einigkeit darüber, dass dieser Satz nicht lediglich eine göttliche Eigenschaft, sondern das Wesen Gottes als Liebe bezeichnet.17 Nun hat dieser Satz „Gott ist Liebe“ in der neueren Theologiegeschichte eine Auslegung erfahren, die keineswegs unproblematisch ist. Auf dieses Problem aufmerksam zu machen, gehört essentiell zu dem mir gestellten Thema, weil es im Gefälle der subjekttheoretischen Denkform zu liegen scheint, mit welcher der christliche Gottesbegriff expliziert werden soll. Karl Barth nämlich ist in seiner Trinitätslehre Hegel darin gefolgt, Gott als absolutes Subjekt zu bezeichnen. Diese philosophische Vorentscheidung wirkt sich in der Gotteslehre, wie Barth sie in seiner Kirchlichen Dogmatik vorgetragen hat, dahingehend aus, dass er den Satz „Gott ist Liebe“ unvermittelt auf
Diesbezügliche Analysen zur Gotteslehre bei Thomas von Aquin finden sich bei Striet, Magnus, Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie ( = ratio fidei; 14), Regensburg 2003, S. 75–105. 16 Pannenberg, Systematische Theologie 1, S. 428. 17 Vgl. Prenter, Regin, „Der Gott, der Liebe ist. Das Verhältnis der Gotteslehre zur Christologie“, in: ThLZ 96 (1971), S. 401–413. 15
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Gott als Subjekt bezieht, auf „sein Lieben, d. h. seine Tat als die des Liebenden.“18 Der Grundgedanke Barths, auf den es mir an dieser Stelle allein ankommt, lautet wie folgt: Gott, so heißt es bei Barth, der sich uns in seiner Offenbarung als der Liebende mitteilt, begegne uns „als der Eine sondergleichen“19. Von diesem „Einen“ aber müsse deshalb in personalen Kategorien gesprochen werden, weil es zum Wesen der Liebe gehöre, wissend, wollend und handelnd gemeinschaftsstiftend beim Anderen zu sein. Damit ist Barth zufolge nicht nur der Begriff der Person als eines wissenden, wollenden und handelnden Ichs definiert20, sondern es verhält sich Barth zufolge so, dass Gott, der der personal „Eine“ ist, „Ich“ sei. Dabei gehöre es, immer noch Barth, zum Charakter des Ich-Seins Gottes, dass Gott das eine wissende, wollende und handelnde Ich ist; Gott sei „Einer, der Eine, das redende und handelnde Subjekt, das ursprüngliche und eigentliche Ich“.21 Man spürt förmlich die Defensivhaltung Barths, wenn er seine Ausführungen über Gott als den Liebenden mit dem Ausruf beendet: „Eben dieser eine Gott als der trinitarische ist, sei es denn: der persönliche“.22 Die Gründe, die Barth hier anführt, sind bekannt und haben vor allem mit Einschätzungen zum neuzeitlichen Personbegriff zu tun. Um die Konsequenz zu vermeiden, von Gott ein dreifaches Ich respektive ein dreifaches Subjekt auszusagen, will er auf die Redeweise von drei Personen verzichten und bevorzugt stattdessen die vielzitierte Formel vom „Sein Gottes in den drei Seinsweisen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“23. Bereits aus Zeitgründen kann ich die an dieser Stelle fällige trinitätstheologische Begründungsfigur nicht entfalten und muss mich stattdessen darauf beschränken, eine These von Wolfhart Pannenberg zu zitieren, mit der dieser Barths Trinitätstheologie kritisiert hat. „Zwar ist auch der trinitarische Gott ein einziger, und dieser eine Gott ist nicht unpersönlich. Aber er ist Person nur in Gestalt jeweils einer der trinitarischen Personen, weil jede der Personen der Trinität nicht allein ihr Personsein, sondern auch ihre Gottheit nur durch Vermittlung ihres Verhältnisses zu den beiden anderen hat.“24 Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/1, S. 309. Ebd., S. 320. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 319–334. 20 Ebd., S. 319. 21 Ebd., S. 333; vgl. Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/1, S. 378. 22 Ebd., S. 334. 23 Ebd., S. 333 f. 24 Pannenberg, Wolfhart, „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels“, in: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze 2, von Pannenberg, Wolfhart, Göttingen 1980, S. 96–111, hier: S. 110. Zu der im Hintergrund stehenden Trinitätstheologie, wie sie für meine theologischen Einlassungen zur Theismusproblematik grundlegend sind, vgl. Essen, Georg, „Keine Geheimniskrämerei. Warum die Trinitätstheologie so wichtig ist“, in: Streitfall Gott. Zugänge und Perspektiven (= Herder Korrespondenz Spezial 2-2011), S. 38–42; ders., „Durch Liebe bestimmte Allmacht. Zum Verhältnis von ökonomischer und immanenter Trinität“, in: Die Filioque-Kontroverse. Historische, ökumenische und dogmatische Perspektiven. 1200 Jahre nach der Aachener Synode (= QD; Bd. 245), hg. von Böhnke, Michael / Kattan, Assaad E. / Oberndorfer, Bernd, Freiburg u. a. 2011, S. 240–259; ders., Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie (= ratio fidei; Bd. 5), Regensburg 2001, S. 317–335. 18
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Der personale Gottesbegriff, wie er im christlichen Glauben beansprucht wird, verlangt folglich nach einer trinitätstheologischen Näherbestimmung. Diese aber ist keineswegs bereits dort geleistet, wo theologisch oder philosophisch der Begriff des einen persönlichen Gottes als innere Differenzierung seiner sich dreifach selbst entfaltenden Subjektivität ausgelegt wird. Ein solches Argumentationsverfahren ist, von theologischen Fragen noch ganz abgesehen, methodisch hochproblematisch. Das Problem, auf das es mir hier ankommt, besteht in der philosophischen Methode der Ableitung der Trinität aus einem vorgegebenen Begriff göttlicher Einheit. Die theologisch intrikate Konsequenz besteht darin, dass die Trinität hier lediglich als nachträgliche differentia specifica einer vortrinitarischen Einheitskonzeption erscheinen muss. Die nicht zufällig mit Anselm von Canterbury einsetzenden Trinitätsansätze dieser Art kranken daran, dass sie „remoto Christo“ konzipiert werden, „als ob man von Christus nichts wüsste“25. Es gehört ja zu den Merkwürdigkeiten der traditionellen dogmatischen Traktatarchitektur, dass die Zweiteilung der Gotteslehre in die Traktate „De Deo uno“ und „De Deo trino“ einerseits zur Folge hatte, dass die Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften im Traktat „De Deo uno“ angesiedelt und philosophisch abgehandelt wurde. Nach offenbarungstheologischen und insbesondere christologischen Begründungsfiguren suchen wir hier vergeblich! Darüber hinaus und andererseits hatte die Trennung beider Lehrstücke zur Folge, dass sich die Aussagen über Wesen und Eigenschaften Gottes begründungslogisch nicht auf den dreieinigen Gott bezogen. Dieses methodische Verfahren ist für die Personalität Gottes insofern nicht folgenlos, weil in seinem Gefälle die Frage, in welcher Weise der Personbegriff dem Gottesbegriff zugeordnet werden muss, auf eine Weise beantwortet wird, die theologisch problematisch ist: Sie soll gewissermaßen allen trinitarischen Differenzierungen vorweg behauptet werden. Aufgrund dieser theologischen Vorentscheidung wird freilich die Einsicht verdeckt, dass der christliche Gottesbegriff ein trinitarischer ist und zwar als reflexer Ausdruck der geschichtlich erfahrenen Selbstoffenbarung Gottes. In methodischer Hinsicht wird durch das traditionelle Argumentationsverfahren der Dogmatik wiederum verdeckt, dass sich der christliche Gottesbegriff einer Erkenntnis verdankt, die darauf beruht, dass Gott durch sein unableitbar freies Offenbarungshandeln sein Dasein als der dreifaltig Eine für uns erschlossen hat. Sowohl der hier vorausgesetzte Begriff der Einheit wie der der Trinität müssen im Rahmen der Offenbarungstheologie begründet werden. Folglich ist er denn auch der Ort, um die Frage nach der Personalität Gottes theologisch zu beantworten; die Trinitätstheologie ist der Ort, an dem der christliche Begriff der Personalität Gottes zuallererst seine inhaltliche Bestimmung erfährt. Damit bin ich viertens bei der These angelangt, dass diese zuletzt entfalteten Ausführungen zur methodischen Begründung der christlichen Rede von der Personalität Gottes eine Korrektur des traditionellen philosophischen Begründungsverfahrens erzwingen. Dem philosophischen Gottdenken, das den Gottesbegriff als Abschlussge25
Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo – Warum Gott Mensch geworden, Darmstadt 41986, 2 f. (praef.).
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danken der Vernunft und zwar näherhin als existentiell relevanten Sinnbegriff kennt, fällt im Rahmen einer philosophiebereiten Theologie die Aufgabe zu, im Gottesbegriff selbst die Minimalbedingungen auszuweisen, die dann ihrerseits aussagenlogisch als Gegenstand der affirmativen, auf Offenbarung beruhenden Zuschreibungen des göttlichen Wesens fungieren.26 Dieses methodische Verfahren zielt, mit anderen Worten, ausdrücklich nicht darauf, das theologische Interesse an einem philosophischen Gottesbegriff preiszugeben. Das philosophische Gottdenken ist für die dogmatische Gotteslehre unverzichtbar, vorausgesetzt nur, sie verortet sich in dem methodischen Terna einer dreifachen Aufgabenstellung dogmatischer Theologie27. Der affirmativen Antwort auf die quaestio facti – der Frage nach der Wirklichkeit der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte – sachlich vorzuordnen ist die philosophische Frage nach der theoretischen Denkbarkeit des theologischerseits in Anspruch genommenen Gottesbegriffs. Von diesem Möglichkeitsaufweis für die Wahrheit des christlichen Glaubens noch einmal zu unterscheiden ist der ebenfalls in der Instanz der Philosophie zu führende Relevanzaufweis, der zu klären hat, dass der Mensch für Gott ansprechbar und dessen heilshafte Selbstzusage existentiell bedeutsam ist. Was nun die theoretische Aufgabe betrifft, den Möglichkeitsaufweis für die Wahrheit der christlichen Gottesrede zu führen, so dürfte sie mit der Einführung des Begriffs Gottes als Idee vollkommener Freiheit, deren Klärung ich im ersten Teil meines Beitrages ja bereits vorgenommen habe, wenigstens so weit geleistet worden sein, wie es im Rahmen meiner Ausführungen möglich ist. Nicht nur die theoretische Möglichkeit einer von Gott und Welt unterschiedenen göttlichen Wirklichkeit ist so eröffnet, sondern ebenso die Denkbarkeit der Freiheit des möglichen Gottes. Desgleichen kann einsichtig gemacht werden, dass Offenbarung und freie Mitteilung primäre Prädikate des Gottesbegriffs sind. Schließlich gilt, dass der Gottesgedanke der freien Vernunft den Gottesbegriff nicht restringiert auf die Vorstellung von Gott als einer individuellen Einzelpersönlichkeit, die aufgrund ihrer monadischen Selbstverschlossenheit keine realen personalen Unterschiede in sich selbst kennen würde. Auch hier gilt freilich, dass die Idee Gottes als vollkommene Freiheit als Inbegriff von Minimalbedingungen für die christliche Rede von Gott eingeführt wird, der den Vorzug genießt, als „bestimmungsfähige und -bedürftige Grundbestimmung“ in theologische Aussagen einzugehen, die Ein solches Begründungsverfahren ist innerhalb der Dogmatischen Theologie selten mit methodischer Strenge ausgearbeitet worden. Vgl. Pröpper, Thomas, „Gott hat auf uns gehofft. Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas“, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, von Pröpper, Thomas, Freiburg u. a. 2001, S. 300–321, hier: S. 316–318; ders., Theologische Anthropologie 1, Freiburg u. a. 2011, S. 584–656, bes. S. 599–613; Pannenberg, Systematische Theologie 1, Göttingen, 1988, S. 424–429; vgl. Striet, Offenbares Geheimnis, S. 213–264. Vgl. darüber hinaus Kuhn, Johannes, Katholische Dogmatik. Bd. 2: Die christliche Lehre von der göttlichen Drei einigkeit, Tübingen 1857, der ein solches Konzept am Leitfaden der Unterscheidung von „abstraktem“ und „konkretem“ Monotheismus“ entfaltet hat. Vgl. Essen, Georg, „‚Aufruhr in der metaphysischen Welt‘ – Notwendige Distinktionen im Begriff des Monotheismus“, in: Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube (= QD., Bd. 210), hg. von Striet, Magnus, Freiburg u. a. 2004, S. 236–270. 27 Vgl. Pröpper, Thomas, „Zur theoretischen Verantwortung der Rede von Gott. Kritische Adaption neuzeitlicher Denkvorgaben“, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft, S. 72–92, hier: S. 74 f.
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materialiter die Beschreibung der Wirklichkeit Gottes, die sich durch sein geschichtliches Handeln bekundet, konstituieren28. Anders formuliert: Der philosophisch erstellte Minimalbegriff, der wesentlich den Gedanken einer welttranszendenten Freiheit des möglicherweise existierenden Gottes festhält, geht „in durchaus konstitutive[r] Weise in alle theologischen Aussagen ein […]“. Es ist eben der als Freiheit gedachte Gott, der nach einer persontheoretischen Näherbestimmung des Gottesbegriffs verlangt. Als freiheitstheoretisch eingeführter Sinnbegriff wird Gott als freie Subjektivität, das heißt als durch sich und in sich selbst bestimmte Persönlichkeit gedacht. Und doch geht die Theologie ihrerseits über diesen Minimalbegriff hinaus, eben weil sie aufgrund ihrer eigenen, im Offenbarungsbegriff festgehaltenen Quellen „noch mehr und noch anderes sagt, als was sich Menschen letztlich auch selbst sagen könnten“29. Dass freilich der besagte Minimalbegriff weiterbestimmt wird und zwar so, dass sein gedachter Gehalt als wirklich affirmiert gelten kann, geschieht nicht mehr kraft der Vernunft, „sondern aufgrund kontingenter Erfahrung, in deren unableitbarer Gegebenheit ihr spezifisches [sc. durch Offenbarung ermöglichtes; G.E.] Wissen fundiert ist und die Freiheit des handelnden Gottes sich spiegelt“.30 Folglich verdankt sich die christliche Rede von Gottes Personalität einem Wissen, das aus Gottes freier, durch Selbstbestimmung verfügter Zuwendung stammt. Als affirmativ-positive Rede vollzieht sie sich als auf geschichtlichen Erfahrungen beruhenden Wesens- und Eigenschaftszuschreibungen. Es ist mithin die im Glauben erfahrene Geschichtsmächtigkeit Gottes, die den Begriff der Persönlichkeit Gottes verlangt. Dabei gilt es zu beachten, dass das Geschichtshandeln Gottes, in dem er – in der Gestalt Jesu wie im Heiligen Geist – sein Sein und sein Wesen für uns offenbar gemacht hat, die Aussage verlangt, dass seine Personalität darin besteht, die wechselseitig sich freilassende Liebe der drei Personen Vater, Sohn und Geist zu sein. Diese Aussage aber ist das Resultat einer dogmatischen Ausarbeitung der Lehre von der Personalität Gottes, die in der Trinitätstheologie geschieht.
4. … als ob Schleiermacher Musil gelesen hätte. Zur anthropologischen Relevanz des christlichen Theismus Die theologische Bezugnahme auf die Philosophie kennt über die gerade skizzierte Aufgabe, den Gottesbegriff denkerisch zu sichern, hinaus, die ebenfalls philosophisch einzulösende Aufgabe, die anthropologische Relevanz der christlichen Gottesrede, ihre humane Bedeutsamkeit aufzuweisen. Dazu einige Ausführungen, mit denen ich meine Überlegungen dann auch abschließen werde. Ich kann dabei unmittelbar noch einmal beim späten Schelling einsetzen, der, an dieser Stelle zutiefst in der idealistischen Philosophie beheimatet, die ursprüngliche Praktizität des Gottesgedankens freilegt. Es besteht offenkundig ein Zusammenhang zwischen dem menschlichen Selbstverständnis Ebd., S. 90. Pröpper, Anthropologie I, S. 602. 30 Ebd., S. 602. 28 29
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und dem Begriff, den sich der Mensch von Gott macht. Dabei hängt die Rede von Gottes Personalität von dem Stellenwert ab, den das Bewusstsein, ein freier Mensch zu sein, jeweils einnimmt. Das bedeutet, dass die Plausibilität eines personalen Gottesbildes ganz wesentlich vom Bewusstsein der Freiheit abhängt. Mit Schelling formuliert: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes“31. Dass Freiheit der Gottheit „Höchstes“ ist, dass, mit anderen Worten, die Idee einer vollkommenen Freiheit der dem Menschen angemessene Sinnbegriff ist, zehrt von dem Bewusstsein, dass uns Freiheit das „Höchste“ ist! Aber wie ist es um das Bewusstsein, dass Freiheit das Höchste ist, eigentlich bestellt? Diese Frage so zu stellen hängt mit der Vermutung zusammen, dass die Krise des personalen Theismus aufs engste mit einer Krise des Freiheitsbewusstseins zusammenhängen dürfte. Wer, wie ich, gelegentliche anachronistische Sprachspiele liebt, weil sie infrage stehende Sachverhalte recht gut anschaulich machen, wird meinem Vorschlag etwas abgewinnen können, Schleiermacher zum Leser Robert Musils zu machen: Zu einem „Mann ohne Eigenschaften“ passt ein Gott ohne Eigenschaften; sein Gott wird, so heißt es in den Religionsreden, „ein Wesen ohne bestimmte Eigenschaften“ sein32. Ins Systematische gewendet: Deutungen zur Krise des personalen Theismus müssen in jedem Fall psychologische und soziologische Analysen zur individuellen wie gesellschaftlichen Verfasstheit des Freiheitsbewusstseins mit einbeziehen. Die Krise des personalen Theismus verlangt mithin nach modernitätstheoretischen Deutungen, die sich – erwähnt seien an dieser Stelle diesbezügliche Voten von Jürgen Habermas – mit der Regression des Freiheitsbewusstsein in zweckrationalen Systemzwängen ebenso beschäftigen wie mit den Erhaltungsbedingungen einer autonomen Vernunftmoral angesichts biotechnischer Eingriffsmöglichkeiten.33 Schellings Diktum, dass Freiheit unser und der Gottheit Höchstes sei, kennt bei ihm die Wendung, dass der Durchbruch des Persönlichen im Menschen aufs engste mit der Offenbarung des persönlichen Gottes zusammenhängt34. Es ist, folgen wir Schelling, nicht allein so, dass erst in der Offenbarung Gott als ein persönlicher Gott erscheint, sondern die geschichtliche Offenbarung ist Schelling zu Schelling, Friedrich W. J., Urfassung der Philosophie der Offenbarung 1 (= PhB; Bd. 445a), hg. von Ehrhardt, Walter E., Hamburg 1992, S. 79. 32 Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (= PhB; Bd. 563), hg. von Arndt, Andreas, Hamburg 2004, S. 70. Schleiermachers Ausführungen zum Gottesbegriff basieren ebenfalls auf der eingangs von mir herausgearbeiteten Verschränkung von menschlichem Selbstverständnis und Gottesbegriff. Der Glaube an Gott hänge, heißt es bei ihm, „von der Richtung der Phantasie“ ab (ebd., S. 72), wobei für Schleiermacher, seiner romantischen Auffassung von Religion entsprechend, der „Sinn fürs Universum“ für den Menschen der „eigentliche Maßstab seiner Religiosität [ist]“. Ob, heißt es weiter, „er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Phantasie. […] Hängt nun Eure Phantasie an dem Bewusstsein Eurer Freiheit […]; wohl, so wird sie den Geist des Universsums personifizieren und Ihr werdet einen Gott haben“, ebd., S. 71. 33 Vgl. beispielsweise Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001; ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005. 34 Zu diesem seinerseits christologisch vermittelten Grundgedanken, den Schelling in seiner Offenbarungsphilosophie entfaltet, vgl. Danz, „Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes in Schellings ‚Philosophie der Offenbarung‘“, S. 190–195. 31
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folge ineins die Konstitution des Menschen als eine freie Persönlichkeit. Verstehen wir Schellings Überlegungen zu diesem Thema falsch, wenn wir sie als einen Reflex darauf deuten, dass das Bewusstsein des Menschen von sich als einer Person auf Sinnprämissen aufruht und von einem Sinnvertrauen getragen wird, das die Vernunft als solche nicht zu verbürgen vermag? Denn könnte es, das wäre die Pointe, auf die es mir hier ankommt, gar sein, dass der uns vertraute Begriff des philosophischen Theismus von geschichtlich vermittelten Sinnvorgaben abhängig ist, wie sie im Offenbarungsbewusstsein der christlichen Tradition festgehalten werden? Das würde bedeuten, dass der philosophische Theismus von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.
Literaturempfehlung Essen, Georg, Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit, Mainz 1995. Essen, Georg, Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie (ratio fidei; Bd. 5), Regensburg 2001. Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Philosophisch-theologische Streitsachen in der religionsphilosophischen Achsenzeit, hg. von Essen, Georg / Danz, Christian, Darmstadt 2012. Kant und die Theologie, hg. von Essen, Georg / Striet, Magnus, Darmstadt 2005.
Liturgical Turn – Gottesrede in einer post-digitalen Welt Johannes Hoff, London
Das moderne „Zeitalter des Weltbildes“ entsprang der kontraintuitiven Unterstellung, dass sich die „wirkliche Welt“ als eine ontologisch wertneutrale Ansammlung objektiver Fakten beschreiben lasse, die sich durch die methodisch kontrollierte Projektion einer „möglichen Welt“ repräsentieren lasse.1 Von daher die moderne Wertschätzung abgeschirmter Reproduktionsräume und virtueller Realitäten – vom cartesianischen Subjekt, über das klinisch abgedichtete Labor bis hin zum digitalen Computerbildschirm. Selbst romantische oder post-moderne Gegenbewegungen gegen den Repräsentationalismus der Moderne blieben ihm ex negativo verhaftet – als wäre die Alternative zur Fiktion wertneutral digitalisierbarer Fakten schlechterdings unbegreiflich. Von bedeutenden Ausnahmen wie Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Søren Kierkegaard, Félix Ravaisson und Charles Péguy abgesehen,2 endete die Dekonstruktion der Fiktion methodisch kontrollierten, wiederholbaren Wissens stets in einer Verbeugung vor einer Variante des kantischen Erhabenen:3 dem ereignishaft „Kontingenten“, dem „grenzenlos Unbestimmbaren“, der „absoluten Indifferenz“, dem „absoluten Geheimnis“, dem „ganz Anderen“ usw. So oszillierte das moderne „Subjekt“ zwischen der Monotonie identisch wiederholbaren Wissens und der Erhabenheit subjektivistischer (und nicht selten fundamentalistischer)4 Skepsis angesichts des Unbegreiflichen; gefangen zwischen den Polen von I und 0, Ja und Nein, bestimmt und unbestimmt, univoker kataphasis und äquivoker apophasis, ohne dem Gewicht unseres vorwissenschaftlichen Alltagsverstandes Kredit zu gewähren. Bewegen wir uns doch seit jeher im unscharfen, analogen Zwischenraum zwischen Univozität und Äquivozität, Bestimmtem und Unbestimmten, evidenzbasierter Bejahung und skeptischer Verneinung. Unsere gegen kontraintuitive Übertreibungen allergische Gabe, selbst das zu verstehen, was sich nicht begrifflich formalisieren, digitalisieren oder auf kontrollierte Weise wiederholen lässt, wurde bereits von Thomas von Aquin (1225–1274) als wissenschaft Die nachfolgenden, skizzenhaften Thesen werden ausführlicher diskutiert in Hoff, Johannes, The Analogical Turn. Re-thinking Modernity with Nicholas of Cusa, Grand Rapids 2013. Der Abschnitt „Die mystischen Fundamente Christlicher Gelehrsamkeit” basiert auf ebd., S. 18–24. 2 Vgl. Pickstock, Catherine, Repetition and Identity. The Literary Agenda, Oxford 2013. 3 Hierzu: Pries, Christiane, Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989. 4 Kritisch hierzu aus atheistischer Sicht Meillassoux, Quentin, Nach der Endlichkeit: Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, aus dem Französischen von Roland Frommel, Berlin 2008. 1
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lich fundamental ausgewiesen. Vernunftbegabte Tiere sind in der Lage, die Welt zu erkennen, weil sie diese bewohnen. Wir haben uns mit der begrifflich niemals vollständig penetrierbaren, saturierten Präsenz mehr oder weniger schöner, vollkommener und begehrenswerter Dinge immer schon vertraut gemacht. Folglich beginnt alles Erkennen mit der Treue zu dem, was Thomas durch den lakonischen, und doch alles andere als wertneutralen Begriff „Seiendes“ bezeichnete – oder genauer, durch das lateinische Wort Ens, dessen Bedeutung bei Thomas mit dem zusammenfällt, was die englische Sprache als End (Ende/Ziel/Zweck) bezeichnet. 5 So beginnt der Wille zu erkennen z. B. mit dem Sein einer Rose, deren Wesen ich ohne pragmatisches Verwertungsinteresse rein um des Erkennens willen betrachten kann. Die Vertrautheit mit Ens setzt allen solipsistischen Zweifeln ein Ende, weil es uns eine Welt erschließt, in der jedes Seiende seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus offenbar werden lässt. Im Prinzip war uns dieses „erkenntnistheoretische“ Fundamentalprinzip bereits bekannt als Adam Eva „erkannte“ (Gen 4.1), und es hat niemals eine realistische Alternative zum Alltagsverstand dieses archetypischen Liebespaars gegeben. Um mit dem Wissensschaftssoziologen Bruno Latour zu sprechen: „Wir sind nie modern gewesen“.6
Weisheit und Wissenschaft: Zur Genealogie der Krise spätmodernen Wissens Oberflächlich betrachtet scheint sich die moderne Forderung, das unscharfe Wissen alltäglichen Glaubens und Meinens Formen evidenzbasierten Wissens nachzuordnen, bereits bei Platon abzuzeichnen. So scheint die platonische Entgegensetzung von Meinen und Wissen, doxa und episteme, den modernen Mythos zu bestätigen, dass die Geschichte sich unausweichlich in Richtung einer fortschreitenden Rationalisierung unseres „vorwissenschaftlichen“ Alltagsverstandes bewege. Doch das platonische „Wissen“ um das im Modus kontemplativen Betrachtens erschlossene Gute, Vollkommene und Schöne fokussierte paradoxerweise genau auf das, was moderne Menschen als unwissenschaftliche Glaubensangelegenheiten betrachten würden, während das, was wir heute als science bezeichnen (das empirisch fundierte Wissen über wertneutrale Fakten) unter die platonische Kategorie bloßen „Glaubens und Meinens“ fallen würde.7 Dieses Paradox erhellt sich im Lichte einer der aufregendsten Entdeckungen jüngerer Forschung zur Genealogie der Moderne: Die moderne Fiktion einer autonomen Sphäre philosophischen oder empirisch-naturwissenschaftlichen Wissens ist nicht das Produkt heidnischer oder latent säkularer Unterströmungen abendländischer Philosophie, die Vgl. Chesterton, Gilbert Keith, St. Thomas Aquinas / St. Francis of Assisi, San Francisco 2002, S. 133 ff. Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1998. 7 Hierzu: Gerson, Lloyd P., Ancient Epistemology, Cambridge 2009. Zum Folgenden auch: Tyson, Paul, Rerturning to Reality. Christian Platonism for our Time, Eugene 2014. 5 6
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sich schließlich vom theologisch-metaphysischen Überbau einer kirchlich-klerikalen Weltordnung befreite. Sie ist vielmehr das Produkt eines (in der pastoralen Umsetzung zutiefst klerikalen) spätmittelalterlichen Holzwegs abendländischer Theologie.8 Für die dominierenden Ströme antiken Denkens gründete unser theoretisches Erkennen (theoria) in spirituellen und kontemplativen Praktiken intellektuellen Schauens, die sich dem Weisheitssucher (philo-sophos) durch eine Art von Offenbarung erschlossen. Aus diesem Grund sind Platon, „Aristotles und andere Platoniker“9 ungeeignet, den modernen Säkularisierungsmythos auf ein historisch ausweisbares Fundament zu stellen. Selbst materialistische Strömungen antiken Denkens verstanden sich primär als Repräsentanten einer asketisch-spirituellen Praxis und erst in zweiter Linie als Vertreter konkurrierender philosophischer Doktrinen.10 Die biblisch-patristische Tradition fügte sich bruchlos in diesen Kontext. Von daher war es nur ein kleiner Schritt, die klassisch-platonische Hierarchie von Glauben (doxa) und Wissen (episteme) umzukehren. Fokussierte die kontemplative Praxis des frühen Christentums im Gefolge des jüdischen Hellenismus auf das „Scheinen“, den „Glanz“ der „Herrlichkeit“ Gottes (doxa), der sich im Lobpreis Gottes (doxazein) performativ widerspiegelt,11 so trat nun an die Stelle des (bei Platon noch sekundären) „bloßen Scheins“ (doxa) der „wahre Schein“ (orthe doxa) der Herrlichkeit Gottes‚ der sich im Modus der „Doxologie“ offenbart: dem kontemplativen Gotteslob, in dem die Christliche Weisheitsliebe zur Ruhe kommt. Es ist von daher kein Zufall, dass das Wort doxa in der christlichen Tradition zugleich die Herrlichkeit Gottes und die durch ihr Aufscheinen hervorgerufene Haltung antwortenden Verstehens bezeichnete. Der Adjektiv „orthodox“ hatte dementsprechend den Charakter einer Wegweisung: Er erinnerte an den „wahren Schein“ der Herrlichkeit Gottes, der den Gläubigen zum „aufrechten Lobpreis“ Gottes anleitet. Der biblisch-patristische Sprachgebrauch machte damit auf einen liturgischen Grundzug unseres Wirklichkeitsverstehens aufmerksam. Praktiken des wertschätzenden Lobens (encomium) und Segnens (eulogia), des feierlichen Lobes (hymnein) und der „Do Grundlegend hierzu Milbank, John, Theology and Social Theory: Beyond Secular Reason, Cambridge 1991. Dieses Buch hatte den Charakter einer Initialzündung, deren Spuren sich bis hin zu Charles Taylors Kritik der „Substraktionserzählung“ moderner Säkularisierungstheorien weiterverfolgen lässt. Vgl. (auch mit Blick auf die Rolle reformeifriger Kleriker) Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2012. Taylors im Epilog zu diesem monumentalen Werk explizierte Kritik der nahezu ausschließlich auf „Theoretische Abwege“ (TA) fokussierenden Methodologie Milbanks trifft einen wunden Punkt, auf die letzterer zu reagieren versucht hat. Hierzu auch Milbanks konstruktive Antwort auf meine eigene, ähnlich gelagerte Kritik des „Radical Orthodoxy Movement“, in: Milbank John, „The Grandeur of Reason and the Perversity of Rationalism: Radical Orthodoxy’s First Decade“,.in: The Radical Orthodoxy Reader, hg. von Oliver, Simon / Milbank, John, London 2009, S. 367–404. 9 Gerson, Lloyd P., Aristotle and other Platonists, Ithaca 2005. 10 Vgl. Hadot, Pierre, Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt am Main 1999. 11 Zum hellenistischen Bedeutungsspektrum der Begriffe doxa und doxazein Schneider, Johannes, Doxa: eine bedeutungsgeschichtliche Studie, Gütersloh 1932; sowie Weidemann, Hans-Ulrich, Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und Osterbericht, Berlin / New York 2004, S. 222–228. 8
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xologie“, des staunenden Lobpreises (logos) angesichts der alles Begreifen übersteigenden Herrlichkeit (doxa) Gottes sind kein übernatürliches Beiwerk, das unsere Vertrautheit mit dem Sein (ens) der Welt ästhetisch überhöht. Wie jüngere phänomenologische Debatten im Gefolge von Marcel Mauss, Jacques Derrida und Jean-Luc Marion gezeigt haben, ist die Logik des Schenkens, Dankens und Lobens gnoseologisch, ökonomisch und politisch fundamental.12 Doch die theologische Diskussion des angelsächsischen Sprachraums bewegte sich rasch über diese phänomenologischen Debatten hinaus. Die Logik des Schenkens und Lobens erwies sich als Schlüssel zum Verständnis jener orthodoxen Traditionen christlichen Denkens, welche die in der Begegnung mit dem fleischgewordenen Schöpfungswort Gottes offenbar gewordene Botschaft von der Verherrlichung (theosis) des Menschen in seiner uneingeschränkten, kosmologischen und ontologischen Tragweite auszubuchstabieren versuchten. Im Unterschied zur vermeintlich wertneutralen, konstruktivistischen Rationalität objektivierender Wissenschaften ist unser natürliches Wirklichkeitsverstehen nicht ablösbar von Akten des wertschätzenden Lobes. Die eucharistische theoria des Christentums fügt dem streng genommen nichts hinzu, sie leitet lediglich dazu an, die doxologischen Züge unseres Weltverstehens als theologisch, ontologisch und gnoseologisch fundamental zu beglaubigen, und damit jene durch das Christusereignis ausgelöste kosmologische Konversionsbewegung nachzuvollziehen, welche die Kirchenväter, im Gefolge der Paulinischen Theologie, als Anakepalaiosis (Rekapitulation) und Apokatastasis (wiederherstellende Neuordnung der Schöpfungsordnung) bezeichneten.13 Wie die jüngste Forschung nahelegt, kulminierte dieses biblisch-patristische Konversionsprogramm in der Thomanischen Synthese augustinischen, dionysischen und aristotelischen Denkens.14 Das ist umso bemerkenswerter, als die ersten bedeutenden Vorläufer des modern-rationalistischen Versuchs, die doxologischen Züge unseres Wirklichkeitsversterstehens zu neutralisieren, nahezu zeitgleich mit der Philosophie des Dominikaners in der westlichen Philosophiegeschichte aufzutreten begannen, und zwar in Gestalt einer im wesentlichen franziskanischen Bewegung, deren Erkenntnisinteresse latent heterodoxen theologischen Motiven entsprang.15 Die philosophische und wissenschaftsgeschichtliche Tragweite dieses theologisch motivierten Bruchs wird erst im Zuge der wissenschaftlichen Revolutionen des 17. Jahrhunderts manifest. Exemplarisch hierfür sind die in gewisser Weise paradigmatischen Vgl. etwa God, the Gift, and Postmodernism. The Indiana series in the philosophy of religion, hg. von Caputo, John D / Scanlon, Michael J., Bloomington 1999; und Derrida, Jacques, Politik der Freundschaft, übers. von Stefan Lorenzer, Frankfurt am Main 2000. Zu Marcel Mauss vgl. auch Milbank, John, Being reconciled. Ontology and pardon, London 2003, S. 138–186. 13 Zum komplementären Charakter dieser Begriffe vgl. Pickstock, Repetition and Identity, S. 171–192. 14 Vgl. Kimbriel, Samuel, Friendship as Sacred Knowing. Overcoming Isolation, Oxford 2014; Vnuk, Joseph, Full of Grace and Truth: The Sacramental Economy According to Thomas Aquinas, (unpublizierte Dissertationsschrift), Nottingham 2013; und Jones, Stephen, The Virtue of Gratitude According to Thomas Aquinas, (unpublizierte Dissertationsschrift), London 2014. 15 Einen umfassenden Überblick über die jüngere, insbesondere im anglophonen und französischen Sprachraum betriebene Forschung gibt Milbank, John, Beyond Secular Order. The Representation of Being and the Representation of the People, Hoboken 2014. 12
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Denksysteme von Galileo Galilei, Locke und Descartes (der immerhin noch „Meditationen“ schrieb). Indem man das kontemplative Fundament wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens durch das Laboratorium eines neutralen Repräsentationsraums ersetzt, wird die Wissenschaft praktisch. Das Ideal theoretisch-betrachtender Naturerkenntnis (scientia), das bereits bei Platon kontemplative Praktiken des Lobpreises einschloss,16 wird durch die „Kunst“ verdrängt, die Natur mittels Strategien praktisch-technischer Manipulation zu „überlisten“. Eine technokratische Schwundstufe der mittelalterlichen ars tritt an die Stelle der einstigen scientia.17 Als „wissenschaftlich“ gilt von jetzt an nur, was sich im Labor kontrolliert reproduzieren lässt, und damit hört die Rose auf als ein Ens zu erscheinen. Technische Strategien, die Natur zu überlisten, um sie menschlichen Interessen dienstbar zu machen, erscheinen nicht mehr als zweitrangig gegenüber der interessenlosen Wesensschau der Wissenschaften. Das Design wissenschaftlicher „Theorien“ wird dem Interesse an Naturbeherrschung nachgeordnet. Spätestens im Gefolge der Postmoderne, der ökologischen Krise und dem Siegeszug der Drittelmittelforschung lässt sich die Fragwürdigkeit dieser Fiktion selbst im Kontext wissenschaftstheoretischer und wissenssoziologischer Debatten kaum noch verheimlichen. Die spätmoderne Entdifferenzierung der gesellschaftlichen „Subsysteme“ klassisch moderner Gesellschaften und die damit einhergehende Nivellierung differenter (wissenschaftlicher, ökonomischer, ästhetischer usw.) Rationalitätsstandards konfrontiert uns heute mehr denn je mit einer neo-sophistischen Merkantilisierung des Wissenschafts- und Bildungsmarktes.18 Selbst medizinische Laborexperimente scheinen nunmehr stärker durch die interessengeleitete Selektivität von Novartis, Böhringer-Ingelheim oder der Margarineindustrie als von einem „neutralen Forschungsinteresse“ bestimmt so sein. So bleibt uns zuletzt nur „der huldvolle Gesang der A(u)ktio-näre als einzig lockende Litanei?“19 Wissenschaftliche Unvoreingenommenheit setzt eben doch mehr voraus als den klinisch abgedichteten Raum eines artifiziellen Labors. Die vormoderne Tradition hatte demnach gute Gründe, das Streben nach interessenloser, kontemplativer Naturbetrachtung mit dem Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen in eins zu setzen und in der Konsequenz manipulative Strategien der Naturbeherrschung als zweitrangig einzustufen. Das Schöne und Gute, das unseren Lobpreis Hierzu Pickstock, Catherine, After Writing. On the Liturgical Consummation of Philosophy, Oxford 1998, S. 37–46. 17 Hierzu Lohr, Charles, „Ars, Scientia und Chaos“ nach Ramon Lull und Nikolaus von Kues. Nikolaus von Kues – Vordenker moderner Naturwissenschaft?, Regensburg 2003, S. 55–70. Zum technokratisch ausgedünnten, statischen Charakter der modernen ars vgl. Milbank, John, Beyond Secular Order, S. 81 ff., S. 208 ff. Zum Folgenden auch Hoff, Johannes, „Bürger, Künstler, Exorzisten. Wissenschaft, Kunst und Kult in den Spuren Hugo Balls“, in: Kultur & Gespenster 13 (2012), S. 33–61. 18 Hierzu Münch, Richard, Akademischer Kapitalismus: Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Frankfurt am Main 2011. Dieses Phänomen wurde von „post-modernen“ Zeitdiagnostikern bereits in den späten 70er Jahren vorhergesagt, vgl. Lyotard, Jean François, Das Postmoderne Wissen, Graz / Wien 1986. 19 So Bazon Brock mit Blick auf die Auswirkungen der analogen, spätmodernen Entdifferenzierung des klassisch modernen Kunstmarkts. Vgl. Brock, Bazon, „Das Bild hat immer das Letzte Wort“, in: The Art Master (2010), S. 1. 16
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verdient, lehrt uns zu verstehen, was es heißt, etwas um seiner selbst willen zu betrachten oder zu tun. Und genau in diesem Sinne hat selbst das Ethos wissenschaftlichen Wahrheitsstrebens ein „liturgisches“ Fundament. Bleibt doch selbst die Anerkennung mathematischer Evidenzen an einen doxologischen Rest „glaubenden“ Verstehens gebunden.20 Das Ideal wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit ist nicht ablösbar vom öffentlich zelebrierten Lobpreis dessen, was unser evidenzbasiertes Verstehen übersteigt, und sei es auch nur, dass wir die (wissenschaftlich niemals vollständig beweisbaren) Errungenschaften Darwins, Newtons oder Einsteins preisen, ohne damit einen Hintergedanken zu verfolgen. Das Zeitalter von Google und Facebook hat uns diesen Grundzug alltäglichen Wirklichkeitsverstehens erneut in Erinnerung gerufen. Der Überfluss an Information lässt die Selektivität vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Verstehens zu einem vorrangigen Problem avancieren. Der Wahrheitssuchende hat von Fall zu Fall zu entscheiden, welche „wahren Sätze“ wert sind, wieder erinnert zu werden: Wahr ist, was unsere öffentliche Wertschätzung verdient (im Facebook-Jargon Like), und damit kommt erneut der Lobpreis rational unableitbarer „Glaubensgewissheiten“ ins Spiel. Es gibt keine „natura pura“.21 Unsere Erkenntnis des „Natürlichen“ lässt sich nicht rückhaltlos von der Erkenntnis des „Übernatürlichen“ abkoppeln. Und wo man es dennoch versucht, mündet die humanistische Verherrlichung natürlichen Erkennens früher oder später ein in den post-humanistischen Fetischkult quantifizierbaren Wissens. Die Scheidelinie zwischen „säkularen“ und „religiösen“ Lebensformen verläuft folglich nicht zwischen „Glaube“ und „Wissen“, sondern zwischen Lebensformen, die doxologische Praktiken des Glaubens und Wertschätzens rational kultivieren, und solchen, die sie der fideistischen Beliebigkeit subjektiver Glaubenspraktiken oder der Magie des post-modernen Fetischkults überlassen – sei es in Gestalt der pekuniären Wertschätzung des Marktes, sei es in Gestalt seines virtuellen Äquivalents, des symbolischen Kapitals akkumulierter Aufmerksamkeit in Gestalt von „Trefferquoten“.
