Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen: Eine Studie zum Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen 9783110729733, 9783110716160, 9783110729795, 2021944283

This study presents a phenomenological approach to word-internal vowel sequencing. Diphthongs and hiatuses are thus not

197 118 11MB

German Pages 222 [224] Year 2021

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Table of contents :
Vorwort und Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Glossierung (cf. Leipzig Glossing Rules 2015)
1 Einleitung und Standortbestimmung
2 «… there is little extra to be said about diphthongs» … oder vielleicht doch?
3 Gestaltphonologie: Plädoyer für eine wortökologische Sichtweise
4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen
5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen
6 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie
Bibliographie
Anhang
Register
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Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen: Eine Studie zum Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen
 9783110729733, 9783110716160, 9783110729795, 2021944283

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Alexander M. Teixeira Kalkhoff Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen

Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie

Herausgegeben von Éva Buchi, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti und Wolfgang Schweickard

Band 458

Alexander M. Teixeira Kalkhoff

Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen Eine Studie zum Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-071616-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072973-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072979-5 ISSN 0084-5396 Library of Congress Control Number: 2021944283 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu. (Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate, q. 2, a. 3, arg 19.)

Vorwort und Danksagung Vorliegende Studie ist die überarbeitete Version meiner Habilitationsschrift «Gestaltphonologische Interpretation der komplex-vokalischen Wortgestaltung im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen», die 2016 vom Fakultätsrat der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg einstimmig angenommen wurde. Besonderen Dank gebührt deshalb meinen Habilitationsmentoren, Frau Prof. Dr. Maria Selig (Universität Regensburg, Romanistik), Herrn Prof. Dr. Andreas Dufter (Ludwig-Maximilians-Universität München, Romanistik) und Herrn Prof. Dr. Johannes Helmbrecht (Universität Regensburg, Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft) und meinen Habilitationsgutachtern, Frau Prof. Dr. Maria Selig (Universität Regensburg, Romanistik), Frau Prof. Dr. Christine Mooshammer (Humboldt-Universität zu Berlin, Phonetik) und Herrn Prof. Dr. Roland Schmidt-Riese (Katholische Universität Eichstätt, Romanistik). Das Thema formte sich im Kontext meiner universitären Lehrtätigkeit an der Universität Regensburg heraus, wo ich in Kursen zur älteren Sprachstufe Diphthongierungsprozesse weitschweifig besprach, während ich in meinen Phonetik- und Phonologiekursen – nicht selten noch am selben Tag vor derselben Hörerschaft – erklären musste, dass es etwa im Gegenwartsfranzösischen keine Diphthonge gäbe, oder versuchte, diphthongisch-hiatische Realisierungsschwankungen spanischer Vokalsequenzen normativ in den Griff zu bekommen. Hier danke ich Frau Apl. Prof. Dr. Annette Endruschat (Universität Regensburg, Romanistik), die mich darin bestärkte, diesen Phänomenen auf den Grund zu gehen. Frau Dr. Patricia Serbac (George-Emil-Palade-Universität Târgu Mureș) danke ich für die Vermittlung rumänischer Muttersprachler und für die Diskussion rumänischer Vokalsequenzierungen. Zu Dank verpflichtet bin ich allen Probanden, die an den Sprachexperimenten teilgenommen haben. Den Herausgebern der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie und dem De Gruyter-Verlag danke ich für die Aufnahme ins Verlagsprogramm. Danken möchte ich den anonymen Gutachtern meines Manuskripts sowie Frau Christine Henschel für die Betreuung der Drucklegung. Mein Dank gilt auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Nürnberg, im Oktober 2021

https://doi.org/10.1515/9783110729733-202

Inhaltsverzeichnis Vorwort und Danksagung Abkürzungsverzeichnis

VII XI

Glossierung (cf. Leipzig Glossing Rules 2015)

XIII

1

Einleitung und Standortbestimmung

1

2

«… there is little extra to be said about diphthongs» … oder vielleicht doch? 7

3

Gestaltphonologie: Plädoyer für eine wortökologische Sichtweise 25 Die Idee einer Gestaltphonologie 25 Die menschliche Wahrnehmung und Gestaltgesetze 27 Spuren im Geist: Integriertes kognitionsphonologisches Modell 29 Gestaltphonologische Beschreibungsparameter 36 Exkurs 1: Intensitätsverläufe als Wortgestaltungseffekte 46

3.1 3.2 3.3 3.4

4

4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4

Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen 59 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung 63 Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns 64 Diphthongierung unter Einfluss der Nachbarlaute 73 Metaphonie 75 Koaleszenz 77 Koaleszenz durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate 78 Koaleszenz durch Ausfall intervokalischer Konsonanten Koaleszenz durch Vokalisierung von Konsonanten, besonders von /l/ 81 Konsonantische Entwicklungspfade zu palatalem /j/ und labiovelarem /w/ 84

79

X

Inhaltsverzeichnis

4.5 4.6

5

5.1 5.2 5.3

5.4 5.5 5.6

6

Phonologische Integration von Lehnwörtern Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, diachronisch 90

Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen 97 Portugiesisch 97 Spanisch 104 Französisch 117 Exkurs 2: Diphthonge im «verlan» 122 Exkurs 3: Französische Diphthonge in einem Reimexperiment 131 Italienisch 133 Rumänisch 140 Exkurs 4: Vokalsequenzen in diatopischen Varietäten 148 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, synchronisch 150 Exkurs 5: Sprachlautbewusstsein als Indikator für den kognitiven Status von Diphthongen 155 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie

Bibliographie Anhang

169

173

199

Register E1

86

205

Erratum zu: Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen. Eine Studie zum Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen

209

Abkürzungsverzeichnis * > < Ø →

/…/ […] afrz. ahd. aport. aspan. BP bulg. C cf. dako-rum. engl. EP frz. G got. griech. i.e. istro-rum. ital. kalabr. klat. lat. mazedo-rum. megleno-rum. mfrz. mhd. nfrz. nhd. nport. nspan. port. rum. SD slaw.

nicht belegt entwickelt sich sprachgeschichtlich zu entwickelt sich sprachgeschichtlich aus Form fällt im Laufe der Sprachgeschichte aus kodiert als, wird umgewandelt in graphische Notation phonologische Notation phonetische Notation Altfranzösisch Althochdeutsch Altportugiesisch Altspanisch Brasilianisches Portugiesisch Bulgarisch Konsonant vergleiche/siehe Dakorumänisch Englisch Europäisches Portugiesisch Französisch Gleitlaut Gotisch Griechisch das heißt Istrorumänisch Italienisch Kalabrisch Klassisches Latein (Schriftlatein) Latein Mazedorumänisch Meglenorumänisch Mittelfranzösisch Mittelhochdeutsch Neufranzösisch Neuhochdeutsch Neuportugiesisch Neuspanisch Portugiesisch Rumänisch Standardabweichung (standard deviation) Slawisch

https://doi.org/10.1515/9783110729733-204

XII

span. türk. ungar. V vlat. vs.

Abkürzungsverzeichnis

Spanisch Türkisch Ungarisch Vokal Vulgärlatein (gesprochene Varietäten des Lateins) versus

Glossierung (cf. Leipzig Glossing Rules 2015) 1SG 2SG 3SG 1PL 2PL 3PL ACC ADJ ADV ART.DEF ART.INDEF COND CONJ COP DAT F FUT GENERISCH IMP IND INF KOMPARATIV LOCUTION M N NEUTER NOM NUM PART PL PRO PRO.DEM PRO.PERS PRO.POSS PRO.REL PROG PROPER NAME PRS PST PTCP REFL

1. Person Singular 2. Person Singular 3. Person Singular 1. Person Plural 2. Person Plural 3. Person Plural Akkusativ Adjektiv Adverb definiter Artikel indefiniter Artikel Konditional Konjunktion Kopula Dativ Femininum Futur generisches Genus Imperativ Indikativ Infinitiv Komparativ Redewendung Maskulinum Nomen Neutrum Nominativ Numerale Partikel Plural Pronomen Demonstrativpronomen Personalpronomen Possessivpronomen Relativpronomen Progressiv, Verlaufsform Eigenname Präsens Vergangenheit (past tense) Partizip reflexiv

https://doi.org/10.1515/9783110729733-205

XIV

SG SUBJ V VERBSTAMM

Glossierung (cf. Leipzig Glossing Rules 2015)

Singular Subjunktiv Verb Verbstamm

1 Einleitung und Standortbestimmung The main lesson learned by Liberman and colleagues in 50 years of empirical research is, in the end, rather simple: Cognition, like all products of evolution, cannot be understood in isolation (e.g., Clark, 1997). Rather, understanding cognition requires comprehending that it is both embedded in a meaningful ecological context and embodied in living perception–action systems […] (Galantucci et al. 2006, 373).

Vorliegende Studie unterbreitet einen phänomenologischen Zugang zu wortinternen Vokalsequenzierungen und Vokalsequenzierungsmustern im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen. Unter dem Begriff «Vokalsequenz» werden Diphthonge, Hiate, nicht eindeutig der einen oder anderen Kategorie zuordenbare und schwankende Realisierungen innerhalb identischer Wörter gefasst. Vokalsequenzen sind damit keine apriorisch gesetzten, kategorialen Untersuchungsgegenstände «Diphthong» oder «Hiat», wie es in der phonetischen und phonologischen Forschung üblich ist (Kapitel 2 «‹… there is little extra to be said about diphthongs› … oder vielleicht doch?»), sondern als relationale Vokalsequenzierungsmuster Effekte der das Wort bestimmenden Gestaltqualitäten, die sich in Prominenzen, Syllabierung, Rhythmus sowie zeitlicher und lautlicher Gestaltung manifestieren und als deren Wirkung gelten darf, Wörter als Ganzes im Redefluss erkennbar zu halten. Gestaltphonologie ist eine Phonologie des Wortes (Kapitel 3 «Gestaltphonologie: Plädoyer für eine wortökologische Sichtweise»). Ihre Ursprünge hat sie in sprachtheoretischen und phonologischen Arbeiten Karl Bühlers der 1920er und 1930er Jahre. Gestaltphonologie ist keine Antithese zur etwa zeitgleich entstehenden, auf binären Oppositionen distinktiver Merkmale beruhenden, heute dominierenden Phonologie, sondern deren augenfällige Ergänzung um die nicht-bewusste menschliche Lautverarbeitung. In der reibungslosen und nicht im Modus metasprachlicher Analyse ablaufenden Sprachverarbeitung bilden Wörter die Ökologie der Laute, sie sind ihr «Sitz im Leben» (Bühler). Aus diesen Wortganzen (Wortgestalten) ergeben sich im Redefluss relationale Realisierungsformen von Lauten (Sapir 1925) bzw. «Allophone» (Trager/Bloch 1941). Diese wortökologische und relativistische Sichtweise erweist sich als aufschlussreich in der diachronischen und synchronischen Beschreibung romanischer Vokalsequenzierungen. Kernthese der Studie ist, dass das jeweilige beobachtbare synchronische Verhalten romanischer Vokalsequenzen in der Wortgeschichte gründet. Dieses spezifische phonologische Verhalten, etwa stabile diphthongische Realisierung, z.B. in frz. [nɥi] (Nacht-N.F.SG), oder Schwankungen zwischen diphthongisch-hiatischer Realisierung von Vokalsequenzen innerhalb identischer Lexien, z.B. in frz. [tɥe] ~ [ty.ˈe] (töten-V.INF), kann jeweils nur wortgeschichtlich Die Originalfassung dieses Kapitels wurde überarbeitet. An drei Stellen wurden Transkriptionen korrigiert (Seiten 1 und 2). Ein Erratum ist verfügbar unter https://doi.org/10.1515/9783110729733-010. https://doi.org/10.1515/9783110729733-001

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1 Einleitung und Standortbestimmung

hergeleitet und hinreichend begründet werden. M.a.W.: Jedes Wort hat seine eigene Wortgeschichte und bildet die jeweils spezifische Ökologie für phonologischen Wandel. Alle Versuche, Vokalsequenzierungen – besonders Diphthonge werden in der Forschungsliteratur diskutiert – in einer der fünf untersuchten romanischen Sprache aus einer einzigen synchronisch wirksamen phonologischen Regel abzuleiten, führen zu Widersprüchen. Sprecher einer Sprache verfügen natürlich nicht über explizite Kenntnis der Wortgeschichten, aber im Sprachgebrauch rezipieren und produzieren sie immer nur konkrete Exemplare von Wörtern und Gebrauchsmustern. Exemplare sind ihrerseits eine Kopie der Kopie der Kopie ad infinitum, wodurch ein Konnex zur Vergangenheit besteht, da gegenwärtige Gebrauchsmuster auch Spuren älterer Gebrauchsmuster reproduzieren können. Wenn z.B. in einem Wort die Silbengestaltung durch das Verstummen eines Lautes affiziert wurde, kann die alte neben der neuen Syllabierung im Sprachgebrauch fortbestehen, v.a. dann, wenn durch beide Syllabierungsmuster kein lexikalischer Kontrast erzeugt wird. So trafen etwa im Wandel von lat. TŪ.TĀRE zu frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V. INF) durch das Verstummen des intervokalischen /-t-/ ein hoher /u/ und ein nicht-hoher /e/ Vokal aufeinander. Dieses Aufeinandertreffen der beiden Vokale (Koaleszenz) führte in manchen Wortexemplaren zu einer Auflösung der trennenden Silbengrenze und damit zu einer diphthongischen Realisierung der Vokalsequenz als [tɥe] und in anderen Wortexemplaren wurde die alte Silbengrenze als [ty.ˈe] fortgeführt. Beide Realisierungen fanden Eingang in den Sprachgebrauch und führen bei Sprechern des Französischen zu keinerlei Verständnisproblemen. Das in der Arbeit entwickelte kognitionsphonologische Modell integriert im Einklang mit Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften Perzeption, Speicherung, Aktivierung und Produktion sprechsprachlicher Einheiten (Kapitel 3.3 «Spuren im Geist: Integriertes kognitionsphonologisches Modell»). Tragende Modellkomponenten sind Embodiment des Sprechens (artikulatorische Geste, Motor Theory of Speech Perception), Sprachgebrauch (Exemplar Theory, Frequenz, neuronales Netzwerk) und Gestalttheorie. Dadurch überwindet das Modell die in Phonetik und Phonologie übliche Trennung zwischen Artikulation, Produktion und Perzeption. Eine detaillierte diachronische Analyse der wortinternen Herausbildung von Vokalsequenzen in den fünf romanischen Sprachen legt acht Entstehungsszenarien offen (Kapitel 4 «Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen»): (1) Längung des Silbenkerns in betonter Stellung, (2) koartikulatorische Effekte umgebender velarer und palataler Laute, (3) Metaphonie, (4) Tilgung ursprünglicher lateinischer Syllabierungen (Hiate und Diphthonge),

1 Einleitung und Standortbestimmung

3

(5) Verstummen intervokalischer Konsonanten, (6) Vokalisierung von Konsonanten, (7) Konsonant-Vokoid-Konvergenz und (8) phonologische Integration von Lehnwörtern. Alle Entstehungsszenarien führen zu jeweils spezifischen Vokalsequenzierungseffekten, so kann etwa aus einer Konsonant-VokoidKonvergenz ein Laut hervorgegangen sein, der sich auf lautlicher Ebene nicht von anderen Vokoiden unterscheidet, sich aber silbenphonologisch nach wie vor wie ein Konsonant verhält und nicht zum vokalischen Silbenkern gehören kann. Durch die Aufstellung wortbezogener synchronischer Phänomenologien von Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen (Kapitel 5 «Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen») wurden Vokalsequenzen identifiziert (a) als verfestigter Teil individueller Wortgestalten, z.B. in ital. (Herz-N.M.SG) oder port. (Himmel-N.M.SG), (b) als schwankende Realisierungen, und zwar dann, wenn sie entweder durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, z.B. in port. [ˈva.kwu] ~ [va.ˈku.u] ~ [ˈva.ku] (Vakuum-N.M.SG), oder Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in port. [ˈswɔɾ] ~ [su.ˈɔɾ] (Schweiß-N.M.SG), hervorgegangen sind, (c) als Resultate synchronisch aktiver phonologischer Prozesse, z.B. Vokalisierung von silbenfinalem im Brasilianischen, etwa in port. [lɨ.gaɫ] ~ [lɨ.gaw] (toll-ADJ.GENERISCH.SG), und (d) als Indikatoren grammatischer Kategorien wie Person, Numerus, Tempus, Modus, z.B. in span. (denken-V.1SG.PRS.IND) vs. span. (denken-V.1PL.PRS.IND), Genus, z. B. in rum. (schwarz-ADJ.F.SG) vs. rum. (schwarz-ADJ.M.SG), und Wortklassenzugehörigkeit, z.B. in span. (zeitlich-ADJ.GENERISCH.SG) vs. span. (Zeit-N.M.SG). Fünf, zum überwiegenden Teil auf eigenen Experimenten basierende Exkurse («Intensitätsverläufe als Wortgestaltungseffekte», «Diphthonge im ‹verlan›», «Französische Diphthonge in einem Reimexperiment», «Vokalsequenzen in diatopischen Varietäten» und «Sprachlautbewusstsein als Indikator für den kognitiven Status von Diphthongen») unterstützen an relevanten Stellen im Buch den Fortgang der Argumentation. Vorliegende Studie verortet sich im Bereich der Kognitiven Linguistik. Seit ihrem Eintritt in die linguistische Theoriebildung in den 1980er Jahre (Lakoff 1987; Langacker 1987) fokussiert Kognitive Linguistik die mentale Dimension von Bedeutung (meaning, semantics) und deren symbolischer Verarbeitung (Kategorisierung, Generalisierung, Prototypen, Frames, Schemata) sowie sequenzielle Ordnungsprinzipien und Argumentstrukturen im Reden (Konstruktionen, Muster) (Goldberg 1995; Evans/Green 2006; Geeraerts 2006; Schwarz 32008;

4

1 Einleitung und Standortbestimmung

Wildgen 2008; Langacker 2013). Parallel zur stark semantisch und syntaktisch ausgerichteten Forschungsdynamik der Kognitiven Linguistik erscheinen seit den 1990er Jahren mehrere programmatische Schriften für eine Kognitive Phonologie (Lakoff 1993; Bybee 1994; Nathan 1996; Johnson 1997; Flemming 2001), Einführungswerke, Handbucheinträge und Sondernummern von Zeitschriften (Välimaa-Blum 2005; Silverman 2006; Nathan 2007; 2008; International Journal of English Studies 6:2 2006).1 Als Forschungslandschaft können verschiedene phonologische Ansätze ausgemacht werden, die teilweise älter als die forschungsprogrammatische Zäsur der 1980er und 1990er Jahre sind: Funktionalismus (William Diver, Daniel Silverman), Ontogenese des Sprechens (Peter F. MacNeilage), Natürliche Phonologie (David Stampe, Patricia J. Donegan, Wolfgang U. Dressler, Geoffrey S. Nathan, Bernhard Hurch), Prototypentheorie (John R. Taylor, Patricia K. Kuhl), Exemplar Theory (Keith Johnson, Janet Pierrehumbert, Robert Kirchner), Usagebased Approach (Joan L. Bybee), Konstruktionsgrammatik (Ritta Välimaa-Blum) und Evolutionäre Phonologie (Juliette Blevins). Der eigenständige erkenntnistheoretische Anspruch von Phonologie beruht auf der Diskrepanz zwischen der physikalischen Realität des Sprechens und Hörens und den assoziierten kognitiven Zuständen, beide können oftmals nicht aufeinander abgebildet werden. Die mentale Überbrückung dieser Diskrepanz ist das Definiens von Phonologie: «Phonology is the study of the categorical discrepancies between speech as it is perceived and intended, and speech as it is targeted for actuation» (Donegan/Stampe 2009, 1). Aber Phonologie hat auch eine substanzielle Dimension, nämlich die einzelsprachlich geregelte funktionelle (phonologische) Auslastung phonetischer Ressourcen zum Zwecke erfolgreicher Kommunikation. Das impliziert einerseits, dass identische oder ähnliche phonetische Ressourcen einzelsprachlich unterschiedlich phonologisch ausgelastet sein können, und andererseits, dass phonologisch sich identisch oder ähnlich verhaltende Einheiten phonetisch unterschiedlich gestaltet sein können (u.a. Caramazza/Yeni-Komshian 1974; Borzone de Manrique 1979; Lindau et al. 1985; Peeters 1991; Laeufer 1992; Bradlow 1995). Kognitive Phonologie steht für eine Klasse von Theorien und Modellen, die die Prämisse vom Embodiment des Sprechens teilen. Ihre Modellierungen und Beschreibungssprachen streben im Einklang mit Erkenntnissen der Wahrneh-

1 Titel aus den 1980er und 1990er Jahren wie Phonology: A Cognitive View (Kaye 1989) stehen im Kontext einer regelbasierten Generativen Phonologie, die ihrerseits auch beansprucht, eine kognitive (mentalistische) Theorie zu sein.

1 Einleitung und Standortbestimmung

5

mungspsychologie, Gedächtnisforschung, Physiologie und Spracherwerbsforschung nach kognitiver und physiologischer Plausibilität. Insofern heben sie sich von den Beschreibungssprachen der Strukturalistischen und Generativen Phonologie ab, da sie die zum jeweiligen Zeitpunkt mögliche erkennbare kognitive und physiologische Realität des Sprechens über das Ausbuchstabieren einer vom gewählten Modell ausgehenden Logik der Stipulation und symbolgraphischen formalen Darstellung stellen. Aus diesem Realitätsbezug resultiert aber auch ihre mangelnde Formalisierbarkeit. Jedoch ist Formalisierbarkeit keine ontologische Kategorie, da nicht alles, was in der Welt vorkommt, mittels diskreter Mathematik berechen- und vorhersagbar ist (Pierrehumbert et al. [2000] 2012). Dies führt zu der Frage: Was kann und soll Theorie leisten? Allgemein gelten Vorhersagbarkeit und Falsifizierbarkeit als Kriterien für eine gute Theorie. Insofern ist z.B. die Generative Phonologie eine gute Theorie, da sie Vorhersagen über phonetische Formen mittels modellbedingter Algorithmen (phonologische Regeln) generiert, die intersubjektiv auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden können. Jedoch sind diese Algorithmen Erkenntnisleistungen des Phonologen. Die sprecherseitige kognitive Plausibilität tritt in Anbetracht des stipulierten phonologischen Regelsystems (phonologische Komponente) und Regelzyklen in den Hintergrund. Es gibt aber auch alternative Ansichten darüber, was eine gute wissenschaftliche Theorie leisten soll. Für den Linguisten William Diver (1921–1995), der in New York die Columbia School of Linguistics gegen den linguistischen Mainstream seiner Zeit gründete, müsse das letzte Ziel von Wissenschaft Erklärung (explanation) und nicht Beschreibung (description) oder Vorhersage (prediction) sein (Diver 1995, 453). Basis dieser Erklärung a posteriori muss die Analyse der Tatsachen, in unserem Fall der Sprache, und nicht Spekulation a priori sein: «What is a theory?» […] But that question and that demand rest on a certain metaphysical approach to the whole problem of the acquisition of knowledge: an approach that implies the a priori existence of certain metaphysical realities, such as theories, with an accompanying analytical task of discovering the properties of those metaphysical realities. The history of the study of language has been plagued by an insistence on bringing into the discussion a priori metaphysical realities that turn out to have nothing to do with actual languages. […] To clear the air then, the term theory will here be used to refer to a summary of the general characteristics of successful solutions to individual problems. It definitely will not be used to refer to a speculative hypothesis that attempts to forecast in advance an as yet unattained solution to a problem (Diver 1995, 447–448).

Auch der Quantenphysiker David Deutsch (University of Oxford) erhebt die Erklärungskraft (explanatory power) einer Theorie über Vorhersagekraft und sogar über Empirie (Deutsch [1997] 1998, 1–31 und 55–72). Letzteres erstaunt, ist aber

6

1 Einleitung und Standortbestimmung

im Kontext der Quantenphysik nicht weiter verwunderlich, da noch niemand Quantenobjekte, Krümmung von Raum und Zeit, Multiversen usw. «gesehen» hat, ihre physikalische Wirkung aber omnipräsent ist. Jedoch ist nicht jede Erklärung gleich gut. Eine gute Erklärung erkenne man daran, dass sie phänomenbezogen ist und Details nur bedingt verändert werden können, ohne dass die ganze Erklärung in sich zusammenbricht («hard to vary»-Kriterium).2 Insofern können kognitionsphonologische Beschreibungssprachen durchaus auf Vorhersagbarkeit und Falsifizierbarkeit verzichten, ohne an Wissenschaftlichkeit einzubüßen. Ihre Stärke besteht in ihrer explanatorischen Kraft, indem sie die lautliche Seite der Sprache phänomenbezogen im Einklang mit kognitiven, physiologischen, entwicklungspsychologischen, sozialen und kulturellen Faktoren der Perzeption, Speicherung und Produktion zu erklären und dem Verstehen zu erschließen sucht.

2 David Deutsch: «A new way to explain explanation» (TED talk, 2009), ‹http://www.ted.com/ talks/david_deutsch_a_new_way_to_explain_explanation› [letzter Zugriff: 27.05.2021].

2 «… there is little extra to be said about diphthongs»… oder vielleicht doch? If long vowels produce methodological headaches, diphthongs are a positive migraine (Lass 1984b, 95).

Über Diphthonge wurde in den zurückliegenden ca. 150 Jahren viel geforscht und geschrieben. Neben unzähligen Artikeln erschienen ganze Monographien über Diphthonge und Diphthongierungsprozesse (u.a. Schmitt 1931; Menzerath 1941; Schürr 1970; Edström 1971; Spore 1972; Carreira 1990; Peeters 1991; Sluyters 1992; Chitoran 1997; Sánchez Miret 1998a; van der Veer 2006). Immer wieder haben sie Phonetiker und Phonologen zu einer intensiven, zumeist grundsätzlichen Auseinandersetzung herausgefordert. Sperrig waren sie dabei in jedem Falle und verweigern sich bis heute einer abschließenden universellen Charakterisierung. Das Spektrum der jeweiligen forscherseitigen Einstellung zum Untersuchungsgegenstand «Diphthong» reicht dabei von einer eher resignativen «never ending story» (Hummel 1990) bis zur Ausrufung einer eigenständigen «Diphthongologie» (Geyer 2005). Da nun aber «Diphthonge» für Sprecher einer Sprache überhaupt kein Problem darstellen, müssen Beschreibungsschwierigkeiten als historische epistemologische Sachlagen der Beschreibungssprachen und Modelle selber gelten (cf. Zonneveld/Trommelen 1980; Kalkhoff 2016). In der Phonetik hat sich die Beschreibung von Diphthongen mittels akustischer Parameter, i.e. Formanten und Formantbewegungen, durchgesetzt. Qua einer Acoustic Theory of Speech Production (Fant [1960] 21970; Johnson 1997, besonders pp. 91–109; Stevens 1998, besonders pp. 257–322; Neppert 41999; Lodge 2009) sind Akustik und Artikulation gekoppelt. Aus dieser Rückkopplung entspringen artikulatorische Merkmale, die die Phonologie nutzt, um Diphthonge phonologisch zu charakterisieren. In der Segmentalen Phonologie werden Diphthonge kompositionell mittels artikulatorischer Merkmale der stipulierten Vokalphoneme klassifiziert, i.e. Artikulationsstelle (Zungenlage) [VORNE, ZENTRAL, HINTEN], [HOCH, MITTEL, TIEF] und Artikulationsmodus [VOKAL, APPROXIMANT, KONSONANT]. Diese phonologischen artikulatorischen Merkmale sind a-temporale, nicht koordinierte und unterspezifizierte Abstraktionen aus komplexen Artikulationsvorgängen, die nichts über deren zeitliche Dynamik und über die Koordination der Artikulationsorgane aussagen. Nun zeigen aber Perzeptionsstudien, dass gerade diese Dynamik der Artikulationsbewegung(en) in Richtung auf approximative Vokaltargets der kritische perzeptive Parameter für die Wahrnehmung

https://doi.org/10.1515/9783110729733-002

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2 «… there is little extra to be said about diphthongs»… oder vielleicht doch?

von Vokalsequenzen als Diphthonge ist (u.a. Gay 1970; Bladon 1985; Peeters 1991; Clermont 1992; Watson/Harrington 1999; Jacewicz et al. 2003). Im Kontrast zur selektiven physikalisch-akustischen und unterspezifizierten struktural-segmentalen Modellierung besteht die Alternative, Laute, Lautsequenzen und Lautsequenzierungen artikulatorisch zeitlich und koordinativ genauer zu spezifizieren und daraus abstraktes Wissen über das Lautsystem einer Sprache zu gewinnen. Dieser Perspektivenwechsel ist v.a. dann angezeigt, wenn man den Standpunkt des Embodiments des Sprechens teilt und phonologisches Sprecherwissen als kognitiv aufbereitete, i.e. perzeptiv interpretierte, mental gespeicherte und wieder abgerufene psychomotorische Befehlsmuster zur Ausführung von Artikulationsbewegungen (artikulatorische Gesten) auffasst.3 Als epistemologisches Urszenario des modern-westlichen Diphthongbeschreibungsproblems können wir die Zerlegung komplexer Artikulationsaufgaben in kleinere physiologische Artikulationseinheiten durch Alexander Melville Bell (1819–1905) in Visible Speech (Bell 1867) ausmachen. Wichtig ist zu betonen, dass Bell die englischen Diphthonge aus rein sprachdidaktischen Gründen zerlegte, um tauben Sprachlernern visuelle Orientierungen – Bells Lautsymbole bilden schematisch Rachen-, Zungen- und Lippenkonfigurationen ab – für die von ihnen selber nicht gehörten Artikulation zu geben. So richtig glücklich scheint er aber mit der Diphthongzerlegung auch nicht gewesen zu sein, wie Alexander Ellis schon wenige Jahre später anmerkt: «The ‹glides› of Mr. Melville Bell were mere evasions of the difficulty, and have been given up by his son, Mr. Graham Bell, and by the two persons in England who have most used his Visible Speech, Messrs. Sweet and Nicol» (Ellis [1874] 1968, vol. 4, 1151). Ausgehend von Bells Visible Speech entsteht in der modernen westlichen Phonetik eine frühe Entwicklungslinie mit den Protagonisten Henry Sweet (1845–1912) und Eduard Sievers (1850–1932). Sie besteht darin, dass zum einen einzelsprachliche Lautkonfigurationen in Wörtern in kleinere Einheiten zerlegt werden, für die zumindest in der englischen Tradition ein universeller Status angenommen wird (cf. Entwicklung des internationalen Lautalphabets IPA), und zum anderen, dass Sprachlaute auf der Basis artikulatorischer Merkmale klassifizieren werden, was zum Ausschluss als subjektiv attribuierter perzepti-

3 Schouten/Peeters (2000, 38): «What do the present results tell us about the perception of «genuine» diphthongs? The answer to this question is: very little. […] For the time being, however, we have to conclude that our attempt to find a psychoacoustic explanation for an aspect of speech perception has not been successful. This could very well turn out to be the final conclusion, too. […] Diphthong perception is, in all likelihood, learned behaviour not based on a psychoacoustic temporal integration mechanism».

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ver Beschreibungsparameter z.B. in Sievers Vokalklassifikation führt (Sievers [1876] ²1881, 62–83). Zwangsläufig treten als methodische Fragen der Diphthongbeschreibung dann auf, bis zu welcher Komplexitätsebene die vokalischen Lautkonfigurationen zu zerlegen sind und durch welche übereinzelsprachlichen artikulatorischen Merkmale die gewonnenen Einheiten beschrieben werden können. Ganz wohl ist es ihnen dabei nie. So konzediert Sweet, der die kontinuierliche Diphthongartikulationsbewegung in einen statischen Vollvokal und eine dynamische Gleitphase zerlegt: «The peculiarity of diphthongs is that their elements may vary almost indefinitely, if only the general relations of glide and vowel are preserved» (Sweet [1877] 1970, 68). Auch Sievers Diphthongdefinitionen, die von Auflage zu Auflage schwanken, ist das Ringen um eine angemessene artikulatorische Beschreibung anzumerken.4 Für Sievers ist ihr Definiens das Kriterium der Silbischkeit. Zunächst bereitet das auch keine Schwierigkeiten für deren artikulatorische Beschreibung, da Sievers die Silbe in den frühen Auflagen seiner Grundzüge artikulatorisch als «eine Lautmasse […], welche mit einem selbständigen, continuirlichen Exspirationshub hervorgebracht [wird,]» fasst (Sievers 21881, 156). Die rein artikulatorische Beschreibung der Diphthonge gerät dann ins Wanken, wenn er in späteren Auflagen, die Silbe akustisch-perzeptiv definiert, nämlich: «das Ohr lässt allemal da eine Silbe zu Ende gehn und eine neue Silbe anheben, wo in zusammenhängender Rede ein Durchgang durch ein Minimum von Schallstärke stattfindet» (Sievers 51901, 198). Weitgehend ungeachtet dieses impliziten Unbehagens hat das Epistemologem von der artikulatorischen Lautbeschreibung für die Charakterisierung der Diphthonge zur Folge, dass nicht ihre perzeptive Gesamtwirkung, sondern die Zusammensetzung ihrer Artikulationsbewegungen fokussiert wird. In der moder-

4 Sievers (51901, 162): «415. Um die Mundartikulation eines beliebigen Diphthongs (einerlei ob er fallend, steigend oder schwebend gebildet ist) festzulegen, hat man zunächst seine beiden Componenten zu ermitteln, d. h. denjenigen Vocallaut mit dem der Diphthong beginnt, und denjenigen mit dem er schliesst: der Gleitlaut zwischen Anfangs- und Endvocal bez. Anfangsund Endstellung ergibt sich dann ziemlich von selbst, da der Uebergang auf dem kürzesten Wege erfolgt. Der Ermittlung der Componenten stellen sich aber oft ziemlich grosse subjective Schwierigkeiten entgegen. Einerseits täuscht leicht die Contrastwirkung der beiden Nachbarlaute über ihren wahren Charakter, andrerseits treten in den Diphthongen oft Vocallaute auf, die in den betreffenden Sprachen als isolirte Vocale nicht vorkommen und daher um so leichter falsch eingeschätzt werden. Endlich geben auch die herkömmlichen Orthographiesysteme leicht Anlass zu Irrungen: die Schrift ist gerade hier sehr oft hinter der Entwicklung der gesprochenen Sprache zurückgeblieben, und hat daher Aussprachezustände fixirt, die längst nicht mehr bestehen».

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nen Phonetik wird so der Blick von perzeptiven (subjektiven) Beschreibungsparametern ab- und beobachtbaren (objektivierbaren) artikulatorischen und später akustischen Parametern zugewandt. Diphthonge werden als Übergangsbewegungen zwischen zwei vokalische Artikulationsstellungen beschrieben, die überaus vereinfachend mit (den zumeist aus der Graphie entnommenen) Vollvokalen assoziiert werden. Die akustische Struktur vokalischer Laute ist durch Resonanzen im Ansatzrohr determiniert, die messtechnisch im Spektrogramm als Formanten (Energiemaxima) abgebildet werden können. In der Vielfalt der linguistischen und extralinguistischen Informationen des komplexen akustischen Signals scheinen diese Formantfrequenzen die Vokalidentität sowohl akustisch als auch perzeptiv maßgeblich zu bestimmen (Harrington 2010b, 89). Wir wissen zwar nicht, ob diese Formanten (Frequenzbänder) im Spektrogramm eine physiologische Entsprechung im menschlichen Hörapparat besitzen, jedoch müssen Frequenzen eine entscheidende Rolle bei der Lautidentifikation spielen, da bestimmte Orte in der Cochlea auf bestimmte, eng umgrenzbare Frequenzbereiche mit neuronaler Aktivität reagieren (cf. Ortstheorie von Georg von Békésy) (Goldstein 72008, 257–290). Für die gängige akustische Beschreibung vokalischer Laute sind vor allem die ersten beiden Formantfrequenzen F1 und F2 ausschlaggebend.5 F1, der niedrigste Frequenzwert, korreliert artikulatorisch mit dem Öffnungsgrad des Mundes (größerer Öffnungsgrad führt zu höheren Frequenzwerten) oder mit der Zungenhöhe (Absenken der Zunge führt zur Verminderung der Frequenzwerte). F2 ist mit der Größenkonfigurierung des Mundraums durch die Vorverlagerung der Zungenverengung in der palatalen Region assoziiert (backness); hintere Vokale haben die niedrigere und vordere Vokale höhere F2-Werte (cf. u.a. Fant [1960] 21970; Pätzold/Simpson 1997; Harrington 2010b, 83–85; Vokale in einer typologisch-universalen Perspektive cf. Crothers 1978; Lindau 1978; Lindblom 1986). Wenngleich diese Formantfrequenzwerte (Vokaltargets) so etwas wie einen fixierbaren Identifikationspunkt (steady-state) für jeden Vokal suggerieren, so zeigen Perzeptionsexperimente, dass es maßgeblich der dynamische Charakter der Vokale ist (Transition, Koartikulation, Beeinflussung durch konso-

5 Harrington (2010b, 85) weist darauf hin, dass es bislang keine verbindliche Methode zur Bestimmung der zeitlich dynamischen Formantfrequenzen (Vokaltargets) gibt. Eine gängige Methode ist, den Zeitpunkt, zu dem F1 seinen maximalen Wert erreicht (korreliert mit maximalem Öffnungsgrad des Mundraums), als Bezugspunkt zur Bestimmung des Vokaltargets zu nutzen. Eine Anleitung zur Messung von Formanten mit Hilfe der phonetischen Analysesoftware PRAAT gibt Mayer (2017): Messung der ersten vier Formanten, pp. 87–94; F1 und F2 von isoliert gesprochenen Vokalen, pp. 95–97; maximaler, minimaler und Mittelwert von Formanten: Formanttransitionen, pp. 98–99; graphische Darstellung des Vokalraums, pp. 99–102.

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nantische Umgebung), der sie für die Hörer identifizierbar macht (Nearey/Assmann 1986; Nearey 1997; Watson/Harrington 1999).6 Wenn es nun methodisch schwierig ist, einen fixierbaren Messpunkt für Monophthonge auszumachen, so ist es nahezu unmöglich, die kontinuierliche Artikulationsbewegung von komplexen vokalischen Lautereignissen (Diphthongen) in einen statischen Verharrungszustand (steady-state) und eine dynamische Gleitphase auf der Basis objektiver phonetischer Kriterien zu segmentieren: After a number of preliminary efforts, we decided not to attempt segmentation of the productions into steady-state and glide components (cf. Gottfried, 1989). Instead, the parameters for classification of the productions were established on the basis of the diphthong’s onset and offset […]. Identification of steady-state and glide components within an analyzed production presumes that a set of reliable criteria can be stated regarding the requisite extent of formant movement throughout some minimal duration which will at least operationally define these segments. Establishing reliable criteria is complicated by a number of factors. First, with the linear-predictive coding (LPC) analyses employed, plots of the first three formants for a production often exhibit small ( nicht signifikant

Nb = 

 ms

 ms

,

Nb = 

 ms

 ms

t-Statistik > signifikant

Tab. 10: Population, Mittelwert, Standardabweichung, Wahrscheinlichkeit für spanische Messwerte; N1 = diphthongische und N2 = hiatische Realisierung der Vokalsequenzen. Population (N)

Mittelwert (X̅)

Standardabweichung (SD)

Wahrscheinlichkeit (p)

N = 

 ms

 ms

,

N = 

 ms

 ms

t-Statistik > nicht signifikant

bei Hiaten (zwei oder komplexe Intensitätspeaks) auf. Diese Intensitätspeaks sind mit sonoren, i.e. mit intrinsisch lauteren, Silbenkernen assoziiert. (2.) Diphthongisch realisierte Vokalsequenzen sind kürzer als haitisch realisierte. Im Französischen sind diese Dauerunterschiede zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung von Vokalsequenzen jedoch größer als im Spanischen. Aufgrund der unterschiedlichen Formkonfigurationen der Intensitätsverläufe, i.e. Intensitätspeaks und Dauer, bei verschiedenen Wörtern und ähnlichen Formkonfigurationen bei identischen Wörtern über verschiedene Sprecher hinweg lassen sich die Konturen der Intensitätsverläufe als phonetische Manifestationen der Silbengestaltung und damit als relativ stabile erinnerungsassoziierte Wortgestaltungsmuster gestaltphonologisch beschreiben.

