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German Pages 413 [416] Year 1994
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE
PHILOLOGIE
BEGRÜNDET VON GUSTAV GRÖBER FORTGEFÜHRT VON WALTHER VON WARTBURG UND KURT BALDINGER HERAUSGEGEBEN VON MAX PFISTER
Band 255
EDGAR RADTKE
Gesprochenes Französisch und Sprachgeschichte Zur Rekonstruktion der Gesprächskonstitution in Dialogen französischer Sprachlehrbücher des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Adaptionen
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1994
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 15 (Philologie III) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte] Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Fortlaufende Beil. zu: Zeitschrift für romanische Philologie NE: HST Bd. 255. Radtke, Edgar: Gesprochenes Französisch und Sprachgeschichte. - 1994 Radtke, Edgar: Gesprochenes Französisch und Sprachgeschichte: zur Rekonstruktion der Gesprächskonstitution in Dialogen französischer Sprachlehrbücher des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der italienischen Adaptionen / Edgar Radtke. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie ; Bd. 255) ISBN 3-484-52255-0 ISSN 0084-5396 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Vorbemerkung
Nachdem die romanische Sprachwissenschaft in den 70er Jahren der sprachhistorischen Betrachtungsweise so wenig Raum wie nie zuvor zugebilligt hatte, versuchte man in den 80er Jahren in der Romanistik eine Annäherung von sozio-, pragma- und textlinguistischen Ansätzen an die historische Sprachwissenschaft. Die vorliegende Arbeit will die Verträglichkeit beider Richtungen und deren gegenseitige, sinnvolle Nutzbarmachung unter Beweis stellen und die anfängliche Polemik um die Unvereinbarkeit von angeblichen Gegensätzen aufheben. Diese Revitalisierung der historischen Sprachwissenschaft ist in der Romanistik inzwischen eingetreten. All denen, die die Arbeit in ihrem Werdegang begleitet haben, möchte ich an dieser Stelle danken, nämlich den Lehrern, Kollegen und Freunden in Mainz, Heinz Kröll, Jörn Albrecht, Günter Bellmann, Günter Holtus, Dieter Janik, Kurt Ringger (t), Harald Thun. Für Ratschläge bin ich Christian Schmitt (Bonn) und Gerhard Ernst (Regensburg) zu Dank verpflichtet. Heidelberg, im Januar 1993
Edgar Radtke
V
Inhalt
0. Allgemeine Voraussetzungen: Sprachgeschichte und Theorie der Sprachwissenschaft. Sprachgeschichte und Methodologie . . . .
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o.i. Sprachtheorie und Sprachgeschichtsschreibung 0.2. Gesprächsanalyse und sogenannte Neue Empirie 0.3. Das neue Erkenntnisinteresse 1. Gesprochenes Französisch und Sprachgeschichte. stand und grundsätzliche Überlegungen
i 7 11 Forschungs15
1.1. Die Entwicklung der Gesprochenen Sprache-Forschung . . 1.2. Die sprachgeschichtliche Dimension des gesprochenen Französisch und Italienisch 1.3. Sprachgeschichte des gesprochenen Französisch bzw. Italienisch als Textsortengeschichte 1.4. Die pragmatische Dimension. Die Gesprächsanalyse in der Sprachgeschichte
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2. Das Gesprächsbuch als Korpusgrundlage zur Darstellung des français parlé und italiano parlato im 17. Jahrhundert 2.1. Die Selektion von Textsorten. Zur unterschiedlichen Eignung von Gebrauchstexten 2.2. Der Sprachunterricht im 17. Jahrhundert 2.3. Die Darstellung der herangezogenen Werke und Ausgaben . 2.4. Die Verbreitung der Sprachlehrbücher auf dem Buchmarkt. Ihr Benutzerkreis 3. Gesprächsanalytische Rekonstruktionen