Wahrheit und Orthodoxie Die spätmoderne Renaissance platonischen Denkens erinnert vor diesem Hintergrund daran, dass bereits Platon sein philosophisch-spirituelles Aufklärungsprogramm als Antwort auf eine Form sophistischer Merkantilisierung des Wissens verstand. Das kontemplative Denken der platonisch-hellenistischen Tradition war, ebenso wie das liturgisch fundierte Aufklärungsprogramm der biblisch-abrahamitischen Tradition, Hierzu De Certeau, Michel, „L’Institution de croire“, in: Recherches de science religieuse 71 (1983), S. 61–80; sowie Hoff, Johannes, Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik christlicher Mystik nach Nikolaus von Kues, Freiburg im Breisgau 2007, S. 84–195, S. 283–300, S. 463–474. 21 Vgl. Milbank, John, The Suspended Middle. Henri de Lubac and the Debate Concerning the Supernatural, London 2005. 20
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seit jeher darauf ausgerichtet, der dämonischen oder sophistischen Verselbständigung ungebremst flottierender Praktiken des Lobpreises zuvor zu kommen. „Ortho-dox“ zu sein bedeutete konsequenterweise im Gefolge der christlichen Metamorphose des hellenistischen Erbes vor allem eines: aufrechtes (orthos) Lob der Herrlichkeit (doxa) Gottes. Der Häretiker galt nicht als Anhänger verdrehter Ideologien. Der Häretiker galt als Heuchler, weil er den aufrechten Lobpreis in Idolatrie verkehrt, indem er symbolische Platzhalter der Herrlichkeit Gottes mit Gott selbst und den unbegreiflichen Namen Gottes mit den allzu begreiflichen Kreationen dogmatischer Gelehrsamkeit verwechselt.22 Wer sich in seinem öffentlichen Leben darauf beschränkt, die kulturellen Errungenschaften endlicher Kunstfertigkeit zu preisen, tut demzufolge nichts anderes als das, was die abrahamitische Tradition als Götzendienst und apophatische Philosophen wie Nikolaus von Kues (1401–1464) als Idolatrie bezeichneten: Er oder sie „gibt dem Bilde, was nur der Wahrheit gebührt.“23 Die orthodoxe Christin verehrt nicht die begrifflichen Kreationen und Projektionen ihres Intellekts. Sie betet an, was ihr Begreifen per definitionem übersteigt. Endliche Geschöpfe oder artifizielle Kreationen haben an der Unbegreiflichkeit Gottes in unterschiedlichen Graden teil (von daher die fundamentale Bedeutung des platonischen Partizipationsgedankens), doch nur das, was das narzisstische Verlangen nach kontrollierbarem Wissen übersteigt, verdient um seiner selbst willen angebetet zu werden. Nur die Herrlichkeit Gottes verdient unsere rückhaltlose Bewunderung. Quia ignoro adoro sagt der Christ zum erstaunten Heiden zu Beginn von Nikolaus von Kues’ Dialog De deo abscondito: Ich bete meinen Gott an nicht obwohl, sondern gerade weil er mein Begreifen übersteigt. Genau aus diesem Grund hat der gelebte Glaube religiöser und weisheitlicher Traditionen den Charakter eines genuin-philosophischen Erkenntnisprinzips. Als angelsächsische Religionsphilosophen im vergangenen Jahrhundert in den Spuren Ludwig Wittgensteins den Zusammenhang von gelebtem Glauben und religiösem Wirklichkeitsverstehen systematisch zu erforschen begannen, wurden sie von philosophischer Seite als Anti-Realist(inn)en und von theologischer Seite als Fideist(inn)en verdächtigt. Es schien, als liefe dieses Projekt darauf hinaus, die übernatürliche Weisheit der Weltreligionen vom natürlichen Erkennen der Wissenschaften abzukoppeln. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten wurde klar, dass Philosophen wie D.Z. Phillips damit nur einer Renaissance des philosophischen Realismus der Vormoderne den Weg bereiteten. Von Clemens von Alexandrien über Dionysius Areopagita bis hin zu Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues hatte das philosophisch-theologische Denken des westlichen wie östlichen Christentums seinen Ort in einer liturgisch geprägten Lebensform.24 Prosper Vgl. Pelikan, Jaroslav, Christianity and Classical Culture. The Metamorphosis of Natural Theology in the Christian Encounter with Hellenism, New Haven 1993, S. 40–56, S. 184–214, S. 300–305. 23 De docta ignorantia, I c. 10 n. 29. – Die Werke des Cusaners werden im Folgenden, sofern nicht anders angezeigt, nach der kritischen Ausgabe zitiert, und zwar unter Angabe des Kapitels (c.) und der jeweiligen Sektion (n.) (http://www.cusanus-portal.de/). Die Übersetzung orientiert sich an der Majuskelausgabe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 24 Zur östlichen Tradition vgl. Louth, Andrew, The Origins of the Christian Mystical Tradition from Plato to Denys, Oxford 22007. 22
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von Aquitaniens notorische Kurzformel lex orandi lex credendi bilanzierte nur ein gnoseologisches Prinzip, das der Sache nach bereits für Platon unstrittig war. Dieses Prinzip als antirealistisch zu denunzieren wäre noch zur Zeit des Heiligen Thomas niemandem in den Sinn gekommen. Steht der kritische Realismus des Aquinaten dem Denken vermeintlicher Anti-Realisten wie D.Z. Phillips doch durchaus näher als dem naiv-repräsentationalistischen Realismus eines Richard Swinburne oder Alvin Plantinga.25 Wir sind wieder in der Wirklichkeit angekommen – an philosophischen Maßstäben gemessen hat der common sense-Realismus der Vormoderne seinen modernen Tod überlebt. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass wir das klerikal-szientistische Umerziehungsprogramm der Moderne bereits hinter uns gelassen haben. Ist das, was man als einen liturgisch qualifizierten common sense-Realismus bezeichnen könnte doch weder mit einem „hausbackenen“26 puritanisch-pragmatischen common sense-Realismus im Stile von Reid, Rorty oder Plantinga zu verwechseln noch mit jenen rationalistischen Mythen des Alltags, die das kulturell ermüdete Abendland heute mehr denn je als „säkular“ erscheinen lassen. Wie tief sich diese Mythen in den vorwissenschaftlichen Alltagsverstand eingegraben haben, zeigt sich nirgends deutlicher als in unserem alltäglichen Umgang mit der Gottesfrage. Um mit der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong zu sprechen: „Heute meinen […] viele, sie könnten, bevor sie sich nicht von der Existenz Gottes überzeugt hätten, kein authentisches religiöses Leben führen. Das ist solides wissenschaftliches Denken: Bevor man ein Prinzip anwendet, muss man es zunächst beweisen. Für Buddha und Konfuzius war es genau umgekehrt.“27 Wie Armstrong am Beispiel des vermeintlichen „Rationalisten“ Anselm von Canterbury aufzeigt, gilt diese Umkehrung auch für das vormoderne Christentum: „Als Anselm von Canterbury betete: credo ut intellegam, gewöhnlich übersetzt als ‚Ich glaube, damit ich erkennen kann‘, meinte er nicht, dass er erst seinen Geist zwingen muss, die Glaubensartikel zu akzeptieren […] Man sollte die Wendung so übersetzen: ‚Ich engagiere mich, damit ich verstehe.“28 Nicht ohne Grund beginnt Anselms Proslogion mit einer doxologischen Anrede:29 Der betende Lobpreis ist die elementarste Form, sich zu engagieren – und natürlich auch die elementarste Form, einer Wirklichkeit treu zu bleiben, die den Horizont „virtueller Realitäten“ übersteigt. Erst vor diesem Hintergrund wird begreiflich, warum die orthodoxe Tradition christlicher Theologie, in Ost und West, sich bis ins Hochmittelalter fraglos als mystische Vgl. Brenner, William, „D. Z. Phillips and Classical Theism“, in: New Blackfriars 90 No 1025 (2009), S. 17–37. Zum glaubensbasierten ontologischen Realismus des Aquinaten Soskice, Janet Martin, „Naming God: A Study in Faith and Reason“, in: Reason and the reasons of faith, hg. von Griffiths Paul J. / Hütter, Reinhard, New York 2005, S. 241–254. Vgl. auch Kerr, Fergus, Theology after Wittgenstein, Oxford 1988 und Kerr, Fergus, After Aquinas. Versions of Thomism, Oxford 2002. 26 Vgl. Milbank, Beyond Secular Order, S. 87–99. 27 Armstrong, Karen, „Die Goldene Regel. Das religöse Ideal des Mitgefühls und die Überwindung des Egoismus“, in: Lettre International 84 (2009), S. 71–75, S. 71. 28 Ebd., S. 72. 29 Vgl. Kirschner, Martin, Gott – größer als gedacht: Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury, Freiburg / Basel / Wien 2013. 25
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Theologie verstand, und warum „apophatische“ (verneinende) Strategien das Unbegreifliche „apophantisch“ (enthüllend) sichtbar werden zu lassen keineswegs im agnostischen Dunkel erhabener Mysterien enden müssen.30
Die mystischen Fundamente christlicher Gelehrsamkeit Im Unterschied zur am Primat liturgisch geprägter Alltagspraktiken orientierten christlich-orthodoxen Tradition, erliegen moderne Versuche, die mystischen Fundamente christlicher Gottesrede zu rekonstruieren, häufig der Versuchung, die Erkenntnis der Verborgenheit Gottes mit einer Entzugserfahrung zu verwechseln – als entspränge die Unbegreiflichkeit Gottes aus der mystischen Erfahrung seiner Abwesenheit.31 Dabei wird verkannt, dass der Gebrauch von Bejahungen (kataphasis) und Verneinungen (apophasis) nur den Charakter einer „second order language“ hat. Die reflexive Sprache mystagogischer Bejahungen und Verneinungen ist nicht ablösbar von ihrem präreflexiven Fundament: der orthodoxen Überzeugung, dass unser Sprechen von Gott aus der Teilhabe an dem erwächst, was Hans-Urs von Balthasar im Anschluss an Maximus Confessor als „kosmische Liturgie“32 bezeichnete. Das theologische Sprechen entfaltet sich in einer mystagogischen Spiralbewegung, die sich in Sprechakten des Sagens (kataphase) und Ent-Sagens (apophase) artikuliert, um sich schließlich in der höchsten und zugleich ursprünglichsten Form kreatürliche Gottesrede zu vollenden, dem sprachlosen Lob Gottes, „wo die Stille des Schweigens eine Weise des Sprechen ist“ (ubi silere est loqui).33 Bereits Thomas von Aquin hatte diesen doxologischen Modus der Gottesrede, in den Spuren von Dionysius Areopagitas’ Synthese der biblisch-patristischen Tradition christlicher Orthodoxie,34 als die höchste Form von Wissenschaft bezeichnet (scientia dei and beatorum).35 Nikolaus von Kues folgte dieser Spur, als er in einem der letzten bedeu Grundlegend hierzu mit Blick auf zeitgenössische Debatten Coakley, Sarah, God, Sexuality and the Self. An Essay on the Trinity, Cambridge 2013. 31 Kritisch hierzu Turner, Denys, The darkness of God. Negativity in Christian mysticism, Cambridge 1995, S. 264 ff. 32 Von Balthasar, Hans Urs, Kosmische Liturgie. Das Weltbild Maximus’ des Bekenners, Einsiedeln 1961. Hierzu mit Blick auf Cusanus Hudson, Nancy J., Becoming God. The Doctrine of Theosis in Nicholas of Cusa,Washington 2007, S. 26–35. 33 De dato patris lumini, c. 3 n. 107,9. 34 Zu Dionysius Areopagita mit Blick auf den (in Deutschland immer noch verbreiteten) modernen Mythos, „Pseudo-Dionysius“ sei ein Falschmünzer gewesen, der das biblische Christentum hellenistisch entstellte, vgl. Louth, Andrew, Denys, The Areopagite, London 1989; sowie Re-thinking Dionysius the Areopagite, hg. von Coakley, Sarah / Stang, Charles M., Malden 2009. Dieser neuen Lesart folgend, verzichte ich bewusst darauf, das genuin paulinischen Motiven entspringende Pseudonym des spätantiken Apostelschülers durch das Präfix „Pseudo“ zu entstellen. 35 Vgl. S. Thomae Aquinatis „In librum beati Dionysii de divinis nominibus expositio“, Taurini 1995, Caput I Lectio III; sowie Pseudo-Dionysius Areopagita, Die Namen Gottes, eingel., übers. und mit Anmerkungen versehen von B. R. Suchla, Stuttgart 1988, 1.5 (593 B–C). Hierzu Burrell. David B / Moulin, Isabelle, „Albert, Aquinas and Dionysius“, in: Re-thinking Dionysius the Areopagite, hg. von Coakley, Sarah / 30
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tenden Versuche, den symbolischen Realismus der Vormoderne über die Schwelle der Neuzeit zu retten, die höchste Form wissenschaftlichen Denkens im Gotteslob verortete: „Die Höchste Wissenschaft besteht im Lobpreis Gottes, der alles aus seinen Lobpreisungen und zu seinem Lobpreis gebildet hat.“36. Der Stellenwert dieser erkenntnistheoretischen Verortung des Lobpreises wird erst begreiflich, wenn man sich mit Cusanus klarmacht, dass wir etwas nicht deshalb preisen, weil wir es als wahr, gut oder schön beurteilen. Es ist vielmehr umgekehrt: Wenn unser Lobpreis genuin ist, und nicht bloß aus einem Herdeninstinkt entspringt, dann beurteilen wir etwas als wahr, gut oder schön, weil es uns in Staunen versetzt und unseren Lobpreis hervorruft, ohne dass wir einen Gedanken darauf verschwenden müssen, warum wir das tun.37 Ähnliches gilt für Thomas von Aquin.38 Liturgische Akte des Lobpreisens und Danksagens überschreiten die „second order language“ bewertender Reflexion. Um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen: Die Wissenschaft des Lobes hat ein prä-reflexives Fundament. Dieses Phänomenon erlaubt uns, die Differenz zwischen der affirmativen Sprache des Lobpreises und der dialektisch zwischen Bejahungen und Verneinungen unterscheidenden „second order language“ theologischer Reflexion etwas präziser zu bestimmen. Unser Lobpreis stützt sich nicht auf wahre oder falsche Urteile. Wir beurteilen vielmehr etwas als wahrhaftig, vollkommen oder schön, weil es unseren Lobpreis motiviert, und jeder Versuch, dies nachträglich, basierend auf propositionalen, zwischen wahr und falsch unterscheidenden Sätzen zu rechtfertigen, ist zumindest in letzter Instanz zu verneinen. Aus diesem Grund sind wahrheitsfunktionale Propositionen auf Gott nicht anwendbar. Sein Wesen ist uns doch nur durch dessen Wirkungen erschlossen: Allein die Herrlichkeit (doxa) Gottes legitimiert unseren doxologischen Lobpreis und allein das authentisch Lob ist in der Lage, dieser elementarsten Form von Gotteserkenntnis Ausdruck zu verleihen. Wie die gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts geführte phänomenologische Kontroverse zwischen Jacques Derrida und Jean-Luc Marion über den Status doxologischer Sprechakte bei Dionysius Areopagita gezeigt hat, artikuliert diese hymnische Sprache keine Form propositionalen Wissen. Sie ist aber dennoch nicht ohne Bezug auf die propositionale Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem,39 denn sie macht Stang, Charles M., Malden 2009, S. 103–119, S. 107 f., S. 111 f. Zu den areopagitischen Wurzeln des Aquinaten O’Rourke, Fran, Pseudo-Dionysius and the metaphysics of Aquinas, Leiden 1992. 36 De venatione sapientiae, c. 18 n. 53,8-3 (eigene Übersetzung); vgl. ebd., c. 18–20, c. 25, sowie Epistula ad Nicolaum Bononiensem n. 10. 37 Vgl. De venatione sapientiae, c. 20 und c. 35. 38 Allein durch die (ontologisch akzidentelle, aber anthropologisch fundamentale) appetitive Bewegung des affectus sind wir in der Lage, etwas als Begehrenswert und Gut zu erkennen. Grundlegend hierzu Lombardo, Nicholas E., The Logic of Desire. Aquinas on Emotion, Washington 2011. 39 Vgl. Marion, Jean-Luc, „In the Name. How to Avoid Speaking of ‚Negative Theology‘ / Response By Jacques Derrida“, in: God, the gift, and postmodernism, hg. von Caputo John D. / Scanlon Michael J., Bloomington 1999, S. 20–53; sowie Derrida, Jacques, Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. von H. D. Gondek, Wien 1989, S. 123–127.
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eine fundamentale Voraussetzung unseres Wahrheitsverstehens explizit. Die symbolische Sprache des Lobs ist „wissenschaftlich“ nicht im Sinne von „prädikativen“ Sprachformen, die auf endliche Erkenntnisgegenstände referieren, indem sie einem grammatischen Subjekt (x) Prädikate (P1, P2, P3…) zu (1) oder absprechen (0). Die Sprache der Liturgie antwortet auf ein elementareres Problem wissenschaftlichen Erkennens: Sie steuert unsere Aufmerksamkeit und entscheidet darüber, wie wir die Fragen interpretieren, auf die wahre oder falsche Sätze antworten. Im Anschluss an Martin Heidegger, Ernst Tugendhat und Manfred Frank kann man an diesem Punkt zwischen zwei Modi des Wahrheitsverstehens unterscheiden.40 Wahrheitsfunktionale Propositionen, die in diskreter Weise zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden, haben den Charakter einer second order language, entsprechen also Wahrheit2. Im Unterschied dazu grenzt Wahrheit1 den Horizont ein, innerhalb dessen wahre oder falsche Antworten auf Fragen im Sinne von Wahrheit2 als sinnvoll erscheinen. Wenn wir z. B. über die Spuren eines Ereignisses nachdenken („Mama, warum brennt da eine Kerze in der Kapelle?“), dann steuert Wahrheit1 unsere Gabe zwischen sinnvollen („Sie brennt, weil dort gerade eine Beerdigung stattgefunden hat“) und sinnlosen Wahrheit2-Antworten („Sie brennt, weil Sauerstoff in der Kapelle ist“) auf unser denkendes Fragen zu unterscheiden. Das Gotteslob überschreitet den Horizont diskursiven Verstehens, doch das hindert es nicht daran, als wahrheitsrelevant und sogar als konstitutiv für das Wahrsprechen der Wissenschaften zu erscheinen. Jenseits propositionaler oder dialektischer Entgegensetzungen hat es den Charakter einer analogen, nicht-prädikativen Wahrheit, die (im Sinne Martin Heideggers) den Verstehenshorizont prädikativen Wissens erschließt. Um Paul Klees berühmtes Kreatives Credo von 1920 zu paraphrasieren:41 Das Gebet gibt nichts wieder (Wahrheit2), es lässt sichtbar werden (Wahrheit1). Ohne dem Betrachtenden zu sagen, was „wahr oder falsch“ ist, erschließt es ihm einen Zugang zu dem, was als möglicher Gegenstand denkenden Fragens Beachtung verdient. Nikolaus von Kues bezeichnete diesen Möglichkeitshorizont als das „Können-Sein“ (possest) oder auch das „Können Selbst“ (posse ipsum). Das Gotteslob bringt das „Können Selbst“ (posse ipsum)42 zur Sprache, die reine „Möglichkeit“ (possibilitas) all dessen, was sich als bedeutungsvoll und wahr zu erweisen vermag. In seiner Schrift Über den Gipfel der Kontemplation (1464) setzt Cusanus dieses, die Aufmerksamkeit des Forschenden auf sich ziehende, reine „Können“ (posse) mit dem unsichtbaren Licht der mystischen Theologie des Dionysius Areopagita gleich: Vgl. Frank, Manfred, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt am Main 1989, S. 7–24; Tugendhat, Ernst, „Heideggers Idee von Wahrheit“, in: Wahrheitstheorien, hg. von Skirbekk, Gunnar, Frankfurt am Main 1977, S. 431–448. 41 „Kunst gibt nicht das Sichtbare wider, sondern macht sichtbar“, Klee, Paul, Kunst-Lehre, Leipzig 1991, S. 60. 42 Zu Cusanus’ Betrachtungen über den Begriff der Möglichkeit (possest / posse ipsum) mit Blick auf Heideggers Versuch, diese vorprädikative Dimension geschöpflichen Wahrheitsverstehens zu säkularisieren Casarella, Peter J., „Nicholas of Cusa and the power of the possible“, in: American Catholic philosophical quarterly 64 (1990), S. 7–33. 40
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Johannes Hoff „Das Können Selbst (posse ipsum) wird daher von einigen Heiligen Licht genannt – nicht das sinnliche wahrnehmbare oder das des Verstandes oder der Vernunft, sondern das Licht von allem das leuchten kann.“43
Dieses unsichtbare Licht gibt uns nicht „etwas“ (im Unterschied zu etwas anderem) zu sehen. Es lässt sichtbar werden, indem es unsere Bewunderung (admiratio) hervorruft, unsere Aufmerksamkeit aufreizt (attractio) und unser Erkenntnisstreben in eine Richtung lenkt, die unseren Verstehens- und Erwartungshorizont überschreitet.44 Kurz, das unsichtbare Licht reinen „Könnens“ manifestiert sich im Modus einer Theophanie, die uns selbst rational Undenkbares als „möglich“ erscheinen lässt.
Nikolaus von Kues als Drehscheibe zu einer anderen Moderne Diese kurze Skizze der cusanischen Philosophie des Könnens erlaubt mir, meine eigenen, an Cusanus anknüpfenden, jüngeren Forschungsarbeiten im Kontext des Paradigmenwechsels zeitgenössischer anglophoner Theologie zu verorten, denn sie erhellt zugleich die innovativen und konservativen Züge der cusanischen „Wissenschaft des Lobes“ und ist damit exemplarisch für ein Denken, dass uns aus den Sackgassen von Moderne und Post-Moderne herauszufinden erlaubt, ohne einfach ins „Mittelalter“ zurückzukehren. Das Cusanische Denken oszillierte zeit seines Lebens zwischen dem für die beginnende Moderne charakteristischen Enthusiasmus für kulturelle, soziale und technische Innovationen, die über den Horizont dessen hinausgingen, was man bis dahin für möglich erachtete,45 und dem demütigen Staunen angesichts eines Mysteriums, das dem Menschen als absolute Unmöglichkeit entgegentritt (occurit impossibilitas).46 In seinem Enthusiasmus für das nie Dagewesene war Cusanus offen für theoretisch oder praktisch „Unmögliches“ (wie es z. B. in unserer heutigen Welt die Erklärung der Menschenrechte, die Mondlandung, die interkontinentale Informationsübertragung mit Lichtgeschwindigkeit oder die Entschlüsselung der DNA darstellen). Doch er war nicht minder enthusiastisch, die Grenzen unseres diskursiven, zwischen gegensätzlichen Bestimmungen scheidenden Verstandes angesichts einer logischen „Unmöglichkeit“ zu bezeugen, welche die Bedingungen der Möglichkeit rationalen Verstehens notwendig überschreitet: „Oh Herr, in Deinem Blick ist die Unmöglichkeit Notwendigkeit.“47 Die in Cusanus’ philosophischen Schriften immer wieder zurückgerufene Einsicht, dass alles vergleichende, zwischen gegensätzlichen Bestimmungen (Ja und Nein, wahr und falsch, I und 0) unterscheidende Erkennen aus prinzipiellen Gründen selektiv, unvollstän De apice theoriae, n. 8, 5–7 (eigene Übersetzung). Vgl. De quaerendo deum, c. 2 n. 32–37. 45 Vgl. etwa Sermo 216 n. 12, und Idiota de statiticis experiementis. 46 De visione Dei, c. 9 n. 36. 47 De visione Dei, c. 9 n. 37,12 (eigene Übersetzung). 43 44
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dig und beschränkt ist, bestätigt folgerichtig die Überzeugung der biblisch-patristischen Tradition, dass jede wissenschaftliche Entdeckung, die unsere Bewunderung hervorruft, im Lichte des wissenden Nichtwissens um die unvergleichliche Weisheit dessen zu betrachten ist, der alles Staunens- und Lobenswerte um seines Lobes willen erschaffen hat. Aus der spätmodernen Retrospektive betrachtet, erlaubt Cusanus’ frühe Antwort auf die Herzausforderung der Moderne damit, einer zweifachen Herausforderung zu begegnen: (1) Sie erlaubt, die für phänomenologische und poststrukturalistische Antworten auf die spätmoderne Sinnkrise charakteristische Praxis der Urteilsenthaltung („phänomenologische Reduktion“) durch eine doxologische Praxis der Urteilsenthaltung („doxologische Reduktion“) zu ersetzen, die das vormoderne Erbe abendländischen Denkens wieder zu erschließen erlaubt, ohne in einen „vorkritischen Dogmatismus“ zurückzufallen.48 (2) Sie erschließt uns (im Stile der „rettenden Erinnerungen“ Walter Benjamins) die hermeneutischen Schlüssel zur Rekonstruktion einer anderen Moderne, die in Kontinuität mit der Tradition christlich-abendländischen Denkens steht und zugleich in der Lage ist, auf das zu antworten, was Zeitdiagnostiker als die „post-digitale“ Wende eines über seine konstitutionsbedingten Grenzen aufgeklärten digitalen Zeitalters bezeichnet haben.49 Vor diesem Hintergrund will ich nun versuchen, das cusanische Denken im Kontext der eingangs skizzierten Genealogie des westlichen Niedergangs christlicher Gelehrsamkeit zu verorten und seine Bedeutung für die spätmoderne Gotteskrise zu erläutern.
Cusanus’ Dekonstruktion der „Kästchenmetaphysik“ des Spätmittelalters Das cusanische Denken lässt keinen Spielraum für rationalistische Versuche, die Symbolsprache weisheitlich-religiöser Traditionen auf vermeintlich elementare naturwissenschaftliche, anthropologische, moralische oder offenbarungstheologische Gewissheiten zurückzuführen. Es ist nicht nur immun gegen den modernen Dualismus von „notwendigen Vernunftgewissheiten“ und „geoffenbarten Glaubensgewissheiten“, sein mystagogisches Wahrheitsverständnis widersteht auch der auf Duns Scotus (1266– 1308) zurückführbaren, in Immanuel Kant (1724–1804) kulminierenden modernen Versuchung, transzendentale Vollkommenheitsprädikate (wie das Wahre und das Gute) auf formal distinkte, eindeutig unterscheidbare Bedeutungskerne zurückzuführen und in der Konsequenz Wahres, Gutes und Schönes eindeutig unterscheidbaren Wertsphären zuzuweisen.50 In Übereinstimmung mit der Transzententalienlehre des Vgl. Hoff, Johannes, „Mystagogy Beyond Onto-theology. Looking back to Post-modernity with Nicholas of Cusa“, in: A Companion to Nicholas of Cusa, hg. von Moritz, Arne, Leiden 2014 (im Druck). 49 Vgl. etwa Alexenberg, Melvin L., The Future of Art in a Postdigital Age. From Hellenistic to Hebraic Consciousness, Bristol 2011. 50 Hierzu sowie zu den nachfolgenden Verweisen auf Duns Scotus Honnefelder, Ludger, „Metaphysik zwi48
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Thomas von Aquin51 hält Cusanus vielmehr daran fest, dass Wahres, Gutes und Schönes nur aus unserer beschränkten Erkenntnisperspektive unterscheidbar sind. In der Fülle göttlichen Lichts fallen alle Vollkommenheitsprädikate in eins.52 Und an diesem Ineinsfall hat sich unser Streben nach Weisheit und Vollkommenheit auszurichten, sofern es nicht der idolatrischen Versuchung erliegen möchte, endliche (theoretische, praktische, ästhetische oder anthropologische) Bestimmungen absolut zu setzen. Es ist von daher kein Zufall, dass Cusanus in seinem retrospektiven Spätwerk über seine lebenslange „Jagd nach der Weisheit“ dem bereits zitierten Kapitel zur „Wissenschaft des Lobes“ eine Meditation über den Ineinsfall aller Vollkommenheitsprädikate im göttlichen Licht voranstellt. Fand er diese Vollkommenheiten doch „alle und noch mehr auf dem Feld des Lobes angebaut“ (in laudis compo plantata; c. 18 n. 51.7). Der Ineinsfall aller Vollkommenheiten ist uns durch die Wissenschaft des Lobes erschlossen, und genau aus diesem Grund ist dieses „Feld“ für unser Wirklichkeitsverständnis fundamental. Aus der spätmodernen Retrospektive betrachtet kommt das cusanische Denken damit der für die „Kästchenmetaphysik“ der Moderne charakteristischen, fundamentalistischen Versuchung zuvor, konkurrierende, wissenschaftliche (z. B. Darwins Evolutionstheorie), praktische (z. B. Kants Freiheitsphilosophie), ästhetische (z. B. Nietzsches Übermensch) oder religiöse (z. B. deontologisch pervertierte Bibelzitate)53 Identitätsmarker zu verabsolutieren. Fundamental ist allein, was sich per definitionem nicht vergegenständlichen, kompartimentalisieren oder auf fetischartige, semantische Leitmarkierungen zurückführen lässt. Beruht die Wissenschaft des Lobs doch im Kern auf der nicht-identischen Wiederholung einer öffentlich wahrnehmbaren spirituellen Praxis, die zugleich alle sinnlich-affektiven, kognitiven, und praktisch-voluntativen Kapazitäten des Menschen für sich in Anspruch nimmt und doch keine subjektive Erfolgsgarantie für sich Anspruch nehmen kann: „Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil! Denn es ist Gott, der in Euch sowohl das Wollen als das Vollbringen bewirkt um seines Wohlgefallens willen.“ (Phil. 2.12 f.).54 schen Onto-Theologik, Transzendentalwissenschaft und universaler formaler Semantik. Zur philosophischen Aktualität der mittelalterlichen Ansätze von Metaphysik“, in: Was ist Philosophie im Mittelalter?, hg. von Aertsen, Jan / Speer, Andreas, Berlin 1998, S. 48–60; Boulnois, Olivier, Etre et représentation. Une genealogie de la métaphysique moderne à l’époque de Duns Scot, Paris 1999; Burrell, David B., Faith and Freedom: An Interfaith Perspective, in: Faith and Freedom: An Interfaith Perspective, Oxford 2004, S. 91–113, S. 176–190; sowie Pickstock, Catherine, „Duns Scotus: his historical and contemporary significance“, in: The Radical Orthodoxy Reader, hg. von Oliver, Simon / Milbank, John, London 2009, S. 116–147. 51 Hierzu mit Blick auf Duns Scotus Milbank, Beyond Secular Order, 38–40. 52 Vgl. De venatione sapientiae, c. 16 n. 46. 53 Hierzu Milbank, John, „Can Morality be Christian? “, in: The Word Made Strange. Theology, Language, Culture, Cambridge 1997, S. 219–232. 54 Hierzu Hoff, Johannes, „Das Verschwinden des Körpers. Eine Kritik an der Wut des Verstehens in der Liturgie“, in: Herder-Korrespondenz 54 (2000), S. 149–155; sowie Hoff, Johannes, „Mysticism, Ecclesiology and the Body of Christ. Certeau’s (Mis)Reading of Corpus Mysticum and the Legacy of Henri de Lubac“, in: Spaces. History and Mysticism in Michel de Certeau, hg. von Bocken, Inigo, Louvain / Paris 2012, S. 87–109.
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Hierin liegt der symbolisch-realistische Kern der cusanischen Gegenbewegung gegen den unreflektierten Fortschrittsoptimismus seiner proto-modernen Zeitgenossen. Das Feld des Lobes bewahrt den Betrachtenden vor der Idolatrie aufgeblähten Wissens. Wo Gelehrte endlichen Gewissheiten „göttliche Ehren“ erweisen („als ob sie ihre Vernunft nicht von Gott hätten und zu seinem Lobpreise!“),55 verstrickt das Streben nach Vollkommenheit sich in einem Irrgarten narzisstischer Selbstverblendung. Folglich bedarf es nicht nur des Gotteslobes; es bedarf sogar einer scientia laudis, einer Wissenschaft, die das Streben nach Vollkommenheit an die Gnadengabe eines schöpferischen Lichts zurückbindet, das allein die Demütigen erleuchtet. Zwei Zitate aus Cusanus’ (nach seiner eigenen Lektüreanweisung)56 grundlegen Schriften De dato patris luminis und De querendo dei mögen den zentralen Stellenwert dieser spirituellen Grundhaltung seines philosophischen Denkens verdeutlichen: „Ein Unwissender kann nicht durch sein eigenes Erkenntnislicht zum Erfassen der Weisheit gelangen. […] Aus diesem Grund muss der Intellekt aktiviert werden durch eine Gandengabe des Schöpfers […] Diese alles aktivierende Erleuchtung aber, die eine Gabe von oben ist, steigt herab vom Vater aller Gaben, dessen Gaben Lichter oder Theophanien sind.“ „Deswegen irrten all die Stolzen und Hochmütigen, die sich für Weise hielten und auf ihre eigene Begabung vertrauten […]. Sie verschlossen sich den Weg zur Weisheit, weil sie glaubten, sie sei nichts anderes als das, was sie mit ihrer eigenen Vernunft maßen. […] Darum war denjenigen Philosophen, die Gott nicht ehrten, kein anderes Ende beschieden, als dass sie an ihrer Eitelkeit zugrunde gingen.“57
Im Gegenzug zu spätmittelalterlichen, scholastischen und humanistischen Bestrebungen, eine „autonome“ Sphäre philosophischer Vernunft zu konstruieren, begreift Cusanus sein philosophisches Denken als Teil einer mystagogischen Praxis, die dazu anleitet, in allen endlichen Vollkommenheiten eine Gnadengabe des unbegreiflichen „Vaters aller Lichter“ zu erblicken. Doch die cusanische Mystagogie dekonstruiert nicht nur die spätmittelalterlich-scholastische Kompartimentalisierung differenter Wertsphären. Wer dem Geschmack der göttlichen Weisheit auf die Spur kommen möchte, muss auch der analytischen Kompartimentalisierung differenter Sinnesmodalitäten widerstehen. Fallen im göttlichen Licht doch auch Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten ineins.58 In Übereinstimmung mit dem symbolischen Realismus der biblisch-patristischen Tradition appelliert die cusanische Mystagogie an den poetischen Sinn für „metaxologische“59 Zwischenräume, die der analytischen Dekomposition widerstehen. Dieser Sinn fürs Metaxologische führt mich zum zweiten Teil meiner kurzen Skizze der cusanischen Alternative, zur franziskanischen Version von Moderne. Das Vermächtnis des Nikolaus von Kues. Der Brief an Nikolaus Albergati nebst der Predigt in Montoliveto (1463), Heidelberg 1955, n. 27. 56 Vgl. De apice theoriae, n. 8 und n. 16. 57 De dato patris luminum, c. 1 n. 92, 5–6 und n. 94, 5–6, 13–15; sowie De quaerendo deum, c. 3 n. 40, 1–2, 4–6, 8–9 (eigene Übersetzung). 58 Vgl. De visione dei, c. 3 n. 8. 59 Vgl. Desmond, William, Being and the Between, Albany 1995. 55
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Die spätmoderne Gotteskrise im Lichte der cusanischen Vernunftkritik Die auch in christologischer Hinsicht problematische (und im Ergebnis heterodoxe),60 auf distinkte „Fakultäten“ und „Module“ fokussierende Kästchenmetaphysik spätmittelalterlicher Scholastik verleitete moderne Denker dazu, poetische Symbolsprachen als sekundär oder epiphenomenal zu betrachteten. Dabei wären wir ohne einen Sinn für die poetischen Tiefenschichten unserer Lebenswelt nicht einmal in der Lage, das Gesicht eines Menschen „sprechen zu sehen“61 oder zwischen der saturierten Präsenz eines beseelten Lebewesens und der seelenlosen Verfügbarkeit einer Konservendose zu unterscheiden. Wenn Poetinnen und Poeten in sich die Gaben des Malers, Komponisten, Liebhabers, Küchenchefs und Parfümeurs vereinen, dann kommt die philosophische Idolatriekritik nicht daran vorbei, die wirklichkeitserschließenden Kraft poetischen Sprechens als wissenschaftlich fundamental zu betrachten. Cusanus hatte demnach gute Gründe, dem sensus communis (Gemeinsinn), der das harmonische Zusammenspiel unserer fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen) sicherstellt, einen gnoseologisch zentralen Stellenwert zuzuweisen.62 Im Gegensatz dazu provozierte die wissenschaftliche Marginalisierung poetischen Wissens eine Krise unseres Vertrauens in den symbolischen Realismus unserer Alltagswirklichkeit. Hierin liegt das Paradox der post-skotistischen Version von Moderne: Die Obsession für analytische Präzision hat uns (wie selbst undogmatische Neurowissenchaftler einräumen)63 „out of touch“ mit genau jener Wirklichkeit geraten lassen, die das „wissenschaftliche Weltbild“ der Moderne seinen gläubigen Anhängern zu erschließen versprach. Im ungünstigsten Fall eines naiv-szientistischen Rationalismus im Stile populärer „Neurophilosophien“ führte dies dazu, die für den alltäglichen Blick in das Gesicht eines geliebten oder verhassten Menschen charakteristische, paradoxe Sichtbarkeit unsichtbarer, seelischer oder geistiger Wirklichkeitsgehalte auf das trügerische Hintergrundrauschen funktionaler Informationsverarbeitungsprozesse zu reduzieren. Im günstigeren Fall eines über die Grenzen unseres modernen Wissenschaftsideals kritisch reflektierenden Rationalismus erschienen solche Phänomene als Ausdruck irreduzibler, subjektiver „Bedingungen der Möglichkeit“ wissenschaftlicher Rationalität. Die letztgenannte, auf Kant, Fichte, Hegel, Schelling und Nietzsche zurückgehende Variante moderner Kästchenmetaphysik verneint nicht die Bedeutung der metaphysi Vgl. Riches, Aaron, Ecce Homo. On the Divine Unity of Christ, Grand Rapids 2013. Auf diesen, wie es scheint, entmythologisierungsresisententen poetischen Restbestand an common sense haben im vergangenen Jahrhundert neben Wittgenstein insbesondere jüdische Philosophen aufmerksam gemacht. Vgl. Putnam, Hilary, Jewish Philosophy as a Guide to Life. Rosenzweig, Buber, Lévinas, Wittgenstein, Bloomington 2008. 62 Vgl. De quaerendo deum, c. 1 n. 28. 63 Vgl. McGilchrist, Iain, The Master and his Emissary. The Divided Brain and the Making of the Western World, New Haven 2009. 60 61
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schen Symbolsprache der Vergangenheit.64 Der „schöne Schein“ poetischer Fiktionen erscheint als unhintergehbar genau in dem Maße, wie er uns erlaubt, eine klare Grenze zwischen objektiv Bestimmtem und subjektiv Unbestimmten zu ziehen oder dialektisch zwischen diesen Polen zu oszillieren. Die romantische und postmoderne Tradition legitimierte sogar eine gewisse Grenzverwischung zwischen den Polen, wenngleich sie damit nur geringfügig vom rationalistischen „Entzauberungsprogramm“ der Moderne abwich; gingen romantische oder postmoderne Grenzüberschreitungen doch (zumindest in Kontinentaleuropa) nahezu pflichtmäßig mit Gesten ironischer und/oder erhabener Selbstdistanzierung einher.65 So erschloss Kants programmatische Erklärung, die Philosophie habe dem Wissen Grenzen zu ziehen, um für den Glauben Platz zu bekommen,66 der szientistisch marginalisierten Theologie der Moderne im Ergebnis kaum mehr als eine Spielwisse zur fideistischen Kultivierung dessen, was der katholische Performanzkünstler Christoph Schlingensief im Angesicht seines herannahenden Krebstodes als „Christlichen Märchenpark“67 bezeichnete. Doch man muss die Symbolsprache dieses modernen „Märchenparks“ im Lichte seiner spätmittelalterlichen Vorgeschichte begreifen, wenn man ihren historischen Stellenwert verstehen möchte; ist der für die post-kantische Tradition moderner Theologie charakteristische Mangel an Glaubwürdigkeit doch keineswegs Immanuel Kant anzulasten. Kants „kopernikanische Wende“ brachte lediglich mit beispielloser Präzision auf den Begriff, was William Hoye als das „praktische Vorurteil“ der Moderne bezeichnet.68 Und auch dieses Vorurteil zeichnete sich bereits in den streitbaren Innovationen des franziskanischen Spätmittelalters ab. Erscheint doch bereits bei Duns Scotus die Theologie als scientia practica.69 Diese franziskanische Position scheint unseren modernen Intuitionen gerechter zu werden als die etwas fremdländische Position des Dominikaners von Aquin. Der moderne Christ möchte handeln, und er tut dies natürlich in der biblischen Hoffnung, dass sich sein Handeln in der Liebe zu Gott vollenden möge. So fügt sich das Neue zum Alten, lehrte doch bereits Duns Scotus’ proto-kantische Version des kategorischen Vgl. hierzu meine älteren Versuche, an post-moderne Varianten nachkantischer Hermeneutik konstruktiv anzuknüpfen, insbesondere: Hoff, Johannes, Spiritualität und Sprachverlust. Theologie nach Foucault und Derrida, Paderborn 1999. 65 Zu einer kritischen Bestandsaufnahme: Hedinger, Johannes M. / Meyer, Torsten, What’s next? Kunst nach der Krise. Ein Reader, Berlin 2013. 66 Vgl. KrV, B 30. 67 Schlingensief, Christoph, „Die Kirche ist ein Märchenpark“, in: Cicero (2010), http://www.schlingensief.com/weblog/?p=481. Zu Schlingensiefs Dekonstruktion des modernen ‚Märchenparks‘: Hoff, Johannes, „Leben in Fülle. Schlingensiefs Dekonstruktion der (Post)Moderne“, in:, Deutscher Pavillon 2011. 54. Internationale Kunstaustellung La Biennale Di Venezia, hg. von Gaensheimer, Susanne, Venedig 2011, S. 213–223. 68 Vgl. Hoye, William J., The Emergence of Eternal Life, Cambridge 2013, c. 2.3. Die anschließenden, äußerst erhellenden Kapitel nehmen wiederholt auf die kantische Tradition Bezug, allerdings ohne auf deren skotistische Vorgeschichte einzugehen. 69 Vgl. Duns Scotus, Ordinatio, Prologus, pars. 5, q. 1–2. 64
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Imperativs, dass Gott unbedingt zu lieben sei: deus est diligendus.70 Verglichen damit scheint der heilige Thomas in einer Form aristotelisch-hellenistischer Theoriegläubigkeit stecken geblieben zu sein – als bestünde die höchste Bestimmung des Menschen in der kontemplativen Nabelschau eines „Denkens des Denkens“. Doch Thomas’ Verständnis der höchsten Bestimmung des Menschen entsprang nicht seiner Aristotleslektüre; es verdankte sich vielmehr einer gründlichen Lektüre der Freundschaftsmystik des Evangelisten Johannes.71 Aus diesem Grund ist die aristotelische „Politik der Freundschaft“ der kontemplativen Bestimmung menschlichen Strebens bei Thomas nicht mehr (aporetisch) nachgeordnet, sondern gleichgestellt. Oder genauer, sie erfüllt sich in einer proto-cusanischen Form von Koinzidenz: der kontemplativen Freundschaft mit Gott. Die philosophische Liebe zum Erkennen vollendet sich (wie bei Cusanus)72 in der Erkenntnis der Liebe Gottes. Genau aus diesem Grund ist die thomanische Theologie mehr als eine praktische Disziplin: speculativa tamen magis est quam practica.73 Das kontemplative Erkennen markiert gleichsam den „kleinen Unterschied“, der die vollendete Liebe von einem melancholischen „acting out“ unterscheidet. Man kann das auch etwas schlichter ausdrücken: Bei Thomas und Cusanus ist Liebe immer noch das, was sie schon war, als die Welt erschaffen wurde und Eva Adam „erkannte“ (Gen. 4.1). Im Unterscheid dazu tendierte das westlichen Christentum im Gefolge von Duns Scotus dazu, das theologische Nachdenken über die Spuren des Unsichtbaren in unserer sichtbaren Alltagsrealität auf ein praktisches Problem zu reduzieren. Die biblische Lehre, dass die, die reinen Herzens sind, „Gott schauen“ (Mt 5.8) werden, erschien deshalb mehr und mehr als ein praktisches Postulat – eine voluntaristische Fiktionen, die religiös musikalische Individuen dazu motiviert, den moralischen Anforderungen moderne Zivilgesellschaften gerecht zu werden, ohne das symbolische Erbe ihrer Vorfahren rückstandslos entsorgen zu müssen. Theoretische Betrachtungen können unter den Vorzeichen der für dieses Denken grundlegenden Kompartimentalisierung von Theorie und Praxis allenfalls noch antinomische Spielräume des Nichtwissens freilegen. Und so bleibt die Entscheidung „zu glauben“ oder „nicht zu glauben“ zuletzt dem subjektiven Belieben des Individuums überlassen. Religion wird, ebenso wie der platonische Eros und die aristotelische „Politik der Freundschaft“, zu einer „sentimentalisierten“74 Privatangelegenheit. Doch man glaubt nur, was man sieht – selbst wenn dieses „Sehen“, wie bei Adam und Eva, Cusanus, den Kirchenvätern und in den biblischen Schriften, nur den Charakter eines tastenden Vorgeschmacks der eschatologischen „Schau Gottes“ hat.75 Wer hingegen Duns Scotus, Ordinatio IV, dist. 46, q. 1, n. 10; zum Unbedingtheitscharakter dieses proto-kantischen Imperativs Möhle, Hannes, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung, Münster 1995. 71 Kimbriel, Friendship as Sacred Knowing, ch. 3 (draft text). Zum Folgenden ch. 2, 6 und 7. 72 Vgl. Hoff, The Analogical Turn, S. 194 ff. 73 Summa Theologiae Ia, q. 1, a. 4, corp. 74 Kimbriel, Friendship as Sacred Knowing, S. 11 (draft text). 75 Vgl. hierzu McGinn, Bernard, „Seeing and Not Seeing. Nicholas of Cusa’s De visione Dei in the History 70
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nur sieht, dass man glauben kann, und sich ansonsten mit der voluntaristischen Bejahung theoretisch uneinsehbarer, subjektiver Fiktionen zu arrangieren hat, glaubt eben genau dies – er glaubt, dass man Dinge glauben kann, von denen man weiß, dass sie nicht so sind. Um mit Mark Twain zu sprechen: „Faith is believing what you know ain’t so.“76 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die angesehensten Repräsentanten nach-kantischer Vernunftkritik, von Schelling und Hegel bis hin zu Habermas, Dieter Henrich und Manfred Frank, die Bedeutung der symbolischen Glaubenswahrheiten der Vergangenheit nüchterner einschätz(t)en als ihre pastoral motovierten, theologischen Interpreten.77 In seiner (in mehrfacher Hinsicht) prophetischen Retrospektive auf die Geschichte deutscher Philosophie und Religion hatte Heinrich Heine dies bereits 1834 deutlich gesehen und mit Blick auf Kants postulatorische Wende mit unübertrefflicher Ironie auf den Punkt gebracht: „Immanuel Kant […] hat den Himmel gestürmt […] und der alte Lampe [Kants langjähriger Diener] steht dabei, mit dem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmte sich Immanuel Kant, und zeigt dass er nicht nur ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: ‚Der alte Lampe muss einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch aber soll auf der Welt glücklich sein – Das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen‘“78.
Von wenigen Ausnahmen (wie Hamann und Kierkegaard) abgesehen, erscheint die nach-kantische Theologie der Moderne als eine aus ihrem mystischen Nährboden herausgerissene, pastoral orientierte Spezialdisziplin, die sich auf historisch vermittelte Formen „geoffenbarten“ Wissens stützt, um diesen einen fideistisch oder postulatorisch fundierten Sinn abzugewinnen, der unserem theoretischen Erkennen unzugänglich bleibt. Das symbolisch fundierte Wissen des Glaubens erscheint konsequenterweise nicht mehr als Kulminationspunkt geschöpflichen Erkenntnisstrebens, sondern als ein unter den Markenzeichen von Konfessionen und Kirchen vertriebenes Alternativ- oder Zusatzangebot zu den grundlegenderen Einsichten der scientific community. Indem es seine kontemplativen Ankergründe vernachlässigte, provozierte das westliche Christentum folgerichtig die ikonoklastische Gegenbewegung atheistischer Vernunftkritik, die
of Western Mysticism“, in: The Legacy of Learned Ignorance, hg. von Casarella, Peter J., Washington 2006, S. 26–53. 76 Twain, Mark, Following the Equator, Hartford 1898, c. 12 (Eingangszitat) (http://www.gutenberg.org/ files/2895/2895-h/2895-h.htm#ch12). 77 Zu Schelling, vgl. Frank, Manfred, Schellings „absolute Indifferenz“. Vorlesung Sommersemester 2009 (Tübingen: Unpubliziertes Manuskript 2009), 20. Vorlesung: „In einer Nachlassnotiz, auf die Habermas anspielt, geht Schelling so weit, die Ewigkeit als eine Projektion aus der Endlichkeit zu denken.“ Frank stützt sich in diesen Vorlesungen auf Habermas’ unveröffentlichte Doktorarbeit Zwiespältigkeit in Schellings Denken von 1954. Ich danke Manfred Frank für die Übersendung des Vorlesungsmanuskripts. 78 Heine, Heinrich, Über Deutschland. Erster Theil: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Hamburg 1867, S. 204 f.
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mit einem gewissen Recht für sich in Anspruch nimmt, der legitimere Konkursverwalter des „christlichen Erbes“79 zu sein. Die Bedeutung des Nikolaus von Kues liegt demgegenüber darin, dass ihm unter den verschärften Bedingungen des spätmittelalterlichen Niederganges christlicher Gelehrsamkeit noch einmal gelang, was der Dominikaner Thomas von Aquinas bereits angesichts der Aristotelesrezeption des 13 Jahrhunderts zu erreichen versucht hatte: den symbolischen Realismus der in Ost und West bis zum 12. Jahrhundert nahezu ungebrochenen Tradition christlicher Orthodoxie zu rekonstruieren. Genau das prädestiniert Cusanus’ frühmoderne Synthese vormoderner Philosophie dazu, uns eine orthodoxe Alternative zur franziskanischen Moderne zu erschließen, die der säkularisierten Theologie des zu Ende gehenden digitalen Zeitalters auf Augenhöhe gegenüber zu treten vermag. Streng genommen bewohnt die post-kantische Theologie der Moderne (ob atheistisch-säkular oder kirchlich-pastoral) immer noch die heterodoxen Trümmer einer erstarrten Form spätmittelalterlicher Scholastik. Die cusanische Orthodoxie hat uns einen Weg gewiesen, aus diesem Dunkel herauszufinden, ohne „out of touch“ mit unserer spätmodernen Lebenswelt zu geraten. Hat Orthodoxie doch nichts mit dem starren Festhalten an den patriarchalen Doktrinen talibanartiger Kleriker gemein. Um mit der feministischen Philosophin Sarah Coakley zu sprechen: „Orthodoxy [is] a demanding and ongoing spiritual project, in which the language of the creeds is personally and progressively assimilated. “80
Literaturempfehlung Coakley, Sarah, God, Sexuality and the Self. An Essay on the Trinity, Cambridge 2013. Hoff, Johannes, The Analogical Turn. Re-thinking Modernity with Nicholas of Cusa, Grand Rapids 2013. Hoff, Johannes, „Mystagogy Beyond Onto-theology. Looking back to Post-modernity with Nicholas of Cusa“, in: A Companion to Nicholas of Cusa, hg. von Moritz, Arne, Leiden 2016. Kimbriel, Samuel, Friendship as Sacred Knowing. Overcoming Isolation, Oxford 2014. Louth, Andrew, The Origins of the Christian Mystical Tradition from Plato to Denys, Oxford 22007. Milbank, John, Beyond Secular Order. The Representation of Being and the Representation of the People, Hoboken 2014. Pickstock, Catherine, Repetition and Identity. The Literary Agenda, Oxford 2013. Riches, Aaron, Ecce Homo. On the Divine Unity of Christ, Grand Rapids 2013. Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2012. Tyson, Paul, Returning to Reality. Christian Platonism for our Times, Eugene 2016.
Vgl. hierzu Zizek, Slavoj / Milbank, John, The Monstrosity of Christ. Paradox or Dialectic?, Cambridge 2009. 80 Coakley, God, Sexuality and the Self, S. 5. Grundlegend zum obigen Missverständnis: Chesterton, Gilbert Keith, Orthodoxie. Eine Handreichung für Ungläubige, Kißlegg 2011. 79
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Gedanken zum philosophischen Leitparadigma einer zeitsensiblen Theologie Klaus Müller, Münster
Zeit-Zeichen I Die christliche Theologie steht seit Längerem mehrfach unter Druck. Nach der letzten Jahrtausendwende geschah dies namentlich durch den New Atheism, über dessen publizistische Schlachtschiffe von Richard Dawkins und Daniel C. Dennett bis Christopher Hitchens und Michael Schmidt-Salomon man nicht allzu viele Worte verlieren muss.1 Ungleich herausfordernder nimmt sich eine Stimme wie diejenige von Kurt Flasch aus, der aus seiner profunden Kenntnis der okzidentalen philosophischen und theologischen Tradition in hohem Alter zur Überzeugung gelangt, aus intellektuellen Gründen kein Christ (mehr) sein zu können.2 Diese Attitüde ist freilich nicht neu. Sie findet sich schon in der Frühzeit des Christentums seitens so intellektueller Größen wie Kelsos, Porphyrios und Kaiser Julian (Apostata), deren vor allem philosophisch begründete Christentumskritik sich neben einer historisch-philologischen Widerlegung von Bibelstellen namentlich gegen den Glaubensbegriff, die Auffassung von Wundern und die moralischen Überzeugungen christlicher Herkunft richtete, ihrerseits aber durchaus mit einer philosophischen, bei einigen Autoren auch ins Spekulative, gar Irrationale ausfransenden Theologie einhergehen konnte.3 Dass solche Motive gegenwärtig wieder eine Konjunktur erleben, ist weit aufregender als die eher hausbackene Polemik der Neuen Atheisten. Was steckt dahinter? Nichts Geringeres als fundamentale Zweifel an der Vernunftgemäßheit dessen, wie in den Christentümern von Gott geredet und gedacht und was aus diesem Gottesgedanken hergeleitet wird. Im akademischen Kontext, in dem die Theologien bislang durchaus wohl gelitten sind – wenn auch zuweilen unter der Signatur des Prekären –, wird diese Krise dadurch kaschiert, dass der gesamte normative Geltungsbestand religiöser Tradition historisiert wird – dass dabei die Trennlinie zur Vgl. dazu Müller, Klaus, „Theismus unter Dauerbeschuss. Gottesglaube im Visier gegenwärtiger Kulturkritik“, in: Dawkins’ Gotteswahn. 15 kritische Antworten auf seine atheistische Mission, hg. von Langthaler, Rudolf / Appel, Kurt, Wien / Köln / Weimar 2010, S. 31–56. 2 Flasch, Kurt, Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2013. 3 Vgl. dazu Schröder, Winfried, Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit (= Quaestiones; Themen und Gestalten der Philosophie 16), Stuttgart / Bad Canstatt 2011. 1
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Religionswissenschaft verschwimmt, wenn nicht verschwindet, scheint die Verfechter dieser Strategie einer Selbstbehauptung der Theologie kaum zu stören.
Zeit-Zeichen II Wie auch immer: Außer Zweifel steht m. E., dass die Gottrede der christlichen Tradition bis in die Kernmitte der respektiven Glaubensgemeinschaften – sei es die katholische, die protestantische, die anglikanische und in Teilen auch die orthodoxe – ihre Zustimmungsfähigkeit eingebüßt hat. Die Rede von einem personalen Schöpfergott, der das Universum ins Dasein ruft, den Menschen schafft, ihm – nachdem er sich sündhaft von seinem Ursprung abgewandt hat – auf abenteuerliche Weise in der sogenannten Menschwerdung erlöst, permanent bis heute in die Geschichte interveniert und dann alles zu einem guten Ganzen führt, geht einfach nicht mehr zusammen mit dem, was längst an Wissen über Mensch und Welt angehäuft ist und ausweislich seiner wissenschaftlich-praktischen Erfolgsgeschichte nur noch um den Preis regressiver Fundamentalismen bestritten werden kann.
Zeit-Zeichen III Diese Krise ist deswegen so tragisch, weil zumal die katholische Theologie – gemessen an ihrem Langzeitgedächtnis – erst vor ganz Kurzem eine radikale Transformation gegen ihre „Ungleichzeitigkeit“ mit dem epochalen Bewusstsein und den Zeichen der Zeit wagte, die sie an den Rändern zerriss und die bis heute nicht flächendeckend selbstverständlich geworden ist. Nach der Epoche der neuscholastischen Formel- und Manualtheologie, über deren Bindekraft und jahrzehntelange selbstverständliche Dominanz man heute nur noch sprachlos staunen kann, hat sich nach langen und subkutanen Vorläufen das sogenannte heilsgeschichtliche Denken Bahn gebrochen. Das war der Versuch, in einer ungleich bibelnäheren Sprache als vorher die Gottesbotschaft des Alten und Neuen Bundes so zu verkünden, dass die Adressaten unmittelbar merken konnten, dass und wie das Verkündete mit ihnen selbst zu tun hat. Das waren die Zeiten des sogenannten biblischen und hermeneutischen Frühlings. Aber ist dem ein Sommer gefolgt? So wie es aussieht, nicht. Tonnen und Abertonnen theologischer Literatur verschrieben sich nachfolgend dem Schema „Altes Testament – Neues Testament – Kirchenväter – Mittelalter (schon eingeschränkt) – ganz selektiv ein paar moderne Referenzen – und dann wenige Seiten systematischer Reflexion“. Als die mangelnde Verständigungskraft und einfach die Langeweile dieser Schematik unübersehbar wurde, brach die Zeit der Fremdprophetien an: Am liebsten berief man sich auf Gewährsleute, die spröde und unzugänglich genug waren, um aus ihnen umso mehr hermeneutisch-theologische Funken zu schlagen – daher die (ausgerechnet katholisch) so devote Hingabe an Autoren wie Foucault, Derrida, Levinas und (den ausgemachten Scharlatan) Lacan. Hat das ge-
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holfen, christliche Tradition und Theologie glaubwürdiger, intellektuell verantworteter zu machen? Im Gegenteil: Der Autoritarismus und die Heteronomie, die ein Gutteil der Theologie gerne dem kirchlichen Lehramt unterstellt, ist unter dem Einfluss dieser sogenannten postmodernen Denkformen zu ihrem eigenen Ingredienz geworden.