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen Even more mysterious was the problem of accounting for language change. If language is a system for transmitting information from one person to another, it would work best if it stayed put. How do people manage to understand each other if the language keeps changing under their feet? (William Labov: «How I got into linguistics, and what I got out of it»)28

Die Quelle für Lautwandel ist der Sprachgebrauch. Und Sprachgebrauch meint hier ein angemessenes Verhalten der Sprecher relativ zur kommunikativen Situation. Es sind die «Gangarten des Sprechens» (gaits of speech) (Pouplier 2012; cf. auch Lindblom 1983), die multifaktoriell Optimalität der gewählten sprachlichen Mittel und deren Gestaltung immer wieder aufs Neue erzeugen. Sprachgebrauch und damit auch der daraus hervorgehende Lautwandelprozesse sind demnach nicht teleologisch, z.B. mit dem Ziel minimalen Energieeinsatzes beim Sprechen, sondern ein situatives adaptives Verhalten des menschlichen Organismus. Mitunter kann nämlich ein vermeintlich größerer artikulatorischer Aufwand relativ zur Kommunikationssituation energiesparender sein (Pouplier 2012, 156–159). Sprachwandel hat demnach kein eindeutiges Ziel und Sprachgebrauch kann auch «markierte» Strukturen hervorbringen (u.a. Blevins/Garrett 2004, zur Nicht-Teleologie des Sprachwandels cf. auch Ohala 1993 und 2012; Harrington 2012; Garrett 2015; Hamann 2015). Im Rahmen des hier verwendeten integrierten kognitionsphonologischen Modells ist Lautwandel als das Ergebnis von Sprecher-Hörer-Interaktionen zu modellieren. Diese Interaktion besteht in einem zirkulären Prozess von Artikulation, Wahrnehmung, Speicherung und Wiederabrufung von Wörtern bzw. Konstruktionen. Eine zentrale Rolle kommt hierbei den im Gedächtnis abgelegten exemplarbasierten gestalthaften Erinnerungsspuren zu, da mit ihnen alle prozeduralen und deklarativen Aspekte der Konstruktionen assoziiert sind. Je nach Sprechstil und Sprechgeschwindigkeit gestaltete artikulatorische Gesten (Lindblom 1990; Pouplier 2012) erzeugen ein phonisches zumeist auch visuelles Signal, das vom Hörer psychomotorisch (bottom up) und wissensgeleitet (top down) interpretiert wird. Die Einheiten dieses Signals (Wörter, Konstruktionen, prosodische Konturen) werden interpretativ auf der Basis von Ähnlichkeiten

28 ‹http://www.ling.upenn.edu/~wlabov/Papers/HowIgot.html› [letzter Zugriff: 27.5.2021]. https://doi.org/10.1515/9783110729733-004

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

und Abstand bestehenden Exemplarverdichtungen im Parameternraum (exemplar cloud) zugeordnet oder eröffnen neue, wodurch Synapsen im neuronalen Netzwerk verstärkt bzw. neu gebildet werden (Johnson 1997; Pierrehumbert 1999; 2001; 2002; 2003; 2006; 2012). Ausgehend von dieser neuronalen Architektur und Funktionsweise unserer Gedächtnisstrukturen ist die Gebrauchsfrequenz der Konstruktionen ein überaus wichtiger Parameter des Sprachwandels (Barlow/ Kemmer 2000; Bybee 2000; 2001; 2007; 2010; 2013). Konstruktionen, die relativ häufig verwendet werden, sind tendenziell anfälliger für Innovationen, da mit zunehmender Gebrauchsfrequenz auch die Wahrscheinlichkeit für Kürzung, Schwächung und Neuinterpretationen der artikulatorischen Gesten des Lautkörpers steigt (Hay/Bresnan 2006). Bei der psychomotorischen Interpretation des multimodalen Signals kann es zu hörerseitigen Fehldeutungen und Neuinterpretationen der artikulatorischen Gesten bei koartikulatorischen Effekten kommen (Browman/Goldstein 1991: «reassignment of gestural parameters» und «gestural misparcing»; Ohala 1993; 2012: «misperception»). Diese können in Folge zu einem kategorialen phonologischen Wandel führen: «the categorical historical change involves drift in the gestural organization to a different stable pattern of overlap» (Browman/ Goldstein 1991, 327). So haben Beddor et al. (1986) die Phonologisierung kontextunabhängiger Nasalvokalgesten im Französischen dadurch erklärt, dass die ursprünglich koartikulatorisch bedingte Nasalierung von Vokalgesten durch das antizipierte Absenken des Velums folgender Nasalkonsonantgesten von den Sprechern als intrinsischer Bestandteil der Vokalgeste interpretiert und damit die Velumsöffnungsgeste der Vokalgeste zugeordnet wurde (cf. auch Beddor 2009; zur «spontanen» Nasalierung cf. Ohala/Amador 1981; zum Zusammenhang zwischen Koartikulation und Lautwandel cf. u.a. Recasens 2014; zum Verhältnis von Perzeption, Spracherwerb, Sprachproduktion und Lautwandel cf. Fowler 1981; 1994; 2000; Fowler at al. 2003; Fowler/Galantucci 2005). Die große innovative Einsicht der Natürlichen Phonologie ist, dass alle synchronischen phonologischen Prozesse phonetische Ursachen haben, d.h. direkt aus der Funktionsweise des menschlichen Artikulations- und Perzeptionsapparates resultieren (Stampe 1969; 1972a; Donegan 1978; Donegan/Stampe 1979; Dressler 1984; Donegan 1985; Hurch/Rhodes 1996; Donegan/Stampe 2009). Diese phonologischen Prozesse können im Laufe der Entwicklung einer Sprache etwa durch Analogie der konditionierenden phonetischen Umgebung enthoben werden und zu morphonologischen Regeln gerinnen. Unhintergehbar ist aber, dass alles, was in einer Sprache lautlich vorkommt, synchronisch oder irgendwann einmal in der Vergangenheit phonetisch bedingt ist bzw. war – so auch vermeintlich phonetisch nicht konditionierte «spontane» Lautwandelerscheinungen. Konditionierende interne phonetische Faktoren für phonolo-

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

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gische Prozesse sind u.a. Position in der Silbe, lautlicher Kontext, Worttyp und Akzentposition (zu internen Faktoren des Lautwandels cf. Labov 1994). Inwiefern unsere Perzeption durch diese phonetischen Faktoren getriggert wird und zu einer Uminterpretation der artikulatorischen Gesten führt, ist von vornherein nicht auszumachen und führt zu individuellen Lautwandelprozessen (Browman/Goldstein 1995; Recasens 2012). Insofern kann eine synchronisch identische Lauterscheinung verschiedene evolutionäre Wege genommen haben (Recasens 2012, 58). Auch gibt es keine natürlicheren bzw. unnatürlichen Lautwandelergebnisse in den Sprachen der Welt, sondern lediglich qualitativ und quantitativ unterschiedliche Gestaltung artikulatorischer Parameter, denen aber identische phonetische und funktionale Prozesse zugrunde liegen (Solé 2012). Neben diesen direkt aus dem Sprachproduktions- und Sprachperzeptionsprozess resultierenden Wandelerscheinungen, kann Sprach- und Lautwandel auch kulturelle und psychosoziale Ursachen haben (Labov 2001; 2010). William Labovs bahnbrechende soziophonetische Studie von 1966 etwa zeigte den Einfluss des sozialen Milieus (Unter-, Mittel- und Oberschicht) und des sozialen Aufstiegsbestrebens der Mittelschicht auf die Realisierung von postvokalischem /r/ im New Yorker Englisch der 1960er Jahre (Labov 1966). Auch Modeerscheinungen in der Aussprache, ausgelöst z.B. durch adstratsprachliche Einflüsse wie die des Französischen im 18./19. Jahrhundert und die des Amerikanischen Englisch heutzutage, gehören zu diesen kulturellen und psychosozialen Faktoren. Ein großer Vorzug der exemplarbasierten Modellierung der Bildung mentaler Kategorien ist, dass sie keine modellbedingten Probleme mit Gradualität phonetischer Ressourcen und mit Variabilität von Exemplaren hat. Statt merkmalsdiskreter invarianter mentaler (Tiefen-)Repräsentationen erlaubt das Exemplar-Modell, mentale Kategorien als an den Rändern diffuse, prinzipiell offene und dynamische mentale Repräsentationsstrukturen zu erfassen. Implizieren erstere einen Sprach- bzw. Lautwandel als einen kategorialen abrupten Wechsel in der Repräsentation, kann eine exemplarbasierte Lautwandeltheorie sehr gut mit graduellen, variablen, allmählichen, inkrementellen Wandlungserscheinungen umgehen (Lindblom et al. 1995; Penny 2000, 1–8; Blevins 2004; 2006; Blevins/Wedel 2009; Recasens et al. 2010; Chitoran 2012; Harrington 2012; Bybee 2013): «At the same time, new findings in this area invite a rethinking of gradience and categoriality as the turning point in the question of representations. Returning to the definition of phonologization as the shift from high to reduced variability, the emerging view is that of categoriality as illusion, while phonological systems evolve by organizing gradience» (Chitoran 2012, 321).

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Lautwandel kann mithin als eine allmähliche Modifizierung der mentalen Repräsentationsstruktur durch immer neu hinzukommende Exemplarinformationen modelliert werden. Ein kategorialer (phonologischer) Wechsel ist dann ein statistischer Kippeffekt in der neuronalen Gewichtung hin zu einer neuen stabilen Gestenkonfiguration (zu einer expliziten rechnergestütztem exemplarbasierten Modellierung von Phonologisierung, dem Phonological ExemplarBased Learning System PEBLS, cf. Kirchner/Moore 2008 und Kirchner 2012). Dieser Effekt kann durch «lexikalische Attraktoren», d.h. bereits im Lexikon vorhandene ähnliche Erscheinungen, beschleunigt werden (cf. u.a. Chitoran/ Hualde 2007). Für die Phonologisierung dieses statistischen Effekts ist wichtig, ob für die Sprecher die zur Disposition stehende Varianz bereits eine distinktive Funktion ausfüllt bzw. neu zugewiesen wird. Ist dies nicht der Fall, wird Varianz (zumeist unbewusst) als nicht relevant perzipiert und erzeugt im synchronischen System Variation. Das Ergebnis des Wandels kann also eine statistisch ausgelöste klare Entscheidung zugunsten einer neuen Konfiguration sein oder die alte und neue Konfiguration existieren parallel fort, ohne phonologisch distinktiv zu wirken. Im synchronischen Sprachgebrauch und damit auch in den mentalen Repräsentationsstrukturen existieren dann variable («konkurrierende») Formen. Die grundlegende These der vorliegenden Untersuchung ist, dass synchronisch lautidentische Vokalsequenzen innerhalb einer Sprache und sprachübergreifend diachronisch aus verschiedenen Entstehungsszenarien resultieren können (cf. auch Zauner 1908, 18–23; Donegan 1978, 108–118; Lloyd 1987, 116; Recasens 2012). Dies kann die Quelle für synchronische Variation, etwa unterschiedliches silbenphonologisches Verhalten lautidentischer Vokalsequenzen sein (Kaye/Lowenstamm 1984; Rialland 1994). Als Entstehungsszenarien werden unterschieden: (i) phonetisch konditionierte Veränderungen der vokalischen Qualität («spontane» und «bedingte» Diphthongierung), (ii) Entstehung komplexer Vokalstrukturen durch das Zusammentreffen von Vokalen infolge von Laut- und Hiattilgung (Koaleszenz, Verschmelzungsdiphthongierung), (iii) Entwicklung sekundärer fallender und steigender Lautsequenzen infolge von Konsonant-Vokoid-Konvergenzen und (iv) phonologische Integration von Vokalsequenzen in Lehnwörtern. Darüber hinaus wird zwischen diachronischen Veränderungen der Vokalquantität und -qualität am Wortkörper und synchronischen Vokalsequenzierungsphänomenen im zusammenhängenden Redefluss wie Gleitlautepenthese und Hiattilgung unterschieden. Zwischen den beiden Sphären Lexikon und Artikulation besteht jedoch eine Verbindung: Einheiten des Lexikons und die daraus resultierende phonologische Auslastung des Diphthong-Hiatus-Kontinuums innerhalb einer Sprache wirken auf synchronische Vokalsequenzierungsphäno-

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

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mene hemmend oder fördernd (Chitoran/Hualde 2007). Vorliegende Untersuchung fokussiert die Vokalsequenzierungen in Wörtern. Instantane Vokalsequenzierungsphänomene im Redefluss werden nur da besprochen, wo es sinnvoll erscheint und werden als solche explizit kenntlich gemacht.

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung Diphthongierung ist ein vokalischer Lautwandelprozess, als dessen Resultat aus einer vergleichsweise einfachen vokalischen Struktur (Monophthong) eine komplexere vokalische Struktur (Diphthong) geworden ist. Die erhöhte artikulatorische Komplexität manifestiert sich als ein Mehr an Energie und komplexere Formantenstruktur im akustischen Sprachsignal und führt zu komplexeren neuronalen Aktivierungsmustern bei der Signalverarbeitung, weshalb Diphthongierung gemeinhin mit einer Stärkung der Wahrnehmungscharakteristika (Salienz) der vokalischen Anteile des Wortkörpers assoziiert wird. Diese Erhöhung der vokalischen Komplexität und damit der Salienz kann aber nicht als letztes Ziel in der vokalischen Entwicklung einer Sprache gesehen werden, da auch der gegenläufige Prozess, Monophthongierung, vorkommt. Diphthongierung ist mithin ein möglicher, aber nicht-teleologisch ausgerichteter Prozess innerhalb des Vokalismus. Eine interessante phonetisch-perzeptive Interpretation von Diphthongierung unterbreiten Patricia Donegan und David Stampe im Rahmen der von ihnen entwickelten Natürlichen Phonologie (Stampe 1972b; Donegan 1978). Diphthongierung wird hier als ein vokalischer Dissimilationsprozess aufgefasst, in dessen Verlauf die jedem Vokal (Monophthong) innewohnende, aber inkompatible Sonorität-Vokalfarbe-Polarität aufgelöst und auf zwei vokalischen Elementen neu verteilt, i.e. dissimiliert, wird. Sonorität und Vokalfarbe seien die beiden phonetisch und kognitiv relevanten Vokalparameter: Sonorität ist mit der Stimmträgerfunktion (energetische Trägersubstanz) und Vokalfarbe über Vokalhöhedifferenzen (hell/dunkel) mit der distinktiven Funktion assoziiert (Donegan 1978, 142–143). Inkompatibel sind sie deshalb, da Sonorität mit tiefer Artikulationsstelle und Vokalfarbe (palatal-hell vs. velar-dunkel) mit hohen Artikulationsstellen im Mundraum korrelieren. Der Vorzug eines Diphthong besteht in dieser Sichtweise darin, dass die beiden inkompatiblen Vokalparameter statt in einem auf zwei Elemente verteilt werden können und damit ihre phonetisch-perzeptive Funktion besser ausfüllen können, weshalb Dissimilation immer auch eine Wahrnehmungsverbesserung (Stärkungsprozess) darstellt. Problematische Aspekte der Stampe-Donegan’schen Diphthongierungsmodellierung ist ihr teleologischer Charakter (Wahrnehmungsverbesserung), obwohl

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

im Lautwandel Monophthongierungen wie etwa im Französischen vorkommen können. Problematisch ist auch ihr kategorialer Charakter: Variabilität bzw. Gradualität von diphthongischen/monophthongischen/hiatischen Realisierungen von Vokalsequenzen in identischen Lexien sind in diesem Modell nicht vorgesehen. Auch ist es schwierig in diesem Modell, Vokalsequenzierungen zu interpretieren, die keine distante Sonorität-Vokalfarbe-Polarität im Artikulationsraum entfalten, z.B. franz. /ɥi/ wie in (er-PRO.PERS.3SG. BETONT; ihm-PRO.PERS.3SG.DAT), wo beide stipulierten Vokalanteile durch hohe Artikulationsstellen ausgezeichnet sind. Hier wird lediglich eine VokalfarbePolarität postuliert (Donegan 1978, 114–115). Eine phonetisch-phonologische Interpretation von Diphthongierung in romanischen Sprachen als Insertion eines Approximanten in bestimmten VC- und CV-Sequenzen als hörerseitige Reanalyse basierend auf einer salienten F2Transition im akustisch-phonetischen Umfeld vorderer Vokale und den Konsonanten /ɫ, r, w/ schlagen Recasens (1998) sowie Loporcaro und Mele (2004) vor (cf. auch Wireback 2010, 107–108).

4.1.1 Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns Für die hier untersuchten Sprachen Portugiesisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Rumänisch ist die so genannte «Romanische Diphthongierung» als Entstehungsszenario von großer Relevanz. In der Romanischen Philologie bzw. Romanistik war und ist sie ein prominenter und kontrovers diskutierter Untersuchungsgegenstand (Schmitt 1931; Schürr 1936; Castellani 1962; 1970a; 1970b; Schürr 1970; 1980; Spore 1972; Maiden 1988; Sánchez Miret 1998a; Russo/Sánchez Miret 2009; Sánchez Miret 2010). Sicherlich am heftigsten diskutiert ist Friedrich Schürrs (1888–1980) Theorie der «Romanischen Diphthongierung». Schürr differenziert areal und chronologisch zwischen früher – durch Metaphonie «bedingter» – und später – durch den germanischen Druckakzent ausgelöster «spontaner» – Diphthongierung. Damit durchbricht Schürr, übrigens im Rückgriff auf Hugo Schuchardt (1842–1927), die gängige Forschungstradition, die «Romanische Diphthongierung» in einem einheitlichen Zeitraum zu verorten und einzig auf phonetische Längung von Haupttonvokalen zurückzuführen. In der Historischen Lautlehre bzw. Historischen Grammatik nimmt die «Romanische Diphthongierung» innerhalb des Vokalismus eine prominente Stellung ein (Spanisch: Menéndez Pidal [1904] 131968, 31–85; Zauner 1908, 21–23; Lloyd 1987, 116–131; Lathrop 2002, 87–90; Penny [1993] ²2010, 68–69; Ariza 2012, 37–44; Französisch: Pope [1934] 1973, 102–107; Rheinfelder [1937] ³1963, 26–30; Wolf/Hupka 1981, 72–76; Posner 1997, 252–262; Revol 2000, 26–29; Itali-

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

65

enisch: Tekavčić 1972, 35–43; Maiden 1995, 35–40: Rumänisch: Rothe 1957, 9–12; Sala 1977, 201–208; Avram 2012, 37–39). «Romanische Diphthongierung» bedeutet, dass sich in sprechsprachlichen Varietäten des Lateins («Vulgärlatein») die Vokalqualität und -quantität des mittleren palatalen offenen /ɛ/ und des mittleren velaren offenen /ɔ/ in offener Tonsilbe hin zu komplexeren Vokalsequenzen /jɛ, ja, wɛ, wɔ, wa/ verändert. Maiden (1995, 35) spricht von «stressed open syllable diphthongization». Das palatale /ɛ/ entwickelt sich (dissimiliert) zu einer palatal gefärbten und das velare /ɔ/ zu einer velar gefärbten Vokalsequenz. Jedoch nehmen nicht alle protoromanischen Varietäten diese Entwicklung (einen Überblick über die Diphthongierungen in den romanischen Sprachen gibt Sánchez Miret 1998a, 132). Diese Vokalsequenzen sind zum Teil noch heute in den romanischen Lexemen erhalten; in einigen Fällen, wie die französischen Beispiele zeigen, wurden die Vokalsequenzen wieder zu Monophthongen reduziert. (1)

lat. PĔTRĂM, vlat. [ˈpɛ.tɾa] > port. , span. , frz. , ital. , rum. 29 (Stein-N.F.SG) lat. PĔDĔM, vlat. [ˈpɛ.de] > port. , span. , frz. , ital. , rum. -- (Fuß-N.M.SG) lat. FĔRRŬM, vlat. [ˈfɛɾ.ɾo] > port. , span. , frz. , ital. , rum. (Eisen-N.NEUTER.SG) lat. RŎTĂM, vlat. [ˈɾɔ.ta] > port. , span. , afrz. (> nfrz. [ʁu]), ital. , rum. (Rad-N.F.SG) lat. NŎVŬM, vlat. [ˈnɔ.vu] > port. , span. , afrz. (> nfrz. [nœf]), ital. , rum. 30 (neu-ADJ.M.SG)

Diese varietätenübergreifende Lautentwicklung geschieht über einen großen geographischen Raum verteilt von den römischen Provinzen der Hispania über die der Gallia und Italia bis hin zu denen der Moesia (Dacia), mithin die Präfiguration des Verbreitungsraumes der romanischen Sprachen in Europa. Von der Historischen Linguistik wird die «Romanische Diphthongierung» deshalb zeitlich implikativ im 3. und 4. Jahrhundert verortet, einem Zeitraum, in dem sich die politische und kulturelle Einheit des Römischen Reichs aufzulösen beginnt (235–285 Reichskrise, 395 Teilung des Römischen Reichs), aber die sprachliche Einheit des Imperiums noch bestand.

29 Die Sequenz in rum. (Stein-N.F.SG) entstand durch Metaphonie. 30 Rum. (neu-ADJ.GENERISCH.SG) entstand durch das Verstummen des intervokalischen lat. -V-.

66

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Als chronologisch der «Romanischen Diphthongierung» vorausgehende Veränderungen im vulgärlateinischen Vokalismus und Voraussetzungen für die Diphthongierung werden allgemein (i) der «Quantitätenkollaps» (ca. 1. bis 3. Jahrhundert), (ii) die Umstellung von melodischem Akzent auf Druckakzent (ca. 1. bis 3. Jahrhundert) und (iii) die silbenphonologisch bedingte «Nouvelle Quantité Romane» («Neue Romanische Vokalquantität») (ca. 3. Jahrhundert) angesetzt. «Quantitätenkollaps» bezeichnet die allmähliche Phonologisierung der Vokalqualität (geschlossene vs. offene Vokale) in den sprechsprachlichen Varietäten des Lateins. Dadurch hebt sich der vulgärlateinische Vokalismus vom klassischlateinischen Vokalismus ab, wo die Vokalquantität (langer vs. kurzer Vokal) phonologisch distinktiv wirkt. Denkt man beide lateinische Subsysteme Sprechsprache und Klassisches Latein zusammen, kann man auch von einer Entphonologisierung der Vokalquantität und einer Phonologisierung der Vokalqualität sprechen. Als Resultat entstand das, was in der romanistischen Forschungstradition als «italisches Vokalsystem» des gallo-ibero-italischen Sprachraums mit sieben phonologisch distinktiven Vokalqualitäten /i, e, ɛ, a, ɔ, o, u/ extrapoliert wird (Väänänen [1963] 31981, 29–48; Hermann 1970, 36–47; Kiesler 2006, 42–44; Müller-Lancé 2006, 82–84; Lüdtke 22009, 167–179). Etwa im etwa gleichen Zeitraum wird eine wichtige Veränderung im prosodischen System des Lateins verortet, nämlich die Umstellung von melodischem/ musikalischem Akzent (pitch accent) auf Druckakzent/Intensitätsakzent/dynamischen Akzent (stress accent) (Pope 1934, 99 und 102–103; Chaurand 1999, 18–19). Werden Äußerungsteile beim ersteren ausschließlich durch einen Anstieg der Grundfrequenz (Tonhöhenbewegung) hervorgehoben, so wird beim letzteren durch Intensivierung des Atemdrucks Prominenz erzeugt. Der aus der Modulation des Atemdrucks resultierende Akzent ist phonetisch komplex, da sich sowohl Tonhöhe (Grundfrequenz), Laustärke (Intensität) und/oder Dauer verändern. Die Ausnutzung dieser phonetischen Ressourcen ist einzelsprachlich unterschiedlich gewichtet. Wichtig ist, dass diese Akzentparameter qua intrinsischer Sonorität an vokalische Elemente im Sprachsignal geknüpft sind. Akzentuierte Vokale werden mit mehr Artikulationsenergie erzeugt und sind tendenziell länger. Insofern beseht eine direkte Beziehung zwischen Akzentuierung und Dauer. «Nouvelle Quantité Romane» bezeichnet silbenstrukturell korrelierte Veränderungen des prosodischen Parameters Vokaldauer, i.e. betonte Vokale in offener Silbe werden gelängt (Weinrich 1958; Filipponio 2016). Alle unbetonten Vokale und betonte Vokale in geschlossener Silbe bleiben bzw. werden kurz (Maiden 1995, 27–28; Revol 2000, 21–22). Damit wird der Parameter der Quantität wieder ins Vokalsystem eingeführt. Mithin kann der phonetische Kontext der «Romanischen Diphthongierung» spezifiziert werden, nämlich betonte, damit lange, offene /ɛ/ und /ɔ/.

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

67

Die «Romanische Diphthongierung» wird gemeinhin in der Literatur als «spontaner» Diphthongierungsprozess beschrieben. «Spontan» meint hier im Gegensatz zur «bedingten» Diphthongierung, wo adjazente Laute, die Spuren in der Graphie hinterlassen haben oder rekonstruiert werden können, als Auslöser von Vokalisierungsprozessen identifiziert werden können, dass der Diphthongierungsprozess der betonten Vokale /ɛ/ und /ɔ/ in offener Silbe aus sich selbst heraus, naturwüchsig, eben «spontan» einsetzte. Das Etikett «spontan» kann aber auch als Eingeständnis verstanden werden, dass die konditionierenden phonetischen Umstände rückblickend nicht näher bzw. nur spekulativ spezifiziert werden können. Darüber hinaus suggeriert «spontan», dass der Lautwandelprozess kontext- und damit voraussetzungsfrei, plötzlich aus dem Nichts auftauchend vonstattenging. Kognitiv und physiologisch sind voraussetzungsfreie Lautwandelprozesse wenig plausibel (cf. die Position der Natürlichen Phonologie zum «spontanen» Lautwandel, der zufolge immer alles phonetisch motiviert sein muss). Problematisch für diese Vorstellung von Diphthongierung ist auch, dass nicht alle durch die Spezifizierung erfassten phonetischen Kontexte «ausnahmslos» diphthongieren. So besteht einerseits eine Asymmetrie zwischen der Diphthongierung von betonten vlat. /ɛ/ und /ɔ/ in offener Silbe, da vlat. /ɔ/ tendenziell seltener diphthongiert (Maiden 1988, 13–16; 1995, 37–38), andererseits diphthongieren auch – v.a. in iberischen Varietäten, die zum späteren Kastilischen führen – betonte vlat. /ɛ/ und /ɔ/ in geschlossener Silbe: (2)

lat. FĔS.TĂM > port. , span. , frz. , ital. , rum. -(Fest-N.F.SG) lat. TĔMPŬS > port. , span. , frz. , ital. , rum. (Zeit-N.M.SG) lat. PŎR.TĂM > port. , span. , frz. , ital. , rum. (Tür/Tor-N.F.SG) lat. FŎR.TĬS > port. , span. , frz. , ital. , rum. (stark-ADJ.M.SG) lat. MĔL > port. , span. , frz. , ital. , rum. (Honig-N.M.SG) lat. CŎR > port. , span. , afrz. (> nfrz. [kœːʁ]), ital. , rum. (Herz-N.M.SG)

Nun konnte zwar die Historische Lautlehre rückblickend den phonetischen Kontext der «Romanischen Diphthongierung» extrapolieren, aber die phonetische Erklärung für diesen großräumigen Lautwandelprozess wird wohl für immer Gegenstand von Hypothesenbildung bleiben. Prinzipiell sieht die Historische Phonologie für Lautwandel zwei grundlegende Szenarien vor: (i) Laute wandeln sich durch externe Faktoren, i.e. durch soziokulturelle, historische, politische Er-

68

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

eignisse wie Eroberungen und darauf folgenden Sprachkontakt, oder durch interne v.a. koartikulatorische Faktoren, die Assimilation, Metathese und Metaphonie auslösen, und (ii) Analogie oder phonologischer Druck des Sprachsystems ausgelöst durch Verschiebungen anderenorts im System. «Bedingte», i.e. kontextsensitive, konditionierte Lautwandel können mittels dieser internen Faktoren recht schlüssig erklärt werden. Schwieriger wird es bei «spontanen» Lautwandelerscheinungen, da hier der lautliche Kontext nicht oder nur spekulativ als Erklärung herangezogen werden kann. Über die Ursachen der «Romanischen Diphthongierung» wurden verschiedene Hypothesen gebildet (für eine vollständige Übersicht mit entsprechenden Literaturverweisen cf. Sánchez Miret 1998a, 81–112). Drei sollen hier herausgegriffen werden: (i) «Romanische Diphthongierung» unter Einfluss des germanischen Superstrats ab ca. 400 (Wartburg 1936, 28–47), i.e. phonologisch distinktive Vokalquantitäten und Druckakzent der germanischen Sprachen (externe Faktoren) (in nordfranzösischen Varietäten: Pope 1934, 99–119); (ii) «Romanische Diphthongierung» als spontaner Lautwandelprozess ohne Einfluss externer Faktoren (im Toskanischen: Castellani 1962; 1970a; 1970b) und (iii) bedingte «Romanische Diphthongierung» als Metaphonie (interner Faktor) (in italischen und dakischen Varietäten: Schürr 1936; Rohlfs [1949] 1966, 12–21, 121–123 und 148–150; Lausberg 1956, 118–123; Schürr 1970; Sala 1977, 195–201; Schürr 1980; Maiden 1988; 1991; 1995, 35–40; Krefeld 1999; Lüdtke 22009, 492–515). Zuspitzen kann man die unterschiedlichen Hypothesen auf zwei Positionen: Einerseits Diphthongierung durch Vokallängung, wie auch immer verursacht, andererseits Diphthongierung durch Metaphonie. Einige Anmerkungen zur dritten Hypothese: Im metaphonierenden Kontext der hohen Endungsvokale (cf. Kapitel «Metaphonie») können neben Veränderungen der Vokalqualität auch vokalische Verkomplexierungen verortet werden und damit ein Zusammenhang zwischen Metaphonie und Diphthongierung hergestellt werden (folgende zentralitalienische Beispiele für «Metaphonie/Diphthongierung vor /i/ und /u/ versus Erhalt der Vokalqualität vor /a/ und /o/» stammen aus Maiden 1995, 37): (3)

vlat. SOLU > zentralital. sulu (offen-ADJ.M.SG) vs. vlat. SOLA > zentralital. sola (allein-ADJ.F.SG) vlat. APERTU > zentralital. apiertu (offen-ADJ.M.SG) vs. vlat. APERTA > zentralital. aperta (offen-ADJ.F.SG) vlat. MORIS > zentralital. muori (sterben-V.2SG.PRS) vs. vlat. MORO > moro (sterben-V.1SG.PRS.IND) vlat. PERDIS > zentralital. pierdi (verlieren-V.2SG.PRS) vs. vlat. PERDO > zentralital. perdo (verlieren-V.1SG.PRS.IND)

69

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

Schürr interpretierte diesen Zusammenhang wie folgt: Die artikulatorische Geste des Tonvokals kann partiell antizipatorisch die artikulatorische Geste des Endungsvokals affizieren. Partiell deshalb, da nur der Beginn der Tonvokalgeste betroffen ist, wodurch palatal oder velar anlautende Vokalkomplexe [jɛ] und [wɔ] als Ausgangsbasis für Diphthonge entstehen (Schürr 1936, 279–280). Insofern führt in Schürrs Theorie der «Romanischen Diphthongierung» die metaphonisch konditionierte Diphthongierung immer zu steigenden Diphthongen, wohingegen die «spontane», durch Längung bedingte Diphthongierung immer zu fallenden Diphthongen führt (Schürr 1970, 153–157). Die Metaphonie-Diphthongierungs-Hypothese Schürrs ist umstritten und fordert immer wieder zur Kritik heraus. So betrachten etwa Russo und Sánchez Miret (2009) anstatt der metaphonischen «Vorausnahme» der Vokalqualität die Längung von /ɛ/ und /ɔ/ als gemeinsame Basis der «Romanischen Diphthongierung» (cf. auch Sánchez Miret 1998a; cf. zum längenden Einfluss von finalen [i] und [u] Sánchez Miret 2010). Metaphonie sei eher morphologischen und weniger phonetischen Faktoren geschuldet, i.e. der sprachsystematischen morphophonologischen Signalisierung grammatischer Kategorien (Russo/ Sánchez Miret 2009, 167). Maiden (1988; 1991; 1995, 35–40 und 242–245) hingegen erklärt die «Romanische Diphthongierung» in italischen Varietäten schlüssig mithilfe metaphonischer Einflüsse. Einen weiteren wichtigen Phänomenbereich stellen die Stammvokalalternanzen in bestimmten Verbparadigmen in den von der «Romanischen Diphthongierung» (3./4. Jahrhundert) erfassten romanischen Sprachen dar (u.a. Rheinfelder 1967, 193–228; Revol 2000, 130–133). Bis heute wechseln sich hier diphthongische und monophthongische Gestaltung des Stammvokals weitgehend systematisch ab – diphthongisch: (1SG), 2SG, 3SG und 3PL und monophthongisch: (1SG), 2SG und 3SG: (4)

lat. TENĒRE (halten/besitzen-V.INF) Pers. lat. port. span.

frz.

ital.

rum.

1SG

TÉ.N/J/O

tenho

tengo

tiens

tengo

țin

2SG

TÉ.NES

tens

tienes

tiens

tieni

ții

3SG

TÉ.NET

tem

tiene

tient

tiene

ține

1PL

TE.NÉ.MUS

temos

tenemos

tenons

teniamo

ținem

2PL

TE.NÉ.TIS

tendes

tenéis

tenez

tenete

țineți

3PL

TÉ.NENT

têm

tienen

tiennent

tengono

țin

70

(5)

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

lat. MOVĒRE (bewegen-V.INF) Pers. lat. port. span.

frz. 32

ital.

rum.

1SG

MÓ.V(E)O

movo

muevo

meus

muovo

--

2SG

MÓ.VES

moves

mueves

meus

muovi

--

3SG

MÓ.VET

move

mueve

meut

muove

--

1PL

MO.VÉ.MUS

movemos movemos mouvons moviamo/ muoviamo

2PL

MO.VÉ.TIS

moveis

movéis

mouvez

3PL

MÓ.VENT

movem

mueven

meuvent muovono

--

movete/ muovete ---

Wie in (4) verhalten sich1 u.a. span. (schließen-V.INF), span. (denken-V.INF), span. (wollen-V.INF), frz. (müssen/schulden-V.INF) und frz. / ital. (wissen/können-V.INF). Wie in (5) verhalten sich u.a. span. / frz. / ital. (sterben-V.INF), span. / frz. / ital. (können-V.INF), span. (schlafen-V.INF), span. (zurückkommen-V.INF) und frz. / ital. (wollen-V.INF). Als phonetischer Kontext der Diphthongierung der Stammvokale können wieder die betonten vulgärlateinischen Vokale /ɛ/ und /ɔ/ in offener Silbe spezifiziert werden. In den iberischen Varietäten, die zum Kastilischen führten, wurden auch wie bei anderen Wortklassen die betonten Stammvokale in geschlossener Silbe diphthongiert. Maiden (1995, 242–245) erklärt die Diphthongierung der Stammvokale /ɛ/ und /ɔ/ in zentralitalischen Varietäten als Metaphonie. Die Stammvokalalternanzen in diesen Verbparadigmen korrespondieren mit einem Wechsel der ursprünglichen lateinischen Akzentstelle abhängig von der Silbenzahl des Wortkörpers. Im Latein wurde bei der 2SG, 3SG und 3PL der Stammvokal, der sich in der Pänultima befand, akzentuiert, z.B. in lat. (bewegen-V.2SG.PRS.IND). Diese Stammvokale wurden diphthongiert, z.B. in span. (bewegen-V.2SG.PRS.IND). Bei der 1SG ist davon auszugehen, dass in den gesprochenen Varietäten des Lateins der klassischlateinisch überlieferte Hiatus /e.o/ in der Verbendung, z.B. in lat. , nicht realisiert wurde. Die Vokalqualität des /e/ wurde entweder getilgt oder führte

31 In der neufranzösischen Aussprachen ist monophthongisch: in offener Silbe /ø/ und in geschlossener Silbe /œ/.

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

71

zu Palatalisierung bzw. Velarisierung, z.B. in span. . Hier ist von einer schwankenden Silbenstruktur und damit einer schwankenden Akzentuierung auszugehen, so dass manchmal der Stammvokal diphthongierte, manchmal nicht. Bei den mehrsilbigen Verbendungen der 1PL und 2PL, z.B. in lat. (bewegen-V.1PL.PRS.IND), verschob sich die Akzentstelle vom Stammvokal, der jetzt in der Antepänultima lag, auf einen Endungsvokal in Pänultimaposition, der seinerseits aber nicht diphthongiert wurde, z.B. in span. (bewegen-V.1PL.PRS.IND). Einige der Stammvokalalternanzen wurden im Laufe der Entwicklung zu den modernen romanischen Sprachen analogisch regularisiert, z.B. frz. (lieben-V.INF), cf. auch 1PL und 2PL von ital. (bewegen-V.INF. REFL) in (5). So können etwa die diphthongischen Stammvokalqualitäten der Präsens-Indikativ-Plural-Formen des italienischen Verbs (verbieten-V. INF) (verbieten-1PL.PRS.IND), (verbieten-2PL.PRS.IND) und (verbieten-3PL.PRS.IND) nicht aus den Akzentuierungsverhältnissen abgeleitet werden, wie sie einst für die Singularformen (verbieten1SG.PRS.IND) usw. phonetisch relevant waren, da es sich hierbei um analogische Übertragungen in die prätonische Silbe handelt. Die Diphthonge in diesen Positionen sind morphophonologisiert, i.e. sie müssen als morphologisches Wissen (morphologische Regel) erworben werden und resultieren nicht mehr als phonologischer Prozess aus dem phonetischen Kontext. Ein weiteres, für die hier untersuchten Sprachen relevantes Entstehungsszenarium ist die so genannte «Französische Diphthongierung». Diese, die Varietäten der langue d’oïl erfassende Veränderung im Vokalismus wird chronologisch zwischen ca. 500 und 800 verortet und betrifft die geschlossenen Vokale /e/ und /o/ sowie /a/ in offener Tonsilbe. Als Resultate entstehen die fallenden Vokalsequenzen /ɛj/ und /ɔw/ bzw. eine zeitlich komplexere (gelängte) veränderte Vokalqualität, in etwa /ɛː/ oder /æ/32:

32 Rheinfelder ([1937] ³1963, 30–31) geht von einer Längung und Qualitätsveränderung von a aus. Seit dem 13. Jahrhundert assoniert der aus lat. /a/ in offener Tonsilbe hervorgegangene Laut immer häufiger mit [ɛ], i.e. der Qualitätsunterschied schien abzunehmen: «Das aus a in freier Stellung entstandene afz. e ist nach Quantität und Qualität nicht genau bekannt. Wir wissen nur, daß es von den aus dem VL ins Afz. übergegangenen Laute ẹ und ę […] verschieden war. […] Wahrscheinlich war das e aus a ein langes ę, das sich eben vor allem durch seine Länge von dem anderen ę unterschied» (Rheinfelder [1937] ³1963, 30). Buridant (2000, 41) charakterisiert den aus lat. /a/ in offener Tonsilbe hervorgegangene altfranzösischen Laut mittels des in der IPA-Systematik zwischen /ɛ/ und /a/ stehenden /æ/. Als Grund führt Buridant an, dass dieser Laut sich von /e/ und /ɛ/ qualitativ unterschieden haben muss, da er nicht mit letzteren beiden assoniert oder sich reimt: afrz. [æ] (< lat. TĀLĔ) (derartig-ADJ.M.SG) reimt sich nicht mit afrz. [ɛ] (< lat. BELLŬM) (hübsch-ADJ.M.SG),

72

(6)

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

klat. MĒNSĬS, vlat. [ˈmeː.se] > afrz. [mɛjs] > nfrz. [mwa] (Monat-N.M.SG) klat. HŌRĂM, vlat. [ˈoː.ɾa] > afrz. [ˈɔw.ɾə] > nfrz. [œːʁ] (Stunde-N.F.SG) klat. PRĀTŬM, vlat. [ˈpɾaː.tu] > afrz. [pɾɛː] > nfrz. [pʁeː] (Wiese/ Weide-N.F.SG)

Diese aus der «Französischen Diphthongierung» resultierenden Vokalsequenzen erfahren in ihrer weiteren Entwicklung zum Neufranzösischen beträchtliche Veränderungen: Im 11./12. Jahrhundert werden /ɛj/ zu /ɔj/ und /ɔw/ zu / ɛw/ dissimiliert. Die fallende Vokalsequenz /ɔj/ verändern sich ca. im 13. Jahrhundert zur steigenden Vokalsequenz /wɛ/, die ca. im 17./18. Jahrhundert die Lautqualität /wa/ annimmt, wie sie noch heute erhalten ist; siehe etwa die Entwicklung von vlat. [ˈmeː.se] zu nfrz. [mwa] (Monat-N.M.SG) in (6). Diese Entwicklung haben u.a. die Wortgestalten von frz. (Glaube-N.F. SG), (Haar-N.M.SG), (Erbse-N.M.SG), (Abend-N.M.SG) und (Weg/Bahn-N.F.SG) genommen. Spuren dieser altfranzösischen Vokalsequenzen finden sich noch heute in, über das Anglonormannische in den englischen Wortschatz gekommene Wörtern wie engl. [feɪθ] (Glaube-N. SG) oder engl. [ˈrɔɪ.əl] (königlich-ADJ). Fallende Vokalsequenzen /ɛw/ monophthongieren ca. im 13. Jahrhundert in, durch Apokope des Endvokals der Wortgestalt jetzt geschlossenen Silben zu /œ/ und in weiterhin offenen Silben zu /ø/; siehe etwa die Entwicklung von vlat. [ˈoː. ɾa] zu nfrz. [œːʁ] (Stunde-N.F.SG) in (6). Diese Entwicklung haben u.a. die Wortgestalten von frz. (Schnauze-N.F.SG), (Wert-N.F.SG) und (zwei-NUM) genommen. Spuren dieser altfranzösischen Vokalsequenzierung sind heute nur noch in der Graphie des Französischen erhalten. Besonderes Augenmerk verdient der silbische Wechsel (syllabicity shift) von afrz. fallendem /ɔj/ zu mfrz. steigendem /wɛ/ im Übergang vom Alt- zum Mittelfranzösischen (ca. 1200–1300), wie z.B. in afrz. /ɾɔj/ > /ɾwɛ/ (König-N.M.SG) (Pope 1934, 194–197). Silbischer Wechsel bedeutet, dass die Silbenträgerfunktion, die mit dem sonoreren (energiereicheren) Element der Vokalsequenz assoziiert ist, innerhalb der Vokalsequenz verlagert wird. Das Spezifische des altfranzösischen silbischen Wechsels besteht darin, dass die Silbenträgerfunktion auf das zweite, zunächst weniger sonore Element übergegangen ist. Insofern muss dieser silbische Wechsel mit einer Senkung der Artikulationsstelle des Endes der

das sich seinerseits nicht mit afrz. [e] (< lat. ECCE ILLO) (jener dort-PRO.DEM) reimt (Buridant 2000, 42).

4.1 «Spontane» und «bedingte» Diphthongierung

73

Vokalsequenz und mit einer Hebung der Artikulationsstelle des Beginns der Vokalsequenz einhergegangen sein bzw. dessen dialektische Ursache gewesen sein. Über das Auslösen dieses Lautwandels können wiederum nur Hypothesen gebildet werden. Eine interessante silbenphonologische Interpretation dieses silbischen Wechsels gibt Donegan (1978, 116–124): Für Donegan korreliert dieser alt-/mittelfranzösische silbische Wechsel von fallend zu steigend (i) mit dem Übergang in den nordfranzösischen Varietäten zur offenen Silbe als präferiertes Silbenmuster und (ii) mit einem sprachsystematischen Wechsel in der Zeit-assoziierten prosodischen bzw. rhythmischen Gestaltung (timing system) vom akzentzählenden zum silbenzählenden Typus (cf. hierzu auch Stampe 1972b). Die Präferenz für offene Silben führte zur Tilgung und Vermeidung geschlossener Silbenstrukturen und zur Monophthongierung oder silbischem Wechsel fallender Diphthonge. Der einst die Diphthongierung fördernde phonetische Kontext des aktzentzählenden Vulgärlateins und Protoromanischen – die Längung betonter Vokale – wird durch die nunmehr recht monotone Rhythmisierung durch die Abfolge weitgehend isochronischer CV-Silben nivelliert (kritisch zur Einordnung des Französischen als silbenzählende Sprache cf. Dufter 2004). Insofern haben hier Donegan und Stampe einen erhellenden Zusammenhang zwischen dem timing-System einer Sprache und Diphthongierung hergestellt: Morenzählendes Klassisches Latein verfügt über phonologisch distinktive Quantitätsunterschiede; akzentzählendes Vulgärlatein/Protoromanisch unterscheidet zwischen betonten und unbetonten Silben, was zu phonetischer Längung bzw. Reduktion/Synkope von Silben und in gelängten Silben zu Diphthongierung führt; silbenzählendes Alt-/Mittelfranzösisch präferiert die CVSilbenstruktur, was zu Monophthongierung und silbischem Wechsel führt: In Romance, the relationship between the loss of distinctive length and diphthongization was not one of cause and effect, but one of shared causality. Length was lost because of an apparent change in the timing system from the mora-timing of Classical Latin to what appears to have been stress-timing in Vulgar Latin and early Romance. (The syncope of unstressed vowels, and the mergers and reductions of vowels in unaccented syllables—processes often found in stress-timed languages—are suggestive of this timing change.) The stress-timing system which shortened or deleted the vowels of unaccented syllables lengthened those of accented syllables—and this lengthening allowed diphthongization (Donegan 1978, 124).