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3.1. Sprecher- und Redekonstellationen 3.2. Makrostruktur der Dialoge 3.2.1. Gesprächseröffnungen 3.2.2. Die Gesprächsmitte: Strukturierungen und Gesprächsthemen 3.2.2.1. Exkurs I: Fallstudie zur thematischen Gesprächsorganisation: Das Französische als Fremdsprache . . VII
59 70 71 115 141
3.2.2.2. Exkurs II: Fallstudie zur thematischen Gesprächsorganisation: Das Verkaufsgespräch 3.2.3. Gesprächsränder 3.2.4. Gesprächsbeendigung 3.2.5. Gesprochene Sprache und Dialogstruktur: Gesprächsphasenübergreifende Bewertungen . . . . 3.3. Mikrostrukturen: Partikeln im Dialog 3.3.1. Gliederungssignale 3.3.1.1. Eröffnungssignale 3.3.1.2. Gesprächsschrittinterne Gliederungssignale . . . . 3.3.1.3. Schlußsignale 3.3.1.4. Gesamtwertung 3.3.2. Rückmeldepartikeln 3.3.3. Abtönungen 3.3.3.1. Formaler Kontrast: Partikeln vs. je pense-Typ . . . 3.3.3.2. Semantische Fragestellungen: Abtönungen und ihre Begriffsfeldpräferenzen 3.3.3.3. Die Stellung im Satz von «paraventure» 3.3.3.4. Abtönung als Interaktionsstrategie 3.3.3.5. Abschließende Wertung 3.3.4. Interjektionen 3.3.5. Dialogstruktur und Gesprächspartikeln: Bewertung der Gesprächssteuerung
151 174 177 238 241 248 253 276 289 293 296 299 301 304 312 316 320 321 330
4. Kommunikationspraxis in der Sprachgeschichte 4.1. Die Darstellung der Gesprächskonstitution 4.2. Die Textsortenselektion in der Sprachgeschichte 4.3. Norm, Gebrauchsnorm und Subnorm 4.4. Sprachwandel: Kontinuität und Bruch
333 335 337 339 340
5. Literaturverzeichnis
345
6. Verwendete Abkürzungen
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7. Appendix: Illustrationsproben zu den Gesprächsbüchern . . . .
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8. Register 8.1. Sachwortverzeichnis 8.2. Autorenverzeichnis
393 393 400
VIII
Wenn man zuspitzen will, so kann man sagen, daß die bisherige Sprachgeschichtsschreibung eine Beschreibung im wesentlichen des Instrumentes Sprache bzw. Schriftsprache in seiner Veränderung war. Es sollte ergänzend eine Geschichte der Sprachbenutzer in ihrer großen Mehrheit hinzukommen. Erst beides zusammen ergibt ein adäquates Gesamtbild sprachgeschichtlicher Wirklichkeit und verhindert im übrigen, Sprachgeschichte vornehmlich als Geschichte der Schriftlichkeit zu verstehen, wie das immer - bis heute - geschehen ist. (Besch 1979, 324)
o. Allgemeine Voraussetzungen: Sprachgeschichte und Theorie der Sprachwissenschaft. Sprachgeschichte und Methodologie
o. i. Sprachtheorie und Sprachgeschichtsschreibung Der Sprachgeschichtsschreibung wird gelegentlich der Vorwurf gemacht, sie ignoriere die sprachtheoretische Integration und arbeite im freien Raum. Begünstigt wurden diesbezügliche Aussagen in den letzten dreißig Jahren durch die rasche Abfolge von sprachtheoretischen Grundlagen zur Sprachbeschreibung, während die Sprachgeschichtsschreibung in weiten Teilen von diesen Reflexionsprozessen ausgeschlossen blieb1. An den jüngsten Neuerungen innerhalb der synchronen Sprachwissenschaft partizipierte die Sprachgeschichtsschreibung im wesentlichen nicht, sie unterzog sich keinen Veränderungen und galt als Garant einer «traditionellen Forschung» (von Polenz 1984, 2 - 3 ) . So bietet auch die Lektüre der Sprachgeschichten des Französischen aus diesem Jahrhundert (Brunot I905/2I966, Bruneau 1955-1958, von Wartburg i934/6i9Ö2, Dauzat 1930, Cohen 1947/21967, Caput 1972-1975, Berschin/Felixberger/Goebl 1978, Wolf 1979, Sergijewskij 1979, Rickard 1979) kaum Anregungen, die auf einen