Faktizität und Fiktionalität Ein Weiteres kommt hinzu: Durch die exegetische Arbeit seit Aufkommen der historisch-kritischen Methode und dann ihrer Zulassung auch im katholischen Bereich Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich eine Problematik zusammengeballt, für die ich bislang in der systematischen Theologie kaum Sensibilität, geschweige denn eine ernsthafte Auseinandersetzung finden kann: die Frage von Faktizität und Fiktion. Was folgt denn daraus, dass es ausweislich des vollkommenen Fehlens archäologischer Spuren einen Exodus Israels aus Ägypten nie gegeben hat und vielleicht auch keinen historischen Moses, obwohl die Erzählung davon – inklusive der Sinaiereignisse – zu den Konstitutionsnarrativen der biblischen Traditionen, also auch des Christentums gehört? Und auch die kriegerische Einnahme des „gelobten Landes“ ist ausweislich der erhaltenen Spuren Fiktion, weil es sich in Wirklichkeit um ein langsames Einsickern nomadisierender Stämme in bereits sesshafte Populationen handelte. Der salomonische Tempel scheint nach heutigem Wissenstand 200 Jahre später als biblisch datiert errichtet worden und auch noch mit Gottesbildern, gar solchen von JHWH und seiner Aschera, ausgestattet gewesen zu sein. Und das babylonische Exil war so wenig das alttestamentlich schwarz in schwarz gemalte Jammertal, sodass nach seinem Ende offenkundig nur eine Minderheit den Rückweg Richtung Jerusalem antrat und die Mehrheit in der anscheinend so angenehmen Fremde blieb bis – sage und schreibe – bis zu dem Irakkrieg von 2003. Das ist noch nicht alles. Dieser Clash von Historie und Fiktion endet nicht an den Rändern des sogenannten Alten Testaments. Er betrifft genauso die Stiftungsurkunden des Christentums, die „Neues Testament“ heißen. Was ist wirklich historisch an den Erzählungen der Evangelien? Das diesbezüglich halbwegs Verlässliche – immer genommen selbstverständlich als Hypothese im Sinn der modernen Historiographie – dürfte auf eine Postkarte passen, meinte schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Fundamentaltheologe Eugen Biser. Die ganzen Kindheitsgeschichten Jesu nach Matthäus und Lukas entpuppen sich unter diesem historisch-kritischen Zugriff als theologische Narrative aus dem Geist der jüdischen Traditionen inklusive ägyptischer Motive. Für die Ostergeschichten gilt das Gleiche. Sind sie deswegen belanglos? Nur dann, wenn die Sachfrage in den fruchtlosen Antagonismus zwischen Historie und Poesie getrieben wird. Das dreibändige Jesus-Buch von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. führt genau das – unerachtet der sprachlich-spirituellen Schönheit etlicher seiner Passagen – bis zum Exzess vor.4 Ein Kurt Flasch, ein 4
Vgl. Ratzinger, Joseph / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. 3 Bde. Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 2007–2012.
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Peter Bieri oder ein Urs Widmer (um nur willkürlich Namen aufzurufen) entziehen sich dieser Aporie, indem sie die Poesie der „heiligen Texte“ zuhöchst schätzen und bewundern, ohne dass ihnen deswegen irgend ein Wahrheitsanspruch zugeschrieben würde. Die beiden Letztgenannten brachten das bei einer gemeinsamen Dichterlesung auf den Nenner, dass es sich bei Gott um eine menschliche Projektion handle, die wir Menschen bräuchten, weil wir es mit uns selbst nicht aushielten.5
Rehabilitierung der Wahrheitsfrage Theologie als solche wird damit nicht zufrieden sein. Dann muss sie sich aber in den Stand gesetzt sehen, einsichtig zu machen, dass auch sogenannte Fiktionen oder Poesien wahr sein können. Das Überzeugendste, was mir bezüglich dieser Frage bislang begegnet ist, sind die einschlägigen Überlegungen Dieter Henrichs, entfaltet im Gang seiner jahrzehntelangen Bemühungen um eine konsistente Theorie der Subjektivität. Henrichs Kerngedanke in Kurzform: Es gibt Gedanken, die selbstbewusste Subjektivität um ihrer eigenen Selbsterhellung willen denken bzw. ausdenken muss (Henrich spricht gern von „Abschlussgedanken“), ohne deswegen schon ein Wissen über den ontologischen Status des Gedachten gewinnen zu können. Aber da zu Selbstbewusstsein unhintergehbar ein Moment cartesianischer Wirklichkeitsgewissheit gehört – denn wenn ich „ich“ denke/ sage, weiß ich auch, dass ich bin – kontinuiert sich diese Wirklichkeitsgewissheit sozusagen auch in jenes Gedachte, welches Selbstbewusstsein um seiner selbst willen denken muss. Im Grunde folgt diese Denkfigur der Struktur der kantischen Postulatenlehre.
Konsequenz: All-Einheit Unschwer erkennbar dünkt mich, dass über diesen selbstbewusstseinstheoretischen Angang eine ausgesprochen lösungsträchtige, weil klassische Aporien entwirrende Form von Gottdenken inklusive der Einlösung seiner ontological commitments gewinnbar ist: In der Instanz ihres eigenen Wirklichkeitsbewusstseins muss sich selbstbewusste Subjektivität, weil sie nicht über das eigene Auftreten verfügt, den notwendigen Gedanken des sie tragenden Grundes als von Wirklichkeit gedeckten voraussetzen. Und sie muss das so tun, dass ihr dieser wirkliche Grund unverfüglich als Grund in ihr selbst epistemisch zugänglich wird, wenngleich ontologisch gesehen dieses In-Sein gar kein anderes als ein In-Sein des Endlichen im Unendlichen sein kann. So bahnt sich der Überstieg in eine untrennbar epistemisch und ontologisch neue Dimension an: Die beschriebene enge Verschränkung von Gründendem und Begründetem führt aus sich zu einem im strengen Sinn spekulativen Begriff von Selbstbewusstsein als einem 5
Vgl. http://www.nzz.ch/aktuell/zuerich/uebersicht/schreibend-das-leben-ergruenden-1.18188526. Letz ter Aufruf 23-11-2013.
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„Sich im Anderen seiner selbst als sich selbst wissen.“6
Ebendieser Begriff aber kann nur auf dem Boden des Gedankens der All-Einheit ausgebildet werden. Henrich selbst geht auf diesen Gedanken aus ganz verschiedenen Richtungen zu: Einmal begegnet er bereits als eine der beiden elementaren Selbstdeutungen von Selbstbewusstsein angesichts seiner spannungsgeladenen Doppelerfahrung von unhintergehbarer Zentralität und Verwiesenheit auf eine Welt als eines ihrer vielen Momente, andererseits vermag der Gedanke der All-Einheit die irrreduzible Dualität zwischen den Einzeldingen der Welt und der Ordnung, in der sie begegnen, zu übergreifen. Und das wiederum entspricht der Weise, wie das sich selbst unverfügliche Subjekt sich mit seinem es ermöglichenden Grund zusammen denkt. Jedes Mal geht es darum, „die Form dieser Welt und […] die Grunddifferenz, die sie impliziert“7 zu übergreifen. Ich nehme den Gedanken nachfolgend nur von der letztgenannten dritten Auftrittsweise her in Anspruch. Der Gehalt des Gedankens der All-Einheit an sich ist uralt und bestimmt alle Religionen zutiefst – das rührt daher, dass er eine der elementaren Weisen der Selbstdeutung von Subjektivität repräsentiert. All-Einheit durchwaltet nicht nur die fernöstlichen Religionen, wo das unmittelbar manifest wird, sondern genauso – wenn auch meist subkutan – die Monotheismen, allen voran das Christentum. Sein monistischer Tiefenstrom seit Anbeginn bis in Gegenwartstheologien hinein ist weitreichend verdeckt oder vergessen, bisweilen auch in Gestalt eines Pantheismusvorwurfs bestritten.8 Gleichwohl können elementare Züge des Christlichen, seiner Theologie und Spiritualität, ohne ihn nicht einmal im Ansatz begriffen werden.9 Hier geht es zunächst nur darum, hervorzuheben, dass das All-Einheitsdenken derart verfasst ist, dass es gerade nicht alles Bestimmte, Differenzierte verschwinden lässt, wie Kritiker gern behaupten. Im Gegenteil: „Es ist ein Verdienst erst der klassischen deutschen Philosophie, diesen Gedanken so weit entwickelt zu haben, dass er mit der Wirklichkeit der Einzelnen vereinbar wird.“10
Leitend ist dabei die Intention, Differenz und Beziehung nicht als ein Letztes in Geltung zu setzen, weil beides logisch nur auf der Folie einer Einheitsintuition überhaupt in seiner begrifflichen Struktur und Leistung fassbar wird, dabei aber schon kraft des „All“ in der „All-Einheit“ eben vieles eingeschlossen zu denken und in seiner Vielheit nicht auszulöschen ist (sonst bräuchte man gar nicht von „All“ zu reden!). Und wenn so das Viele von Wesen simultan mit dem auftritt, was über alle Differenzen hinaus greift Henrich, Dieter, „Selbstbewusstsein und spekulatives Denken“, in: Ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt am Main 1982, S. 175. 7 Henrich, Dieter, „Mit der Philosophie auf dem Weg“, in: Die Philosophie im Prozeß der Kultur, von Henrich, Dieter, Frankfurt am Main 2006, S. 101. – Vgl. auch ders., Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007, S. 260–271. 8 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in Dogma und Denkform. Strittiges in der Grundlegung von Offenbarungsbegriff und Gottesgedanke (= ratio fidei; Bd. 25), hg. von Müller, Klaus / Striet, Magnus, Regensburg 2005. – Müller, Klaus, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006. 9 Vgl. dazu Müller, Streit um Gott, S. 200–204. 10 Henrich, „Mit der Philosophie auf dem Weg“, S. 101. 6
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als All-Eines, aus dem die Vielheit des Einzelnen überhaupt erst hervorgeht, ist dieses All-Eine in jedem Moment des Auftretens der Einzelnen der Vielheit in diesen gegenwärtig und verleiht ihnen zugleich in ihrer Einzelheit eine Bedeutung, „die auf nichts anderes relativ ist.“11 Dies geschieht genauer gesagt dadurch, dass die Einzelnen in ihrer je eigenen Verfassung dem korrespondieren, was die Einheit am All-Einen charakterisiert, weil dieses die Einzelnen sonst nicht einschlösse, sondern nur zusammenfasste.12 Dieses Einende von All-Einem und Einzelnen liegt nachgerade auf der Hand, weil es bereits von der Beschreibung des Ganzen als eines All-Einen impliziert wird: „Das All-Eine ist jenes selbstgenügsame Eine, das sich ursprünglich in Alles differenziert hat oder kraft seines Wesens ursprünglich in Alles differenziert ist. Diese Selbstdifferenzierung ist die Eigenschaft, die an die Stelle der ursprünglichen Differenz zwischen der Einheit und den Vielen getreten ist. […] Die Vielen sind in ihm als dem All-Einen eingeschlossen und daher mit ihm von der grundsätzlich gleichen Verfassung. Daraus folgt ganz unmittelbar, dass den im All-Einen eingeschlossenen Vielen gleichfalls die Eigenschaft der Selbstdifferenzierung zugesprochen werden muss.“13 –
Das macht den Selbststand der Einzelnen im All-Einen aus und vollzieht sich kraft deren Endlichkeit als Selbsterhaltung. Schelling beschreibt diesen Zusammenhang von Absolutem und Endlichem – theologisch gewendet: von Gott und Schöpfung – in der Logik des transzendentalen Bildbegriffs. Weil alles Bild Gottes ist, ist in diesem Bild auch Gottes Selbständigkeit abgebildet, die sich als Selbststand des Seienden geltend macht: „Das ausschließend Eigentümliche der Absolutheit ist, dass sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbständigkeit verleiht. Dieses In-sich-selbst-Sein, diese eigentliche und wahre Realität […] des Angeschauten ist Freiheit.“14
Kommt die alternative Option einer Ursprünglichkeit der Differenz15 auch zu einer solchen Nobilitierung des Einzelnen (was sie doch eigentlich prätendiert)? Mir will scheinen: Nein! Auch dem schärfsten Argument dieser Alternative kann die All-Einheit standhalten – dem Schwert der Theodizee: „Auch die Hinfälligkeit des Einzelnen und sein Gang in ein Ende, das ihm für definitiv gilt, werden vom Gedanken der All-Einheit nicht aufgehoben. Selbst das Leid und die Angst in diesem Vergehen werden von ihm nicht abgestoßen, sondern umgriffen. Denn dass das Einzelne seinen Ort im All-Einen hat, bedeutet nicht das Dementi, sondern die definitive Bestätigung seiner Endlichkeit, die wiederum sein Vergehen und somit alles einschließt, was das Endliche in seinem Vergehen befällt. Insofern bleibt dieser Erfah Henrich, „Mit der Philosophie auf dem Weg“, S. 103. Vgl. Henrich, Denken und Selbstsein, S. 267–269. 13 Henrich, Denken und Selbstsein, S. 269–270. 14 Schelling: [VI, 39] Zitat nach Fuhrmans, Horst, Schellings Philosophie der Weltalter, Düsseldorf 1954, S. 65. 15 Philosophisch denke ich diesbezüglich an Emanuel Levinas, theologisch etwa an die einschlägigen Überlegungen bei Magnus Striet in: Striet, Magnus, „Antimonistische Einsprüche im Namen des freien Gottes Jesu und des freien Menschen“, In: Dogma und Denkform, S. 111–127. 11 12
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rungsart immer etwas gemeinsam mit dem Bewusstsein vom Ausstand der Bergung des bewussten Lebens – wenn denn solche Bergung nur das sein könnte, was in den Religionen Erlösung und Beseligung heißt.“16
Wer im christlich-theologischen Raum nach affirmativen Korrespondenzen dieses philosophischen Gedankens suchte, könnte etwa beim Cusaner, bei Teresa de Jesus, Wladimir Solovev, Karl Rahner, Alfred Delp und Jochen Klepper fündig werden, um willkürlich nur einige zu nennen.17
Theologisches Programm Wenn ich nun versuche, den vorgestellten Ansatz von Theologie inhaltlich in ein Programm zu übersetzen, so scheint sich mir folgende Agenda nahe zu legen: Der schultheologische Monotheismus steht zur Disposition, weil er keine hinreichende Antwort auf das Verhältnis von Absolutem und Endlichem gewährt, sondern im theologischen Krisenprodukt des Schöpfungsgedankens18 seine Verlegenheit verbirgt. Nicht von ungefähr hat Fichte ausgerechnet in der predigtnahen Anweisung zum seligen Leben den Schöpfungsgedanken als den „absoluten Grundirrthum aller falschen Metaphysik und Religionslehre“19 gebrandmarkt. Die Alternative hieße: Der traditionelle Monotheismus ist konsistent – aber dann verstehen wir ihn nicht und zündeln damit gut kierkegaardsch-protestantisch und zugleich postmodern mit einem arationalen Überhang in der Religion.20 Im Hintergrund dieser zugegeben auf den ersten Blick sperrigen These steht die aus dem enzyklopädischen Durchgang durch die denkerische Architektonik der Hochreligionen gewonnene Überzeugung Erik Voegelins, „dass […] eine Metaphysik, welche das Transzendenzsystem der Welt als den immanenten Prozeß einer göttlichen Substanz interpretiert, die einzig sinnvolle systematische Philosophie ist, weil in ihr zumindest der Versuch gemacht wird, die bewusstseinstranszendente Weltordnung in einer ‚verstehbaren‘ Sprache zu interpretieren, während jede ontologisch anders fundierte Metaphysik zur Unmöglichkeit, die Transzendenz immanent zu verstehen, noch den Widersinn hinzufügt, sie in ‚unverständlicher‘, d. h. nicht an der einzig ‚von innen‘ zugänglichen Erfahrung des Bewußtseinsprozesses orientierter Sprache zu interpretieren.“21 Henrich: „Mit der Philosophie auf dem Weg“, S. 104. Belege vgl. in Müller, Streit um Gott, S. 200–204. 18 Zu diesem Charakter des biblischen Schöpfungsgedankens vgl. Sloterdijk, Peter / Jüngel, Eberhard, „Disput über die Schöpfung“, in: Jahrbuch 2001 Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst, München 2001, S. 23–37, bes. S. 28. 19 Fichte, Johann G., „Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch Religionslehre“, in: Fichtes Werke. Bd. V. Zur Religionsphilosophie, hg. von Fichte, Immanuel H., Nachdr. Berlin 1971, S. 397–574, hier S. 479. 20 Vgl. Hoff, Johannes, „Gewalt oder Metaphysik. Die Provokation aus Rom. Ein Essay“, nach: Die Zeit – Online, S. 1–6, hier: S. 1 (Abrufbar unter: http://www.zeit.de/online/2006/38/papst-vernunft. Letzter Aufruf 23-11-2013). 21 Voegelin, Eric, Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, S. 37–61, hier: 50 f. 16 17
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Die daraus resultierende systematisch-theologische Wahrnehmung der Aufgabe, Monotheismus und All-Einheit zusammenzuhalten, wäre gerade der christlich-katholischen Denkform auf den Leib geschrieben; sie müsste allerdings in ausreichendem Maß den philosophischen Verpflichtungen nachzukommen bereit sein, die mit einem solchen Unternehmen verbunden sind. Solche Theologie stellte sich der spätestens nach Spinoza, Kant und der idealistischen Zusammenführung beider Denkperspektiven22 nicht mehr hintergehbaren Herausforderung, Gott so zu denken, dass er „zugleich persönlich und alles ist“23, um eine Formel Peter Strassers aufzugreifen, die wie von Schelling aufgenommen klingt. „Gott ist das Einzelwesen, das alles ist“24, heißt es an einer Stelle der Philosophie der Offenbarung. Die Einlösung der mit diesem Begriff gestellten Aufgabe ist Schelling auch in dem über Jahrzehnte sich erstreckenden Weltalter-Projekt nicht gelungen, den Nachfolgenden – gerade den Ambitioniertesten, die sich unter dem Titel des „Spekulativen Theismus“ dem gemeinsamen Anliegen verbanden – auch nicht. Hermann Lotze erblickte den Grund dieser Abbrüche darin, dass in diesen Projekten das „[…] System der Freiheit […] offner in einen Dualismus übergegangen [ist] als es die Anhänger desselben zugestehn.“25
Querdenker und Grenzgänger, die an diesem Punkt konsequenter blieben, sind meist aus ideenpolitischen Gründen philosophisch und theologisch ins Abseits gedrängt worden. Das Projekt selbst hat, wenn ich recht sehe, heute unter dem Vorzeichen eines bereits im Gang befindlichen „panentheistic turn“26 neue Aussichten. Dieser „turn“ ist im Wesentlichen von prozessphilosophischen Motiven getragen. Eine Metaphysik und Theologie, welche die Herausforderung durch das alle moderne Naturwissenschaft leitende Paradigma der Evolution ernst nehmen, können diese Motive nicht ignorieren.
Vgl. dazu Henrich, Dieter, Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism, Cambridge / London 2003, S. 73–81. 23 Strasser, Peter, Der Gott aller Menschen. Eine philosophische Grenzüberschreitung, Graz / Wien / Köln 2002, S. 191. Vgl. das Motiv auch bei Henrich, Dieter, „Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne? Sechzehn Thesen“. In: Die Gottrede von Juden und Christen unter den Herausforderungen der säkularen Welt. Symposion des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken am 22./23. November 1995 in der Katholischen Akademie Berlin (= Religion – Geschichte – Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien; Bd. 8), hg. von Henrich, Dieter / Metz, Johann B. / Hilberath, Bernd J. / Werblowsky, Zwi, Münster 1997, S. 10–20, hier: S. 19. 24 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung, Buch I, 8, Darmstadt 1974, S. 174. 25 Lotze, Hermann, Metaphysik, Leipzig 1841, S. 322. 26 Brierley, Michael W, „Naming a Quiet Revolution: The Panentheistic Turn in Modern Theology“, in: In Whom we Live and Move and Have Our Being. Panentheistic Reflections on God’s Presence in a Scientific World, hg von Clayton, Philip / Peacocke, Arthur, Grand Rapids / Cambridge 2004, S. 1–15. 22
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Panentheismus Für den ersten Moment genügt es, eine kleine Begriffsbestimmung von „Panentheismus“ durch Übersetzung vorzunehmen: „Pan en theo“ heißt wörtlich: „Alles in Gott“. Oder anders gewendet: Gott wird gedacht als Urgrund, aus dem alles Wirkliche in seine ihm gemäße Eigenständigkeit freigesetzt wird – aber dies so, dass es unerachtet dieser Ausdifferenzierung in diesen seinen Urgrund einbegriffen bleibt. Ontologisch hat das auch zur Folge, dass sich dieser Gott, weil er etwas Anderes seiner selbst bejaht und will, kraft dessen Bleiben in ihm in so etwas wie eine intime Geschichte mit dem von ihm Gewollten verstrickt. Und das hat natürlich heftige Folgen für diesen Gott und genauso für alles, was aus ihm hervorgeht. Und klar auch, dass diese Denkform – wenn man sie denn wagt – zu einer tiefreichenden Transformation sämtlicher theologischer Grundbegriffe führt, heißen diese nun Offenbarung, Schöpfung, Gnade, Sakrament oder Eschatologie. Zunächst aber die Frage: Was könnte denn dazu motivieren, angesichts der offenkundigen Krise des klassischen Theismus den Weg in Richtung Panentheismus einzuschlagen. Ich sehe fünf Gründe: Der erste ist ein sozusagen ontosemantischer: Es gibt ja zumindest philosophisch gute Gründe, das, was der Terminus „Gott“ in Blick nimmt, mit dem Begriff des Absoluten zu identifizieren.27 Wenn Gott aber ab-solut ist, also wörtlich: losgelöst von allem, dann kann es neben und außer ihm nichts Wirkliches geben, weil sonst diese Absolutheit unterlaufen würde (andernfalls wäre er ja gebunden, also „solut“, an das Andere seiner selbst). Darum kann es, wenn es wirklich Wirkliches gibt, das nicht Gott ist, dieses Wirkliche nur in Gott geben. Dieses Argument würde man nur los, wenn man mit Nietzsche den Gottesbegriff als schier der Grammatik der Sprache geschuldete Illusion desavouierte – und damit natürlich zugleich der Vernunft unterstellte, derart von Täuschungsquellen durchherrscht zu sein, das sie sich darüber selbst nicht mehr aufzuklären vermag.28 Neben diesem onto-semantischen Motiv zeichnen sich meinem Eindruck nach vier besondere Brennpunkte ab, an denen sich der Gang in den Panentheismus buchstäblich aufdrängt, nicht zuletzt aus Gründen eben jener schon mehrfach eingeklagten intellektuellen Redlichkeit für ein Reden von Gott: (a) die Frage der Kosmologie – also, wie man angesichts des uns heute zur Verfügung stehenden Wissens über die Entstehung und Struktur des Universums von einem persönlichen Schöpfer sprechen kann: 1011 Milchstraßen lassen sich mittlerweile empirisch nachweisen. Aber was bedeutet da „Schöpfer“ und „Schöpfung aus dem Nichts“? Was heißt hier „Person“, wenn der Ausdruck nicht für eine ganz andere Wirklichkeit stehen soll, über die wir ansonsten mit diesem Wort sprechen? Sind das mehr als Floskeln der Verlegenheit? (b) Quasi spiegelverkehrt stellt Vgl. Schmidt, Josef, Philosophische Theologie (= Grundkurs Philosophie; Bd. 5), Stuttgart 2003, S. 141; Henrich, Dieter, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960, S. 219–237. – Rohls, Jan, Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker, Gütersloh 1987, S. 431–444. 28 Vgl. dazu Müller, Klaus, „Absolutes“, in: NHPhG, Bd. 1, Freiburg / München 2011, S. 12–24. 27
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sich im mikroskopischen Bereich der schier unlösbar scheinende Komplex der Neurologie – also, wie kommen aus dem Zusammenspiel von vermutlich 1015 Neuronen, ihren Synapsen und den zwischen ihnen laufenden biochemisch-elektrischen Prozessen Phänomene wie Bewusstsein, gar Selbstbewusstsein und Freiheit (wenn es sie denn gibt, was nicht wenige bezweifeln) zustande? Und wie muss eine Quelle, ein Grund aussehen, aus dem ein solches Phänomen überhaupt hervorgehen kann – doch wohl kaum wie eine bewusste und willensgesteuerte Person sozusagen im Großformat, bei der sich das zu lösende Erklärungsproblem ja nur wiederholen könnte, zu dessen Lösung der Gedanke gefasst worden wäre? (c) Als unmittelbar theologisch grundiert erweist sich der dritte Brennpunkt unserer Fragestellung nach dem intellektuell redlichen Gebrauch des Gottesnamens, nämlich die Theodizeefrage, also diejenige, wie Gott und das Böse und Leid – und nicht nur das der Menschen, sondern auch das der anderen Kreaturen – denn zusammengehen. Die Frage trieb schon die antiken Denker seit Laktanz29 um und ist bis heute der „Fels des Atheismus“ geblieben, wie der Dichter Georg Büchner klassisch formulierte30, und wird es bleiben, solange aus dem Auge auch nur eines verletzten Menschen oder missbrauchten Kindes Tränen der Trauer und des Schmerzes fließen. (d) Und noch Eines kommt hinzu, eines, das gern übersehen wird, weil es im Grunde so nah und selbstverständlich ist und sein Dementi etwas nachgerade Kokettes bekommt: dass – in der Sprache der platonischen Philosophie gesagt – die Seele streng genommen nur ihr selbst Verwandtes, Konnaturales wirklich erkennen kann, wir also vom Wirklichen als solchem überhaupt nichts wüssten, auch nicht verstünden, was das Wort „Wahrheit“ meint, wenn nicht alles Seiende eine geistige Innenseite hätte oder umgekehrt (und besser gesagt) alles, was ist, von dem einen Geistigen, das wir Gott, All oder Absolutes nennen mögen, umgriffen und in ihm eingeborgen wäre. Diese an sich uralte Idee wird soeben von Autoren wie Wolfgang Welsch, dem wohl prominentesten Postmodernen deutscher Sprache auf verblüffende Weise wiederentdeckt, weil er überzeugt ist, dass sich nur so die Inkonsistenz eines fundamentalen Antagonismus von Welt und Mensch überwinden lässt.31 Das Wissen um diese fünf Problembündel ist uralt, geht im Grunde bis in die Frühzeit des abendländischen Philosophierens und im fernöstlichen Denken partiell noch weiter zurück. Aber genauso tut das die Überzeugung, dass – wenn denn überhaupt so etwas wie ihre „Lösung“ denkbar wäre – eine solche auf einen Schlag und in einem Zug für alles zu entwickeln wäre. Die Suche nach einem passenden Namen oder Kennwort dafür hat lange gedauert. Irgendwie ging es immer um den Gedanken eines Einen, dem doch der Gegengedanke des Differenten, des Anderen nicht nur fremd, sondern eingeschrieben sein muss, ist und bleibt. Manche haben darum vom „Hyperhen“ („Übereins“) gesprochen, wie etwa der syrische Theologe Pseudo-Dionys Areopagita Vgl. Laktanz, De ira Dei, c. 13,20 f . Vgl. Büchner, Georg, „Dantons Tod. 3. Akt“, in: Dantons Tod. Kritische Studienausgabe des Originals mit Quellen, Aufsätzen und Materialien, hg. von Becker, Peter, Frankfurt am Main 21985, S. 50–72. 31 Vgl. Welsch, Wolfgang, Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, München 2012, hier bes. S. 61. 29 30
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im 5. nachchristlichen Jahrhundert, anderen schien die Rede vom „Nichts“ oder gleich ein Schweigen angemessener. Die Formel „HEN KAI PAN“ (Eins und Alles) ist in den großen religionsphilosophischen Streitfällen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zur Parole der neuen Gottdenker geworden. Durch den Nachkantianer Karl Christian Friedrich Krause32 hat sich dann jener Terminus eingebürgert, der heute auf dem besten Weg ist, so etwas wie einen Paradigmenwechsel im Gottdenken zu signalisieren: „Panentheismus“. Hat man den Gedanken des „panentheistic turn“ in der Theologie einmal ernsthaft in Erwägung gezogen, fällt es einem wie Schuppen von den Augen, wie weit nach hinten und wie sehr bis in die jüngste Gegenwart der Strom dieser Denkform reicht – und übrigens unbeschadet aller Spannung mit der herkömmlichen Dogmatik gerade an ebendieser Dimension zum Leuchten zu bringen vermag, die sie vergessen hat. Zu breiter Prominenz kam der Terminus „Panentheismus“ eigentlich erst durch Charles Hartshorne, besonders durch seinen zusammen mit William L. Reese erarbeiteten Reader Philosophers speak of God von 196333 – ein Werk, von dem gleich noch die Rede sein wird. Neuere Autoren tendieren dazu, die Anfänge des Panentheismus an Nikolaus von Kues und Meister Eckhart festzumachen, desgleichen an den Mystikerinnen Mechthild von Magdeburg und Juliane von Norwich. Für die Erstgenannten, den Cusaner und Eckhart, leuchtet das durchaus ein. Weitreichend plausibel ist auch der Rekurs auf die erwähnten Mystikerinnen, sofern diese in der Tat die strikte Distanz von Subjekt und Objekt, von Mensch und Gott überwinden und dadurch sowohl in die Frühgeschichte eines neuen Gottdenkens als auch in diejenige des modernen Subjektbegriffs hineingehören. Aufschlussreich scheint mir, wo Hartshorne selbst die Vorläufer seiner Leitidee des Panentheismus findet: Zum einen kennt er einen „Ancient or Quasi-Panentheism“, und darunter fallen für ihn Echnaton, einige Hindu-Schriften, Lao-Tse, einige biblische Passagen aus dem Buch Genesis, den Psalmen, dem Buch Maleachi sowie dem Matthäusevangelium und dem 1. Johannesbrief, außerdem einige Platon-Passagen. Zum anderen grenzt er aus der Bandbreite von Theismen und Pantheismen den „modern panentheism“ aus, und für diesen beruft er sich auf Schelling, Fechner, Peirce, Pfleiderer, Varisco, Whitehead, Berdyaev, Iqbal, Schweitzer, Buber, Radhakrishnan, Weiss und Watts. Die Namensreihe – darunter manche, die heute vergessen sind – weckt die Vermutung, dass es Hartshorne nicht um Vollständigkeit, sondern weit mehr um eine transkulturelle Dimension zu tun war. So erklärt sich, wie neben Idealisten und ihren Nachfolgern wie Schelling einerseits und Fechner sowie Pfleiderer andererseits, ein russischer Religionsphilosoph aus der Orthodoxie – Berdjajew –, ein islamischer Mystiker – Iqbal –, der Jude Buber und der Inder Radhakrishnan kommen. Als dritte Gruppe fügt Hartshorne noch die Repräsentanten eines „limited panentheism“ an, dazu rechnet er William James, Ehrenfels und Brightman. Zu Krause vgl. ausführlich: Göcke, Benedikt P., Alles in Gott? Zur Aktualität des Panentheismus Karl Christian Friedrich Krauses (= ratio fidei; Bd. 45), Regensburg 2012. 33 Philosophers speak of God, hg. von Hartshorne, Charles / Reese, William L., Chicago 1976. 32
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Außer Frage steht, dass sich diese Liste von Gewährsleuten modifizieren, vor allem erweitern ließe (ich habe das einmal sozusagen privat versucht und bin auf weit über hundert Namen gekommen). Das lag aber gar nicht in Hartshornes Intention. Für ihn war ungleich relevanter, dass sowohl die Vertreter des alten Quasi-Panentheismus wie die modernen Repräsentanten und die eingeschränkten Panentheisten folgendes denkerische Kriterium erfüllen: „Gott als ewig-zeitliches Bewusstsein, das die Welt kennt und in seiner eigenen Aktualität (nicht aber in seinem Wesen) mit einschließt.“ (Hartshorne/Reese, XV.)
Von diesem Kriterienkern aus lässt sich aber zugleich auch so etwas wie eine vorläufige Profilskizze des Panentheismus gewinnen. Wie bei aller großen Metaphysik steckt auch der Kern des Panentheismus in seinen Präpositionen. Panentheismus wörtlich übersetzt heißt ja: Alles ist in Gott. Aber was heißt hier genau „in“ – das ist die entscheidende Frage. Einfach neu ist dieses „in“ ja keineswegs. Auch Thomas von Aquin etwa kennt ein solches „in“ der Dinge in Gott und umgekehrt, ohne dass er auch nur von ferne Panentheist wäre, weil das Geschaffen-Werden der Dinge Gott an sich in keiner Weise tangiere. Genau hier tut sich die Differenz zwischen Theismus und Panentheismus auf, die das Spezifische des Letzteren generiert – oder semantisch gesagt: Das „in“ wird in gewissem Sinn substanzial interpretiert. Das bedeutet: Das Geschaffene, das Gott freisetzt, entfaltet ein Feedback auf Gott. Die Macht, die etwas schafft, bleibt nicht unberührt und unbeeinflusst von dem, was sie geschaffen hat. Das lässt im ersten Moment an eine Weltabhängigkeit Gottes denken, wie sie Hegel gemeinhin zugeschrieben wird: dass Gott gleichsam die Welt schaffen musste, um durch sie (wieder eine Präposition!) er selbst zu werden (bisweilen wird dafür der Name „expressivistischer Panentheismus“ verwandt). Genau das schaltet Hartshorne durch eine Dialektik zwischen „innen“ und „außen“ aus, die dadurch in Gang kommt, dass beide Momente nicht erst zusammengefügt werden, sondern von vornherein aneinandergebunden sind und darum nur gemeinsam auftreten. Der formale Name dafür lautet „Dipolarität“ und meint: Alle Bestimmungen treten in konträren Gegensätzen auf, die untrennbar zusammengehören: das Eine mit dem Vielen, stark mit schwach, endlich mit ewig, absolut und relativ, aktual mit potenziell usw. An Hartshornes erstem Beispiel wird das vielleicht am leichtesten evident: Nur im Horizont eines Einen wissen wir überhaupt, was „viel“ bedeutet; nur im Gegenüber zu Vielem wird für uns zumindest auf bestimmte Weise fassbar, was „eins“ meint. Und Hartshorne sieht nun keinerlei Grund, dieses Gesetz im Fall Gottes außer Kraft zu sehen und für ihn eine Monopolarität zu unterstellen. Was viele Theologen dazu bringt, das zu tun, ist, dass sie gewissermaßen eine axiologische, wertende Formatierung der Dipolarität vornehmen: Zwar gilt gemäß dem Gesetz der Analogie jedes Prädikat, das wir ja immer aus der Erfahrung nehmen, als für Gott unzureichend: Er ist weder eins noch viel im eigentlichen Sinn des Wortes. Aber wir nennen ihn gern mehr „eins“ als das „Eins“, das uns vertraut ist (wie der bereits erwähnte Pseudo-Dionys Areopagita). Aber nie wird er „hyperpolys“ (überviel), also komplexer als „viel“ genannt. Das könnte
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daher rühren, dass uns die Vorstellung einer Über-Einheit leichter das Gefühl einer Transzendenz-Erfahrung zuspielt als die einer Übervielheit. Einen zwingenden Grund für die Favorisierung des einen Pols aber gibt es nicht. Einer aber hat eben diese Asymmetrie gesprengt: Nikolaus von Kues kennt nicht ein Maximum, sondern zwei Maxima: Größtes und Kleinstes kommen darin überein, dass das Erste das größte Große und das Zweite das größte Kleine ist. Entsprechend lässt sich auch mit all den anderen konträren, dipolaren Gegensätzen umgehen, etwa mit Einheit und Vielheit: Hält man sie zusammen, hat man mit Einheit-in-Vielheit oder Vielheit-in-Einheit zu tun. Zerbricht die Balance, kommt entweder Chaos (Dominanz purer Vielheit) oder Monotonie – Hartshorne sagt: Trivialität – (Dominanz purer Einheit) heraus. Auch für „Aktivität“ und „Passivität“ kann man das durchspielen, besonders gut sogar am Beispiel von Personen. In jedem Fall tendieren die Polaritäten nicht zu einer Koinzidenz mit der Wertdifferenz von gut – schlecht. Wo immer ein konträres Prädikate-Paar auf beiden Seiten einen Höchstfall denkbar macht, ist das kategoriale Instrumentar des Panentheismus gewonnen. Am prägnantesten fassbar wird das im Fall der Dipolarität von Aktualität und Potenzialität. Wird in Gott der Höchstfall Letzterer nicht durch den Höchstfall der Aktualität ausgeschlossen (wofür es keinen Grund gibt, sofern höchste Aktualität widerspruchslos darin bestehen kann, sich von anderem beanspruchen, bestimmen, bis zur Selbstpreisgabe vereinnahmen zu lassen), so öffnet sich genau jene Dimension des Feedbacks des Geschaffenen, in die sich das „Weltabenteuer Gottes“ – so der Titel einer Arbeit über Hans Jonas34 – (unbeschadet der bleibenden Identität Gottes) einschreibt und in die eine explizit christliche Theologie die ganze Christologie, die Sakramententheologie, die Eschatologie und auch die Theodizeeproblematik eintragen würde. Der Panentheismus öffnet genau durch die ihm spezifische Feedback-Schleife im Gott-Welt-Verhältnis die Mitte der Theologie – also Gottes eigene Wirklichkeit – für das Bedrängende an der menschlichen Erfahrung. Darum avanciert in ihm auch die Liebe zu einer Zentralkategorie der Gotteslehre, Liebe aber nicht als nur reine Agape seitens Gottes, also Gabe und Hingabe, sondern wegen der Reziprozität der Beziehung zugleich auch als Eros – als Streben, selbst ein empfangendes Geliebtes zu sein. Vielleicht macht erst der Panentheismus wirklich ernst mit der Duns Scotus’schen Überzeugung, dass Gott deswegen überhaupt etwas geschaffen habe, weil er Mitliebende will.35 Übrigens begegnet genau diese Doppelung von Agape und Eros auch in der Antrittsenzyklika Papst Benedikts XVI. Deus caritas est (vgl. Nr. 1–18). In jedem Fall scheint mir so gesehen der Panentheismus diejenige philosophisch-theologische Denkform zu sein, die den Gottesgedanken und die Frage seines Wirklichkeitssinnes unter den Bedingungen einer universalen wissenschaftlichen Wissenskultur, die gleichwohl tief von der Dialektik aller Aufklärung affiziert ist, am konsistentesten zu vergegenwärtigen vermag. Im Vgl. Schieder, Thomas, Weltabenteuer Gottes. Die Gottesfrage bei Hans Jonas, Paderborn / München / Wien / Zürich 1998. 35 Vgl. Duns Scotus, Opus Oxoniense III, d.32 q.1 n.6. 34
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Folgenden möchte ich versuchen, diesen Ansatz am Elementartopos der Christologie auf seine Tragfähigkeit hin zu prüfen:
Paradigma Christologie Die Christologie kann zum einen als Versuchsaufbau für einen theologischen Belastungstest der vorausgehenden Überlegungen dienen, zum anderen verbindet sich damit eine Frage an Dieter Henrich zu einem Zug seiner Überlegungen, der sich von den Fluchtlinien bis zu Denken und Selbstsein durchhält und von dem er selbst sagt, dass sich ihm eigentlich innertheologische Debatten anschließen müssten, auf die er gespannt wäre.36 Der Ausgangspunkt für die anvisierten christologischen Folgegedanken lässt sich zunächst so markieren: Schon in den Fluchtlinien ist klar zum Ausdruck gebracht, dass Religionen als Verdichtungen der Selbstdeutung bewussten Lebens zutiefst rationale Wurzeln haben, dass sie aber gleichwohl eine wirkliche Durchdringung und Synthese der gegenläufigen Ausgriffe der Selbstverständigung des Subjekts nicht zu leisten vermögen und darum die Philosophie in die Erfüllung dieser Aufgabe eintreten muss.37 Das schließt für Henrich nicht die Anerkenntnis aus, dass im religiösen Raum der für ihn schlechthin zentrale Gedanke, nämlich dass das Absolute qua unverfüglicher, verborgener Grund einzig aus dem Vollzug bewussten endlichen Lebens gewiss wird und dieses darum als in jenen einbegriffen zu denken ist, bereits in Anspruch genommen ist. Aber eben nur in Anspruch genommen und noch nicht als Gedanken an ihm selbst gefasst!38 Allem voran im Gottesgedanken des Johannesevangeliums und der ihm unmittelbar zugehörigen Rede von der Liebe und vom „Bleiben in ihr“ findet er diesen Gedanken präformiert.39 Anlässlich seiner Marburger Ehrenpromotion spezifizierte Dieter Henrich, dass dieser Denkfigur der Philosophie als Nachfolgerin der Religion nicht ein lineares Ablöseschema zugrunde liegt. Vielmehr soll mit ihr zum Ausdruck gebracht werden, dass dort, wo sich Religion als Verwaltung von Heilsgütern konkretisiere, sie an Vgl. Henrich, Dieter, „Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn. Drei Versuche, auf Rückfragen von Ulrich Barth zu antworten“, in: Subjektivität im Kontext. Erkundungen im Gespräch mit Dieter Henrich (= Religion in Philosophy and Theology; Bd. 8), hg. von Korsch, Dietrich / Dierken, Jörg, Tübingen 2004, S. 211–231, hier S. 221. 37 Vgl. Henrich, Dieter, „Das Selbstbewusstsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewußten Leben“, in: Fluchtlinien, S. 99–124, hier: S. 119–123. Vgl. auch ders., „Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn“, S. 216–217. Ders., Denken und Selbstsein, S. 251–255. 38 Vgl. Henrich, Dieter, „Selbstbewusstsein und Gottesgedanke“, in: Selbstbewusstsein und Gottesgedanke. Ein Wiener Symposion mit Dieter Henrich über Philosophische Theologie (= WJBPh; Bd. 60), hg. von Langthaler, Rudolf / Hofer, Michael, Wien 2010 [Mit einer Replik von Dieter Henrich: Über das Endliche im Absoluten ebd., S. 228–250], S. 14. 39 Vgl. Henrich, „Selbstbewusstsein und Gottesgedanke“, S. 2, S. 14. – Vgl. dazu auch Henrich, Dieter: „‚… und verstehe die Freiheit‘“, in: Bewusstes Leben in der Wissensgesellschaft. Wolfgang Frühwald und Dieter Henrich. Ehrendoktoren der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster (= Münsteraner Theologische Abhandlungen; Bd. 64), hg. von Pröpper, Thomas, Altenberge 2000, S. 59–78, hier S. 77–78. 36
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Codices und eine alles überragende Mittlergestalt gebunden sei sowie ihren Schatz einer Gemeinde exklusiv zusage, dass „[…] der freigesetzten Subjektivität im Leben der Menschen der mögliche Zugang zur eigentlichen Wahrheit letztlich, dann aber auch ausdrücklich entzogen werden müsse[]“40 –
und eben darin sei laut Henrich eine Kluft zwischen Religion und Philosophie etabliert, die mit der Hemmung einer durchgreifenden Selbstverständigung der Ersteren einhergeht. Das gelte aber nicht dort, wo Theologie ihr Geschäft ihrerseits religionstheoretisch ansetze, weil dieser Ansatz das Bewusstsein ihrer eigenen Einsichtsgrenzen ausdrücklich einschließe und jener „Verstehensschranke“41, die aus der gewiss weiter bestehenden Spannung zwischen Autonomie und Autorität resultiere, jene Undurchdringlichkeit nehme, die mit der Buchstabengläubigkeit eines exklusivistischen Religionsverständnisses unvermeidbar einhergehe.42 Sehr persönlich bezeugt Henrich in diesem Zusammenhang auch, wie ihn einst die Einsicht, dass in dem johanneischen Jesus-Logion „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ der Akzent nicht auf „Wahrheit“, sondern auf „Ich“ zu setzen sei, in ein heftiges Erschrecken versetzte43, weil für ihn darin exemplarisch die Spannung aufbrach zwischen einem philosophischen Verstehen von Religion und jenem der Vernunft kritisch entgegengesetzten Verständnis, das sich exemplarisch mit den Namen Luthers, Pascals und Karl Barths verbindet.44 An genau diesem neuralgischen Punkt der Christologie aber scheint mir möglich und geboten, die Debatte mit den eigenen Mitteln Henrichs noch etwas weiter voranzutreiben.
Materiale Vertiefungen Wenn zutrifft, dass – wie erläutert – der christliche Gottesgedanke in der Inkarnation durch die avancierteste Vermittlung von Einmaligkeit und Einzelheit, von Absolutem und Endlichem, bestimmt ist, dann erweist sich genau in diesem Glutkern der Christologie die Demarkationslinie zwischen Religion und Philosophie als fließend und die erwähnte Henrich’sche „Verstehensschranke“ tief abgesenkt – bis dahin, dass jede radikal durchgeführte Christologie im Letzten eine vom Wesen philosophische zu nennen ist. Die materiale Vertiefung dieses Gedankens setzt bei dem Faktum an, dass das Erzählen der Geschichte Jesu als der definitiven Offenbarung Gottes und seines Verhältnisses zum Menschen seinen Dreh- und Angelpunkt in einem hermeneutischen „als“ hat. Dieses „als“, das in Übereinstimmung mit dem Selbstzeugnis der Schrift von Jesus als dem Exegeten des Vaters (vgl. Joh 1,18) als identitäts- und differenzverbürgende Kopula zwischen Jesus und Gott fungiert, bildet das Zentrum aller Christologie. Sofern dieses Henrich, „Religion und Philosophie – letzte Gedanken – Lebenssinn“, S. 217. Ebd., S. 221. 42 Vgl. ebd., S. 221. 43 Vgl. ebd., S. 221–222. 44 Vgl. ebd., S. 222. 40 41
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Zentrum bereits im Kontext der Religionsproblematik formal bestimmt werden kann – vollständiges Erscheinen des Einmaligen im Einzelnen bzw. des Absoluten im Endlichen –, wird sich folgerichtig vom subjekttheoretischen Ansatz her auch das Christus-Kerygma in seinem systematischen Anspruch reformulieren und als gerechtfertigt begründen lassen. Die Überzeugungskraft dieser These hängt selbstredend daran, dass sie sich an den drei Eckwerten der Christologie bewährt: (1) am Inkarnationsgedanken, (2) an der „basileia-Botschaft“, (3) am Ostergeschehen. Bewährung (1) – Inkarnation: Wie bereits ausgeführt, kann gerade im Ausgang vom Subjektgedanken, genauer: davon, dass sich Selbstbewusstsein hinsichtlich des Grundes seines Auftretens seiner selbst entzogen erfährt, ein Gedanke vom Absoluten so gefasst werden, dass dieser Gedanke so auf den des Endlichen geöffnet ist, dass dieser mit Ersterem weder nur extern zusammentritt noch aus Ersterem notwendig hervorgehen muss, sondern das Absolute sich als es selbst qua Unverfügliches im Endlichen bekunden lässt. So kann sich die christliche Rede von der Menschwerdung Gottes ihrer Logik nach in einer reflexiven Struktur unverkürzt wiedererkennen, die über die Selbstverständigung selbstbewusster Subjektivität allgemein zugänglich ist. Damit spielt der vom Subjekt her zugängliche Gedanke vom Absoluten christlicher Theologie nicht nur die Möglichkeit zu, schon aus logischen Gründen einen apriorischen Mythosverdacht gegen den Inkarnationsdiskurs auszuhebeln, sondern setzt Letzteren überdies systematisch ins unmittelbare Verhältnis zu ebendem, woran jeder religiösen Botschaft zuerst gelegen ist: dass ihr Adressat das Heil finde, d. h. philosophisch transponiert, dass er seine Identität gewinne und das Bemühen um ein Verständigtsein über sich selbst zu einem stabilen Resultat gelange. Wenn man das Inkarnationskerygma legitim in der vorausgehend bereits geprägten Formel zusammenfassen darf, dass Gott sich vollständig zugänglich macht dadurch, dass er sich abhängig macht von dem, was zutiefst von ihm als Gott sich abhängig weiß, und sich gerade damit als absolutum auf einzigartige (!) Weise bekundet, wird aus der Kongruenz einer solchen religiösen Sinngabe mit den basalen Daten einer philosophischen Analyse – nämlich denen der Selbstreflexion – ein fundamentaltheologisches Argument. Argument im strengen Sinn: Es weiß die Vernunftgemäßheit des Kerygmas auszuweisen und Letzteres gleichzeitig auch nur vom Anschein der Notwendigkeit freizuhalten. Bewährung (2) – „basileia“: Die basileia-Botschaft als Nucleus des christlichen Kerygmas gehört zwar theologisch einer qualitativ anderen Schicht der Christologie an als der Inkarnationsgedanke. Trotzdem zeigt sich an ihr trotz ihres nicht-spekulativen, dezidiert narrativen Charakters die systematische Grundfigur der Christologie (Einmaligkeit in Einzelheit) nicht weniger deutlich als an jener: Jesu basileia-Verkündigung und die symbolische Repräsentation der basileia durch seine Taten, zumal die Heilungen, verheißen und gewähren in bereits anbrechender Realisierung eine durch nichts mehr beeinträchtigte Integrität menschlicher Existenz. Diese Integrität lässt sich theologisch am besten als Versöhntheit des Menschen mit Gott beschreiben. Diese Versöhntheit besteht dabei darin, dass der Mensch im Horizont seiner Selbsterfahrung Gott als den ihn unbedingt tragenden Grund anerkennt. Das schließt notwendig die Versöhntheit
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des Menschen mit sich selbst hinsichtlich seiner antagonistischen Verfasstheit als einmaliger und zugleich marginaler Subjekt-Person ein. Die Makarismen der Bergpredigt (vgl. Mt 5,3–10) können als eine Art Portrait solchermaßen versöhnter Existenz (qua Selbstportrait Jesu) gelten. Dieser zentrale Gehalt des Jesus-Kerygmas wird dann innerhalb des Christus-Kerygmas konsequent ausgefaltet: Besonders eindrücklich geschieht das in den Totenerweckungserzählungen (vgl. Mk 5,21–43 parr.; Lk 7,11–17; Joh 11, 1–43), sofern diese vermitteln, dass die Versöhnungsmacht der basileia das Ganze der Existenz einschließlich ihres neuralgischen Punktes – des Abbruchs am Lebensende – umfasst; und nebenbei bemerkt: Paulus definiert das kirchliche Amt als Hilfsfunktion im Geschehen der Durchsetzung der als Versöhnung begriffenen basileia: „Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen.“45
Dass die mit der basileia gemeinte Versöhntheit sich nicht nur faktisch auf menschliche Selbstverständigung beziehen lässt, sondern auf diese wesentlich bezogen ist, wird schließlich auf besondere Weise am Fundament des Christus-Kerygmas klar, also am Ostergeschehen. Denn dieses erst lässt das Geheimnis der basileia bis zum Grunde offenbar werden, indem Jesus sich in seiner Passion als – wie Origenes treffend formuliert – „autobasileia“46 erweist. Bewährung (3) – Osterkerygma: Wenn basileia im obigen Sinn mit Versöhntheit umschrieben werden darf, dann kommt diese Versöhnung in die über ihre Wahrheit letztendlich entscheidende Stunde der Bewährung in dem Augenblick, da der unverfügliche Grund des Daseins sich zu entziehen und damit die eine Weise der Selbsterfahrung, die der Marginalität, die andere der Einmaligkeit gänzlich zu überwältigen scheint: im Sterben. Diese Bewährung steigert sich bei Jesus dadurch ins Übermenschliche (wie die Tradition den Schmerz des am Kreuz Sterbenden nennt), dass in ihm ja nicht nur die autobasileia stirbt, also etwas, das Gott unbedingt will, sondern dass er eben um der Botschaft von dieser basileia wegen vernichtet wird, also die ganze Wucht der Ablehnung des von Gott Gewollten durch die Menschen genau an dem Punkt erleidet, der ihm existentiell gesprochen sein Ein und Alles war. Trotzdem zerstört dieser Angriff der Ver-Nichtung im buchstäblichen Sinn, der ja Gottes gänzliche Ohnmacht zu enthüllen scheint, Jesu Vertrauen in Gottes Liebe, seine Leben gönnende Güte und Macht nicht, wie Mk 15,34 mit Zitat aus Ps 22,2 bezeugt. Ebendarin erweist sich Jesus als die wahre, weil in der größtmöglichen Belastung bewährte autobasileia. Markus bringt das spektakulär dadurch zum Ausdruck, dass er dem dem Sterbenden am Kreuz gegenüberstehenden heidnischen Hauptmann das einzige Christusbekenntnis seines Evangeliums in den Mund legt, das nicht zurückgewiesen wird. Überdies wird durch das Aushalten dieser Bewährung das Sterben Jesu selbst zu seiner größten Tat für die universale Aufrichtung der basileia: Wenn Jesus als der, der er war – autobasileia – trotz der Schrecklichkeit seines Endes so stirbt, wie er stirbt, kann der, der auf ihn schaut, im Glauben 2 Kor 5,20. Origenes: Comm. in Mt 14,7.