4.1.2 Diphthongierung unter Einfluss der Nachbarlaute Neben den Diphthongierungen durch Längung des Haupttonvokals werden für den Zeitraum 3. und 4. Jahrhundert auch Vokalverkomplexierungen unter dem

74

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Einfluss palataler und velarer Nachbarlauten angesetzt. Geläufig ist, diese Diphthongierungen unter dem Etikett «bedingt» im Gegensatz zur «spontanen» durch Längung oder Metaphonie konditionierten Diphthongierung zu fassen. «Bedingt» meint hier, dass die konditionierenden lautlichen Kontexte rekonstruiert werden konnten. Betroffen sind ausschließlich galloromanische Varietäten: (7)

klat. NĬGRŬM, vlat. [ˈne.ɡɾo] > port. , span. , frz. [nwaʁ], ital. , rum. (schwarz-ADJ.M.SG) klat. NŎCTĔM, vlat. [ˈnɔk.te] > port. 33, span. , frz. [nɥi], ital. , rum. 34 (Nacht-N.F.SG) klat. PŌTĬŌNĔM, vlat. [po.ˈtsjo.ne] > port. , span. , frz. 35 [pwa.ˈzɔ̃], ital. , rum. -- (Arzneitrank/Gift-N.M/F.SG)

Die Entwicklung wie frz. (schwarz-ADJ.M.SG) zu synchronisch steigend / wa/ nahmen u.a. frz. (Recht, Gesetz, Dach, Nachbar, Wagen); wie frz. (Nacht-N.F.SG) zu synchronisch steigend /ɥi/ u.a. frz. (Frucht, Vollstreckungsbeamter, leuchten, schädigen) und wie frz. (Arzneitrank/Gift-N.M.SG) zu synchronisch steigend /wa/ u.a. frz. (Angst, Kreuz, Stimme). Die symbolgraphische Darstellung der Lautentwicklung zu nfrz. (schwarz-ADJ.M.SG) sieht wie folgt aus: klat. NĬGRŬM, vlat. [nɛɡɾo] > afrz. [nɛjɾ] > [nɔjɾ] > [nwɛɾ] > nfrz. [nwaʁ]. Auch in diesem Entwicklungsmuster fand um 1200 silbischer Wechsel von steigendem /ɔj/ zu fallendem /wɛ/ statt. Eine prominente bedingte Diphthongierung auf dem Weg zum Altfranzösischen ist die unter dem Etikett «Bartsch’sches Gesetz» firmierende Vokalverkomplexierung, die ca. im 5./6. Jahrhundert angesetzt wird (cf. u.a. Rheinfelder [1937] ³1963, 91–92, §225). Als ihr phonetischer Kontext kann spezifiziert werden: betontes a nach palatalem Konsonanten in offener Silbe wird zu /jɛ/, z.B. klat. CĂNĔM, vlat. [ˈka.ne] > afrz. [tʃjɛ̃n] > nfrz. [ʃjɛ̃] (Hund-N.M.SG). Die gleiche Entwicklung nehmen frz. (Hälfte, Mitleid, Freundschaft). Die Systematisierung der Diphthongierungen in den (proto-)romanischen Varietäten kann auf der Grundlage der Silbenstruktur erfolgen. Dann stehen sich die «spontane» Diphthongierung langer Vokale in offener Silbe und die «bedingte» Diphthongierung kurzer Vokale in geschlossener Silbe gegenüber

33 Hier entsteht der port. Diphthong zwar auch durch Palatalisierung, aber sprachgeschichtlich wesentlich später. 34 Hier entsteht der rum. Diphthong durch Metaphonie. 35 Das ebenfalls existierende frz. [po.ˈsjɔ̃] (Gebräu/Trank-N.F.SG) wurde im Hohen Mittelalter aus dem Latein ins Französische entlehnt.

4.2 Metaphonie

75

(Wolf/Hupka 1981, 76–80; Revol 2000, 23–36). Wie wir oben gesehen haben, ist diese Ausschließlichkeit problematisch, da in einigen (proto-)romanischen Varietäten auch e und o in geschlossener Silbe «spontan» diphthongiert sind. Rheinfelder ([1937] ³1963, 89–135) fasst deshalb «bedingte» Diphthongierung weiter und meint hier den konditionierenden lautlichen Kontext unabhängig von der Silbenstruktur (cf. auch Pope 1934, 160–165; Posner 1997, 259–260). In jeden Fall spielen aber für diese Diphthongierungen die phonetischen Kontexte (a) der Längung durch Akzentuierung und (b) der Metaphonie keine Rolle. Es sind vielmehr die palatalisierenden Kräfte der umgebenden Laute, die vokalische Verkomplexierungen herbeiführen. Trotz reicher romanistischer Forschung gibt es nach wie vor ungeklärte Aspekte der «spontanen» und «bedingten» Diphthongierung, die v.a. die konditionierenden Auslöser betreffen (cf. u.a Wireback 2010). Die Lösungsvorschläge bleiben sicherlich für immer im Bereich des Hypothetischen, da wie für jeden anderen Sprachwandel auch die konditionierenden Bedingungen immer nur im Nachhinein stipuliert werden können.

4.2 Metaphonie «Metaphonie» respektive «Umlaut» bezeichnen in der phonologischen Theorie einen regressiven Assimilationsprozess, bei dem sich der Vokal der Haupttonsilbe an den Vokal der unbetonten Folgesilbe assimiliert. Die phonetische Basis für Metaphonie bilden koartikulatorische Effekte ausgehend von den Endungsvokalen. So können beispielsweise die hohen geschlossenen Endungsvokale /-i/ und /-u/ eine antizipierte verringerte Öffnung des Mundes bei der Artikulation des Vokals der Tonsilbe bewirken (Kaze 1991), was z.B. lautgeschichtlich zu span. < lat. PŎTŬĪ (können-V.1SG.PST.IND) oder nhd. < ahd. (im Kontrast zu ahd. im Singular) führte. «Paradoxal» erscheint hierbei, dass der atonale schwache Endungsvokal eine Veränderung des starken tonalen Stammvokals herbeiführt, mithin das schwächere das stärkere Element verändert (Russo/Sánchez Miret 2009). In der Romanistik wurde das Wirken und Ausmaß metaphonischer Prozesse in romanischen Sprachen und Dialekten kontrovers diskutiert (für eine Begriffsund Forschungsgeschichte mit entsprechenden Literaturangaben cf. Blaylock 1965; cf. auch Krefeld 1999 und Lüdtke 22009, 492–515). Auf die umstrittene Metaphonie-basierte Grundlegung einer bedingten «Romanischen Diphthongierung» in italischen und dakischen Varietäten wurde bereits oben eingegangen (Schürr 1936; Lausberg 1956, 118–123; Rohlfs [1949] 1966, 12–21, 121–123 und 148–150; Schürr 1970; 1980; Maiden 1988; 1991; 1995, 35–40). Metaphonische Ef-

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

fekte prägen in einem recht unterschiedlichen Maß die einzelnen romanischen Sprachen (zu den diachronischen Quellen der Metaphonie im Romanischen/Protoromanischen cf. Leonhard 1978). Interessant ist hier die Betrachtungsweise Blaylocks (1965), Lautwandel als graduell ablaufende Prozesse zu konzipieren, bei denen Metaphonie eine Möglichkeit unter anderen ist: Treten Metaphonie begünstigende phonetische Umstände ein, findet sie statt; sie kann langsam oder schnell ablaufen; sie kann aber auch abbrechen, bevor sie voll ausgeprägt ist bzw. alle betroffenen Lexeme ergriffen hat oder sogar analogische Übertragungen stattgefunden haben (Blaylock 1965, 268). Weitgehend unumstritten sind die diachronischen metaphonischen Effekte der Endungsvokale auf die Stammvokale besonders in italienischen (außer im Toskanischen), spanischen, portugiesischen und rumänischen Varietäten. Diese einst koartikulatorisch bedingten Stammvokalalternanzen müssen jedoch synchronisch als morphophonologisches Regelwissen im Spracherwerb erworben werden, da der metaphonierende phonetische Kontext nicht mehr wirkt bzw. analogische Übertragungen stattfanden, i.e. die einst phonetisch bedingten Stammvokalalternanzen zu morphologischen Markern wurden (Maiden 1992). In den italienischen Varietäten wirkte Metaphonie extensiv (Torres-Tamarit et al. 2016), so können etwa im Sizilianischen Singular- von Pluralformen von Nomina häufig nur durch Stammvokalalternanzen unterschieden werden, etwa sizil. /pedi/ (Fuß-N.M.SG) vs. /pidi/ (Fuß-N.M.PL) (Grassi et al. 2003, 46–47). Im Spanischen prägen historische metaphonische Effekte weite Teile des Verbalsystems, z.B. span. (< lat. DŎRMĬVĬT) (schlafen-V.3SG.PST.IND) vs. span. (< lat. DŎRMĬVĬMŬS) (schlafen-V.1PL.PST.IND) (Alonso, D. 1958; Malkiel 1966; 1975/76; 1982/83; 1984a; 1984b; Kaze 1989; Penny [1993] ²2010, 64–68). Neben dieser diachronischen Dimension der spanischen Metaphonie charakterisiert Blaylock (1965, 255–256) sie als herausstechendes synchronisches Dialektmerkmal spanischer Dialekte. Extensiv wirkte Metaphonie im Portugiesischen, wo sie Stammvokalalternanzen bei Nomina, Verba und Demonstrativa bewirkte (Huber 1933; Williams [1962] 21968, 120–122, 129–131, 156–158 und 208–217; Blaylock 1965, 265–267; Parkinson 1988). Diese Stammvokalalternanzen markieren synchronisch redundant Genus bei Nomina und Adjektiven, z.B. port. (Auge-N.M.SG) vs. < [ɔ]lhos> (Auge-N.M.PL) oder port. (neu-ADJ.M.SG) vs. (neu-ADJ. F.SG). Hier hatte das auslautende lat. [-u] (lat. )-SG vs. lat. [-os] (lat. )PL metaphonisch die Schließung der Stammvokale bewirkt. Im Rumänischen markieren sowohl ursprünglich metaphonisch bedingte als auch analogisch übertragene Stammvokalalternanzen morphologische Kategorien wie Numerus, z.B. rum. (Tisch-N.F.SG) vs. (Tisch-N.F.PL) oder (Stein-N.F.SG) vs. (Stein-N.F.PL), Genus, z.B. rum.

4.3 Koaleszenz

77

(schwarz-ADJ.F.SG) vs. (schwarz-ADJ.M.SG) und Modus der 3SG, z.B. rum. (können-V.1SG.PRS.IND) vs. (können-V.3SG.PRS.IND) vs. (können-V.3SG.PRS.SUBJ) (Beyrer et al. 1987, 25–28; Mallinson 1988, 398–408; Iliescu/Popovici 2013, 33–38, 49–61, 96–97 und 221–223). Sprachhistorisch sind die rumänischen Verhältnisse verquickt und weit von einer abschließenden Klärung entfernt. Lausberg (1956) etwa übernimmt Schürrs (1936) Hypothese einer allgemeinen frühen metaphonischen Diphthongierung von [ɔ] und [ɛ] vor auslautenden lat. [-u] und [-i] in italischen und dakischen Varietäten. Von diesem Standpunkt aus müssen dann für die rumänische Entwicklung (i) eine Monophthongierung des aus [ɔ] entstandenen Diphthongs [wɔ] zu [o], da [wɔ] nirgends belegt ist, und (ii) analogische Entwicklungen vor auslautenden [-a] und [-e] stipuliert werden (Lausberg 1956, 120–121). In dakischen Wörtern (8) metaphonierten nämlich die Tonvokale vor finalem [-a] oder [-e] zu ia), oa> und gerade nicht vor [-u]. (8)

klat. NŎSTRŬM, [ˈnɔs.tɾu] > rum. (unser-PRO.POSS.M.SG) klat. NŎSTRĂM, vlat. [ˈnɔs.tɾa] > rum. (unsere-PRO.POSS.F.SG) klat. PĔTRĂM, vlat. [ˈpɛ.tɾa] > rum. (Stein-N.F.SG) klat. NŎCTĔM, vlat. [ˈnɔk.te] > rum. (Nacht-N.F.SG) klat. SŌLĔM, vlat. [ˈso.le] > rum. (Sonne-N.M.SG)

Abschließend besteht jedoch keine Einigkeit darüber, wie die rumänischen Diphthonge sprachhistorisch entstanden sind. Neben Spores (1972) Hypothese einer frühen spontanen «rumänischen» Diphthongierung von betontem e und einer späteren metaphonischen Diphthongierung (cf. zur Mischung dieser beiden Entstehungsszenarien auch Rosetti 1943, 19–23) konkurrieren drei große Entstehungshypothesen miteinander: Vokalverkomplexierung durch (i) Metaphonie (Adolfo Mussafia, Iorgu Iordan, Friedrich Schürr), (ii) spontane Diphthongierung (Wilhelm Meyer-Lübke) und (iii) Metaphonie gefolgt von Diphthongierung (Emil Petrovici, Marius Sala) (für eine detaillierte Übersicht nebst Literaturverweisen cf. Sánchez Miret 2011).

4.3 Koaleszenz Unter «Koaleszenz» (von lat. COALĒSCERE «zusammenwachsen») wird die Verschmelzung zweier benachbarter Laute zu einem neuen Laut oder Lautstruktur gefasst, z.B. mhd. > nhd. . Beim Verschmelzungsprozess verändern sich die Qualitäten der ursprünglichen Laute zu einer neuen Qualität, wobei als Ergebnis sowohl einfache (Monophthonge) als auch komplexe

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

(Diphthonge) vokalische Strukturen entstehen können. Geschieht der Verschmelzungsprozess über Silbengrenzen hinweg, wird die Silbenstruktur der Wortgestalt affiziert. In den hier untersuchten romanischen Sprachen entstanden durch verschiedene Lautwandelprozesse Kontexte, in denen adjazente Vokale zu komplexen Vokalstrukturen wurden: (i) durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, (ii) durch Tilgung intervokalischer Konsonanten und (iii) durch Vokalisierung von Konsonanten, besonders /l/. Im synchronischen Sprachgebrauch sind Spuren dieser diachronischen Prozesse vorhanden, nämlich dann, wenn das Sprachsystem den Hiatus-Diphthong-Kontrast phonologisch nicht stark auslastet. Hier variieren dann diphthongische und hiatische Realisierungen von Vokalsequenzen in ein und derselben Lexie.

4.3.1 Koaleszenz durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate Es ist davon auszugehen, dass die klassischlateinisch überlieferten Hiate in den gesprochenen Varietäten des Lateins variabel, aber durchaus mit einer verstärkten Tendenz zur Hiattilgung realisiert wurden (zur übereinzelsprachlichen Tendenz zur Hiattilgung cf. «Silbenkontaktgesetz» und «Hiatgesetz» in Vennemann 1988; Restle/Vennemann 2001, 1317–1318). Die in den sprechsprachlichen Varietäten des Lateins anzunehmende Varianz zwischen hiatischen und diphthongischen Realisierungen von Vokalsequenzen identischer Lexien wurde einzelsprachlich unterschiedlich in den romanischen Sprachen aufgelöst. Entweder wurde die Varianz (teilweise) beibehalten (Spanisch), entstand (teilweise) neu (Italienisch), oder diphthongisch (Französisch) oder hiatisch (Portugiesisch, Rumänisch) aufgelöst: (9)

klat. SŬĀVĔM, vlat. [ˈswa.ve] ~ [su.ˈa.ve] > port. [ˈswa.vɨ] ~ [su.ˈa.vɨ], span. [ˈswa.βe] ~ [su.ˈa.βe], afrz. 36 [swɛf], ital. [so.ˈa.ve], rum. [su.av] (süß/angenehm/lieblich-ADJ.GENERISCH.SG)

Werden die ursprünglichen Hiate aufgelöst, kann das (i) zu einer Verschmelzung der beiden adjazenten Vokale unter Auflösung der einst trennenden Silbengrenze (Tautosyllabierung), z.B. lat. DĔ.ŬS > span. [djɔs] (Gott-N.M. SG), oder (ii) zum Einfügen eines palatalen oder velaren Elements vor dem

36 Nfrz. [sy.av] basiert auf einer Entlehnung aus dem 16. Jahrhundert.

4.3 Koaleszenz

79

zweiten Vokal bei Erhalt der Silbengrenze (Gleitlautepenthese), z.B. lat. MĔ.Ă > span. [ˈmi.ja] (meine-ADJ.F.SG), führen. Durch Hiattilgung entstand etwa im Französischen die stabile diphthongische Vokalsequenz /ɥi/, z.B. lat. PRŬ.ĪNĂM > frz. (Nieselregen-N.F.SG) und lat. RŬ.ĪNĂM > frz. (Ruine-N.F.SG) (Rheinfelder [1937] ³1963, 84, §210). Wohingegen die exakt identische Vokalsequenz /ɥi/ in frz. (Schenkel-N.F.SG), (Frucht-N.M.SG), (leuchten-V.INF) oder (schaden-V.INF) das Ergebnis bedingter Diphthongierung vor palatalem Konsonanten ist: lat. CŎXĂM > frz. ; lat. FRŪCTŬM > frz. ; lat. LŪCĒRĔ > frz. und lat. NŎCĒRĔ > frz. (Rheinfelder [1937] ³1963, 99, §243 und 104–105, §265). Beide Entwicklungen führten zu identischen Lautstrukturen im heutigen Französisch. Im Spanischen entstanden durch Hiattilgung stabile Diphthonge und so genannte «diptongos ambivalentes» (Inchaurralde et al. 2001, 55), i.e. Vokalsequenzen, die sowohl hiatisch als auch diphthongisch realisiert werden können, ohne dass dabei lexikalischer Kontrast erzeugt wird. Beispiele für stabile diphthongische Realisierungen der Vokalsequenzen sind span. [ˈaj.ɾe] (< lat. Ā.ĔRĔM) (Luft-N.M.SG) und span. [djɔs] (< lat. DĔ.ŬS) (Gott-N.M.SG). Beispiele für variable Realisierungen der Vokalsequenzen sind span. [ˈfwe.ɾɔn] ~ [fu.ˈe.ɾɔn] (< lat. FŬ.ĒRŬNT) (sein-COP.3PL.PST.IND) und span. [fwi] ~ [fuj] (< lat. FŬ.Ī) (sein-COP.1SG.PST.IND) (Menéndez Pidal 1904, 46–47; Kubarth 2009, 88–89; Gabriel et al. 2013, 81–84). Marotta (1987; 1988) beschreibt fürs Italienische ein «continuum di variazioni» (Marotta 1987, 882) zwischen Diphthongen und Hiaten. Eine klare kategoriale Trennung zwischen beiden Vokalmustern sei im Italienischen, so Marotta, jedenfalls nicht möglich. Variable Diphthong-Hiatus-Realisierungen finden sich v.a. in italienischen Vokal-Gleitlaut-Sequenzen (fallende Diphthonge) in identischen Lexien, z.B. in ital. (da/weil-CONJ) und ital. (Morgenröte-N.F.SG). Die Ursprünge hierfür sind sowohl im sprechsprachlichen Latein (erbwörtliche Entwicklung) als auch in späteren gelehrten Entlehnungen zu suchen, gehen aber maßgeblich von ursprünglichen Diphthongen und nicht von Hiaten aus.

4.3.2 Koaleszenz durch Ausfall intervokalischer Konsonanten Ursprünglich lautsequenziell getrennte Vokale können auch durch den Ausfall intervokalischer Konsonanten aufeinandertreffen, z.B. lat. RĪVŬM > span. (Fluss-N.M.SG), lat. LĒGĀLĔM > span. (loyal-ADJ.GENERISCH.SG) und lat. VĬDĔO > span. (sehen-V.1SG.PRS.IND). Die Tilgung des Konsonanten ist

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

das radikale Ergebnis konsonantischer Schwächungsprozesse. Die der Tilgung vorausgehende Sonorisierung intervokalischer ursprünglich stimmloser Konsonanten wird in der romanischen Sprachgeschichte als Kriterium zur Einteilung in Ostromania (Italienisch, Rumänisch) und Westromania (Französisch, Spanisch, Portugiesisch) herangezogen wird. Das Spektrum reicht von [stimmlos] (ital. port. [ˈvju.va] ~ [vi.ˈu.va], span. [ˈbju.ða] ~ [bi.ˈu.ða] ~ [ˈbiw.ða], afrz. (> frz. [vœːv]), ital. , rum. (Witwe-N.F.SG) Dieses Entstehungsszenario durch Ausfall intervokalischer Konsonanten betrifft im besonderen Maß das Französische, da hier die Schwächung intervokalischer Konsonanten in vielen Fällen zu ihrem radikalen Ende gekommen ist. Hier die Entwicklung der synchronisch variablen Wortgestalt von frz. (töten-V.INF) mit Nennung der Lautwandelprozesse: klat. TŪTĀRĔ (beschützen/bewachen/verteidigen-V.INF), vlat. [tu.ˈta.ɾe] > [tu.ˈdɛɾ] (= Sonorisierung des intervokalischen /-t-/, 4./5. Jh.) > [tu.ˈðɛɾ] (= Spirantisierung von /-d-/, 6. Jh.) > afrz. (= Verstummen der intervokalischen Frikative, 9.–11. Jh.) > nfrz. [tɥe] ~ [ty.e]. Insofern entstehen im Altfranzösischen durch den Ausfall intervokalischer Konsonanten viele Vokalsequenzen, wobei zuweilen eine klare chronologische Trennung zwischen «spontaner» Diphthongierung und Koaleszenzdiphthongierung nicht möglich ist (cf. Rheinfelder [1937] ³1963, 123–128). In jedem Fall belegen die variablen überlieferten altfranzösischen Graphien mit bis zu drei Vokalgraphemen komplexe Vokalszenarien. Ausgehend vom Entstehungsszenario intervokalischer Konsonanten liegen heute im Neufranzösischen monophthongische Strukturen, z.B. frz. [fø] < lat. FŎCŬM (Feuer-N.M.SG), diphthongische Strukturen, z.B. frz. [ljø] < lat. LŎCŬM (Ort-N.M.SG) und

4.3 Koaleszenz

81

variable Realisierungen, z.B. frz. [lwe] ~ [lu.e] < lat. LŎCĀRE (mieten-V. INF), vor. In der romanischen Sprachgeschichte wird die Lautwandelkette Sonorisierung > Spirantisierung > Tilgung intervokalischer Konsonanten als gemeinromanische Lautentwicklung angesehen, wobei die einzelnen romanischen Sprachen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehen. Französisch hat den radikalen Endpunkt der Konsonanttilgung bereits erreicht, gefolgt von Spanisch, wo die intervokalischen Konsonanten approximativ-frikativ realisiert werden. Am konservativsten sind die ostromanischen bzw. peripheren romanischen Varietäten, wo in vielen Fällen die stimmlosen intervokalischen Konsonanten bislang erhalten geblieben sind. Vergleiche etwa die Entwicklung von lat. LŎCŬM / LŎCĀRE > port. , span. aport. [ˈow.tɾu] (> nport. [ˈo.tɾu]), span. , frz. (afrz. [ˈaw.tɾə] > nfrz. [oːtʁ]), ital. , rum. (anderer-ADJ.M.SG)

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

klat. MŬLTŬM, vlat. [ˈmul.to] > port. [ˈmũĩ.tu], span. [muj] ~ [mwi], afrz. [mowt] (> nfrz. Ø), ital. , rum. (sehrADV) klat. SĂLĬCEM, vlat. [ˈsal(i).tse] > port. [saɫ.ˈɡɛj.ʁu], span. [ˈsaw.θe], frz. (afrz. [ˈsaw.lə], nfrz. [soːl]), ital. , rum. (Weidenbaum-N.SG) klat. SĔX, vlat. [seks] > port. [sɛjs], span. [sɛjs], frz. [sis], ital. [sɛj], rum. (sechs-NUM) Die Vokalisierung von /l/ ist für die romanische Lautgeschichte ein überaus weitgreifender Lautwandelprozess (cf. Kolovrat 1923; Rohlfs [1949] 1966, 343–344; Williams [1962] 21968, 89–90; Straka 1968; Recasens 2012).37 Im Portugiesischen, Spanischen und Italienischen blieben die Vokalsierungen von /l/ bis heute erhalten. Im Französischen monophthongierten die entstandenen Verschmelzungsdiphthonge zwischen ca. dem 14. und 16. Jahrhundert. Spuren finden sich heute nur noch in der Graphie: z.B. frz. [oːb] (< lat. ALBĂM) (Morgendämmerung-N.F.SG), [boː] (< lat. BELLŬM) (schön-ADJ.M.SG), [ʃoː] (< lat. CĂLĬDŬM) (warm-ADJ.M.SG), [øː] (< lat. ILLŌS) (PRO. PERS.3PL.BETONT), [oːm] (< germ. HELME) (Helm-N.M.SG) und [mjøː] (< lat. MĔLĬŬS) (besser-ADV) (zur Vokalisierung von /l/ im Altfranzösischen cf. Pope [1934] 1973, 153–156; Rheinfelder [1937] ³1963, 129–134 und 235–237; Wolf/Hupka 1981, 52 und 78–79; Revol 2000, 45–47). Die entstandenen Monophthonge sind lang bzw. zweimorig, i.e. die Zeitstruktur der altfranzösischen Verschmelzungsdiphthonge ist auch im Neufranzösischen noch erhalten. Vokalisierungen anderer Konsonanten als /l/ kommen insgesamt seltener vor. Fürs Französische sind Vokalisierungen von /ɡ/ und /k/ vor Konsonant belegt, z.B. in frz. [e.me.ˈʁoːd] (afrz. [e.me.ˈɾaw.də]) (< lat. SMĂRĂGDŬM) (Smaragd-N.F.SG) und frz. [ɥit] (< lat. ŎCTŎ) (acht-NUM) (Pope [1934] 1973, 132–134; Rheinfelder [1937] ³1963, 133–134); fürs Portugiesische und Spanische z.B. in (< lat. ĂCTŎ) (Akt/Handlung-N.M.SG) und (< lat. SĔX)

37 Kolovrat (1923, 283): «Ainsi que nous avons pu constater, la vocalisation de la consonne l a lieu dans presque toutes les langues romanes, quoique souvent dans différentes positions phonétiques. En effet, nous l’avons observée en français, en provençal, en espagnol, en portugais, dans les dialectes italiens (ligurien, piémontais, dialectes méridionaux, sicilien), en rhétoroman de l’Ouest et partiellement en rhétoroman du Centre. Les langues où l ne s’est pas vocalisé sont le catalan, le rhétoroman de l’Est et les dialectes orientaux du rhétoroman du Centre ; en roumain et en italien littéraire, la vocalisation est, d’autre part, tout à fait exceptionnelle».

4.3 Koaleszenz

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(sechs-NUM) (Zauner 1908: 18; Penny [1993] ²2010: 80–93) (zu den artikulatorischen Faktoren der Palatalisierung der lat. /kt/-Sequenz (gestural blending) cf. Wireback 2010). Eine Interpretation der akustischen und artikulatorischen Gründe für die Vokalisierung von dunklem /l/ unterbreiten Recasens/Espinosa (2010a; 2010b; Recasens 1996; 2012). Es sind die ähnlichen Frequenzwerte der zweiten Formanten (F2) (Acoustic Equivalence Hypothesis) und die ähnlichen artikulatorischen Gestenkonstellationen (Articulation-based Hypothesis) von dunklem /l/ und /w/, die Hörer beide Laute als ähnlich bis identisch wahrnehmen lassen. Als maßgebliche phonetische Kontexte dieses Lautwandels wurden silbenfinale Positionen des dunklen /l/ vor heterosyllabischen Konsonanten und besonders vor /a/ spezifiziert. Diese Kontexte bewirken gleichermaßen eine Erhöhung des Dunkelheitsgrades von /l/ und befördern den Verlust des alveolaren Zungenspitzenkontakts, so dass diese Laute immer mehr als /w/ reanalysiert werden: «[…] the highest number of /w/ percepts was obtained for stimuli exhibiting both a low F2 and little or no alveolar contact, which suggests that both spectral and articulatory cues contribute to /l/ vocalization» (Recasens 2012, 61). Akustische, artikulatorische, silbenphonologische und perzeptive Affinitäten zwischen den Liquida /l/ und /r/ und deren vokalischen Artikulationen führen in vielen Sprachen zu Vokalisierungstendenzen. In Dialekten des Deutschen kommen Vokalisierungen von /l/ und /r/ vor, z.B. im Bairischen [fuj] und im Berlinerischen [ˈma.la]. Aber auch in der deutschen Standardaussprache wird /r/ vokalisiert, etwa in [deː.ɐ] und in [vɛɐ.ˈbɪn. dəth] (zu Vokalisierungen in deutschen Dialekten cf. Haas 1983, in schweizerdeutschen Dialekten cf. Christen 2001 und in niederländischen Dialekten cf. van Reenen 1986). Im Brasilianischen Portugiesisch ist die Vokalisierung von silbenfinalem ein synchronisch aktiver phonologischer Prozess, z.B. port. [le.ˈɡaw] (toll-ADJ.GENERISCH.SG) und port. [ˈkaw. do] (Brühe-N.M.SG) (Feldman 1972; Parkinson 1988, 135). Vokal und vokalisiertes l verschmelzen hier zu diphthongischen Artikulationsgesten. Da bei der tautosyllabischen Verschmelzungsdiphthongierung nach Vokalisierung von /l/ die Silbenstruktur der betroffenen Wortgestalten nicht affiziert wurde, i.e. der entstandene Verschmelzungsdiphthong befindet sich in der gleichen Silbe wie vorher der Vokal und das /l/, gehen aus diesem Entstehungsszenario keine variablen Realisierungen (hiatisch ~ diphthongisch) hervor. Die entstandenen und in die Gegenwartssprachen fortgeführten Vokalsequenzen werden immer diphthongisch realisiert.

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

4.4 Konsonantische Entwicklungspfade zu palatalem /j/ und labiovelarem /w/ Neben der Vokalisierung der Konsonanten /l/, /ɡ/ und /k/ existieren noch andere konsonantische Entwicklungspfade in den romanischen Sprachen, aus denen Vokoidsequenzen in Wörtern hervorgingen. Diese konsonantischen Pfade führten zu labiovelarem /w/ und palatalem /j/. Labiovelares /w/ setzte sich nach /k/ und vor /a/ erbwörtlich aus dem Lateinischen ins Italienische, Spanische und Portugiesische fort, z.B. lat. ĂQUĂM > ital. , span. , port. (Wasser-N.F.SG) und lat. QUĂNDŎ > ital. , span. , port. (wann-CONJ/ADV) (Williams [1962] 21968, 78–90). Oder labiovelares /w/ kam über die Konsonantensequenz /ɡw/ des germanischen Superstrats in die romanischen Sprachen, wo es im Italienischem, z.B. in ital. (Krieg-N.F.SG), (Handschuh-N.M.SG) und (schauen/behüten-V.INF), im Spanischen, z.B. in span. (bewachen-V.INF), und im Portugiesischen, z.B. in port. (aufbewahren-V. INF), bis in die Gegenwart fortbesteht (Rheinfelder [1937] ³1963, 148; Lloyd 1987, 131–138). Palatales /j/ bildete sich im lautlichen Kontext palataler Vokale /i/ und /e/ nach /l/ und vor Vokal heraus. Etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung wurden in diesem Kontext /i/ und /e/ zu unsilbischem /j/ und es entstand die Lautstruktur [ljV]. Palatales /j/ beeinflusst koartikulatorisch vorausgehendes /l/, dessen Artikulationsstelle zum Palatum hin verlagert wird, so dass sich etwa im 2. Jahrhundert aus der Lautsequenz [lj] der palatale Lateral /ʎ/ herausbildet (Palatalisierung). Das Ergebnis dieses Lautwandels ist in einigen romanischen Sprachen bis heute erhalten geblieben, wie die Beispiele in (12) zeigen (Zauner 1908, 63–64; Pope [1934] 1973, 120–135; Rheinfelder [1937] ³1963, 112–116 und 197–211; Williams [1962] 21968, 62–65 und 78–90; Penny [1993] ²2010, 80–93; Meiller 2005; Heinemann 2017, 31–32): (12) klat. CŌNSĬLĬŬM, vlat. [kɔn.ˈsi.ljo] > port. [kõ.ˈse.ʎu], span. [kɔn.ˈsɛ.xo], frz. [kɔ̃.sɛj], ital. [kɔn.ˈsi.ʎo], rum. [kɔn.ˈsi.lju] (Rat-N.M.SG) klat. PĂLĔĂM, vlat. [ˈpa.lja] > port. [ˈpa.ʎa], span. [ˈpa.xa], frz. [paj], ital. [ˈpa.ʎa] (Stroh-N.F.SG), rum. [paj] (Strohhalm-N.NEUTER.SG) Im Französischen entwickelte sich der palatale Lateral /ʎ/ bis zum 17./18. Jahrhundert durch Verlust des Zungenspitzenkontakts mit dem Palatum zum palatalen Approximanten /j/, wodurch sekundäre fallende Vokalsequenzen

4.4 Konsonantische Entwicklungspfade zu palatalem /j/ und labiovelarem /w/

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entstanden: z.B. lat. TRĬPĀLĬŬM (Folterwerkzeug-N.SG.ACC), vlat. [tɾe.ˈpa.lju] > [tɾe.ˈpa.ʎu] > afrz. [tɾa.ˈvaʎ] (Gestell/Drangsal/Mühe/Arbeit-N.M. SG) > frz. [tɾa.ˈvaj] (Arbeit-N.M.SG). Die gleiche Entwicklung nehmen frz. [aj] (Knoblauch-N.M.SG), frz. [baj] (Pacht-N.M.SG), frz. [uj] (Steinkohle-N.F.SG), frz. [fij] (Tochter/Mädchen-N.F.SG), frz. [mɛ.ˈjœːʁ] (gut-ADJ.KOMPARATIV) und frz. [maj] (Masche-N.F.SG). Im Spanischen hingegen verlief diese Entwicklung anders, hier entwickelte sich zwar zunächst ein stimmhafter postalveolaren Frikativ /ʒ/, jedoch verlagerte sich die Artikulationsstelle noch weiter vom Palatum in Richtung Velum zur heutigen velaren frikativen Artikulation /x/: z.B. klat. CŌNSĬLĬŬM, vlat. [kɔn.ˈsi.ljo] > aspan. > nspan. . Ein weiterer phonetischer Kontext, in dem palatales /j/ entstand, sind die oft wortinitialen lateinischen Konsonantenfolgen /pl/, /bl/, /kl/, /ɡl/ und /fl/. Manche dieser Konsonantencluster entstanden erst durch den Ausfall unbetonter Vokale (Synkope), z.B. klat. SŌLĬCŬLŬM, vlat. [so.ˈlɛ.klu] > frz. [so.ˈlɛj] (Sonne-N.M.SG). Die Palatalisierung des /l/ in diesem phonetischen Kontext trifft die romanischen Sprachen unterschiedlich, cf. Beispiele in (13). Im Italienischen führt sie zu sekundären steigenden Vokalsequenzen, z.B. lat. PLŬĔRĔ > ital. (regnen-V.INF) (Rohlfs [1949] 1966, 241–242; Heinemann 2017, 39); im Spanischen zum palatalen Lateral /ʎ/ und später zum palatalen /j/, z.B. lat. FLĂMMĂM > span. [ˈʎa.ma] ~ [ˈja.ma] (Flamme-N.F.SG) (Zauner 1908, 32; Penny [1993] ²2010, 91–92; zum Ersatz von /ʎ/ durch /j/ im peninsulären Gegenwartsspanischen cf. u.a. Alonso-Cortés 2010; Hualde 2014, 178–180); im Französischen zu sekundären fallenden Vokalsequenzen, z.B. klat. ĂPĬCŬLĂM, vlat [a.ˈpi.kla] > frz. [a.ˈbej] (Biene-N.F.SG); im Rumänischen entstehen palatale Vokale. (13) klat. PLŌRĀRĔ, vlat. [plo.ˈɾa.ɾe] > port. [ʃu.ˈɾar], span. [ʎo. ˈɾaɾ] ~ [jo.ˈɾaɾ], frz. [plœ.ˈʁe], ital. [pjan.ˈdʒe.ɾe], rum. [ˈplɨ.dʒə] (weinen-V.INF) klat. PLĂTĔĂM, vlat. [ˈpla.tça] > port. , span. , frz. , ital. [ˈpja.tsa], rum. [pi.ˈa.tsə] (Platz-N.F.SG) klat. AURĬCŬLĂM, vlat. [aw.ˈɾi.kla] > port. [ɔ.ˈʁɛ.ʎa], span. [o.ˈɾɛ.xa], frz. [o.ˈʁɛj], ital. [o.ˈʁɛk.kjo], rum. [u.ˈʁe.kə] (Ohr-N.F.SG) Graphematische Reflexe dieser verschiedenen, konvergierenden Entwicklungspfade zu /j/ und /w/ finden sich noch heute in den graphischen Repräsentationen dieser beiden Laute. Im Französischen etwa wird palatales /j/ durch die

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Grapheme und Graphemverbindungen , z.B. in frz. [pe.ˈje] (bezahlen-V.INF), , z.B. in frz. [a.ˈbɛj] (Biene-N.F.SG), und , z.B. in frz. [tʁa.ˈvaj] (Arbeit-N.M.SG), abgebildet (Klein [1963] 21966, 105–108). Labiovelares /w/ wird durch das Graphem verschriftlicht, z.B. in frz. [wi.ˈkɛnd] (Wochenende-N.M.SG). Im Spanischen repräsentieren die Grapheme , z.B. in span. [ʎa.ˈmaɾ] ~ [ja.ˈmaɾ] (rufen-V.INF), und , z.B. in span. [jo.ˈɣuɾ] (Joghurt-N.M.SG), palatales /j/ und , z.B. in span. [wɛβ] (Internet-N.F.SG), sowie , z.B. in span. [ˈkwan.do] (wann-CONJ/ADV), labiovelares /w/. Ergebnissen dieser konsonantischen Lautentwicklungspfade sind sekundäre steigende und fallende Lautsequenzen mit palatalem /j/ und labiovelaren /w/ und nicht Diphthonge als genuin vokalische Entwicklungen. Auf artikulatorischer Ebene fand zwar eine Konvergenz der Artikulationsgesten statt, so dass sie lautlich nicht voneinander zu unterscheiden sind, jedoch unterliegen die aus konsonantischen Entwicklungspfaden stammenden /j/ und / w/ weniger phonotaktischen und silbenphonologischen Beschränkungen hinsichtlich der Kombinierbarkeit mit vorausgehenden und folgenden Vokalen sowie ihrer Positionierung in Silben (Onset, Koda) und Wörtern (wortinitial, wortintern, wortfinal).

4.5 Phonologische Integration von Lehnwörtern Vokalsequenzierungen können auch das Ergebnis lehnwörtlicher Integrationsprozesse sein. Besonders interessant ist dieser Prozess, wenn die aufnehmende Sprache bestimmte Laute bzw. Lautsequenzen ursprünglich nicht verwendet (zu Loanword Phonology allgemein cf. u.a. Calabrese/Wetzels 2009; zur phonologischen Integration von Lehnwörtern als L1-Perzeptions-gesteuerter Prozess cf. Boersma/Hamann 2009; zur Integration von Gallizismen ins Italienische im 19. Jh. cf Hope 1971; zur L2-Realisierung zentralisierender Diphthonge durch polnische Englischlerner cf. Balas 2009). Lexien mit palatalem /j/ und labiovelarem /w/ kamen etwa durch Entlehnungen neuerer Zeit in die romanischen Sprachen. So wurden z.B. frz. (Joghurt-N.M.SG) aus dem Bulgarischen und frz. (Wochenende-N.M.SG) aus dem Englischen (ebenso frz. ) sowie span. [xɛɾ.ˈsɛj] (Pullover-N.M.SG) und span. [ˈɡwis.ki] (Whisky-N.M.SG) aus dem Englischen ins spanische Lexikon (ebenso span. ) entlehnt. Das Entstehungsszenarium der phonologischen Integration von Lehnwörtern lässt sich besonders gut durch die Geschichte der rumänischen Sprache il-

4.5 Phonologische Integration von Lehnwörtern

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lustrieren. In seiner 2000-jährigen Geschichte als einer an der ab etwa dem Jahr 300 isolierten östlichen Peripherie der Romania sowie im Sprach- und Kulturkontakt mit vielen slawischen und Balkanvölkerschaften stehenden Sprache hat das Rumänische unzählige fremde sprachliche Elemente integriert (zur externen Sprachgeschichte des Rumänischen cf. Tiktin 1905, 5–12; Schroeder 1967, 16–44; Niculescu [1981] 1990; Lüdtke 22009, 435–467; Schulte 2009a; Bochmann/Stiehler 2010). Als Ergebnis zeichnet sich das Rumänische durch ein hohes Maß an lexikalischer Durchlässigkeit aus (Schulte 2009a, 249). Chitoran (2002a, 31) be schreibt das rumänische Lexikon als ein dynamisches, durch Erb- und Lehnwörter stratifiziertes Lexikon, bestehend aus einem phonologisch vollständig assimilierten Kernvokabular (Latein, Slawisch, Albanisch, Ungarisch, Türkisch), aus einem weniger gut assimilierten fremdsprachlichen Vokabular des 19. Jahrhunderts (Französisch, Italienisch, Griechisch, Türkisch, Deutsch) und aus nicht assimilierten Lehnwörtern des Gegenwartsrumänischen (Englisch). Für die Phonologie des Rumänischen ist nun entscheidend, dass einige synchronische phonologische Prozesse sensitiv für diese diachronische Stratifizierung des Lexikons sind. Im Folgenden beschränken wir uns auf die rumänische Sequenz [wa] respektive [o̯a], da diese zum einen für rumänische Entlehnungen aus dem Französischen eine wichtige Rolle spielt und zum anderen eine interessante Parallele zu englischen Lehnwörtern in anderen romanischen Sprachen besteht. Es soll nicht verschwiegen werden, dass unter Phonologen des Rumänischen keine abschließende Einigkeit über das Vokalphoneminventar und insbesondere über den phonemischen Status der Gleitlaute /j/ und /w/ sowie der Diphthonge /e̯a/ und /o̯a/ besteht (cf. Chitoran 2002a, 7–10 mit entsprechenden Literaturverweisen). Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert führen rumänische Intellektuelle eine intensive Auseinandersetzung um die Schaffung und Gestaltung einer rumänischen Schrift- bzw. Literatursprache (Niculescu [1981] 1990, 114–153; Bochmann/Stiehler 2010, 102–119). Eingebettet ist diese Debatte in den politischen und kulturellen Emanzipationsprozess der Siebenbürger Rumänen und die rumänische Nationalstaatenbildung, die 1859 in der Vereinigung der beiden Fürstentümer Walachei und Moldawien ihren vorläufigen Höhepunkt findet. Wie anderenorts in Europa sind Historiker und Philologen aktive Protagonisten der Nationalstaaten- und Nationalmythenbildung des 19. Jahrhunderts. Die Jahrzehnte zwischen 1780 und 1840 nennt Alexandru Niculescu die «Romance Westernization of the modern Romanian language and culture» (Niculescu [1981] 1990, 114). Gravitationszentren dieser rumänischen Westwärtsorientierung sind die Siebenbürger Schule («Școala Ardeleană») sowie die walachische und moldauische Intelligenzija. Geeint in ihrem Bestreben, eine

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

moderne rumänische Schriftsprache und Nationalkultur zu schaffen, gehen sie jedoch unterschiedliche Wege. Wählt erstere das antike Rom und das lateinische Erbe als kulturelle Folie, so dienen den walachischen und moldauischen Intellektuellen das moderne Frankreich bzw. das westliche Europa als Vorbild. Das walachische und moldauische Modell des «duh sfranțozesc» (französischer Geist) wächst sich um die Jahrhundertmitte zu einer regelrechten «Francomanie» aus (Bochmann/Stiehler 2010, 107). Nach der Revolution von 1848 und der Vereinigung von 1859 setzt sich letztlich das walachischmoldauische Modell durch und die volksferne etymologisierende Schreibung der Siebenbürger Schule wird verworfen. 1860 bzw. 1863 wird offiziell durch Regierungsbeschluss die bis dahin gebräuchliche kyrillische durch die lateinische Schreibung abgelöst. Als Ausgang dieses vielschichtigen Prozesses verfügt das Rumänische um 1850 über eine vollständig ausgebaute moderne Schrift-, Literatur- und Wissenschaftssprache. Der Einfluss des Französischen auf den rumänischen Gegenwartswortschatz ist mithin beträchtlich, Angaben rangieren um einen Anteil von 30% in ausgewählten Wörterbüchern (Niculescu [1981] 1990, 145–146, besonders Literaturangaben in Fußnote 25; cf. auch Haneș 1904, 220–250; Close 1974, 23–30, 41–46, 103–109 und 150–153; Schulte 2009a; 2009b; zu den Etymologien cf. Cihac 1870; Cioranescu 1958; Sala/Avram 2011–; dexonline (dicționare ale limbii române), ‹https://dexonline.ro/› [letzter Zugriff: 27.05.2021]). Hier einige rumänische Entlehnungen aus dem Französischen, die die Sequenz [wa] ~ [o̯a] enthalten: (14) rum. [bu.ˈdwaɾ] ~ [bu.ˈdo̯aɾ] < frz. [bu.ˈdwaʁ] (Damenzimmer-N.M.SG) rum. [ku.ˈlwaɾ] ~ [ku.ˈlo̯aɾ] (Flur/Bahn-N.NEUTER.SG) < frz. [ku.ˈlwaʁ] (Flur/Bahn-N.M.SG) rum. (im 19. Jh. auch ) [twa.ˈle.tə] ~ [to̯a.ˈle.tə] (Toilette-N.F.SG) < frz. [twa.ˈlɛt] (Toilette-N.F.PL) rum. [vwa.ja.ˈʒɔɾ] ~ [vo̯a.ja.ˈʒɔɾ] < frz. [vwa.ja.ˈʒœːʁ] (Reisender-N.M.SG) Die Integration der französischen Lehnwörter erfolgte auf orthographischer, morphologischer und phonologischer Ebene. Close (1974) beschreibt ausführlich diesen vielschichtigen Assimilationsprozess des rumänischen Lehnguts im frühen 19. Jahrhundert. Erschwert wurde die Inkorporation der französischen Lehnwörter in den rumänischen Schriftsprachenwortschatz dadurch, dass bis ca. 1860 das kyrillische Alphabet sein Medium bildete. Aber auch ungeachtet des zugrundeliegenden Schriftsystems mussten französische Vokale, die keine Äquivalente im Rumänischen besaßen – so Nasalvokale, offenes und geschlosse-

4.5 Phonologische Integration von Lehnwörtern

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nes e und o, /y/, /ø/ und /œ/ – annäherungsweise orthographisch und gemäß der rumänischen Phonologie wiedergegeben werden (Close 1974, 41–43 und 103–104). Als Anhaltspunkte dienten dabei sowohl die ursprüngliche französische Orthographie und Aussprache als auch die phonetisch-phonologischen Ressourcen des Rumänischen (Chitoran 2002a, 30). Die Ausgangssituation für die Assimilation von frz. [wa] war günstig, da das Rumänische bereits über die Vokalsequenz [ao̯] verfügte: «French [wa] was represented by oa, an approximation of the French pronunciation» (Close 1974, 43). Der Diphthong [o̯a] war das Ergebnis früher protorumänischer (metaphonischer) Diphthongierung von o. Im Kontrast hierzu wurde etwa frz. [nɥɑ̃s] ~ [ny.ˈɑ̃s] (Nuance-N.F.SG) über die graphische Repräsentation integriert, da weder der Laut /ɥ/ noch /y/ im Rumänischen vorkommen, was zu rum. [nu.ˈwan.tsə] ~ [ˈnwan.tsə] führte. In ihrer OT-basierten Darstellung der rumänischen Phonologie plädiert Chitoran dafür, phonologisch zwischen den rumänischen Diphthongen /e̯a/ und / o̯a/ und den Gleitlauten /j/ und /w/ zu unterscheiden, obwohl phonetisch (akustisch) dieser Kontrast nur für [e̯a] und [ja] bestätigt werden kann: «Phonetically, the diphthong [e̯a] and the glide-vowel sequence [ja] have distinct acoustic structure, but their back counterparts [o̯a] and [wa] do not» (Chitoran 2002a, 253). Dauerwerte, F2-Onset und die F2-Transitionsrate sprechen gegen eine akustische Differenzierung von [o̯a] und [wa] (Chitoran 2002a, 243–249). Silbenphonologisch verhielten sich die beiden Diphthonge jedoch wie einfache (einmorige) Silbenkerne, als Beleg wird u.a. die Diphthong-MonophthongAlternanz bei Betonungswechsel in bestimmten rumänischen Lexien herangezogen, wohingegen die Gleitlaute der Gleitlaut-Vokal-Sequenzen die Onset- oder Kodaposition besetzten. Letzteres wird durch Gleitlautepenthese zur Hiatusvermeidung illustriert. Für Chitoran sind /e̯a/, /o̯a/, /j/ und /w/ vier phonemische Einheiten des Rumänischen. Die akustische Asymmetrie zwischen [e̯a]–[ja] einerseits und [o̯a]– [wa] andererseits führt sie darauf zurück, dass im hinteren Vokalraum weniger artikulatorischer Raum für Differenzerzeugung sei. Neben dieser akustischen Asymmetrie besteht auch in der Distribution von /j/ und /w/ eine beträchtliche Schieflage. Während /j/ faktisch keinen phonotaktischen und lautlichen Beschränkungen unterliegt, ist die Distribution von /w/ stark eingeschränkt, so kommt /w/ als Gleitlautepenthese ausschließlich im Onset und lautlich nur vor /a/ vor (Chitoran 2002a, 12–18). Dies ist auf ihren Willen zurückzuführen, diese Vokalphänomenologie aus einem einheitlichen phonologischen Prinzip, i.e. Diphthongierung als synchronisch aktiver phonologischer regelbasierter Prozess, abzuleiten. Gleitlautepenthese ist aber ein phonetisch, koartikulatorisch zu erklärendes

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Phänomen der Verkettung von Lexien in der Redekette, wohingegen die lautliche Gestaltung der Lexien auf einer Perzeption-Artikulations-Rückkoppelung basiert.