Wandel in der Anlage hindeuten: Sprachgeschichtsschreibung weist ein hohes Maß an Statik auf, und der Niederschlag sprachtheoretischer Grundsätze in der Konzipierung gelangt oftmals nicht über schlagwortartige Nennungen «mit Alibifunktion» (Wunderli 1983, 105) wie etwa die der Soziolinguistik in neueren Sprachgeschichten hinaus. Insofern ist der Fortschritt in der Sprachgeschichtsschreibung in den letzten Jahren bescheiden ausgefallen (Wunderli 1983,104). Dazu gesellt sich vielleicht auch noch eine Krise im Selbstverständnis der Sprachgeschichtsforschung2 aufgrund der Konfrontation mit neuen Richtungen3, die den
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Cherubim/Objartel 1 9 8 1 , 2: « A u f f ä l l i g ist z . B . die D o m i n a n z sprachhistorischer Forschung im 19. Jahrhundert und die demgegenüber relativ geringe Berücksichtigung historischer Aspekte in den strukturalistischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts.»
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Sitta 1980, V I I : « D i e diachrone Linguistik verschloß sich (durchaus konsequent) weitgehend derartigen Neuerungen und blieb den Denkweisen verpflichtet, die sie konstituiert hatten. E s entstand das, was heute als die . Mehr noch: de Saussure gelangt zumindest in einem Aspekt - den die Saussuresche Sprachwissenschaft bedauerlicherweise oft außer acht läßt oder zu «überwinden» sucht - dahin, auch die wesensmäßige Geschichtlichkeit der Sprache als Kulturobjekt zu bemerken. De Saussure bezeichnet es als eine Aufgabe der Sprachwissenschaft, «de chercher les forces qui sont en jeu d'une manière permanente et universelle dans toutes les langues, et de dégager les lois générales auxquelles on peut ramener tous les phénomènes particuliers de l'histoire», meint dabei aber zutreffend, daß diese «Gesetze» nur universelle Prinzipien sein können und nicht panchronische Kausalgesetze (.. .)8.
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die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie ist selbst kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen.» Desgleichen charakterisiert sie Coseriu 1974, 24. Für die Sprachgeschichte ist daraus letztlich zu folgern, daß die Unterscheidung Sprachgebrauch vs. Sprachsystem die von Humboldtschen Vorgaben EQYOH vs. EVEQysia widerspiegeln; vgl. auch Sonderegger 1979,14. Vielmehr deckt sich seine Darlegung mit dem von Humboldtschen evsQysia-Vorstellungen. Es ist somit auch nicht zutreffend, wenn von Polenz 1984, 4 - 5 , de Saussure vorwirft: «Aus der Definition von Sprache wird das eigentlich (Geschichtliche) ausgeklammert.» Dies ist erst in der späteren Theoriebildung der strukturalen Linguistik der Fall. 3
Nachdem die Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts überwiegend Schwierigkeiten mit der Einarbeitung der historischen Komponente offenbart haben (von Polenz 1984, 5), hebt Coseriu 1980b die Stellung der Sprachgeschichte in der Sprachwissenschaft erneut hervor: «Die Wissenschaft, die sowohl der realen Erfahrung mit der Sprache als auch dem Wesen der Sprache gerecht wird, ist die Sprachgeschichte» (Coseriu 1980b, 143). Die Konsequenzen aus dieser an und für sich banalen Feststellung sind am deutlichsten von Schlieben-Lange 1983 gezogen worden, der zufolge im Rahmen des europäischen Strukturalismus nach den Funktionen in den Bereichen Sprechen, Sprache und Texte unterschieden werden muß (Schlieben-Lange 1982 und 1983, 13-29). Die Funktionen aller drei Ebenen sind sprachgeschichtlich mehr oder weniger vollständig