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(qua Vertrauen in diesen Jesus) anfangen, vor dem eigenen Sterben nicht mehr Angst zu haben, weil er nicht mehr misstrauen muss, deshalb vergänglich zu sein, weil der ihm nicht verfügliche Grund seines Daseins ihm dieses vorenthalte. Durch die schiere Erwägung dieser Möglichkeit in Gestalt von Misstrauen kommt ja die ganze Dramatik der Urgeschichte laut Gen 3,1–6 – der Sündenfallerzählung – in Gang. Jesu Geschick und Todesannahme versteht sich theologisch als definitive Beantwortung der durch die Urgeschichte aufgeworfenen Frage. Im Blick auf den Gekreuzigten einverstanden werden damit, dass die Einmaligkeit, die durch nichts aufzuwiegende Eigenbedeutung, die einem eignet, untrennbar zusammengehört mit der Marginalität qua kontingenter Beliebigkeit hinsichtlich jeder Dimension der Existenz; und die Hoffnung riskieren, dass es so, wie ich mich mir gegeben finde, gut ist mit mir, weil ich mit meiner Verfasstheit auf einem mir zwar unverfüglichen, aber verlässlichen Grund stehe – das bedeutet: an der basileia partizipieren. Solche begründete Zustimmung zu mir selbst ist ineins Anerkennung der Botschaft Jesu und der durch sie proklamierten Gotteswirklichkeit. Dass diese komplexe Anerkennung, die als Selbstanerkennung anhebt, durch Jesu Tod ermöglicht wird, korrespondiert im Übrigen mit dem exegetischen Befund, dass Jesus selbst sein Sterben mit größter Wahrscheinlichkeit als heilsbedeutsam für die Seinen verstanden hat. Wenn überdies in Rechnung gestellt bleibt, dass sich die Wahrheit Gottes biblischem Verständnis gemäß untrennbar verbunden mit seiner aemuna qua Treue und Verlässlichkeit bekundet, dann darf der diese Wahrheit Anerkennende zugleich gewiss sein, dass seine Vergänglichkeit niemals die andere Seite seiner selbst, seine Einmaligkeit (wie in einem Chaos-Rachen) verschlingen wird, sondern dass er als er selbst in seiner unvertretbaren Singularität in dieser durch die Treue Gott so gewiss erhalten bleiben wird, wie er als Einzelner vergänglich ist. So gründet das Osterkerygma in der Herzmitte des Kreuzesgeschehens. Die ikonographisch ganz früh (schon in den Katakomben) aufkommende Verschmelzung des Jona-Motivs (Verschlucktwerden vom Meeresuntier, also vom schöpfungswiderrufenden Chaos-Rachen) mit der Gestalt des Auferstandenen gründet in diesem strengen Zusammenhang und symbolisiert das in Passion und Kreuz gegen die Macht des Chaos ausgetragene theologische Identitätsdrama. Wird das Ostergeschehen in die eben skizzierte Begründungsdimension gestellt, treten der darin zur Geltung kommenden Staurozentrik die ja auch zu berücksichtigenden Ostererscheinungen nicht bloß faktisch zur Seite. Sie können stattdessen als für den Glaubenden geradezu unumgängliche Ausfaltungen des Kreuzesgeheimnisses im Medium der Selbstverständigung aufgefasst werden. Dies erlaubt dann auch, den diesbezüglichen exegetischen Befund kraft seines historisch-kritischen Gewichts (und nicht gegen es!) zusammenzubringen mit der Tatsache, dass sich die Ostergeschichten – wie die Kindheitsgeschichten – primär anhand mythischen und symbolischen Materials artikulieren. Wo anders aber hätte solches Material seine individuellen wie kollektiven, seine phylo- wie ontogenetischen Wurzeln als in den komplexen Prozessen der Selbstverständigung!
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Spekulative Folgegedanken Die eben entwickelten Überlegungen zur Christologie bewegen sich im Horizont eines subjekttheoretisch gewonnenen Gottesgedankens, der kraft dieser Herkunft von vornherein mit dem Problem einer Theologie der Religionen zusammengeschlossen ist. Die Auffassung von Religion als fundamental alternative Weise einer Vermittlung der beiden für die Selbstbeschreibung von Subjektivität charakteristischen Dimensionen setzt aus sich selbst ein religionstheologisches Kriterium frei: die Erfüllung ebenjener Vermittlungsfunktion. Christologie lässt sich – wie gerade skizziert – als der geglückte Fall solcher Vermittlung par excellence verstehen. Dieser Anspruch nimmt sich trotz der möglichen christologischen Ableitungen nachgerade als kontra-intuitiv aus: Die christologische Konzentration auf die Einzelheit ist ja ohne Zweifel vollständig derjenigen Interpretation des Verhältnisses von Einzelheit und Einmaligkeit verpflichtet, die sich gegen die monistische Lösung in einem Monotheismus vollendet. Mit welchem Recht aber vermag sie dann noch den Anspruch zu erheben, wirkliche Vermittlung, gar Vermittlung beider Dimensionen schlechthin zu repräsentieren? Dieses Recht hängt gänzlich an einer Modifizierung, besser: komplementären Erweiterung der bislang nachgezeichneten christologischen Systematik, welche die im Einzelnen sich bekundende Einmaligkeit als diese selbst und ihrem ureigenen Wesen gemäß – also als absolut unverfügbare – zur Geltung kommen lässt. Dass eine solche Erweiterung in der traditionellen Christologie tatsächlich immer schon geschieht, lässt sich nochmals mit dem von Anfang an herangezogenen subjekttheoretischen Instrumentar nicht nur aufweisen, sondern ineins damit auch begründen. Die spezifische, von der Doppelung in der Selbstbeschreibung selbstbewusster Subjektivität bestimmte Weise des Hervorgangs von Gottesgedanken lässt kraft des ihm zugrundliegenden Antagonismus (von Einmaligkeit und Einzelheit) jede der durch sie gesteuerten Selbstdeutungen immer auch um ihre Alternative wissen – das gehört zur Selbstbewusstheit der Selbstzuschreibung. Weil solches Wissen in einer Selbstbeschreibung um den unhintergehbar legitimen Anspruch der Alternative weiß, muss die Selbstbeschreibung um ihrer eigenen Konsistenz willen innerhalb ihrer selbst diesem Anspruch Geltung verschaffen: Henrich hat darauf hingewiesen, dass monistische Religionen der Unabweisbarkeit des Gedankens vom Einzelnen Tribut zollen, so der Buddhismus vor allem in seiner Mahayana-Version, der Hinduismus durch polytheistische Elemente. Monotheistische Religionen müssen dem Gedanken der Einmaligkeit sein Recht einräumen und tun dies hauptsächlich in den Formen der Mystik. Insofern kann gar nicht verwundern, dass authentische Mystik so sehr und gerade auch Gott gegenüber den Ich-Pol heraushebt. Sie tut dies aber einzig, um über den Ich-Pol gleichsam ein Medium zu konstituieren, in dem das Gegenüber von Gott und Mensch zur unio gelangt – gleich, als ob das menschliche Ich ins Göttliche eintaucht oder umgekehrt, oder beides im Wechsel oder gleichzeitig. Sofern sich Mystik ebendeshalb häufig in poetisch-paradoxen (aber deswegen nicht unkontrollierten!) Abweichungen von der eher rational, diskursiv verfassten Lehrbildung religiöser Traditionen artikuliert, kann nicht
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überraschen, dass Mystiker häufiger in ein Spannungsverhältnis zu den amtlichen Instanzen der Tradition geraten, der sie zugehören. „Gelöst“ wird die Spannung christlicherseits theologisch weniger durch direkte Abwehr als durch Ausgrenzung des Mystischen mittels einer religionstheologischen Schematisierung, welche die Mystik dem Prophetischen der monotheistischen Religionen gegenüberstellt und so zum Wesensmerkmal nicht-monotheistischer Religionen erklärt. Ungleich folgenreicher geschieht solche Ausgrenzung aber dadurch, dass eine systematische Auseinandersetzung mit den geistlich-mystischen Traditionen in den derzeitigen Studiengängen der Theologie nicht vorgesehen ist. Dennoch setzt sich das eigentliche Anliegen der Mystik auch innerhalb der christlichen Lehrsystematik durch, weil es gemäß der Logik der Religionen qua Selbstdeutungen von Subjektivität gar nicht ganz ausfallen kann. Meines Wissens hat als Erster Henrich darauf hingewiesen, dass innerhalb der christlichen Dogmatik die Trinitätslehre diese Funktion einer sozusagen institutionalisierten oder diskursivierten Mystik erfüllt.47 Damit fällt dem Trinitätstraktat also nicht die Aufgabe zu, den Gedanken der Personalität zu vollenden, sondern denjenigen der Subjektivität in den monotheistischen Gottesgedanken und in seinem Gefolge notwendigerweise auch in die Christologie zu integrieren. Daraus erklärt sich auch, warum die Metaphern zur theologischen Beschreibung der Erfahrung des Geistes in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht-personalen Charakters sind. Jürgen Moltmann etwa nennt neben den personalen Metaphern „Herr-Mutter-Richter“ die formativen Metaphern „Energie-Raum-Gestalt“, die Bewegungsmetaphern „Sturmwind-Feuer-Liebe“ und die mystischen „Licht-Wasser-Fruchtbarkeit“.48 Erst Geist ist „[…] die logische Struktur des Jetzt-im-Andernsein-bei-sich-selber-sein, die im Christusgeschehen ihren Grund und Ursprung hat.“49
Durch 2 Kor 3,17a kommt die Christologie intuitiv auf denjenigen Begriff, den sie gewinnen muss, soll sie die ihr religionstheologisch angesonnene Funktion erfüllen können: „Der Herr aber ist der Geist“50.
An der mystischen Unmittelbarkeit dieser Identifikation hängt dabei nicht nur die Konsistenz der Christologie selbst, sondern nicht weniger die Wirklichkeit der Nachfol Vgl. Henrich, Dieter, „Die Trinität Gottes und der Begriff der Person“, in: Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, hg. von Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz, München 1979, S. 612–620. Vgl. auch Müller, Klaus, Wenn ich „ich“ sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität (= Regensburger Studien zur Theologie; Bd. 46.) Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1994, S. 587. 48 Moltmann, Jürgen, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, S. 282– 298; vgl. auch S. 26 ff. 49 Wagner, Falk, „Systemtheorie und Subjektivität. Ein Beitrag zur interdisziplinären theologischen Forschung“, in: Internationales Jahrbuch für Wissens- und Religionssoziologie. X (1976). Beiträge zur Wissenssoziologie, Beiträge zur Religionssoziologie, S. 151–179, S, 171; vgl. S. 170–171. 50 2 Kor 3,17a. 47
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ge und die Wirksamkeit der Sakramente. Anders gewendet: Einzig in ihr gründet die Wahrheit der mit „basileia“ umschriebenen Versöhnung von Gott und Mensch, die sich existentiell nicht anders äußert als darin, dass der Mensch er selbst sein (und es mit sich und mit den anderen aushalten) kann. Darum findet die paulinische Identitätsformel ihren Abschluss in der Emphase: „und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“51
Fazit Wenn Religion Selbstauslegung von Selbstbewusstsein ist, die das Subjekt in der Absicht unternimmt, mitsamt seiner antagonistischen Grundverfassung zu einer Eindeutigkeit seiner Selbstverständigung zu kommen, im Wissen, dass das nur im Horizont eines unverfüglichen Grundes möglich sein wird, dann kann das selbstbewusste Subjekt in der christlichen Botschaft vom menschgewordenen Gott, also vom Einmaligen, das sich im Einzelnen kundgibt, die vollständige Realisierung der von ihm selbst gesuchten Eindeutigkeit an seinesgleichen wiedererkennen. Voraussetzung dafür ist, dass dieses einzigartige Subjekt von seinen Zeitgenossen so wahrgenommen und dass von ihm später so erzählt wird, dass sein Daseinsvollzug begründet als Ausdruck der absoluten Authentizität seines Menschseins verstanden werden muss – eine Authentizität, von der für jedes nach Selbstverständigung ausgreifende Ich ja notwendigerweise aus Selbstbewusstsein feststeht, dass sie nur über die vollständige Präsenz des Einmaligen in etwas Einzelnem zustande kommen kann. Eine Gestalt nun, die ihre absolute Authentizität im Medium ihrer eigenen Subjekt-Personalität, also im Modus selbstbewussten Menschseins selbst glaubwürdig macht, muss für den bewussten Betrachter gemäß eigener bewusster Selbsterfahrung in singulärer Beziehung zu jenem die Subjekt-Personen tragenden Grund stehen, der „theologisch“ Gott genannt wird. Und gleichermaßen wird eine solche Gestalt per se jede mit wirklicher Selbstverständigung befasste, zumindest um sie bemühte Subjekt-Person motivieren, auf reale Weise mit ihr sich zu verbinden, in der Hoffnung, durch sie auch selbst an jener Authentizität zu partizipieren. Umgekehrt hat solche Kommunizierbarkeit der Authentizität als deren Wahrheitsbeweis zu gelten. So setzt Glaube ein, der sich auf Gründe stützt, weil das Ich die von der Gestalt Jesu ausgehende Botschaft kraft seiner eigenen Verfasstheit und ihrer unhintergehbaren Ansprüche als wahr zu identifizieren vermag. Anders gewendet: Das unterscheidend Christliche schlechthin besteht in der radikalen Konzentration alles von der menschlichen Selbstvergewisserung angetriebenen Suchens und Ahnens in der und auf die Subjektivität eines menschlichen Individuums: Jesus von Nazareth. An ihm, wie er qua Gestalt begegnet, und nur an ihm muss christlicher Glaube seinen Anhalt finden. Aber auch: An ihm kann der Glaubende diesen Anhalt mit Gründen finden, weil 51
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der Anspruch dieser Gestalt im Medium des ihr Ureigensten, ihres Selbstbewusstseins, ergeht. Wenn wir den Anspruch des Wirklichen und Möglichen nur im Echo unserer Antwort vernehmen, so koinzidieren im Fall der Begegnung des Subjekts mit der Gestalt Jesu Gehalt der Antwort und Gehalt des Anspruchs.
Nüchterner Epilog über einen bleibenden Stachel Unbeschadet der im Vorausgehenden skizzierten Verständigungskraft der selbstbewusstseinstheoretisch justierten Reflexion von Religion versteht sich das vorgestellte Konzept nicht nur nicht von selbst; vielmehr sieht es sich einer fundamentalen philosophischen Alternative konfrontiert. Diese lässt sich am einfachsten vorerst mit dem Etikett „Naturalismus“ markieren. Wie erläutert, findet sich bewusstes Leben bereits innerhalb des Gewahrens seiner selbst vor einem Dunkel hinsichtlich seiner Herkunft, Identität und Bestimmung.52 Die im Alltag so selbstverständliche Welt durchherrscht solchermaßen ein Grundzug von Unzugänglichkeit. Eine der Weisen, Letztere aufzulösen, ist im Vorausgehenden erläutert worden. Eine ganz andere Weise besteht darin, die Welt als ganze einschließlich des Wissens um sie – also des Bewusstseinsphänomens – als materiellen Prozess zu begreifen. Dabei darf man sich vom vorderhand wissenschaftlichen Profil einschlägiger Naturalisierungsstrategien nicht täuschen lassen: Auch beim Materialismus handelt es sich um Welt-Interpretation, nicht um Erkenntnisse über die Welt.53 Auch er sucht die Einheit seiner Weltbeschreibung im Übersteigen der natürlichen Welt zu gewinnen und erweist sich eben darin als ein Pendant der Metaphysik – nur eben in entgegengesetzter Absicht: In naturalistischen Konzeptionen soll Selbstbewusstsein aufgrund der sich ihm aus seiner eigenen Verfassung aufdrängenden Fragen als Epiphänomen nicht-subjektiver Wirklichkeiten entzaubert und für das Begreifen der Wirklichkeit als ganzer irrelevant erklärt werden: „Der Naturalismus sieht bewußtes Leben als ein in hohem Maße unwahrscheinliches transitorisches Phänomen im materiellen Weltall, das nur in einer Randstellung im Kosmos aufkommen kann. Er fordert zu einer Weisheit der Resignation von allen Selbstdeutungen auf, die dem Leben eine letzte Bedeutung geben wollen und auf die zu verzichten ihm immer schwer sein wird. Nur aus einer solchen Resignation kann die Kraft kommen, das Wissen von der kosmischen Bedeutungslosigkeit unseres Lebens ohne selbstzerstörerische Konsequenzen zu erhalten.“54
Das freilich bedeutet: Der Materialismus betreibt die von ihm forcierte Eliminierung der Subjekt-Wirklichkeit nicht auf dem epistemischen Plateau der Wissenschaft im Sinn Auf andere Weise begegnet dieses Dunkel in der Inkommensurabilität zwischen dem Auftreten von Einzeldingen und der Ordnung, in der sie das tun. Vgl. dazu Henrich, „Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne?“, S. 16. 53 Vgl. S. 16. 54 Ebd., S. 17. 52
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des Ausweisbaren, sondern mit Bezug auf einen philosophischen Weltbegriff und muss dabei die Wirklichkeit des Materiellen voraussetzen. Er geht also keineswegs von einer Wirklichkeit aus, die aus sich verständlich wäre: Dass es nur Materielles gibt, lässt sich mit materialistischem Instrumentar nicht ausweisen. Folglich überschreiten die Programme naturalistischer Selbstverständigung das Ausweisbare genauso wie metaphysische Konzeptionen und können darum die Möglichkeit Letzterer nicht apriori dementieren55 – was freilich nicht bedeutet, jede beliebige Metaphysik oder etwa auch eine Rückkehr zu Konzepten, die vor der modernen Weltbeschreibung aufgekommen sind, vermöchten dem Naturalismus-Druck standzuhalten. Dies lässt sich nur von einem Denken erwarten, das in Verpflichtung auf die neuzeitliche Metaphysik-Kritik die moderne Weise der Welt- und Selbsterfahrung mit ihrem Kerngedanken der Autonomie affirmativ umgreift und dadurch weitet bzw. in den Zusammenhang eines größeren Ganzen zurückstellt: Genau dies geschieht, wenn – wie vorausgehend durchgearbeitet – das Aufkommen von Religion als Weise von bis zu seinen Wurzeln vordringender Selbstverständigung bewussten Lebens begriffen wird. Insofern einer solchen Denkform „[…] der Ordnungsgrund der Welt in jedem Einzelnen und zumal im bewußten Leben gegenwärtig ist, kommmt (sic! K.M.) ihr zufolge jedem bewußtem Leben auch eine absolute Bedeutung zu. Durch die Hinfälligkeit und Zufälligkeit dieses Lebens in seiner Randstellung wird sie nicht dementiert. Gerade im transitorischen Jetzt (und Hier) lässt sie sich ganz verwirklichen und ist dabei von einem Absoluten ermöglicht und geborgen.“56
Wie dieses Ermöglichtsein von und Geborgenwerden der singulär-marginalen Subjekt-Person in einem Absoluten näherhin zu denken ist – die Kernfrage einer philosophischen Theologie nach dem Ende der klassischen Metaphysik schlechthin! – bedarf allem voran des Austrags im Disput mit theologischen Konzeptionen, die sich den neuzeitlichen Freiheitsbegriff zum Kriterium geben57, weil dabei nochmals angeschärft die interne Monismus-Drift einer selbstbewusstseinstheoretisch ansetzenden Metaphysik und Religionsphilosophie zum Thema wird. Jedenfalls handelt es sich dabei um einen Stil von Theologie, der philosophisch die Gottesfrage bis in ihre nicht nochmals hintergehbaren Wurzeln in der Selbstverständigung bewussten Lebens zurückverfolgt und zugleich bekennt, dass es sich bei ihrer Denkbewegung nicht um einen Nachvollzug des Absoluten, sondern um eine Konstruktion handelt, welcher gegen jeden Anschein von Willkür eine Notwendigkeit eignet: nämlich diejenige, um der Selbstverständigung bewussten Lebens willen die auf natürliche Weise letztlich unvermittelbare Diskrepanz der Selbstdeutungen von Selbstbewusst-
Dazu und zu weiteren Konsequenzen dieser Überlegungen im Denken Henrichs vgl. Müller, Wenn ich „ich“ sage, S. 545–546. 56 Henrich, „Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne?“, S. 17. 57 Ich denke dabei in erster Linie an die einschlägigen Wortmeldungen von Pröpper, Thomas, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 21988. Ders., Theologische Anthropologie, 2 Bde., Freiburg im Breisgau 2011. 55
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sein übergreifend aufheben zu können.58 „Konstruktion“ meint dabei: Expliziert wird lediglich ein Gedanke von Gott bzw. dem Absoluten ohne Anspruch auf ein Wissen, ob und inwiefern diesem Gedanken eine Wirklichkeit entspricht; gleichwohl dürfen sich Überlegungen anschließen, „von woher diese Frage erwogen und beantwortet werden mag.“59 Die Ressourcen der All-Einheitstraditionen schienen mir dafür eine ausgezeichnete Adresse zu sein. Mehr kann eine philosophisch über ihre Grenzen verständigte Vernunft theologisch nicht wollen, weniger darf sie nicht wollen.
Literaturempfehlung In Whom we Live and Move and Have Our Being. Panentheistic Reflections on God’s Presence in a Scientific World, hg von Clayton, Philip / Peacocke, Arthur, Grand Rapids / Cambridge 2004. Sprigge, Thimothy L. S., The God of Metaphysics. Being a Study of the Metaphysics and Religious Doctrines of Spinoza, Hegel, Kierkegaard, T. H. Green, Bernard Bosanquet, Josiah Royce, A. N. Whitehead, Charles Hartshorne, and Concluding with a Defence of Pantheistic Idealism, Oxford 2006. Strawson, Galen, Consciousness and its Place in Nature. Does Physicalism Entail Panpsychism?, Charlottesville 2006. Skrbina, David, Panpsychism in the West, Cambridge / London 2007. Persönlich und alles zugleich. Theorien der All-Einheit und christliche Gottrede (= ratio fidei; Bd, 40), hg. von Meier-Hamidi, Frank / Müller, Klaus, Regensburg 2010. Müller, Klaus, Glauben – Fragen – Denken. Bd. III: Selbstbeziehung und Gottesfrage, Münster 2010. The Mental as Fundamental. New Perspectives on Panpsychism, hg. von Blamauer, Michael, Frankfurt am Main 2011. Ein Universum voller ,Geiststaub‘? Der Panpsychismus in der aktuellen Geist-Gehirn-Debatte, hg. von Müller, Tobias / Watzka, Heinrich, Paderborn 2011. Perfect Changes. Die Religionsphilosophie Charles Hartshornes (= ratio fidei; Bd. 47), hg.von Enxing, Julia / Müller, Klaus, Regensburg 2012. Göcke, Benedikt Paul, Alles in Gott? Zur Aktualität des Panentheismus Karl Christian Friedrich Krauses (= ratio fidei; Bd. 45), Regensburg 2012. Enxing, Julia, Gott im Werden. Die Prozesstheologie Charles Hartshornes (= ratio fidei; Bd. 50), Regensburg 2013.
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Vgl. dazu Müller, Wenn ich „ich“ sage, S. 586–588. Henrich, „Eine philosophische Begründung für die Rede von Gott in der Moderne?“, S. 12.
Kriterien für eine glaubwürdige Rede von Gott Hansjürgen Verweyen, Freiburg im Breisgau
1. Vorüberlegungen zur Thematik Der Titel des hier vorgelegten Sammelbandes setzt voraus, dass sich das Denken aus dem Glauben und das philosophische Denken voneinander unterscheiden, gleichwohl aber aufeinander beziehen können. Angedeutet ist zugleich, dass sich das Denken im Glauben und das davon ausgehende Sprechen von und über Gott der philosophischen Reflexion stellen sollten. Beides ist nicht selbstverständlich. Vor der Entstehung einer methodisch von religiösem Denken abgehobenen Philosophie in den griechischen Kolonien seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. hat es keine klare Unterscheidung zwischen diesen Bereichen gegeben. Die Annahme, dass sich religiöses Denken vor der Philosophie zu verantworten habe, vertrat bereits Platon. Aber erst bei Aristoteles, der den „mythischen“ Ansichten über die Götter eine philosophische Theologie entgegenstellt, wird dieses Thema eingehend behandelt1. In der Ostkirche findet sich keine klare Unterscheidung von Philosophie und Theologie als zwei zumindest methodisch selbstständigen Denkweisen. So wie sich Philosophie als Theologie versteht, wird Theologie in engem Anschluss an insbesondere platonisches Philosophieren betrieben. Proklos entfaltet eine gegen die christliche Lehre gerichtete philosophische Theologie, derzufolge aus dem Einen eine Vielzahl hierarchisch gegliederter Seinsstufen („Hypostasen“) hervorgehen. Bei (Pseudo)Dionysius Areopagita wird hieraus eine Hierarchie von Engeln. Erst Augustinus unterscheidet deutlich zwischen Philosophie (im Rahmen der „artes liberales“) und Offenbarungstheologie und setzt beide in ein geordnetes Verhältnis zueinander: Aus dem Glauben soll durch wissenschaftliche Bemühung ein vertieftes Wissen hervorgehen („crede ut intellegas“). Im Verlauf seiner theologischen Arbeit wandelt sich allerdings die Einschätzung des Werts der „freien Künste“. Zur Emanzipation der Philosophie in der lateinischen Kirche trugen besonders drei Faktoren bei: (1) die Übersetzung und Kommentierung der als „Organon“ bezeichneten logischen Schriften des Aristoteles durch Boethius, die im Rahmen der „artes liberales“ die Disziplin „Dialektik“ aufwerteten; (2) die Verpflichtung zum Studium der „artes liberales“ durch Karl 1
Vgl. dazu Verweyen, Hansjürgen, Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, Darmstadt 2005, S. 90–99.
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den Großen; (3) die Verlagerung des Vorrangs der Klosterschulen zu den eine größere „akademische Freiheit“ ermöglichenden Kathedralschulen. Das Bemühen, die wichtigsten Glaubenslehren vor der menschlichen Vernunft ohne Zuhilfenahme irgendwelcher kirchlich anerkannter Autoritäten zu verantworten, findet sich erstmals bei Anselm von Canterbury2. Im Hochmittelalter maß man dem Studium der „artes liberales“ eine so große Bedeutung bei, dass an der Pariser Universität eine eigene „Artistenfakulät“ gegründet wurde, die traditionsgemäß auf die eigentlichen Wissenschaften vorbereiten sollte. Mit dem Bekanntwerden des „ganzen Aristoteles“ durch die Vermittlung muslimischer und jüdischer Gelehrter kam es aber zu einer völlig neuen Konstellation. Christliche Theologen hatten es nun nicht mehr nur mit Aristoteles als Lehrer der Logik, sondern mit seinem Gesamtentwurf einer „philosophischen Theologie“ zu tun, deren Vereinbarkeit mit der christlichen Lehre zu einem zentralen Streitpunkt wurde. Für die Entwicklung einer völlig eigenständigen Philosophie wichtiger als die unterschiedliche Einstellung zur aristotelischen Lehre insbesondere von Bonaventura und Thomas war die Verurteilung der sogenannten „Averroisten“, die auch dort ohne Abstriche die Philosophie des Aristoteles vortrugen, wo sie sich für die christliche Theologie nicht mehr in Dienst nehmen ließ. Innerhalb der verschiedenen philosophischen Strömungen, die sich vom 14. Jahrhundert an im Raum der lateinischen Kirche entwickelten, ist für das Verständnis meiner eigenen Position vor allem ein für die Aufklärung3 gemeinsamer Grundzug wichtig: die Ablehnung des Positivismus in Dingen des Glaubens. Vor allem die brutalen Religionskriege im Zeitalter der Reformation führten vor Augen, dass es nicht hinnehmbar war, eine als unbedingt verbindlich erklärte Heilsauffassung der Verantwortung vor der Vernunft zu entziehen und sich zu ihrer Legitimation lediglich auf mit weltlicher Macht durchsetzbare Autorität zu berufen. Nicht alle Aufklärer wollten an die Stelle der geoffenbarten Religion eine reine Vernunftreligion setzen. Marin Mersenne, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in seiner Pariser „Akademie“ eine offene Diskussion bedeutender Gelehrter aus den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen förderte, hat den entscheidenden Punkt herausgestellt: Gott selbst verpflichtet niemanden, weder mittelbar noch unmittelbar, zur Befolgung der Gesetze, die er offenbart oder festsetzt, wenn der Betroffene selbst nicht zuvor durch seine Vernunft zu dem Urteil gelangt ist, dass das von ihm Geforderte gerecht, Gott wohlgefällig und seiner würdig ist4.
Vgl. dazu als erste Einführung Verweyen, Hansjürgen, Anselm von Canterbury. 1033–1109. Denker, Beter, Erzbischof, Regensburg 2009, bes. S. 43–46. 3 Zu den regional und zeitlich sehr unterschiedlichen Ausprägungen „der Aufklärung“ vgl. Verweyen, Philosophie und Theologie, S. 250–275. 4 Vgl. Stroppel, Clemens, Edward Herbert von Cherbury. Wahrheit – Religion – Freiheit, Tübingen / Basel 2000, S. 208. 2
Kriterien für eine glaubwürdige Rede von Gott
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2. Rückblicke auf das 20. Jahrhundert Um sich ein Urteil über die Ansätze zu einer philosophischen Verantwortung der Rede von Gott bilden zu können, wie sie seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts zutage treten, legt es sich nahe, einen Blick auf die Wege und Situationen zu werfen, aus denen die Fragestellungen der Gegenwart hervorgegangen sind.
2.1. Rezeptionen transzendentalen Denkens bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 2.1.1 Grenzmarkierungen im Modernismusstreit
Eine für die Wege in der katholischen Kirche entscheidende Weichenstellung zeichnete sich bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ab. 1893 hatte Maurice Blondel mit „L’Action“ einen herausragenden Beitrag zur philosophischen Verantwortung des Offenbarungsglaubens vor dem Denken der Moderne vorgelegt. Zu der dabei angewandten Methode äußerte er sich 1896 in Auseinandersetzung mit den bisher vorliegenden apologetischen Modellen in seinem „Brief über die Anforderungen des zeitgenössischen Denkens in Fragen der Apologetik und über die Methode der Philosophie bei der Untersuchung des Problems Religion“5. 1879 war von Papst Leo XIII. in der Enzyklika „Aeterni patris“ noch einmal der vorbildliche Charakter der thomistischen Philosophie betont worden. Blondel hatte wohl etwas zu wagemutig in seiner „Lettre“ unter den von ihm kritisierten apologetischen Ansätzen die althergebrachte scholastische Methode als „philosophisch inkonsistent“ charakterisiert und sich damit als Kandidat für den Index der verbotenen Bücher qualifiziert. Mit noch weniger Nachsicht verfolgte man den zu Anfang des 20. Jahrhunderts von Alfred Loisy unternommenen Versuch, der historisch-kritischen Exegese in der katholischen Theologie Rechnung zu tragen. Wenn das neuzeitliche Denken überhaupt einen ernstzunehmenden Platz in der von Rom gelenkten Wissenschaft bekommen sollte, dann konnte dies nur im Rahmen der scholastischen bzw. neuscholastischen Tradition geschehen. 2.1.2 Die transzendentale Metaphysik Maréchals
Dieser schwierige Brückenschlag zwischen der „Alten“ und der „Neuen Welt“ ist Joseph Maréchal gelungen, einem der bedeutendsten und einflussreichsten katholischen Philosophen in der Zeit bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil6. Die entscheidende Evi Lettre sur les exigences de la pensée contemporaine en matière d’apologétique et sur la méthode de la philosophie dans l’étude du problème religieux, abgekürzt zumeist als Lettre zitiert. Deutsch: Blondel, Maurice, Zur Methode der Religionsphilosophie, übers. von Ingrid und Hansjürgen Verweyen, eingel. von Hansjürgen Verweyen, Einsiedeln 1974. 6 Ein guter Überblick über Maréchal selbst sowie über die französischsprachige und die deutschsprachige Maréchal-Rezeption findet sich in: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 2: Rückgriff auf scholastisches Erbe, hg. von Coreth, Emerich / Neidl, Walter M. / Pfligersdorffer, Georg, Graz / Wien / Köln 1988, S. 453–469, S. 470–484, S. 590–622. 5
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denz für seinen Neuansatz hatte Maréchal schon 1914 formuliert7. Kant habe in seiner Urteilsanalyse das „ist“ nur als „Kopula“ gewertet, als Glied, das Subjekt und Prädikat zu einer Aussage verbindet. Indem mit dem „ist“ etwas als wahr oder falsch behauptet wird, geschehe aber ein Vorgriff auf unbedingtes Sein. Schon bei Maréchal und den ihm folgenden Philosophen wird insofern der „transzendentalpragmatische“ Aspekt berücksichtigt, der im Urteilen und – wie später vor allem Emerich Coreth herausgearbeitet hat – ebenfalls im Akt des Fragens impliziert ist. Allerdings wird hier die Untersuchung im Rahmen einer transzendental-metaphysisch konzipierten philosophischen Gotteslehre betrieben, nicht, wie dann später bei Karl-Otto Apel, zur Letztbegründung einer Diskursethik. In beiden Fällen kann man aber wegen des Versuchs, bei einem argumentativ nicht mehr hintergehbaren Ausgangspunkt anzusetzen, von einer „Ersten Philosophie“ sprechen. Im Unterschied zum subjekttheoretischen Ausgang bei dem zweifelsresistenten denkenden Ich wird auch bereits bei Maréchal und seinen Schülern die Dynamik eines Vernunftakts zur Basis gewählt, nach dem Vorbild der Scholastik allerdings mit dem Ziel eines Gottesbeweises, nicht der Grundlegung von Regeln für ein durch Solidarität gekennzeichnetes Handeln. 2.1.3 Philosophie des Staunens
Meinen ersten Versuch zur transzendentalen Begründung der Möglichkeit von Offenbarung8 habe ich vor allem in Auseinandersetzung mit den wesentlichen Argumentationsschritten innerhalb der Maréchalschule durchgeführt. Das Hauptziel meiner Arbeit war, die Sprechakte Fragen und Urteilen als Vollzüge der Vernunft auszuweisen, in denen Wahrheit nur in eingeschränkter Form zutage treten kann. Das, worauf sich das Subjekt im Fragen und Urteilen richtet, wird ihm im Modus des Vor-stellens, des Ob-jektivierens gegenwärtig. Es kommt dem Subjekt (einem „Ich“ oder „Wir“) innerhalb des Gesichtsfeldes nur das zur Erscheinung, was durch die von seinem „erkenntnisleitenden Interesse“ bestimmten Perspektiven umgrenzt ist. Die Vernunftvollzüge des Fragens und Urteilens versuchte ich sodann aus dem ursprünglicheren Akt des Staunens als deren Möglichkeitsbedingung herzuleiten. Bei der Analyse des Phänomens „Staunen“ bin ich von der Begegnung mit einem Naturschönen ausgegangen, wie sie etwa – fernab von einem romantischen oder auch nur zwischenmenschlich positiv gestimmten Umfeld – Wolfgang Borchert in seiner Erzählung „Die Hundeblume“9 geschildert hat. Im Staunen10 tritt das Ich nicht als tätiges Subjekt in Er „Jugement ,scolastique‘ concernant la racine de l‘agnosticisme kantien“, in: Maréchal, Mélanges Joseph, Tome I: Œuvres, Paris 1950, S. 273–287. 8 Verweyen, Hansjürgen, Ontologische Voraussetzungen des Glaubensaktes. Zur transzendentalen Frage nach der Möglichkeit von Offenbarung, Düsseldorf 1969. 9 In: Borchert, Wolfgang, Das Gesamtwerk, Hamburg 1984, S. 25–39; vgl. meinen Interpretationsversuch in Verweyen, Ontologische Voraussetzungen, S. 167–170. 10 Wichtig ist, zwischen Staunen und Erstaunen zu unterscheiden. Das Erstaunen findet innerhalb des Modus des Vorstellens statt. Es unterbricht die grundsätzlich beibehaltene Intentionalität nur mit der Folge, deren Vollzug im Detail zu korrigieren oder neu zu justieren. Vgl. dazu die Auseinandersetzung 7
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scheinung, sondern erfährt sich als beschenkt von der ihm durch ein anderes gewährten Harmonie. Erlischt der Augenblick dieses erfahrenen Glücks – etwa beim Verwelken der „Hundeblume“ –, dann beginnt das Vor-stellen. Im Fragen sucht das Subjekt nach der verlorenen Einheit mit dem anderen, um wenigstens etwas von der im anderen zutage getretenen Wirklichkeit festhalten zu können. Im Urteilen wird das, was auf dem Wege des Fragens in den Blick gekommen ist, für das Wissen „eingefangen“. Indem das Subjekt diesen Ertrag be-hauptet, erweist es seinen Vorrang gegenüber der ihm begegnenden Realität. An einigen für den im Jahre 1969 vorgelegten Versuch wesentlichen Grundzügen habe ich auch in der Folgezeit festgehalten. Dazu gehört erstens, dass die Argumentation auf transzendentalem Wege im Sinne Kants zu erfolgen hat. Es kann nicht mehr von einem für sicher gehaltenen Wirklichen ausgegangen werden – wie etwa im ersten „Gottesbeweis“ bei Thomas von Aquin („certum est et sensu constat“). Was und wie etwas Wirkliches uns erscheint, hängt von den Wahrnehmung ermöglichenden Bedingungen ab, die das Subjekt mit sich bringt. Zweitens muß zum Erweis der Möglichkeit, dass uns Gottes Wort innerhalb der Geschichte unbedingt in Anspruch nehmen kann, auch in einer transzendentalen Argumentation von einem sicheren Boden ausgegangen werden. In diesen beiden Hinsichten behält das von Maréchal auf den Weg gebrachte Denken seinen Wert. Drittens muß aber das in der Geschichte Begegnende von sich her unsere ganze Existenz einfordern können. Hier versagt der Maréchal’sche Ansatz. Der Vorgriff auf ein unbedingtes Sein benötigt das Begegnende nur, um darüber hinweggleiten zu können. Das jeweils in den Blick Genommene darf sich gerade nicht als zufriedenstellend erweisen, damit die Dynamik der Vernunft nicht etwa zum Stillstand kommt. Demgegenüber hatte ich die ganz andere Weise der Begegnung des anderen mit dem Ich im Staunen hervorgehoben. In dem, was mir das andere hier „sagt“, komme ich mit all meinen Intentionen zum Schweigen, und zwar nicht gezwungenermaßen, sondern von meinen bisherigen, zu eng greifenden Vorstellungen befreit. Das Phänomen des Staunens genügt aber nicht als Ausgangspunkt für die philosophische Verantwortung des Offenbarungsglaubens. Es kann zum einen nicht angenommen werden, dass alle Menschen Staunen auf eine Weise erfahren, die sie für einen in der Geschichte begegnenden Gott öffnet. Zum anderen setzt das Staunen wie alles andere Denken und Handeln eine bereits bestehende elementare Struktur der Vernunft voraus. Ohne deren Klärung hat die Suche nach gültigen Kriterien zur Beurteilung von behaupteten göttlichen Offenbarungen keinen festen Grund. Diesen Mangel habe ich in der Folgezeit zu beheben und auf dieser Basis einen noch stärker transzendentalphilosophisch geprägten Ansatz zur Glaubensverantwortung zu erarbeiten versucht.
mit Heidegger in Verweyen, Ontologische Voraussetzungen, S. 164–167, und ebd., S. 178 f. die Bemerkungen zu seiner Interpretation der Verse des Angelus Silesius: „Die Ros ist ohn warum […]“.
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2.2 Fundamentaltheologie in neuem Kontext nach dem Zweiten Vaticanum Als ich 1964 mit meinen Untersuchungen zu Maréchal und seiner Rezeption begann, ahnte ich nicht, wie sehr ich mich bereits mit diesem Projekt außerhalb des „Zeitgeistes“ bewegen würde. Eine besonders im katholischen Raum maßgebende Linie des unmittelbar nach dem Konzil zutage tretenden Wandels im philosophischen Zugang zur Theologie hat Karsten Kreutzer in einem sorgfältigen Vergleich der ersten, 1941 erschienenen Ausgabe von Karl Rahners „Hörer des Wortes“ mit der zweiten, 1963 durch Johannes Baptist Metz neubearbeiteten Ausgabe nachgezeichnet11. In der ersten Ausgabe von „Hörer des Wortes“ hatte sich Rahner mit dem „frühen Heidegger“, insbesondere der Daseinsanalyse in „Sein und Zeit“ auseinandergesetzt12. Dort konnte man in der Tat noch von einer entfernten Verwandtschaft zu dem beim Subjekt ansetzenden Fragen im Maréchal’schen Sinne sprechen. Die von Metz besorgte Neufassung des Werks war hingegen wesentlich an der vom späten Heidegger vertretenen prinzipiellen Geschichtlichkeit allen Denkens und Handelns orientiert, wobei Metz den Begriff des „Seinsgeschicks“ allerdings theologisch als ein von Gott her gewährtes Sein auslegte13. Damit war im Grunde schon der Weg zu einer Theologie der Hoffnung gebahnt. Das Geschick des Seins ereignet sich für den Menschen vor allem als Verheißung von Zukunft. Im Unterschied zu vielen Theologen seiner Zeit übernahm Metz Heideggers Philosophie nach der „Kehre“ aber nicht in der Form, wie sie Hans-Georg Gadamer in „Wahrheit und Methode“ (1960) entfaltet hatte. Wenn Geschehnisse und Texte durch ihre Tradition eine Autorität auf uns ausüben, der nicht zu entrinnen ist, wird der Interpret zu einem bloßen Moment des Spiels, das die Sprache mit uns treibt. Im Gegensatz dazu entwickelt Metz eine politische Theologie, der es darum geht, den Menschen versklavende Sprachverzerrungen zu entlarven und auf diese Weise emanzipatorische Praxis freizusetzen. Damit kommt erneut das Subjekt in den Blick, aber nicht in Form eines „Ich“, das sein Denken absichert, sondern als ein solidarisches „Wir“, das sich im Kampf gegen eine den Menschen umgarnende Sprache konstituiert. Eine enge Verbindung der Politischen Theologie zu der Weiterentfaltung der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule durch Jürgen Habermas zeigt sich etwa in den Arbeiten zur Fundamentaltheologie von Helmut Peukert und Edmund Arens. All diese neuen Ansätze waren nicht mehr wie die klassische Apologetik auf Verteidigung der Wahrheit gegen Einwürfe von außen gerichtet. Sie dienten vielmehr vor allem dazu, dem Feind im Inneren durch Aufdeckung von Selbstverständlichkeiten auf die Spur zu kommen, die durch eine das Denken der Kirche wie der Gesellschaft allgemein verformende Sprache entstanden waren. Nach einer Zeit der Vorherrschaft des durch Gadamer geprägten Philosophierens setzte eine breitgefächerte Rezeption der vom späten Wittgenstein inaugurierten Philosophie der Normalsprache ein. Obwohl aus anderen Kreutzer, Karsten, Transzendentales versus hermeneutisches Denken. Zur Genese des religionsphilosophischen Ansatzes bei Karl Rahner und seiner Rezeption durch Johann Baptist Metz, Regensburg 2002. 12 Vgl. Kreutzer, Transzendentales versus hermeneutisches Denken, bes. S. 127–134, S. 165 f. 13 Vgl. ebd., S. 343–349, S. 358–363. 11
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Quellen als der hermeneutischen Tradition gespeist, kann man auch sie einer Theologie zuordnen, der es um die Pragmatik der Sprache geht. Woher nimmt die neuere Politische Theologie wie die Diskurstheorie aber das Recht zur Kritik an der „Autorität der Tradition“? Diese Frage hatte Gadamer schon 1971 an Habermas gestellt14; sie ist analog aber auch an die Vertreter einer Ideologiekritik zu richten, die sich dafür auf theologische Vorgaben stützen. Insofern sich diese Kritik nicht nur im innerkirchlichen Raum bewegt, sondern sich gegen gesellschaftliche Zustände generell wendet, bedarf auch sie einer philosophischen Verantwortung der Kriterien, die sie für ihren Geltungsanspruch den Basistexten des christlichen Glaubens entnimmt. Nun ist der christliche Glaube aber durch ein konkretes geschichtliches Offenbarungsereignis bestimmt, das den Menschen unbedingt einfordert. Wie soll diese Inanspruchnahme durch ein Unbedingtes aber im Rahmen einer Philosophie verantwortet werden, die das menschliche Denken und Handeln durch den „hermeneutischen Zirkel“ als unhintergehbar geschichtlich bedingt versteht? Das hier ungelöste Problem vor allem hat mich seit Anfang der 70er Jahre in meinen philosophischen Beiträgen zur Fundamentaltheologie beschäftigt15. Ich habe es auch in der Folgezeit intensiv weiterverfolgt, in der es zwar eine Fülle von neuen Ansätzen zur oder im Umfeld der Fundamentaltheologie gab, aber keinerlei Anzeichen für die Suche nach einer Legitimationsbasis für unbedingte Ansprüche an die Vernunft. Ermutigt wurde ich in meiner Arbeit, als ich um die Mitte der 80er Jahre Thomas Pröpper begegnete, der ähnlich wie ich bemüht war, Rahners Anliegen in „Hörer des Wortes“ aufzunehmen und ihm mit Hilfe der Philosophie Fichtes besser gerecht zu werden. Ein wenig später schloß sich uns – durch ein gründliches Studium der analytischen Sprachphilosophie gerüstet – Klaus Müller an, der wie wir beide an einer Lösung der schon in den 60er Jahren beiseitegestellten Fragen arbeitete. Die Gespräche mit Pröpper und mit Müller waren für mich eine große Hilfe, in der ersten Auflage meines Grundrisses zur Fundamentaltheologie zu findende Stolpersteine so weit aus dem Weg zu räumen, dass ich ihn zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer weniger anfechtbaren Fassung vorlegen konnte.
Vgl. den Sammelband Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von Karl-Otto Apel, Claus v. Bormann, Rüdiger Bubner, Hans-Georg Gadamer, Hans Joachim Giegel, Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1971. In den Beiträgen Gadamers (S. 57–84, S. 283–317) s. bes. S. 81 f., S. 300. 15 Eine vorläufige Programmskizze findet sich in Verweyen, Hansjürgen, „Fundamentaltheologie – Hermeneutik – Erste Philosophie“, in: ThPh 56 (1981), S. 358–388; die erste systematische Durchführung meines Ansatzes in Verweyen, Hansjürgen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, 1./2. Aufl. Düsseldorf 1991. 14
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3. Philosophische Glaubensverantwortung auf verschiedenen Ebenen Mein Ansatz zur Lösung der für die Glaubensverantwortung unabdingbaren philosophischen Fragen in der dritten Auflage von „Gottes letztes Wort“ (2000)16 weist eine Folge von Stufen auf, zu deren Verständnis die Beachtung der je unterschiedlichen Methoden wichtig ist. Da die Notwendigkeit des Übergangs zu einer neuen Ebene erst aus der Argumentation auf dem jeweils voraufgehenden Plateau ersichtlich wird, ist es nicht sinnvoll, die verschiedenen Ebenen vorab zu kennzeichnen.