4.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, diachronisch Basis der vorliegenden Interpretation von Vokalsequenzierungen in Wörtern bildet das integrierte kognitionsphonologische Modell für Perzeption, Speicherung, Aktivierung und Produktion mit seinen Theoriekomponenten Embodiment des Sprechens, Sprachgebrauch und Gestalttheorie. Das Modell geht von einer phonetisch vollspezifizierten Speicherung von Wörtern, Konstruktionen und prosodischer Konturen gemäß allgemeiner Prinzipien der menschlichen Kognition aus. Die darin enthaltene Komponente der phonologischen Gestalt verkörpert wahrnehmungs- und erinnerungsassoziierter Gestaltqualitäten, i.e. melodische Kontur, Klangfüllekontur, zeitliche Ausdehnung und Zeitstruktur, Prominenzstruktur, Komplexität sowie quantitativer und qualitativer Lauteindruck von Wörtern, Konstruktionen und prosodischen Konturen. Kernthese der vorliegenden Untersuchung ist, dass synchronische Variation in der vokalsequenziellen Wortgestaltung diachronische Ursachen hat. Die distinkten Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen in den untersuchten romanischen Sprachen sind: (i) Längung des Silbenkerns in betonter Stellung (ii) koartikulatorische Effekte umgebender velarer und palataler Laute (iii) Metaphonie (iv) Tilgung ursprünglicher lateinischer Syllabierungen (Hiate und Diphthonge) (v) Tilgung intervokalischer Konsonanten (vi) Vokalisierung von Konsonanten (vii) Konsonant-Vokoid-Konvergenz und (viii)phonologische Integration von Lehnwörtern. Jedes dieser Entwicklungsszenarien hat Einfluss auf die synchronische phonologische Ausgestaltung der Lexien. Eine ähnliche Vermutung hatte bereits Bertil Malmberg (1913–1994), ein dem Prager Strukturalismus verpflichteter Phonologe. Malmberg erkannte in seiner Untersuchung des synchronischen französischen Konsonantismus, dass das eigentümliche variable Verhalten der «semi-voyelles facultatives» («fakultative Halbvokale») wie etwa in frz. [ʒwe] ~ [ʒu.e] (spielen-V.INF), [tɥe] ~ [ty.e] (töten-V.INF) und [lje] ~ [li.e] (verbinden-V.INF) im Diachronischen gründet. Aus wissenschaftsideologischen Gründen versagt er sich aber selber, dieser Intuition auf den Grund zu gehen: «Et je

4.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, diachronisch

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serais enclin à continuer encore un peu dans la direction historique, quoique je sache très bien que c’est contre les principes strictement synchroniques de la phonologie» (Malmberg 1943, 28). Natürlich haben die Sprecher einer Sprache i.d.R. keine Kenntnis von der Diachronie. Aber ist deshalb die Synchronie eines Sprachsystems von der Diachronie völlig entkoppelt? Ist es wirklich wie in Ferdinand de Saussures (1857–1913) Schachspielmetapher ([1916] 1995, 125–127), dass nach dem Verrücken einer Spielfigur als Sinnbild für einen vollzogenen Sprachwandel das sich dadurch veränderte synchronische System wieder zur Ruhe kommt und die vorherige Position der Figur unbedeutend wird? Sprache wird in der sozialen Interaktion als konkrete Realisierungen von Exemplaren weitergegeben. Die Wahrnehmung von sprachlichen Einheiten wird dabei durch allgemeine Prinzipien der menschlichen Kognition und durch einzelsprachlich relevante Kontraste gelenkt. Da Sprecher somit immer nur mit der Kopie der Kopie der Kopie ad infinitum und niemals mit einem «Original» eines Wortes, einer Konstruktion oder einer prosodischen Kontur konfrontiert sind, hat dieser soziale Transmissionsprozess immer auch das Potenzial, diachronische Spuren zu reproduzieren und in der Synchronie fortzuführen. Variation, die durch diachronische Lautwandelprozesse entstanden ist, deren Kontraste aber einzelsprachlich phonologisch nicht ausgelastet sind und dadurch nicht wieder eingeschränkt werden, kann so fortgeführt werden. Damit können Kopien zu impliziten Trägerinnen diachronischer Information werden. Natürlich ist diese diachronische Information nicht explizit kodiert, sondern wird durch die Variation selber verkörpert. Im Gegensatz zu diskreten Sprachwandeltheorien mit der Annahme kategorialen Wandels in der mentalen Repräsentation von Wörtern können Exemplar-Theory-basierte Ansätze Variation in der Wortgestaltung besser erklären. Variation ist dann nicht der negative Nebeneffekt der Performanz, sondern integraler Bestandteil des Sprachgebrauchs. Auch gerade dann, wenn das Sprachsystem gar keine Entscheidung zugunsten der einen oder der anderen Variante einfordert bzw. herbeiführt. Schauen wir uns synoptisch die oben beschriebenen Entstehungsszenarien aus gestaltphonologischer Perspektive an. Diphthongische Vokalsequenzen entstanden in romanischen Sprachen zwischen dem 3. und 7. Jahrhundert entweder (i) durch Längung des Silbenkerns unter dem Hauptton (spontane Diphthongierung), (ii) durch koartikulatorische Effekte umgebender velarer und palataler Laute (bedingte Diphthongierung) oder (iii) durch metaphonisierende Effekte unbetonter Endungsvokale (metaphonische Diphthongierung). Der Lautwandel lat. PĔTRĂM, vlat. [ˈpɛː.tɾa] > port. , span. , frz. , ital. , rum. (rum. diphthongierte metaphonisch) (Stein-N.F.SG) illustriert Diphthongierungsprozesse durch Längung des Silben-

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4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

kerns und durch Metaphonie. Lautlich-kontextuell bedingte Diphthongierung und Metaphonie illustriert lat. NŎCTĔM, vlat. [ˈnɔk.te] > port. , span. , frz. [nɥi], ital. , rum. (rum. diphthongierte metaphonisch) (Nacht-N.F.SG). Die aus diesen Diphthongierungsprozessen hervorgegangenen Vokalsequenzen sind bis heute fester Bestandteil der Wörter. Trotz einer nicht unbeträchtlichen lautlichen Veränderungen blieb aber zunächst die silbische, zeitliche und rhythmische Gestaltung der betroffenen Wortgestalten erhalten. Entsprechendes Korrelat der silbischen Gestaltung ist der Intensitäts- bzw. Sonoritätsverlauf innerhalb der artikulierten Wortgestalt, das der zeitlichen Gestaltung die Morigkeit der Silben, hier bleiben schwere, zweimorige Silben, nämlich erst langer Vokal oder VC, dann Diphthong, erhalten, und das der rhythmischen Gestaltung ist das Prominenzprofil durch Akzentuierung. Die Diphthonge bildeten sich immer in der Silbe der betroffenen Vokale und niemals über die Silbengrenze hinaus heraus. Im Nordfranzösischen wurden die Endsilben später apokopiert, wobei auch noch heute die zweisilbige Realisierung v.a. im südfranzösischen Sprachraum etwa von frz. [pjɛ.ˈʁə] (Stein-N.F. SG) möglich ist. Da sich mithin diese Vokalsequenzen in der ursprünglichen (vulgär-)lateinischen silbenprosodischen und silbenstrukturellen Umgebung herausbildeten, gibt es auch heute keine von einer Affizierung der Silbenstruktur herrührende Variation zwischen diphthongischen oder hiatischen Realisierungen. Diese Vokalsequenzen werden immer diphthongisch realisiert und sind als lexikalische Diphthonge integrale Bestandteile entsprechender Wörter. Demgegenüber weisen einige Vokalsequenzen, die aus dem Zusammentreffen einst durch eine Silbengrenze getrennter Vokale entstanden sind, synchronisch silbenstrukturelle Variation auf. Hier variieren, wenn die betreffende Sprache den Kontrast zwischen Hiat und Diphthong phonologisch nicht auslastet, hiatische und diphthongische Realisierungen der entstandenen Vokalsequenz in ein und derselben Lexie frei. Diese Vokalsequenzen können (iv) durch Tilgung eines ursprünglichen lateinischen Hiatus, z.B. lat. FŬ.ĒRŬNT > span. [ˈfwe.ɾɔn] ~ [fu.ˈe.ɾɔn] (sein-COP.3PL.PST.IND), oder (v) durch den Ausfall eines intervokalischen Konsonanten, z.B. lat. CRŪDĒLĔM > span. [kɾwɛl] ~ [kɾu.ˈɛl] und frz. [kʁɥɛl] ~ [kʁu.ˈɛl] (grausam-ADJ.GENERISCH.SG), entstanden sein. Für die Wortgestaltung ist hier von Belang, dass durch die Koaleszenz der beiden Vokale über eine Silbengrenze hinweg die silbische Struktur und damit der Intensitäts- bzw. Sonoritätsverlauf und der Rhythmus der Wortgestalt affiziert wurden. Anstatt jedoch die ursprüngliche heterosyllabische Gestaltung vollständig zu tilgen, existieren die ältere und die neuere Silbenstrukturierung

4.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, diachronisch

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nebeneinander und erzeugen dadurch synchronische Variation im Sprachsystem. Ursächlich steht diese Variation im Spannungsfeld zwischen der von Vennemann (1988) postulierten übereinzelsprachlichen Tendenz zur Hiattilgung durch Tautosyllabierung und konservativen Kräften des (heterosyllabischen) Erhalts der Integrität der Wortgestalt. Neben diesen vokalischen Entwicklungen entstanden Vokalsequenzen auch unter Beteiligung von Konsonanten, i.e. (vi) durch Vokalisierung von Konsonanten und (vii) durch Konsonant-Vokoid-Konvergenzen. Ein Beispiel für die Vokalisierung von /l/ mit anschließender Verschmelzung mit dem adjazenten Vokal zu einem Koaleszenzdiphthong ist die Entwicklung von lat. MŬL.TŬM, vlat. [ˈmul.to] > port. [ˈmuj.tu], span. [muj] ~ [mwi], afrz. [mowt] (> nfrz. Ø), ital. , rum. (sehr-ADV). Für span. ergibt sich aus der Koaleszenz der beiden hohen Vokale /u/ und /i/ eine variable Wortgestaltung ohne phonologischen Kontrast, nämlich fallend-diphthongisch [muj] oder steigend-diphthongisch [mwi]. Ein erstes Beispiel für Konsonant-Vokoid-Konvergenz ist die Entwicklung von lat. PĂLĔAM, vlat. [ˈpa.lja] > port. [ˈpa.ʎa], span. [ˈpa.xa], frz. [paj], ital. [ˈpa.ʎa] (Stroh-N.F.SG), rum. [paj] (Strohhalm-N.NEUTER. SG). Neben den als Konsonanten identifizierbaren Lauten im Portugiesischen /ʎ/, Spanischen /x/ und Italienischen /ʎ/, entwickelte sich die wortinterne VCSequenz /Vlj/ im Französischen und Rumänischen zu nicht mehr von fallenden [aj] bzw. steigenden Diphthongen [jə] zu unterscheidenden Vokoidsequenzen. Ein zweites Beispiel für Konsonant-Vokoid-Konvergenz ist die Entwicklung von lat. PLŌRĀRĔ, vlat. [plo.ˈɾa.ɾe] > port. [ʃu.ˈɾar], span. [ʎo. ˈɾar] ~ [jo.ˈɾar], frz. [plœ.ˈʁe], ital. [pjan.ˈdʒe.ɾe], rum. [a.ˈplɨ.dʒə] (weinen-V.INF). Aus den wortinitialen Sequenzen /pl, bl, kl, ɡl, fl/ + Vokal gingen im Portugiesischen /ʃ/, Spanischen /ʎ/ und Italienischen /j/ palatalisierte Artikulationsgesten hervor. Im Spanischen führte später der Verlust des Zungenspitzenkontakts mit dem Palatum zur Dephonologisierung des palatalen Laterals /ʎ/ zugunsten von approximativem palatalen /j/. Heute besteht im Spanischen freie Variation zwischen /ʎ/ (lleísmo) und /j/ (yeísmo), wobei sich auch in einst traditionellen lleísmo-Arealen und damit auch im iberischen Standard /j/ (yeísmo) weitgehend durchgesetzt hat (Alonso-Cortés 2010; Hualde 2014, 178–180). Damit rücken auch die Lexien, die die ursprüngliche lateinische Geminate enthalten, in den Bereich der Konsonant-Vokoid-Konvergenz, da sich auch hier der yeísmo durchsetzt, so z.B. lat. STRĔLLĂM > span. [ɛs.ˈtɾe.ʎa] ~ [ɛs.ˈtɾe.ja] (Stern-N.F.SG) und lat. CĂLLĔM (Fußsteig-N.ACC.SG) > span. [ˈka.ʎe] ~ [ˈka.je] (Straße-N.F.SG). Zusammenfassend konvergieren in diesem Entstehungsszenarium ursprüngliche Konsonanten zu bereits in den betroffenen Sprachen existierendem palatalen /j/.

94

4 Wortökologische Entstehungsszenarien für Vokalsequenzierungen

Neben diesen erbwörtlichen konsonantischen Entwicklungen sind palatales /j/ und labiovelares /w/ auch über Entlehnungen in die romanischen Sprachen gekommen. Beispiele fürs Französische sind das aus dem Bulgarischen entlehnte frz. [ja.ˈuʁt] (Joghurt-N.M.SG) und das aus dem Englischen entlehnte frz. [wi.ˈkɛnd] (Wochenende-N.M.SG), fürs Spanische die aus dem Englischen entlehnten span. [xɛɾ.ˈsɛj] (Pullover-N.M.SG) und span. [ˈɡwis.ki] (Whisky-N.M.SG), fürs Portugiesische das aus dem Englischen stammende port. [ˈswe.tɛɾ] (Pullover-N.M. SG). Eine aktuelle Entlehnung, die alle romanischen Sprachen betrifft, ist das aus dem Englischen stammende (Internet-N.F/M.SG). Das Besondere an diesen neu entstandenen /j/ und /w/ ist, dass sie trotz lautlicher Identität mit bereits in den Sprachen existierenden palatalen und labiovelaren Artikulationsgesten ein differentes silbenphonologisches Verhalten aufweisen. Sie verhalten sich nämlich silbenphonologisch nach wie vor wie die ursprünglichen Konsonanten, i.e. sie sind kaum in ihrer Kombinierbarkeit mit vorausgehenden und folgenden Vokalen und in ihre Positionierung in Silben (Onset, Koda) und Wörtern (wortinitial, wortintern, wortfinal) beschränkt. Insofern entstand hier ein Überschneidungsbereich, der sich durch lautliche Identität und silbenphonologische Differenz auszeichnet. Entsprechende Lexeme können sich silbenphonologisch «auffällig» verhalten (fürs Französische cf. erhellend Kaye/Lowenstamm 1984), wozu es segmental überhaupt keinen Anlass geben dürfte. Hier spielt einzig der in der Ökologie der Wortgestalt fortbestehende konsonantische Ursprung eine Rolle, der, wenngleich synchronisch für die Sprecher undurchsichtig, im sozialen Transmissionsprozess weitergetragen wird. Vokalsequenzen können auch (viii) durch Entlehnungen in andere Sprachen kommen. So wurden im 19. Jahrhundert französische Lexien mit /wa/ ins Rumänische entlehnt, z.B. frz. [bu.ˈdwaʁ] > rum. [bu.ˈdo̯aɾ] ~ [bu.ˈdwaɾ] (Damenzimmer-N.NEUTER.SG). Im Laufe des 19. Jahrhunderts werden diese französischen Lehnwörter mit /wa/ graphematisch und phonologisch gemäß den Ressourcen des Rumänischen integriert, wobei eine perzeptionsbasierte Approximation ans Französische versucht wurde. Als Ressourcen diente ein, in den rumänischen Dialekte jeweils unterschiedlich gewichtetes artikulatorisches Kontinuum [o̯a] ~ [wa] ~ [ua] ~ [wɔ] ~ [uɔ]. Variierende Schreibungen weniger rumänischer Erbwörtern, die diese Vokalsequenz enthalten (cf. Chitoran 2002a, 19–20), reflektieren dieses Kontinuum: dako-rum. , mazedo-rum. , megleno-rum. und istro-rum. (Teig-N.NEUTER.SG) < lat. *ALLĔVATUM (Cioranescu 1958, 21–22). Als Ergebnis entstand eine freie graphematische Variation zwischen und bei der Integration von frz. /wa/, historisch z.B. im 19. Jahrhundert für

4.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, diachronisch

95

rum. ~ (Toilette-N.F.SG) und synchronisch z.B. in rum. (Flur/Bahn-N.NEUTER.SG) vs. (Gehweg-N.NEUTER.SG). Phonetisch und phonologisch besteht kein Kontrast zwischen rum. /o̯a/ und /wa/ (Chitoran 2002a, 243–249). Bei der Gestaltung der französischen Lehnwörter wurde demnach auf ein perzeptiv-artikulatorisches Kontinuum zurückgegriffen und dadurch die phonologisch nicht-distinktive Variationsbreite dieses Gestaltungskontinuums reproduziert. Damit verhalten sich die französischen Lehnwörtern silbenphonologisch «unauffällig», da die französische Basis und die rumänischen integrierten Lehnwörter die gleiche Silbenstruktur mit zugrundeliegender Syllabierung aufweisen. In die lautliche Gestaltung der rumänischen Lehnwörtern hingegen floss die phonologisch nicht-distinktive Variation des rumänischen Gestaltungskontinuums v.a. zwischen /o̯a/ und /wa/ respektive und ein.

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen 5.1 Portugiesisch Esses fatos mostram que o fazer-se e desfazer-se de sequências vocálicas do português é um fenômeno complexo, diversificado e variável que acompanha sua história desde as origens (Mattos e Silva 1991, 68).

Basierend auf vielen verschiedenen diachronischen Entstehungsszenarien tritt uns heute in portugiesischen Wörtern ein reiches Repertoire an Vokalsequenzen entgegen (cf. Mattos e Silva 1991, 64–76).38 In vielen Fällen ist eine eindeutige lautliche und sequentielle (monophthongisch, diphthongisch, hiatisch) Zuordnung gerade in den portugiesischen Dialekten und großräumigeren Varietäten schwierig und hängt auch von stilistischen und prosodischen Faktoren ab: Vimos, quando tratamos das vogais, que era possível em posição não-acentuada inicial a variação < ou ~ o ~ u >, < ei ~ e ~ i >: ouliveira, oliveira, uliveira; eigreja, egreja, igreja. Ao longo da história da língua a monotongação do /ẹi̯/ e do /ọu̯/ em /ẹ/ e /ọ/ vem se processando e distingue dialetos regionais portugueses. No Brasil em que, como nos dialetos meridionais portugueses, em geral se monotongam, a possibilidade de articulação ditongada marca variantes de natureza sociolinguística, mas não apenas, parece-me; fatores estilísticos e estruturais (distribuição do ditongo no vocábulo, classes de palavras) entram também em jogo nessa variação entre ditongos e vogais monotongadas (Mattos e Silva 1991, 67).

In gewisser Weise paradoxal ist, dass das heutige Portugiesisch (EP und BP) über zahlreiche diphthongische Vokalsequenzierungen verfügt, obwohl seine historischen Vorgängervarietäten im Nordwesten der Iberischen Halbinsel – zusammengefasst unter dem Etikett «Galicisch-Portugiesisch» – gerade keinen Anteil am romanischen Diphthong-Urszenario der «Romanischen Diphthongierung» im 3./4. Jahrhundert nahmen. Halbgeschlossene /ɛ/ und /ɔ/ in betonter offener und geschlossener Silbe wurden lediglich zu halboffenen Vokalen abgesenkt und nicht wie in den meisten protoromanischen Varietäten diphthongiert

38 Darstellungen synchronischer Lautverhältnisse in diesem Kapitel orientieren sich maßgeblich am Brasilianischen Portugiesisch (BP). Die Originalfassung dieses Kapitels wurde überarbeitet. An zwei Stellen wurden Transkriptionen korrigiert (Seiten 119 und 130). Ein Erratum ist verfügbar unter https://doi.org/10.1515/9783110729733-010. https://doi.org/10.1515/9783110729733-005

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5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(Bossong 2008, 49–74; Alkire/Rosen 2010, 209–227). So entwickelte sich etwa in betonter offener Silbe aus vlat. [ˈpɛ.tɾa] monophthongisch port. im Gegensatz zu diphthongisch span. (Stein-N.F.SG). Auch in betonter geschlossener Silbe blieb der betroffene Vokal monophthongisch, aus vlat. [ˈtɛm.po] entwickelte sich port. im Kontrast zu span. (Zeit-N.M.SG). Ebenso wenig fand metaphonische Diphthongierung wie etwa im Rumänischen statt, obwohl Metaphonie extensiv auf die Stammvokale in der Nominal- und Verbalflexion des Portugiesischen gewirkt hat. Synchronische vokalische Sequenzierungsmuster entwickelten sich sprachgeschichtlich in portugiesischen Etyma aus bzw. durch (Huber 1933, 46–85 und 92–95; Mattos e Silva 1991, 64–76): (i) lateinischen Diphthongen, z.B. lat. CAUSĂM > port. (Ursache-N.F. SG); lat. EURŌPĂ > port. (Europa-N.F.SG); lat. THĒSAURŬM > port. (Schatz-N.M.SG) (ii) lateinischem /w/, z.B. lat. ĂQUĂM > port. (Wasser-N.F.SG), und englischem /w/ neuerer Entlehnungen, z.B. port. [wɛb] (WorldWideWeb-N.F.SG); port. [ˈwis.kɨ] (Whisky-N.M.SG) (iii) lateinischen Hiaten, z.B. lat. FŬ.Ī > port. (sein-COP.1SG.PST.IND) (iv) Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. lat. MĂGĬS > port. (mehr-ADV) (v) Ausfall auslautender lateinischer Laute, z.B. lat. PARTIVIT > port. (abfahren/weggehen-V.3SG.PST.IND) (vi) Metathese (Umstellung) von /j/ und /w/, z.B. vlat. [ˈfe.ɾja] > port. (Markt-N.F.SG); lat. SAPIVI, vlat. SAPUI > [ˈsa.bue] > aport. (> nport. [ˈso.bɨ]) (wissen-V.1SG.PST.IND) (vii) Nasalierung und anschließende Verschmelzungsdiphthongierung, z.B. vlat. [ˈma.no] > port. (Hand-N.F.SG) (viii)Vokalisierung von /l/ und anschließende Verschmelzungsdiphthongierung, z.B. vlat. [ˈma.lu] > port. (schlecht-ADJ.M.SG) (ix) bedingte Diphthongierung durch Palatalisierung, z.B. vlat. [lek.te] > port. (Milch-N.M.SG); vlat. [ˈnɔk.te] > port. (Nacht-N.F.SG) (x) spontane Diphthongierung von betontem e vor a und o als späte Entwicklung nach altportugiesischer Zeit ab dem 15. Jh., z.B. aport. > nport. (Kette-N.F.SG); aport. > nport. (glaubenV.1SG.PRS.IND) (xi) phonologische Integration von Lehnwörtern, z.B. engl. > port. (Computer-Anwendung-N.F.SG); franz. > port. (Verkostung-N.F.SG); frz. > port (Toilette-N.M/F.SG)

5.1 Portugiesisch

99

Aus diesen Entstehungsszenarien ergibt sich ein im Vergleich zu den anderen romanischen Sprachen sehr umfangreiches synchronisches Inventar an oralen (steigenden und fallenden) und nasalen diphthongischen Vokalsequenzen. Die Angaben über den genauen Umfang des portugiesischen Diphthonginventars schwanken in der Forschungsliteratur zwischen 10 und 27 für die oralen Diphthonge und zwischen 4 oder 5 bei den nasalen Diphthongen (Bonilha 2000, 2; Mateus/d’Andrade 2000, 46–51; Endruschat/Schmidt-Radefeldt 22008, 76; Cristófaro Silva 2011, 34–38; 102012, 73–75 und 94–100). Bei den umfangreichen Inventaren wird auf die schwankende diphthongisch-hiatische Realisierung mancher Vokalsequenzen hingewiesen (Cristófaro Silva 2011, 34–38). Gemeinhin gelten Diphthonge als ein lautliches Charakteristikum des Portugiesischen. Hier eine Aufstellung portugiesischer Wörter, in denen synchronisch diphthongische Sequenzen vorkommen, nicht-exhaustiv geordnet nach der gängigen Unterteilung in fallende orale (1), steigende orale (2) und nasale (3) diphthongische Vokalsequenzen: (1)

port. /iw/ (abfahren/weggehen-V.3SG.PST.IND) port. /uj/ (blau-ADJ.M.PL) port. /ɛj/ (wissen-1SG.V.PRS.IND) port. /ɛj/ (perfekt-ADJ.M.SG) port. /ew/ (ich-PRO.PERS.1SG) port. /ew/ (mein-PRO.POSS) port. /ew/ (Reifen-N.M.SG) port. /ɔj/ (Held-N.M.SG) port. /ɔj/ (zwei-NUM) port. /ɔj/ (acht-NUM) port. /ow/ (Schatz-N.M.SG) port. /ow/ (sein-COP.1SG.PRS.IND) port. /aj/ (gehen-V.3SG.PRS.IND) port. /aj/ (mehr-ADV) port. /aj/ (Vater-N.M.SG) port. /aw/ (Unterrichtsstunde-N.F.SG) port. /aw/ (Auto-N.M.SG)

(2)

port. /ju/ (fliehen-V.3SG.PST.IND) port. /ju/ (Palast-N.M.SG) port. /ja/ (entgegengesetzt-ADJ.F.SG) port. /ja/ (Apotheke-N.F.SG) port. /wa/ (aufbewahren-V.INF) port. /wa/ (vierzig-NUM)

100

(3)

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

port. /ũĩ/ (sehr-ADV) port. /ɛ̃ĩ/ (hundert-NUM) port. /ɛ̃ĩ/ (machen-V.3PL.PRS.IND) port. /ɔ̃ĩ/ (Flugzeug-N.M.PL) port. /ɔ̃ĩ/ (Zitrone-N.M.PL) port. /ɐ̃ĩ/ (Mutter-N.F.SG) port. /ɐ̃ũ/ (Hund-N.M.SG) port. /ɐ̃ũ/ (bezahlen-V.3PL.PRS.IND)

Neben der lautlichen Charakterisierung der einzelnen Wortgestalten, i.e. Sicherstellung ihrer lexikalischen Wiedererkennbarkeit im Reden, indizieren bestimmte diphthongische Vokalsequenzierungen auch grammatische Kategorien. In Kontrastpaaren wie in (4) erzeugen /aj/, /ɛj/, /ɔ̃ĩ/ und /ɐ̃ĩ/ gemeinsam mit dem Morphem /s/ und ggf. den Determinanten (as-ART.DEF.F.PL, os-ART.DEF.M.PL) Numeruskontrast zu den entsprechenden Singularformen und sind damit Teil der Enkodierung von Plural auf Wort- bzw. Syntagmaebene. (4)

port. [aɫ] (Tier-N.M.SG) vs. port. [aj] (Tier-N.M.PL) port. [ɛɫ] (Gläubige-N.GENERISCH.SG) vs. port. [ɛj] (Gläubige-N.GENERISCH.PL) port. [ɐ̃ũ] (Zitrone-N.M.SG) vs. port. [ɔ̃ĩ] (Zitrone-N.M.PL) port. [ɐ̃ũ] (Brot-N.M.SG) vs. port. [ɐ̃ĩ] (Brot-N.M.PL)

Auch in der portugiesischen Verbalflexion kontrastieren monophthongische und diphthongische Verbendungen. Bestimmte Verbalformen wie etwa in (5) werden durch diphthongische Suffixe enkodiert. (5)

port. [ɛj] (sprechen-V.1SG.PST.IND) port. [ɐ̃ũ] (sprechen-V.3PL.PRS.IND) port. [ɐ̃ũ] (sprechen-V.3PL.PST.IND) port. [ɐ̃ũ] (sprechen-V.3PL.FUT)

Besonders sticht das diphthongische Nasalsuffix /ɐ̃ũ/ heraus (Mattos e Silva 1991, 75–76). In den Verbparadigmen wird es zur Enkodierung der 3PL (elasPRO.PERS.3PL.F; eles-PRO.PERS.3PL.M) (EP & BP) sowie 2PL (vocês-PRO. PERS.2PL) (BP) verwendet, etwa in port. (gehen-V.2/3PL.PRS.IND) und port. (gehen-V.2/3PL.FUT), aber etwa auch im graphisch gänzlich anders repräsentierten port. (bezahlen-V.2/3PL.PRS.IND). Im Brasilianischen der Gegenwart läuft jedoch eine Umstrukturierung des Verbalparadigmas ab,

5.1 Portugiesisch

101

in deren Kontext auch die diphthongische Verbendung [ɐ̃ũ] zu monophthongischem [a] reduziert wird (Cristófaro Silva et al. 2012). Das Nasalsuffix /ɐ̃ũ/ kommt aber auch häufig in Nomina vor, etwa in port. (Sitzung-N.F.SG), port. (Generation-N.F.SG) oder port. (Nation-N.F.SG). Als aktives Wortbildungselement tritt es bei deverbalen Derivationen in Erscheinung, etwa wird port. (auswerten-V.INF) zu port. (Auswertung-N.F.SG) deriviert. Im Portugiesischen koexistieren die vielen diphthongischen Vokalsequenzen mit stabilen Hiaten bei lexikalischem Kontrast wie in (6) und als Morphemgrenzen v.a. in der Verbalmorphologie wie in (7). (6)

port. (Land-N.M.SG) vs. port. [aj] (Eltern-N.M.PL) port. (beschlagnahmen-V.INF) vs. port. (lernen-V.INF)

(7)

port. (fallen/stürzen-V.INF) port. (fallen/stürzen-V.1/3SG.PST.IMPERFECTIVE.IND) port. (verraten-V.INF) port. (verraten-V.1SG.PST.IND) port. (verzeihen-V.INF)

Stabile synchronische portugiesische hiatische Vokalsequenzen können direkt auf griechische und lateinische Hiate zurückgehen, so etwa in port. (archaisch-ADJ.M.SG) < griech. ARKHA.IKOS, port. (beschlagnahmen-V.INF) < lat. APRE.HENDERE, port. (verstehen-V.INF) < lat. COMPRE.HENDERE und port. (zurückweichen-V.INF) < lat. RETRA.HERE. Sie können aber auch durch den Ausfall intervokalischer Konsonanten entstanden sein, so in port. (Gesundheit-N.F.SG) < lat. SALŪTEM, port. (verzeihen-V.INF) < lat. PERDONĀRE und port. (Land-N.M.SG) < lat. PĀGĒNSE. Für den Fortbestand der Hiate bzw. der hiatischen Vokalsequenzierung nach Konsonantenausfall ist entscheidend, dass der zweite Vokal den Wortakzent trug bzw. teilweise heute noch immer trägt. Der Wortakzent verhindert hier die Hiattilgung. Fürs Altportugiesische sind viele Hiate, die durch den Ausfall intervokalischer stimmhafter Konsonanten entstanden waren, beschrieben (Mattos e Silva 1991, 65; Endruschat/Schmidt-Radefeldt 22008, 37). Waren die beiden im Altportugiesischen hiatisch sequenzierten Vokale identisch, so verschmolzen sie monophthongisch in der Entwicklung zum Neuportugiesischen, z.B. lat. PŎPŬLŎM > aport. > nport. (Volk-N.M.SG). Waren hingegen die beiden Vokale verschieden, dann blieb die hiatische Sequenzierung bis heute erhalten (8).

102

(8)

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

lat. SOLES > port. (Sonne-N.M.PL) lat. CÆLŬM > port. (Himmel-N.M.SG) lat. DOLENTIA > port. (Schmerz-N.F.SG)

Es gibt im Portugiesischen aber auch Vokalsequenzen, die zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung schwanken, so etwa port. [ˈswɔɾ] ~ [su.ˈɔɾ] (Schweiß-N.M.SG), port. [ˈlwaɾ] ~ [lu.ˈaɾ] (Mondlicht-N.M.SG) oder port. [ˈva.kwu] ~ [va.ˈku.u] ~ [ˈva.ku] (Vakuum-N.M.SG). Diese schwankenden Vokalsequenzierungen gehen auf ursprüngliche lateinische Hiate (9) und auf Vokalsequenzierung durch Ausfall intervokalischer Konsonanten (10) zurück. Die aus diesen beiden diachronischen Entstehungsszenarien hervorgegangene schwankende Vokalsequenzierung betrifft recht viele Wörter des Portugiesischen (cf. Cristófaro Silva 2011, 35–37). (9)

lat. SŬ.ĀVIS > port. (sanft/lieblich-ADJ.GENERISCH.SG) lat. VACŬ.O > port. (Vakuum-N.M.SG) lat. FŬ.Ī > port. (sein-COP.1SG.PST.IND)

(10) lat. CRŪDĒLE > port. (grausam-ADJ.GENERISCH.SG) lat. VĬDŬA > port. (Witwe-N.F.SG) lat. SUDOR > port. < (Schweiß-N.M.SG) lat. LŪNA > port (Mond-N.F.SG) Eine kontrovers diskutierte phonologische Frage des Portugiesischen ist, ob die Bildung der Oral- und Nasaldiphthonge als synchronisch aktive phonologische Prozesse in Form phonologischer Regeln beschrieben werden kann (Mira Mateus 1975, 35–71; Mateus/d’Andrade 2000, 30–31, 46–51 und 88–108). Ein aktiver phonologischer Prozess sei etwa der für die Bildung oraler Diphthonge relevante Gliding-Prozess, i.e. die regelbasierte Transformation der angenommenen tiefen-repräsentierten vorderen hohen Vokale /i/ und /u/ zu nicht-silbischen Gleitlauten /j/ und /w/ im phonetischen Output. Die Bildung dieser Gleitlaute kann als eine Funktion des wortprosodischen Kontexts beschrieben werden, so wird z.B. die nicht-akzentuierte Sequenz /ia/ in port. (Apotheke-N.F.SG) zu [faɾ.ˈma.sja] diphthongiert, wohingegen die akzentuierte Sequenz /ˈia/ in port. (Phonologie-N.F.SG) nicht diphthongiert, was hiatisches [fu.nu.lu.ˈʒi.a] ergibt. Problematisch für eine synchronische regelbasierte Erzeugung sind die Nasaldiphthonge, da in vielen synchronischen Wortgestalten i.d.R. keine Nasalkonsonanten mehr vorkommen, die einen synchronisch aktiven Nasalierungsprozess auslösen können, z.B. in port. (Hand-N.F.SG). Die Nasaldiphthongierung

5.1 Portugiesisch

103

ist hier ein diachronischer, abgeschlossener Lautwandelprozess: vlat. [ˈma.no] > port. (Hand-N.F.SG). Für diese Nasaldiphthonge wird deshalb eine phonologische Tiefenrepräsentation angenommen (Mira Mateus 1975, 43–45; Wetzels 1997). Sogar einem synchronischen Nasalierungsprozess gegenläufig ist – obwohl die Nasalkonsonanten Teil der (orthografischen) Wortgestalt sind – die Reduktion von [ɐ̃ũ] zu monophthongischem [a] in der Verbalflexion im BP (Cristófaro Silva et al. 2012). Ein synchronisch aktiver phonologischer Prozess, der zur Erzeugung diphthongischer Strukturen führt, ist die Vokalisierung von silbenfinalem im BP, z.B. in port. [lɨ.gaɫ] ~ [lɨ.gaw] (toll-ADJ.GENERISCH.SG) und port. [ˈkaɫ.du] ~ [ˈkaw.du] (Brühe-N.M.SG) (Feldman 1972; Parkinson 1988, 135). Zusammenfassend tritt uns im Portugiesischen folgende wortbezogene Phänomenologie von Vokalsequenzen und Vokalsequenzierung entgegen: – Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen gehören zur verfestigten individuellen lexikalischen Wortgestalt: z.B. in port. (Schatz-N.M.SG); port. (gehen-V.3SG.PRS.IND); port. (Hund-N.M.SG); port. (archaisch-ADJ.M.SG); port. (Himmel-N.M.SG); sie können lexikalischen Kontrast erzeugen: z.B. in port. (Land-N.M.SG) vs. port. [aj] (Eltern-N.M.PL) – Schwankende Vokalsequenzierungen (diphthongisch ~ hiatisch ~ monophthongisch) bei Vokalsequenzen, die durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, z.B. lat. VACŬ.O > port. [ˈva.kwu] ~ [va.ˈku.u] ~ [ˈva.ku] (Vakuum-N.M.SG), und Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. lat. SUDOR > port. [ˈswɔɾ] ~ [su.ˈɔɾ] (Schweiß-N.M.SG), entstanden sind – Vokalsequenzen indizieren grammatische Kategorien: – Singular–Plural-Kontrast: z.B. in port. [aɫ] ~ [aw] (Tier-N.M.SG) vs. port. [aj] (Tier-N.M.PL); port. [ɐ̃ũ] (Zitrone-N.M.SG) vs. port. [ɔ̃ĩ] (Zitrone-N.M.PL) – Person, Numerus und Tempus/Modus in der Verbalflexion: z.B. in port. (sprechen-V.1SG.PRS.IND) vs. port. [ow] (sprechen-V.3SG. PST.IND) – Zugehörigkeit zu Wortklassen: z.B. Derivation von port. (auswerten-V.INF) zu port. (Auswertung-N.F.SG) – Synchronisch verfestigte lexikalische Vokalsequenzen/Lautstrukturen, z.B. port. [ˈaw.la] (Unterrichtsstunde-N.F.SG), koexistieren mit synchronisch aktiven phonologischen Prozesse, z.B. Vokalisierung von silbenfinalem im BP etwa in port. [lɨ.gaɫ] ~ [lɨ.gaw] (toll-ADJ.GENERISCH.SG), die zu gleichen/ähnlichen Lautstrukturen führen

104

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

5.2 Spanisch Es difícil dar reglas generales, desde el punto de vista normativo, para la formación de los diptongos o de los hiatos. Por un lado, la dificultad reside en el mismo fenómeno; por otro, en el propio hablante, según esté arraigada en él o extendida en su dialecto la tendencia antihiática del español. Por último, la evolución de la lengua ha influido también en el fenómeno: antes se decía re-i-na, ve-in-te, con hiato, y hoy rei-na, vein-te, con diptongo (Quilis [1997] 102010, 44).