darstellbar, wobei die Geschichte der (Einzel-) Sprachen am ausgiebigsten aufgearbeitet worden ist. Demgegenüber soll der hier anvisierte Ansatz primär der Ebene des Sprechens und der Geschichte der Textfunktionen bzw. Texttypen Rechnung tragen. Damit deutet sich eine Geschichte der Sprachverwendung an, die sich zunehmend der pragmatischen Grundlagen annimmt, d.h. vermehrt auf sozialgeschichtliche Bezüge hinarbeitet (Bechert 1976, Gessinger 1982). Damit ist die Theorie der Sprachgeschichte, so «rudimentär» ihr Zustand auch sein mag (Bechert 1976, 483), aufgerufen, heuristische Verfahren vorzulegen, die die pragmatische Dimension der Sprachgeschichte herausstellen. Von der sprachtheoretischen Fundierung hängen die methodischen Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung ab. Analog zur sprachtheoretischen Beschränkung gibt es in der Sprachgeschichtsschreibung auch ein Methodendefizit: «Mir scheint, der französischen (und romanistischen) Sprachgeschichtsschreibung tut eines dringend not: eine gründliche Methodenreflexion (...)» (Wunderli 1983, 105). Dazu gehört an erster Stelle die Frage nach der Beschreibungsebene: Soll der gewählte Ausschnitt einer Einzelsprache, d. h. das Textkorpus zur Analyse von parole-Elementen oder langue-Elementen herangezogen werden? Grundsätzlich ist beides möglich und durchaus sinnvoll; für unsere Zielsetzung, i. e. die Beschreibung gesprochener Sprache anhand von Textsorten, die der Alltagskommunikation weitgehend Rechnung tragen, ist dabei wie folgt zu differenzieren: -
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Kommuniziert wird in Texten. Der Textbegriff ist in der Forschung, insbesondere in der Textlinguistik, keineswegs eindeutig festgelegt. Im folgenden wird Text aufgefaßt als mehr oder weniger intuitiv festgesetzte Manifestationsform des Sprechens, als ein Gliederungsgefüge, das die formale Organisation innerhalb des Sprechens abbildet. Anhand der Texte lassen sich grammatikalische Analysen vornehmen, aber keine deskriptiven Grammatiken von Einzelsprachen erstellen. Die Textfunktionen von grammatikalischen Erscheinungen dürfen nicht mit generell einzelsprachlichen Funktionen identifiziert werden, sind also nicht langue-gebunden9. Zur ausführlichen Diskussion dieses Ansatzes vgl. Coseriu 1981, 2 6 - 3 3 . Bezüglich
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Mit dem Rückgriff auf pragmatische Verfahren zur Rekonstruktion gesprochener Sprache im sprachhistorischen Ablauf ist automatisch der Bezug zur parole gegeben, d.h. anstelle von systemlinguistischen Zusammenhängen interessieren primär Realisationsformen des Sprechens und ihre Verschriftlichung. Pragmalinguistik und Systemlinguistik schließen einander aus, wie die Übersicht von Cherubim 1980,8, nahelegt: Kriterien Sprachbegriff
Berücksichtigung des Kontextes
Teildisziplinen^^ der Sprachwiss. Systemlinguistik
Sprache als System
innersprachlich-strukturelle Zusammenhänge
Pragmalinguistik
Sprache als soziales Handeln
kommunikative
Sprache als A u s d r u c k
gesellschaftliche Zusammenhänge
Soziolinguistik
sozialer Verhältnisse
Zusammenhänge
Kriterien der Unterscheidung von Teildisziplinen der Sprachwissenschaft
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Aus der Textebene sind «Traditionen des Sprechens» (Schlieben-Lange 1983) als eigentliche einzelsprachlich differenzierte Ausprägungen ableitbar im Sinne einer Sprachgeschichte auf der parole-Ebene. Sie hebt in gewisser Hinsicht den Gegensatz zwischen interner und externer Sprachgeschichte auf.