3.1 Die Elementarstruktur der Vernunft In Anknüpfung an Albert Camus’ Interpretation des Mythos von Sisyphos versuche ich die Elemente der Grundsituation des Menschen, die von Camus als „das Absurde“ bezeichnet wird, streng transzendentalphilosophisch im Ausgang von einem Phänomen zu bestimmen, dessen Evidenz prinzipiell von jedem nachvollzogen werden kann. Ausgangspunkt: Im Unterschied zu anderen Lebewesen nimmt der Mensch anderes nicht nur wahr. Er nimmt es auch als anderes wahr. Element 1: das Ich. Die Erkenntnis des anderen als anderen kann nichts anderes – in der Welt (etwa der Evolutionsprozeß) oder aus dem Jenseits (Gott oder ein Göttliches) – in mir bewirken. Dieses Begreifen von Differenz ist auch nicht das Resultat eines geschichtlich oder sprachlich vermittelten Verstehens von anderem. Es setzt voraus, dass ich mit mir selbst als einer ursprünglichen, auf nichts anderes rückführbaren Einheit vertraut bin. Nur darum kann mir etwas anderes als anderes „auffallen“. Diese Einheit des Ich setzt aber noch kein Selbstbewusstsein voraus und darf auch nicht als ein Sein verstanden werden, das völlig mit sich eins in sich ruht. Ich befinde mich schon längst in einem Verhältnis zu anderem und in Bewegung auf anderes hin, bevor ich anderes als anderes erkenne. Element 2: das andere. Die Erkenntnis von anderem als anderem setzt zwar ein denkendes Ich voraus, das zumindest im Hinblick auf diesen Erkenntnisakt als „frei“ im Sinne von „durch nichts anderes bedingt“ bezeichnet werden kann. Von dieser Freiheit und jenem Erkenntnisakt bleibt das andere jedoch völlig unbeeindruckt. Es setzt in dem „freien“ Wesen einfach seine Wirksamkeit fort, die schon lange vor dem Augenblick begann, als dieses Wesen erstmals zu denken anhob. Diese Wirksamkeit fällt nicht in den Forschungsbereich der Transzendentalphilosophie. Sie ist Sache der Naturwissenschaften, sofern sie mein biologisches Sein betrifft, und der Hermeneutik, sofern sie als Wirkung von anderen Menschen mein Sein sprachlich bestimmt. 16
Präzisierungen und Ergänzungen zu den Ausführungen im „Grundriß“ von 2000 finden sich in Verweyen, Hansjürgen, Einführung in die Fundamentaltheolgie, S. 119–129; ders., „Quelle philosophie pour quelle théologie? Une perspective de théologie fondamentale“, in: FZPhTh 56 (2009), S. 72–88; ders., Mensch sein neu buchstabieren. Vom Nutzen der philosophischen und historischen Kritik für den Glauben, Regensburg 2016.
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Element 3: der Hang zum Unbedingten. Ich begreife anderes nicht nur als anderes, sondern auch als Grenze. Indem mir etwas als Grenze aufgeht, bin ich in meinem Denken aber immer schon darüber hinaus. Dieses Moment der Grenze kann nicht aus der grundlegenden Erkenntnis des anderen als anderen abgeleitet werden. Auch in dem oben beschriebenen Akt des Staunens erkenne ich anderes als anderes, aber nicht als Grenze. Ich erfahre es vielmehr als etwas, das mir eine volle Einheit mit sich gewährt. Ebensowenig reicht die ursprüngliche Offenheit des Ich auf anderes, das für das Staunen-Können vorausgesetzt ist, für die Erfahrung von Grenze aus. Das Ich tritt hier vielmehr in einer Dynamik hervor, die alles überschreitet, was dem Streben nach einem Einklang zwischen dem Ich und dem anderen nicht genügt17. Dieses Transzendieren ist mit der Gefahr verbunden, das in der Welt begegnende andere prinzipiell unter einem negativen Vorzeichen zu betrachten, insofern es als zu überschreitende Grenze erscheint18. Der Mensch steht immer schon in einem Verhältnis zu anderem. Erst indem er anderes als anderes erkennt, vermag er sich selbst überhaupt als ein Ich zu erkennen, das zumindest für diese Erkenntnis von Differenz nicht von anderem oder anderen, selbst nicht von einem Gott, abhängig ist. Aber in dieses Verhältnis des Ich zu anderem steht nun etwas hinein, das der Mensch nicht loszuwerden vermag und das seiner ursprünglichen Unbedingtheit strenge Zügeln anlegt: die Dynamik auf einen völligen Einklang des Ich mit dem, was anders ist als Ich. Diese Dynamik scheint zwar seine Möglichkeiten unendlich zu erweitern: Der Mensch vermag grenzenlos fortzuschreiten.19 „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen […]“, sagt Faust stolz zu Mephisto. Doch diese „potentielle Unendlichkeit“ des Menschen ist in Wirklichkeit die Unfähigkeit, das zu erreichen, worauf er unausweichlich angelegt ist – wie es der Mythos vom „Götterfluch des Sisyphos“ vor Augen führt, an den Camus bei seiner Darstellung des Absurden anknüpft. Lässt sich angesichts dieser unüberwindbar scheinenden Widersprüchlichkeit an der Wurzel menschlicher Existenz dem Leben überhaupt noch ein Sinn abgewinnen, der sich nicht in zusammenhanglosen Fragmenten erfahrenen Glücks erschöpft?
3.2. Exkurs: Theodizee? Die Sinnfrage bei Albert Camus Auf der Basis des Absurden hat Albert Camus einen bemerkenswerten Begriff von Sinn entwickelt. Am Ende seines 1942 erschienenen Essays „Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“ heißt es, dass dem Menschen, auch wenn er nie davon entbunden wird, sich auf den Weg zu einem unerreichbaren Ziel zu machen, die Welt we Vgl. den Begriff der „volonté voulante“ bei Maurice Blondel. Hierzu knapp (mit weiteren Literaturverweisen) Verweyen, Hansjürgen, „Was ist Freiheit? Fragen an Thomas Pröpper“, in: ThPh 88 (2013), S. 510–535, hier: S. 520. 18 Dieser Gefahr unterliegen Maréchal und die von ihm beeinflussten Denker. Bei Rahner führt sie insbesondere zur Unterbewertung des „Kategorialen“ gegenüber der „transzendentalen Offenbarung“. 19 Mathematisch illustrierbar am Strahl der natürlichen Zahlen: 1, 2, 3 … ∞. – Zur Berückung eines ganzen Zeitalters durch diese „unendliche Potenz“ vgl. Verweyen, Philosophie und Theologie, 237 f. 17
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der unfruchtbar noch wertlos vorkommt: „Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses Berges voller Nacht wird, schon für sich allein, zu einer Welt. Der Kampf gegen die Gipfel als solcher genügt, um ein Menschenherz auszufüllen“20. Die Dinge, über die der Mensch auf dem Weg zu seinem Ziel zunächst möglichst schnell hinweggegangen war, verlieren in zunehmendem Maße an Sperrigkeit. Sie geben stattdessen von Mal zu Mal etwas mehr von ihrer Schönheit preis. Der „Götterfluch“ führt schließlich dazu, das in der Ferne vermutete Glück ganz in der Nähe zu finden. In dem Roman „Die Pest“ von 1947 begegnet der „Götterfluch“ in seiner schrecklichsten Gestalt. Unschuldige Kinder werden in unsäglicher Qual dem Tode preisgegeben. Den Göttern des Olymps einen Mangel an Moralität vorzuhalten, ergab keinen Sinn. Im Christentum aber gilt der Schöpfergott nicht nur als gerecht, sondern als die Liebe selbst. Camus’ Antwort auf diesen schreienden Widerspruch findet sich in einem Gespräch über Gott, in das Tarrou Dr. Rieux hineinzieht. Am Ende sagt der Arzt: „[…] da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es vielleicht besser für Gott, wenn man nicht an ihn glaubt und dafür mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu dem Himmel zu erheben, wo er schweigt.“ Auf Tarrous Bemerkung, dass seine Siege dann immer vorläufig bleiben werden, antwortet Rieux: „Immer, ich weiß. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben“.21 In „Der Mensch in der Revolte“ (1951) legt Camus eindrücklich dar, dass die ungelöste Theodizeefrage nicht bedeutet, es sei jetzt alles erlaubt. Am Ende des einleitenden Kapitels stellt er dem Descartes’schen „cogito“ als Basisevidenz in der Ordnung des Denkens als primäre Gewissheit in der Ordnung der sittlich-praktischen Vernunft22 den Satz an die Seite: „Ich empöre mich, also sind wir“. Die nicht nur oberflächliche, sondern ehrliche Empörung über das Leiden in der Welt impliziert die Entscheidung zu einer alle Menschen umfassenden Solidarität. Heißt das aber nicht zugleich, dass jedes Reden über Gott vergeudete Zeit im Hinblick auf das Bemühen ist, wenigstens hier und da Leiden zu lindern? Diese Frage kann man nicht ernst genug nehmen. Ich versuche, das Recht zum Reden über Gott mit zwei Argumenten auf der Basis der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu stützen: 1. In seiner Abhandlung über die vergeblichen Versuche einer Rechtfertigung Gottes sagt Kant, ein endgültiges Urteil über die (vorhandene oder mangelnde) Weisheit und Güte Gottes in seinem Handeln an der Welt kann sich nur der bilden, der „bis zur Kenntnis der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt, und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Grunde liegt: auf welche Einsicht allein der Beweis der moralischen Weisheit des Welturhebers in der letztern gegründet werden kann, da diese doch nur die Erscheinung jener ersten Welt darbietet, – eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann“23. Das Mißlingen aller spekulativen Theodizeeversu Eigene Übersetzung. Camus, Albert, Die Pest, Hamburg 1985, 84 f. 22 So könnte man den Ausdruck „dans l’épreuve quotienne qui est la nôtre“ mit Kant genauer bestimmen. 23 Kant, Immanuel, „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“, zitiert nach 20 21
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che berechtigt kein endgültiges Urteil über die fehlende Moralität Gottes und damit kein Verbot jeder Rede von Gott, weil auch die schreckliche Erfahrung des Leidens in dieser Welt unseren auf Erscheinungen beschränkten Wahrnehmungen unterliegt, die durch Einsicht in eine diesen Erscheinungen zugrunde liegende Realität überholt werden könnten. 2. Im Hinblick auf die Möglichkeiten der sittlich-praktischen Vernunft halte ich die Begründung universaler Solidarität bei Camus für überzeugend. Das heißt: Der Ausblick auf Gott könnte nur durch den Nachweis legitimiert werden, dass der Begriff von Solidarität bei Camus nicht bis zu seiner letzten Konsequenz bedacht ist. Diesen Nachweis, den ich im begrenzten Rahmen dieses Beitrags nicht noch einmal wiederholen kann, habe ich in anderen Zusammenhängen zu erbringen versucht.24. In meinen philosophischen Arbeiten zur Fundamentaltheologie insgesamt bemühe ich mich, die Grenzen des im Gespräch mit Albert Camus Verantwortbaren nicht zu überschreiten.
3.3 Die Frage nach einem Begriff letztgültigen Sinns Kennzeichnend für die in Abschnitt 3.1 dargelegte Elementarstruktur der Vernunft war, erstens die unbedingte Freiheit eines Ich als Bedingung der Möglichkeit für die Erkenntnis von anderem als anderem. Zweitens ergab sich aus der Erkenntnis von anderem als Grenze ein unbegrenztes Streben nach einem völligen Einklang des Ich mit allem, was ihm als anderes begegnen kann. Dieses Streben ist mit der menschlichen Freiheit so eng verknüpft, dass sie ihm nicht zu entrinnen vermag. Die Grundstruktur der Vernunft lässt sich demzufolge als „absurd“ im Sinne von Camus kennzeichnen. Wie kommt es zu diesem Widerstreit an der Wurzel aller Vernunft? Unter Verzicht auf diese Frage behalten zwar Entwürfe eines sinnvollen Lebens wie der von Camus ihr volles Recht. Um sich einen Begriff letztgültigen Sinns bilden zu können, wie er für die rationale Verantwortung des christlichen Glaubens unerlässlich ist, muß diese Frage aber nicht nur gestellt, sondern auch nach einer Antwort darauf gesucht werden. Im Folgenden versuche ich, die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit für die Erschließung eines solchen Sinnbegriffs zu skizzieren. Damit ist kein Beweis intendiert, dass die nötigen Bedingungen für einen letztgültigen Sinn wirklich gegeben sind oder dessen Verwirklichung zumindest „realmöglich“ ist25.
Theorie-Werkausgabe. Bd. XI, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1964, S. 105–124, hier: S. 115. 24 Zu meinem Versuch einer philosophischen Begründung von Hoffnung auf einen unsere Erfahrungen übersteigenden Sinn vgl. zuletzt Verweyen, Hansjürgen, Ist Gott die Liebe? Spurensuche in Bibel und Tradition, Regensburg 2014, S. 133 f. 25 Zu diesen methodischen Unterscheidungen vgl. Verweyen, Was ist Freiheit?, S. 526 f.
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3.3.1 Das Woher des Strebens nach unbedingter Einheit
Der Begriff einer unbedingten Einheit kann nicht durch Projektion aus dem unendlichen Streben erschlossen werden. Dieser Begriff sitzt der Rastlosigkeit des freien Menschen vielmehr gleichsam im Nacken, ob er sich nun wie Dr. Faustus mit ihr als seiner „unendlichen Potenz“ brüstet oder sie wie Sisyphos als Götterfluch empfindet. Das Woher des unvollendbaren Strebens nach Einheit könnte – wenn überhaupt – nur durch Rückgriff auf ein schlechthin Einfaches26 selbst erklärt werden27. Darüber hinaus müsste sich dieses unbedingt Einfache (ich gebrauche dafür im Folgenden gelegentlich die Chiffre Gott), ebenfalls durch nichts anderes bedingt, eine andere Freiheit entgegensetzen, damit die Grundstruktur der menschlichen Vernunft als Freiheit und zugleich als unendliches Streben nach unbedingter Einheit zustande kommen kann28. 3.3.2 Das absolut Einfache im unauflösbaren Widerspruch mit sich selbst?
Verwickelt sich das absolut Einfache durch die Entgegensetzung eines anderen freien Ich nicht in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst – es sei denn, die von ihm gesetzte andere Freiheit würde diesen Widerspruch durch eigene Tätigkeit lösen? Mit anderen Worten: Macht Gott sich durch das Entgegensetzen anderer Freiheit nicht von deren Tun abhängig? Wie soll der Mensch aber durch eigene Tätigkeit den von Gott selbst gesetzten Widerspruch zu seiner absoluten Einfachheit lösen können? Nur indem er sich selbst durch freies Tun zum reinen Bild Gottes macht29. Wie soll er sich aber zum Bilde eines anderen machen, den er nicht denken kann30? Über die direkte, „vertikale“ Beziehung des Men Der statische Begriff unbedingte „Einheit“ oder unbedingtes „Eins“ (hen), wie er für Parmenides und Platon und die an sie anknüpfende Tradition kennzeichnend ist, macht es von vornherein unmöglich, ein daraus hervorgehendes positives Verhältnis zu einem freien Anderen widerspruchslos zu denken. Fichte hingegen hat im Begriff der „Thathandlung“, in der eine völlig unbedingte Freiheit sich selbst setzt, die Möglichkeit des Strebens eines durch anderes bedingten Setzens seiner selbst nach einem durch nichts anderes bedingten Setzen seiner selbst eröffnet. Ein durch eine „Thathandlung“ gesetztes unbedingt Einfaches (haplous, „in eins gefaltet“) ist auch in dem Begriff „Denken des Denkens“ (noêsis noêseôs) bei Aristoteles impliziert. Alles andere Denken bedarf zu seinem Denken eines anderen (des noêma). Die Bewegung der (und in der) Welt hat ihren Grund in dem Verlangen der höchsten Geister nach dem Ruhen in völliger „Einfaltigkeit“ mit sich selbst, vgl. Verweyen, Philosophie und Theologie, S. 94 f., S. 97 f. 27 Hier liegt die wesentlichste Differenz meines Versuchs zu dem von Thomas Pröpper vertretenen Ansatz. Letztlich dürfte diese Differenz auf eine unterschiedliche Interpretation der frühen Wissenschaftslehre von J.G. Fichte (1793–1799) zurückgehen. Vgl. hierzu Verweyen, Was ist Freiheit?, bes. S. 523–525. 28 Hiermit knüpfe ich an die beiden ersten „Grundsätze“ der Fichte’schen Wissenschaftslehre von 1794 mit Blick auf die weitere Entwicklung Fichtes an. Auf den dritten Grundsatz gehe ich hier nicht ein, weil Fichte aus ihm – wie er erst zur Zeit des Atheismusstreits erkannte – eine prinzipiell unerfüllbare Aufgabe ableitet. Stellenangaben hierzu in ebd., S. 523 f. mit Anm. 15 und 16. 29 Im Rahmen dieses Beitrags gebe ich keine genauere Bestimmung dessen, was Bild als Akt einer Freiheit besagt. Vgl. zum Gebrauch des Bildbegriffs in Anselms Trinitätslehre Verweyen, Anselm von Canterbury, S. 50 f.; ders., Gottes letztes Wort, S. 156–159; zur zentralen Bedeutung des Bildbegriffs in Fichtes später Wissenschaftslehre vgl. ders., „Zum Verhältnis von Wissenschaftslehre und Gesellschaftstheorie beim späten Fichte“, in: Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, hg. von Hammacher, Klaus, Hamburg 1981, S. 316–329. 30 Vgl. Anselm v. C., Proslogion, Kap. 15. 26
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schen zu Gott ist keine Antwort auf die Frage nach einem Begriff letztgültigen Sinns zu erwarten. Lässt sich indirekt, über die „horizontale“ zwischenmenschliche Beziehung, in dieser Frage weiterkommen? 3.3.3 Bildwerden im „Ikonoklasmus“
Im Zusammenhang einer streng transzendentalen Untersuchung darf nicht einfach empirisch eine Mehrzahl von freien Menschen angenommen werden, sonst bliebe die intersubjektive Verwendung des Begriffs Freiheit den zur Zeit geltenden, auf ihre Gültigkeit aber nicht hinterfragten Vorstellungen von Freiheit oder Autonomie ausgesetzt. Es ist vielmehr von den für die Grundstruktur der Vernunft konstitutiven Elementen auszugehen (s. o. 3.1). Wie kann ein Ich anderes nicht nur als anderes, sondern als eine(n) mit Freiheit begabte(n) andere(n) erkennen? Dazu müsste das Ich nicht nur unreflektiert mit sich vertraut, sondern seiner selbst als eines freien Wesens bewusst sein. J.G. Fichte hat als erster nachgewiesen, dass, um seiner selbst bewusst zu werden, das Ich der Anerkennung durch ein anderes freies Wesen bedarf31. Aufgrund der Erfahrung der Grenze ergibt sich aber die Frage, ob ein selbstbewusstes Ich jemals in einem Akt anderer freier Wesen den gesuchten völligen Einklang mit sich selbst finden kann. Die anderen scheinen zumeist doch seiner Suche nach einer solchen Selbstverwirklichung eher im Wege zu stehen. Darum versuchen Menschen, andere so weit zu bringen, dass sie in ihnen dem reinen Spiegelbild ihrer selbst begegnen – z. B. durch Zwang oder dadurch, dass sie unter Vorspielung selbstloser Güte ihr volles Zutrauen und Anerkennen erschleichen. Einem freien Ja werden sie auf diese Weise nie begegnen. Die Initiative zur Anerkennung müsste von anderen ausgehen, die dem Menschen auf der Suche nach Einheit mit sich selbst keinen Spiegel seines aktuellen Zustandes vorhalten, sondern ihm in ihnen selbst Raum schaffen für das Bild und den Ausdruck seiner selbst. „Hab ich dein Ohr nur, find’ ich schon mein Wort“, sagt Karl Kraus32. Nur wo sich andere Freiheit für mein Ringen um einen authentischen Ausdruck meiner selbst öffnet, kann ich mit mir zur Einheit kommen. Es müsste also Menschen geben, die zu einem ständigen „Ikonoklamus“ bereit, d. h. gewillt sind, das Bild, das sie sich soeben von mir gemacht haben, sogleich wieder von dem noch Fremden zerbrechen zu lassen, der ich schon im nächsten Augenblick für sie sein werde. Ist damit aber der „Götterfluch“ einer nie vollendbaren Unendlichkeit überwunden? Das wäre dann der Fall, wenn sich alle Menschen vorbehaltlos und unbeirrbar entschlössen, anderen ein „offenes Ohr“ dafür zu sein, dass sie ihr eigentliches Wesen zu Wort bringen können. In dieser „aktual unbedingten“ Entscheidung träte dann zutage, dass die „potenzielle Unendlichkeit“ menschlichen Strebens nicht zum Absurden führt. Sie wäre vielmehr der unabschließbar offene Raum in meiner Freiheit für die unendli Vgl. Verweyen, Gottes letztes Wort, 188 f. (Literatur!). Kraus, Karl, „Zuflucht“, in: Ders., Worte in Versen, München 1959, S. 63.
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che Weite anderer Freiheit und damit notwendige Bedingung für eine unbedingte Einheit in Differenz. Auf diesem Wege würde man auch der im „vertikalen“ Bezug des Menschen zu Gott nicht erreichbaren Lösung des Widerspruchs näherkommen, in den sich das schlechthin Einfache mit der Entgegensetzung anderer Freiheit verwickelt. Wenn diese Lösung nur durch die freie Tätigkeit des Menschen gelingen kann, dann muss der Mensch die Fähigkeit zu diesem Tun haben. Jeder gelingende Versuch des Menschen, sein ureigenstes Wesen zum Ausdruck zu bringen, wäre damit ein Schritt auf dem Weg zur Entfaltung dieser Fähigkeit. Schon in dieser Anlage, und erst recht auf dem Wege zu ihrer Entfaltung, müsste sich dann etwas davon erkennen lassen, wie Gott in sich selbst ist. Die allseitige Entscheidung, anderen Menschen in sich selbst Raum für den Ausdruck dessen zu geben, worauf sie angelegt sind, käme damit implizit dem Entschluss der Freiheit gleich, das Bild Gottes zur Erscheinung zu bringen. Der Begriff letztgültigen Sinns liefe dann letztlich auf die Aufgabe hinaus, wie in einem Puzzlespiel aus unendlich vielen Fragmenten das Bild Gottes zusammenzusetzen. Auch diese Aufgabe scheint zwar nicht über ein bloß potenziell unendliches Streben hinauszukommen. Dieses Streben wäre aber nicht prinzipiell unvollendbar, dann nämlich nicht, wenn Gott in einer aktual unendlichen Geduld warten kann, bis sich auch das letzte Steinchen des Puzzles an dem Ort letztgültigen Sinns eingefunden hat33. 3.3.4 Zwischenüberlegungen
Bisher habe ich versucht, gleichsam eine Übersichtskarte für den Weg zu letztgültigem Sinn zu skizzieren. Ihr sollen Kriterien dafür entnommen werden können, was ein Mensch in freier Entscheidung als einer göttlichen Offenbarung nicht widerstreitend erkennen kann oder wem er als mit der Vernunft nicht vereinbar den Gehorsam verweigern muß34. Der hier umrissene Begriff von Sinn ist aber auch im Gespräch mit Albert Camus verantwortbar (vgl. 3.2). Die Behauptung, dass Gott eine gute Welt geschaffen habe, lässt sich philosophisch nicht rechtfertigen, solange es keine positive Lösung des Theodizeeproblems gibt. Für den Abschnitt „Bildwerden im ‚Ikonoklasmus‘“ kann die Frage nach einem Schöpfergott aber „eingeklammert“ werden. Dieses „Bildwerden“ ließe sich dann als eine mögliche Präzisierung der von Camus vertretenen universalen Solidarität verstehen, denn der hier entwickelte Sinnbegriff verlöre auch dann nicht an Wert für die Suche nach Glück, wenn es keinen Gott und kein jenseitiges Leben gäbe. Vgl. hierzu aus theologischer Perspektive Verweyen, Ist Gott die Liebe?, S.187–192; ders., Einführung in die Fundamentaltheologie, S. 162–164; ders., Gottes letztes Wort, S. 196–206, S. 311–313. 34 Vgl. Kants Bemerkung zum Isaak-Opfer: „Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte‘“ (Kant, Immanuel, „Der Streit der Fakultäten (1798)“, in: Ders., Akademieausgabe VII, 1–116, hier: 63 Anm.). Zum Problem dieser Opferforderung selbst vgl. Verweyen, Ist Gott die Liebe?, S. 31–34. 33
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Die transzendentalphilosophisch erstellte „Übersichtskarte“ bedarf der Ergänzung durch phänomenologische und hermeneutische Untersuchungen. Die Freiheit des Menschen ist materiell vermittelt, durch seine Leiblichkeit und deren Zusammenhang mit der Materie generell. Die oben dargelegte Form von Intersubjektivität setzt eine bestimmte Form von Leiblichkeit und einen Zugang zur Materie (etwa in der Ökonomie) voraus, der sich nicht in „instrumenteller Vernunft“ (Adorno) erschöpfen darf. Auf die sich von daher stellenden Fragen kann ich im Rahmen dieses Beitrags nicht eingehen, habe aber an anderer Stelle einige Bemerkungen dazu gemacht35.
3.4 Unbedingtes in der Geschichte? 3.4.1 Vom freien Ich zum fremdbestimmten Selbstbewußtsein
Aus dem Begriff eines letztgültigen Sinns lassen sich Kriterien dafür ableiten, ob bzw. inwieweit eine als gegeben behauptete göttliche Offenbarung Anspruch auf eine unbedingte Glaubenszustimmung erheben kann. Für die Frage, ob sich Gott in der Geschichte zu erkennen gegeben hat und darum ein unbedingtes Ja des Menschen zu dem in dieser Offenbarung Mitgeteilten fordern kann, ist damit aber noch nichts gewonnen. Ist es überhaupt möglich, dass sich in der unzweifelhaft durch Umstände der verschiedensten Art bedingten Geschichte etwas als ein „ein für allemal“ gültiges Geschehen erkennen lässt? Ich gehe zur Beantwortung dieser Frage zunächst von der oben (3.3.3) im Anschluß an Fichtes Beweisführung gemachten Feststellung aus, dass das Ich, um seiner selbst als freies Wesen bewusst zu werden, der Anerkennung durch ein anderes freies Wesen bedarf, und versuche, die dafür konstitutiven Momente aufzuzeigen, inwieweit sie mir für die Zielsetzung meines Beitrags wichtig erscheinen: a) Das Ich, mit dem jeder vertraut ist, der anderes als anderes erkennt, wird sich als ein „Selbst“ (franz. soi-même) nur dadurch bewusst, dass ein anderes freies Wesen es als ein freies Gegenüber anerkennt und das Ich seinerseits in dem Bild, das ihm in dieser Anerkennung gleichsam vorgehalten wird, sich selbst ausgedrückt findet. b) In dieser ersten wechselseitigen Anerkennung ist das ursprüngliche Phänomen der Bejahung eines Sollens im Sinne einer freien Selbstverpflichtung enthalten. Indem nämlich das Ich das ihm von anderen dargebotene Bild als Bild seiner selbst annimmt, bejaht es etwas, das ihm eine andere Freiheit zur Identifizierung vorhält. c) Damit ist aber noch nichts über die Qualität des hier zur Erscheinung kommenden Sollens gesagt, denn das Bild, über das mir andere zu meinem Selbstbewusstsein verhelfen und das meine Vorstellung von dem, was ich soll, prägt, entspringt ihrer Vorstellung von mir. Dabei bleibt offen, inwieweit diese Vorstellung meinem wahren, individuellen Ich entspricht. Offen bleibt auch, inwieweit ihre Vorstellungen von wahrem Menschsein zutreffen, die sie mit diesem Bild von mir verbinden und die auf mein späteres Handeln von Einfluss sind. Schon beim ersten Erwachen des Selbstbewusstseins entscheidet sich vieles über mein Selbstverständnis wie auch über mein Verhalten anderen gegenüber. 35
Vgl. Verweyen, Gottes letztes Wort, S. 166–169, S. 175–185.
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Das mit sich selbst noch unreflektiert vertraute Ich (franz. je) versteht sich selbst nun von dem Ich (franz. moi) her, das durch die ursprüngliche wechselseitige Anerkennung ermöglicht wird. Kann das je aus den sein Selbstverständnis und seine Wertvorstellungen bestimmenden Internalisierungen, die bereits beim Entstehen des Bewusstseins seiner selbst als moi zustande kommen, jemals zu seinem wahren individuellen Ich (je) zurückfinden bzw. es erstmals bewusst entdecken?36 d) Die Vorstellungen, die in den ursprünglichen Akt der Anerkennung eingehen, sind von den Werten bestimmt, die meine ersten „Bezugspersonen“ vertreten und die sie an mich weitergeben wollen. Diese Werte sind von bestimmten Traditionen geprägt. Insofern kann man das Bild, das sie mir zur Selbstfindung vorhalten, als eine rudimentäre Form von Zeugnis für die aus jenen Traditionen erwachsenen Überzeugungen ansehen. Indem ich dieses Bild in demselben Akt bejahe, in dem ich mir meiner selbst bewusst werde, kommt auch in mir eine ursprüngliche Überzeugung zustande. Diese kann mich – je nach meinen späteren Erfahrungen – entweder ein Leben lang wie etwas Selbstverständliches begleiten oder mir schwer zu schaffen machen, insofern ich mich zum Abbau dieser „Ideologie“ genötigt sehe. An den Momenten, die für das Entstehen von Selbstbewusstsein konstitutiv sind, lässt sich gut das schwierige Verhältnis zwischen transzendentalem und hermeneutischem Philosophieren aufzeigen. Im Hinblick auf die rationale Verantwortung des Glaubens an eine letztgültige Offenbarung Gottes in der Geschichte geht es vor allem um die Frage, ob bzw. inwieweit sich geschichtlich nicht bedingte Kriterien für ein authentisches Zeugnis bezüglich dieser Offenbarung ermitteln lassen, oder ob alle Kriterien, die man dafür angibt, letztlich in einem „hermeneutischen Zirkel“ befangen sind. Gehen sie nicht alle auf Werturteile zurück, durch die das Selbstbewusstsein von Anfang an geschichtlich bedingt ist? Wie wäre dann aber die Vorstellung einzuschätzen, von einem als letztgültig angesehenen Anspruch nicht nur persönlich überzeugt zu sein, sondern ihn auch als unbedingt verpflichtend vor anderen vertreten zu müssen? 3.4.2 Zeugnis als Grundbegriff der Fundamentaltheologie
Der für die Theologie zentrale Begriff „Zeugnis“ ist von der Verwendung dieses Wortes im alltäglichen Sprachgebrauch sorgfältig zu unterscheiden. Im juristischen Bereich und in der historischen Wissenschaft gilt ein Zeugnis im Sinne von Zeugenaussage als ein für die Rechtsfindung bzw. Ermittlung von Tatsachen verwertbarer Bericht. Es wird dem Gesamt von „Indizien“ zugeordnet, aus denen man sich eine möglichst objektive Klärung des infrage stehenden Geschehens verspricht. Soll der Terminus „Zeugnis“ als Ausdruck für die Vermittlung einer unbedingten Verpflichtung tauglich sein, die von geschichtlichen Ereignissen ausgeht, so darf er nicht aus dem lebendigen Zusammenhang von Anerkennung gelöst werden, aus dem mit dem Entstehen von Selbstbewusstsein das Phänomen „Sollen“ ursprünglich hervorgeht. Je mehr das Leben und Sterben Vgl. hierzu Verweyen, Gottes letztes Wort, S. 181, bes. Anm. 121.
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eines Menschen von solchem Gewicht war, dass sie andere unerbittlich vor eine Entscheidung für oder gegen die von ihm vertretenen Werte stellen, desto weniger ist eine Gewissheit über die sittliche „Qualität“ dieses Menschen und dessen, wofür er stand, mit Hilfe des über ihn vorhandenen „historisch verwertbaren Materials“ zu erlangen. Entscheidend ist, dass der „Funke“, der von ihm auf andere übersprang, auch weiterhin mit unverminderter Kraft Feuer zu entfachen vermag. Der gravierende Unterschied im Gebrauch des Wortes Zeugnis muss auch und gerade bei der Rückfrage nach dem wirklichen Jesus der Geschichte beachtet werden. 3.4.3 Kriterien für eine adäquate Bezeugung eines „ein für allemal“ Geschehenen
Dem oben (3.3.3) entwickelten Begriff eines letztgültigen Sinns entsprechend, müsste ein Zeugnis, das zur rationalen Verantwortung des Glaubens an Jesus von Nazareth als eine für immer gültige Selbstmitteilung Gottes taugt, ein glaubwürdiges Bild Gottes im Bild-Werden füreinander darstellen. Dazu ist eine völlige Transparenz des Zeugen in Hinsicht auf das Woher wie auch auf das Woraufhin seines Zeugnisses erforderlich: a) Das Woher: Im Blick auf das, was er bezeugt, muss der Zeuge seine persönlichen Interessen als irrelevant ansehen – im Ernstfall bis zur martyria im Sinne von „Blutzeugnis“. Aber selbst dahinter kann noch ein beträchtliches Eigeninteresse stehen, nämlich das Schielen nach wenigstens einem jenseitigen Lohn, verbunden mit der Abneigung, die verborgenen Nischen seiner Hoffnung kritischem Fragen auszusetzen. Nur wenn der Zeuge von der Unbedingtheit dessen, was ihn ganz beansprucht, bis ins Mark seiner Vernunft hinein überzeugt ist, kann er in „Freimut“ (parrhesia) auch die widerborstigste Freiheit Andersdenker ohne Angst vor unangenehmen Fragen an sich heranlassen. b) Das Woraufhin: Jede neue Erfahrung, die ich mit anderen mache, fordert mich auf, das Bild zu revidieren, das ich von ihnen habe. Davon ist auch der Inhalt eines Zeugnisses betroffen. Der Zeuge darf zwar nicht durch billige Anpassung an den Zeitgeschmack den verraten, den er bezeugen sol; aber nur dann, wenn sein Zeugnis den „Adressaten“ in seinem Innersten erreicht, kann es auch in diesem zu einer unerschütterlichen Überzeugung kommen. Der Zeuge muß also den Horizont des Angesprochenen bis in seine letzten Tiefen auszuloten suchen. Wenn er sich aber auf diesen ihm oft fremd erscheinenden Horizont einlässt, kann es ihm widerfahren, dass ihn das „Wir“ der Glaubenden von sich abstößt und ihn – wie Jesus selbst –„an den Abhang“ drängt (vgl. Lk 4,29). Sobald anderseits aber die Adressaten sich an den Zeugen als den „Guru einer neuen Wahrheit“ zu klammern beginnen, muss er sie von sich weg und auf den verweisen, für den sein Zeugnis nur „Transitraum“ ist.
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3.5 Der Streit um eine authentische Auslegung der Heiligen Schrift 3.5.1 Zur Diskussionslage seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
Die verwirrende Fülle von neuen Ansätzen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Fundamentaltheologie und in der systematischen Theologie allgemein unternommen wurden (vgl. oben 2.2), dürfte zumindest teilweise mit dem neuen Zugang zur Exegese zusammenhängen, den Ernst Käsemann 1953 mit seinem Vortrag „Das Problem des historischen Jesus“37 eingeleitet hatte. Auch diese „neue Rückfrage nach dem historischen Jesus“ entstand, wie später die „Theologie der Hoffnung“, in Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann. Das Hauptargument Bultmanns (wie auch Karl Barths) gegen jede Rückfrage nach dem historischen Jesus fußte auf dem von G.E. Lessing betonten „garstigen breiten Graben“ zwischen den stets nur wahrscheinlichen Ergebnissen der historisch-kritischen Wissenschaft und den Gründen für Entscheidungen der sittlich-praktischen Vernunft. Mit unbedingter Zustimmung getroffene Entscheidungen könnten sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten stützen, und hätten diese auch einen noch so hohen Grad von Gewissheit. Die unbedingte Zustimmung des Glaubens zu dem in und durch Jesus von Nazareth Geschehenen habe nur am „Kerygma“, der kirchlich vermittelten Gegenwart der Heilsbotschaft, ihren Halt. Käsemann hielt dieser Sicht entgegen, dass auf diese Weise nicht überzeugend unterschieden werden könne, ob das Kerygma sich zu Recht auf den Jesus der Geschichte beruft oder letztlich nur eine gegen alle wissenschaftliche Kritik immunisierte mythische Rede darstellt. Er versuchte daher, das Kerygma durch authentische Worte des historischen Jesus zu stützen, für deren Ermittlung er strenge Richtlinien aufstellte. Der von Käsemann initiierte Umgang mit den Evangelien fand sehr bald Eingang auch in die systematische Theologie, bis hinein in neu erstellte und von den Bischöfen approbierte Katechismen38. In der „neuen Suche nach dem historischen Jesus“ fehlt weitgehend die methodisch wichtige Unterscheidung zwischen Urteilen der theoretischen Vernunft (hier: der historisch-kritischen Wissenschaft) und Urteilen der sittlich-praktischen Vernunft (hier: dem Ja zu einem die ganze Existenz in Anspruch nehmenden Zeugnis). Aufgrund von Ergebnissen der auf Objektivität ausgerichteten Wissenschaften kann ein Sollensanspruch weder erhoben noch gestützt werden. Mit dieser Feststellung ist allerdings die Frage Käsemanns nach einer geschichtlichen Basis des Kerygmas noch keiner Lösung nähergebracht, eine Frage, die Bultmann überging und die Kant zufolge Freiheit an heteronome Forderungen bindet. Erst Fichte führte über Kant hinaus: Ein Ich wird seiner Freiheit nur dadurch bewusst, dass ein anderes freies Wesen es als frei anerkennt und In: Käsemann, Ernst, Exegetische Versuche und Besinnungen. Bd. I, Göttingen 1970, S. 187–214. Ich zitiere ein Beispiel: „Die Abendmahlsworte [Jesu] werden von besonderen Gesten des Mitteilens, des Verschenkens und der Hingabe begleitet. Das alles gibt einen Anhalt für die Überzeugung, daß Jesus seinen Tod als Heilstod verstanden hat […]“ (Katholischer Erwachsenenkatechismus. Bd. I: Das Glaubensbekenntnis der Kirche, hg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985, S. 186, meine Hervorhebung). Kann man noch von einer wirklichen „Überzeugung“ sprechen, wenn diese durch historisch wahrscheinliche Anhaltspunkte abgesichert werden muss?
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zu freiem Handeln ermutigt. Wie oben (3.4.1) gezeigt, ist damit zugleich das Phänomen der freien Selbstverpflichtung gegeben. Lässt sich auf dieser Grundlage die historische Forschung durch eine Komponente erweitern, die für die Behauptung eines von Jesus Christus ausgehenden unbedingten Anspruchs entscheidend wäre? Bevor dieser Frage mit Aussicht auf Erfolg nachgegangen werden kann, müssen allerdings Probleme wenigstens kurz berührt werden, die einer gegen den in der Kirche verkündigten Christus gerichteten Suche nach einem historisch gesicherten Jesus ihr Recht verleihen. 3.5.2 Exegetischer Exkurs: Leben und Sterben Jesu plus Auferstehung?
Vor der Rezeption der von der historisch kritischen Forschung erbrachten Einsichten herrschte in der kirchlichen Verkündigung eine Auffassung vor, derzufolge – mit den frühen Konzilsentscheidungen kaum vereinbar – schon der irdische Jesus die Prachtgewänder seiner göttlichen Natur trug: Jesus schritt, von aller Möglichkeit zu irren unangefochten und mit großer Wundermacht ausgestattet, über die Erde und erhob sich aus eigener Kraft aus dem Grabe und in den Himmel39. Angesichts des schon im Erdenleben Jesu erkennbaren göttlichen Wesens war die aus eigener Kraft erwirkte Auferstehung nichts umwerfend Neues. Zusammen mit der als Wiederbesteigen des göttlichen Throns verstandenen Himmelfahrt galt sie als Auftakt zu der triumphalen Seinsweise des zukünftigen Weltenrichters. Diese Sicht wurde von der ersten, die Theologie des 19. Jahrhunderts dominierenden Suche nach dem historischen Jesus als unhaltbar erwiesen. Nach der Entmythologisierung der in der Bibel berichteten Wunder blieb allein die Frage nach den mit dem Thema „Auferstehung“ verbundenen Ereignissen als für die Behauptung der göttlichen Macht Jesu relevant. Ein Jenseits zum Erdenleben entzieht sich jedoch grundsätzlich dem Objektbereich der historischen Forschung. So kam es zu einer methodisch strikten Trennung zwischen der letztlich auf der Auferstehung Jesu basierenden kirchlichen Verkündigung und der Rekonstruktion dessen, was sich aus den Berichten über das Leben und Wirken Jesu als vor der historischen Kritik haltbar ausmachen ließ40. Da auch in den Evangelien die Darstellung des irdischen Jesus mit der Erfahrung seines den Tod überwindenden Lebens verwoben war, konnten auch sie nicht mehr als verbindliche Vorgaben für die historische Kritik bestehen, wurden aber als die wichtigste Materialsammlung bei der Frage nach den in ihnen zur Sprache gebrachten früheren und frühesten Überlieferungen betrachtet. Vgl. die noch während des Zweiten Vaticanums als richtungweisend geltenden Aussagen in dem in 30 Sprachen übersetzten „Katholische[n] Katechismus der Bistümer Deutschlands“, hg. von den deutschen Bischöfen, Freiburg 1955, Lizenzausgabe Düsseldorf 1961, Nr. 23, 61, 36. Vgl. auch „Katechismus der Katholischen Kirche“ (1993), Nr. 649. 40 Die Hinweise der Apologetik darauf, dass auch die menschlicher Wahrnehmung unzugängliche Auferstehung Jesu für die wissenschaftliche Forschung belangvolle Spuren hinterlassen habe, z. B. das leere Grab und vor allem die vielfach bezeugten Erscheinungen des Auferstandenen, wurden von der historischen Kritik allenfalls am Rande behandelt. 39
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Die von der historisch-kritischen Exegese gegenüber der zuvor dominierenden Hoheitschristologie in die Wege geleitete Zäsur zwischen dem Erdenleben und der Auferstehung Jesu wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur in der Exegese, sondern weitgehend auch in der systematischen Theologie übernommen. Auf diese Weise kam es zu seltsamen Aussagen, in denen der Kreuzestod Jesu als die schlechthin unüberbietbare Offenbarung Gottes betont, dann aber festgestellt wird, dass erst durch die Auferweckung der vollgültige Offenbarungsanspruch Jesu von Gott her legitimiert und glaubwürdig gemacht worden sei41. Lässt sich in dieser verwirrenden Diskussionslage mit Hilfe des von der historischen Kritik erarbeiteten methodischen Instrumentars etwas mehr Klarheit erzielen? Wohl schon zur frühesten Tradition gehört das Bekenntnis, dass Jesus Christus nach seinem Tod und Begräbnis am dritten Tage gemäß der Schrift auferstand bzw. auferweckt wurde, und dass er bestimmten Personen, als erstem dem Petrus, erschien (vgl. 1 Kor 15,3–5). Dass dies als ein entscheidendes Zeugnis gewertet wurde, wird schon daraus ersichtlich, dass Paulus und alle Evangelisten42 darauf Bezug nehmen, auch wo sie es selbst in einen anderen Sinnzusammenhang stellen. Was den Terminus Auferstehung bzw. Auferweckung angeht, war dies zunächst wohl die einzige Metapher, mit der die Jünger ein in Gott geborgenes Leben Jesu trotz seines Kreuzestodes auszudrücken vermochten. Seiner apokalyptischen Herkunft nach bedeutete das Wort die Errettung der Gerechten aus der „Scheol“, der Unterwelt, in der es ein nur schattenhaftes Fortvegetieren ohne jede Kommunikationsmöglichkeit gab. War es vorstellbar, dass Gott seinen Sohn auch nur für eine kurze Zeit in diese fernste Ferne von ihm geschickt hatte? Diese Frage wurde damals vielleicht auch deswegen nicht gestellt43, weil die Annahme einer solchen Zwischenzeit den Jüngern ersparte, über den Zeitraum zu sprechen, den sie bis zur Bekehrung von ihrer ursprünglichen Ansicht nötig hatten, Jesus sei mit seiner Mission gescheitert. Was zeigten die Erscheinungen des Auferstandenen? Die früheste inhaltliche Auskunft findet sich in dem in Gal 1,16 geschilderten Bekehrungserlebnis: Nachdem Paulus die Kirche Gottes maßlos verfolgt hatte (1,13), „offenbarte Gott seinen Sohn in mir“ (mit dem Ziel der Heidenmission). Diesen Vorgang in seinem Inneren bezeichnet Paulus dann im Vergleich mit den Erscheinungen Christi vor den anderen Aposteln als „Sehen Jesu des Herrn“ (1 Kor 9,1) und setzt ihn schließlich ans Ende der langen Liste von Erscheinungen, zu denen auch das Massenerlebnis von „500 Brüdern auf einmal“ gehört (vgl. 1 Kor 15,6.8). Von Bedeutung für die Fundamentaltheologie ist allein die folgende Alternativfrage: Wurde in diesen Erscheinungen entscheidend Neues über das hinaus offenbart, was im Leben und Sterben Jesu hinsichtlich des Verhältnisses des Einige Belege dazu in Verweyen, Gottes letztes Wort, 345 f.; ders., Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Die Entwicklung seines Denkens, Darmstadt 2007, S. 47. 42 Markus wohl zumindest in dem Hinweis 16,7. 43 Die spätere Ausdeutung dieser Zwischenzeit als Abstieg Jesu in die Unterwelt zur Befreiung der Gerechten (im Anschluss an Eph 4,9; 1 Petr 3,19) war sicher nicht Thema des ursprünglichen Bekenntnisses zur Auferstehung „nach drei Tagen“, setzt sie doch das Leben des Totgeglaubten vor seiner Auferweckung voraus. 41
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Sohns zum Vater erkennbar war, oder machten sie den Jüngern nur klar, daß nicht Jesus am Kreuz gescheitert war, weil er mit seinem Vollmachtsanspruch „den Mund zu voll genommen“ hatte, sondern sie selbst aufgrund von falschen Messiaserwartungen mit ihrer Interpretation der Hinrichtung Jesu in die Irre geraten waren? Würde die erste Alternative zutreffen, dann wäre es Gott nicht gelungen, sein ganzes Wesen, soweit es dem Menschen überhaupt erkennbar ist und ihn zu einem rückhaltlosen Ja verpflichtet, im Fleische Jesu von Nazareth zu offenbaren. Der unbedingte Anspruch, mit dem Jesus an seine Zuhörer herantrat, bliebe ohne die als Erscheinungen des zum Leben erweckten Meisters interpretierten Jüngererfahrungen in der Schwebe. Obschon die Evangelisten teilweise ausführlich von Erscheinungen des Auferstandenen sprechen, so setzt doch keiner von ihnen ihre Notwendigkeit für den Glauben daran voraus, dass Jesus nicht im Tode blieb. Markus erwähnt sie überhaupt nicht ausdrücklich. Lukas zufolge richten die zwei Männer beim leeren Grabe an die Frauen die vorwurfsvolle Frage: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ (24,5) Die Jünger auf dem Wege nach Emmaus erfahren einen noch härteren Tadel, weil sie den Propheten nicht geglaubt hatten (24,25). Ein Mangel an Schriftverständnis der Jünger wird auch von Johannes im Anschluss daran erwähnt, dass der Lieblingsjünger schon angesichts des leeren Grabes zum Glauben gelangt war (20,8). Bei Matthäus glauben die Frauen dem Engel am Grabe und machen sich eilends auf, um die Botschaft von Jesu Auferstehung an die Jünger weiterzugeben, noch bevor ihnen Jesus erscheint (28,8 f.). Für die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Exegese wichtiger ist die von der Darstellung der anderen Evangelisten verschiedene Deutung des Verhältnisses von Tod und Auferstehung Jesu bei Markus und Johannes. Auch sie betrachten den Erdenweg Jesu von der Erfahrung seines endgültigen Seins beim Vater her. Mit dem „Ort“, den sie für diese Erfahrung ansetzen, unterscheiden sie sich aber fundamental, sowohl von der traditionellen Erhöhungschristologie wie auch von der Sicht, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrscht: Die Erhöhung Jesu zum Vater wird in seinem Sterben am Kreuz offenbar; nicht erst die Auferstehung ermöglicht, den Tod Jesu als definitives Heil für alle Menschen zu verstehen. Im Markusevangelium lässt sich dies wegen des engen Zusammenhangs zwischen dem Kreuzesschrei Jesu und dem Gottessohnbekenntnis des Hauptmanns (Mk 15,37–39) leichter nachvollziehen44 als beim vierten Evangelisten. Johannes betont zwar offensichtlich, dass Jesu Verherrlichung durch den Vater bei seiner „Erhöhung“ am Kreuz stattfindet, aber die Art und Weise, wie im ganzen Evangelium das Erdenleben Jesu – einschließlich des Todes am Kreuz – gleichsam aus der Perspektive des zu Gott zurückgekehrten Logos dargestellt wird, bietet dem Verständnis doch erhebliche Schwierigkeiten45. Der in diesem Exkurs gegebene Überblick erlaubt es, die zu Ende von Abschnitt 3.5.1 zunächst zurückgestellte Frage einer Lösung näherzubringen. Fichte hat mit seinem Vgl. (im Blick auf das Thema „Sühnetod“?) Verweyen, Ist Gott die Liebe?, S. 163–189. Der variantenreichen Auslegung der johanneischen Jesusdarstellung als einer reinen Hoheitschristologie begegnet mit überzeugenden Argumenten: Rahner, Johanna, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, Bodenheim 1998.