Die Phänomenologie der Vokalsequenzen und -sequenzierung, i.e. Diphthonge, Triphthonge, Hiate, variable Realisierungen, «exceptional hiatuses» und Hiattilgung, nimmt in der phonologischen Beschreibung des Spanischen eine prominente Stellung ein (Navarro Tomás [1918] 171972, 69 und 147–179; Quilis 1992, 56–57; 1993, 184–186; [1997] 102010, 41–45; Hualde 2005, 54–55 und 77–87; Colina 2009, 52–71; Kubarth 2009, 88–93; NGRAE 2011, 332–354; Hidalgo Navarro/ Quilis Merín 2012, 152–157 und 162–171; Gabriel et al. 2013, 81–85 und 106–109; Hualde 2014, 64–74). In jedem Fall stellt sie eine Herausforderung dar, da es Realisierungsspielräume gibt: «La única complicación que realmente encontramos en la estructura silábica del español tiene que ver con la silabificación de secuencias de vocoides» (Hualde 2014, 64). Es koexistieren normative (u.a. Quilis 1993; [1997] 102010; NGRAE 2011), regelbasierte (u.a. Harris 1985; Colina 1999) und gebrauchsbasierte Erklärungsansätze (Face/Alvord 2004). Synchronische vokalische Sequenzierungsmuster entwickelten sich sprachgeschichtlich in spanischen Etyma aus bzw. durch (Zauner 1908, 18–23; Penny [1993] ²2010, 68–72): (i) lateinischen Diphthongen, z.B. lat. CAUSĂM > span. (Ursache-N.F. SG); lat. EURŌPĂ > span. (Europa-N.F.SG); lat. CÆLŬM > span. (Himmel-N.M.SG) (ii) konsonantischem lateinischem /w/, z.B. lat. ĂQUĂM > span. (Wasser-N.F.SG); konsonantischem englischem /w/ neuerer Entlehnungen, z.B. span. [wɛb] (WorldWideWeb-N.F.SG); span. [ɡwas.ˈap] (WhatsApp-N.M.SG); span. [ˈɡwis.ki] (Whisky-N.M.SG); dem gotischen Onomatopoetikum wái (für Klagen) abgeleiteten span. [ɡwaj] (toll-ADJ.GENERISCH.SG) (sehr verbreitet unter jungen Sprechern) und span. (Wehklage-N.F.SG) (iii) lateinischen Hiaten, z.B. lat. Ā.ĔRĂ > span. (Luft-N.M.SG); lat. THĔ. ĀTRŬM > span. (Theater-N.M.SG); lat. DĔ.ŬS > span. (Gott-N. M.SG); lat. FŬ.ĒRŬNT > span. (sein-COP.3PL.PST.IND) (iv) Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns in offener Silbe, z.B. lat. PĔ . TRĂM > span. (Stein-N.F.SG); lat. Ŏ . SSŬM > span.

5.2 Spanisch

105

(Knochen-N.M.SG), und geschlossener Silbe, z.B. lat. TĔM . PŬS > span. (Zeit-N.M.SG); lat. PŎR.TĂM > span. (Tür-N.F.SG) (v) zunächst Metathese von /j/, dann Transformation des fallenden Diphthongs /ɔj/ zu einem steigenden Diphthong /we/, z.B. lat. CŎ.RĬU > aspan. /kɔjɾo/ > nspan. (Leder-N.M.SG) (vi) Vokalisierung von /l/ und anschließende Verschmelzungsdiphthongierung, z.B. lat. SĂLĬCE > span. (Weidenbaum-N.M.SG) (vii) Vokalisierung anderer Konsonanten, z.B. lat. SĔX > span. (sechsNUM) (viii)Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. lat. VĬDŬA > span. (Witwe-N.F.SG); lat. SĂGĬTTĂM > span. (PfeilN.F.SG); lat. DĔBĬTA > span. (Schulden-N.F.SG) (ix) Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten und anschließende vollständige Hiattilgung, z.B. lat. RĒGĪNA > aspan. > nspan. (Königin-N.F.SG) (x) Palatalisierung im lautlichen Kontext des griech.-lat. Suffix , z.B. lat. GRĀTĬA > span. (Dank-N.F.PL); lat. PHĂRMĂCIA > span. (Apotheke-N.F.SG) (xi) jüngere konsonantische Entwicklungen, die zu Jota führen, in Erbwörtern, z.B. lat. CALLĔM (Fußsteig-N.ACC.SG) > span. [ˈka.ʎe] (palataler Lateral, lleísmo) > [ˈka.je] (Jota, palataler Approximant, yeísmo) (Straße-N.F. SG), und in Lehnwörtern, z.B. engl. [ˈdʒɜːrzi] > span. [xɛɾ.ˈsɛj] (Pullover-N.M.SG) Viele aus diesen Szenarien hervorgegangene Vokalsequenzen variieren synchronisch zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung. Zauner (1908, 18–19) beschreibt diese diphthongisch-hiatische Schwankung für die altspanische Zeit, wobei er sich auf variierende Schreibungen identischer Lexien stützt: «Der Ausdruck ‘Diphthong’ ist im vorhergehenden Paragraphen absichtlich vermieden worden, da sich in vielen Fällen nicht feststellen läßt, ob eine Vokalgruppe einsilbig oder mehrsilbig gesprochen wurde; es hängt dies teils mit der mangelhaften Überlieferung der asp. Sprachdenkmäler, teils wohl auch mit schwankendem Gebrauche bei den Dichtern selber zusammen (Zauner 1908, 18).» Stabile altspanische diphthongische Realisierungen – so Zauner – gäbe es nur bei den Vokalsequenzen, die durch Diphthongierung, Punkt (iv) in der obigen Aufstellung, und durch Vokalisierung eines Konsonanten, Punkte (vi) und (vii), hervorgegangen sind. Zu den synchronisch stabilen diphthongischen Realisierungen können auch die Vokalsequenzen, die aus den Szenarien (v), (ix) und (x) hervorgegangen sind, hinzuschlagen werden. Bei allen anderen Vokalsequenzen

106

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

besteht Variation zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung, ohne dass lexikalischer Kontrast erzeugt wird. Insofern ergeben sich in spanischen Lexien folgende synchronisch stabile steigend-diphthongische (11) und fallend-diphthongische (12) Vokalsequenzierungen: (11) span. /ja/ (Dank-N.F.PL) (< lat. GRĀTĬA) span. /je/ (Fuß-N.M.SG) (< lat. PĔDĔM) span. /jo/ (Sprache-N.M.SG) (< lat. ĬDĬOMA) span. /wa/ (wann-CONJ/ADV) (< lat. QUĂNDO) span. /we/ (Rad-N.F.SG) (< lat. RŎTĂM) (12) span. /aj/ (Luft-N.M.SG) (< lat. ĀĔRĂ) span. /ej/ (Königin-N.F.SG) (< lat. RĒGĪNA) span. /oj/ (sein-COP.1SG.PRS.IND) (< lat. SŬM) span. /aw/ (Klassenzimmer/Hörsaal-N.F.SG) (< lat. AULA) Der Bereich der spanischen steigenden Diphthonge mit Jota wird durch den Lautwandel «yeísmo», i.e. die Dephonologisierung des palatalen Laterals /ʎ/ durch die Realisierung der palatalen Artikulationsgeste als palatalem Approximanten /j/ ohne Zungenspitzenkontakt am Palatum, um neue Vokalsequenzen /jo/, /ja/ und /je/ wie in (13) erweitert. Wenngleich im iberischen Spanisch heute die Realisierung als /ʎ/ (lleísmo) oder als /j/ (yeísmo) variieren (zumeist diastratisch-diaphasisch markiert), so hat sich selbst in einst traditionellen diatopisch markierten lleísmo-Arealen und in der iberischen Aussprachenorm der yeísmo weitgehend durchgesetzt (Alonso-Cortés 2010). In den meisten lateinamerikanischen Varietäten gilt der yeísmo als charakteristisches lautliches Merkmal (Hualde 2014, 178–180). (13) span. [ʎo.ˈɾar] (~) > [jo.ˈɾar] (weinen-V.INF) < lat. PLŌRĀRE span. [ɛs.ˈtɾe.ʎa] (~) > [ɛs.ˈtɾe.ja] (Stern-N.F.SG) < lat. STRĔLLĂM span. [ˈka.ʎe] (~) > [ˈka.je] (Straße-N.F.SG) < lat. CĂLLĔM Weitaus seltener kommen im Spanischen auch Triphthonge, i.e. die tautosyllabische Realisierung dreier Vokoide, vor (14). Diese sehr komplexen Vokalsequenzen gingen sprachgeschichtlich entweder aus dem Zusammentreffen eines Diphthongs der «Romanischen Diphthongierung» und einem Endungsvokal nach dem Verstummen intervokalischer Konsonanten, wie in span. (Ochse-N.M.SG), aus dem Zusammentreffen eines Stammvokals und Endungsvokalen nach Verstummen intervokalischer Konsonanten, wie in span. (ändern-V.2PL.PRS.IND), hervor oder wurden aus anderen Sprachen ins Spanische entlehnt, wie in span. (Paraguay-PROPER NAME). (14) span. (Ochse-N.M.SG) < lat. BŎVIS span. (ändern-V.2PL.PRS.IND) < lat. CAMBIATIS span. (studieren-V.2PL.PRS.SUBJ) < lat. STUDEATIS span. (Paraguay-PROPER NAME) < guaraní TETÃ PARAGUÁI span. (toll-ADJ.GENERISCH.SG) < got. WÁI Neben Lexien mit stabilen diphthongischen Vokalsequenzen existieren auch Lexien, in denen Vokalsequenzen schwankend diphthongisch-hiatisch realisiert werden, ohne dass dabei lexikalischer Kontrast erzeugt wird. Diese Vokalsequenzen wie in (15) gehen sprachgeschichtlich auf ursprüngliche lateinische Hiate, i.e. Szenario (iii), oder wie in (16) auf Koaleszenz durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten, Szenario (viii), zurück. (15) lat. SŬ.ĀVĬS > span. [wa ~ u.ˈa] (sanft/lieblich-ADJ.GENERISCH.SG) lat. FŬ.ĒRŬNT > span. [we ~ u.ˈe] (sein-COP.3PL.PST.IND) lat. CLĬ.ĔNTĔM > span. [je ~ i.ˈe] (Kunde-N.M.SG) lat. DĬ.ŬRNŬM > span. [ju ~ i.ˈu] (täglich-ADJ.M.SG) (16) lat. CRŪDĒLE > span. [wɛ ~ u.ˈɛ] (grausam-ADJ.GENERISCH.SG) lat. VĬDŬA > span. [ju ~ i.ˈu] (Witwe-N.F.SG) lat. LĒGĀLĔM > span. [e̯a ~ e.ˈa] (treu-ADJ.GENERISCH.SG) Diese schwankenden hiatisch-diphthongischen Realisierungen sind problematisch v.a. für normativ ausgerichtete phonologische Beschreibungen des Spanischen, da keine verbindlichen Sequenzierungsregeln gegeben werden können (Navarro Tomás [1918] 171972, 66–75 und 147–172; Quilis 1993, 184–186; [1997] 10 2010, 44–45; Hidalgo Navarro 2004, 129–133; Hualde 2005, 77–98; Blaser 2007, 44; Kubarth 2009, 88–97; NGRAE 2011, 337ss.; Hidalgo Navarro/Quilis Merín 2012, 152–157 und 162–171; Gabriel et al. 2013, 81–84; Hualde 2014, 64–74). Die NGRAE (2011) attestiert variable Realisierungen («vacilaciones en la pronunciación»), wenn entweder hohe mit nicht-hohen Vokalen, z.B. in span. (Trennwand-N.M.SG), (Zielscheibe-N.F.SG), (Grausamkeit-N.F.SG), (jährlich-ADJ.GENERISCH.SG), oder zwei hohe Vokale, z.B. in span. (täglich-ADJ.M.SG), (beendet-ADJ.M.SG), zusammentreffen. Die Ursachen für diese synchronischen schwankenden Vokalsequenzrealisierungen verortet die NGRAE im Diatopischen, Diaphasischen und Diastratischen (NGRAE 2011, 337).

108

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Neben stabilen Diphthongen, Triphthongen und den schwankenden hiatischdiphthongischen Vokalsequenzierungen existieren im Spanischen als weiteres synchronisches Vokalsequenzierungsmuster Hiate, i.e. die Heterosyllabierung zweier aufeinanderfolgender Vokale. Synchronische spanische Hiate gehen wie in (17) auf ursprüngliche lateinische Hiate oder wie in (18) auf ein Zusammentreffen zweier Vokale an einer Silbengrenze durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten zurück. (17) span. (schaffen-V.INF) < lat. CRĒ.Ā.RE span. (schaffen-V.1PL.PRS.IND) < lat. CRĒ.Ā.MUS span. (Straße/Weg-N.F.SG) < lat. VĬ.A span. (Tag-N.M.SG) < lat. DĬ.E (18) span. (lesen-V.INF) < lat. LĔ.GĔRE span. (kalt-ADJ.M.SG) < lat. FRĪ.GĬDŬM span. (lachen-V.INF) < lat. RĬ.DĒRE span. (lachen-V.1PL.PRS.IND) < lat. RĬ.DĒMUS span. (fallen-N.INF) < lat. CĂ.DĒRE Wenngleich die meisten der hiatischen Vokalsequenzierungen im Spanischen klaren synchronischen Syllabifikationsregeln zu folgen scheinen, i.e. Heterosyllabierung beim Aufeinandertreffen (1.) zweier nicht-hoher Vokale, z.B. in span. [e.ˈa] (Theater-N.M.SG) und [a.ˈo] (jetzt-ADV), (2.) graphisch akzentuierter hoher Vokale und nicht-hoher Vokale, z.B. in span [a.ˈi] (Fall/Sturz-N.F.SG) und [ˈi.a] (Tag-N.M.SG), und (3.) zweier gleich hoher Vokale, z.B. in span. [i.i] (Nihilist-N.M.SG) und [u.u] (Duumvirat-N.M.SG) (Hualde 2014, 64s.), so bereiten doch die sogenannten «exceptional hiatuses» und Hiattilgung, i.e. Tautosyllabierung von Vokalsequenzen v.a. im schnelleren Sprechen, einiges phonologisches Kopfzerbrechen. «Exceptional hiatus» meint die hiatische Realisierung, i.e. Heterosyllabierung, von zwei aufeinanderfolgenden Vokalen im phonetischen Kontext einer stipulierten synchronisch wirksamen phonologischen Diphthongierungsregel im Spanischen, der zufolge die Gleitlaute [i̯] und [u̯] die nicht-akzentuierten allophonen Varianten der hohen Vokale /i/ und /u/ sind: «/i/, /u/ → [i̯], [u̯] si no recibe el acento y es adyacente a otra V» (Hualde 2014, 68: Regla de diptongación). Eine notwendige Voraussetzung dieser Diphthongierungsregel ist die Akzentuierungsregel, dass nur die nicht-hohen und die (graphisch) akzentuierten hohen Vokale Silbengipfel bilden können: «todos los vocoides no altos y los altos acentuados son cumbres silábicas» (Hualde 2014, 66). Gemäß dieser Sichtweise sind «exceptional hiatus» Anomalien in der Syllabierung und müssen als

5.2 Spanisch

109

solche explizit im Lexikon markiert sein, so etwa die Vokalsequenzierungen in den Lexien in (19). (19) span. [u.ˈi.mɔs] (fliehen-V.1PL.PRS.IND) span. [bi.ˈe.njo] (Biennium-N.M.SG) span. [bi.ˈo.lo.ɣo] (Biologe-N.M.SG) span. [res.pe.tu.ˈo.so] (respektvoll-ADJ.M.SG) Trotz ihrer angenommenen Verankerung im Lexikon (Lexikon-Hypothese) wird die dialektal und idiolektal stark variierende Realisierung der «exceptional hiatuses» Hualde (1999) und Hualde/Chitoran (2003) zufolge durch zwei wortprosodische Bedingungen gelenkt, i.e. «la condición de inicialidad» (Initialbedingung) und «la condición acentual» (Akzentbedingung). «Exceptional hiatuses» werden so tendenziell häufiger am Wortanfang als im Wortinnern realisiert, z.B. wortinitial-hiatisch in span. [bi.ˈo.lo.ɣo] (Biologe-N.M.SG) vs. wortintern-diphthongisch in span. [ra.ˈði̯o.lo.ɣo] (Radiologe-N.M.SG), >und wo der Wortakzent auf den zweiten Vokal der Vokalsequenz oder auf die der Vokalsequenz folgende Silbe fällt, z.B. prätonisch-hiatisch in span. [du.a.ˈlis. mo] (Dualismus-N.M.SG) vs. präprätonisch-diphthongisch in span. [du̯a.li.ˈðað] (Zweiheit-N.F.SG) (cf. auch Chitoran/Hualde 2007, besonders pp. 48– 59). Demnach resultiere die Variation in der Realisierung der «exceptional hiatuses» aus widerstreitenden Kräften der allgemeinen, übereinzelsprachlichen Tendenz zur Hiatustilgung (i.e. Tautosyllabierung, Diphthongierung) und der phonetischen Begünstigung der Hiatus-Realisierung infolge der Längung der Silben in der Nähe des Haupttons (zum begünstigenden phonetischen Faktor der Dauer für Hiat-Realisierungen cf. Aguilar 1999). Ein viel zitiertes Beispiel ist der Kontrast zwischen dem «exceptional hiatus» [u.e] in span. [du.ˈe.to] (Duett-N.M.SG) und der regelkonform diphthongierten Vokalsequenz [u̯e] in span. [ˈdu̯e.lo] (Trauer/Duell-N.M. SG) (Hualde/Prieto 2002; Hualde 2014, 68). Wenn wir in die Wortgeschichte dieser Lexien schauen (20), wird deutlich, dass die Vokalsequenz in span. (Trauer-N.M.SG) durch Längung des Silbenkerns unter dem Hauptton («Romanische Diphthongierung») entstanden ist. Wie wir oben gesehen haben, werden die aus der «Romanischen Diphthongierung» hervorgegangen Vokalsequenzen stabil diphthongisch realisiert und sind als solche integraler Bestandteil der Wortgestalten. Das homographe und auch homophone span. (Duell-N.M.SG) hingegen ist eine spätere Entlehnung aus dem Italienischen, dass analogisch auch diphthongisch realisiert wird. Auch span. (DuettN.M.SG) ist eine Entlehnung aus dem Italienischen, hier wirken aber andere Analogiekräfte, nämlich vom hiatisch realisierten span. [ˈdu.o] (Duo/

110

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Duett-N.M.SG), so dass die Vokalsequenz in span. (Duett-N.M.SG) im iberischen Spanischen tendenziell hiatisch realisiert wird. (20) span. (Trauer-N.M.SG) < lat. DŎLŌR («Romanische Diphthongierung») span. (Duell-N.M.SG) < ital. DUELLO (Entlehnung) span. (Duett-N.M.SG) < ital. DUETTO (Entlehnung) Insofern muss konzediert werden, dass jede dieser drei Lexien ihre eigene Wortgeschichte hat, was wiederum jeweils verschiedene Vokalsequenzierungen hervorgebracht hat. Im Fall von span. (Trauer-N.M.SG) wurde die ganze erste Silbe (lat. ˈDŎ.LŌR) akzentuiert und dadurch gelängt und diphthongiert; im Fall von span. (Duett-N.M.SG) wurde die zweite Silbe akzentuiert (ital. DU.ˈET.TO) und dadurch die Heterosyllabierung präferiert. Das Ganze wird noch komplizierter dadurch, dass die Vokalsequenz in span. (Duett-N.M.SG) nicht ausschließlich hiatisch, sondern auch diphthongisch v.a. in lateinamerikanischen Varietäten realisiert wird; so wird etwa (Duett-N.M.SG) im Pons-Wörterbuch [ˈdwe.to] transkribiert. Zur Tendenz des Spanischen zur Hiattilgung siehe weiter unten. Zusammenfassend liegen hiatischer Vokalsequenzierung als «exceptional hiatuses» einerseits wortgeschichtlich Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten (21a) und ursprüngliche Hiate (21b) sowie anderseits morphologisch Morphemgrenzen (Steriade 2000) (21c) zugrunde. Trotz erhellender Einsichten in die Phänomenologie der spanischen «exceptional hiatuses», v.a. der «proximity to stress effect» (Hualde/Chitoran 2003; Chitoran/ Hualde 2007), i.e. die Realisierung betreffender Vokalsequenzen als Hiate in den längeren tonischen und prätonischen Silben, konnte bislang keine abschließende allumfassende phonetisch-phonologische Erklärung ihres Vorkommens gegeben werden (cf. auch Colina 1999; Hualde 1999; Hualde/Prieto 2002; Face/Alvord 2004; Cabré/Prieto 2006). Mithin gehört der intrinsische Spielraum in der Realisierung bestimmter Vokalsequenzen in identischen Lexien zur Phänomenologie selber. (21a) span. [u.ˈi.mɔs] (fliehen-V.1PL.PRS.IND) < lat. FŬ.GIMUS span. [ri.ˈen.do] (lachen-PROG) < lat. RI.DENDUM (21b) span. [bi.ˈe.njo] (Biennium-N.M.SG) < lat. BI.ENNUM span. [bi.ˈo.lo.ɣo] (Biologe-N.M.SG)

5.2 Spanisch

111

(21c) span. [bo.ki.ˈan.tʃo] (breitmündig-ADJ.M.SG) < {boca} + {ancho} span. [res.pe.tu.ˈo.so] (respektvoll-ADJ.M.SG) < {respeto} + {-oso} span. [ri.ˈa.mɔs] (lachen-V.1PL.PRS.SUBJ) < {ri-} + {-amos} Dem Spanischen wird diachronisch und synchronisch eine Tendenz zur Hiattilgung («tendencia antihiática») sowohl wortintern als auch an Wortgrenzen attestiert (Lloyd 1987, 320; Quilis 1993, 189–191; Penny 2002, 60; NGRAE 2011, 339, 349 und 353–354; Gabriel et al. 2013, 145–147). Besonders stark ist diese antihiatische Tendenz in lateinamerikanischen Varietäten des Spanischen ausgeprägt (Alonso 1930; Alvar 1996b; Vaquero de Ramírez 1996, 13; Jenkins 1999; Baković 2006; Garrido 2007; 2013). Sprecher lösen allerdings mit großen individueller Variation Hiate durch folgende Strategien auf: (i) Diphthongierung, z.B. in span. [ˈtja.tɾo] (Theater-N.M.SG), (ii) Monophthongierung, z.B. in span. [kɾɛɾ] (glaubenV.INF), (iii) Konsonantenepenthese, z.B. in span. [to.ˈβa.ja] (HandtuchN.F.SG), und (d) neue Vokalqualität, z.B. in span. [mæ.ˈkwɛɾ.ðo] (erinnern-V.1SG.PRS.IND.REFL) (Garrido 2013, 340–341; Hualde 2014, 78–80). Als kritische Faktoren der Hiatus-Diphthong-Alternationen an Silben- und Wortgrenzen wurden in der Forschungsliteratur herausgestellt: (a) Vokalqualität, (b) Akzentuierung (betont/unbetont), (c) Silbentyp (offen/geschlossen), (d) Wortklasse (Inhaltswörter/Funktionswörter), (e) Wortlänge (Silbenanzahl), (f) Chunking (lexikalische und semantische Kohärenz), (g) Vorerwähnung, (h) Token- und Typefrequenz, (i) Sprechgeschwindigkeit, (j) kommunikative Situation, (k) soziolinguistische Faktoren (sozioökonomisches Milieu, Alter, Geschlecht), (l) geographische Faktoren sowie (m) stilistische Faktoren und Prestige der Varianten (Casali 1997; Aguilar 1999; Jenkins 1999; Alba 2006; Garrido 2007; Martínez Paricio 2010; Barberia 2012; Garrido 2013). So testet Aguilar (1999) die Effekte unterschiedlicher Kommunikationssituationen auf die Realisierung von Vokalsequenzen. In semi-spontanen Dialogsituationen (map task) werden durch schnelleres Sprechen die für Hiate kritischen phonetischen Faktoren Dauer und die Krümmung der F2-Verlaufskurve reduziert. Durch dieses schnellere Sprechen realisieren die Probanden lexikalische Hiate tendenziell diphthongisch oder sogar monophthongisch. In der langsamer artikulierten Leseaufgabe hingegen hyperartikulierten die Probanden hiatische Sequenzen. Die Systematizität des Reduktionsprozesses entlang der Reduktionsaxe («reduction axis») Hiatus > Diphthong > Monophthong ist für Aguilar ein Beleg für die phonologische Repräsentation der einzelnen Vokalsequenzen und deren relationaler Realisierung entsprechend der Kommunikationssituation und den damit verbunden Sprechgeschwindigkeiten und Sprechstilen:

112

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

We conclude from the results that hiatus and diphthong are two phonetic categories which can be described on the basis of their acoustic characteristics and are subject, like any other category (vowel, consonant) to changes due to the communicative situation. Despite the phonetic reductions, the hiatus-diphthong distinction is maintained in unscripted speech, that is, we cannot say that hiatus disappears as a phonetic category. There is, on the contrary, an axis of reduction where a hiatus becomes a diphthong and a diphthong becomes a vowel. These results will argue in favour of the existence of a phonological structure shared by all the speaking styles, but with different phonetic manifestations in function of extralinguistic factors, such as the speaker's attention to his speech (Aguilar 1999, 73).

Ein herausstechendes morphophonologisches Phänomen der spanischen Verbalflexion und Derivationsmorphologie sind weitgehend regelmäßige Alternanzen zwischen monophthongisch, i.e. mit /o/ und /e/, und diphthongisch, i.e. mit /we/ und /je/, gestalteten Wortstämmen (Malkiel 1966; 1975/76; 1982/83; 1984a; 1984b; Carreira 1992; Eddington 1996; 1998; Martín Vegas 2007; Hualde 2014, 194–198). In der spanischen Verbalflexion indizieren diphthongisch gestaltete Wortformen in einigen, vom Infinitiv ausgehend jedoch nicht vorhersagbaren Verbparadigmen die grammatischen Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus, i.e. 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Indikativ (Presente de indicativo) (22a) und Präsens Subjunktiv (Presente de subjuntivo) (22b) sowie affirmativen (Imperativo afirmativo) und negativen Imperativ (Imperativo negativo) (22c), im Kontrast zu monophthongisch gestalteten Formen der 1PL und 2PL. Zu dieser Klasse gehören hochfrequente Verben wie cerrar (schließen-V.INF), querer (wollen-V.INF), poder (können-V.INF), volver (zurückkommen-V.INF), tener (halten/besitzen-V.INF) und morir (sterben-V.INF). Diese synchronischen Stammvokalalternanzen haben ihren Ursprung in der iberoromanischen Diphthongierung betonter Vokale in geschlossener Silbe im Kontext der «Romanischen Diphthongierung» (cf. Kapitel «Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns»). (22a) Pers. Num.

pensar (denken-V.INF) Präsens Indikativ

mover (bewegen-V.INF) Präsens Indikativ

dormir (schlafen-V.INF) Präsens Indikativ

SG

pienso

muevo

duermo

SG

piensas

mueves

duermes

SG

piensa

mueve

duerme

PL

pensamos

movemos

dormimos

PL

pensáis

movéis

dormís

PL

piensan

mueven

duermen

5.2 Spanisch

113

(22b) Pers. Num.

pensar (denken-V.INF) Präsens Subjunktiv

mover (bewegen-V.INF) Präsens Subjunktiv

dormir (schlafen-V.INF) Präsens Subjunktiv

SG

piense

mueva

duerma

SG

pienses

muevas

duermas

SG

piense

mueva

duerma

PL

pensemos

movamos

durmamos

PL

penséis

mováis

durmáis

PL

piensen

muevan

duerman

Pers. Num.

pensar (denken-V.INF) Imperativ affirmativ

mover (bewegen-V.INF) Imperativ affirmativ

dormir (schlafen-V.INF) Imperativ affirmativ

SG

piensa

mueve

duerme

SG

piense (Usted)

mueva (Usted)

duerma (Usted)

PL

pensemos

movamos

durmamos

PL

pensad

moved

dormid

PL

piensen (Ustedes)

muevan (Ustedes)

duerman (Ustedes)

(22c)

Pers.

pensar

mover

dormir

Num.

(denken-V.INF) Imperativ negativ

(bewegen-V.INF) Imperativ negativ

(schlafen-V.INF) Imperativ negativ

SG

no pienses

no muevas

no duermas

SG

no piense (Usted)

no mueva (Usted)

no duerma (Usted)

PL

no pensemos

no movamos

no durmamos

PL

no penséis

no mováis

no durmáis

PL

no piensen (Ustedes)

no muevan (Ustedes)

no duerman (Ustedes)

Eine generative Herleitung dieser Stammvokalalternanzen in den Verbalparadigmen in Form einer synchronisch wirkenden phonologischen Diphthongierungsregel unterbreitet Harris (1969, 104–131; 1985). Hier sind die Stammalternanzen

114

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

keine überbrachten Spuren in der Wortgestaltung bedingt durch die lateinischen Akzentverhältnisse, sondern die diphthongischen Realisierungen resultieren synchronisch regelgeleitet aus zugrunde liegenden einfachen Vokalen in betonten Kontexten (eine direkte Erwiderung auf Harris und Weiterentwicklung einer generativen Regel für die spanische Diphthongierung ist Carreira 1992). Auch Hualde (2005, 193–196; 2014, 194–196) hebt die weitgehende Regelmäßigkeit dieser Stammvokalalternanzen in spanischen Verbparadigmen entsprechend der Akzentuierung, i.e. diphthongisch bei betontem Stammvokal und monophthongisch bei unbetontem Stammvokal, hervor, verneint aber die eindeutige Voraussagbarkeit der Stammalternanzen und liefert auch entsprechende diachronische Hintergrundinformationen (Hualde 2005, 198–200). Als nicht auf eine Betonungsregel rückführbare Stammalternanzen führt er etwa Verbstämme mit hohen Vokalen, z.B. (spielen-V.INF) wird zu (spielen-V.1SG.PRS.IND), und die Paradigmen der hochfrequenten Verben tener (halten/besitzen-V.INF) und venir (kommen-V.INF), wo die Stammformen der 1SG Präsens Indikativ trotz Akzentuierung monophthongisch (halten-1SG.PRS. IND) und (kommen-1SG.PRS.IND), die anderen entsprechenden Formen aber diphthongisch, so (halten-2SG.PRS.IND) oder (kommen2SG.PRS.IND), sind, an (Hualde 2014, 195–196). In der spanischen Derivationsmorphologie treten lautlich identische Stammvokalalternanzen auf, wenn aus manchen Nomen Adjektive (23a), aus manchen Nomen andere Nomen etwa Berufsbezeichnungen (23b), aus manchen Verben Nomen (23c) und aus manchen Adjektiven Nomen (23d) deriviert werden (Malkiel 1982/83; Carreira 1992; Eddington 1996; Martín Vegas 2007; Hualde 2014, 196–198 und Tab. 11.2, 199). Betroffen sind mithin Wörter, die durch die adjektivischen Derivationssuffixe {-udo}, {-eno}, {-(i)al}, {-oso} und die nominalen Derivationssuffixe {-al}, {-ar}, {-ero}, {-ista}, {-o}, {-a}, {-(e)dad} abgeleitet wurden. (23a) span. (Horn-N.M.SG) ~ (gehörnt-ADJ.M.SG) span. (Erde-N.F.SG) ~ (irdisch-ADJ.M.SG) span. (Himmel-N.M.SG) ~ (himmlisch-ADJ.GENERISCH.SG) span. (Zeit-N.M.SG) ~ (zeitlich-ADJ.GENERISCH.SG) span. (Sumpf-N.F.SG) ~ sumpfig-ADJ.M.SG) (23b) span. (Tür-N.F.SG) ~ (Portal/Tor-N.M.SG) Span. (Hals-N.M.SG) ~ (Halskette-N.M.SG) span. (Eisen-N.M.SG) ~ (Schmied-N.M.SG) span. (Zahn-N.M.SG) ~ (Zahnarzt-N.M/F.SG)

5.2 Spanisch

115

(23c) span. (erzählen-V.INF) ~ (Erzählung-N.M.SG) span. (zählen-V.INF) ~ (Rechnung-N.F.SG) span. (rollen/sich drehen-V.INF) ~ (Umkreis-N.M.SG) span. (ausbreiten-V.INF) ~ (Geschäft-N.F.SG) (23d) span. (neu-ADJ.M.SG) ~ [ˈka.je] (Straße-N.F.SG) – Vokalsequenzen indizieren grammatische Kategorien: – in, vom Infinitiv ausgehend, nicht vorhersagbaren Verbparadigmen die grammatischen Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus im Kontrast zu monophthongisch gestalteten Formen – 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Indikativ, z.B. in span. (denken-V.1SG.PRS.IND), vs. 1PL und 2PL Präsens Indikativ, z.B. in span. (denken-V.1PL.PRS.IND) – 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Subjunktiv, z.B. in span. (denken-V.1SG.PRS.SUBJ), vs. 1PL und 2PL Präsens Subjunktiv, z.B. in span. (denken-V.1PL.PRS.SUBJ) – 2SG, 3SG und 3PL Imperativ affirmativ, z.B. in span. (bewegen-V.2SG.IMP AFFIRMATIV), vs. 1PL und 2PL Imperativ affirmativ, z.B. in span. (bewegen-V.2PL.IMP AFFIRMATIV) – 2SG, 3SG und 3PL Imperativ negativ, z.B. in span (schlafen-V.3SG.IMP NEGATIV), vs. 1PL und 2PL, z.B. in span. (schlafen-V.1PL.IMP NEGATIV) – komplexere vokalische Strukturen indizieren 2PL, z.B. in span. (ändern-V.2PL.PRS.IND) und (fliehen-V.2PL.IMPERFEKTIV.IND) – Zugehörigkeit zu Wortklassen: z.B. in der Derivation von span. (zeitlich-ADJ.GENERISCH.SG) aus (Zeit-N.M.SG) oder span. (Geschäft-N.F.SG) aus (ausbreiten-V.INF) – Hiattilgung an Silben- und Wortgrenzen beim Schnellsprechen und in lateinamerikanischen Varietäten des Spanischen als synchronisch aktiver Vokalsequenzierungsprozess, z.B. span. (glauben-V.1PL.PRS.

5.3 Französisch

117

IND) wird als [kɾɛɾ] (wortintern) und span. (erinnern-V.1SG. PRS.IND.REFL) wird als [mæ.ˈkwɛɾ.ðo] (über Wortgrenzen hinweg) realisiert

5.3 Französisch Modern French does not possess diphthongs, nor does it diphthongize its monophthongs (Delattre 1965, 67).

Seit 130 Jahren herrscht nahezu ungebrochen Paul Passys (1859–1940) Diktum, dass es im Gegenwartsfranzösischen keine Diphthonge gäbe, sondern nur Sequenzen aus Konsonanten (später als «Approximanten» kategorisiert) und Vokalen. Passy klassifiziert die französischen Diphthongbestandteile /j/, /ɥ/ und /w/ lautlich als Frikative und gleichermaßen als unsilbische Varianten der hohen Vokale /i/, /y/ und /u/. Als Zwitterwesen zwischen Konsonant und Vokal nennt er sie deshalb «voyelles consonantes» bzw. «semi-voyelles» (Passy [1887] 6 1906, 98 und 113). Bei dieser Reduktion des französischen Phoneminventars unter Ausschluss von Diphthongen verfolgte Passy maßgeblich sprachpädagogische Ziele. Durch die Zerlegung der Komplexität des französischen Lautsystems in kleinere didaktische Einheiten sollte eine für Sprachenlerner nachvollziehbare artikulatorische Beschreibung des Französischen entstehen. Zur Propagierung seiner sprachpädagogischen Ziele gründete Passy 1886 in Paris die Association Internationale de Phonétique. Wie die, später kategorial umgedeuteten symbolischen Mundraum-Abbildungen von Artikulationsschritten für Taube aus Visible Speech [1867] von Alexander Melville Bell (1819–1905) verfestigten sich Passys sprachdidaktischen Lautsymbole /j/, /ɥ/ und /w/ zu autonomen Kategorien (Phonemen) im nachfolgenden phonologischen Diskurs (Kalkhoff 2016). Als diskursives Ergebnis steht der Allgemeinplatz, dass es im heutigen Französisch keine Diphthonge gäbe (Grammont 1933, 77–78; Malmberg 1943, 22–37; Klein [1963] 21966, 100–108; Delattre 1965, 67–68; Tranel 1987, 108–122; Girard/Lyche [1991] 42005, 129–146; Röder 1996, 67–73; Léon/Léon [1997] 22009, 27; Meisenburg/Selig 1998, 58; Coveney 2001, 58–64; Walker 2001, 100–106; Selig 2002; Canepari 2005, 158–160; Léon/Bhatt 2009, 57–58; Pustka 2011, 104– 105 und 154). Gegenläufige Positionen, i.e. die Bejahung der Existenz von Diphthongen im Französischen, sind ausgesprochen selten (Martinet 1933, 199; Rialland 1994; Chitoran 2002a, 24–25). Als Bestandteile diphthongischer Sequenzen werden frz. [j], [ɥ] und [w] i.d. R. als phonetische positionelle nicht-silbische Varianten der hohen Vokalphoneme frz. /i/, /y/ und /u/ gewertet. Beide Lautreihen können nämlich merk-

118

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

malsphonologisch mittels derselben phonologischen Merkmale [HOCH], [VORNE], [GERUNDET], [LABIAL] und [HINTEN] charakterisiert werden und es kann ein Gliding-Prozess beim adjazenten Auftreten mit einem Vokal stipuliert werden. Die Vokale /i/, /y/ und /u/ verlieren dann ihre Silbischkeit und werden zu nicht-silbischen [j], [ɥ] und [w]. Die phonologischen Kategorien «Approximant» und «Gleitlaut» zur Beschreibung von [j], [ɥ] und [w] sind Versuche, französische Diphthongbestandteile und Ergebnisse der Gleitlautepenthese als eine einzige Lautklasse bzw. einen einzigen phonologischen Prozess zu charakterisieren. Der Lautklassenbegriff «Approximant» bringt artikulatorische Aspekte, i.e. die «Annäherung» von frz. [j], [ɥ] und [w] an eine vokalische bzw. konsonantische Artikulation, ohne diese ganz zu erreichen, zum Ausdruck (für eine akustische Beschreibung von [j], [ɥ] und [w] und artikulatorische Rückschlüsse cf. Tubach 1989, 115–120). Dem prozessorientierten Begriff «Gleitlaut» liegt die Vorstellung zugrunde, dass [j], [ɥ] und [w] in der Silbe zwischen die Onsetund Nukleus-Position in eine silbenstrukturelle twilight zone «gleiten». Problematisch ist, dass «Approximant» und «Gleitlaut» gleichermaßen für (a) unsilbische Diphthongbestandteile, (b) die Ergebnisse des phonologischen Prozesses der Wortgrenzen übergreifenden Gleitlautepenthese und (c) für aus konsonantischen Entwicklungen hervorgegangene [j] und [w] verwendet werden. Die zugegebenermaßen seltenen Fälle phonologischen Kontrasts (Minimalpaare) zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung von Vokalsequenzen im Französischen, z.B. in frz. /lyi/ [lɥi] (er-PRO.PERS.3SG.BETONT; ihm-PRO. PERS.3SG.DAT) vs. frz. /lui/ [lu.ˈi] (Ludwig-PROPER NAME) und frz. /moiz/ [mwaːz] (Riegel-N.F.SG) vs. frz. /moiz/ [mo.ˈiːz] (MosesPROPER NAME), sprechen allerdings gegen eine synchronisch wirksame GlidingRegel basierend auf einem eindeutig bestimmbaren phonetischen Kontext. Es kann nicht schlüssig phonetisch hergeleitet werden, weshalb /y/ in frz. synchronisch zu [ɥ] «gleitet», während /u/ in frz. erhalten bleibt. Beide Laute sind hohe Vokale, die adjazent zu Vokalen auftreten, i.e. beide müssten einen Gliding-Prozess durchmachen, zumal das entscheidende Kriterium der Silbischkeit – frz. ist einsilbig und frz. ist zweisilbig – in der generativen SPE-Phonologie nicht in den Merkmalsmatrizen der Laute phonologisch repräsentiert ist. Eine regelbasiert generative Argumentation ist zirkulär: /y/ gleitet zu [ɥ], da [ɥ] ein nicht-silbischer Gleitlaut ist. Entscheidend aber kommt hinzu, dass im Gegenwartsfranzösischen der für den diachronischen Prozess der «Romanischen Diphthongierung» maßgebliche phonetische Kontext der phonetischen Längung des Silbenkerns durch Akzentuierung der betroffenen Silben nicht mehr gilt. Die Wortakzentuierung ist einer Phrasenakzentuierung, i.e. einer Akzentuierung der letzten volle Silbe einer Intonationsphrase («mot phonétique»), gewichen. Die Silbenstruktur (einsilbig

5.3 Französisch

119

oder zweisilbig) und damit die Vokalsequenzierung (Diphthong oder Hiat) muss deshalb synchronisch Teil der mentalen (phonologischen) Repräsentation dieser Lexien sein. Diese Sichtweise eines synchronisch «diphthonglosen» Französisch muss in Anbetracht diachronischer Daten erstaunen. Viele der diachronischen Entstehungsszenarien führten nämlich im Übergang vom Latein zum Protoromanischen und Altfranzösischen zu diphthongischen Vokalsequenzen. Vokalische Sequenzierungsmuster in Wörtern des heutigen Französisch entwickelten sich sprachgeschichtlich aus bzw. durch: (i) lateinischem und germanischem Diphthong AU, z.B. lat. GAUDĬA > frz. [ʒwa] (Freude-N.F.SG); vlat. *AUCĔLLU > afrz. > nfrz. [wa.zo] (Vogel-N.M.SG); germ. *KAUSJAN > frz. [ʃwa.siːʁ] (auswählen-V. INF) und frz. [ʃwa] (Auswahl-N.M.SG) (Rheinfelder [1937] ³1963, 108–109) (ii) Diphthongierung betonter offener Vokale durch Längung des Silbenkerns in offener Silbe («Romanische Diphthongierung»), z.B. lat. PĔ.TRĂM > frz. [pjɛːʁ] (Stein-N.F.SG); lat. PĔDĔM > frz. [pje] (iii) Diphthongierung betonter geschlossener Vokale durch Längung des Silbenkerns in offener Silbe («Französische Diphthongierung»), z.B. lat. MĒ (N).SĔM > frz. [mwa] (Monat-N.M.SG); lat. SĒ.RŌ > fr. [swaːʁ] (Abend-N.M.SG) (iv) bedingte Diphthongierung durch Palatalisierung, z.B. lat. CŎQUĚRE > frz. [kɥiːʁ] (kochen-V.INF); lat. NŎCTĔM > frz. [nɥi] (Nacht-N.F. SG); lat. ŎCTO > frz. [ɥit] (acht-NUM); lat. NĬGRŬM > frz. [nwaʁ] (schwarz-ADJ.M.SG); lat. CRŬCĔM > frz. [kʁwa] (Kreuz-N.F.SG); lat. PĀCĀRE (befrieden-V.INF) > frz. [pe.je] (bezahlen-V.INF); lat. IŬNGĚRE > frz. [ʒwɛ̃.dʁə] (verbinden-V.INF) (v) Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns und anschließende Nasalierung, z.B. lat. BĔNĔ > frz. [bjɛ̃] (gut-ADV); lat. RĔM > frz. [ʁjɛ̃] (nichts-PRO) (vi) Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. lat. CRŪDĒLĔM > frz. [kʁy.ˈel] ~ [kʁɥɛl] (grausam-ADJ.M.SG); lat. TŪTĀRE > frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF); lat. HŎC ILLE > frz. [wi] (jaPART); lat. CRĒDĔRE > afrz. > nfrz. [kʁwaːʁ] (glauben-V.INF); lat. BĬBĔRE > afrz. > nfrz. [bwaːʁ] (trinken-V.INF); lat. CADĒRE > afrz. > nfrz. [ʃwaːʁ] (niederstürzen-V.INF); lat. FŬGĚRE > frz. [fɥiːʁ] (fliehen-V.INF) (vii) lateinischen Hiaten, z.B. lat. RŬ.ĪNA > frz. [ʁɥin] (Ruine-N.F.SG); lat. PRŬ.ĪNA > frz. [bʁɥin] (Nieselregel-N.F.SG); lat. THĔ.ĀTRŬM > frz. [te.ˈa.tʁə] (Theater-N.M.SG)