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Nachweis, dass Freiheit erst in der Begegnung mit anderer Freiheit zu sich selbst kommt, den Heteronomieverdacht entkräftigt, der Kant zufolge auf alle in der Geschichte erhobenen unbedingten Sollensansprüche fällt. Lässt sich auf dieser Grundlage die historische Forschung durch eine Komponente erweitern, die für die Behauptung eines von Jesus Christus ausgehenden unbedingten Anspruchs entscheidend wäre? 3.5.3 Suche nach Jesus „hinter dem Rücken“ der Evangelisten oder Aug’ in Aug’ mit ihnen?
Fast gleichzeitig mit der „neuen Suche nach dem historischen Jesus“ wurde mit der redaktionsgeschichtlichen Forschung eine – jedenfalls was ihre systematische Durchführung anbelangt – neue historisch-kritische Methode entwickelt, die in eine der Quellen- und Formkritik entgegengesetzte Richtung weist. Die Redaktionskritik untersucht die jeweilige theologische Perspektive, in der ein Evangelist den ihm überkommenen Zeugnissen über Jesus Ausdruck verliehen und zu verdeutlichen versucht hat. Auch die Formkritik fragt nach der Verkündigungsintention, in der Überlieferungen über Jesus weitergegeben wurden. Wie schon die Quellenforschung zielte aber die Formkritik auf die dem „kanonisierten Endprodukt“ der Evangelien zugrunde liegenden Traditionsschichten ab, in der Hoffnung, damit der ursprünglichsten Jesusüberlieferung und (so Käsemann und die ihm folgende Theologie) darüber wenigstens in einigen Fällen den Worten Jesu selbst möglichst nahe zu kommen. Die redaktionskritische Forschung hingegen nutzt das in analytischer Absicht entwickelte methodische Instrumentar, um die theologische Intention der Evangelisten selbst näher bestimmen zu können. Die für das Verständnis historisch-kritischer Wissenschaft entscheidende Frage ist, wie die Ergebnisse der redaktionskritischen Forschung zu werten sind. Tragen sie nur zu einer genaueren Kenntnis darüber bei, wie die ursprüngliche, allenfalls ansatzweise rekonstruierbare Verkündigung weiterentwickelt wurde – etwa auf den „Frühkatholizismus“ im lukanischen Doppelwerk hin? Oder erleichtert die Redaktionskritik, das bisherige Selbstverständnis der historisch-kritischen Exegese für eine neue Sichtweise zu öffnen? Die oben getroffene Unterscheidung zwischen zwei nicht miteinander zu vermengenden Begriffen von „Zeugnis“ (3.4.2–3.4.3) legt ein Plädoyer für die zweite Alternative nahe. Wichtig ist zunächst, den Weg (die „Methode“) für die Frage nach einem möglicherweise von Jesus Christus ausgehenden und bis heute fortwirkenden unbedingten Anspruch richtig zu bestimmen. Angenommen, ich begegne einem Menschen mit, soweit ich beurteilen kann, klarem Verstand, der voll und ganz von „Jesus und seiner Sache“ überzeugt ist und von dem auf mich in dieser Sache bereits eine beträchtliche Anziehungskraft ausgeht. Auf meine Frage, wie er zu dieser Überzeugung gelangt sei, antwortet er mit dem Hinweis auf andere Menschen, die ihn durch ihr Verhalten dazu gebracht hätten. Damit stehe ich nun vor einer schier unendlichen Kette mir persönlich nicht bekannter Zeugen, von denen manche wohl kaum einen legitimen Anspruch auf ein unbedingtes Ja des Menschen glaubwürdig vermittelt haben. Ich lasse mich dadurch nicht entmutigen
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und frage nach dem ursprünglichen „Woher“ der Dynamik, die auch mich bereits zu erfassen beginnt. Von einer beträchtlichen Zahl angesehener Historiker werde ich auf eine Reihe von mit hoher Wahrscheinlichkeit Jesus selbst zuzuschreibenden Aussagen aufmerksam gemacht. Der ursprüngliche Kontext dieser authentischen Jesusworte sei aber nicht mehr – oder nur unter weitgehend hypothetischen Annahmen – zu bestimmen. Da die genaue Bedeutung einer Aussage nur von ihrem Kontext her zu ermitteln ist, interessiert mich diese Auskunft im Hinblick auf meine Frage nach einem geschichtlichen Ereignis mit fortdauernder Überzeugungskraft nicht. Von den christlichen Kirchen werde ich bei der Frage nach dem ursprünglichen Woher, soweit es auch mir zugänglich ist, auf den Kanon der Heiligen Schriften verwiesen. Als Ergebnis historischer Forschung steht fest, dass seit etwa der Mitte des 2. Jahrhunderts die später in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommenen vier Evangelien von allen Teilkirchen als authentische Weitergabe der in Jesus Christus ergangenen Offenbarung anerkannt wurden. Wie weit diese Entwicklung bereits um etwa 180 n. Chr. fortgeschritten war, zeigt sich bei Irenäus von Lyon. Er legt bemerkenswerte bibeltheologische Argumente für die Notwendigkeit von gerade vier Evangelien vor, insbesondere mit dem Hinweis auf die vom Schöpfer angeordnete Vierzahl der Weltregionen und Hauptwinde (pneumata): Von allen Seiten her könne auf diese Weise der Heilige Geist (pneuma) die über die ganze Welt verstreute Kirche durch seinen göttlichen Lebenshauch zusammenhalten46. Bemerkenswert ist, dass Irenäus die Vermittlung der einen Wahrheit über Jesus Christus einer Pluralität von Zeugnissen zuschreibt, die teilweise beträchtlich voneinander abweichen. Gerade in der sicher nicht diskussionslos erreichten Übereinkunft zwischen den von unterschiedlichen Bezeugungen für Jesus Christus geprägten Teilkirchen sieht er ein Zeichen für die einigende Kraft des Heiligen Geistes47. Inwiefern können die verschiedenen Evangelien den Zugang zu einem von Jesus von Nazareth ausgehenden unbedingten Anspruch eröffnen, der auch mich heute noch einfordert? Sie sind zwar offensichtlich bemüht, die ihnen vorgegebene Überlieferung getreu weiterzugeben. Dabei versehen sie aber die ihnen bekannten Texte wie auch mündlichen Traditionen recht freizügig mit neuen Akzenten, ordnen sie einer von ihnen entworfenen Komposition ein, kürzen sie und ergänzen sie gelegentlich durch selbst gestaltete Stücke. Als Grund für diesen Umgang mit der Jesusüberlieferung kann man auf lokal und zeitlich verschiedene Situationen hinweisen und, eng damit zusammenhängend, auf einen jeweils anderen Adressatenkreis, den die Verfasser im Blick hatten. Dieses Vorgehen entspricht dem zweiten Kriterium, das oben (3.4.3) für ein authentisches Zeugnis angegeben wurde: dem Woraufhin. Der Zeuge muss den jeweils geschichtlich
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Vgl. Irenäus von Lyon, Adv. haer. III 11,8. Vgl. dagegen die Meinung Käsemanns, dass in dieser Pluralität ein wesentlicher Grund für die Vielheit der Konfessionen zu suchen sei (erstmals 1951 vertreten in dem Beitrag „Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?“ in: Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, S. 214–223).
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bedingten Fragehorizont seiner Adressaten genau erkunden, damit sein Zeugnis überhaupt auf offene Ohren stoßen kann48. Wie steht es aber mit dem zweiten Kriterium, dem Woher? Redaktionskritisch lässt sich erweisen, dass die Evangelisten Darstellungen in dem ihnen vorgegebenen Überlieferungsgut, die ihrer Ansicht nach die Überzeugungskraft Jesu minderten, oft durch minimale Eingriffe zurechtzurücken suchten49. Wodurch fühlten sie sich dazu legitimiert, wenn sie doch das ihnen Überlieferte nur genau weitergeben wollten (vgl. bes. Lk 1,1–4)? Auch hier darf der Begriff „Überliefertes“ oder „Tradition“ nicht statisch verstanden werden. Existentiell in Anspruch Nehmendes zeigt sich immer nur in einem Geschehen, und es führt nur dort zu einer Selbstverpflichtung, wo es mich in der Mitte meines Selbst trifft. Im Voraus zu dem mühevollen Werk, das sie in Angriff nahmen, mussten die Evangelisten ihnen als glaubwürdig erscheinenden Zeugen begegnet sein und in dieser Begegnung die Verpflichtung zur Weitergabe des Vernommenen empfunden haben. Das auf diese Weise Erfahrene war mehr, als sich in den ihnen zugänglichen Berichten niedergeschlagen hatte. Ein spezifisches Woraufhin gab es nicht nur für die Evangelisten, sondern auch in ihnen selbst: der Ort, an dem der ursprüngliche Funke auf sie überspringen konnte. Bei der Frage nach diesem Ort können die erprobten Methoden der historisch-kritischen Exegese einen Beitrag leisten. Ausschlaggebend für die Suche nach dem ursprünglichen Woher der mich in Anspruch nehmenden Botschaft Jesu ist aber etwas anderes: Aug’ in Aug’ mit den Evangelisten das Zeugnis für Gott zu ertasten, für das dieser selbst Jesus von Nazareth in Anspruch nahm.
Literaturempfehlung Verweyen, Hansjürgen, Ontologische Voraussetzungen des Glaubensaktes, Düsseldorf 1969. Verweyen, Hansjürgen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg u.a. 2003. Verweyen, Hansjürgen, Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, Darmstadt 2005. Verweyen, Hansjürgen, Einführung in die Fundamentaltheologie, Darmstadt 2008. Verweyen, Hansjürgen, Menschsein neu buchstabieren. Vom Nutzen der philosophischen und historischen Kritik für den Glauben, Regensburg 2016. Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, hg. von Larcher, Gerhard / Müller, Klaus / Pröpper, Thomas, Regensburg 1996. Zu den Adressaten des lukanischen Doppelwerks vgl. Kap. 6.2 „Lukas und Seneca auf dem Areopag“ in: Verweyen, Philosophie und Theologie, S. 115–127. 49 Vgl. zu der in allen Evangelien zu findenden Kritik an überlieferten Wundergeschichten und dem Stellenwert der Redaktionskritik im Zusammenhang historischer Forschung generell: Verweyen, Gottes letztes Wort (2000), 318–337. – Im Rahmen des frühesten uns zugänglichen Verständnisses der Eucharistiefeier, in dem sich eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Lukas und Paulus feststellen lässt, vgl. die Überarbeitung der bei Markus (6,30–44) berichteten Speisung der 5000 durch Lukas (9,10–17). Dazu: Verweyen, Hansjürgen, „Vom Abschiedsmahl Jesu zur Feier der Eucharistie“, in: Passion aus Liebe. Das Jesus-Buch des Papstes in der Diskussion, hg. von Tück, Jan-Heiner, Ostfildern 2011, S. 163– 192, bes. S. 173–179, S. 189–192. 48
Theologie – rationale Rechtfertigung der Praxis der Nachfolge Jesu Saskia Wendel, Köln
1. „Im Anfang war die Tat!“ – Theologie als Handlungswissenschaft „Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘ Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch nicht schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! auf einmal seh ich Rat Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“
In Goethes „Faust I“ findet sich bekanntlich diese Variation des Beginns des Johannesprologs, die völlig zu Recht die Einheit von Wort, Sinn, Kraft und Tat unter dem Primat der Tat herausstellt, ist doch Gottes Kreativität „im Anfang“ nicht allein als Wort zu fassen, sondern insbesondere als kreative Tat, als Handlungsmacht. Doch diese im positiven Sinne „faustische“ Variation über das Verhältnis von Wort und Tat, Theorie und Praxis in Bezug auf den göttlichen Grund, das göttliche Prinzip des Universums, gilt auch für die Bestimmung des Verständnisses der Rede von Gott, denn auch wenn die Theologie keine Tätigkeit dessen ist, „worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“, sondern ein Tun bedingten Daseins, welches über jenes Prinzip innerhalb der Grenzen seiner endlichen Erkenntnis reflektiert und es dabei zu bestimmen und zu verstehen sowie jenes Verständnis anderen zu vermitteln sucht, so steht doch am Anfang der Gottesrede stets eine konkrete Praxis, diejenige des christlichen Glaubens, welcher als Praxis der Nachfolge Jesu bestimmt werden kann. Diese Praxis kritisch zu reflektieren und rational zu rechtfertigen und so wiederum zu neuer Praxis zu befähigen, ist die zentrale Aufgabe der christlichen Rede von Gott. Damit wird Theologie je-
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doch nicht mehr primär als Glaubenswissenschaft, sondern als Handlungswissenschaft verstanden.1 Darauf ist zunächst im Folgenden näher einzugehen. Traditionell wird Theologie als Glaubenswissenschaft verstanden: Ihre Methode ist der wissenschaftliche Diskurs, das vernünftige Argument, ihr Gegenstand, vor allem aber ihr Ausgangspunkt und ihr Kriterium ist der Glaube: „Sie soll Glaubenswissen schaffen. Nicht Glauben durch Wissen, sondern Wissen im Glauben, aus dem Glauben und über den Glauben, hier aber wirklich argumentativ ermitteltes und vermitteltes Wissen.“2 Als Glaubenswissenschaft wird Theologie denn auch unbeschadet ihrer Rationalität und ihrer wissenschaftlichen Verfasstheit („ut scientia“) als unter dem Primat der Offenbarung („secundum revelationem“) stehend, dem Glauben verpflichtet („in fide“) und in der Glaubensgemeinschaft „Kirche“ verortet („in ecclesia“) verstanden3 und damit als eine dem ihr vorgängigen Gotteswort nachgeordnete und entsprechende Rede von Gott in der Rezeption des thomasischen Theologieverständnisses als subalterne Wissenschaft bestimmt.4 Dementsprechend dient die Kennzeichnung der Theologie als Glaubenswissenschaft auch zur Abgrenzung von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie: „Die Theologie will […] nicht nur Vernunftwissenschaft, sondern Glaubenswissenschaft sein. Hätte sie den Glauben nur zum Gegenstand, nicht aber auch zum Prinzip und Kriterium ihrer Arbeit, dann wäre sie Religionsphilosophie oder Religionswissenschaft. Die Vernunft kann deshalb nicht das letzte und höchste Kriterium der Theologie sein. Dieses ist vielmehr der Glaube bzw. die Sache des Glaubens, das Wort Gottes. Es würde der Natur des christlichen Glaubens ebenso wie dem Wesen des Wortes Gottes widersprechen, wenn sie dem Kriterium der Vernunft bzw. dem Kriterium dessen, was zu einer gegebenen Zeit Vernunft heißen mag, unbedingt unterworfen werden würden.“5
Dieses Verständnis als Glaubenswissenschaft ist jedoch in doppelter Hinsicht fragwürdig: Erstens reduziert es den Glauben auf seine epistemische Funktion, also auf Gotteserkenntnis und auf „Wissen im Glauben“, der Aspekt der Glaubenspraxis dagegen kommt nicht zur Sprache und damit auch nicht das Verhältnis von Glauben und Handeln. Zweitens werden Vernunft und Offenbarung in unvermittelter Art und Weise als zwei unabhängige Quellen der Gottesrede angesehen, wobei die Offenbarung dann ganz in der Tradition des subalternen Theologieverständnisses den Primat gegenüber der Vernunft besitzt. Diese Kennzeichnung wird offensichtlich dann zentral, wenn es geboten erscheint, die „Glaubenswissenschaft“ Theologie von Philosophischer Theo Damit ist bereits angedeutet, welche Art und Weise von Theologie im Folgenden thematisiert wird: die Theologie im Sinne eines wissenschaftlichen Diskurses und damit Theologie im engeren Sinn. Nicht thematisiert wird dagegen Theologie im Sinne einer narrativen Rede von Gott etwa mit der Absicht der Verkündigung und der Bezeugung (vgl. zur Ausdifferenzierung der Theologie etwa Seckler, Max, „Theologein. Eine Grundidee in dreifacher Ausgestaltung“, in: ThQ 163 (1983), S. 241–264). 2 Seckler, Max, „Theologie als Glaubenswissenschaft“, in: Handbuch der Fundamentaltheologie Band 4: Traktat Theologische Erkenntnislehre. Stuttgart 22000, S. 131–184, hier: S. 142. 3 Vgl. ebd., S. 144. 4 Vgl. ebd., S. 156 f. 5 Ebd., S. 159. 1
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logie und Religionsphilosophie abzugrenzen. Doch diese Grenzziehung vermag nicht wirklich zu überzeugen: Zum einen vollziehen sich ja auch Philosophische Theologie und Religionsphilosophie keineswegs neutral und voraussetzungslos, auch sie können durchaus von einem religiösen, näherhin christlichen Standpunkt und damit auch von einem entsprechenden erkenntnisleitenden Interesse geprägt sein, ohne dies jedoch im Unterschied zur Theologie immer explizit zu nennen. Und zum anderen kommt womöglich die Theologie nicht zu wesentlich anderen Ergebnissen als „religionsaffine“ oder gar „christentumsaffine“ Richtungen philosophischer Theologie und Religionsphilosophie, wenn sie sich wirklich als rationales Unternehmen und diskursiv sich vollziehende Wissenschaft versteht. Denn es gibt nicht unterschiedliche „Vernünfte“, die den Glauben an Gott reflektieren, sondern es ist die eine Vernunft, die hier in unterschiedlicher Bedingtheit, in unterschiedlichen Kontexten und „in der Vielfalt ihrer Stimmen“ (Jürgen Habermas) zu Werke geht.6 Hinzu kommt die problematische Verhältnisbestimmung von „natürlicher“ Vernunft und „übernatürlicher“ Offenbarung im Sinne einer „Stockwerkstheologie“, wenn man dem Verständnis der Theologie als subalterner Wissenschaft folgt, sowie die Immunisierung von Kernmotiven des christlichen Glaubens wie Inkarnation, Auferstehung, Erlösung oder Trinität gegenüber der als „natürlich“ bezeichneten Vernunft durch deren Zurechnung zum Terrain angeblich „übernatürlich“ sich vollziehender Offenbarung, was zu einem extrinsezistischen Offenbarungsverständnis führen kann.7 Statt die Theologie also in althergebrachter Manier als Glaubenswissenschaft zu definieren, erscheint es vielmehr angebracht, sie als Handlungswissenschaft zu kennzeichnen.8 Denn es ist ihre Aufgabe, die christliche Glaubenspraxis und die sie leitenden Überzeugungen zu reflektieren, und in eben jenem Bezug auf die Praxis des Glaubens erweist sie sich als Handlungswissenschaft. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Glaubenspraxis nicht lediglich Teil der Gesamtheit des Glaubens ist, quasi ein ihm untergeordnetes Moment, sondern dass das Handeln den Glauben bestimmt und ausmacht. Dieses Verständnis des Glaubens als Handeln ist sowohl im Rekurs auf biblische Vgl. hierzu Habermas, Jürgen, „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1988, S. 153–186. 7 Vgl. hierzu etwa die Kritik Hansjürgen Verweyens in Verweyen, Hansjürgen, Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, Regensburg 32000, S. 218 ff. 8 Die Bestimmung der Theologie als Handlungswissenschaft erfolgte bislang primär im Feld der Praktischen Theologie (vgl. hierzu etwa Mette, Norbert, Theorie der Praxis. Wissenschaftsgeschichtliche und methodologische Untersuchungen zur Theorie-Praxis-Problematik innerhalb der praktischen Theologie, Düsseldorf 1978, bes. S. 342–358; ders., „Praktische Theologie als Handlungswissenschaft. Begriff und Problematik“, in: Theologie und Humanwissenschaften, Bamberg 1979, S. 56–76; ders., „Praktische Theologie – Ästhetische Theologie oder Handlungstheorie?“, in: Praktisch-theologische Erkundungen, hg. von Mette, Norbert, Berlin 22007, S. 367–376; Daiber, Karl-Fritz, Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft. Kritik und Erneuerung der Kirche als Aufgabe, München 1977; Theologie und Handeln. Beiträge zur Fundierung der Praktischen Theologie als Handlungstheorie, hg. von Fuchs, Ottmar, Düsseldorf 1984). Diese Bestimmung ist jedoch auf das Ganze der Theologie auszuweiten, insbesondere auch auf die systematischen Disziplinen, insofern die Theologie als ganze in ihrer Aufgabe der Reflexion der Glaubenspraxis und christlicher Sinn- und Lebensdeutung als „praktische Wissenschaft“ und somit auch als Handlungswissenschaft zu verstehen ist. 6
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Traditionen als auch in Bezug auf philosophische Bestimmungen des Begriffs „Glauben“ zu begründen.
1.1 Glauben und Handeln In biblischer Hinsicht ist Glaube ein Doppeltes: eine Einstellung bzw. Haltung, die weder mit diskursiv gewonnenem Wissen noch mit sich unmittelbar einstellender sicherer Gewissheit identisch ist, sondern mit einem auf begründetem Vertrauen basierenden festen Überzeugtsein von etwas oder jemandem und damit auch ein Sich-Festmachen an etwas oder jemandem (vgl. z. B. Jes 26,4 u. 50,10; Mk 11,20–25; Lk 17,5 f.; Röm 4,13– 22; Hebr 11,1), sowie eine Praxis, die dann neutestamentlich primär als Nachfolgepraxis verstanden wird, als „Praxis der Nachfolge Jesu“ (J.B. Metz). Ihre Richtschnur ist das Evangelium, die Botschaft vom Reich Gottes: „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.“ (Mt 11,5). Diese Botschaft ist verbunden mit der Aufforderung zur Achtung des Gebotes der Gottes-, der Nächsten- und Fernsten- sowie der Feindesliebe. In Lk 10,28 heißt es: „Handle danach, und du wirst leben.“ Konkretisiert wird diese Perspektive im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, welches mit der Forderung „Geh und handle genauso“ (Lk 10,37) abgeschlossen wird. Dieses auf die „orthopraxis“ konzentrierte Verständnis des Glaubens lässt sich auch philosophisch rechtfertigen, denn bestimmt man den Glauben als Praxis, dann folgt man genau besehen der Zuordnung des Glaubens zum Bereich der praktischen Vernunft, die Immanuel Kant in seinen religionsphilosophischen Überlegungen vorgenommen hatte: Der Glaube bezieht sich weder auf die Frage „Was kann ich wissen?“ noch auf die Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“, sondern auf die Frage „Was darf ich hoffen?“, die eng mit der Frage „Was soll ich tun?“ verbunden ist. Für die theoretische Vernunft ist die Gotteserkenntnis unmöglich, verstrickt sie sich doch in die transzendentale Illusion und in spekulativen Dogmatismus, wenn sie die Existenz Gottes zu beweisen sucht, weil die Erkenntnis Gottes den Bereich möglicher Erfahrung sprengt. Die Unmöglichkeit theoretischen Wissens über Gott mündet jedoch in kantischer Perspektive in einen gleichfalls vernünftig aufweisbaren moralischen Glauben an Gott, der sich von einem bloß subjektiven Meinen oder Für-wahr-halten der Existenz Gottes unterscheidet; der moralische Glaube basiert auf der Gewissheit des Faktums unbedingten Sollens und des daraus abgeleiteten Ideals des höchsten Gutes: „[…] die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewissheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, dass ein Gott sei usw., sondern, ich bin moralisch gewiß usw. Das heißt: der Glaube an Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, dass mir der zweite jemals entrissen werden könne.“9 KrV, B 857.
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Es gibt also Kant zufolge durchaus eine Glaubensgewissheit, jedoch allein in praktischer Hinsicht: stärker als Meinen und auch bloß subjektiver Glaube in theoretischer Hinsicht, schwächer jedoch als Gewissheit in theoretischer Hinsicht, mithin eine Gewissheit ohne Wissen, basierend auf der Einsicht in die Gültigkeit des Sittengesetzes und daher moralischer Glaube. Dieser Glaubensbegriff wird durch den Begriff des Postulats der reinen praktischen Vernunft noch näher bestimmt, den Kant als „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“10, definiert. Das bedeutet: Es geht um Urteile, die auf moralischer Einsicht, also Einsicht praktischer Vernunft, basieren, selbst aber nicht mehr direkt von praktischer Bedeutung sind, sondern auf theoretische Einsicht abzielen, so etwa die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit – in theoretischer Hinsicht sind sie allesamt transzendentale, lediglich regulative Ideen der reinen theoretischen Vernunft und als solche hinsichtlich ihrer objektiven Realität weder beweisbar noch widerlegbar. In praktischer Hinsicht jedoch können sie genau jene objektive Realität erlangen, jedoch nicht in Form theoretischer Gewissheit als Resultat von Beweiswissen, sondern in Form eines Postulates der praktischen Vernunft: „Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar nicht die spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung auf das Praktische) objektive Realität und berechtigen zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte.“11
Glauben wird somit von Kant als ein auf sich gegründetes Vertrauen bestimmt: Vertrauen, da kein Wissen, doch gegründetes Vertrauen, da auf Vernunftgründen basierend und so objektive Realität für sich beanspruchend. Es wird somit nicht auf bloße Autorität hin geglaubt, also deshalb, weil jemand anders diesen Glauben geboten habe, weil ihn andere überliefert haben oder weil ich ihn als Erklärungshypothese für Unerklärliches gebrauche, sondern aufgrund meiner eigenen Vernunfteinsicht.12 Zugleich aber macht die kantische „Wende zur Praxis“ im Feld der Religion deutlich, dass der Glaube selbst als Teil der praktischen Vernunft und als „moralischer Vernunftglaube“ schon Praxis ist, Vollzug, allerdings reflektierte Praxis auf der Basis vernünftig gerechtfertigter Gründe; darauf wird nochmals zurückzukommen sein. Noch expliziter als Kant weist dessen Schüler Johann Gottlieb Fichte auf diese Konstellation von Glauben bzw. Religion und Praxis hin: „Die wahrhaftige Religion, ohnerachtet sie das Auge des von ihr Ergriffenen zu ihrer Sphäre erhebt, hält dennoch sein Leben in dem Gebiete des Handelns, und des ächt moralischen Handelns, fest. Wirkliche und wahre Religiosität ist nicht lediglich betrachtend und beschauend, nicht bloss brütend über andächtigen Gedanken, sondern sie ist nothwendig KpV, AA 220. KpV, AA 238. 12 Vgl. hierzu ausführlich Wendel, Saskia, „Glauben statt Wissen. Zur Aktualität von Kants Modell des ‚praktischen Vernunftglaubens‘“, in: Idealismus und natürliche Theologie, hg. von Wasmaier-Sailer, Margit / Göcke, Benedikt Paul, Freiburg / München 2011, S. 81–103; vgl. zur Differenzierung von Glauben und Wissen auch Wendel, Saskia, Religionsphilosophie, Stuttgart 2010, S. 79–85. 10 11
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Saskia Wendel thätig. […] die Religion ist überhaupt nicht ein für sich bestehendes Geschäft, das man abgesondert von anderen Geschäften, etwa in gewissen Tagen und Stunden treiben könnte; sondern sie ist der innere Geist, der alles unser, übrigens seinen Weg ununterbrochen fortsetzendes, Denken und Handeln durchdringt, belebt, und in sich eintaucht. […] Dies daher ist das Bild, und der innere Geist des wahrhaft Religiösen: […] Er erfasset seine Welt als ein Thun […]“13
Aus der praktischen Dimension des Glaubens ergibt sich allerdings keineswegs intrinsisch das Verständnis des Glaubens als Handeln. Praxis könnte ja auch im Sinne eines Wirkens verstanden werden, dem Nexus von Ursache und Wirkung entsprechend, und Wirken ist mit Handeln nicht gleichbedeutend. Dinge und Ereignisse wirken und dies entsprechend bestimmter Gesetzmäßigkeiten, Handeln aber ist an eine handelnde Person gebunden. Als „Person“ aber bezeichnet man dasjenige Seiende, welches über Selbstbewusstsein und damit über eine Subjekt- bzw. Person-Perspektive (Singularität und Relationalität bewussten Lebens) verfügt sowie über ein grundsätzliches Vermögen bzw. Können (potentia), welches alle einzelnen Vermögen des Vollzuges von Bewusstsein, wie etwa Denken, Wollen, Wahrnehmen und Fühlen, begründet und in dessen Vollzug das seiner selbst bewusste Dasein nicht ausschließlich externen Gesetzmäßigkeiten folgt, sondern frei ist. Obwohl man also als Handeln das Tätigsein von Personen bezeichnet, stellt jedoch nicht ein jedes Tätigsein, das eine Person ausübt, ein Handeln dar. In Entsprechung zur aristotelischen Unterscheidung von poeisis und praxis ist zwischen einem herstellenden Tätigsein (facere) im Sinne eines „Machens“ und eines schaffenden Tätigseins im Sinne eines Neubeginnens (creare) sowie eines auf die Lebensführung bezogenen Tuns zu differenzieren und ist Herstellen nicht identisch mit Handeln.14 So bestimmte denn auch Hannah Arendt das Handeln als Fähigkeit, einen Anfang zu machen, und diese Fähigkeit ist Arendt zufolge an Freiheit gebunden, da Freiheit genau besehen mit der Fähigkeit zum Neubeginn, mit Kreativität und Spontaneität identisch ist: Handeln unterliegt nicht der Kausalität aus Natur, sondern der Kausalität aus Freiheit und ist so immer Handeln eines „jemand“, einer Person.15 Handlungen ereignen sich folglich nicht aufgrund von Verursachung entsprechend des im Bereich von Dingen und Ereignissen wirkenden Kausalitätsprinzips, somit auch nicht ausschließlich aufgrund der Verursachung mentaler Zustände oder Ereignisse, die im Horizont der Totalisierung des Begriffs des Wirkens und der Geltung des Kausalnexus selbst als Wirkungen einer (physikalischen) Ursache gedeutet werden. Sie ereignen sich zudem – auch wenn sie zweckfrei sein und ihren Zweck in sich selbst, in ihrem Vollzug besitzen können – nicht grund- und ziellos, sondern sie gründen im Vollzug bewussten Lebens und dessen einzelner Vermögen, insbesondere des Vermögens des Willens, und dementsprechend sind sie durch Intentionalität gekennzeichnet, durch „Gerichtetheit“.16
Fichtes Werke. Band V., hg. von Fichte, Immanuel Hermann, Berlin 1971, S. 473 f. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1139b 24–1140a 9. 15 Vgl. hierzu ausführlich Arendt, Hannah, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 112013. 16 Vgl. zur Bestimmung des Ursprungs des Handelns in Intellekt und Wille auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139a 22-b 5. 13 14
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Bestimmt man Glauben nun nicht nur als Praxis, sondern als Handlung, dann bestimmt man ihn als freies, intentionales Tätigsein einer Person, das auf den Existenzvollzug und die Lebensführung eben jener Person bezogen ist. Allerdings ist damit noch nichts über den Bezug der Handlung auf andere und andres ausgesagt, also auf den Weltbezug, welcher den Selbstbezug der Handlung transzendiert. Dies ist für die Bestimmung des Glaubens als Handlung allerdings zentral, denn die Glaubenspraxis richtet sich ja nicht allein auf sich selbst, sondern auf andere, und vor allem richtet sie sich auf Gott, auf dessen Existenz die Glaubenden vertrauen, und somit ist sie nicht allein intentional, sondern relational verfasst. Im Zentrum des Handelns steht allerdings stets der Aspekt der Kreativität und damit auch derjenige der Performanz: Im Handeln wird Wirklichkeit nicht nur repräsentiert, sondern konstituiert, es ist nicht nur anamnetisch, mimetisch oder repetitiv – wie wichtig diese Momente gerade für religiöse Praxen auch sein mögen –, sondern wesentlich innovativ. Dies lässt sich am ehesten unter den Begriffen des kommunikativen Handelns und der reziproken Anerkennungspraxis freier Subjekte thematisieren, wobei kommunikatives Handeln per definitionem über ein ihm inhärentes normatives Kriterium verfügt, nämlich dasjenige der unbedingten Anerkennung und Achtung der Kommunikationspartnerinnen und partner als Gleiche;17 versteht man den christlichen Glauben in diesem Sinne, gilt es allerdings deutlich zu machen, dass sich diese Form kommunikativen Handelns immer auf das Handeln Jesu zurückbezieht, als dessen Nachfolgepraxis sich der Glaube versteht, und auf den Gott, den Jesus in seinem Handeln präsentiert und bezeugt hat. Genauerhin bezieht sich die Glaubenspraxis denn auch in ihrem Bezug auf die Praxis Jesu auf das Handeln Gottes selbst, denn dieser hat ja christlicher Überzeugung entsprechend in diesem Jesus aus Nazareth selbst gehandelt und darin Heil antizipatorisch realisiert, wenn auch noch nicht vollendet. Dementsprechend hat vor allem Helmut Peukert den Glauben als kommunikatives Handeln bestimmt: „Der Glaube ist in sich selbst eine Praxis, die als Praxis, also im konkreten kommunikativen Handeln, Gott für die anderen behauptet und diese Behauptung im Handeln zu bewähren versucht. Der Glaube an die Auferweckung Jesu ist Glaube als faktisch auf das Heil für die anderen und damit für die eigene Existenz vorgreifendes kommunikatives Handeln. Als praktische Solidarität mit den anderen bedeutet er die Behauptung der Wirklichkeit Gottes für sie und für die eigene Existenz.“18 Vgl. hierzu die an Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns sich anschließende Bestimmung kommunikativen Handelns durch Helmut Peukert: „Kommunikatives Handeln ist […] seiner Struktur nach auf gegenseitige gleichberechtigte Anerkennung und unbedingte Solidarität der Partner gerichtet. Die Möglichkeit der Identitätsfindung der Partner hängt an dieser reziproken Solidarität, die grundsätzlich alle Dimensionen der Existenz in Intersubjektivität umfaßt und prinzipiell auch alle möglichen Subjekte kommunikativen Handelns einbezieht. Die Solidarität vollzieht sich in zeitlichem, innovatorischem, kommunikativem Handeln, das Handlungsmöglichkeiten für den anderen erschließt und einräumt. Das im Handeln apriorisch gesetzte Grundgesetz dieses Handelns ist also universale Solidarität in geschichtlicher Freiheit.“ (Peukert, Helmut, Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt am Main 32009, S. 337 f.). 18 Vgl. hierzu ebd., S. 331. Vgl. zur Kennzeichnung des Glaubens als kommunikative Praxis auch Höhn, Hans-Joachim, Kirche und kommunikatives Handeln. Studien zur Theologie und Praxis der Kirche in 17
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Politische Theologien, Befreiungstheologien und Feministische Theologien haben zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Handeln sich mitten in Geschichte und Gesellschaft vollzieht und folglich nie nur individuell ist, sondern immer eine gesellschaftliche Relevanz und politische Dimension besitzt, deren Leugnung diese Dimension quasi ex negativo bestätigt: Wer behauptet, sein Handeln sei dezidiert unpolitisch oder neutral, ist genau darin schon politisch, denn es stützt zumindest den status quo und gibt so einer bestimmten Form des Politischen Raum.19 Insofern hat gerade auch die Theologie eine ideologiekritische Aufgabe nicht nur anderen, sondern vor allem auch sich selbst gegenüber. Sie hat immer wieder neu zu überprüfen, ob und wenn ja, inwiefern sie sowohl individuelles Unrechtshandeln wie auch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse entweder durch Schweigen stützt oder gar explizit legitimiert, auch innerhalb der christlichen Kirchen. Zudem ist ja gerade die christliche Glaubenspraxis als Praxis der Nachfolge Jesu immer schon auf das konkrete Heilshandeln Jesu in Geschichte und Gesellschaft verwiesen, auf das sich die jesuanische Aufforderung des „Geh und handle genauso“ bezieht, und dieses Handeln folgt einer klaren Option, nämlich der universalen Solidarität mit allen Leidenden, Armen, Entrechteten, Diskriminierten und Marginalisierten, einer Solidarität noch über den Tod hinaus und damit mit allen Opfern der Geschichte: „Jesu Handeln ist dabei auch für ihn selbst glaubender Vorgriff. Er ‚wagt‘ es, sich auf die drängende Nähe der Herrschaft Gottes einzulassen. Er greift vor auf die Vollendung des Reiches Gottes, die sich durchsetzen will, und zwar so, daß er die Wirklichkeit Gottes und sein Heil für die anderen behauptet. Er stellt diese Behauptung aber nicht theoretisch auf, sondern in seinem Verkündigen und Handeln, im Vollzug seiner Existenz als kommunikativer Praxis. Er ist diese Behauptung für die anderen.“20 Solch ein innovatorisches Handeln ist jedoch immer auf Veränderung konkreter Verhältnisse ausgerichtet, die der zugesagten Vollendung entgegenstehen, und insofern ist es nie nur von individueller, sondern von zutiefst politischer Bedeutung, und es ist auch nicht neutral, sondern speist sich aus einer parteilichen Option für die Armen. Deshalb ist Johann Baptist Metz’ Definition des Glaubens der Christinnen und Christen bleibend gültig: „Der Glaube der Christen ist eine Praxis in Geschichte und Gesellschaft, die sich versteht als solidarische Hoffnung auf den Gott Jesu als den Gott der Lebenden und der Toten, der alle ins Subjektsein vor seinem Angesicht ruft.“21 Und eine Theologie, die sich als der Auseinandersetzung mit den Sozialtheorien Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas’, Frankfurt am Main 1985, bes. S. 83–135. 19 Der Befreiungstheologe und -philosoph Enrique Dussel machte dies am Beispiel der Eucharistie deutlich: Wo das eucharistische Brot gebrochen und geteilt wird, zugleich aber den Armen das tägliche Brot vorenthalten wird, wird die Eucharistie zu Idolatrie, zu Fetischismus, weil sie in ihrem Wesen verkannt und verfehlt wird: „Gott kann das Brot, das den Armen genommen wurde, ein Brot der Ungerechtigkeit, nicht annehmen. Die Ungerechtigkeit, von der hier die Rede ist, ist nicht nur eine Ungerechtigkeit einer einzelnen Person, die individuelle Ungerechtigkeit einer Einzeltat, sondern sie ist auch eine strukturelle Ungerechtigkeit, die historische Sünde des Systems.“ (Dussel, Enrique, Herrschaft und Befreiung. Ansatz, Stationen und Themen einer lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, Fribourg 1985, S. 59). 20 Peukert, Fundamentale Theologie, S. 326. 21 Metz, Johann Baptist, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 41984, S. 70.
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Reflexion dieser Praxis versteht, hat somit nicht allein eine allgemein hermeneutische Aufgabe der Interpretation und Weitergabe des christlichen Bekenntnisses, sondern die Aufgabe, dieses Bekenntnis zu reflektieren als Bekenntnis zu einem „Gott einer universalen Gerechtigkeit, der die Maßstäbe unserer Tauschgesellschaft zerbricht und die ungerecht Leidenden im Tode rettet und der uns deshalb anruft, Subjekte zu werden oder der Subjektwerdung anderer unbedingt beizustehen im Angesicht menschenfeindlicher Unterdrückung, und Subjekte zu bleiben im Angesichte der Schuld und im Widerstand gegen Vermassung und Apathie.“22
1.2 Theologie als Reflexion der Glaubenspraxis Wenn man nun aber den Glauben als Praxis bestimmt, stellt sich umso mehr die Frage nach deren Kriterien und nach deren Begründung. Denn die Praxis trägt ihr Kriterium nicht schon in sich selbst etwa dadurch, dass nur Gültigkeit für sich beanspruchen kann, was sich in der Praxis bewährt. Bewährung in der Praxis allein ist ja kein zureichender Grund für den Anspruch universaler Gültigkeit bestimmter Praxen, es könnten sich ja auch ethisch fragwürdige Praxen bewähren etwa im Blick auf Nutzen, Effizienz und Erfolg oder auf Glück und Genuss. Zwar bedarf jede Reflexion des Bezugs auf Erfahrung, denn ohne diese gibt sich ihr nichts zu denken, und so bedarf sie auch der Praxis als dasjenige, das ihr Anhaltspunkt wie Objekt ist, doch ohne Reflexion bleibt Praxis unbestimmt und wäre dann auch nicht kritisch bestimmbar, worauf etwa Theodor W. Adorno pointiert hingewiesen hatte: „Praxis ohne Theorie […] muß mißlingen […]. Falsche Praxis ist keine. Verzweiflung, die, weil sie die Auswege versperrt findet, blindlings sich hineinstürzt, verbindet noch beim reinsten Willen sich dem Unheil. Feindschaft gegen Theorie im Geist der Zeit, ihr keineswegs zufälliges Absterben, ihre Ächtung durch Ungeduld, welche die Welt verändern will, ohne sie zu interpretieren, während es doch an Ort und Stelle geheißen hatte, die Philosophen hätten bislang bloß interpretiert – solche Theoriefeindschaft wird zur Schwäche der Praxis. Daß dieser die Theorie sich beugen soll, löst deren Wahrheitsgehalt auf und verurteilt Praxis zum Wahnhaften; das auszusprechen ist praktisch an der Zeit.“23
Dies gilt umso mehr von einer Praxis, die mit religiösen Überzeugungen verbunden ist, die aufs Ganze der Lebensführung abzielen. Die rechtfertigende Reflexion der Praxis, der „Gedanke der Atem schöpft“ (Adorno), ist darüber hinaus auch deshalb unverzichtbar, weil die mit ihr verbundenen universalen Geltungsansprüche diskursiv auszuweisen und damit auch kritisch zu prüfen sind. Unterbleibt dies, ist Immunisierung die Folge, die zu ideologischer Verzerrung führt. Solch eine diskursive Rechtfertigung be22 23
Ebd. Adorno, Theodor W., „Marginalien zu Theorie und Praxis“, in: Ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1980, S. 169–190, hier: S. 176. Vgl. auch ders., „Aktionismus ist regressiv. […] Die unablässig ‚zu abstrakt‘ schreien, befleißigen sich eines Konkretismus, einer Unmittelbarkeit, der die vorhandenen theoretischen Mittel überlegen sind. Der Scheinpraxis kommt das zugute. […] das unmittelbare Tun, das allemal ans Zuschlagen mahnt, ist unvergleichlich viel näher an Unterdrückung als der Gedanke, der Atem schöpft.“ (ebd., S. 186).
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steht nun aber im „Spiel des Gründe Gebens und Gründe Verlangens“ (R. Brandom), welches der Verstand vollzieht. Doch dieser rechtfertigende Diskurs steht im Dienst der Praxis; er geht ihr nicht einfach voraus noch dominiert er sie in einseitiger Art und Weise – zumal auch Reflexion eine Tätigkeit ist, eine Praxis, die der Verstand vollzieht. Vielmehr geht der Diskurs von einer konkreten Praxis aus, die er reflektiert, und bringt eine neue, möglicherweise auch veränderte Praxis hervor. Der Rechtfertigungsdiskurs zieht seine Bedeutung aus seinem Bezug auf die gelebte Praxis, die er reflektiert, losgelöst davon gerinnt er zu abstrakter Spekulation, zu grauer Theorie. Unbeschadet der Lust am spekulativen Denken und an den „Abenteuern der Ideen“ verliert dieses Denken seine Bedeutung für die Lebensführung und seine Aufgabe der Lebensdeutung, wenn es sich verselbstständigt und zu bloßem „arm chair thinking“ verkommt. Der Theologie ist nun genau jene Aufgabe der rechtfertigenden Reflexion einer Praxis gegeben, die sich als Praxis der Nachfolge Jesu versteht und dabei auf das feste Vertrauen (den Glauben) auf die Existenz eines von Welt und Mensch unbedingt unterschiedenen, dennoch aber zugleich unbedingt auf Welt und Mensch bezogenen Gottes und sein schöpferisches, erhaltendes und rettendes, vollendendes Handeln setzt; in diesem Sinne ist sie Handlungswissenschaft, eben weil sie sich in ihrer Reflexion auf ein Handeln – die Praxis der Nachfolge Jesu – bezieht, das näherhin im oben genannten Sinn als kommunikatives Handeln bestimmt werden kann: „Theologie ist […] die Theorie dieses Handelns und der in ihm erfahrenen und erschlossenen Wirklichkeit. […] Sie ist Explikation eines Existenzvollzugs, der als Vollzug über sich hinausreicht und eine Wirklichkeit behauptet, die als frei wirkende so behauptet wird, daß sie schlechthin von der eigenen Existenz unterschieden ist; sie wird behauptet als die Wirklichkeit, die den anderen im Tod rettet.“24 Versteht man Theologie als Diskurs, der die Glaubenspraxis reflektiert und darin zugleich auch auf rationale Art und Weise rechtfertigt, folgt man der Aufforderung in 1 Petr 3,15, die quasi als Legitimation und „Aufgabenbeschreibung“ der Theologie gelesen werden kann, der Aufforderung, allen Rede und Antwort zu stehen, die nach der Hoffnung fragen, die Christinnen und Christen erfüllt. Zugleich ist jedoch zu berücksichtigen, welchen Glauben die Theologie überhaupt reflektieren und rechtfertigen kann; der als „belief “ zu verstehende Glaube, die „fides quae“, also eine mit bestimmten Motiven und Überzeugungen verknüpfte Glaubenspraxis, ist der Begründung sowohl fähig wie auch bedürftig, da insbesondere auch religiöse Überzeugungen aufgrund der mit ihnen verbundenen universalen Geltungsansprüche in eben jener Geltung nicht einfach nur behauptet, sondern begründet werden müssen. Diesen Glauben nebst seiner Geltung reflektiert die Theologie als Handlungswissenschaft, und sie sucht ihn diskursiv, d. h. im Rückgang auf begriffliche Bestimmungen und ein argumentatives Legitimationsverfahren zu beurteilen und zu begründen. Was allerdings nicht Gegenstand dieses diskursiven Verfahrens sein kann, ist der Glaube, verstanden als „faith“ bzw. „fides qua“, als erstpersönliche Haltung, welche Bedingung der Möglichkeit von „belief “ ist: Weder 24
Peukert, Fundamentale Theologie, S. 346 f.
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kann dieser in seinem Aufkommen begründet werden, noch kann begründet werden, warum eine einzelne Person gläubig ist, eine andere dagegen nicht. Glauben im Sinne von „faith“ ist weder herstellbar noch begründbar – und hier stößt auch die Theologie im Sinne eines wissenschaftlichen Diskurses an ihre Grenzen.25 Für die Handlungsebene bedeutet das: Die Theologie kann Kriterien für das Handeln selbst legitimieren, sie kann Überzeugungen begründen, die handlungsleitend sind, sie kann Handlungsurteile für einzelne Situationen und Kontexte fällen. Das heißt: Sie kann rechtfertigende Gründe für konkrete Vollzüge der Glaubenspraxis formulieren. Es ist ihr jedoch nicht möglich, die Motivation dafür zu begründen, dieses Handeln überhaupt zu vollziehen, sprich: gläubig zu sein und entsprechend dieser Glaubenshaltung zu handeln. Sie kann zwar auf motivationale Gründe für dieses Handeln hinweisen, auf Gründe also, die in der Motivationsebene wurzeln und damit letztlich in der erstpersönlichen Haltung der Glaubenden, sie kann diese offenlegen. Doch dieser Hinweis auf die Handlungsmotivation ist noch keine hin- und zureichende Begründung der Handlung im Sinne des Bereitstellens von Kriterien bzw. Gründen, die sich in ihrer Geltung rechtfertigen. Sie machen das Glaubenshandeln vielleicht verstehbar in seinem Auftreten, sagen aber noch nichts über dessen Legitimation und dessen Geltungsanspruch aus. Wenn allerdings die Begründung der Glaubenspraxis im Sinne von „belief “ und damit die Reflexion und Formulierung rechtfertigender Gründe zur zentralen Aufgabe der Theologie gehört, dann ist zu fragen, auf welche Art und Weise diese Aufgabe vollzogen werden kann.