120

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(viii)Konsonant-Vokoid-Konvergenz, z.B. lat. CŌNSĬLĬŬM > frz. [kɔ̃.ˈsɛj] (Rat-N.M.SG); lat. PĂLĔA > frz. [paj] (Stroh-N.F.SG); lat. CŎLLĬGĚRE > frz. [kœ.jiːʁ] (sammeln-V.INF) (ix) konsonantischem englischem /w/ neuerer Entlehnungen, z.B. frz. (WorldWideWeb-N.F.SG); frz. (Whisky-N.M.SG) (x) phonologische Integration von Lehnwörtern, z.B. frz. [aj.ˈtɛk] (High-Tech-N.F.SG) Aus den Entstehungsszenarien (i) bis (vii) gingen im Französischen steigende etymologische (lexikalische) Diphthonge hervor, die heute wie in den Lexien in (25) integraler Bestandteil der Wortgestalten sind: (25) frz. /jɛː/ (Stein-N.F.SG) (< lat. PĔTRĂM) frz. /je/ (Fuß-N.M.SG) (< lat. PĔDĔM) frz. /jɛ̃/ (nichts-PRO) (< lat. RĔM) frz. /wa/ (Auswahl-N.M.SG) (< germ. *KAUSJAN) frz. /wa/ (trinken-V.INF) (< lat. BĬBĔRE) frz. /wa/ (Monat-N.M.SG) (< MĒ(N)SĔM) frz. /wi/ (ja-PART) (< lat. HŎC ILLE) frz. /ɥi/ (Nieselregel-N.F.SG) (lat. PRŬĪNĂM) frz. /ɥi/ (Frucht-N.M.SG) (< lat. FRŪCTŬM) Synchronisch schwankende diphthongisch-hiatische Realisierungen von Vokalsequenzen in identischen französischen Lexien wie in (26) basieren auf Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, i.e. Entstehungsszenarium (vi): (26) frz. [kʁɥɛl] ~ [kʁu.ˈɛl] (grausam-ADJ.M.SG) (< lat. CRŪDĒLĔM) frz. [tɥe] ~ [ty.ˈe] (töten-V.INF) (< lat. TŪTĀRE) frz. [lwe] ~ [lu.ˈe] (mieten-V.INF) (< lat. LŎCĀRE) frz. (erschüttern/schütteln-V.INF) [sə.ˈkwe] ~ [sə.ku.ˈe] (< lat. SUCCŬTĔRE) frz. [ʒwe] ~ [ʒu.ˈe] (spielen-V.INF) (< lat. JŎCĂRE) frz. [lje] ~ [li.ˈe] (verbinden-V.INF) (< lat. LĬGĂRE) frz. [nɥɑ̃s] ~ [ny.ˈɑ̃s] (Nuance-N.F.SG) Konsonantische Entwicklungen in Erb- und Lehnwörtern – Entstehungsszenarien (viii) bis (x) – führten zu steigenden und fallenden Sequenzen. Wenngleich die entstandenen Sequenzen, etwa /wa/ in frz. (WC-N.M.SG) oder /aj/ in frz. (Stroh-N.F.SG), lautlich mit Vokalsequenzen identisch sind, so verhalten sich doch die darin enthaltenen Approximanten /w/ und /j/ silben-

5.3 Französisch

121

phonologisch wie Konsonanten. Bei den erbwörtlichen Lexien in (27a) ist das resyllabierende «enchaînement consonantique» möglich, i.e. /j/ kann mit einem nachfolgenden vokalisch anlautenden Wort eine neue Silbe bilden und die Onset-Position einnehmen, da es nicht zum Nukleus, sondern zur Koda der Ursprungssilbe gehört, z.B. in frz. (die Verwaltungsarbeit) [lə.#tʁa.vaj.#ad.mi.nis.tʁa.tif] wird in zusammenhängender Rede [lə.tʁa.va. jad.mi.nis.tʁa.ˈtif]. Bei den Lehnwörtern in (27b) sind die französischen phonologischen Prozesse Elision und Liaison blockiert, da /w/ und /j/ silbenstrukturell die Onset- und nicht die Nukleus-Position besetzen, z.B. in frz. (ART.DEF.F.SG + High-Tech-N.F.SG) ohne Elision des Artikels, deshalb nicht *, oder in frz. [lə.lɔ̃.wi.kɛnd] (das lange Wochenende) ohne Liaison zwischen isoliert stumm konsonantisch auslautendem und , deshalb nicht *[lə.lɔ̃.gwi.kɛnd]. (27a) frz. /ɛj/ (Rat-N.M.SG) (< lat. CŌNSĬLĬŬM) frz. /aj/ (Stroh-N.F.SG) (< lat. PĂLĔA) frz. /aj/ (Arbeit-N.M.SG) (< lat. TRĒPĀLĬŬM) frz. /uj/ (Fenchel-N.M.SG) (< lat. FĒNŬCŬLŬM) frz. /je/ (befeuchten-V.INF) (< lat. MŎLLĬĀRE) (27b) frz. /wi/ (Wochenende-N.M.SG) frz. /wa/ (WC-N.M.SG) frz. /we/ (Western-N.M.SG) frz. /wɛ/ (WorldWideWeb-N.M.SG) frz. /ja/ (Joghurt-N.M.SG) frz. /je/ (Hierarchie-N.F.SG) frz. /aj/ (High-Tech-N.F.SG) Die Studien von Kaye und Lowenstamm (1984) verdeutlicht, dass sich aus konsonantischen Entwicklungspfaden stammende /w/ und identische Artikulationsgesten in Diphthongen silbenphonologisch hinsichtlich Elision und Liaison gänzlich anders verhalten. Treffen etwa frz. [lə] (ART.DEF.M.SG) und frz. [wat] (Watt-N.M.SG) in der Redekette aufeinander, so wird das /ə/ im Artikelwort nicht elidiert, was dann frz. [lə.wat] ergibt. Demgegenüber wird beim Aufeinandertreffen von frz. [lə] (ART.DEF.M.SG) und dem lautlich mit frz. (Watt-N.M.SG) identischen frz. [wat] (Watte-N.F.SG) das /ə/ im Artikelwort elidiert, was zu frz. [lwat] führt. Ähnliches gilt bei der Liaison – i.e. der stimmhaften Artikulation eines synchronisch ansonsten stummen über die Wortgrenze hinaus, wenn es zwischen zwei Vokalen in der Redekette auftritt, als [z] – so etwa in frz. [nu.zwim]

122

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(hören-V.1PL.PST.IND). Demgegenüber findet beim Aufeinandertreffen von frz. [le] (ART.DEF.PL) und frz. [wi.ˈkɛnd] (Wochenende-N.M.PL) keine Liaison statt: [le.wi.ˈkɛnd]. Silbenstrukturell bedeutet dies, dass das aus konsonantischen Entwicklungspfaden stammende /w/ den Silben-Onset besetzt und sich auch noch synchronisch silbenphonologisch wie ein Konsonant verhält (keine Elision und keine Liaison). Das aus vokalischen Entwicklungspfaden stammende /w/ hingegen ist Teil des vokalischen Silbenkerns und verhält sich silbenphonologisch wie ein Vokal (Elision und Liaison). Exkurs 2: Diphthonge im «verlan» «Verlan» (verlanisierte Form von frz. à l’envers, verkehrt herum-ADV) ist ein sprachliche Praktik zur Kodierung bereits existierender französischer, englischer, arabischer, kreolischer und Argotwörter. Die Kodierung besteht Im Wesentlichen in der Vertauschung von Silben und bei einsilbigen Lexien auch von Einzellauten bzw. Graphemen. «Verlan» ist jedoch ein sprachliches und soziales Phänomen gleichermaßen, das als Effekt des Sprachkontakts und der Identitätsbildung in den französischen Banlieues gilt. In der Forschung wird es weitgehend als Registerphänomen betrachtet, als ein gruppenspezifischer Banlieue-Argot, dessen Proponenten v.a. als männlich, jugendlich und mit Migrationsgeschichte charakterisiert werden und dessen Inhalte sich thematisch um Streit, Schlägerei, Sex, Drogen und Diebstahl drehen. Da jedoch das Kodierungsverfahren «verlan» oftmals metonymisch für neue jugendsprachliche, umgangssprachliche und urbane Formen des Gegenwartsfranzösischen mit großer indexierender Kraft verwendet wird, steht es auch im variationslinguistisch-designativen Spannungsfeld des «français populaire», französische Umgangssprache, Jugendsprache, «contemporary urban vernacular» und Diglossie (u.a. Bachmann/Basier 1984; Lefkowitz 1991; Méla 1991; Plénat 1995; Méla 1997; Valdman 2000; Goudaillier 2002; Kundegraber 2008; Sloutsky/ Black 2008; Bertucci 2011; El-Kolli 2013). Eine Sichtung aller Belege verlanisierter Wörter mit diphthongischen Vokalsequenzen im Dictionnaire de la Zone,39 in Méla (1997) und Goudaillier (2002) ergab, dass alle Diphthonge eingebettet in ihre jeweilige Silbe bei mehrsilbigen Strukturen oder als Lauteinheit bei Umstellungen in einsilbigen Wörtern stets erhalten bleiben. So auch Méla (1997, 19): «La suite semi-voyelle voyelle se comporte comme une diphtongue, c’est-à-dire que la semi-voyelle est toujours solidaire de la voyelle. Ainsi devient [djɛ̃ɡaʁ] et devient [nwaʃi]». Bei den steigenden Vokalsequenzen können die Vokalsequenz /wa/ in zwei- bzw. 39 URL: https://www.dictionnairedelazone.fr/dictionary/verlan (12.5.2021).

5.3 Französisch

123

mehrsilbigen (28a) und einsilbigen (28b) Strukturen, die Vokalsequenz /ɥi/ in zweisilbigen (29a) und einsilbigen (29b) Strukturen, die Vokalsequenzen /jɛ̃/, /jɛ/ und /je/ (30) und die Vokalsequenz /wɛ̃/ (31) identifiziert werden. (28a) frz. [bwat] → [tœ.bwa] (Disko-N.F.SG) frz. [buʁ.ʒwa] → [ʒwa.buːʁ] (bürgerlich-ADJ.M.SG) frz. [ʃi.nwa] → [nwa.ʃi] (Chinese-N.M.SG) frz. [swa.ʁe] → [ʁœ.swa] (Abend-N.F.SG) frz. [vwa.tyːʁ] → [tyːʁ.vwa] (Auto-N.F.SG) (28b) frz. [dwa] → [wad] (Finger-N.M.SG) frz. [ʒwa] → [waʒ] (das ist kein Spaß-LOCUTION) frz. [mwa] → [wam] (ich-PRO.PERS.1SG.BETONT) frz. [nwaːʁ] → [ʁœ.nwa] (schwarz-ADJ.M.SG) frz. [pwal] → [wal.pe / walp] (Körperhaar-N.M.SG) frz. [kwa] → [wak] (so ein Quatsch-LOCUTION frz. [twa] → [wat] (du-PRO.PERS.2SG.BETONT) Interessant ist der Fall frz. (Chinese-N.M.SG), da hier neben den Formen zusätzlich der Anfangs- und Endkonsonant von [nwaʃ] zu [ʃwan] umgestellt werden kann, die Vokalsequenz /wa/ aber in jedem Fall intakt bleibt. (29a) frz. [sɥi.la] → [la.sɥi] (jener-PRO.DEM) frz. [ɡʁa.tɥi] → [tɥi.ɡʁa] (gratis-ADJ.M.SG) (29b) frz. [kɥiːʁ] → [ʁœ.kɥi] (Lederjacke-N.M.SG) frz. [lɥi] → [ɥil] (er-PRO.PERS.3SG.BETONT) frz. [ʒɥif] → [fœʒ] (Jude-N.M.SG / jüdisch-ADJ.M.SG) Die Verlanisierung von frz. [ʒɥif] zu [fœʒ] (Jude-N.M.SG/jüdischADJ.M.SG) läuft über den Zwischenschritt einer Trunkierung des auslautenden vokalischen Elements – einem nicht ungewöhnlichen Verfahren des Verlans – in diesem Fall der gesamten Vokalsequenz /ɥi/ und nicht nur einfach des /i/: [ʒɥif] → [ʒɥi.fœ] → [fœ.ʒɥi] (Trunkierung) → [fœʒ].

124

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(30) frz. [bjɛ̃] → [jɛ̃b] (gut-ADV) frz. [bjɛ̃ːʁ] → [jɛʁb / ʁœ.bjɛ] (Bier-N.F.SG) frz. [ʃjɛ̃] → [jɛ̃ʃ] (Hund-N.M.SG) frz. [ʃjɛn] → [nœ.ʃje] (Hündin-N.F.SG) frz. [pje] → [jep] (Fuß-N.M.SG) frz. [vjɛ̃] → [jɛ̃v] (kommen-V.2/3SG.PRS.IND) (31) frz. [ʒwɛ̃] → [wɛ̃ʒ] (Joint-N.M.SG) Neben den steigenden Sequenzen /wa/, /ɥi/, /jɛ̃/, /jɛ/ und /je/ kommen in verlanisierten Wörtern wie in (32) auch fallende Sequenzen /aj/, /ɛj/ und /uj/ vor: (32) frz. [bu.tɛj] → [tɛj.bu] / [tɛj] (Flasche-N.F.SG) frz. [de.pu.je] → [puj.i.de] (ausrauben-V.INF) frz. [fi.jə] → [jœ.fi] (Mädchen-N.F.SG) frz. [ʁa.kaj] ~ [ʁa.ka.jə] → [ka.jə.ʁa] (Gesocks-N.F.SG) frz. [tʁa.va.je] → [vaj.tʁa] (arbeiten-V.INF) frz. [tʁa.va.je] → [vaj.tʁa] (arbeiten-PTCP) frz. [tʁa.vaj] → [vaj.tʁa] (Arbeit-N.M.SG) Die fallenden Sequenzen /aj/, /ɛj/ und /uj/ der zu verlanisierenden französischen Ausgangswörter stammen allesamt aus dem Entstehungsszenarium (vii), wo durch palatale Lautumgebungen eine Konsonant-Vokoid-Konvergenz des /l/ in Richtung Aussprache als /j/ stattfand. Spuren dieser konsonantischen Entwicklung sind neben der graphischen Repräsentation als , und das silbenphonologische Verhalten von /j/, /j/ bildet nämlich bei Liaison und bei Realisierung eines auslautenden Schwas /ə/ den Onset der neuen Silbe, z.B. in frz. [bu.te.jə] (Flasche-N.F.SG), und ist damit nicht Teil des vokalischen Silbenkerns. Dies findet etwa bei der Verlanisierung von frz. [ʁa.ka.jə] zu [ka.jə.ʁa] (Gesocks-N.F.SG) statt, wo /j/ nicht gemeinsam mit /a/ den Nukleus /aj/, sondern mit dem Schwa /ə/ eine neue Silbe /jə/ bildet und die Onset-Position besetzt. So auch Méla (1997, 21): «On peut noter que les mots fille et caille sont codés comme des dissyllabiques ; la semi-voyelle en position finale fonctionne donc comme une consonne ce qui donne en verlan [jœfi], [jœka]. La semi-voyelle [j] en position intervocalique fonctionne toujours comme une consonne, ainsi fayot donne [jofa]». Aus dem Exkurs zum «verlan» können wir folgende Schlüsse ziehen: Dass (1.) im medial gesprochenen Französisch die Silbe die dominante Wahrnehmungseinheit ist, da verlanisierende Sprecher des Französischen die lautlichen Formen der Ausgangslexien nach einzelsprachlich erworbene Gruppierungs-

5.3 Französisch

125

mustern i.d.R. in Silben segmentieren und zu den verlanisierten Formen wieder zusammenfügen. Dabei bleiben (2.) suprasegmentale Eigenschaften der Silben und der ursprünglichen Wortgestalt insgesamt (Wortgestaltqualitäten), etwa das prosodische Gewicht, die Morigkeit und rhythmische Eigenschaften der Wortgestalt, weitgehend intakt; cf. hierzu die sehr aufschlussreiche prosodische Studie zum «verlan» von Plénat (1995). (3.) In Hinblick auf die hier verhandelten Vokalsequenzen, bleiben die lexikalischen Diphthonge bei der Verlanisierung der Wörter erhalten. Sowohl dieser Erhalt bei der Umstellung innerhalb der Wortgestalten als auch ihre Trunkierung als Ganzes am Wortende liefern Evidenz, dass sie als Einheiten wahrgenommen und kognitiv verarbeitet werden. (4.) Aus konsonantischer Konsonant-Vokoid-Konvergenz hervorgegangene /j/ werden von den Sprechern wie Konsonanten (re)syllabiert. *** Stabile synchronische hiatische Vokalsequenzierungen in französischen Lexien gehen auf lateinische und griechische Hiate gelehrter Entlehnungen zurückgehen, so die Beispiele in (33a). Entsprechende erbwörtliche Entwicklungen repräsentieren die Beispiele in (33b); im Fall von frz. (erschaffen-V.INF) hat der ursprüngliche Hiat lat. CRĒ.Ā.RE überlebt; im Fall von frz. (Schuldforderung-N.M.SG) wurde intervokalisches /d/ von vlat. CREDENTIA getilgt, was zu einem Zusammentreffen zweier Vokale führte. Entscheidend für den Fortbestand des Hiatus bis in die Gegenwart hinein ist, dass der zweite Vokal des Hiats den Nukleus der akzentuierten Silbe bildet. (33a) frz. (lüften-V.INF) < lat. Ā.ĔR frz. (Glückseligkeit-N.F.SG) < lat. BE.ATITUDO frz. (Zusammenarbeit-N.F.SG) < lat. CO.OPERATIO frz. (Koordination-N.F.SG) < lat. CO.ORDIANTIO frz. (Kreatur-N.F.SG) < lat. CRĒ.Ā.TURA frz. (Windkraftanlage-N.F.SG) < griech. AI.OLOS (Gott des Windes) frz. (heldenhaft-ADJ.GENERISCH.SG) < lat. HERŌ.ĬCŬS frz. (Oase-N.M.SG) < lat. O.ASIS frz. (Poesie-N.F.SG) < griech. POI.ÊSIS frz. (Theater-N.M.SG) < lat. THĔ.ĀTRŬM (33b) frz. (erschaffen-V.INF) < lat. CRĒ.Ā.RE frz. (Schuldforderung-N.M.SG) < vlat. CREDENTIA

126

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Synchronische französische Hiate gehen auch auf Lexien aus dem fränkischen Superstrat zurück. Die Hiate in (33c) entstanden durch das Zusammentreffen zweier Vokale infolge des Verstummens des «h germanique» (germanisches h). Eine hiatische Entlehnung aus dem italienischen Adstrat ist (33d). (33c) frz. [ka.o] (Ruck-N.M.SG) < germ. CA + *HOTTÔN frz. (Hüfte bewegen-V.INF) < frz. DÉ + germ. *HANKA frz. [a.iʁ] (hassen-V.INF) < germ. *HATJAN (33d) frz. (gelingen-V.INF) < ital. RI.USCIRE In der französischen Verbalflexion indizieren diphthongisch gestaltete Wortformen in einigen, vom Infinitiv ausgehend nicht vorhersagbaren Verbparadigmen die grammatischen Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus, i.e. 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Indikativ (Présent de l’indicatif) (34a), 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Subjunktiv (Subjonctif présent) (34b) und 2SG Imperativ (34c), im Kontrast zu monophthongisch gestalteten Formen der 1PL und 2PL. Zu dieser Verbklasse gehören hochfrequentes frz. venir (kommen-V.INF), frz. tenir (halten-V.INF), frz. devoir (sollen-V.INF), frz. pouvoir (können-V.INF) und frz. vouloir (wollen-V.INF). Diese synchronischen Stammvokalalternanzen gehen auf die Diphthongierung betonter Vokale im Kontext der «Romanischen Diphthongierung» zurück. Während in den lateinischen Wortformen der 1SG, 2SG, 3SG und 3PL der in der Pänultima enthaltene Stammvokal akzentuiert und diphthongiert wurde, rückte durch das Anfügen der mehrsilbigen Verbendungen der 1PL und 2PL die Akzentstelle von der Stammvokalsilbe auf die nachfolgende Silbe, so dass der nunmehr unbetonte Stammvokal erhalten blieb (cf. Kapitel «Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns»). In jedem Fall liegt diesen Stammalternanzen im Gegenwartsfranzösischen keine synchronisch aktive phonologische Regel (Akzentuierungswechsel) zugrunde; Inkonsistenzen in den Paradigmen infolge vieler analogischer Übertragungen inbegriffen. (34a) Pers. Num.

venir (kommen-V) Präsens Indikativ

devoir (sollen-V) Präsens Indikativ

pouvoir (können-V) Präsens Indikativ

être (sein-COP) Präsens Indikativ

SG

viens [vjɛ̃]

dois [dwa]

peux [pø] / puis [pɥi]

suis [sɥi]

SG

viens [vjɛ̃]

dois [dwa]

peux [pø]

es

5.3 Französisch

127

Pers. Num.

venir (kommen-V) Präsens Indikativ

devoir (sollen-V) Präsens Indikativ

pouvoir (können-V) Präsens Indikativ

être (sein-COP) Präsens Indikativ

SG

vient [vjɛ̃]

doit [dwa]

peut [pø]

est

PL

venons [və.nɔ̃]

devons [də.vɔ̃]

pouvons [pu.vɔ̃]

sommes

PL

venez [və.ne]

devez [də.ve]

pouvez [pu.ve]

êtes

PL

viennent [vjen]

doivent [dwaːv]

peuvent [pœːv]

sont

Pers. Num.

venir (kommen-V) Präsens Subjunktiv

devoir (sollen-V) Präsens Subjunktiv

pouvoir (können-V) Präsens Subjunktiv

être (sein-COP) Präsens Subjunktiv

SG

vienne [vjen]

doive [dwaːv]

puisse [pɥis]

sois [swa]

SG

viennes [vjen]

doives [dwaːv]

puisses [pɥis]

sois [swa]

SG

vienne [vjen]

doive [dwaːv]

puisse [pɥis]

soit [swa]

PL

venions [və.njɔ̃]

devions [də.vjɔ̃]

puissions [pɥi.sjɔ̃]

soyons [swa.jɔ̃]

PL

veniez [və.nje]

deviez [də.vje]

puissiez [pɥi.sje]

soyez [swa.je]

PL

viennent [vjen]

doivent [dwaːv]

puissent [pɥis]

soient [swa]

(34b)

(34c) Pers. Num.

venir (kommen-V) Imperativ

devoir (sollen-V) Imperativ

pouvoir (können-V) Imperativ

être (sein-COP) Imperativ

SG

viens [vjɛ̃]

dois [dwa]

---

sois [swa]

PL

venons [və.nɔ̃]

devons [də.vɔ̃]

---

soyons [swa.jɔ̃]

PL

venez [və.ne]

devez [də.ve]

---

soyez [swa.je]

Morphologische Basis für Futur (Futur simple) und Konditional (Conditionnel présent) sind im Französischen die Verbstämme, an die die jeweiligen Verbendungen angefügt werden, z.B. frz. {joue} (spielen-VERBSTAMM) + {rai, ras, ra,

128

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

rons, rez, ront} (1SG, 2SG, 3SG, 1PL, 2PL, 3PL.FUT) bzw. {ais, ais, ait, ions, iez, aient} (1SG, 2SG, 3SG, 1PL, 2PL, 3PL.COND). Da die morphologische Basis genauer die starken Formen der Infinitivstämme ist, sind es bei frz. tenir (haltenV.INF) und venir (kommen-V.INF) die diphthongisch gestalteten Stämme (34d). Viele dieser starken Verbstämme sind heute monophthongisch gestaltet, z.B. frz. {sau} [so] (wissen-VERBSTAMM) + {rai, ras, …} (1SG, 2SG, … FUT) und {vaud} [vod] (wert sein-VERBSTAMM) + {rais, rais, …} (1SG, 2SG, … COND). (34d) Pers. Num.

venir (kommen-V.INF) Futur

venir (kommen-V.INF) Konditional

SG

viendrai [vjɛ̃.dʁe]

viendrais [vjɛ̃.dʁɛ]

SG

viendras [vjɛ̃.dʁa]

viendrais [vjɛ̃.dʁɛ]

SG

viendra [vjɛ̃.dʁa]

viendrait [vjɛ̃.dʁɛ]

PL

viendrons [vjɛ̃.dʁɔ̃]

viendrions [vjɛ̃.dʁi.ɔ̃]

PL

viendrez [vjɛ̃.dʁe]

viendriez [vjɛ̃.dʁi.e]

PL

viendront [vjɛ̃.dʁɔ̃]

viendraient [vjɛ̃.dʁɛ]

Wechsel zwischen diphthongisch und monophthongisch gestalteten Wortstämmen wie in (35) indiziert bei französischen Doublettenpaaren aus Erb- und Buchwort Wortklassenzugehörigkeit, i.e. Nomen (N) vs. Adjektiv (ADJ): (35) frz. /ɥi/ (Nacht-N.F.SG) ~ /ɔ/ (nächtlich-ADJ.GENERISCH.SG) frz. /jɛ̃/ (Hund-N.M.SG) ~ /a/ (hundebezogen-ADJ.M.SG) Synchronisch aktive phonologische Prozess, die zu diphthongischen Vokalsequenzierungen im Französischen führen, sind (1.) wortinterne Diphthongierung im kanadischen Französisch und (2.) Wortgrenzen übergreifende Gleitlautepenthese in zusammenhängender Rede. Im Quebec-Französischen werden unter Einfluss des Nordamerikanischen Englisch betonte orale lange und nasale, nicht-finale Vokale diphthongisch realisiert, so werden etwa frz. (Schnee-N.F.SG) – standardfranzösisch [nɛːʒ] – zu [najʒ] ~ [næjʒ] und frz. (Ursache-N.F.SG) – standardfranzösisch [koːz] – zu [koʊz]. Der jeweilige Ausprägungsgrad der Diphthongierung ist von individuellen, diastratischen, diagenerationellen, diasexuellen und diaphasischen Faktoren abhängig (Santerre/Millo 1978; Dumas 1981; 1987; MacKenzie/Sankoff 2010).

5.3 Französisch

129

Bei Gleitlautepenthese handelt es sich um einen phonologischen Prozess zur Ausspracheerleichterung, bei dem über lexikalische Wortgrenzen hinweg zwischen die hohen Endungsvokale des ersten Wortes und den Anfangsvokalen des zweiten Wortes epenthetisch die Gleitlaute [j], [ɥ] oder [w] eingefügt werden. So etwa in frz. [si.ja.na.ˈfɛ̃] (‘wenn Anne Hunger hat’), frz. [ty.ˈɥe] (‘du bist’) und frz. [u.wa.ˈle] (‘wohin gehen?’) (Girard/Lyche [1991] 42005, 137). Artikulatorisches Ergebnis dieses phonologischen Prozesses ist die im Französischen auch über Silben- und Wortgrenzen hinweg präferierte offene CV-Silbenstruktur. Generative Prozessphonologen führen Gleitlautepenthese und (als systematisch vom Phonologen zu erkennende) wortinterne Diphthongierungen auf das Wirken eines einheitlichen Mechanismus («gliding process») zurück (Kenstowicz 1994, 44–46). Aus dieser Perspektive sind sowohl Gleitlaute als auch wortinterne Diphthonge phonetische Oberflächenphänomene, die aus phonologischen Tiefenrepräsentationen, die die Merkmalsmatrizen der assoziierten Monophthonge enthalten, durch eine synchronisch aktive phonologische Diphthongierungsregel in die phonetische Oberfläche überführt werden (Chomsky/Halle 1968, 183). Das entscheidende Kriterium hierbei ist die Silbischkeit der Segmente. Unsilbische Segmente fungieren als Gleitlaute, Halbkonsonanten respektive Halbvokale und silbische Segmente als Vollvokale der entsprechenden diphthongischen Vokalsequenzierungen. Die jeweils gültige Silbischkeit der betroffenen vokalischen Elemente wird ad hoc aus der prosodischen Umgebung z.B. bei Akzentuierungswechsel regelbasiert errechnet. Auf lautlicher Ebene ist festzuhalten, dass aus der Gleitlautepenthese Laute resultieren, die identisch mit den Bestandteilen lexikalischer Vokalsequenzen sind, etwa im Französischen die Gleitlaute /j/, /w/ und /ɥ/. Dies ist sicherlich der Grund für vereinheitlichende Darstellungen von Diphthongierung und Gleitlautepenthese innerhalb prozessphonologischer Ansätze. Jedoch können im Gegensatz zu der artikulatorisch bedingten Gleitlautepenthese die konditionierenden phonetischen Kontexte für lexikalische Diphthonge nicht immer widerspruchsfrei in Form phonologischer Diphthongierungsregeln ermittelt werden. Eine synchronisch wirksame phonologische Diphthongierungsregel fürs Französische ist ganz gewiss die Diphthongierung betonter langer und nasaler, nicht-finale Vokale im kanadischen Französisch. Viele andere Diphthongierungsregeln für romanische Sprachen (etwa Harris 1985 fürs Spanische) systematisieren hingegen abgeschlossene diachronische Prozesse. Doch wieso kommen in den hier untersuchten Sprachen genau die Gleitlaute durch Gleitlautepenthese zustande, die auch in lexikalischen Diphthongen vorkommen? Die Antwort auf diese Frage gründet in der Wesensverschiedenheit von Gleitlautepenthese und lexikalischen Diphthongen bei gleichzeitiger dialekti-

130

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

scher Aufeinanderbezogenheit. Die phonetisch-phonologischen Ressourcen einer Sprache sind zirkulär, sie emergieren immer wieder im Sprachgebrauch und reproduzieren sich dabei immer wieder aufs Neue. Diese Zirkularität kann linguistisch als Beschränkungen beschrieben werden, nur dass eben niemand von außen die Beschränkungen auferlegt, sondern sie von dem in den Erinnerungsspuren abgelegten prozeduralen und kategorialen Wissen konstituiert werden. Verfestigte mentale Kategorien, etwa prototypische Vertreter einer Kategorie, üben dabei einen perzeptuellen Magneteffekt («perceptual magnet effect») aus (Kuhl 1991). Bezogen auf die Gleitlautepenthese und Diphthonge bedeutet dies, dass durch Effekte aus dem Lexikon (a) bestimmte artikulatorische Gesten (frz. [j], [ɥ] und [w]) und durch die einzelsprachlich geregelte Aufmerksamkeitslenkung auf den Diphthong-Hiatus-Kontrast (b) bestimmte Vokalsequenzierungsmuster (Diphthonge, Diphthongierung, Hiate, Hiattilgung, Gleitleitepenthese an Wortgrenzen) präferiert werden (cf. Chitoran/Hualde 2007). Zusammenfassend tritt uns im Französischen folgende wortbezogene Phänomenologie von Vokalsequenzen und Vokalsequenzierung entgegen: – Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen gehören zur verfestigten individuellen lexikalischen Wortgestalt, z.B. in frz. (Monat-N.M.SG), frz. (Frucht-N.M.SG) und frz. (Windkraftanlage-N.F.SG) – schwankende Vokalsequenzierungen (diphthongisch ~ hiatisch) bei Vokalsequenzen, die durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF), entstanden sind – Vokalsequenzen indizieren grammatische Kategorien: – In einigen Verbparadigmen die grammatischen Kategorien Person, Numerus, Tempus und Modus im Kontrast zu monophthongisch gestalteten Formen – 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Indikativ, z.B. in frz. (haltenV.3SG.PRS.IND), vs. 1PL und 2PL Präsens Indikativ, z.B. in frz. (halten-V.1PL.PRS.IND) – 1SG, 2SG, 3SG und 3PL Präsens Subjunktiv z.B. in frz. (sollen-V.1SG/3SG.PRS.SUBJ), vs. 1PL und 2PL Präsens Subjunktiv, z.B. in frz. (denken-V.1PL.PRS.SUBJ) – 1SG, 2SG, 3SG, 1PL, 2PL, 3PL Futur, z.B. in frz. (kommenV.1SG.FUT) – 1SG, 2SG, 3SG, 1PL, 2PL, 3PL Konditional, z.B. in frz. (kommen-V.3SG.COND) – 2SG Imperativ, z.B. in frz. (kommen-V.2SG.IMP) vs. 1PL und 2PL Imperativ, z.B. in frz. (kommen-V.2PL.IMP)

5.3 Französisch

131

– Wortklassenzugehörigkeit: z.B. im Kontrastpaar frz. (nächtlich-ADJ.GENERISCH.SG) (Buchwort) und frz. (Nacht-N.F.SG) (Erbwort) – im kanadischen Französisch Diphthongierung betonter langer und nasaler nicht-finaler Vokale als aktiver phonologischer Prozess, z.B. in frz. [najʒ] ~ [næjʒ] (Schnee-N.F.SG) – Gleitlautepenthese als aktiver wortübergreifender phonologischer Prozess zur Erzeugung von präferierten CV-Silbenstrukturen in zusammenhängender Rede, z.B. in frz. [ty.ˈɥe] (‘du bist’) Exkurs 3: Französische Diphthonge in einem Reimexperiment Da in der Literatur (Referenzen siehe oben) der phonologische Status von frz. /j/, /ɥ/ und /w/ nicht klar ist (Wertung als konsonantische Frikative, Halbkonsonanten, Halbvokale, Approximanten, Gleitlaute) und damit letztlich auch nicht ihre silbenphonologische Positionierung in der Silbenstruktur als Teil des Onsets, des Silbenkerns oder der Koda, wurde ein Reimexperiment mit französischen Muttersprachlern durchgeführt. Das Reimexperiment bestand aus (a) einer schriftlichen Reimproduktionsaufgabe und (b) Akzeptabilitätsurteilen. Gehören /j/, /ɥ/ und /w/ zum Onset und nur der darauffolgende Vokal zum Nukleus und damit zum Silben-Reim, müssten sich Wörter wie frz. [ʁwa] (König-N.M.SG) sauber auf [ma] (meine-PRO.POSS.F.SG) reimen. Die Hypothese war, dass sich komplexe Nuklei lexikalischer Diphthonge des Französischen nur auf komplexe Nuklei sauber reimen. Die sechs französisch-muttersprachlichen Probanden waren Studierende männlichen Geschlechts, Durchschnittsalter 23 Jahre. In der Reimproduktionsaufgabe sollten jeweils drei sich auf die französischen Lexien [ly, swaːʁ, ʁi, pje, ʁwa, lɥi] (gelesen, Abend, Reis, Fuß, König, er/ihm), wobei und klare einfache Nuklei enthalten, reimende Wörter niedergeschrieben werden. Eine Aufgabe, die wider Erwarten einige Schwierigkeiten bereitete und von einigen Probanden nicht vollständig erledigt wurde. Bei den Akzeptabilitätsurteilen, sollte mit «ja» oder «nein» gewertet werden, ob sich die französischen Lexien [ʁwa, lɥi, swaːʁ, pje, lɥiːʁ, swa] (König, er/ihm, Abend, Fuß, leuchten, Seide) mit jeweils komplexen Nuklei auf Lexien mit einfachen Nuklei reimen, z.B. die Frage « se rime avec , oui ou non ?» (« reimt sich mit , ja oder nein?»). Es war aber auch ein komplexer Nukleus als Kontrolle dabei, der allerdings nicht sauber reimt, « se rime avec , oui ou non ?» (« reimt sich mit , ja oder nein?»). Diese Aufgabe wurde i.d.R. schnell und ohne größere Probleme gelöst (cf. Testitems «Reimexperiment Französisch» im Anhang).

132

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Die Auswertung der Reimproduktionsaufgabe ergab folgendes Bild: Von den insgesamt 108 möglichen Reimen (6 Wörter x 3 Reime x 6 Probanden) wurden 102 tatsächlich von den Probanden produziert (entspricht ca. 94%). Bei den beiden Lexien mit einfachem Nukleus frz. (gelesen, Reis) wurden 33 von 36 möglichen Reimen (entspricht ca. 92%) und bei den vier Lexien mit komplexem Nukleus frz. (Abend, Fuß, König, er/ihm) wurden 69 von 72 möglichen Reimen (entspricht ca. 96%) produziert. Auf frz. [ly, ʁi] (gelesen, Reis) reimten die Probanden 32 Lexien mit einfachen Nuklei, z.B. frz. [ko.ny, dy, pʁi] (bekannt, gemusst, Preis) und nur eine Lexie mit komplexem Nukleus, nämlich frz. [nɥi] auf [ʁi]. Auf die Lexien mit komplexen Nuklei frz. [swaːʁ, pje, ʁwa, lɥi] (Abend, Fuß, König, er/ihm) wurden 65 Lexien mit ebenfalls komplexen Nuklei, z.B. frz. [bwaːʁ, tʁwa, bʁɥi] (trinken, drei, Lärm), zwei Lexien mit einfachen Nuklei, frz. [do.ne, ly.ne] (geben, gelaunt) auf frz. [pje] (Fuß), und hiatisches frz. [ʁu.a] (verprügeln-V.3SG.PST.IND) gleich zweimal auf frz. [ʁwa] (König) gereimt. Jedoch gibt es bei den einzelnen Lexien eine Ungleichverteilung: [swaːʁ] und [lɥi] wurden ausnahmslos auf Lexien mit komplexen Nuklei gereimt (jeweils 18/18 Reimen); [ʁwa] wurde 16-mal auf Lexien mit komplexen Nuklei und zweimal auf hiatisches [ʁu.a] gereimt (16/18 Reimen); [pje] hingegen wurde nur 13-mal auf Lexien mit komplexen Nuklei, von denen einige zudem konsonantische Strukturen darstellen, z.B. [su.je, tʁa.va.je] (beschmutzen, arbeiten), und zweimal auf Lexien mit einfachen Nuklei, [do.ne, ly.ne] (geben, gelaunt), gereimt; dreimal wurde die Reimproduktionsaufgabe nicht erfüllt (13/18 Reimen). Insgesamt decken sich die Ergebnisse der Reimproduktionsaufgabe weitgehend mit den Erwartungen aus der Hypothese, dass sich Silbenreime mit komplexen Nuklei auf komplexe Nuklei und Silbenreime mit einfachen Nuklei auf einfache Nuklei reimen. Komplexer wird das Bild bei den Akzeptabilitätsurteilen. Von den insgesamt 36 Urteilen entsprechen nur 19 den Erwartungen aus der Hypothese (cf. Tab. 11). bei den Urteilen ergibt sich ein Ungleichgewicht zwischen , und dem besonders auffälligen . Bei letzterem fanden fünf von den sechs Probanden den Reim des einfachen auf den komplexen Nukleus akzeptabel. Die einzelnen Lexien scheinen in ihrer Durchsichtigkeit bzw. Kompositionalität unterschiedlich wahrgenommen zu werden. Besonders die Ergebnisse für frz. sowohl aus der Reimproduktions- als auch aus der Akzeptabilitätsaufgabe bedürfen einer Interpretation. Der palatale Laut [j] kommt im Französischen in vielen Kontexten vor: als Konsonant, z.B. in frz. [tʁa.va.ˈje] (arbeiten-V.INF); als Ergebnis der Gleitlautepenthese an Morphemgrenzen in Partizipien, z.B. in frz. [u.bli.ˈje] (vergessen-PTCP); dem-

5.4 Italienisch

133

Tab. 11: Muttersprachliche Bewertungen und Erwartungen aus der Hypothese. Test-Item

ja

nein

Erwartung aus Hypothese

se rime avec , oui ou non ?





nein

se rime avec , oui ou non ?





nein

se rime avec , oui ou non ?





nein

se rime avec , oui ou non ?





nein

se rime avec , oui ou non ?





nein

se rime avec , oui ou non ?





nein

gegenüber kommt er in lexikalischen Diphthongen, z.B. in frz. [pje] (Fuß-N.M.SG) oder frz. [pjɛːʁ] (Stein-N.F.SG), vergleichsweise selten vor. Eine mögliche Interpretation ist, dass /j/ deshalb eher dem Onset zugeschlagen wird, da das konsonantische silbenphonologische Verhalten höherfrequenter ist. Im Kontrast hierzu kommt /w/ als Konsonant eher selten, aber als Bestandteil von lexikalischen Diphthongen häufiger vor. /ɥ/ kommt nur vokalisch vor, so dass hier das vokalische silbenphonologische Verhalten dominiert. Das Reimexperiment liefert folgende Einsichten: (1.) In den weitaus überwiegenden Fällen reimten die Probanden Lexien mit komplexen Nuklei auf Lexien mit komplexen Nuklei und Lexien mit einfachen Nuklei auf Lexien mit einfachen Nuklei. Frz. [j], [ɥ] und [w] als Bestandteile lexikalischer Diphthonge wurden damit von den Probanden als zum Silbenreim respektive zum Nukleus gehörend verarbeitet. (2.) Die Probanden verarbeiteten frz. /j/, /ɥ/ und /w/ unterschiedlich: /j/ wurde häufiger dem Onset zugeschlagen und als Konsonant verarbeitet; /w/ und /ɥ/ wurden häufiger dem Silbenreim respektive dem Nukleus zugschlagen und als vokalisches Element verarbeitet. ***

5.4 Italienisch Das Standarditalienische zeichnet sich durch zahlreiche steigende und fallende Vokalsequenzen aus (Lichem 1969, 90–97; Salza et al. 1987; Marotta 1988; Salza 1988; Stammerjohann 1988; Canepari [1992] 2008; Schmid 1999, 138–139; Bertinetto/Loporcaro 2005, 138–140; Canepari 2005, 126–127; van der Veer 2006, 10–12). Vokalische Sequenzierungsmuster in Wörtern des heutigen Italienisch

134

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

entwickelten sich sprachgeschichtlich aus bzw. durch (u.a. Maiden 1988; 1991; Heinemann 2017, 20–23): (i) ursprünglichen lateinischen Diphthongen (erbwörtliche Entwicklungen), z.B. in lat. LÆTŬM > ital. (freudig-ADJ.M.SG); lat. CAUTŬS > ital. (vorsichtig-ADJ.M.SG); vlat. *īLLÆI (jene-PRO.DEM.3SG) > ital. (sie-PRO.PERS.3SG) (ii) lateinischen und griechischen Diphthongen späterer gelehrter Entlehnungen (Latinismen, Gräzismen), z.B. in lat. AURŬM > ital. (Aura-N.F. SG); lat. LAUDĀRE (lobpreisen-V.INF) > ital. (Lobgesang-N.F.SG) (im Gegensatz zu erbwörtlich monophthongiertem ital. (Lob-N.F.SG)); griech. εὐφορία/EUPHORÍA > ital. /ew/ (Euphorie-N.F.SG) (iii) Diphthongierung von lat. /ɛ/ und /ɔ/ durch Längung des Silbenkerns in offener Silbe («Romanische Diphthongierung»), z.B. in lat. P̍ Ĕ.DĔM > ital. (Fuß-N.M:SG); lat. P̍ Ĕ.TRĂM > ital. (Stein-N.F.SG); lat. R̍ Ŏ. TĂM > ital. (Rad-N.F.SG); lat. ˈHŎ.MŌ > ital. (Mensch-N.M.SG) (iv) metaphonische Diphthongierung (Umlaut) von lat. /ɛ/ und /ɔ/ durch hohe Endungsvokale lat. und in nord- und süditalienischen Dialekten, z.B. in lat. MŎRĬS > ital. (sterben-V.2SG.PRS.IND); lat. GRŎSSŬM (dick-ADJ.M.SG.ACC) > kalabr. (grob-ADJ.M.SG) (v) bedingte Diphthongierung durch Palatalisierung, z.B. in lat. PLĂTĒĂM > ital. (Platz-N.F.SG); lat. FLŌRĔM > ital. (Blume-N.M.SG) (vi) Koaleszenz durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in lat. MĂGIS (mehr-ADV) > ital. (nie/jemals-ADV) (vii) Vokalisierung velarer Konsonanten, z.B. lat. SĔX > ital. (sechs-NUM) (viii)Koaleszenz durch Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, z.B. in lat. RABI.A > ital. (Wut-N.F.SG); lat. SŬ.ĀVĔM > ital. (lieblichADJ.GENERISCH.SG) (ix) lateinischem /w/, z.B. in lat. QUŎIŬS (dessen/wessen-ADJ) > ital. (deren/dessen-PRON.REL); lat. LĪNGUĂM > ital. (Sprache-N.F.SG) (x) germanischem /w/, z.B. in germ. *WARDIAN > ital. (Blick-N.M.SG) (xi) Entlehnung aus dem Englischen, z.B. in engl. WEB > ital. (Internet-N. M.SG); engl. RAID > ital. (Angriff-N.M.SG) (xii) Koaleszenz durch den Wandel s > i mit nachfolgendender Verschmelzungsdiphthongierung, z.B. in lat. NŌS > ital. (wir-PRO.PERS.1PL); lat. PŎST > ital. /ɔj/ (dann/danach-ADV) Heinemann (2017) konzediert jedoch, dass aus den phonetischen Kontexten dieser Entstehungsszenarien nicht in allen Lexien sowohl in altitalienischer Zeit als auch in der italienischen Hochsprache der Gegenwart gleichermaßen vokalische Verkomplexierungen hervorgegangen sind:

5.4 Italienisch

135

Altitalienisch zeigt sich die [«Romanische» A.d.V.] Diphthongierung zumindest nicht durchgängig, d.h. sie erfasst nicht alle offenen betonten Mittelvokale in offener Silbe, s. z. B. die Verbformen sei (siei ist nur vereinzelt belegt) und era (neben deutlich seltenerem iera), sete (nit. siete). Auch in klat. BENE > it. bene, vlat. *ILLAEI > it. lei (analog colei, costei, vgl. aber asen. liei) sowie klat. NOVEM > it. nove scheint die Diphthongierung unterblieben zu sein. Möglicherweise liegt der Grund bei bene in der vielfach vortonigen Stellung und für Formen von essere im häufigen Gebrauch als Auxiliarverb. Auch in Proparoxytona fehlt der Diphthong verschiedentlich, so in klat. PÉCORAM (ursprünglich neutr. pl.) > it. pécora, klat. ÓPERAM > it. ópera (möglicherweise Latinismus), s. aber daneben klat. QUAERERE > it. chiédere (ait. aber vereinzelt auch chérere). Dialektal findet sich z.B. piecora, asen. uopara, klat. LÉVITUM > it. liévito. Die Schwankungen sind hier möglicherweise dadurch bedingt, dass der Tonvokal bei Proparoxytona nicht so stark gelängt wird wie bei Paroxytona. (Heinemann 2017, 21)

Aus den Entstehungsszenarien (iii), (iv), (v), (viii), (ix), (x) und (xi) gingen in italienischen Lexien synchronische steigende Vokalsequenzierungen hervor; in (36a) Lexien mit steigendenden Vokalsequenzen mit /j/ und in (36b) Lexien mit steigendenden Vokalsequenzen mit /w/. (36a) ital. /ja/ (weinen-V.INF) (< lat. PLŌRĀRE) ital. /ja/ (Plan-N.M.SG) (< lat. PLĀNŬM) ital. /ja/ (Platz-N.F.SG) (< lat. PLĂTĒĂM) ital. /ja/ (Wut-N.F.SG) (< lat. RABIA) ital. /jɛ/ (Fuß-N.M.SG) (< lat. PĔDĔM) ital. /jɛ/ (Stein-N.F.SG) ( rum. (August-N.M.SG); lat. AURŬM > rum. (Gold-N.NEUTER.SG); lat. LAUDĔM > rum. (Lob-N.F.SG) (ii) ursprünglichen lateinischen Hiaten, z.B. in lat. DŬ.Ī > rum. (zweiNUM); lat. LĔ.Ō > rum. (Löwe-N.M.SG); lat. MĔ.ŬM > rum. (meinPRO.POSS.M.SG); lat. RE.ŬS > rum. (schlecht-ADJ.M/NEUTER.SG) (iii) Diphthongierung von lat. /ɛ/ durch Längung des Silbenkerns in offener Silbe («dakoromanische spontane Diphthongierung»), z.B. in lat. FĔRRŬM > rum. (Eisen-N.NEUTER.SG); lat. MĔL > rum. (Honig-N.F.SG); lat. PĔCTŬS > rum. (Brust-N.NEUTER.SG); lat. HĔRI > rum. (gesternADV); lat. ĀGNĚLLŬS > rum. (Lamm-N.M.SG) (iv) metaphonische Diphthongierung von [ɛ] und [ɔ] vor [a] oder [e], z.B. in lat. PĔTRĂM > rum. (Stein-N.F.SG) im Gegensatz zu lat. PĔTRAE > rum. (Stein-N.F.PL); lat. NĬGRĂM > rum. (schwarz-ADJ.F.SG) im Gegensatz zu lat. NĬGRŬM > rum. (schwarz-ADJ.M.SG) und lat. NĬGRĪ > rum. (schwarz-ADJ.M.PL); lat. AUTŬMNU, vlat. *ATǪMNUM > rum. (Herbst-N.F.SG); lat. HŎMĬNE > rum. (Menschen-N.PL); lat. NŎCTĔM > rum. (Nacht-N.F.SG); lat. NŎSTRĂM > rum. (unsere-PRO.POSS.F.SG) im Gegensatz zu lat. NŎSTRŬM > rum. (unser-PRO.POSS.M.SG); lat. MŎLĂM > rum. (Mühle-N.F.SG); lat. PLŬVĬA, vlat. *PLǪIA > rum. (Regen-N.F.SG); lat. SŌLĔM > rum. (Sonne-N.M.SG) (v) Koaleszenz durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in lat. ĂRĀNĔĂM > rum. (Krätze-N.F.SG); lat. DĬES IŌVĬS > rum. (Donnerstag-N.F.SG); lat. ĔGO > rum. (ich-PRO.PERS.1SG); lat. HĂBĔNT > rum. (haben-V.3PL.PRS.IND); lat. LĔVĀRE > rum. (nehmen-V.INF); lat. MĂGĬS > rum. (mehr-ADV); lat. NŎVŬM > rum. (neu-ADJ.M. SG); lat. RĪVŬM > rum. (Fluss-N.NEUTER.SG); lat. STRĔLLĂM > rum. (Stern-N.F.SG); lat. VĬTĔLLĂM > rum. (Färse-N.F.SG) (vi) Entwicklung palataler Konsonanten nach Vokalen, z.B. in lat. MĀIU > rum. (Mai-PROPER NAME) (vii) Koaleszenz durch den Wandel s > i mit nachfolgendender Verschmelzungsdiphthongierung, z.B. in lat. NŌS > rum. (wir-PRO.PERS.1PL); lat. VŌS > rum- (ihr-PRO.PERS.2PL); lat. AD PŎST > rum. (danach-ADV) (viii)Entlehnung aus slawischen Sprachen, z.B. in rum. (lieben-V.INF) (< slaw. LJUBITI)40

40 Alle slawischen, ungarischen und türkischen Etyma in diesem Kapitel stammen aus dem Kapitel «Vocabulary Romanian» der World Loanword Database (WOLD) ‹http://wold.clld.org/

142

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(ix) Entlehnung aus dem Ungarischen, z.B. in rum. (Volk-N.NEUTER. SG) (< ungar. NEM) (x) Entlehnung aus dem Türkischen, z.B. in rum. (Kaffee-N.F.SG) (< türk. KAHVE); rum. (Fensterscheibe-N.NEUTER.SG) (< türk. CAM); rum. (Pfeife-N.F.SG) (< türk. LÜLE) (xi) Entlehnung aus dem Französischen, z.B. in rum. (Flur/Bahn-N. NEUTER.SG) (< frz. COULOIR /wa/); rum. (Farbe-N.F.SG) (< frz. COULEUR /œː/); rum. (Wirbelsäule-N.F.SG) (< frz. COLONNE VERTÉBRALE /ɔ/); rum. (Fräulein-N.F.SG) (< frz. DEMOISELLE /wa/); rum. (Stück-N.F.SG) (< frz. PIÈCE /jɛ/); rum. (Betrug-N.F.SG) (< frz. FRAUDE /o/); rum. (Unterhemd-N.NEUTER. SG) (< frz. MAILLOT /a.jo/); rum. (Chaussee-N.F.SG) (< frz. CHAUSSÉE /e/); rum. (Toilette-N.F.SG) (< frz. TOILETTE /wa/); rum. (Gehweg-N.NEUTER.SG) (< frz. TROTTOIR /wa/); rum. (Schleier-N. NEUTER.SG) (< frz. VOILE /wa/); rum. (Reisender-N.M.SG) (< frz. VOYAGEUR /wa.ja/) (ausführlich hierzu cf. Kapitel «Phonologische Integration von Lehnwörtern») (xii) Entlehnung aus dem Englischen, z.B. in rum. (InternetseiteN.F.SG); rum. (Whisky-N.NEUTER.SG) Diese Entstehungsszenarien für rumänische Vokalsequenzen reflektieren die diachronische Stratifizierung des rumänischen Lexikons, das mit wechselnder Dominanz unter dem Einfluss des Lateinischen (zwischen 107 und 271), des Slawischen (erster Slaweneinbruch im 6. Jh.; massiver Slaweneinbruch im 9. Jh.), des Ungarischen (11. Jh.), des Türkischen (ab dem 14. Jh.), des Griechischen (ab dem 18. Jh.) und des Französischen (19. Jh.) stand (Rothe 1957, 1–6; Schroeder 1967, 16–44). Die sprachgeschichtliche Rekonstruktion der Herausbildung der rumänischen Diphthonge sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass die Aufgabe und Räumung der Provinz Dakien 271, die damit einhergehende sprachliche Isolation der Romanisierungsträger im Gebiet nördlich der Donau und der implikativ ermittelte Zeitraum der «Romanischen Diphthongierung» als gesamtromanischem Lautwandel 3./4. Jh. chronologisch zusammenfallen. Da das sprachliche Band zwischen weiten Teilen der Romanisierungsträger v.a. nördlich der Donau und dem Imperium um 270 abbrach, wurde für die Herausbildung der rumänischen Diphthonge die Hypothese einer sprachterritorial autonomen metaphonischen Diphthongierung entwickelt (Schürr 1936; 1964; 1970). Eine abschlie-

vocabulary/8› [letzter Zugriff: 27.05.2021] (= Schulte 2009b) und dexonline (dicționare ale limbii române), ‹https://dexonline.ro/› [letzter Zugriff: 27.05.2021].

5.5 Rumänisch

143

ßende Klärung der genauen chronologischen Abfolge von distinkten Diphthongierungsprozessen ist fürs Rumänische nach heutigem Kenntnisstand unmöglich. Am wahrscheinlichsten ist, dass verschiedene Prozesse in der Entwicklung zu den heutigen rumänischen Varietäten konvergierten. So sieht etwa Spore (1972, 244–254) keine Inkompabilität zwischen einer frühen spontanen Diphthongierung durch Vokallängung unter dem Hauptton (cf. auch Rosetti 1943, 20) und einer späteren durch Metaphonie bedingten Diphthongierung. Beide Lautwandelprozesse hätten jedoch in den vier rumänischen Großdialekten in unterschiedlichem Maße gewirkt: «diphtongaison et métaphonie en daco-roumain, métaphonie seule en macédo-roumain et en mégléno-roumain, et ni l’une ni l’autre en istro-roumain» (Spore 1972, 248). Allerdings wertet Spore diese dakoromanische Diphthongierung durch Vokallängung unter dem Hauptton als eine genuin rumänische Entwicklung und nicht als Teil der gemeinromanischen «Romanischen Diphthongierung». Diese dakoromanische spontane Diphthongierung sei eine autonome Fortentwicklung einer ursprünglich von Norditalien ausgehenden «semi-diphtongaison» (Spore 1972, 253). Zeitlich rückt er sie deshalb in die Nähe zur Aufgabe der Provinz Dakien durch Rom 270, als aber das Band zu den norditalischen Provinzen noch bestand. Als Beispiel für eine dakoromanische spontane Diphthongierung führt Spore folgende Entwicklung an: klat. DĪRĒCTĂM, vlat. [di.ˈɾek.ta] > [ˈdɾeːk.ta] ~ [ˈdɾeːp.ta] (= Synkope und Längung) > [ˈdɾe̯ak.ta] ~ [ˈdɾe̯ap.ta] (= Diphthongierung von haupttonigem e in geschlossener Silbe) > rum. (gerade-ADJ. F.SG); im Kontrast hierzu entwickelte sich die maskuline Form aus klat. DĪRĒCTŬM, vlat. [di.ˈɾek.tu] > [dɾekt] ~ [dɾept] (= Synkope und finales u fällt aus und kann damit nicht metaphonisierend wirken) > rum. (gerade-ADJ.M.SG) (Spore 1972, 246–247). Aus dem Entstehungsszenarium einer dakoromanischen spontanen Diphthongierung gingen Wörter des heutigen Rumänischen wie in (43) mit der steigenden Vokalsequenz /jɛ/ hervor. (43) rum. (Eisen-N.NEUTER.SG) (< lat. FĔRRŬM) rum. (Honig-N.F.SG) (< lat. MĔL) rum. (Haut-N.F.SG) (< lat. PĔLLĬS) rum. (Brust-N.NEUTER.SG) (< lat. PĔCTŬS) Die metaphonische Diphthongierung von [ɛ] und [ɔ] vor [a] oder [e] der Folgesilbe hingegen muss ein Diphthongierungsprozess gewesen sein, der entweder als spätere protorumänische Entwicklung erst nach 500 einsetzte oder bereits vorher einsetzte, aber über das 6. Jh. hinaus weiterwirkte, da sie nachweislich auch neu ins rumänische Lexikon kommende slawische Wörter erfasste. Ergebnisse dieser

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5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

metaphonischen Diphthongierung sind die lexikalischen rumänischen Diphthonge /e̯a/ wie in (44a) und /o̯a/ wie in (44b). (44a)rum. (Jacke-N.F.SG) (< lat. IACCA) rum. (Wimper-N.F.SG (< lat. CĬLĬŬM) rum. (Heilmittel-N.NEUTER.SG) (< slaw. LĔKŬ) rum. (Gehalt-N.F.SG) (< slaw. LEFE) rum. (Wiege-N.NEUTER.SG) rum. (Flussbarbe-N.F.SG) (< bulg. MRĔNA) rum. (Schnee-N.F.SG) (< lat. NĬVE) rum. (Pfeil-N.F.SG) (< lat. SĂGĬTTĂM) rum. (Abend-N.F.SG) (< lat. SĔRA) (44b)rum. (Krankheit-N.F.SG) (< slaw. BOLA) rum. (Oberschenkel-N.F.SG) (< lat. CŎXĂM) rum. [le.ji] – Hiattilgung als aktiver wortinterner phonologischer Prozess der Umgangssprache, z.B. in rum. (nehmen-V.INF) [lu.a] > [lwa] Exkurs 4: Vokalsequenzen in diatopischen Varietäten Der Betrachtung der Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen in diesem Buch liegen die Verhältnisse in den Standardvarietäten des Brasilianischen Portugiesisch, Spanischen, Französischen, Italienischen und Dakorumänischen zugrunde. An verschiedenen Stellen im Buch wurde bereits auf varietätenspezifische Diphthong- und Diphthongierungsphänomene verwiesen, so auf die Koaleszenzdiphthongierung infolge der Vokalisierung von silbenfinalem im Brasilianischen Portugiesisch (Feldman 1972; Parkinson 1988, 135), auf metaphoniebasierte Stammvokalalternanzen in diatopischen Varietäten des iberischen Spanisch (Blaylock 1965) und in diatopischen Varietäten des Italienischen (Krefeld 1999; Grassi et al. 2003, 46–47; Filipponio 2016; TorresTamarit et al. 2016) sowie auf Diphthongierung betonter oraler langer und nasaler nicht-finaler Vokale im Quebec-Französischen (Santerre/Millo 1978; Dumas 1981; 1987; MacKenzie/Sankoff 2010). Wenigstens ansatzweise soll dieser Exkurs zu Vokalsequenzen in den diatopischen Varietäten der genannten Sprachen das Bild ergänzen. Als allgemeine Erkenntnis kann zumindest daraus gezogen werden, dass die Verhältnisse noch einmal deutlich komplexer werden, da in identischen Lexien dialektal sowohl lautlich verschieden gestaltete Diphthonge, Hiate sowie lange und kurze Monophthonge vorkommen. Im Folgenden soll die diatopische Verteilung der Aussprachevariation rumänischer und französischer Diphthonge auf der Grundlage von Daten aus

5.5 Rumänisch

149

Sprachatlanten illustriert werden (zu romanischer Sprachgeografie cf. u.a. Coseriu 1975) – wohlwissend, dass die beiden verwendeten Sprachatlanten (Petrovici 1943 fürs Rumänische und Gilliéron/Edmont 1902–1910 fürs Französische) die gegenwärtigen rumänischen und französischen Dialektverhältnisse nicht mehr getreu abbilden. Die Studie von Tanase (1990) zur diatopischen Verteilung der Aussprachevariation der rumänischen Diphthonge /ea/ und /oa/ basiert auf der Kartierung dialektaler Sprachdaten des Rumänischen (Texte dialectale. Suplement la Atlasul lingvistic român II = Petrovici 1943). Die dialektalen Daten der über den rumänischen Sprachraum verteilten 60 Messpunkten zeigen für den Diphthong /ea/ Realisierungen von monophthongischem [a], diphthongischen [ea] und freie Variation zwischen [ea, ja, a, ɛ] (cf. Karte 1 im Anhang in Tanase 1990) und für den Diphthong /oa/ Realisierungen als diphthongische [oa], [wa] und [wo], monophthongisches [o] und freie Variation der genannten Varianten (cf. Karte 2 im Anhang in Tanase 1990). Synoptisch zu Großarealen zusammengefasst, werden die phonologischen rumänischen Diphthonge /ea/ und /oa/ des Standardrumänischen in den Dialekten des Rumänischen als [ea] und [oa] im Süden Rumäniens, als [ja] und [wa] im Osten Rumäniens und als monophthongische [a] und [o] im Nordwesten Rumäniens realisiert. Der Atlas linguistique de la France (ALF) (Gilliéron/Edmont 1902–1910)41 enthält viele französische Wörter mit standardsprachlichen Diphthongen, so z.B. für den Diphthong /wa/ die Items «moi je ne les aide pas» (‘ich, ich helfe ihnen nicht’) (Karte 12a und 12b) und «croix» (Kreuz-N.M.SG) (Karte 363), für den Diphthong /ɥi/ die Items «celui-ci» (dieser-PRO.DEM.3SG.M) (Karte 207), und «cuisse» (Schenkel-N.F.SG) (Karte 370) und für den Diphthong /je, jɛ/ die Items «pied» (Fuß-N.M.SG) (Karte 1012) und «des pierres» (ART.INDEF.M/F.PL + Stein-N.F.PL) (Karte 1015). Bei «croix» (Kreuz-N.M.SG) (Karte 363), standardlautlich [kʁwa], reicht dialektale Realisierungsspektrum von «krwā» (Messpunkt 227), «krwē» (510), «krwĕ» (540), «krwĭ» (829), «krwō» (299), «krō» (295), «krēy» (162), «krœ̄y» (140), «krū» (612), «krŭ» (707), «krŭs» (735), «krŭt» (717), «krŭts» (641) bis «krō» (295). Bei «croix» besteht die Tendenz im Nordosten, Norden, Nordwesten und im Zentrum Frankreichs zu verschieden gestalteten diphthongischen Realisierungen und im Südwesten, Süden und Südosten zu verschieden gestalteten monophthongischen Realisierungen. Bei «cuisse» (Schenkel-N.F.SG) (Karte 370), standardlautlich [kɥis], reicht das Spektrum von «kwīs» (247), «kwĭs» (226), «kwĕse» (924), «kwēco» (667),

41 Die digitalisierten Karten des Atlas linguistique de la France können konsultiert werden unter: ‹http://lig-tdcge.imag.fr/cartodialect5/#/› [letzter Zugriff: 27.05.2021].

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5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

«kēyso» (783), «kēĭso» (787), «kūse» (967), «kœ̄s» (508) bis «kœ̄h» (160). Im Osten Frankreichs besteht die Tendenz zu monophthongisch gestalteten Realisierungen und im restlichen Frankreich zu diphthongisch gestalteten Realisierungen. Bei «pied» (Fuß-N.M.SG) (Karte 1012), standardlautlich [pje], reicht das Spektrum von «pyē» (517), «pyĕ» (416), «pyī» (378), «pyă» (957), «pyœ̄» (180), «pyœ̆» (808), «pĕu» (797), «pāe» (459), «pē» (619), «pĕ» (778), «pī» (519) bis «pĭ» (935). Zu Großarealen zusammengefasst, besteht bei «pied» die Tendenz, im Norden, Nordwesten und im Zentrum zu verschieden gestalteten diphthongischen Realisierungen und im Nordosten und Süden zu verschieden gestalteten monophthongischen Realisierungen. ***

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen, synchronisch Ausgangspunkt für die Untersuchung portugiesischer, spanischer, französischer, italienischer und rumänischer Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen sind «Unstimmigkeiten» in ihren synchronischen phonologischen Beschreibungen. So wird etwa im Portugiesischen für die Realisierung von Nasaldiphthongen ein synchronisch aktiver phonologischer Nasaldiphthongierungsprozess stipuliert, obwohl in den entsprechenden Wörtern kein assimilatorisch wirkender Nasalkonsonant mehr vorkommt, so dass in der phonologischen Repräsentation nasale Nullelemente angenommen werden müssen. Tatsächlich regressiv assimilatorisch wirkten Nasalkonsonanten jedoch nur diachronisch, so bildete sich etwa port. (Hand-N.F.SG) aus lat. MĀNŬM mit dem entsprechenden Nasalkonsonanten /n/ durch eine Verschmelzungsdiphthongierung des assimilatorisch nasalierten /ã/ mit nachfolgendem /o/ heraus. Synchronisch sind die portugiesischen Nasaldiphthonge integrale Bestandteile lexikalisierter Wortgestalten. Im Spanischen stoßen normative und regelbasierte Phonologien angesichts freier Variation diphthongisch-hiatischer Realisierung von Vokalsequenzen innerhalb identischer Lexien, z.B. in span. [ˈbju.ða] ~ [bi.ˈuða] (Witwe-N.F.SG), und sogenannter «exceptional hiatuses», i.e. hiatisch realisierte Vokalsequenzen innerhalb der Wirkdomäne einer generalisierten spanischen Gliding-Regel, z.B. in span. [du.ˈe.to] (Duett-N.M.SG), an ihre explanatorischen Grenzen. Fürs Französische gilt apodiktisch die Lehrbuchmeinung, dass es keine Diphthonge gäbe. Die ältere Auffassung Paul Passys, dass Sequenzen wie in frz. [ʁwa] (König-N.M.SG) Lautfolgen aus einem konsonantischen Frikativ plus Vokal seien, wurde durch die lautsubstanzlosen phonologischen Lautklassenkonzepte «Approximant» und «Gleitlaut» ersetzt, wodurch eine Entschei-

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

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dung zugunsten einer vokalischen oder konsonantischen Natur von frz. /j, ɥ, w/ umgangen wird. «Approximant» beinhaltet die Vorstellung einer artikulatorischen Annäherung bezüglich Artikulationsmodus und Artikulationsstelle und «Gleitlaut», dass nichtsilbische Vokale zwischen Silbenonset und Silbennukleus glitten. In beiden Fällen fristen frz. /j, ɥ, w/ ein Limbus-Dasein. Französisch wäre demnach die einzige romanische Sprache ohne Diphthonge, für die paradoxerweise in älteren Sprachstufen eine umfangreiche Diphthongphänomenologie beschrieben ist. Nur einige wenige Phonologen teilen die Meinung, dass es auch im Gegenwartsfranzösischen lexikalische Diphthonge gibt (Kaye/ Lowenstamm 1984; Rialland 1994). Im Italienischen bereitet das Variationskontinuum zwischen diphthongischer und hiatischer Realisierung v.a. fallender Vokalsequenzen, z.B. in ital. (dann/danach-ADV), Kopfzerbrechen. Und im Rumänischen ist die auf den ersten Blick systematisch wirkende metaphoniebasierte Diphthong-Monophthong-Alternationsregel, z.B. in rum. (schwarz-ADJ.F.SG) vs. (schwarz-ADJ.M.SG), synchronisch inkonsistent, da sie viele neuere Entlehnungen und Neologismen nicht mehr erfasst. Vorliegende wortgestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen stellt einen Konnex zwischen synchronischen «Unstimmigkeiten» und der diachronischen Dimension von Wortgestalten und Wortgestaltung her. Die Kernthese ist, dass synchronische Variation diachronische Ursachen hat, deren transmittorisches Fortbestehen bis in die Gegenwart hinein wortgestaltphonologisch erklärt werden kann. In den hier untersuchten romanischen Sprachen bildeten sich synchronische Vokalsequenzierungen im Kontext verschiedener diachronischer Entstehungsszenarien heraus, nämlich durch: (i) Längung des Silbenkerns in betonter Stellung, z.B. in lat. PĔTRĂM > span. , frz. , ital. (Stein-N.F.SG) (ii) koartikulatorische Effekte umgebender velarer und palataler Laute, z.B. in lat. NŎCTĔM > port. , frz. (Nacht-N.F.SG) (iii) Metaphonie, z.B. in lat. PĔTRĂM > rum. (Stein-N.F.SG) vs. lat. PĔTRAE > rum. (Stein-N.F.PL) (iv) Tilgung ursprünglicher lateinischer Syllabierungen (Hiate und Diphthonge), z.B. in lat. FŬ.ĒRŬNT > span. [ˈfwe.ɾɔn] ~ [fu.ˈe.ɾɔn] (sein-COP.3PL.PST.IND); lat. AURŬM > rum. (Gold-N.NEUTER.SG) (v) Tilgung intervokalischer Konsonanten, z.B. in lat. CRŪDĒLĔM > span. [kɾwɛl] ~ [kɾu.ˈɛl] (grausam-ADJ.GENERISCH.SG), frz. [kʁɥɛl] ~ [kʁu.ˈɛl] (grausam-ADJ.M.SG) (vi) Vokalisierung von Konsonanten, z.B. in lat. MŬLTŬM > port. [ˈmuj. tu], span. [muj] ~ [mwi] (sehr-ADV)

152

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

(vii) Konsonant-Vokoid-Konvergenz, z.B. in lat. PĂLĔA > frz. [paj] (StrohN.F.SG), rum. [paj] (Strohhalm-N.NEUTER.SG) (viii)Entlehnung, z.B. in port. (Computer-Anwendung-N.F.SG) (< engl. ); rum. (Gehweg-N.NEUTER.SG) (< frz. ) Zentrale Erkenntnis ist, dass das synchronische phonologische Verhalten von Vokalsequenzen bzw. Vokalsequenzierungsmustern maßgeblich durch das Entstehungsszenarium, in welchem sich die betreffende Wortgestalt verändert hat, abhängt. Bildeten sich die Vokalsequenzen in Wörtern durch spontane (i.e. Längung des Silbenkerns in betonter Stellung), bedingte oder metaphonische Diphthongierung (Szenarien i bis iii) heraus, werden sie synchronisch immer diphthongisch realisiert. Diese Vokalsequenzen sind als integrale Bestandteile der betreffenden Wortgestalten lexikalisiert und die diachronischen phonetischen diphthongierenden Kontexte wirken synchronisch nicht mehr. Die Diphthongierungsprozesse der Szenarien (i) bis (iii) bewirkten diachronisch eine Veränderung der lautlichen Gestaltung hinsichtlich Vokalqualität und Vokalquantität, ließen aber die silbische Gestaltung (Prominenzen, Sonoritätsprofil) des Wortes intakt. Wahrnehmungspsychologisch sind diese rhythmischen Gestaltqualitäten sehr robust. So blieben in der nahezu 2000jährigen romanischen Sprachgeschichte die mit den lateinischen Wortakzentstellen (Pänultima oder Antepänultima der betreffenden Wörter) assoziierten Silben bis heute Trägerinnen der Akzentuierung und prägen bis heute die Prominenzstruktur der Wörter. Im Kontrast hierzu verhalten sich einige Vokalsequenzen, die durch Koaleszenz- bzw. Verschmelzungsdiphthongierung entstanden sind (Szenarien iv und v), synchronisch silbenphonologisch ambig. Hier variieren hiatische und diphthongische Realisierung der betreffenden Vokalsequenzen frei. Durch das Zusammentreffen zweier Vokale über eine einstige Silbengrenze hinweg wurde die silbische Wortgestaltung affiziert. Anstatt jedoch die ursprüngliche silbische Gestaltung vollständig zu tilgen, existieren beide Sequenzierungsmuster nebeneinander her. Eine eindeutige Zuweisung zu der einen oder anderen Kategorie, i.e. Diphthong oder Hiatus, ist nicht möglich und zum momentanen Stand der jeweiligen Sprachsysteme auch nicht notwendig, da die Wörter in ihrer silbischen Gestaltung entlang eines Hiatus-Diphthong-Kontinuums für die Sprecher identifizierbar bleiben. Jedenfalls kontrastieren die silbisch unterschiedlich gestalteten Wörter lexikalisch nicht. Neben genuin vokalischen Entwicklungen entstanden in den untersuchten romanischen Sprachen auch Vokoidsequenzen innerhalb konsonantischer Kontexte (Szenarien vi und vii). Die aus einer Konsonant-Vokoid-Konvergenz (Szenarium vii) hervorgegangenen vokoiden Laute sind zwar artikulatorisch und

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

153

akustisch mit entsprechenden vokalischen Lauten ähnlich bis identisch, verhalten sich aber silbenphonologisch nach wie vor wie Konsonanten, so etwa bei Elision und Liaison im Französischen. Bei der phonologischen Integration von Lehnwörtern mit diphthongischen Lautstrukturen in der Quellsprache (Szenarium viii) fanden wahrnehmungsbasierte analogische Annäherungen an bereits in der betreffenden romanischen Sprache existierende Diphthonge bzw. Vokalsequenzstrukturen statt. Ganz sicher sind für den nicht linguistisch-metabewussten Sprecher die allermeisten diachronischen Sachverhalte seiner Sprache undurchsichtig. Aber durch den sozialen fehlbaren Charakter des Transmissionsprozesses von Sprache sind die Exemplarkopien als ganzheitliche Erinnerungsspuren immer auch implizite Trägerinnen diachronischer Informationen. Variierende Exemplare eines Wortes reproduzieren und verkörpern diachronische Sachverhalte, ohne diese explizit zu kodieren. Bezogen auf variable Vokalsequenzen bedeutet dies, dass durch Sprachwandel erzeugte variable Syllabierungen dann reproduziert werden, wenn sie nicht durch etwaige phonologische Auslastung, i.e. Aufmerksamkeitslenkung auf diesen Kontrast zur Distinktion von Wörtern, getilgt worden sind. Auch Syllabierungen, die auf ursprüngliche konsonantische Laute zugeschnitten waren, können so bei Konsonant-Vokoid-Konvergenzen bis in die Gegenwart hinein überdauern. Wurde durch diachronische Prozesse Variation erzeugt und wurde diese Variation nicht aufgrund lexikalischen Kontrasts oder einzelsprachlich geregelten phonologischen Auslastung einer DiphthongHiatus-Unterscheidung getilgt, kann diese Variation fortbestehen und die synchronische Wortgestaltung beeinflussen. In der Beschreibung von Vokalsequenzierungsphänomenologien muss unterschieden werden zwischen (a) abgeschlossenen diachronischen Prozessen der Herausbildung von Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen (cf. Entstehungsszenarien i bis viii), (b) synchronischen lexikalisierten Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen als integrale Bestandteile von Wörtern und (c) synchronisch aktiven wortinternen und wortübergreifenden Vokalsequenzierungsprozessen wie Hiattilgung, Gleitlautepenthese und synchronisch aktiver Diphthongierung. Generative Diphthongphonologien versuchen i.d.R., die Phänomenbereiche (a) bis (c) in Form einer einzigen, synchronisch wirksamen einzelsprachlichen Gliding-Regel zusammenzufassen. Hieraus resultieren zwangsläufig viele Unstimmigkeiten der phonologischen Beschreibung von Diphthongen. Insofern ergeben sich synoptisch folgende Aspekte synchronischer komplex-vokalischer Wortgestaltung in den fünf hier untersuchten romanischen Sprachen: (1) Existenz lexikalischer Diphthonge, (2) diphthongisch-hiatischer Gestaltungsspielraum in der Realisierung von Vokalsequenzen innerhalb iden-

154

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Tab. 12: Aspekte synchronischer komplex-vokalischer Wortgestaltung. Aspekt () Aspekt ()

Aspekt ()

Portugiesisch ja

Koaleszenzdiphthongierung durch diphthongisch-hiatischer Vokalisierung von silbenfinalem Gestaltungsspielraum bei Vokalsequenzen, die durch die nach Vokal im BP Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, durch lateinische Diphthonge und durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten entstanden sind

Spanisch

ja

diphthongisch-hiatischer Gestaltungsspielraum bei Vokalsequenzen, die durch die Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate, durch lateinische Diphthonge und durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten entstanden sind

Hiattilgung an Silben- und Wortgrenzen, besonders in den lateinamerikanischen Varietäten und Konsonant-VokoidKonvergenzen in Richtung Jota bei «yeísmo»

Französisch

ja

diphthongisch-hiatischer Gestaltungsspielraum bei Vokalsequenzen, die durch die Tilgung ursprünglicher lateinischer Hiate und durch das Verstummen intervokalischer Konsonanten entstanden sind

wortübergreifende Gleitlautepenthese zur Erzeugung von CV-Silbenstrukturen und im kanadischen Französisch Diphthongierung betonter langer und nasaler nicht-finaler Vokale

Italienisch

ja

freie Variation in der diphthongisch-hiatischen Realisierung fallender Vokalsequenzen, die von lateinischen Diphthongen in italienischen Kultismen herstammen, und die durch

Verschmelzungsdiphthongierung infolge Koaleszenz entstandenen sind

Rumänisch

ja

diphthongisch-hiatischer Realisierungsspielraum bei koaleszenten Vokalsequenzen, die aus ursprünglichen lateinischen Hiaten und durch Verstummen intervokalischer Konsonanten entstanden sind

wortübergreifende Gleitlautepenthese zur Erzeugung von CV-Silbenstrukturen und wortinterne Hiattilgung

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

155

tischer Lexien und (3) synchronisch aktive wortinterne und wortübergreifende Vokalsequenzierungsprozesse (Tab. 12). Exkurs 5: Sprachlautbewusstsein als Indikator für den kognitiven Status von Diphthongen Einleitung und Hypothesen Das psycholinguistische Experiment untersucht, welchen Bewusstseinsstatus französische, spanische, italienische und rumänische diphthongische Vokalstrukturen für muttersprachliche Probanden haben. Gemeinhin gilt, dass das Französische keine, das Spanische und das Italienische stabile und variable und das Rumänische stabile lexikalische Diphthonge hat. Als Stimuli wurden ein- bis viersilbige Wörter mit Diphthongen und Monophthongen dargeboten (cf. Testitems «Anzahl der Sprachlaute und Rückwärtssprechen» im Anhang). Das Experiment bestand aus zwei Aufgaben: In der ersten Aufgabe sollten die Probanden sagen, aus wie vielen und aus welchen Lauten die auditiv dargebotenen Stimuli bestehen (A1). In der zweiten Aufgabe sollten die gleichen Wörter rückwärts gesprochen werden (A2). Es wurden zwei Hypothesen geprüft: Bilden Diphthonge für die Probanden eine Wahrnehmungs- bzw. Lauteinheit, werden sie auch bei den Manipulationen der Stimuli als (zuweilen diffuse) Einheiten prozessiert (H1); und: Die Prozessierungsdauer beim Rückwärtssprechen ist größer bei Stimuli mit Diphthongen als bei Stimuli mit Monophthongen (H2). Am Experiment nahmen jeweils vier männliche Muttersprachler des Spanischen, des Französischen, des Italienischen und des Rumänischen teil (Durchschnittsalter 26 Jahre). Bei der Erhebung der Sprechermetadaten sollten die Probanden ihr phonetisches Vorwissen selbst einschätzen. Hierbei ging es darum, inwieweit die phonetisch-phonologischen Konzepte ‘Buchstabe’, ‘Sprachlaut’ und ‘Silbe’ als bekannt vorausgesetzt werden konnten. Die spanischen, französischen und italienischen Probanden hatten als Studierende kulturwissenschaftlicher Studiengänge linguistische Einführungskurse besucht. Die rumänischen Muttersprachler mit ingenieurtechnischem und juristischem Ausbildungshintergrund verfügten über keinerlei phonetisches Vorwissen. Um in jedem Fall sicherzustellen, dass zumindest auf deklarativer Ebene Einigkeit besteht, wurde vor Beginn der Befragung anhand von Beispielen der Unterschied zwischen Buchstabe, Sprachlaut und Silbe erklärt bzw. durch die Probanden erklären lassen. Bei der Realisierung der Aufgaben wurde aber deutlich, dass der Unterschied nicht immer beherrscht bzw. beachtet wurde.

156

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Anzahl der Sprachlaute Erfragt wurde von den Probanden, wie viele Laute und welche Laute sie in den nur auditiv durch Muttersprachler dargebotenen sprachsprachlichen Stimuli wahrnehmen. Die aufgezeichneten Antworten wurden im Anschluss an die Befragung ausgewertet hinsichtlich (i) der genannten Anzahl der Sprachlaute pro dargebotenem Wort, (ii) einfacher oder komplexer Wertung darin enthaltener vokalischer Strukturen und (iii) der Qualität komplexer vokalischer Strukturen. Tab. 13a bis 16a fassen die Antworten zur Anzahl der Sprachlaute in Wörtern mit Diphthongen, Tab. 13b bis 16b die Antworten für Wörter mit Monophthongen und Tab. 13c bis 16c fassen die Wertungen der in den Testitems enthaltenen Vokalsequenzen als einfache Abfolge distinkter Vokale oder als komplexe Laucluster in den vier untersuchten Sprachen zusammen. Eine einfache Wertung lag dann vor, wenn der Proband etwa die in rum. (AbendN.F.SG) enthaltene Vokalsequenz |ea| als eine Abfolge von [e] und [a] wertete, und eine komplexe Wertung, wenn sie als [e̯a] gewertet wurde. Tab. 13a: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Vokalsequenzen, Spanisch.  Laut

 Laute

 Laute

span. [pje]





span. [muj] ~ [mwi]





Stimulus

span. [ˈwe.βo]



span. [kɾwɛl] ~ [kɾu.ˈɛl]



span. [ˈɔj.ɣo]



 Laute

 Laute

   

span. [ˈbju.ða] ~ [bi.ˈu.ða] ~ [ˈbiw.ða]

 Laute

 

span. [ɛw.ˈɾo.pa] ~ [e.u.ˈɾo.pa]



Tab. 13b: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Monophthongen, Spanisch. Stimulus span. [bɛɾ] span. [ˈli.βɾo] span. [ˈlam.pa.ɾa]

 Laut  Laute  Laute  Laute  Laute  Laute  Laute 

  

157

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

Tab. 13c: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wertung der enthaltenen Vokalsequenzen und Qualität komplexer Wertungen, Spanisch. Stimulus

einfach

komplex

Qualität des Clusters

span. [pje]





[je]

span. [muj] ~ [mwi]





[uj]

span. [ˈwe.βo]





[we]

span. [kɾwɛl] ~ [kɾu.ˈɛl]





[we]

span. [ˈɔj.ɣo]





[ɔj]

span. [ˈbju.ða] ~ [bi.ˈu.ða] ~ [ˈbiw.ða]





[ju]

span. [ɛw.ˈɾo.pa] ~ [e.u.ˈɾo.pa]





[ew]

Tab. 14a: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Vokalsequenzen, Französisch.  Laut

 Laute

frz. [lɥi]





frz. [ʁwa]





frz. [wɛb]





frz. [fʁɥi]





frz. [pjɛːʁ]



Stimulus

 Laute

 Laute

 



frz. [tʁa.vaj]

 Laute







Tab. 14b: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Monophthongen, Französisch. Stimulus frz. [tas] frz. [li.vʁə] frz. [ko.mɑ̃.se]

 Laut

 Laute



 Laute

 Laute

 Laute

 Laute





 

 



158

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Tab. 14c: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wertung der enthaltenen Vokalsequenzen und Qualität komplexer Wertungen, Französisch. Stimulus

einfach

komplex

Qualität des Clusters

frz. [lɥi]



[ɥi], [lɥi]

frz. [ʁwa]



[wa], [ʁwa]



[wɛ], [wɛb]



[ɥi], [fʁɥi]



[jɛ], [pjɛːʁ]



[aj], [vaj]



frz. [wɛb] frz. [fʁɥi]



frz. [pjɛːʁ] frz. [tʁa.vaj]

Tab. 15a: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Vokalsequenzen, Italienisch.  Laut  Laute  Laute  Laute  Laute  Laute

Stimulus



ital. [wɛb]

 

ital. [pɔj] ~ [ˈpɔ.i]



ital. [ɾajd] ital. [ˈwɔː.mo]





ital. [ˈak.kwa]





ital. [ˈkwɔː.ɾe]





ital. [ˈpjaː.no]





ital. [ˈlwɔː.ɡi]





ital. [ˈnɛw.tɾo] ~ [nɛː.ˈu.tɾo]





ital. [ɛw.ˈɾɔː.pa] ~ [ɛ.u.ˈɾɔː.pa]





Tab. 15b: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Monophthongen, Italienisch. Stimulus ital. [ˈuː.na]

 Laut

 Laute

 Laute

 Laute



ital. [ˈlɔt.ta]



ital. [ˈsoː.no]



ital. [ˈpɔs.ti]

 Laute



 Laute

159

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

Tab. 15c: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wertung der enthaltenen Vokalsequenzen und Qualität komplexer Wertungen, Italienisch. Stimulus

einfach

komplex

Qualität des Clusters

ital. [wɛb]





[wɛ]

ital. [pɔj] ~ [ˈpɔ.i]



ital. [ɾajd]



ital. [ˈwɔː.mo]





[wɔ]

ital. [ˈak.kwa]





[kwu]

ital. [ˈkwɔː.ɾe]





[kw], [wɔ]

ital. [ˈpjaː.no]





[ja]

ital. [ˈlwɔː.ɡi]





[wɔ]

ital. [ˈnɛw.tɾo] ~ [nɛː.ˈu.tɾo]



ital. [ɛw.ˈɾɔː.pa] ~ [ɛ.u.ˈɾɔː.pa]





[ɛw]

Tab. 16a: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Vokalsequenzen, Rumänisch. Stimulus

         Laut Laute Laute Laute Laute Laute Laute Laute Laute

rum. [no̯u]







rum. [dɔj]





rum. [wɛb]





rum. [ˈse̯a.ɾə]





rum. [ˈpo̯aɾ.tə]





rum. [ku.ˈlwaɾ]





rum. [ˈno̯as.tɾə]



 

rum. [nɔj.ˈjɛm.bɾi.jə]





Tab. 16b: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wörter mit Monophthongen, Rumänisch. Stimulus rum. [ˈnɔs.tɾu] rum. [ˈi.ni.mə]

 Laut

 Laute

 Laute

 Laute

 Laute



 Laute 





160

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Tab. 16c: Anzahl der Sprachlaute (A1): Wertung der enthaltenen Vokalsequenzen und Qualität komplexer Wertungen, Rumänisch. Stimulus

einfach

komplex

Qualität des Clusters

rum. [no̯u]





[no̯u]

rum. [dɔj]





[dɔj]

rum. [wɛb]





[wɛb]

rum. [ˈse̯a.ɾə]





[se̯a]

rum. [ˈpo̯aɾ.tə]





[po̯aɾ]

rum. [ku.ˈlwaɾ]





[lwaɾ]

rum. [ˈno̯as.tɾə]





[no̯as]

rum. [nɔj.ˈjɛm.bɾi.jə]





[nɔj]

Rückwärtssprechen Die zweite Aufgabe bestand darin, die nochmals auditiv dargebotene Wörter aus der ersten Aufgabe rückwärts zu sprechen. Das Rückwärtssprechen sorgte im Vergleich zur ersten Aufgabe bei den meisten Probanden für Unsicherheit und Nervosität. Augenschließen, Abzählen an den Fingern und lautes Vorsprechen waren typische Verhalten beim Lösen beider Aufgaben. Die aufgezeichneten Antworten wurden anschließend ausgewertet hinsichtlich (i) einfacher und komplexer Vokalstrukturen, (ii) der Lautqualität der komplexen Vokalstrukturen (Tab. 17 bis 20; Stimuli geordnet nach Darbietungsreihenfolge) und (iii) die Reaktionszeit (in sec), die zwischen Stimulusdarbietung und der vollständigen Lösung der Aufgabe verging (Tab. 21 bis 24; Stimuli geordnet nach aufsteigender durchschnittlicher Prozessierungsdauer). Als komplexe Vokalstrukturen wurden alle Vokalcluster jenseits Monophthonge gewertet, diese mussten aber nicht dem tatsächlichen Vokalcluster des Stimulus‘ entsprechen. Die Reaktionszeitmessung erfolgt mit der halbautomatischen Zeitmessfunktion der Audiosoftware Audacity®. Durchschnittswerte und Standradabweichung der Reaktionszeitmessdaten wurden mithilfe der Microsoft®-Excel-Tabellenfunktionen AVERAGE und STDEV.P automatisch errechnet.