2. Theologie als Begründungsdiskurs 2.1 Die Rationalität der Theologie
Dass Theologie in ihrer Bestimmung als Handlungswissenschaft zugleich auch als Begründungsdiskurs zu verstehen ist, legt das Verständnis ihres Reflexionsgegenstandes nahe: Glaubenspraxen sind Teil religiöser Systeme und diese wiederum sind Sinndeutungssysteme.26 Sinndeutungen, somit auch religiöse Sinndeutungen, sind auf rationale Rechtfertigung hin angelegt, denn sie besitzen einen kognitiven Gehalt, der wie bereits aufgeführt mit universalen Geltungsansprüchen verknüpft ist, zumal sich diese Deutungen auf die Lebenspraxis und damit auch auf Handlungen bezieht, die nicht nur mit Anspruch der Wahrhaftigkeit, sondern auch mit dem Anspruch normativer Richtigkeit
Über den Glauben als Haltung kann jedoch etwa in Form narrativer Gottesrede gesprochen werden etwa mit der Absicht des „Gottkündens“ (vgl. Anm.1), Theologie als Wissenschaft dagegen kann die Differenzierung des Glaubens in „faith“ und „belief“ zwar reflektieren, allerdings das Aufkommen von „faith“ nicht mehr mit den Mitteln eines legitimierenden, diskursiven Verfahrens begründen. Wohl aber kann sie diese Haltung selbst als ihren eigenen Ausgangspunkt offen legen und so ihren eigenen Standpunkt verdeutlichen, der ihr diskursives Verfahren prägt und leitet. 26 Vgl. zur Kennzeichnung von Religionen als Sinndeutungssysteme insbesondere Geertz, Clifford, „Religion als kulturelles System“, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, S. 44–95, hier: S. 48. Vgl. hierzu auch Wendel, Religionsphilosophie, S. 7 ff. 25
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verbunden sind.27 Religiöse Sinndeutungen schließen darüber hinaus ein realistisches Verständnis der sie leitenden Überzeugungen ein; sie sind somit mehr als lediglich expressive bzw. emotive Äußerungen, und auch deshalb bedürfen sie der rationalen Begründung. Diese Begründung kann allerdings nicht wiederum durch Referenz auf eine Überzeugung geleistet werden, die dem zu begründenden Sinndeutungssystem entstammt, da dies zu einem zirkulären Verfahren führen würde, welches die Begründungsleistung unterminiert. Auf den christlichen Glauben bezogen heißt dies, dass etwa Autoritätsaufweise wie etwa Bezüge auf die Autorität von Schrift und Tradition ebenso als Begründungsinstanz wegfallen wie der Bezug auf den Begriff der Offenbarung als legitimationsverbürgende Instanz, denn Offenbarung ist ja selbst schon ein Begriff, der einem religiösen Sinndeutungssystem entstammt, und deren Geltungsanspruch in jenem System schon ebenso vorausgesetzt ist wie das autoritative bzw. normsetzende Verständnis von Schrift und Tradition. Wer also beispielsweise den Geltungsanspruch bestimmter Glaubenspraxen bzw. religiöser Überzeugungen durch den Verweis auf die Autorität der Offenbarung abzusichern sucht, verstrickt sich in ein zirkuläres Verfahren, weil er das zu Begründende – bestimmte Überzeugungen und die mit ihnen verbundenen Ansprüche auf universale Geltung – mit dem zu Begründenden (der Offenbarung sowie dem damit verbundenen Anspruch auf universale Geltung) zu legitimieren sucht – und hier beißt sich quasi die offenbarungstheologische Katze in den Schwanz. Genau deshalb hat schon Anselm von Canterbury im Programm seiner „ratio fidei“ die Vernunft als alleinige Instanz des Begründungsdiskurses „Theologie“ eingesetzt, die „remoto Christo“, so als ob Offenbarung in Jesus von Nazareth nicht wäre, und er ohne Rekurs auf Bibel und Autoritäten zu Werke geht und nach „rationes necessariae“ für die Geltung des christlichen Glaubens sucht. Zugleich ist es der Vernunft möglich, über alle Gehalte des Glaubens, also gerade auch über Inkarnation, Trinität, Erlösung und nicht nur über die sogenannten „praeambula fidei“ wie etwa die Gottesexistenz zu urteilen. Und die Vernunft ist Prinzip dieses Begründungsdiskurses, dessen Ergebnisse daher auch von allen vernunftbegabten Wesen prinzipiell verstanden und gegebe27
Damit ist auch miteinbeschlossen, dass es bei der Begründung religiöser Überzeugung weniger um den Aspekt von „wahr“ und „falsch“ geht, denn es handelt sich nicht um Wissensurteile und damit nicht um Urteile der theoretischen Vernunft, sondern dass es auch bei der Beurteilung religiöser Überzeugungen und damit um Glaubensüberzeugungen letztlich um die Praxis und damit um Handlungsurteile geht. Diese folgen jedoch nicht der Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“, auch nicht derjenigen zwischen „ist“ und „ist nicht“, auch wenn mit diesen Überzeugungen ontologische Verpflichtungen einhergehen. Leitend ist jedoch entsprechend der Zuordnung des religiösen Feldes zum Bereich der praktischen Vernunft und damit für die Beurteilung von Handlungen, die den Existenzvollzug insgesamt betreffen, die Differenz von „gut“ und „schlecht“, „recht“ und „unrecht“, „gelingend“ bzw. „glückend“ und „misslingend“. Hier wird keineswegs Religion auf Moral reduziert, Kantisch gesehen ist Religion nicht mit Moral identisch, sondern deren Folge und so mit ihr untrennbar verknüpft. Aufgrund dieser Verknüpfung besteht eine Analogie hinsichtlich ihrer Urteilsformen, und diese gilt es im Begründungsdiskurs des Glaubens zu bedenken. Nimmt man dies ernst, erübrigt sich denn auch die Frage nach der „wahren“ und „falschen“ Religion und die damit verbunden Gefahren exklusivistischer Positionen, nicht aber die Frage nach einer Kriteriologie der Glaubenspraxis unter dem Maßstab der Konstellation von Religion und Ethik innerhalb der praktischen Vernunft.
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nenfalls anerkannt werden können – und nur dann, wenn prinzipiell alle zustimmen können, wäre ja die Universalität von Geltungsansprüchen überhaupt erst erweisbar. Theologie ist so als ein zutiefst rationales, auf intellektuelle Redlichkeit angelegtes Unternehmen gekennzeichnet. Sie ist weder unvernünftig noch „übervernünftig“, sondern ein Weg, den die Vernunft selbst beschreitet, und zwar in der ganzen Breite ihrer Vermögen: Denken, Wollen, Wahrnehmung, Gefühl. Zwar ist der Intellekt für Reflexion und diskursives Verfahren entscheidend, für Begriff, Urteilsbildung, argumentatives Verfahren, aber die Erfahrung und damit Wahrnehmung und Gefühl geben dem Verstand zu denken, und der Wille leitet insofern, als das ganze Unternehmen ja genau besehen im Dienst einer Praxis steht, ja selbst schon Praxis ist, weil und insofern auch die Reflexion ein Tätigsein bewussten Lebens und damit eine Praxis ist, die der Verstand vollzieht. So gesehen ist die Theologie ebenso wie der Glaube, den sie bedenkt und beurteilt, auch kein Werk einer „anderen“ Vernunft oder gar eines „Anderen“ der Vernunft, eben weil es wie bereits erwähnt nur eine Vernunft in der Vielfalt ihrer Vermögen und ihres Auftretens gibt, und es gibt nur eine Art und Weise des Vollzugs ihrer unterschiedlichen Vermögen. Der Wille „will“ im Feld des Glaubens nicht anders als etwa im Feld der Moral, auch wenn er sein Wollen teilweise auf anderes ausrichtet, und der Intellekt „denkt“ nicht anders im Feld des Glaubens als etwa im Feld säkularer Sinndeutungen. Ist das schon Rationalismus? Abgesehen davon, dass es sich beim „Rationalismus“ häufig um ein Klischee oder um ein Missverständnis handelt, liegt schon deswegen kein Rationalismus vor, weil zum einen die rationale Methode ja nicht ausschließt, dass der Ausgangspunkt sowie der Zielpunkt ihrer Reflexion Glaube ist, eben „fides quaerens intellectum“, nicht umgekehrt – im Gegenteil ist Theologie als Handlungswissenschaft ja gerade immer auch Reflexion einer Praxis, die sie intellektuell zu verantworten sucht. Zum anderen kann die Theologie wie gesagt den Glauben nicht in seinem Aufkommen und Auftreten – als „fides qua“ – begründen, dieser bleibt auch der theologischen Reflexion unverfüglich und ist demgemäß durch sie weder herstellbar noch begründbar. Was aber eine rationale Theologie immer verdeutlichen muss, ist dies: Ihre Aufgabe ist nicht allein diejenige, primär einer Hermeneutik des Einverständnisses zu folgen und Bestehendes zu legitimieren, sondern auch einer Hermeneutik des Verdachts entsprechend immer auch die eigenen Überlieferungen auf den Prüfstand zu stellen gemäß dem Grundsatz „Das Gute behaltet!“ Der Glaube darf, ja muss sich vor der Instanz der Vernunft verantworten, soll er ein wirklich verantwortlicher Glaube sein. Impliziert er illegitime Praxen, die etwa gegen das Prinzip der Achtung der Würde und Freiheit der Person verstoßen, Praxen, die gewaltförmig sind und Gewaltverhältnisse befördern und legitimieren, dann sind diese Praxen zu kritisieren und es gilt, sich von ihnen zu verabschieden. Das Gleiche gilt von Gehalten, die sich vor dem Forum der Vernunft nicht verantworten lassen, da sie sich nicht (mehr) rational rechtfertigen lassen, denn der Glaube ist ja nicht Gegenstück, sondern als Vollzug der Vernunft selbst schon deren Teil und Moment, etwa in Form der epistemischen Einstellung „Glauben“ im Unterschied zu derjenigen des Wissens. Widerspräche er in seinen Gehalten der Vernunft, widerspräche er letztlich sich selbst. Zudem – und das ist der entscheidende Punkt – ist die
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Glaubenspraxis immer auch Gegenstand freier Zustimmung; sie geschieht nicht allein aufgrund von Konvention oder Tradition, sondern als Handlung ist sie stets auch Vollzug eines freien Subjekts, das sich in Freiheit für oder gegen bestimmte Sinndeutungssysteme und somit auch Glaubenspraxen entscheidet – dies allerdings nicht willkürlich und grundlos, sondern im Rekurs auf Gründe; die Entscheidung für den Glauben – der „Wille zu glauben“, bezogen nicht auf den unverfügbaren und unbegründbaren „faith“, sondern auf den stets in seinem Geltungsanspruch zu legitimierenden „belief “ – vollzieht sich somit auch gerade nicht in fideistischer Art und Weise unter Aufopferung des Verstandes, sondern unter Einsatz sowohl von Intellekt als auch Willen. Auch wenn Konvention und Sozialisation einen nicht unerheblichen Beitrag leisten, ist es doch in letzter Konsequenz das Individuum, das darüber entscheidet, wie es sein Leben deutet und führt, und ob es dabei auf religiöse Sinndeutungen zurückgreift oder nicht, ob es sich als gläubig oder nicht gläubig versteht. Dabei ist die Vernunft die zentrale Instanz, und dementsprechend ist sie es auch in und für die Theologie.28 Allerdings stellt sich die Frage, welche Form der Begründung die Theologie wählen sollte, denn selbst wenn man Theologie strikt rational durchbuchstabiert, ist damit noch keine bestimmte Begründungsmethode präfiguriert; mit Blick auf die zu rechtfertigen-
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Das hat selbstverständlich Folgen für die Bestimmung des Verhältnisses sowohl von Natur und Gnade als auch von Vernunft und Offenbarung. Eine Theologie, die sich als autonomer Vernunftdiskurs versteht und sich dabei einer rationalen Glaubensverantwortung verpflichtet weiß, wird, will sie in ihrem Selbstverständnis wirklich konsistent sein, die Vernunft als Prinzip ihrer Reflexion ansehen und anerkennen. Dann aber trennt sie auch nicht mehr künstlich zwischen Vernunft und Offenbarung, als wären diese zwei getrennte Bereiche, ja beinahe zwei separierte Entitäten, die es dann künstlich und nachträglich miteinander in ein Verhältnis zu setzen gilt, sei es als hierarchisches Verhältnis von „natürlicher“ Vernunft und „übernatürlicher“ Offenbarung, sei es als Verhältnis der wechselseitigen Bestimmung oder der wechselseitigen Vermittlung. Offenbarung ist vielmehr als eine Deutungskategorie theistischer Religionen zu verstehen, die von der Perspektive des Glaubens an einen handelnden Gott ausgehend die Vernunft selbst schon als Gabe und Bild Gottes und so auch als ein Zur-Erscheinung-kommen Gottes im Medium der Vernunft interpretiert. Göttliche Offenbarung fügt somit der Vernunft nichts auf „übernatürliche“ Weise hinzu oder erweitert diese noch ist sie von ihr gänzlich unterschieden. Dementsprechend interveniert Gott auch nicht gnadenhaft erkenntniserweiternd durch einzelne Akte in die Vernunft hinein, um sie nachträglich zu erleuchten. Gott handelt und offenbart sich nicht neben oder über der kreatürlichen Vernunft, sondern vermittelt durch diese und in ihr, also als „natürliche“ Vernunft. So braucht es zur Annahme bzw. Zustimmung zum Glauben auch kein „übernatürliches“ Existenzial, sondern den Gebrauch der „natürlichen“, christlich als Schöpfergaben Gottes gedeuteten Vermögen der Vernunft, insbesondere Verstand und freier Wille. Die Gratuität des Glaubens steht damit in keiner Weise zur Disposition, denn laut theistischer Überzeugung verdankt sich die Vernunft der Kreatur und damit des endlichen bewussten Lebens in ihrem „principium“ nicht sich selbst, sondern letztlich der Kreativität Gottes, der Anderes aus sich heraus setzt, unterschieden von sich als sein Bild, identisch mit ihm als sein Bild im freien Vollzug bewussten Lebens. So könnte man hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung wie auch hinsichtlich der Bestimmung des Gott-Welt-Verhältnisses auf die Metapher des Vexierbildes zurückgreifen bzw. auf den Bildgedanken, der im Wort „als“ zum Ausdruck kommt: Gott setzt sich selbst als ein Anderes seiner selbst (Universum, Welt, Kreatur) und er zeigt sich, offenbart sich darin zugleich als Welt, Kreatur und damit auch als kreatürliche Vernunft. Dies beschreibt kein Identitäts- sondern ein Bildverhältnis, eine Identität in Differenz im Verhältnis der Abhängigkeit von Grund und Gegründetem: deus/mundus – revelatio/ratio – gratia/ natura.
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den universalen Geltungsansprüche scheiden allenfalls von vornherein Theologiemodelle aus, denen jeglicher rationaler Begründungsversuch suspekt ist oder die religiöse Überzeugungen primär als expressive Äußerungen verstehen und damit auch losgelöst von universalen Geltungsansprüchen. Es böten sich hier verschiedene Modelle an: Alvin Plantingas Versuch, religiöse Überzeugungen als selbstevidente und unkorrigierbare „properly basic“-Sätze und damit als epistemisch basal zu verstehen29, oder Nicholas Wolterstorffs Kriterium der Kohärenz und Konsistenz religiöser Überzeugungen, also Widerspruchsfreiheit und Anschlussfähigkeit an andere anerkannte Überzeugungen und Geltungsansprüche.30 Oder man könnte im Anschluss an den Pragmatismus den Glauben als eine lebendige Option deuten, als Entscheidung, deren Quelle die persönliche Erfahrung ist und deren Kriterium letztlich die Bewährung in der Praxis ist. Diese Variante könnte vor allem im Hinblick auf das Verständnis des Glaubens als Handeln attraktiv sein: Glaube ist eine existenzielle Entscheidung mit Konsequenzen für die Lebensführung und für das Handeln, und an der pragmatischen Effizienz des Handelns, an der praktischen Bewährung, lässt sich erkennen, ob diese Entscheidung wirklich trägt.31 All diese genannten Modelle weisen allerdings Schwächen auf, die sie als Begründungsmethode ungeeignet erscheinen lassen. Plantinga verstrickt sich in seinem Versuch, religiöse Überzeugungen als epistemisch basal zu erweisen, in einem Zirkel, da er als Kriterium zum Erweis ihrer Basalität letztlich wieder religiöse Überzeugungen anführen muss: die Gabe eines sensus divinitatis und die Existenz eines göttlichen Design-Plans. Wolterstorffs Kohärenz-Kriterium erweist sich angesichts der Aufgabe, Überzeugungen zu rechtfertigen, in deren Zentrum die ontologische Verpflichtung auf die Existenz eines schlechthin unbedingten Seins steht und die mit starken universalen Geltungsansprüchen verknüpft sind, allein als zu weich, um den eingeforderten Begründungsanspruch leisten zu können.32 Und die pragmatistische Methode weist das Problem auf, dass Bewährung in der Praxis kein zureichendes Kriterium dafür bereit stellen kann, universale Geltungsansprüche zu rechtfertigen, im Gegenteil könnte es sich um eine rein konventionale Begründung handeln, die eben aufgrund dieser konventionalen Ausrichtung hinter der eingeforderten Begründungsleistung zurückbleibt; hinzu kommt auch, dass der Verweis auf die persönliche Erfahrung als Quelle der Glaubensoption diese Leistung ebenfalls nicht erbringen kann, weil Erfahrungen – anders als etwa von James behauptet – niemals direkt und unmittelbar, sondern stets schon diskursiv vermittelt auftreten und somit nicht Quelle, sondern bereits Teil religiöser Praxen sind, durch die sie vermittelt
Vgl. z B. Plantinga, Alvin, „Reason and Belief in God“, in: Faith and Rationality. Reasons and Belief in God, hg. von Plantinga, Alvin / Wolterstorff, Nicholas, Notre Dame 1983, S. 16–93. 30 Vgl. z. B. Wolterstorff, Nicholas, „Can Belief in God Be Rational If It Has No Foundations?“, in: Faith and Rationality, S. 135–186. 31 Vgl. James, William, The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, Cambridge / London 1985; Peirce, Charles Sanders, Religionsphilosophische Schriften, Hamburg 1995. 32 Vgl. hierzu ausführlich Müller, Klaus, „Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik“, in: Fundamentaltheologie – Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, hg. von Müller, Klaus / Larcher, Gerhard, Regensburg 1998, S. 77–100, hier: S. 83–88. 29
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und geprägt sind. Aus diesem Grund liegt der Anschluss an eine Begründungsmethode nahe, die man als erstphilosophische Glaubensverantwortung bezeichnen kann.33
2.2 Die Begründungsmethode: Erstphilosophische Glaubensverantwortung Das Modell einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung sucht religiöse Überzeugungen in ihren Geltungsansprüchen allein im Rekurs auf einen von der Vernunft autonom gewonnenen apriorischen Begriff des Unbedingten zu rechtfertigen, der als Urteilskriterium fungiert, vergleichbar der cartesischen Idee des Unendlichen, allerdings ohne die noch bei Descartes vertretene Position, aus der Gegebenheit dieses Begriffs als regulative Idee der Vernunft im Rekurs auf das ontologische Argument auf die notwendige Existenz eines schlechthin unbedingten Seins zu schließen.34 Dieser Begriff wird in transzendentalphilosophischer Tradition als rein formaler Begriff verstanden, der noch jeglichen materialen Gehalten religiöser Traditionen vorausgeht. Bei der Bestimmung dieses Begriffs spielen vor allem die Prinzipien Subjektivität und Freiheit eine entscheidende Rolle. Dieses Modell steht durchaus in der Tradition der transzendentalen Theologie Karl Rahners; dieser hatte insbesondere in der 1. Auflage seines Werkes „Hörer des Wortes“ die Aufgabe transzendentaler Theologie als Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen des Vernehmens göttlicher Offenbarung durch den Menschen im geschichtlichen Vollzug seiner Existenz dargelegt,35 dort noch ohne die problematische Einführung des „übernatürlichen Existenzials“.36 In diesen Bahnen formulierten vor allem Klaus Mül Vgl. hierzu auch Wendel, Saskia, „Rationale Verantwortung der Praxis der Nachfolge Jesu. Was ein systematisch-theologisches Konzept, das sich auf eine transzendentale Methode verpflichtet, zu leisten beansprucht – und was nicht“, in: SaThZ 9 (2005), S. 148–160. 34 Vgl. hierzu Thomas Pröpper: „Ohne den Rekurs auf ein Unbedingtes, das im Menschen selbst vorausgesetzt werden darf, wäre weder die jeden Menschen unbedingt angehende Bedeutung der Selbstoffenbarung Gottes begründet vertretbar noch überhaupt der Gottesgedanke in autonomer Einsicht bestimmbar.“ (Pröpper, Thomas, Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg im Breisgau 2001, S. 77). 35 „Unsere Aufgabe ist es […] zu zeigen, wie zur Wesenskonstitution des Menschen die positive Offenheit für eine möglicherweise ergehende Offenbarung Gottes, also für Theologie, gehört, ohne daß diese darum in ihrem Inhalt nur das von dieser Offenheit her bestimmbare Korrelat gegenständlicher Art wird. Auf diese Weise muß sich auch zeigen lassen, daß diese Offenbarung wirklich gehört werden kann, ohne daß sie nur das Ja oder Nein zum Menschen ist.“ (Rahner, Karl, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung der Religionsphilosophie, München 11941, S. 38). 36 Dieses hatte Rahner zur Absicherung der Gratuität der Offenbarung eingeführt, die allerdings auch ohne das übernatürliche Existenzial gedacht werden kann, wenn man in der Perspektive des Glaubens die Vernunft als ganze als Gabe Gottes deutet, Vernunft und Offenbarung als Vermittlungsverhältnis bestimmt und dabei auf die problematische Hierarchisierung von „natürlicher“ Vernunft und „übernatürlicher“ Offenbarung ebenso verzichtet wie auf die Differenzierung zwischen einem „natürlichen“ Licht der Vernunft und einem „übernatürlichen“ Glaubenslicht. Die Annahme eines übernatürlichen Existenzials widerspricht zudem der Autonomie der Vernunft, da sie dieser eine heteronome „übernatürliche“ Größe hinzufügt und so die Autonomie der Vernunft letztlich unterhöhlt. Vgl. zur Kritik am „übernatürlichen Existenzial“ etwa Verweyen, Hansjürgen, „Wie wird ein Existenzial übernatürlich?“, in: TThZ 95 (1986), S. 115–131. 33
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ler, Thomas Pröpper und Hansjürgen Verweyen ihre theologischen Konzeptionen, die häufig bzw. leider immer noch unter der Bezeichnung „theologische Letztbegründung“ firmieren. Pröpper und mittlerweile auch Verweyen lehnen allerdings zu Recht die Bezeichnung „Letztbegründung“ ab, weil der Begriff fälschlicherweise den Eindruck erweckt, dass der Glaube letztbegründet werden soll bzw. dass es überhaupt um einen „letzten Grund“ innerhalb einer Beweiskette geht, womöglich gar um eine „letztgültige“ materiale Bestimmung religiöser Überzeugungen.37 Dies ist aber weder möglich noch wünschbar, denn der Glaube lässt sich in seinem Auftreten, also als „faith“, überhaupt nicht begründen, und religiöse Überzeugungen lassen sich allein hinsichtlich ihres Geltungsanspruches vernünftig rechtfertigen, keineswegs ist aber irgendein Beweisverfahren anvisiert, durch das sich der Glaube „andemonstrieren“ lässt. Ebenso wenig ist es möglich, eine „letztgültige“ materiale Bestimmung von „belief “ zu leisten, die den Anspruch der universalen Gültigkeit des christlichen Glaubens zur Gewissheit werden ließe und so den Glauben in Wissen transformieren würde, was im Übrigen der Kennzeichnung des Glaubens gerade in seiner Differenz zum Wissen widerspräche. Unbeschadet seiner Rationalität liefert Glauben keine Wissenserkenntnis und unbeschadet ihres kognitiven Gehalts erlangen religiöse Überzeugungen niemals den epistemischen Status zweifelsfreier Gewissheit – und somit lassen sie sich auch nicht „letztbegründen“. Dementsprechend handelt es sich auch nicht um das Programm einer mit starken epistemischen Ansprüchen verknüpften spekulativen Metaphysik etwa Hegelschen Typs, die unter anderem im Rekurs auf die – epistemologisch zu starke bzw. gänzlich überzogene – Identifikation von Selbst- und Gottesbewusstsein die „Glaubensgewissheit“ an die Existenz Gottes und an seine Selbstmitteilung in Jesus von Nazareth zu begründen versucht und dabei die Grenze zwischen transzendentaler Reflexion und spekulativer Metaphysik einzieht. Die Bezeichnung „erstphilosophische Glaubensverantwortung“ trägt dem Rechnung: Erstphilosophisch ist sie in der transzendentalen Methode und darin, „letzte Gedanken“ und „letzte Fragen“ zu reflektieren (nichts anderes ist Aufgabe der „prima philosophia“ bzw. der Metaphysik), und Glaubensverantwortung ist sie in ihrer Absicht und Aufgabe: Ihr geht es nicht um Beweis, sondern um Rechtfertigung und Verantwortung des Glaubens, verstanden als Praxis der Nachfolge Jesu. Insbesondere zwischen Pröpper und Verweyen gibt es eine intensive Diskussion um die Reichweite solcher Glaubensverantwortung, vor allem um die mit der Annahme 37
Vgl. die klare Verabschiedung des Begriffs „Letztbegründung“ bei Verweyen: „Obschon es mir gelungen ist, Gründe für manche Mißverständnisse meiner Fundamentaltheologie in ihrer bisherigen Formulierung selbst aufzuspüren, bleibt mir eines nach wie vor rätselhaft, nämlich die Häufigkeit, mit der diese gesamte Konzeption als Versuch einer ‚philosophischen Letztbegründung des Glaubens‘ bezeichnet wurde. Sicher, der (damals von K.O. Apel übernommene) Ausdruck ‚Letztbegründung‘ verführt zu Fehleinschätzungen transzendentaler Reflexion. Ich habe ihn jetzt bei der Beschreibung meiner eigenen Arbeit völlig ausgemerzt. Aber ‚philosophische Glaubensbegründung‘? Was um Himmels willen berechtigt diese Interpretation? In diesem ‚Grundriß‘ ging und geht es weiterhin allein darum, den ausschließlich im Hören des Wortes gründenden Glauben an die Letztgültigkeit der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus als eine solche Überzeugung rational zu verantworten, die es nicht nötig hat, auch noch so minimale Reservate des ‚reinen Glaubens‘ der kritischen Vernunft gegenüber zu errichten und einzuzäunen.“ (Verweyen, Gottes letztes Wort, S. 9).
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eines Begriffs des Unbedingten verknüpften epistemischen Ansprüchen hinsichtlich der Gotteserkenntnis und der Gottesgewissheit.38 An dieser Diskussion möchte ich mich nicht explizit beteiligen, denn meine Rezeption transzendentaler Gedanken zielt teilweise in andere Richtung. Es geht mir nämlich weniger um die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Vernehmens von Offenbarung durch den Menschen, also um die traditionelle Frage nach der Hinordnung des Menschen auf göttliche Offenbarung und schon gar nicht um die noch bei Rahner auftretenden ontologischen Bezüge – und dies deshalb, weil erstens wie bereits skizziert Vernunft und Offenbarung als Vermittlungsverhältnis gedacht werden und weil zweitens religiöse Überzeugungen stets als Teil von religiösen Sinndeutungspraxen verstanden werden – so im Übrigen auch die Annahme der Möglichkeit von Offenbarung im Vollzug der Vernunft. In Sachen Religion und Glaube befinden wir uns somit auf dem Feld von Sinn- und Lebensdeutungen, eben weil wir es nicht mit Wissensüberzeugungen zu tun haben. Damit verbieten sich auch im Rekurs auf die Idee des Unbedingten, welche die Vernunft denkt, sämtliche Ansprüche einer mit zwingenden Gründen verbundenen, sicheren und umfassenden Gotteserkenntnis im Sinne zweifelsfreier Gottesgewissheit und folglich auch der alte Anspruch des ontologischen Arguments. Gesucht wird unbeschadet dieser Grenzziehung zugleich nach guten Gründen, nach vernünftig tragfähiger Rechtfertigung jener religiösen, hier christlichen Sinn- und Lebensdeutungen mittels transzendentaler Reflexion.39 Anvisiert ist also die transzendentale Aufgabe der Suche nach Möglichkeitsbedingungen dafür, einen Begriff des Unbedingten zu gewinnen, auf dessen Basis sich der Glaube, verstanden als „belief “ und damit sowohl als Praxis als auch als Setting handlungsanleitender Gehalte, rechtfertigen lässt. Darin wird niemals die grundsätzliche Begrenztheit und auch Geschichtlichkeit der Existenz und damit auch der durch Erfahrung vermittelten Erkenntnis geleugnet; die Formalität transzendentaler Prinzipien stellt die Geschichtlichkeit der konkreten, materialen Erfahrung nicht in Frage, ebenso wenig die sprachliche Verfasstheit des gesamten Existenzvollzuges – wer über transzendentale Prinzipien reflektiert, verfügt keineswegs über einen „Gottesstandpunkt“. Im Unterschied zu einem identitätslogischen Begriff des Absoluten im Sinne absoluter Einheit steht ein Verständnis des Unbedingten im Zentrum, welches zwar einerseits als Prinzip, als Grund des Bedingten verstanden wird, zugleich aber zum einen nicht als ontologischer Begriff (etwa im Sinne eines absoluten, identischen Ursprungs Vgl. hierzu etwa Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, S. 180–219; ders., Theologische Anthropologie. Erster Teilband, Freiburg im Breisgau 2011, S. 437–441 sowie die Repliken Hansjürgen Verweyens in Verweyen, Hansjürgen, Botschaft eines Toten? Den Glauben rational verantworten, Regensburg 1997, bes. S. 96–118 und jüngst ders., „Was ist Freiheit? Fragen an Thomas Pröpper“, in: ThPh 88 (2013), S. 510–535. 39 Weder wird die Gegebenheit von Offenbarung (dazu noch in Jesus von Nazareth ergangen) also schlichtweg als quasi objektiv evident vorausgesetzt, auf die sich dann die rationale Reflexion der Theologie anerkennend bezieht, denn dies käme einer dogmatischen Setzung bzw. einem Abbruch der Denkbewegung des Verstandes gleich und würde zugleich den Status von Religion als Sinndeutungssystem widersprechen, noch wird Offenbarung mit der Vernunft so identifiziert, dass die Differenz von Glauben und Wissen eingezogen und das Ergangensein von Offenbarung als gewiss behauptet würde. 38
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der Vielheit des Seienden) und zum anderen auch nicht als Gegensatz zum Bedingten. Die hier angezielte Idee des Unbedingten ist vielmehr als „Moment Unbedingtheit“ des Bedingten zu kennzeichnen und somit als Allgemeines im bzw. des Besonderen. Dieser vergleichsweise „schwache“ Begriff des Unbedingten entspricht durchaus demjenigen, den Jürgen Habermas unbeschadet seiner Kritik an einem von ihm als Metaphysik bezeichneten Identitäts- und Ursprungsdenkens immer noch voraussetzt als „das Moment Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist.“40 Dieses Moment unterscheidet ihm zufolge die universale Gültigkeit etwa ethischer Normen im Kontext kommunikativen Handelns von bloß sozialer Geltung einer eingewöhnten Praxis und begründet zugleich diesen universalen, postkonventionalen Geltungsanspruch: „Was wir für gerechtfertigt halten, ist aus der Perspektive der ersten Person eine Frage der Begründbarkeit und nicht eine Funktion von Lebensgewohnheiten.“41 Wer allerdings in diesem Zusammenhang auf explizit transzendentale Begründungsfiguren zurückgreift, tut dies, weil die Rechtfertigung universaler Geltungsansprüche etwa als Kriterien für kommunikatives Handeln eines Prinzips bedarf, das nicht selbst wiederum rein kommunikativ gewonnen werden kann, da diese Begründung sich als zirkulär erweist und da sie die angestrebte Postkonventionalität nicht erreicht. Das gilt dann selbstverständlich auch und gerade für die Begründung der Glaubenspraxis, insbesondere dann, wenn man diese wie oben skizziert als kommunikatives Handeln bestimmt. In weiteren Bahnen der transzendentalen Reflexion lässt sich diese Idee des Unbedingten mit den Prinzipien der Subjektivität und der Freiheit verknüpfen bzw. ihnen entsprechend denken, insofern sie als Möglichkeitsbedingungen des Vollzugs bewussten Lebens in der Gesamtheit seiner Vermögen, insbesondere aber auch als Möglichkeitsbedingungen des Handelns als Handeln (im Unterschied zum Wirken) verstanden werden können. Hier erweisen sich nicht allein Kants Überlegungen zur Bedeutung des transzendentalen Ichs als Möglichkeitsbedingung von Erkenntnis und zur „Kausalität aus Freiheit“ im Unterschied zur „Kausalität aus Natur“ sowie zum Postulat der Freiheit und dessen unauflösliche Verbindung zum Faktum unbedingten Sollens als Möglichkeitsbedingung moralischen Handelns als zentral, sondern vor allem auch Johann Gottlieb Fichtes Reflexionen zum absoluten Ich und zur absoluten Freiheit bzw. zur „Tathandlung“ als Prinzip des Vollzuges von Bewusstsein und damit auch als oberstes Habermas, „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“, S. 184. Ebd., S. 27. Auch wenn jenes „Moment Unbedingtheit“ für Habermas nicht mehr als Absolutes, sondern nur als ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes zu verstehen ist, muss er dabei dennoch den Begriff des Unbedingten als Geltungsgrund voraussetzen. Damit macht er sich quasi ungewollt eine transzendentale Begründungsfigur zu eigen, zumal man an Habermas die kritische Rückfrage stellen kann, was genau man sich denn unter einem zu einem kritischen Verfahren verflüssigten Absoluten vorzustellen hat. Wäre es hier nicht präziser, jenes „Moment Unbedingtheit“ explizit als transzendentales Prinzip zu verstehen, als Möglichkeitsbedingung eben jenes Verfahrens, welches aber eben deshalb nicht mit dem Verfahren schlichtweg identisch sein kann, aber dennoch als dessen Moment niemals losgelöst von diesem zu denken ist – auch gerade deshalb, weil es sich bei der Idee des Unbedingten nicht um einen ontologischen, sondern um einen transzendentalen Begriff handelt?
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Prinzip von Erkenntnis. Sowohl Subjektivität wie Freiheit sind allerdings nicht als ontologische Begriffe, sondern als strikt transzendentale Prinzipien zu verstehen, folglich weder als (material bestimmte) Substanzbegriffe noch überhaupt als Entitäten, sondern allein als formale Begriffe im Sinne von Möglichkeitsbedingungen: Subjektivität bezeichnet die Singularität bewussten Lebens, welche in der Ich-Perspektive des Selbstbewusstseins markiert ist, und Freiheit ist nicht etwa gleichbedeutend mit der Willensfreiheit im Sinne von Wahlfreiheit, sondern bedeutet als Prinzip das Vermögen bewussten Lebens, das „Können“ (potentia), eben jene „Tathandlung“, die sich in einzelne Vermögen der Vernunft ausdifferenziert, sich in ihnen ausdrückt und diese zugleich in ihrem Vollzug ermöglicht. Gerade weil es sich nicht um Substanzbegriffe handelt, geben sie keine Wesensbestimmungen des Menschen vor. Im Gegenteil ist analog zum Verständnis des Unbedingten als „Moment Unbedingtheit“ zu betonen, dass sich erstens bewusstes Leben stets leiblich manifestiert und der Leib somit als Gestalt, Ausdruck des Vollzuges bewussten Lebens in seiner Doppelstruktur von Subjektivität (Singularität) und Personalität (Relation) sowie in seiner Freiheit bestimmt werden kann,42 und dass zweitens die konkrete Realisierung sowohl von Subjektivität und Personalität als auch von Freiheit und damit der konkrete Vollzug seiner selbst bewussten Daseins stets Teil wie Gegenstand diskursiver Praxen und damit immer auch diskursiv erzeugt ist. Subjekt wie Freiheit sind selbst keine bloßen Konstrukte oder gar Fiktionen der Vernunft, aber Möglichkeitsbedingungen jener Praxen, die Realität konstituieren und auch konstruieren und somit auch Möglichkeitsbedingungen von Lebenspraxen, in denen bewusstes Dasein seine Existenz deutend, entwerfend und gestaltend und in diesem Sinne auch konstruierend vollzieht. Diese „Macht des Diskurses“ (Michel Foucault) gilt es denn auch im positiven und konstruktiven Sinne theologisch aufzugreifen und fruchtbar zu machen unter der Bedingung, dass die Diskursmacht letztlich nicht selbst als ursprüngliches Prinzip verstanden wird, denn dann wäre der Diskurs die Determinante bewussten Lebens und dieses nicht wirklich frei im Sinne von Kreativität und Spontaneität. Die Diskursmacht ist vielmehr als eine von der Macht der Freiheit abgeleitete und mit ihr verbundene zu interpretieren: Diskurse fallen nicht vom Himmel, entstehen nicht als quasi autopoietische Systeme, sondern entstammen der kreativen Fähigkeit selbstbewussten Daseins; zugleich wirken sie allerdings auch auf dieses zurück und bedingen es in seinem konkreten Existenzvollzug, weil es sein Leben als In-der-Welt-sein eben auch eingebettet in solche Diskurse führt. Allerdings ist es darin der Diskursmacht nicht ohnmächtig und passiv unterworfen, sondern es ist dazu fähig, kraft eigener Handlungsmacht, also Freiheit im Sinne einer Fähigkeit zum Neubeginn (Hannah Arendt), herrschende Diskurse zu verändern und darin zugleich performativ neue Wirklichkeit zu setzen.43 Diese Handlungsmacht wird dann auch für die Bestimmung des Glaubens
Vgl. hierzu Wendel, Saskia, Affektiv und inkarniert. Ansätze Deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung (= ratio fidei; Bd. 15), Regensburg 2002, S. 243–313; dies., „Inkarniertes Subjekt. Die Reformulierung des Subjektgedankens am Leitfaden des Leibes“, in: DZPhil 51 (2003), S. 559–569. 43 Ich habe diesen Aspekt mehrfach unter Bezug auf die „Gender-Thematik“ verdeutlicht. Vgl. etwa Wen42
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als kommunikatives Handeln bedeutsam, insofern, als die Praxis des Glaubens als eine kreative, verändernde Praxis zu gelten hat, die nicht nur Überliefertes erinnert oder darstellend wiederholt, sondern gerade auch im Durchgang durch den anamnetischen Rückbezug auf die Überlieferung der befreienden und versöhnenden, „alles neu machenden“ und so den Status quo aufbrechenden Praxis Jesu und deren Vergegenwärtigung in der Nachfolgepraxis neue Wirklichkeit schafft, so die ewige Wiederkehr des Gleichen des „heillosen“ Zustands der Welt unterbricht und antizipatorisch „Leben in Fülle“ realisiert und auf diese Weise ein „Moment Unbedingtheit“ mitten im Bedingten endlicher Existenz zur Erscheinung kommen lässt. Eine Theologie jedoch, die diese Aufgabe wirklich ernst nimmt, ist alles andere als bequem: Sie ist permanenter Stachel im Fleisch der Glaubenspraxis und konkreter kirchlicher Praxis einschließlich ihrer Strukturen, weil sie diese immer wieder neu auf den Prüfstand stellt und dahingehend befragt, inwiefern sie der Aufgabe entgegenstehen, den Glauben als kommunikatives Handeln im Sinne der Nachfolgepraxis Jesu zu vollziehen, und dies nicht im Gegensatz, sondern im Einklang mit den Prinzipien Subjektivität und Freiheit als Bestimmungen eines jeden bewussten Lebens, so auch desjenigen einer jeden Christin, eines jeden Christen.44 Letztlich ist sie auch sich selbst permanenter Stachel im eigenen Fleisch, weil sie immer auch sich selbst kritisch prüfen muss, inwiefern sie ihren eigenen Prinzipien entspricht oder nicht, weil sie sich selbst immer wieder neu antreibt und dazu auffordert, die Praxis der Nachfolge Jesu auch im eigenen wissenschaftlichen Denken und Handeln aufscheinen zu lassen. So gesehen kommt Theologie nie wirklich zum Stillstand, sie ist keine reine Betrachtung, die im Denken des Denkens in sich ruht. Sie ist unbeschadet des rastenden „Gedankens, der Atem schöpft“ Reflexion im Aufbruch und in einer nicht still zu stellenden Bewegung – das „Anderswo“ der Erfüllung und Vollendung fragmentarischer Existenz vor Augen, das sie erhofft und bedenkt und dessen Möglichkeit sie in immer neuen Angängen der unendlich ausgreifenden Vernunft zu befragen und zu ergründen versucht. In diesem Sinne ist sie wie schon eingangs formuliert „faustisch“ nicht im pejorativen, sondern im besten Sinn: Sie gibt sich nicht mit vorschnellen Lösungen zufrieden, sie geht den Dingen auf den Grund, sie arbeitet kritisch und damit auch mit einer notwendigen Portion Skepsis und ist doch getragen von der Sehnsucht nach dem Genuss des „höchsten Augenblicks“. Dazu verstrickt sie sich jedoch anders als Faust nicht ins Diabolische und verzweifelt so del, Saskia, „Subjekt statt Substanz. Entwurf einer gender-sensiblen Anthropologie“, in: Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie, hg. von Landweer, Hilge, Bielefeld 2012, S. 315–335; dies., „Sexualethik und Genderperspektive“, in: Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik (= QD; Bd. 241), hg. von Hilpert, Konrad, Freiburg im Breisgau 2011, S.36–56; dies., „Hat Religiosität ein Geschlecht?“, in: Das Geschlecht der Religion, hg. von Boelderl, Arthur / Uhl, Florian, Berlin 2005, S. 295–312; vgl. zum Konnex von Handeln, Macht und Freiheit auch dies., „Vergebung und Zusage. Hannah Arendts Begriff des Handelns und seine Bedeutung für die Bestimmung des Handelns Gottes“, in: ZKTh 135 (2013), S. 399–413. 44 Vgl. dazu auch Wendel, Saskia, „Kirche – Zeichen und Werkzeug der Freiheit Gottes und der Menschen“, in: „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“. Argumente zum Memorandum, hg. von Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Wendel, Saskia, Freiburg im Breisgau 2011, S. 91–99.
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Saskia Wendel
auch nicht an sich selbst, weil sie trotz aller immer auch beschwerlichen Ruhelosigkeit ihres „heißen Bemühens“ auf den Grund der sie erfüllenden Hoffnung vertraut, über den sie in eben jenem Bemühen immer wieder neu Rechenschaft abzulegen versucht.
Literaturempfehlung Wendel, Saskia, „Subjekt statt Substanz. Entwurf einer gender-sensiblen Anthropologie“, in: Philosophie und die Potenziale der Gender Studies. Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie, hg. von Landweer, Hilge, Bielefeld 2012, S. 315–335. Wendel, Saskia, „Glauben statt Wissen. Zur Aktualität von Kants Modell des ‚praktischen Vernunftglaubens‘“, in: Idealismus und natürliche Theologie, hg. von Wasmaier-Sailer, Margit / Göcke, Benedikt Paul, Freiburg / München 2011, S. 81–103. Wendel, Saskia, Religionsphilosophie, Stuttgart 2010. Wendel, Saskia, „Rationale Verantwortung der Praxis der Nachfolge Jesu. Was ein systematisch-theologisches Konzept, das sich auf eine transzendentale Methode verpflichtet, zu leisten beansprucht – und was nicht“, in: SaThZ 9 (2005), S. 148–160. Wendel, Saskia, „Inkarniertes Subjekt. Die Reformulierung des Subjektgedankens am Leitfaden des Leibes“, in: DZPhil 51 (2003), S. 559–569. Wendel, Saskia, Affektiv und inkarniert. Ansätze Deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung (= ratio fidei; Bd. 15), Regensburg 2002, Wendel, Saskia, „Sexualethik und Genderperspektive“, in: Zukunftshorizonte katholischer Sexualethik (= QD; Bd. 241), hg. von Hilpert, Konrad, Freiburg im Breisgau 2011, S.36–56. Wendel, Saskia, „Hat Religiosität ein Geschlecht?“, in: Das Geschlecht der Religion, hg. von Boelderl, Arthur / Uhl, Florian, Berlin 2005, S. 295–312. Wendel, Saskia, „Vergebung und Zusage. Hannah Arendts Begriff des Handelns und seine Bedeutung für die Bestimmung des Handelns Gottes“, in: ZKTh 135 (2013), S. 399–413. Wendel, Saskia, „Kirche – Zeichen und Werkzeug der Freiheit Gottes und der Menschen“, in: „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“. Argumente zum Memorandum, hg. von Heimbach-Steins, Ma rianne / Kruip, Gerhard / Wendel, Saskia, Freiburg im Breisgau 2011, S. 91–99.
Gottes Einfall in die menschliche Vernunft
Ein Vergleich zweier philosophischer Denkansätze und ihrer theologischen Rezeption Josef Wohlmuth, Bonn
„[…] (e)inen nicht durch das Sein infizierten Gott zu vernehmen, ist eine ebenso wichtige und ebenso ungesicherte menschliche Möglichkeit wie die, das Sein dem Vergessen zu entreißen, in das es in der Metaphysik und in der Onto-Theologie gefallen sein soll.“ (E. Levinas)1
Einführung Ob die Gottesfrage der Philosophie allein überlassen werden kann oder ob sich darum auch die Theologie intellektuell bemühen muss, ist eine Frage, deren sich wohl besonders die drei monotheistischen Religionen und ihre Theologien annehmen sollten, die im europäischen Haus der Wissenschaften ihren Ort gefunden haben oder noch suchen. Der jüdische Denker Emmanuel Levinas hat in seinem Aufsatz Gott und die Philosophie folgendes Problem benannt: Wenn die Gottesfrage von der abendländischen Philosophie mit der Seinsfrage gleichgesetzt wird, betreibt sie „eine Destruktion der Transzendenz“.2 Gott findet sich bereits in die Immanenz gebannt. Insofern gerät das abendländische Denken vor die Alternative, die Gottesfrage auf längere Sicht dem Atheismus zuzuführen. Verharrt sie jedoch beim Gott der Bibel, setzt sie sich dem Verdacht aus, dass der Gott der Bibel noch gar nicht das Niveau des rationalen Denkens erreicht hat und sich deshalb für den philosophischen Diskurs als untauglich erweist. Verbleibt man aber beim Gott der Bibel, wofür Levinas argumentiert, dann verlangt die vorgetragene Analyse eine philosophisch und theologisch begründete Theorie der Offenbarung, die sich auf keinen Fall dem Seinshorizont unterstellen darf, um im Heideggerschen Sinne als Seinsenthüllung verstanden zu werden und so letztlich in der Immanenz zu verbleiben, wie Emanuel Levinas befürchtet. Nun nimmt sich aber die Vgl. Levinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Wiemer, Thomas, Freiburg / München 1992 (Originalausg. Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, 1978) (Ich verwende beim Namen des Philosophen einheitlich die hebräische Version ohne Akzent). 2 Levinas, Emmanuel, „Gott und die Philosophie“, in: Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, hg. von Casper, Bernhard, Freiburg / München 1981, S. 81–123, hier: S. 83. 1
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Josef Wohlmuth
christliche Theologie der Gottesfrage auch im Gespräch mit der Philosophie wieder neu an. Verzichtet sie dabei auf den Gott der Bibel zugunsten des Gottes der Philosophen, könnte auch die Theologie selbst in den Sog des Atheismus geraten. Deshalb will sich Levinas auf die Alternative: Gott der Bibel oder Gott der Philosophen nicht einlassen.3 Von dieser Grundhaltung sind auch die beiden Positionen getragen, die in diesem Versuch gegenübergestellt werden. Ich will mein eigenes theologisches Denken, das sich in wesentlichen Fragen der Philosophie von Emmanuel Levinas verdankt, mit Thomas Pröppers transzendental-philosophischer Denkform in einigen exemplarischen Grundfragen ins Gespräch bringen. Die beiden Denkstile und Ansätze lassen sich einander gegenüberstellen.
1. Gottesfrage und menschliches Subjekt Thomas Pröpper hat in seinem Opus magnum Theologische Anthropologie eine Summe seiner theologischen Bemühungen vorgelegt, in denen die Frage nach der Transzendenz im Kontext der Neuzeit engstens an das menschliche Subjekt gebunden ist und sich so auf unüberhörbare Weise stellt. In Pröppers Werk und in meinem eigenen, an Emmanuel Levinas und Jean-Luc Marion orientierten Denken liegen zwei Formen theologischer Ansätze vor, die in der gegenwärtigen theologischen Landschaft um die je besseren Argumente ringen. Thomas Pröppers Version christlicher Theologie mit der Gottesfrage im Zentrum bewegt sich im Horizont der Seinsfrage und der Selbstkonstitution des Subjekts und vertritt in diesem Zusammenhang ein Freiheitsverständnis, das an diesen Seinshorizont gebunden ist und bei aller Abstraktheit des Ansatzes doch in erstaunlicher Weise auf das abzielt, was in einer Geschichtshermeneutik der Offenbarung greifbar geworden ist. Emmanuel Levinas, der hebräisch-rabbinisch denkende und griechisch geschulte Philosoph, drängt über den Seinshorizont hinaus, indem er aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Menschheit an einem Abgrund angekommen sieht, an dem nur ein radikaler „Humanismus des anderen Menschen“ weiterhilft. Beide Denkstile sind davon überzeugt, dass die Gottesfrage von der Frage nach dem Menschsein nicht getrennt werden dürfen, auch wenn für beide die überkommenen Beweise vom Dasein Gottes nicht mehr tragen. Thomas Pröppers Theologische Anthropologie ist zugleich ein gesamtsystematischer Entwurf. Um diesem wirklich gerecht zu werden, müsste ich zur Gegenüberstellung meines eigenen Denkens einen Gegenentwurf von mindestens ähnlichem Umfang 3
„Sich fragen […], ob Gott nicht in einer vernünftigen Rede, die weder Ontologie noch Glaube wäre, ausgesagt werden kann, heißt implizit, an dem von Jehuda Halevi aufgestellten und von Pascal wieder aufgegriffenen formalen Gegensatz zwischen dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der ohne Philosophie im Glauben angerufen wird, einerseits, und dem Gott der Philosophen andererseits zweifeln; heißt zweifeln, daß dieser Gegensatz eine Alternative darstellt.“ Levinas, „Gott und die Philosophie“, S. 85 f.
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vorlegen, was mir voraussichtlich nicht mehr möglich sein wird. Deshalb kann es im Folgenden nur um einige wenige Aspekte gehen, in denen letztlich ein transzendental-theologischer und phänomenologisch-theologischer Ansatz in ihren Begründungsverfahren verglichen werden können. Ich beziehe mich bei der Analyse des Ansatzes von Thomas Pröpper in gebotener Kürze auf jene Passagen der Theologischen Anthropologie, in deren Analysen vor allem die Gottesfrage und das Freiheitstheorem resümiert werden. Ich gehe dabei von der christologischen Gesamtorientierung im ersten Band aus. Dort wird schlagartig deutlich, dass diese von der Mitte der Theologie her denkt.4 Anschließend werde ich an meinem eigenen Denken zeigen, dass es mit Emmanuel Levinas von der Grundfrage Un Dieu Homme? ausgeht. Thomas Pröpper schreibt: „Um den Gottesgedanken erreichen und zugleich die Glaubenswahrheiten als unbedingt bedeutsam ausweisen zu können, rekurriere ich auf das Unbedingte im Menschen. Letztbegründung ist eben dieses Zurückgehen einer Begründung bis auf ein nicht mehr hintergehbares Unbedingtes. ‚Erstphilosophische‘ Ansprüche dagegen habe ich niemals erhoben. Transzendentalphilosophie verfolgt andere Intentionen als eine prima philosophia im Sinn des Aristoteles oder Descartes.“5 In der Methode des Zurückgehens – Levinas spricht von „Rekurrenz“ – treffen sich beide Denkstile sehr grundlegend. Wie weit und in welche Abgründe dieses Zurückgehen führt, wird beide Denkstile allerdings fundamental unterscheiden. Dabei ist die Rede von Gott und vom Menschen in ihrer Zusammengehörigkeit beiden gemeinsam.