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

161

Tab. 17: Rückwärtssprechen (A2): Komplexität der realisierten Vokale und Qualität prozessierter Cluster, Spanisch. Stimulus span. [ˈli.βɾo]

einfach

komplex

Qualität des Clusters





span. [ˈwe.βo]



span. [pje]



span. [ˈlam.pa.ɾa]



span. [kɾwɛl] ~ [kɾu.ˈɛl]



span. [ɛw.ˈɾo.pa] ~ [e.u.ˈɾo.pa]



span. [bɛɾ]



span. [ˈbju.ða] ~ [bi.ˈu.ða] ~ [ˈbiw.ða]



span. [muj] ~ [mwi]



span. [ˈɔj.ɣo]





[ejp]



[a.po.ɾwe]



[o.ɡi.jo], [o.ɡjo]

Tab. 18: Rückwärtssprechen (A2): Komplexität der realisierten Vokale und Qualität prozessierter Cluster, Französisch. Stimulus frz. [ko.mɑ̃.se]

einfach

komplex

Qualität des Clusters



frz. [fʁɥi]



[ɥifʁ], [ʁɥif], [ɥiʁ. fʁə], [ɥiʁf]

frz. [ʁwa]



[waʁ]



[vaj.tʁa]



[ɥil]



[ʁi.jep], [ʁə.pje]



[bə.uwe], [ɛb.wə], [bwe]

frz. [li.vʁə]



frz. [tʁa.vaj]



frz. [lɥi] frz. [tas]



frz. [pjɛːʁ]



frz. [wɛb]

42 An der Aufgabe «Rückwärtssprechen» (A2) nahmen fürs Spanische nur drei statt vier Probanden teil.

162

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Tab. 19: Rückwärtssprechen (A2): Komplexität der realisierten Vokale und Qualität prozessierter Cluster, Italienisch. Stimulus

einfach

komplex

Qualität des Clusters



ital. [ˈlɔt.ta] ital. [ˈwɔː.mo] ital. [pɔj] ~ [ˈpɔ.i]



ital. [ˈuː.na]



ital. [ˈkwɔː.ɾe] 

ital. [ɾajd] ital. [ˈak.kwa] ital. [ˈsoː.no]



ital. [ˈpjaː.no]



ital. [ˈnɛw.tɾo] ~ [nɛː.ˈu.tɾo]



ital. [ˈpɔs.ti]



ital. [ɛw.ˈɾɔː.pa] ~ [ɛ.u.ˈɾɔː.pa]



ital. [ˈlwɔː.ɡi]



[o.mɔw]



[jɔp]



[e.ɾu.we.ka]



[dajɾ], [djaɾ]



[ak.kwa], [aw.ka]



[o.njap]



[a.pɔɾ.wɛ], [a.po.ɾu.wɛ]



[i.ɡwɔl], [i.ɡɔwl]



ital. [wɛb]

Tab. 20: Rückwärtssprechen (A2): Komplexität der realisierten Vokale und Qualität prozessierter Cluster, Rumänisch. Stimulus

einfach

rum. [ˈi.ni.mə]



rum. [ˈpo̯aɾ.tə]



rum. [dɔj] rum. [ˈse̯a.ɾə]



rum. [ˈnɔs.tɾu]



rum. [ku.ˈlwaɾ]



komplex

Qualität des Clusters



[tao̯p]



[jɔd]



[re̯as]



[ro̯a.luk]



rum. [wɛb] rum. [nɔj.ˈ ɛm.bɾi. ə]





[ɔjn], [jɔn]

rum. [ˈno̯as.tɾə]





[ərt.no̯an]

rum. [no̯u]





[uo̯n]

j

j

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

163

Tab. 21: Rückwärtssprechen (A2): Reaktionszeit in sec, Spanisch. Stimulus

SPA_

SPA_

SPA_

SPA_

Durchschnitt

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

span.

,

,

,

,

, (SD ,)

Tab. 22: Rückwärtssprechen (A2): Reaktionszeit in sec, Französisch. Stimulus

FRA_

FRA_

FRA_

FRA_

Durchschnitt

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

frz.

,

,

,

,

, (SD ,)

164

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

Tab. 23: Rückwärtssprechen (A2): Reaktionszeit in sec, Italienisch. Stimulus

ITA_

ITA_

ITA_

ITA_

Durchschnitt

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

ital.

,

,

,

,

, (SD ,)

Tab. 24: Rückwärtssprechen (A2): Reaktionszeit in sec, Rumänisch. Stimulus

RUM_ RUM_ RUM_ RUM_ Durchschnitt

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

,

, (SD ,)

rum.

,

,

,

, , (SD ,)

rum.

,

,

,

, , (SD ,)

rum.

,

,

,

, , (SD ,)

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

165

Diskussion Die Aufgabe «Anzahl der Sprachlaute» (A1) wurde mit dem Ziel entworfen, die Hypothese zu prüfen, dass, wenn Diphthonge für die Probanden eine Wahrnehmungs- bzw. Lauteinheit bilden, sie bei den Manipulationen der Stimuli als (zuweilen diffuse) Einheiten prozessiert werden (H1). Bei der Auswertung der Ergebnisse von (A1) gilt die Beobachtung, dass sich im Spanischen die komplexen und einfachen Wertungen der in den Stimuluswörtern enthaltenen Diphthonge durch die Probanden in etwa die Waage halten; im Französischen überwiegen die komplexen Wertungen; im Italienischen werden einige Diphthonge überwiegend komplex, andere überwiegend einfach gewertet; und im Rumänischen überwiegen die einfachen Wertungen. Die Aufgabe «Rückwärtssprechen» (A2) testete die Hypothese, dass die Prozessierungsdauer beim Rückwärtssprechen bei Stimuli mit Diphthongen größer sei als bei Stimuli mit Monophthongen (H2). Insgesamt stellte diese Aufgabe für alle Probanden eine Herausforderung dar. Einige Probanden erledigten das Rückwärtssprechen souveräner als andere, diese individuellen Unterschiede zeigen sich in den Standardabweichungen (SD). Reaktionszeitunterschiede beim Rückwärtssprechen sollten Indizien für die kognitive Verarbeitung einfacher und komplexer Vokale liefern. Es wurde angenommen, dass Stimuli mit Diphthongen eine längere Prozessierungszeit beim Rückwärtssprechen erfordern als solche mit einfachen Vokalen. Bei der Auswertung der Daten zeigte sich jedoch, dass das gewählte Stimulidesign für eine multifaktorielle Varianzanalyse (M-ANOVA) (Gries 2008, 276–284; Johnson 2008, 115–120) aller Ergebnisse ungeeignet ist, da die unabhängige Variable Silbenanzahl der Wörter nicht über alle Testitems stabil gehalten wurden. Für eine multifaktorielle Varianzanalyse (M-ANOVA) stellen die beiden Faktoren (a) Silbenanzahl mit entsprechenden Faktorenstufen ein-, zwei-, n-silbig sowie (b) vokalische Komplexität mit den zwei Faktorenstufen einfach und komplex die unabhängige Variablen dar. Die Prozessierungszeit ist die abhängige Variabel. Auf der Grundlage des hier gewählten Testdesigns können nur einzelnen Testitems identischer Silbenzahl verglichen werden, z.B. wird zweisilbiges monophthongisches rum. [ˈnɔs.tɾu] (unser-PRO.POSS.M.SG) in durchschnittlich 19,722 sec (SD 9,7 sec) im Vergleich zu 30,788 sec (SD 23,1 sec) zu zweisilbigem diphthongischen rum. [ˈno̯as.tɾə] (unsere-PRO.POSS.F.SG) rückwärts gesprochen; hier beträgt der Reaktionszeitunterschied immerhin 11 sec. Darüber hinaus gilt bei der Auswertung der Rückwärtssprechaufgabe (A2) die Beobachtung, dass die spanischen Probanden die in den Stimuluswörtern enthaltenen Diphthonge beim Rückwärtssprechen nahezu ausschließlich als einfache Vokale prozessieren; die französischen Probanden sie nahezu aus-

166

5 Vokalsequenzierungen als Teil der synchronischen Wortgestalt

schließlich als komplexe Vokalstrukturen, die zudem den tatsächlichen französischen Diphthongen der Stimuluswörter entsprechen, prozessieren; die italienischen Probanden immer komplexe Vokalstrukturen, die aber nicht den in den Stimuluswörtern enthaltenen tatsächlichen Diphthongen entsprechen, prozessieren; und die rumänischen Probanden sowohl als einfache als auch als komplexe Vokale prozessieren, wobei die realisierten komplexen Vokalstrukturen nicht immer den tatsächlichen rumänischen Diphthongen der Stimuluswörter entsprechen. Trotz der Schwäche des Experimentdesigns für die Aufgabe «Rückwärtssprechen» (A2) gilt die allgemeine Beobachtung, dass alle 16 Probanden Stimuli mit einfachen und komplexen Vokalstrukturen unterschiedlich manipulieren. Monophthonge werden sowohl beim Benennen der Sprachlaute (A1) als auch beim Rückwärtssprechen (A1) immer als einfache Vokale prozessiert, wohingegen Diphthonge sowohl als einfache als auch als komplexe Vokale bei tendenziell längeren Reaktionszeiten prozessiert werden. Zudem ist im Gegensatz zur Wertung von Wörtern von Monophthongen die Wertung von Wörtern mit Diphthongen oftmals konfliktuös, so etwa Sprecher SPA2_2014 bei der Zählung der Sprachlaute (A1) von span. (sehr-ADV): «dos o tres … no sé, dos, la eme y el diptongo, sí (zwei oder drei … ich weiß nicht, zwei, das m und der Diphthong, ja)». Vorliegende Daten und deren Interpretation bestätigen tendenziell die beiden Hypothesen (H1 und H2). Bei der Interpretation der Ergebnisse müssen auch die unterschiedlichen Phonem-Graphem-Verhältnisse in den vier romanischen Sprachen in Betracht gezogen werden. Spanisch, Italienisch und Rumänisch haben eine phonemisch orientierte Schreibung, Französisch hingegen eine etymologische Schreibung, cf. etwa frz. [ʁwa] (König-N.M.SG), wo nichts in der Schreibung auf die synchronische Lautung des Diphthongs /wa/ hindeutet. Hier scheint es einfacher zu sein, Laute (im Französischen eher Silben) jenseits der graphischen Repräsentation zu abstrahieren. Bei den französischen Probanden war zudem einige Rückwärtssprecherfahrung durch das in Frankreich verbreitet «verlan» zu spüren. So wurden etwa dreisilbiges frz. [ko.mɑ̃.se] (beginnenV.INF) in nur durchschnittlich 4 sec als [se.mɑ̃.ko] und frz. [pjɛːʁ] (Stein-N.F.SG) in durchschnittlich 4,5 sec als [ʁə.pje] gemäß silbenbasierten Verlanisierungsregeln prozessiert (cf. «Exkurs 2: Diphthonge im Verlan»). Besonders fürs Französische und Rumänische müssen die Ergebnisse aus (A1) und (A2) angesichts der allgemein verbreiteten Annahme, dass das Französische über keine und das Rumänische über die lexikalischen Diphthonge /e̯a/ und /o̯a/ verfüge, überraschen. Während die französischen Probanden die in den Stimuluswörtern enthaltenen Diphthonge weitgehend als komplexe Struk-

5.6 Gestaltphonologische Interpretation der Vokalsequenzierungen

167

turen prozessierten, zerlegten die rumänischen Probanden die Diphthonge in Einzelvokale, wobei bei den rumänischen Probanden eine ausgeprägte Orientierung an der Graphie anzunehmen ist. In jedem Fall spricht aber dieser Befund für die Existenz, Wahrnehmung und Verarbeitung französischer Diphthonge, besonders /ɥi/ und /wa/, als Einheiten.

6 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie At the moment consent seems to be emerging that we store a lot of very detailed information but also categorical representations (Krämer 2012, 220).

Es mag eine verlockende und ökonomische logische Operation des erkennenden Geistes des Phonologen sein, alle konkreten (allophonen) synchronischen Realisierungen eines Wortes in allen Varietäten aus einer einzigen zugrundeliegenden abstrakten phonologischen Repräsentation regelbasiert herzuleiten. Jedoch synthetisieren solche phonologischen Repräsentationen und deren Regeln nicht selten standardsprachliche Graphem-Phonem-Verhältnisse oder abgeschlossene diachronische Entwicklungen. Vorliegende Studie hat den Weg gewählt, detaillierte Wortexemplarinformationen als Ausgangspunkt für eine mögliche phonologische Interpretation zu nehmen. Dieser Wortexemplar-basierten Phonologie liegt die Bühlersche Prämisse zugrunde, dass Wörter die Ökologien von allen lautlichen und rhythmischen Wortgestaltqualitäten bilden. Laute, Syllabierungsmuster und rhythmisierende Prominenzprofile existieren nicht unabhängig von Wörtern. Die mentale Speicherung detaillierter Exemplarinformationen neben generalisierten Schemata ist heute kognitionslinguistischer Konsens (u.a. Booij 1999; Krämer 2012). Für die diachronische Dynamik einer Wortexemplarwolke (exemplar cloud) ist eine Dialektik zwischen aktiven phonologischen (natürlichen) Prozessen in spezifischen phonetischen Umgebungen (z.B. Diphthongierungsprozesse oder Konsonant-Vokoid-Konvergenzen), lexikalisierten Formen als Ergebnisse abgeschlossener wortökologischer Wandelprozesse (z.B. Wörter mit lexikalischen Diphthongen oder Syllabierungsmuster) und analogischen Übertragungen (z. B. in Verbparadigmen mit wortökologisch-lautwandelbedingen Stammvokalalternanzen) anzunehmen. Insofern stehen aktive phonologische Prozesse, Lexikon, Derivationsmorphologie und Flexionsmorphologie in einer Wechselbeziehung, in der einzelsprachlich gewichtete Attraktoreneffekte (Chitoran/Hualde 2007) respektive «perceptual magnet effects» (Kuhl 1991) zugunsten bestimmter Laut- und Sequenzierungsmuster (z.B. Konversion zu palatalem /j/ oder Verschmelzungsdiphthongierung durch Hiatustilgung) wirken können. Sprachgemeinschaften können aus dieser dialektischen Dynamik bestimmte Muster von konkreten Vorkommen hin zu immer abstrakteren Schemata generalisieren, die sich etwa bei der phonologischen Integration von Lehnwörtern manifestieren. Gestaltphonologie ist eine phänomenologische Phonologie («wie die Dinge uns erscheinen»), die das Wort zum zentralen phonologischen Erkenntnisgegenstand erhebt. Karl Bühlers Ausgangspunkt für eine Wortgestaltphonologie https://doi.org/10.1515/9783110729733-006

170

6 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie

ist das schlagartige Sichöffnen («Sphota») der Wörter im nicht-metalinguistischen Bewusstseinsmodus als dem Normalfall in alltäglicher Kommunikation. Bühler sieht die Wortgestaltphonologie als eine erkenntnistheoretisch notwendige Ergänzung zum Ausnahmefall einer auf metalinguistischer Diakrise, z.B. in Form der Minimalpaaranalyse, beruhenden, sich seit den 1920er Jahren im linguistischen Diskurs dominant durchsetzenden lautmerkmalsbasierten Phonologie. Für eine Wortgestaltphonologie ist unentschieden, was das schlagartige Sichöffnen der Wortgestalt auslöst. Auslöser können wissensgeleitete («top down»), sprachsignalgeleitete («bottom up») oder kontextuelle Aspekte in der konkreten kommunikativen Situation sein. Es sind jedenfalls nicht ausschließlich nur lautsegmentale Eigenschaften, durch die wir Wörter in der Kommunikation identifizieren, sondern auch semantische, epistemische, rhythmische, kontextuelle usw. Bühlers Konzeption einer Wortgestaltphonologie fokussiert die wahrnehmungsseitige Verarbeitung des Sprachsignals in kommunikativen Kontexten. Diese Perspektive entspricht der klassischen Gestaltpsychologie als einer menschheitsgeschichtlich-kulturellen Phänomenologie der (visuellen) Wahrnehmung von geometrischen und Raumgestalten, i.e. die nicht-bewusste Segmentierung und Gruppierung visueller Stimuli zu sinnvollen Mustern durch unseren Wahrnehmungsapparat, die in Form von Gestaltgesetzen ausformuliert wurde. Der hier verwendende Wortgestaltbegriff erweitert diese Wahrnehmungsperspektive um Aspekte der mentalen Speicherung und Erinnerungsabrufung und leitet sich aus seiner Eigenschaft als kognitiv repräsentierter (zuweilen diffuser) Ganzheit von Form- und Bedeutungsaspekten, die einen Figur-Grund-Kontrast bildet, ab. Dies entspricht vielen heute gängigen metaphorischen Verwendungen von «Gestalt» als nicht näher spezifiziertes Ganzes. Diese Kohärenz als Ganzes hat auch zur Folge, dass die konkrete phonologische (lautliche und rhythmische) Gestaltung eines Wortes relationale Effekte sowohl relational zum Wortganzen (z.B. die Realisierung von spanischen Vokalsequenzen als Hiate in tonischen und prätonischen Silben als ein «proximity to stress effect», Hualde/Prieto 2002) als auch relational zum Kontext (z.B. Sprechgeschwindigkeit) zeitigt. Diese relationale Wortgestaltung verkörpert das phonologische Gestaltprinzip. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Kommunikation ist, dass die Wörter identifizierbar bleiben. Aus der Wortganzheit entspringende Wortgestaltqualitäten (z.B. Prominenz- oder Intensitätsprofile) scheinen hier wichtige perzeptive und erinnerungsassoziierte Anhaltspunkte für die Identifikation von Wörtern zu liefern. In der relationalen konkreten Gestaltung zum Ganzen liegt der Grund, weshalb eine akustisch-phonetische, auf absoluten Frequenzwerten (F1 und F2) basierende Charakterisierung von Diphthongen unmöglich ist.

6 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie

171

Bezogen auf die phonologischen Aspekte von Wortgestalten bedeutet dies, dass individuelle Wörter (Exemplare) die konkreten, unhintergehbaren Ökologien aller ihrer phonologischen Eigenschaften bilden. Dem wird im hier entwickelten Integrierten kognitionsphonologischen Modell mit seinen Modellkomponenten Embodiment des Sprechens, Sprachgebrauch und Gestalttheorie Rechnung getragen. Wortgestalten sind demnach sowohl Kategorien der Wahrnehmung als auch der mentalen Speicherung und Erinnerungsabrufung und Gestaltphonologie ist eine wortökologische Exemplar-basierte Perspektive. Wortökologisch betrachtet, ist Lautwandel individueller Wortgestaltwandel, der die formale Seite der Wortgestalt affiziert, und damit letztlich immer Wortgeschichte. Basiert der Gestaltwandel auf einem aktiven phonologischen («natürlichen») Prozess (z.B. Längung der Vokale /ɛ/ und /ɔ/ in akzentuierten offenen Silben), kann er sich in Wörtern, die identische phonetische Mikroumgebungen aufweisen, generalisieren, muss aber nicht zwangsläufig alle diese Wörter ergreifen; hier kann es u.a. inhibierende Frequenzeffekte geben. Andererseits können paradigmengeleitete analogische Übertragungen in Wörter, die nun gerade nicht von den konditionierenden phonetischen Bedingungen erfasst sind bzw. waren, im Kontext von Derivations- und Flexionsmorphologie stattfinden. In dieser Betrachtungsweise ist Lautgeschichte immer Wortgeschichte und Wortgeschichte ist Exemplargeschichte. Vorliegende Studie hat jedoch nicht konkrete Instanziierungen von Wörtern in konkreten empirischen Realisierungskontexten (i.e. Exemplare im engeren Sinne), sondern durch Exemplare kognitiv entrenchte Wortgestaltungsmuster untersucht, so dass sie bereits auf einer höheren Abstraktionsstufe interpretiert. Zudem muss präzisiert werden, dass es sich hier um eine Interpretation standardsprachlicher Wortgestaltungsmuster und nicht dialektaler Muster handelt (cf. ansatzweise hierzu «Exkurs 4: Vokalsequenzen in diatopischen Varietäten»). Da keine neue Wortform einfach eine alte Wortform ersetzt, manifestiert sich ablaufender Lautwandel durch Variation phonologischer Eigenschaften betroffener Wörter. Diese phonologische Variation kann über die Zeit aus dem Sprachgebrauch verschwinden oder aber fortbestehen. Letzteres ist v.a. dann der Fall, wenn die Variation keine lexikalischen Konflikte auslöst bzw. wenn die Variation kein von der Sprachgemeinschaft anderenorts stark phonologisch ausgelasteten Kontrast (z.B. Diphthong-Hiatus-Kontrast in -Sequenzen in romanischen Sprachen) oder phonologischen Prozess (z.B. Tendenz zur Hiattilgung in lateinamerikanischen Varietäten des Spanischen) verkörpert. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt aber bleiben die Wörter auch bei phonologischer Variation für die Sprecher identifizierbar. Das heißt auch, dass Wörter/Wortgestalten als kom-

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6 Vom Nutzen einer wortökologischen Gestaltphonologie

munikative Ganzheiten die Geschichte überdauern, wenngleich sich ihre phonologischen Eigenschaften radikal ändern können. Kernthese der vorliegenden romanistisch-vergleichenden gestaltphonologischen Interpretation der Vokalsequenzierungsphänomenologien im Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen ist, dass beobachtbare synchronische Variation der vokalsequenziellen Wortgestaltung in der Diachronie der betroffenen Wörter gründet. Die acht herausgearbeiteten Entstehungsszenarien (i.e. 1. Längung des Silbenkerns in betonter Stellung, 2. koartikulatorische Effekte umgebender velarer und palataler Laute, 3. Metaphonie, 4. Tilgung ursprünglicher lateinischer Syllabierungen, 5. Tilgung intervokalischer Konsonanten, 6. Vokalisierung von Konsonanten, 7. KonsonantVokoid-Konvergenz und 8. phonologische Integration von Lehnwörtern), in denen sich in konkreten Wörtern Vokalsequenzen und Vokalsequenzierungen in den genannten romanischen Sprachen herausgebildet haben, prägen in unterschiedlichem Maße das synchronische phonologische Verhalten der Vokalsequenzen, i.e. ob es sich um stabile lexikalische Diphthonge, variable diphthongisch-hiatische Realisierungen oder konsonantische Syllabierungsmuster handelt. Indem vorliegende gestaltphonologische Interpretation von Wortgestaltungsmustern als Effekte eines sozialen Transmissionsprozesses (i.e. Kopie der Kopie ad infinitum), der die Weitergabe und Reproduktion variierender Muster in identischen Lexien einschließt, das linguistische Ideologem einer Synchronie-Diachronie -Dichotomie mit scharfen Trennlinien transzendiert, kann sie beobachtbare synchronische Variation in der Vokalsequenzierung in den untersuchten romanischen Sprachen widerspruchsfrei erklären. Eine derartige Interpretation besitzt, was der Quantenphysiker David Deutsch «explanatory power» («Erklärungskraft») nennt.

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Anhang Testitems «Kontrastpaare Diphthong–Hiatus» Spanisch: Tarea de pronunciación: Parejas de palabras «¡Por favor, pronuncia las parejas de palabras siguientes en voz alta a un ritmo natural!» span. (Demokratie-N.F.SG) vs. (Philologie-N.F.SG) span. (Zeitgeschehen-N.F.SG) vs. (Wasser-N.F.SG) span. (Bauer-N.M.SG) vs. (Land-N.M.SG) span. (lächeln-V.3SG.PRS.IND) vs. (Fuß-N.M.SG) span. (Klassenzimmer-N.F.SG) vs. (heulen-V. 3SG.PRS.IND) span. (versammeln-V.3SG.PRS.IND) vs. (Schuld-N.F.SG) span. (sein-COP.1SG.PRS.IND) vs. (hören-V.1SG.PST.IND)

Französisch: Tâche de prononciation : Des paires de mots «S’il-vous-plaît, prononcez clairement et d’une vitesse et d’un ton naturel les paires de mots suivants.» frz. (König-N.M.SG) vs. (verprügeln-V.3SG.PST.IND) frz. (Knoblauch-N.M.SG) vs. (hassen-V.INF) frz. (er-PERS.PRO.BETONT) vs. (Ludwig-PROPER NAME) frz. (Stroh-N.F.SG) vs. (Heide-N.M.SG) vs. (Land-N.M.SG) frz. (Gesetz-N.F.SG) vs. (loben-V. 3SG.PST.IND) frz. (drei-NUM) vs. (durchlöchern-V.3SG.PST.IND) frz. (Biene-N.F.SG) vs. (Abtei-N.F.SG) frz. (Verstummen-N.M.SG) vs. (Vergnügen-N.M.SG)

Testitems «Reimexperiment Französisch» (a) Rimes «S’il-vous-plaît, écrivez trois mots qui se riment avec les mots suivants.» frz. (lesen-PTCP) frz. (Abend-N.M.SG) frz. (Reis-N.M.SG) https://doi.org/10.1515/9783110729733-008

200

Anhang

frz. (Fuß-N.M.SG) frz. (König-N.M.SG) frz. (er-PRO.PERS.3SG.BETONT) (b) Jugement d’acceptabilité «Selon vous, les rimes suivantes sont-elles acceptables ou non ?» frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’) frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’) frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’) frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’) frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’) frz. se rime avec oui ou non ? (‘ reimt sich mit , ja oder nein?’)

Testitems «Anzahl der Sprachlaute und Rückwärtssprechen» Spanisch (a) Número de sonidos «¡Di, por favor! ¿De cuántos sonidos se compones las palabras siguientes? ¿Y, de los cuáles?» (b) Pronunciación inversa «¡Por favor, pronuncia las palabras siguientes de la derecha hacia la izquierda, es decir invierte los sonidos de las palabras, así, como en el ejemplo la palabra resulta en /asem/! No me interesan ni las sílabas ni las letras.» In Aufgabe (a) und (b) waren die Testitems identisch. span. (Buch-N.M.SG) span. (Ei-N.M.SG) span. (Fuß-N.M.SG)

Anhang

201

span. (Lampe-N.F.SG) span. (grausam-ADJ.GENERISCH.SG) span. (Europa-PROPER NAME) span. (sehen-V.INF) span. (Witwe-N.F.SG) span. (sehr-ADV) span. (hören-V.1SG.PRS.IND)

Französisch (a) Nombre des sons «S’il-vous-plaît, dîtes de combien de sons sont composés les mots suivants. Lesquels ?» (b) Prononciation à l’envers «S’il-vous-plaît, prononcez les mots suivant de droite à gauche, ainsi que dans l’exemple suivant le mot /ʃato/ devient /otaʃ/. Ce sont les sons et non pas les syllabes, ni les lettres qui m’intéresse.» In Aufgabe (a) und (b) waren die Testitems identisch. frz. (beginnen-V.INF) frz. (Frucht-N.M.SG) frz. (Köning-N.M.SG) frz. (Buch-N.M.SG) frz. (Arbeit-N.M.SG) frz. (er-PRO.PERS.3SG.BETONT) frz. (Tasse-N.F.SG) frz. (Stein-N.F.SG) frz. (Internet-N.M.SG)

Italienisch (a) Anzahl der Laute «Sagen Sie bitte, aus viele Laute die folgenden Wörter bestehen. Und sagen Sie aus welchen. Bitte beachten Sie, dass es nicht um Buchstaben oder Silben, sondern um Sprachlaute, die Sie wahrnehmen, geht.»

202

Anhang

(b) Rückwärtssprechen «Sprechen Sie bitte die folgenden Wörter rückwärts (pronunciarlo dalla fine / pronunciarlo dalla destra alla sinistra), z.B. aus /sono/ wird /onos/. Es sind nicht die Buchstaben oder Silben, die mich hier interessieren, sondern die Laute (suoni).» In Aufgabe (a) und (b) waren die Testitems identisch. ital. (Kampf-N.F.SG) ital. (Mensch-N.M.SG) ital. (dann/danach-ADV) ital. (eine-ART.INDEF) ital. (Herz-N.M.SG) ital. (Angriff-N.M.SG) ital. (Wasser-N.F.SG) ital. (sein-COP.1SG.PRS.IND) ital. (Klavier-N.M.SG) ital. (neutral-ADJ.M.SG) ital. (Stelle-N.M.PL) ital. (Europa-PROPER NAME) ital. (Ort-N.M.PL) ital. (Internet-N.M.SG)

Rumänisch (a) Anzahl der Laute «Sagen Sie bitte, aus viele Laute die folgenden Wörter bestehen. Und sagen Sie aus welchen. Bitte beachten Sie, dass es nicht um Buchstaben (litere) oder Silben (silabe), sondern um Sprachlaute (sunete), die Sie wahrnehmen, geht.» (b) Rückwärtssprechen «Sprechen Sie bitte die folgenden Wörter rückwärts (a pronunța din spate / a pronunța din dreapta la stânga), z.B. aus /bilete/ wird zu /etelib/. Es sind nicht die Buchstaben (litere) oder Silben (silabe), die mich hier interessieren, sondern die Laute (sunete).» In Aufgabe (a) und (b) waren die Testitems identisch. rum. (Herz-N.F.SG) rum. (Tor-N.F.SG)

Anhang

rum. (zwei-NUM) rum. (Abend-N.F.SG) rum. (unser-PRO.POSS) rum. (Flur-N.NEUTER.SG) rum. (Web-N.M.SG) rum. (November-N.M.SG) rum. (unsere-PRO.POSS) rum. (neu-ADJ.M.SG)

203

Register Acoustic Equivalence Hypothesis 83 Acoustic Theory of Speech Production 7, 13 analogische Übertragungen (Analogie) 169, 171 Approximant 7, 16, 64, 84, 105–106, 117–118, 120, 131 Articulation-based Hypothesis 83 artikulatorische Geste 8, 21–22, 24, 32–34, 36–37, 41–44, 59–61 Artikulatorische Phonologie 15, 21 Atlas linguistique de la France 149 Atlasul lingvistic român 149 Autosegmentale Phonologie 19 backness 10, 15–17 Bartsch’sches Gesetz 74 Conditionnel présent 127 Congiuntivo presente 137, 138–139 Conjunctiv Prezent 146 CV-Phonologie 15, 18–19 Derivation 101 Derivationsmorphologie 112, 114–115, 169, 171 Diakrise 26–27, 170 Diphthong-Hiatus-Kontinuum 62 Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns 68, 73, 104, 112, 119, 126, 134, 141, 143, 172 Diphthongierung durch Längung des Silbenkerns und anschließende Nasalierung 119 Diphthongierung durch Metaphonie 68–69, 75, 77, 89, 91, 141, 143, 145, 147 Diphthongierung im kanadischen Französisch 128, 130, 148, 154 Diphthongierung – bedingte 62, 67, 69, 74, 91–92, 98, 119, 134, 172 – spontane 18, 62, 64, 67, 77, 80, 91, 98 Diphthongierungsregel 17, 113, 129 diptongos ambivalentes 79 Dissimilation 18, 63 https://doi.org/10.1515/9783110729733-009

dittongo mobile 139 Dual Target Hypothesis 12 duh sfranțozesc (französischer Geist) 88 Elision 121–122, 153 Embodiment 4, 8, 31–32, 171 enchaînement consonantique 121 englisches /w/ 98, 104, 120 Evolutionäre Phonologie 4 exceptional hiatus 104, 108–110 Exemplar Theory 4, 34–37 Figur-Grund-Kontrast 28–29, 38, 47, 170 Flexionsmorphologie 169, 171 Formanttransition 10, 12, 46 Französische Diphthongierung 71–72, 119 Frequenz (Gebrauchshäufigkeit) 30, 35–37, 42, 171 Futur simple 127 Futuro indicativo 138–139 Generative Phonologie 4–5, 15, 17, 21 germanischer Diphthong au 119 germanisches /ɡw/ 84 Gesetz der Ähnlichkeit 28, 39–40 Gesetz der Erfahrung 41 Gesetz der Geschlossenheit 28, 40 Gesetz der Gleichzeitigkeit 41 Gesetz der guten Fortsetzung 28, 39–40 Gesetz der guten Gestalt 28, 40 Gesetz der Nähe 28, 39–40 Gesetz der Prägnanz 40 Gesetz der Symmetrie 41 Gesetz des gemeinsamen Schicksals 28, 41 Gestaltgesetze 27–30, 37–40, 170 Gestaltphonologie 1, 25, 27, 45, 169, 171 Gestaltpsychologie 27, 170 Gestalttheorie 2, 25, 27–29, 36–37, 39, 44, 90, 171 gestural blending 83 Gleitlaut 9, 21–22, 46–47, 79, 87, 89, 102, 108, 118, 128–129, 131, 145 Gleitlautepenthese 20, 62, 79, 89, 118, 128, 131, 145, 148, 154

206

Register

Gleitphase 9, 11 Gliding-Prozess 102, 118, 129 Gliding-Regel 118, 150, 153 h germanique 126 H&H Theory 45 Helmholtz principle 28, 38 Hiatgesetz 78 Hiattilgung 62, 78–79, 93, 101, 104–105, 108–111, 116, 145, 148, 171 Hiatustilgung 169 Impératif 126 Imperativ 146 Imperativo afirmativo 112 Imperativo negativo 112 Imperativo presente 137 Integriertes kognitionsphonologisches Modell 2, 29, 37, 43, 59, 90, 171 italisches Vokalsystem 66 klassischlateinischer Vokalismus 66 Koaleszenz 2, 62, 77, 92–93, 98, 105, 107, 110, 119–120, 134, 136, 140–141, 154 Koaleszenzdiphthongierung 80 Kognitive Linguistik 3–4 Kognitive Phonologie 4 Komplexcharaktere 38, 41, 46 Konsonant-Vokoid-Konvergenz 3, 62, 90, 93, 116, 120, 124, 154, 169, 172 Konstruktionsgrammatik 4 labiovelares /w/ 84, 86, 94 Laborphonologie 15, 21 lateinische Diphthonge 98, 104, 119, 136, 140–141, 154 lateinischer Hiatus 70, 78, 92, 98, 101–104, 107–108, 116, 119, 125, 141 lateinisches /w/ 98, 104 lexikalische Attraktoren 62 Liaison 121–122, 153 lleísmo 93, 105–106 Loanword Phonology 86

Mentales Lexikon 16 Metaphonie 2, 64, 68, 70, 74–77, 90, 92, 98, 147, 172 Metaphonie-Diphthongierungs-Hypothese Friedrich Schürrs 69, 142 Metathese 98, 105 metrisches Silbenmodell 19 Minimalpaaranalyse 26–27, 170 Mirror System Hypothesis 32 Mora 14, 19 Morenphonologie 15, 19 morphologische Regel 17 morphonologische Regel 60 morphophonologische Regel 76, 115 Motor Theory of Speech Perception 31, 33, 37 multilineare Silbenphonologie 21 Nasaldiphthonge 102, 150 Nasaldiphthongierungsprozess 150 Natürliche Phonologie 4, 15, 17–18, 60, 63, 67 neuronales Netzwerk 35 Normalisierung 13 Nouvelle Quantité Romane 66 Onset plus Direction Hypothesis 12 Onset plus Slope Hypothesis 12 Optimalitätstheorie 15, 19–21, 89 Ortstheorie von Georg von Békésy 10 palatales /j/ 85, 94, 169 Palatalisierung 98, 105, 134 Partialgestalt 38–39, 41, 44 perceptual magnet effect 130, 169 Perzept 27–28, 34–35, 37, 39 Phonological Exemplar-Based Learning System 62 phonologische Gestalt 37–39, 44–45, 90 phonologische Gestaltqualitäten 41, 90 phonologische Integration von Lehnwörtern 3, 90, 98, 120, 172 phonologische Regel 2, 16–17, 45, 47, 126, 147, 169

Register

207

phonologischer Prozess 17, 60, 103, 169 phonologisches Gestaltprinzip 39, 170 Phonotaktik 30, 33, 40, 44–45 Prägnanz 28–29, 38 Présent de l’indicatif 126 Presente de indicativo 112 Presente de subjuntivo 112 Presente indicativo 137 Prezent 146 proximity to stress effect 110, 170 Pseudodiphthonge 23–24

task dynamic gestural model 22 task dynamics 21 Tautosyllabierung 78, 93, 108–109 tenseness 16 Three-Tiered Theory of the Syllable 18 Tilgung intervokalischer Konsonanten 78, 81, 90, 151, 172 Tilgung ursprünglicher lateinischer Syllabierungen 2, 90, 151, 172 tip-of-the-tongue 42–43 Transitionsrate 12, 89 Triphthong 104, 106, 108, 144

Quantitätenkollaps 66

Übersummativität 25, 29, 38 Umlaut 75 Usage-based Approach 4, 171

Romanische Diphthongierung 64–69, 75, 97, 106, 109–110, 112, 118–119, 126, 137, 142–143 Rumänische Diphthongierung 77, 143 Schachspielmetapher Ferdinand de Saussures 91 Segmentale Phonologie 7, 21 sekundär fallende Vokalsequenz 85–86 sekundär steigende Vokalsequenz 86 semi-diphtongaison 143 semi-voyelle 90, 117 semi-voyelles facultatives 90 Shannon-Nyquist principle 28 Siebenbürger Schule (Școala Ardeleană) 87 Silbenkontaktgesetz 78 Silbenphonologie 15, 19 Silbenpräferenzgesetze 33 Sonorität-Vokalfarbe-Polarität 63 SPE-Phonologie 16, 18, 20, 118 Sphota 36, 170 Spracherwerb 17, 43, 60, 76, 115 Sprachgeografie 149 Stammvokalalternanzen 69–71, 76, 112–115, 126, 137, 139, 145, 147, 169 Stärkungsprozess 18 steady-state 10–11, 13 Strukturalistische Phonologie 5, 15, 22 Subjonctif présent 126 syllabicity shift / silbischer Wechsel 72, 74 Synchronie-Diachronie-Dichotomie 172

Verbalflexion – französische 126, 137 – italienische 137 – portugiesische 100, 103 – rumänische 146 – spanische 112 verlan 122, 124–125 Verschmelzungsdiphthong 81–83 Verschmelzungsdiphthongierung 62, 83, 98, 105, 134, 136, 140–141, 150, 152, 154, 169 Viitor I 146 Viitor II 146 Visible Speech 8, 117 Vokalfarbe 18, 63 Vokalisierung von /k/ 82, 84 Vokalisierung von /l/ 82–84, 93, 98, 105 Vokalisierung von /r/ 83 Vokalisierung von /ɡ/ 82, 84 Vokalisierung von Konsonanten 3, 78, 81, 90, 93, 151, 172 Vokalisierung von silbenfinalem im BP 3, 83, 103, 148 Vokaltarget 7, 10, 12, 15, 22 voyelle consonante 117 vulgärlateinischer Vokalismus 66 Wahrnehmungspsychologie 5, 27–28 Wertheimer’s contrast invariance principle 28, 38

208

Register

Wortgestaltphonologie 169–170 Wortgestaltqualitäten 47, 125, 169–170 Wortklassenzugehörigkeit 3, 128, 130, 140, 148

X-Bar-Theorie 18 X-Positionen 19 yeísmo 93, 105–106, 116, 154

Alexander Teixeira Kalkhoff

Erratum zu: Gestaltphonologische Interpretation von Vokalsequenzierungen. Eine Studie zum Portugiesischen, Spanischen, Französischen, Italienischen und Rumänischen Trotz sehr gewissenhafter Prüfung und Herstellung unserer Publikationen passieren manchmal doch Fehler. Wir entschuldigen uns, dass in der Originalversion dieses Bandes an fünf Stellen eine falsche Transkription abgedruckt wurde: [u] statt [y].

S. 1: […] z.B. in frz. [tɥe] ~ [tu.ˈe] (töten-V.INF), kann jeweils nur wortgeschichtlich […] Wir bitten um Beachtung der folgenden Korrektur: […] z.B. in frz. [tɥe] ~ [ty.ˈe] (töten-V.INF), kann jeweils nur wortgeschichtlich […]

S. 2: So trafen etwa im Wandel von lat. TŪ.TĀRE zu frz. [tu.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF) durch das Verstummen […] […] und in anderen Wortexemplaren wurde die alte Silbengrenze als [tu.ˈe] fortgeführt. Beide Realisierungen fanden Eingang in den Sprachgebrauch […] Wir bitten um Beachtung der folgenden Korrekturen: So trafen etwa im Wandel von lat. TŪ.TĀRE zu frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (tötenV.INF) durch das Verstummen […] […] und in anderen Wortexemplaren wurde die alte Silbengrenze als [ty.ˈe] fortgeführt. Beide Realisierungen fanden Eingang in den Sprachgebrauch […]

Die überarbeiteten Kapitel sind verfügbar unter https://doi.org/10.1515/9783110729733-001 und https://doi.org/10.1515/9783110729733-005. https://doi.org/10.1515/9783110729733-010

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Erratum zu

S. 119, unter (vi): […] lat. TŪTĀRE > frz. [tu.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF); lat. HŎC ILLE > frz. [wi] […] Wir bitten um Beachtung der folgenden Korrektur: […] lat. TŪTĀRE > frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF); lat. HŎC ILLE > frz. [wi] […]

S. 130: – schwankende Vokalsequenzierungen (diphthongisch ~ hiatisch) bei Vokalsequenzen, die durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in frz. [tu.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF), entstanden sind. Wir bitten um Beachtung der folgenden Korrektur: – schwankende Vokalsequenzierungen (diphthongisch ~ hiatisch) bei Vokalsequenzen, die durch Verstummen intervokalischer Konsonanten, z.B. in frz. [ty.ˈe] ~ [tɥe] (töten-V.INF), entstanden sind.