1.1 Christologische und messianische Grundlegung Die christliche Theologie geht Thomas Pröpper zufolge weder von einem spezifischen Gottes- noch Menschenverständnis aus, sondern sie sagt über beide etwas „aufgrund der Geschichte Jesu Christi“ (S. 65). An Eberhard Jüngel angelehnt schreibt Pröpper: „Denn in diesem ursprünglich mit Gott einigen Menschen, vermittelt durch seine Freiheit, ist Gottes definitive Selbstbestimmung für die Menschen auch ihnen selbst zur endgültigen Wahrheit geworden: Jesu Wirken identifiziert Gott als den Gott der schon gegenwärtigen und bedingungslos zuvorkommenden Liebe, während durch Jesu offenbare Auferweckung Gott sich selbst für die Menschen identifiziert als der Gott, der aus dem Tode rettet, und sich zugleich mit dem Gekreuzigten und also mit dem Gott identifiziert, den Jesus verkündet hatte. Mit beidem hat er sich selber für uns ‚definiert‘ und zugleich – im Akt dieser Selbstdefinition – auch den Menschen definiert: sich selbst als den Gott der für die Menschen entschiedenen Liebe und den Menschen, jeden Menschen, als von Gott unbedingt angenommenen Menschen – und zwar so, daß zugleich sichtbar wurde, wie diese definitive Bestimmung des Menschen durch Gott in ihrer Annahme durch die Menschen zum Ziel kommt: sichtbar an Jesus selbst, sofern er in eins Vgl. zum Folgenden Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie I, Freiburg / Basel / Wien 2011, S. 63–79. 5 Pröpper, Theologische Anthropologie I, S. 586 (Anm. 100). 4
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die Zusage Gottes und ihre menschliche Annahme war.“ (S. 65)6 Eine gedrängte Kurzfassung klassischer Christologie! Thomas Pröpper geht davon aus, dass Gottes Offenbarung auf dessen freiem Ratschluss beruht und jedem menschlichen Anspruch und Zugriff entzogen ist. Deshalb begründet die Offenbarung der göttlichen Selbstbestimmung „für die Menschen die Möglichkeit einer Entsprechung zu diesem Gott überhaupt erst“ (S. 67). Daraus folgt weiter: „Ein neuer Mensch mußte werden, um die Menschen zur Verwirklichung ihrer Bestimmung zu führen, ihrerseits Gott entsprechende, d. h. aus der endgültigen Vorgabe seiner Liebe sich selbst bestimmende Menschen zu sein.“ (S. 67) Solche Selbstbestimmung beruht somit auf „Gratuität“ (S. 67), die – für mein Verständnis – allerdings einer streng philosophisch verstandenen Autonomie vorausgehen muss. Interessant ist insofern, dass Thomas Pröpper den Schöpfungsgedanken in seine christologische Grundorientierung nicht einbezieht, der für Emmanuel Levinas gewissermaßen die unvordenkliche „Grundlage“ allen Denkens und aller Freiheit ist. Festzuhalten ist jedoch, dass eine Theologische Anthropologie, für die bei Pröpper die neuzeitliche Entwicklung der Gottesfrage eine so zentrale Rolle spielt, diese gewissermaßen von Anfang an zu einer Frage eines möglichen Gott-Mensch-Verhältnisses erhebt, sich dadurch aber auch die Beweislast auferlegt, ob die neuzeitliche Bestreitung der Offenbarung, gerade wenn sie an die Jesusinterpretation gebunden und deshalb auch in das Kreuzfeuer philosophischer Kritik geraten ist, dennoch vor der aufgeklärten Vernunft bestehen kann.
1.2 Un Dieu Homme? Demgegenüber komme ich nun erneut7, in aller Kürze, auf den bahnbrechenden Aufsatz von Emmanuel Levinas aus dem Jahre 1968 mit dem Titel Un Dieu Homme?8 zu sprechen, der auf die von christlicher Seite an den Philosophen gerichtete Bitte zurückgeht, auf seine Weise eine Antwort auf die Frage zu geben, wer Jesus Christus sei. Levinas gibt darauf nur eine indirekte Antwort, indem er die Idee „Ein Gott-Mensch“ für seine Ant Vgl. Pröpper, Thomas, „Freiheit als philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik“, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg / Basel / Wien 2001, S. 5–22; Ders., „‚Daß nichts uns scheiden kann von Gottes Liebe …‘. Ein Beitrag zum Verständnis der ‚Endgültigkeit‘ der Erlösung“, in: Ebd., S. 40–56. 7 Vgl. Wohlmuth, Josef, „Herausgeforderte Christologie“, in: Ders. (Hg.), Emmanuel Levinas. Eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn / Wien 1998, S. 215–229. 8 Levinas, Emmanuel, „Un Dieu Homme? “, in: Ders., Entre Nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris 1991, S. 69–76. Vgl. dt. Lévinas, Emmanuel, Zwischen uns. Versuch über das Denken an den Anderen, übers. u. hg. von Miething, Frank, München / Wien 1995, S. 73–86. (Meine Seitenangaben beziehen sich auf diese dt. Version.) Vgl. Religio und passio. Texte zur neueren französischen Religionsphilosophie, hg. von Kühn, Rolf, Würzburg 2014, S. 40–49. – Eine ausführliche Analyse des levinasschen Textes kann hier nicht geboten werden. Vgl. neuerdings die grundlegende Studie von Francesco Paolo Ciglia mit dem Titel „Dio Uomo?“ in: Ders., Voce di silenzio sottile. Sei studi su Levinas, Pisa 2012, S. 119–158. Ciglia schreibt einleitend: „Si può ben dire, anzi, che l’interrogazione dell’orizzonte spirituale cristiano, pur nelle modalità appena accennate, abbia attraversato e inquietato da cima a fondo – come un filo rosso ora più, ora meno evidente – l’intero itininerario della ricerca levinasiana.“ (ebd., S. 119 f.) 6
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wort aufgreift und interpretiert. Damit werden „Gott“ und „Mensch“ so miteinander in Beziehung gesetzt, dass Levinas diese Idee von zwei grundlegenden Aspekten bestimmt sein lässt: 1. Von der Idee einer Erniedrigung oder Demut des Schöpfers, der auf die Ebene der Kreatur herabsteigt.9 2. Von der Idee der Stellvertretung (substitution), welche die Einzigartigkeit des menschlichen Subjekts betrifft. Die Ausarbeitung beider Aspekte setzt allerdings nicht bei Jesus von Nazareth an. Es wäre in der Tat auch schwierig gewesen, bereits das Neue Testament für die Idee „Ein Gott-Mensch“ in Beschlag zu nehmen. Nach meiner Kenntnis könnte eigentlich erst der Horos des Konzils von Chalkedon (451) als Beleg dafür eingebracht werden, dass die christliche Theologie tatsächlich diese Idee kennt, freilich in einem langen Nachdenkprozess über Jesus von Nazareth und seine Stellung zum Gott Israels sowie seine soteriologische Funktion, das Heil der gesamten Menschheit und die eschatologische Vollendung der Schöpfung heraufzuführen. Nach katholischer Interpretationshermeneutik ergibt sich, dass der Horos von Chalkedon mit der Grundaussage, Jesus sei vollkommen in seiner Göttlichkeit und vollkommen in seinem Menschsein, eine theologische Interpretation des nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses darstelle und dieses nichts anderes ist als eine regula fidei, um die Texte der christlichen Bibel richtig zu verstehen. Insofern könnte man sagen, die Kurzform „Ein Gott-Mensch“ sei eine christlich-theologische Grundidee. Was aber geschieht mit dieser, wenn sie Emmanuel Levinas aus jüdisch-rabbinischer Hermeneutik interpretiert? Zunächst ergibt sich, dass auch er die Frage nach Gott und Mensch in ihrer gegenseitigen Bestimmung an sich heranlässt. Von einem Gott nach dem alttestamentlichen Zeugnis zu sprechen, betrifft allerdings „Gottes ursprüngliche Vorgängigkeit oder ursprüngliche Letztgültigkeit in Bezug auf eine Welt, die ihn nicht aufnehmen und beherbergen kann“ (S. 78 f.). Seine Erscheinung ist deshalb nicht glorios, sondern er zeigt sich nach 1 Kön 19,12, wie Ciglia mit Rosenzweig übersetzt, als „eine Stimme verschwebenden Schweigens“10 und somit als demütige, ja verfolgte Wahrheit.11 Beim Unendlichen handelt es sich um keine geschichtliche Größe; gleichwohl leuchtet sie als Spur des Unendlichen in abwesender Nähe im Gesicht des Anderen auf. Die erniedrigte Transzendenz kann in der Schöpfung nur im Modus der unvordenklichen Vergangen Levinas führt zur ersten Frage nach der Idee der Kondeszendenz Gottes oder der Demut des Schöpfers aus, dieser Gedanke ermögliche es, die Beziehung zur Transzendenz begrifflich anders zu fassen, als es das naive oder pantheisierende Denken immer schon versucht habe. Das Auftauchen von „Menschengöttern“ sei im Heidentum ja geläufig. Doch wenn die Götter sichtbar werden, verlieren sie ihre Göttlichkeit. Die Philosophie habe nicht von ungefähr (bis zu Hegel) entweder einen beziehungslosen Gott gedacht oder die Welt im Absoluten aufgehen lassen. „So wie die Welt bei den Dichtern die Götter in sich aufnahm, löst sich die Welt bei den Philosophen ins Absolute auf.“ (ebd., S. 74) Das ganze Problem einer bisherigen Philosophie, die das Absolute einordnet, ist darin zu sehen, dass man das Absolute zum denkbaren Zeitgenossen macht. 10 Ciglia, „Dio Uomo“, S. 137, S. 140. 11 Verfolgt ist nach 1 Kön 19 der Prophet Elia, der sich auf der Flucht befindet. Später zitiert Levinas Jes 57,15. Dort ist es der Gott, der bei den Demütigen bleibt, der Gott der Waisen und Witwen. Wenn sich Levinas mit Hilfe der Figur „Ein Gott-Mensch“ aus innerster Nähe zum Christlichen zugleich davon unterscheidet, so am ehesten in dem Punkt, wo die Erniedrigung oder Kenose Gottes christlich umschlägt und zur Identifikation mit einem bestimmten Menschen führt, wie Ciglia mit Recht ausführt. (ebd., S. 144–146)
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heit ins Denken einfallen. Der erniedrigte Gott geht nicht in diese Welt ein und noch weniger in ihr auf, denn die Sprache, mit der Levinas diese Erniedrigung umschreibt, ist nicht die Sprache der Ontologie, sondern die der Ethik, die nur unter der Prämisse eines Zerberstens der transzendentalen Apperzeption, wie noch zu zeigen sein wird, möglich ist und die als solche deshalb auch nicht in Widerspruch zu dem gerät, was die christliche Theologie in ontologischer Denkform unter der Unveränderlichkeit der absoluten Transzendenz gesagt hat. Der erniedrigte Gott, das ist der ethische Gott der Propheten, der – unvordenklich – in seiner absoluten Souveränität verbleibt, wenn er im Gesicht des Anderen mir gegenübertritt. Es scheint, dass sich die christliche Position mit Levinas in dem Punkt trifft, dass Gott – christlich gesprochen: der „Vater“ als der ursprunglose Ursprung – in dieser Welt nicht erscheint, es sei denn, in der Gestalt der Selbsterniedrigung, d. h. des menschgewordenen Wortes.12 Der zweite Aspekt, der bei Levinas im Ausdruck Un Dieu Homme? mitschwingt, betrifft ganz und gar das menschliche Subjekt mit Hilfe des extremen Gedankens der Stellvertretung, die das neuzeitliche Subjekt in seinem Kern, d. h. in seinem Streben nach Identität und Autonomie, fraglich macht. In einer außergewöhnlichen „Transsubstantiation des Schöpfers in das Geschöpf “ (dans cette transsubstantiation13 du Créateur en créature) bestätigt sich Levinas zufolge in der Idee „Gott-Mensch“ die Stellvertretung (substitution; vgl. S. 79).14 In diesem Zusammenhang verwendet Levinas auch das Wort „Inkarnation“, versteht es aber nicht im christologischen Sinn, weil er sonst das Schweigen Gottes und seine demütige Erniedrigung in der Welt punktuell festlegen würde. Levinas aber geht es mit der Idee „Gott-Mensch“ um die Wahrung der Transzendenz im Sinn der unvordenklichen Vergangenheit, die nie ganz Gegenwart bedeutet, und im Sinn der verfolgten, erniedrigten Wahrheit. Dem Subjekt wird aber eine unendliche Verantwortung als Schöpfungsgabe zugetraut. So kann Levinas schreiben: „Das Ich ist derjenige, der vor jeder Entscheidung schon erwählt ist, die ganze Verantwortung der Vgl. Wohlmuth, Josef, „Trinität – Versuch eines Ansatzes“, in: Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube (= QD; Bd. 210), hg. von Striet, Magnus, Freiburg / Basel / Wien 2004, S. 33–69, bes. S. 42–56. 13 Zur Verwendung des Terminus ‚Transsubstantiation‘ vgl. Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, übers. u. hg. von Krewani, Wolfgang N., Freiburg / München 1987, S. 389 f. Dort führt Levinas im Rahmen der Phänomenologie von Sexualität und Zeugung aus, in der Wollust liege eine „Konstellation der ‚Identifikation‘“, eine „Trans-Substantiation“ vor, wo „das Selbe und das Andere nicht miteinander verschmelzen, sondern gerade – jenseits eines jeden möglichen Entwurfs, jenseits eines jeden sinnvollen und intelligenten Könnens – das Kind zeugen“ (ebd., S. 389 f.). 14 Fragt man über die bisher besprochenen Texte hinaus, worin die „Transsubstantiation des Schöpfers in das Geschöpf“ besteht, so ist sie durchaus im Sinn einer „Wesensverwandlung“ zu verstehen. Entscheidend scheint mir dabei, dass „Gott“ nicht als Substanz verstanden werden darf, sondern in der dynamischen Gestalt der Erniedrigung. Entsprechend wäre dann auch das menschliche Subjekt nicht als Substanz zu verstehen, sondern als Subjekt, das in seiner Unendlichkeit zur „Stellvertretung“ berufen ist. Auf diese Weise wird, wie Ciglia zeigt, das Subjekt ein von der Ontologie entkerntes Subjekt und kann so dem anderen Menschen in Freiheit mit gebender Hand (und nicht nur mit schönen Worten) begegnen. Vgl. Ciglia, „Dio Uomo“, S. 150 f. Vgl. dazu auch Sandherr, Susanne, Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas’, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, bes. S. 198–212. Vgl. Dausner, René, Christologie in messianischer Perspektive. Zur Bedeutung Jesu im Diskurs mit Emmanuel Levinas und Giorgio Agamben, Paderborn u.a. 2016.
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Welt zu tragen.“ (S. 82)15 Levinas zufolge impliziert die Idee „Gott-Mensch“ auch, dass der einzelne Mensch nicht als Exemplar der Gattung Menschheit verstanden werden darf. Zugleich leitet er aus dieser Idee ab, dass der Mensch der Stellvertretung der messianische Mensch ist, der die Idee des Unendlichen als Sehnsucht nach dem Guten in sich trägt. Der Schlusssatz des kurzen Beitrags Un Dieu Homme? hat noch einmal programmatischen Charakter und lautet: „Der Messianismus ist eben dieser Gipfel im Sein – die Umkehrung des Seins, das ‚in seinem Sein beharrt‘ –; der in mir seinen Ausgang nimmt.“ (S. 82; im Originalton: „Le messianisme, c’est cet apogée dans l’Être – renversement de l’être ‚persévérant dans son être‘– qui commence en moi.“, S. 76). Es zeigt sich also, dass Levinas zufolge die Idee des Gottmenschlichen über das Messianische zur anthropologischen Dimension jeglichen menschlichen Subjektseins gehört. Was ist das Ergebnis dieses kurzen, vergleichenden Einblicks? In der Gemeinsamkeit einer christlichen Interpretation von „Gott-Mensch“, wie sie im Konzil von Chalkedon zur Sprache kam, zeigt sich eine klare Differenz. Levinas schreibt die „Stellvertretung“, von der unten noch Näheres zu sagen sein wird, jedem Menschen zu, nicht nur dem einen Jesus von Nazareth, von dem Chalkedon sagt, er sei „wahrer Gott und wahrer Mensch“. Ich habe allerdings an anderer Stelle gezeigt, dass man über die Lehre von der ungeschaffenen Gnade des Heiligen Geistes Levinas auf anderem Wege wieder sehr nahekommt: Jeder Mensch erhält durch die Gnade eine messianische, freilich christologisch vermittelte Teilhabe am stellvertretenden Erlösungshandeln Jesu.16 Während sich Levinas mit der Idee Un Dieu Homme befasst, geht Thomas Pröpper vom Phänomen Jesus von Nazareth als einer geschichtlich greifbaren Größe aus. Wenn er von einer Selbstdefinition Gottes im Gekreuzigten spricht, so verbietet sich dies m. E. für Levinas, der seinerseits den Begriff der Spur verwendet, mit der er das Unendliche einerseits vor Definierbarkeit schützt und andererseits in engste Beziehung zum Menschen als inkarniertes, messianisches Subjekt setzt. Meine eigene Position, die sich theologisch an Chalkedon orientiert, hält vor allem fest, dass die Inkarnation im christologischen Verständnis darauf besteht, keinerlei Vermischung zwischen Gott und Mensch zuzulassen. Dies garantiert das chalkedonische asynchýtôs (= unvermischt, unvermischbar).17 Darin scheint mir ein wesentliches Vermischungsverbot zwischen Gott und Mensch, Unendlich und Endlich vorgegeben, das auch für eine theologische Anthropologie, die sich christologisch begründet, wichtig ist. In Nach meiner Überzeugung geht daraus deutlich hervor, dass man Levinas nicht nur alteritätstheoretisch, sondern auch subjekttheoretisch auszulegen hat, subjekttheoretisch allerdings in dem Sinn, dass die „Rekurrenz“ als Transzendenz der Leiblichkeit von der creatio ex nihilo (im levinasschen Sinn: vgl. unten) her verstanden wird, und somit zum „Jenseits des Seins“ gehört. 16 Vgl. Wohlmuth, Josef, „Jüdischer Messianismus und Christologie“, in: Ders., Die Tora spricht die Sprache der Menschen, Paderborn u. a. 2002, S. 161–185, hier: bes. S. 171–181. 17 Dekrete der ökumenischen Konzilien Bd. I (= CODdt. I), hg. von Wohlmuth, Josef, Paderborn u. a. 3 2002, S. 86. Zu den trinitarischen Konsequenzen vgl. Anm. 12. Ich sehe in der griechisch patristischen Tradition, in der von der Agenesie des Vaters gesprochen wird eine gewisse Gemeinsamkeit mit dem sehr auf Transzendenz bedachten Gottesverständnis bei Emmanuel Levinas. Zugleich bleibt die Erniedrigung Gottes in Jesus von Nazareth auch dann phänomenologisch greifbar, wenn er bis zum Verstummen am Kreuz die Transzendenz Gottes (des Vaters) wahrt. Vgl. Ciglia, „Dio Uomo“, S. 152–158. 15
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diesem Punkt gibt es eine deutliche Übereinstimmung zwischen Thomas Pröpper und meinem an Levinas orientierten Ansatz.
2. Streit um Descartes René Descartes, der französische Philosoph (1596–1650), ist in seiner Bedeutung für das neuzeitliche Denken und dessen Einfluss auf die Theologie nicht zu unterschätzen. Entsprechend ist auch seine Rezeption in Philosophie und Theologie bis heute entsprechend kontrovers und intensiv zugleich. Jean Greisch schreibt in einem grundlegenden Beitrag über den cartesianischen Gottesbegriff bei Levinas: „Unter den zeitgenössischen Phänomenologen hat niemand die Eigenart des Cartesianischen Gottesbegriffs besser erfasst als Emmanuel Levinas, und zwar aus guten Gründen.“18
2.1 Descartes – Kritiker der Gottesbeweise und Denker des Unvordenklichen Thomas Pröppers Interpretation, die er im 5. Kapitel seiner Theologischen Anthropologie unter der Überschrift „Subjektivität und Gottesfrage“ vorgelegt hat,19 unterscheidet sich deutlich von der Descartes-Lektüre bei Emmanuel Levinas. Es geht um die neuzeitliche Subjektgebundenheit der Gottesfrage. Pröpper fragt, wie es möglich sei, dass „[d]as Bewußtsein meiner selbst […] eo ipso das Bewußtsein von der Endlichkeit meines Bewußtseins“ ist. Darauf folgend zitiert Pröpper Descartes’ Antwort: „Wann immer ich nur darauf achte, ‚daß ich zweifle, d. h. […] ein unvollkommenes und abhängiges Wesen bin, dann findet sich eine […] klare und deutliche Vorstellung eines unabhängigen und vollkommenen Wesens – d. h. Gottes – bei mir ein‘.“ (Zit. 382 f.) Pröpper zitiert sogar Descartes mit dessen These, wonach „der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst gewissermaßen vorhergeht […]“ (Zit. 383). Pröpper folgert sodann, die Idee Gottes sei „ein notwendiges Implikat des menschlichen Selbstbewußtseins als eines endlichen“ (S. 383). Descartes ist auch für Emmanuel Levinas von großer Bedeutung. In seinem Aufsatz Gott und die Philosophie bemerkt er, dass Descartes in seiner Meditation „mit unvergleichlicher Strenge den außergewöhnlichen Weg eines Denkens gezeichnet [hat], das Greisch, Jean, „Phänomenologie des Unendlichen“. Levinas und der Cartesische Gottesbegriff, in: Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, hg. von Fischer, Norbert / Sirovátka, Jakub, Hamburg 2013, S. 11–48, hier: S. 40. Dies schreibt Greisch im Abschnitt 8 „Unterwegs zu einer Phänomenologie der Idee des Unendlichen“ (ebd., S. 40–46) mit Bezug auf die Dritte Meditation. Zuvor bietet Greisch eindrückliche Analysen der Gottesfrage bei Descartes, nach denen Greisch mit Jean-Luc Marion zu dem Ergebnis kommt, dass von den drei Gottesnamen (oder Gottesattributen): Unendlichkeit, causa sui und ens perfectum, heute vor allem die „Unendlichkeit“ neu zu bedenken ist. Dafür ist das Werk von Emmanuel Levinas ein einzigartiges Zeugnis. Vgl. zur Analyse von Levinas’ Gott und die Philosophie bei Jean Greisch vor allem S. 42–46. 19 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie I, S. 320–487, hier: bes. S. 381–387. 18
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bis zum Bruch des Ich denke geht“.20 Sogleich fügt Levinas aber hinzu, die dabei verwendeten Adjektive und Adverbien wie z. B. „hervorragend“ seien einer substanzialistischen Sprache entnommen, die sich letztlich der Sprache der Ontologie verdanke, auch wenn sie die Höhen des Himmels zu erreichen versuchte. „Darin aber liegt für uns gerade nicht sein unüberholbarer Ertrag. Nicht die Beweise der Existenz Gottes interessieren uns hier, sondern der Bruch des Bewußtseins.“ (S. 95) Das entscheidende Wort ist hier „Bruch des Bewusstseins“. Damit deutet sich bereits ein Trennungsstrich zu Pröppers Interpretation an. Levinas schreibt: „Als cogitatum einer cogitatio […] übersteigt aber die Idee Gottes als der Nicht-Inhalt schlechthin jede Fassungskraft. […] Die Gottesidee zerbricht das Denken, welches – als ‚Einschließung‘, Synopsie und Synthese – nur in eine Gegenwart einschließt, ver-gegenwärtigt, auf die Gegenwart zurückführt oder sein läßt.“ (S. 96) Dann kommt auch Levinas auf die dritte Meditation zu sprechen und zitiert genau jene Stelle, die Thomas Pröpper zitiert hat. Nachdem Descartes nämlich in den vorausgehenden Überlegungen „die Gewissheit des seiner selbst gegenwärtigen cogito“ erreicht hat, verkünde nun die dritte Meditation, dass „ich gewissermaßen den Begriff des Unendlichen früher in mir habe als den des Endlichen, d. h. den Gottes früher als den meiner selbst“ („que ‚en quelque façon premièrement en moi la notion de l’inifi que du fini, c’est-à dire de Dieu que de moimême‘“).21 Die zeitliche Vorgängigkeit des Unendlichen vor dem Endlichen führt Levinas zu der Unterscheidung zwischen Passivität und Rezeptivität. Letztere habe immer noch ein Element des Aktiven an sich, weil selbst ein Geschlagener die Schläge noch aktiv aufnimmt. Demgegenüber sei die hier gemeinte Passivität der Inbegriff von Passivität (passivité plus passive que toute passivité), die einem Trauma gleicht, das uns befällt, ohne es intendiert oder übernommen zu haben. Die Idee Gottes gleiche einem in uns gesetzten Trauma. Deshalb lasse sich die in uns gesetzte Idee Gottes nicht mit gewöhnlichen Bewusstseinsinhalten gleichsetzen. Von dieser Idee, die nach Descartes „angeboren“ ist, gelte: „Überraschung oder Empfangen dessen, was man nicht übernehmen kann, offener als jede Eröffnung – Erwachen – das aber an die Passivität des Geschöpflichen denken läßt.“ (S. 98) Den Aspekt der Geschöpflichkeit hebt Pröpper zu dieser Stelle nicht hervor, obwohl er bei Descartes betont und von Levinas mit Recht aufgegriffen wird. Stattdessen geht Pröpper zur Interpretation der vierten Meditation über, um den Aspekt der Freiheit hervorzuheben, den Levinas an dieser Stelle nicht herausarbeitet. Später bemerkt Pröpper zu Descartes lobend, 20 21
Vgl. Levinas, „Gott und die Philosophie“, S. 95. Die Übersetzung des Ausdrucks „premièrement … que“ mit „früher … als“ dürfte dem Französischen näherkommen als „vorhergehen“ in der deutschen Meinerausgabe, die Pröpper zitiert. So erhält der zeitliche Index bei Levinas einen zusätzlichen Akzent. Vgl. Levinas, Emmanuel, De Dieu qui vient à l’idee, Paris 1992 (pour l’édition de poche), S. 106. Jean Greisch hält fest: „Solange wir uns auf dem Immanenzplan des cogito bewegen, sind alle Beziehungen der Bewußtseinsinhalte synchron. Diese Synchronie wird durch den Einbruch der Gottesidee durcheinandergebracht, die ‚früher‘ als das Bewußtsein und das cogito ist. Gott ist ‚früher‘ als ich selbst: Das ist keine rein ‚chronologische‘ These – Er war schon da, ehe ich ‚auf die Welt‘ kam, und er wird es auch noch sein, wenn ich sie verlassen habe –, sondern eine weit radikalere These: die Idee Gottes ist ursprünglicher als die des cogito.“ Greisch bemerkt dann weiter, dass Levinas den Ausdruck ‚angeborene Idee‘ „durch die biblische Rede der ‚Inspiration‘ (ersetzt)“. Greisch, „Phänomenologie des Unendlichen“, S. 45.
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„daß er Gott als Thema des Menschen und seiner Vernunft unlösbar mit ihrer Einsicht in die eigene Endlichkeit verknüpfte“ (I, S. 402). Dies stellt freilich eine negative Version der Theologie des Unendlichen dar, mit der sich Levinas nicht begnügt. Jean Greisch zufolge ist die Verantwortung für den Anderen eine unendliche und macht den Begriff der Unendlichkeit (und Gottes) positiv. Dabei ist freilich immer zu beachten, worauf es Levinas ankommt, nämlich, dass es ihm um die Idee Gottes geht, nicht um die Frage seiner Existenz.22 Das Unendliche ist, wie Levinas in Gott und die Philosophie entwickelt, „nicht etwa bloß als abstrakt formal-logische Negation des Endlichen durch das Unendliche aufzufassen“. Vielmehr gilt: „[D]ie Idee des Unendlichen oder das Unendliche im Denken ist die eigentliche und irreduzible Gestalt der Negation des Endlichen. Das Un des Unendlichen ist nicht irgendein Nicht: seine Negation ist die Subjektivität des Subjekts hinter der Intentionalität. Die Differenz von Unendlichem und Endlichem ist eine Nicht-Indifferenz des Unendlichen gegenüber dem Endlichen und das Geheimnis der Subjektivität.“23 Es ist, wenn man Descartes folgen will, die bei meiner Erschaffung in mich gesetzte Gestalt des Unendlichen. Dieses Denken ist gleichsam „aus dem Sattel gehoben“ und somit kann das Unendliche durch unser Denken nicht begriffen werden. Dies kommt aber bei Levinas nicht auf dasselbe hinaus, „wie zu sagen, daß das Unendliche nicht endlich sei“ (S. 100 f.), es handle sich vielmehr um ein Denken, „das durch dieses Nichtbegreifen als Denken gesetzt wird, als gesetzte Subjektivität“ (S. 101; Hervorhebung von J.W.). Descartes spricht von einem Denken, das geschaffen ist. Das Unendliche affiziert das Denken, so dass dieses erwacht. Es wird weder empfangen noch andächtig aufgenommen und wird deshalb auch nicht zur Erfahrung. „Die Idee des Unendlichen ist die Infragestellung davon.“ (S. 101) Levinas gibt deshalb in Form einer Frage zu bedenken: „Was ist der Sinn des Traumas des Erwachens, in dem das Unendliche sich nicht korrelativ zum Subjekt setzen, noch in eine Struktur mit ihm eintreten, noch ihm in e iner Ko-Präsenz zeitgleich werden kann – sondern wo es das Subjekt transzendiert?“ (S. 102) Was ist das für eine Transzendenz, die auch die formalste Ko-Präsenz ausschließt? Gleichwohl bezeichnet bei Levinas das Un im Unendlichen eine tiefe Berührung (affection), ohne dass die Subjektivität sie zu begreifen oder zu fassen vermag. Der Ort der Setzung wird wie durch ein verheerendes Feuer verwüstet. Es geht um Blendung der Augen oder Verbrennung der Haut. So werde ein Denken wachgerufen, das dazu bestimmt ist, „mehr zu denken als es denkt“ (S. 103). „Die Negation des Un des Unendlichen – ‚anders als sein‘, göttliche Komödie – erzeugt eine Sehnsucht, die sich nicht stillen kann, die sich von ihrem Größer-Werden selbst nährt und als Sehnsucht […] in dem Maße steigert, in dem sie sich dem Ersehnenswerten nähert.“ Es geht nicht um Bedürfnisbefriedigung, sondern um eine „[e]nd-lose Sehnsucht [désir], jenseits des Seins“, um „Sehnsucht nach dem Guten“ (S. 103). Deshalb wäre Descartes, wie Levinas meint, unterfordert, wenn man nur die eigene Endlichkeit davon ableiten würde. Vgl. Greisch, „Phänomenologie des Unendlichen“, S. 44, S. 40. Vgl. Levinas, „Gott und die Philosophie“, S. 100.
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An diesem Punkt angekommen, problematisiert Levinas das Erreichte sogleich mit folgenden Fragen: Gibt es eine Sicherheit, dass wir es hier wirklich mit Transzendenz zu tun haben, die sich ereignet, die geschieht (s’y passe)? Könnte es nicht sein, dass dem Sehnenden das Ersehnte gefällt, sodass er es schließlich seiner Intention, die das Ersehnte bereits ergriffen hat, verdanken könnte? Ist denn klar, dass die Sehnsucht nach dem Unendlichen nicht einem Interesse gleichkommt, sodass sich das Ganze doch noch im Bereich des Ontologischen abspielt? Wie lässt sich begründen, dass das transzendente Unendliche den Namen „das Gute“ verdient? Damit die Sehnsucht nach dem Unendlichen über das Sein hinausgeht und nicht in der Immanenz verbleibt, so antwortet Levinas (mit Blick auf die Liebe ohne Eros, d. h. eine absichtslose, nicht intentionale Liebe bei Platon), „muß das Ersehnenswerte oder Gott in der Sehnsucht getrennt bleiben, als ersehnenswert – nahe, aber unterschieden – heilig [Saint]“ (S. 105). Darauf folgt ein gravierender Satz, in dem sich der gesamte philosophische Ansatz von Emmanuel Levinas ausdrückt: „Dies ist nur möglich, wenn das Ersehnenswerte mich auf das ausrichtet, was das Nicht-Ersehnenswerte ist, auf das Nicht-Ersehnenswerte schlechthin, den Anderen.“ (S. 105) Levinas verweist dabei auf sein Theorem der „Stellvertretung“, das er in seinem Werk Jenseits des Seins in notwendiger Breite behandelt. Darin habe sich gezeigt, dass „dem transzendentalen Subjekt sein Kern genommen“ wird: „Transzendenz der Güte, Adel des reinen Erduldens, Selbstheit [ipséité] reiner Erwählung. Liebe ohne Eros.“ (S. 106) Im Theorem der Stellvertretung zeigt sich bei Levinas, dass die Subjektivität nicht das „Ich denke“, auch nicht „die Einheit ‚der transzendentalen Apperzeption‘“ ist. Subjektivität ist vielmehr „als Verantwortlichkeit für den Anderen Sich-dem-Andern-Unterwerfen [sujétion à autrui]“ (S. 106). Das Subjekt findet sich somit im Akkusativ vor, der niemals im Nominativ war. In seinem Beitrag Die Philosophie und die Idee des Unendlichen24 hat Levinas erneut auf Descartes verwiesen und auf die Grenze aufmerksam gemacht, an der er ihm seine Gefolgschaft versagt. Bei Descartes bleibe „eine gewisse Zweideutigkeit, da das cogito sein Fundament in Gott hat, andererseits aber die Existenz Gottes begründet: Die Priorität des Unendlichen ordnet sich der freien Zustimmung des Willens, der ursprünglich Herr seiner selbst ist, unter.“ Dies ist der Punkt, wie Levinas schreibt, „an dem wir uns vom wörtlich verstandenen Cartesianismus trennen. Das Unendliche ist nicht Gegenstand einer Kontemplation, d. h. es ist nicht nach dem Maße des Denkens, das es denkt […] Ein Denken, das mehr denkt, als es denkt ist Begehren [désir]. Das Begehren ‚ermißt‘ die Unendlichkeit des Unendlichen“ (S. 201). Bei Emmanuel Levinas bleibt Descartes auch im Spätwerk Jenseits des Seins als Gesprächspartner diskussionswürdig. Erneut ist es die Idee des Unendlichen, „die bei Des cartes ihren Ort in einem Denken hat, das sie nicht zum Inhalt machen, das sie nicht umfassen kann […]“ (S. 322). Das Bedrängende dieser Idee, von der wir schon wissen, dass sie nicht erfasst werden kann, liegt wie eine Last auf dem Subjekt, die Levinas auch mit dem biblischen Terminus „Herrlichkeit“ (hebr. = kabod) umschreibt. Diese sei aber 24
In: Levinas, Emmanuel, Die Spur des Anderen, Freiburg / München 1993, S. 185–208.
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weder Vorstellung noch Gesprächspartner, die auf mich einwirken. Die Herrlichkeit verherrlicht sich vielmehr dadurch, dass sie mir „durch meinen Mund gebietet“ und „mir durch meine eigene Stimme befiehlt“. „Das unendlich Außerhalb-Bleibende wird zur ‚inneren‘ Stimme, zur Stimme aber, die den Riß des inneren Geheimnisses bezeugt“; es ist die Weise des Gebotes, „im Mund dessen zu erklingen, der gehorcht, sich früher zu ‚offenbaren‘ als alles Erscheinen, als alles ‚Präsentwerden vor dem Subjekt“ (S. 322); „es ist die Modalität, in der das an-archisch Unendliche seinen Anfang übersteigt“ (S. 322f.).25 Vom Unendlichen gibt es Levinas zufolge keine Erfahrung, sondern nur Verantwortung für den Nächsten. „Die Art, in der das Unendliche das Endliche überschreitet, und darin sich vollzieht, hat eine ethische Bedeutung, doch heißt das nicht, daß sie dem Plan entspricht, eine ‚transzendentale Grundlegung‘ der ‚ethischen Erfahrung‘ zu erstellen. Das Ethische ist jenes Feld, das durch das Paradox eines mit dem Endlichen in Beziehung stehenden Unendlichen beschrieben wird, welches sich gleichsohl durch diese Beziehung nicht Lügen straft. Das Ethische ist das Zerbersten der Ureinheit der transzendentalen Apperzeption – das heißt das Jenseits des Erfahrung.“ (S. 325)
2.2 Abwägung der Relevanz Dies sind bedeutungsschwere Sätze, die zugleich eine Markierung gegenüber allen Versuchen darstellen, die Rede vom „Ethischen“ bei Levinas mit einer materialen philosophischen oder theologischen Ethik zu verwechseln. Das Ethische umschreibt vielmehr die Abgründigkeit des menschlichen Subjekts, das angesichts der Alterität des Antlitzes das Unendliche in der eigenen Stimme vernimmt und mit der Umkehrung der Herrschaft des Ich auch alle Intentionalität umkehrt. In Abkehrung von Descartes’ Verständnis des Leib-Seele-Problems bringt Levinas mit dem Terminus „sagen“ zum Ausdruck, dass es beim „Menschen aus Fleisch und Blut“ ein reines, leibhaftiges Geben ist, in dem 25
Jean-Luc Marion hat in Étant donné einen kurz gedrängten Einblick in die phänomenologischen Versuche, welche das Verständnis der Differenz betreffen, bei Heidegger, Levinas und Derrida gegeben und diesen Positionen seinen eigenen Versuch gegenübergestellt. Vgl. Marion, Jean-Luc, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997, S. 405–408. In zeittheoretischem Zusammenhang zieht Marion noch radikaler als Levinas den Schluss, zwischen (göttlichem) Ruf und (menschlicher) Antwort gebe es eine unvergleichliche Differenz: „L’appel précède le répons, qui ne cesse d’avouer et de combler son retard en multipliant ses réponses, dont la succession ouvre rien de moins qu’une historicité propre à l’adonné: l’histoire de l’adonné tient à la somme des réponses, qui le rapprochent et l’éloignent à la fois de l’appel.“ (ebd., S. 407) Der Ruf geht also der Antwort voraus, und diese anerkennt und erfüllt unablässig ihre Verspätung. Daraus ergeben sich die vielen Antworten, aus der die Geschichtlichkeit des Subjektes hervorgeht, welche eine solche des adonné ist. Aber die Differenz von Ruf und Antwort darf Marion zufolge nicht zeitlich verstanden werden. Deshalb kann man den Ruf als unvordenkliche Vergangenheit verstehen, aber ebenso als Zukunft, auf die hin die Antworten erfolgen, und ebenso als Gegenwart, die den adonné in jedem Augenblick betrifft. Die Zeitigung selbst wird nicht verzögert; in der Antwort hallt der Ruf wider. Dieser Widerhall aber geschieht genau im Augenblick der Antwort. So wird das Subjekt als l’adonné in strikt phänomenologischem Sinn zum „Ort“ des Widerhalls, indem sich der Ruf in dem gibt, was sich zeigt, nämlich in der erfolgenden Antwort. Nur die „Gegebenheit“ (donation), die in all ihren Instanzen entfaltet ist, kennt eine Differenz. So verspätet sich die Entstehung des Sichtbaren, aber es entsteht allein in dieser Verspätung. Die Zeitlichkeit selbst wird nur durch das Bezeugen verspätet.
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„der ganze Ernst und die ganze ‚Schwere des Leibes‘, […] in der Möglichkeit des Gebens seinem conatus essendi entrissen ist“26. Levinas meint mit dem Begriff „Rekurrenz“ jenen Rücklauf auf Anfängliches, Grundlegendes. Die Rekurrenz ist das genaue Gegenteil zu einer Rückkehr zu sich selbst und zum Selbstbewusstsein. Sie ist vielmehr „Aufrichtigkeit, Sich-Verströmen, Sich-‚Ausliefern‘ an den Nächsten“ (S. 327). Auf diese Weise zeichnet sich der Rückweg im Hinweg ab, der Anruf wird erst in der Antwort verstehbar. (S. 327 f.) Levinas fragt, wie sich das Sagen von einem Akt unterscheidet, der in einem Ich voller Eroberungs- und Willenskraft ansetzt, und besteht darauf, dass „Offenbarung durch denjenigen [geschieht], der sie empfängt“ (S. 341) – also durch das menschliche Subjekt. Aber der Philosoph fragt weiter, ob dadurch die Offenbarung vielleicht nur ein Wort sein könnte. Dabei besteht Levinas sogar auf dem „Vielleicht“ und schreibt, es gehöre „zu einer Doppeldeutigkeit, in der die Anarchie des Unendlichen der Eindeutigkeit eines Ursprünglichen oder eines Prinzips widersteht; zu einer Doppeldeutigkeit oder einer Ambivalenz und zu einer Umkehrung, die gerade in dem Wort Gott zum Ausdruck kommt – jenem Hapaxlegomenon der Sprache, Eingeständnis eines ‚stärker als ich‘ in mir und eines ‚weniger als nichts‘, eines ‚nichts als ein nichtssagendes Wort‘, ein Jenseits-des Themas in einem Denken, das noch nicht denkt oder das mehr denkt als es denkt“ (S. 341). Levinas hat in Jenseits des Seins schon zuvor betont, dass ein Beweis für die Existenz Gottes nicht gelingt, und stimmt diesbezüglich mit Thomas Pröpper überein. Aber ich höre den Vorwurf an Levinas gerichtet, dass eine Gottrede, die auf Doppeldeutigkeit beruht und dem Unendlichen das Theorem prinzipieller Ursprünglichkeit versagt, mit der transzendentalen Logik schließlich die Logik selbst zerstört. Levinas setzt dem die Frage entgegen: „Ist die Frage nach Existenz oder Nicht-Existenz die letztgültige Frage?“ Und er antwortet darauf: „Hinter der Bedeutsamkeit der Bedeutung und der Nähe des Nächsten das Problem der Existenz Gottes aufwerfen, entspräche dem, wie man sagt, Verlangen, letzte Gewißheit zu haben und sich nicht täuschen zu lassen durch das ‚Nichts‘ und durch Worte.“ (S. 212) Eindeutigkeit und Gewissheit aber gibt es nur im Bereich des Seins.
3. Freiheit Gottes und des Menschen 3.1 Transzendentaler Ansatz In Theologische Anthropologie I, Kapitel 6, fasst Thomas Pröpper in Wort und Argument zusammen, worum es ihm mit seinem fundamentalen Ansatz geht. Konzentrieren möchte ich mich in meiner Darstellung des Kapitels „Gottes möglicher Partner und Freund – Freiheitstheoretische Erschließung der Bestimmung des Menschen“27 nur auf die Eckpunkte des philosophischen Ansatzes Pröppers, den er im Anschluss an Hermann Krings entwirft. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, S. 311 f. Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie I, S. 488–656.
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Dieses Kapitel stellt die Mitte des gesamten Werkes dar. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu einem Gott, von dem konsequent zu sagen ist, „daß er sich selber dazu bestimmt hat, sich von der menschlichen Freiheit bestimmen zu lassen, d. h. die Würde ihrer Zustimmungsfähigkeit zu achten und auf ihr Tun – bis zur eigenen Entäußerung – antwortend einzugehen: in Offenheit einer Geschichte also, die ihre verheißungsvolle Zukunft Gottes unerschöpflicher Innovationsmacht und ihre Kontinuität der Treue seines unbedingten Heilswillens verdankt“ (S. 489 f.). Hier wird nicht nur gesagt, die menschliche Freiheit komme von Gott, sondern dieser Gott habe sich selbst dazu bestimmt, sich vom freien Menschen bestimmen zu lassen.28 Pröpper grenzt sich dann gegen bestimmte philosophische Systeme ab, von Spinoza über Hegel bis zu Descartes und dessen These, „daß nur der existierende Gott selber der Urheber unserer Idee von ihm sein könne“ (S. 491). Als Gegenmodell schwebt Pröpper vor, „daß nämlich der freien Vernunft selbst, dem ‚Vermögen des Unbedingten‘, die Fähigkeit eigne, alles Bedingte und noch den Bereich des Bedingten als solchen zu überschreiten, das Bewußtsein der Kontingenz ihres eigenen und allen als endlich begreifbaren Daseins zu erzeugen, auf diesem Weg die äußerste Frage nach absoluter Begründung aufzuwer[f]en und somit von sich aus für die Genese der Gottesidee aufkommen, zumindest jedoch ihren theologisch benötigten (philosophischen) Minimalgehalt bestimmen zu können“ (S. 492). Hier wird die Herkulesarbeit der menschlichen Vernunft zur Sprache gebracht, die herausfordernd erscheint. Ist die dichte Verkürzung der These als solche bereits ein glattes Gegenmodell gegen Emmanuel Levinas und alle, die ihm folgen oder ihn philosophisch weitergeführt haben, wie Jean-Luc Marion? Pröpper betont, dass der Glaube, der sich mit Gottes Offenbarungshandeln begründet, nur als menschlicher Akt möglich ist. Dies erscheint nahe an Emmanuel Levinas und dem Theorem „Gottes Wort in Menschenwort“ bzw. „Die Tora spricht die Sprache der Menschen“ formuliert.29 Dabei möchte der Mensch als Subjekt seines Glaubens und seines vernünftigen Denkens mit sich identisch sein. (S. 493) Wenn Glaube und Vernunft darin übereinkommen, „daß Gott in der Geschichte Jesu seine unbedingt für die Menschen entschiedene Liebe erwiesen und in ihr sich selbst geoffenbart hat, dann ist dies […] in Kategorien der Freiheit zu explizieren“ (S. 494). Hier fällt mir die Struktur des Satzes mit „Wenn … dann“ auf. Diese signalisiert nicht selten, dass die Offenbarung ihrer transzendentalen Begründung vorausgeht. Oben habe ich ausgeführt, dass bei Levinas das Gebot und die Stimme Gottes nur in der menschlichen Antwort hörbar werden, sie jedoch dem Bewusstsein und seinen zeitlichen Strukturen vorausgehen. Andererseits gehen sie in die zeitsynthetisch strukturierte Sprache ein. Deshalb kann es bezüglich der Rolle des Subjekts im Hören der Botschaft kein Entweder-oder geben. Gottes Wort ist nur im Menschenwort vernehmbar. An diesem Punkt gibt es Berührungspunkte mit Thomas Pröppers Verständnis der Glaubenserfahrung. An Hand Dies scheint mir sogar noch über ein denkwürdiges Wort der frühen Theologiegeschichte hinauszugehen, in dem es heißt: Deus in nobis atque nobiscum, ut operemur operatur. Zweites Konzil von Orange (529), DS (= DH) 379. 29 Vgl. Wohlmuth, Die Tora spricht die Sprache der Menschen, S. 11. 28
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e ines kurzen Einblicks in die Glaubensgeschichte Israels zeigt er das Thema „Freiheit“ in der Befreiung aus Ägypten, in der Verkündigung des Gottesreiches, am paulinischen Freiheitsbegriff und letztlich schon in Jesu Verkündigung auf. Zu Jesu Position schreibt Pröpper: „Er hat die Freiheit anerkannt, die er suchte, und indem er sie anerkannte, befreite er sie.“ (S. 496) Ein metaphysischer Beweis der Freiheit wäre allerdings ebenso problematisch wie ein metaphysischer Gottesbeweis. Für Pröpper gehört die Freiheit zur Gottebenbildlichkeit und somit zum geschöpflichen Wesen des Menschen. Wer dies bejaht, hat aber die Freiheit als theologische Denkform noch nicht begründet. (S. 497) Sobald sich die Theologie jedoch, wie Pröpper ausführt, die Möglichkeiten des Freiheitsdenkens zunutze macht, muss sie sich auch auf die formale Unbedingtheit der Freiheit einlassen. Freiheit hat „als die unbedingte Instanz zu gelten, an der jedes Denken, auch das theologische, sofern es human bleiben will, sich orientieren muß“ (S. 498). Dann aber müssen auch die Errungenschaften des neuzeitlichen Freiheitsdenkens ernst genommen werden. Dabei geht Pröpper von einer „fortschreitenden Selbstreflexion des neuzeitlichen Denkens“ aus, woraus sich auch ergibt, dass die Gottesfrage nicht von der Frage nach dem Menschen getrennt werden kann. (S. 499) In diesem Punkt herrscht m. E. erneut Übereinstimmung auch mit Emmanuel Levinas und den theologischen Konsequenzen, die für mich daraus folgen. In der Annäherung an „einen Begriff der Freiheit, die als unbedingte Bedingung jenen Charakter formaler Unbedingtheit generiert“, reichen – wie Pröpper weiter ausführt – phänomenologische Angänge nicht aus, wenngleich sie einige Aspekte aufzeigen können, zu denen Pröpper zunächst das menschliche Freiheitsvermögen als „Sachverhalten“ zählt, das Kierkegaard zufolge bedeutet, sich spontan zu etwas ins Verhältnis zu setzen oder zu distanzieren, ferner sich an Gegebenes zu binden oder sich davon zu lösen, Vollzüge, die letztlich „aus dem Akt eines unbedingten und daher grenzenlosen Sichöffnens“ resultieren. (S. 501) Affirmation oder Negation sind weitere Phänomene, ebenso die Wahlfreiheit bis hin zur „Selbstwahl“, die bei Kierkegaard „als Wahl der Freiheit die Freiheit der Wahl erst ermöglicht und den Unterschied von Gut und Böse eröffnet“ (S. 502). Diese Akte verweisen auf ein Subjekt, das sich in seinem Handeln konstituiert. Weiter führt dies zur „Freiheit als Selbstbestimmung“ (S. 503), zu der Pröpper schreibt: „Freiheit als Selbstbestimmung, derart ohne ein Moment der Fremdbestimmung als originärer Entschluss für Gehalt verstanden, hat den Charakter der Unbedingtheit.“ (S. 504) Pröpper bespricht in diesem Zusammenhang auch die Formen politischer Selbstbestimmung. Freiheit ist gehaltlich vermittelte Selbstbestimmung und als solche ist sie (politisch) realisierte Freiheit. Zu deren transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit gehören Krings zufolge folgende Elemente: „[…] ‚das ursprüngliche >Sich-Öffnen