Eine sprachhistorische Pragmatik wird aus diesen Grundsätzen folgende Aufgaben für sich herleiten: 1. Es sind vorrangig diejenigen Textsorten zu behandeln, die im besonderen Ausmaß Rückschlüsse auf die gesprochene Sprache in früheren Zeiträumen erlauben. Ein Korrektiv zur Gewinnung historischer Sprachdaten bezüglich der Korpuserstellung ist denkbar (Hoffmann 1984). «Von entscheidender Bedeutung für eine pragmatisch ausgerichtete deutsche Sprachgeschichtsforschung scheint uns die Wiedergewinnung der im Prozeß der Verschriftung zwar nicht völlig untergegangenen, aber doch stark umgestalteten oder umstilisierten Primärschicht der gesprochenen Sprache zu sein. Deshalb ist mehr als bisher und systematischer nach den möglichen Schichten ursprünglich gesprochener Sprache zu fragen, die aus den schriftlichen Quellen der älteren und jüngeren Sprachstufen wiederzugewinnen sind, wobei typische Formen gesprochener Sprache von solchen mehr schriftlicher Füllung und Ergänzung zu scheiden sind» (Sonderegger 1980,132-133). des Funktionsbegriffes in A n w e n d u n g auf Texte vgl. Schlieben-Lange 1 9 8 3 , 2 6 28.
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2. Da keine innersprachlichen Systeme beschrieben werden sollen, liegt eine Methodik nahe, die der Einbeziehung des Sprachbenutzers und des situativen Kontexts Rechnung trägt. Um solche mehr synthetisierenden Verfahren zu entwickeln, bieten sich die aus der Gesprächsanalyse gewonnenen Konzeptionen an10. Diese Wahl als solche ist nicht unproblematisch, denn die Gesprächsanalyse muß sich dem Vorwurf der Theoriefeindlichkeit und der intuitiven Methodik stellen11. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieses Punktes wird er in 0.2. gesondert abgehandelt. Die Erträge der Gesprächsanalyse schlagen sich für unsere Thematik im Bereich der Gesprächsgliederung, der Partikelndarstellung und der Konversationspostulate nieder. 3. Aus dem Aufbau der gewählten Texte läßt sich eine Textsortenbestimmung vornehmen, die sowohl die Produktion und Rezeption der Texte erklärt als auch den sprachgeschichtlichen Wandel von textuellen Vollzugsmitteln. Zwar steht auch die Bestimmung des Textsortenbegriffes in einer lebhaften Diskussion (Gülich/Raible 2 I975), aber gerade die Herausarbeitung von bestimmten Textfunktionen dürfte die Zuweisung zu Textsorten erleichtern. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Geschichte einer Textsorte, die Alltagskommunikation verarbeitet. Zur Konzeption einer sprachgeschichtlichen Interpretationstechnik sei abschließend auf eine Sichtweise Bezug genommen, die in explizierter Form erstmals von Sonderegger 1979, 3 1 - 3 6 , ausgearbeitet worden ist: Sprachgeschichte begreift sich als ein Problemkreis, der sich aus verschiedenen Konfrontationen von Teilbereichen bzw. Aspekten einer Sprache zusammensetzt (systemgebundene Konfrontation der Mehrdimensionalität der Sprache, Konfrontation gesprochene vs. geschriebene Sprache, Konfrontation mit Nachbar- und Bildungssprachen, Konfrontation verschiedener Sprachschichten, Konfrontation von Sprachgemeinschaft und sprachbildender Persönlichkeit, Konfrontation zwischen Norm und Lizenz, Konfrontation Sprecher/Hörer, Text/Leser). Diese Auffassung von Sprachgeschichte als ein Spannungsfeld von Konfrontationen ist in unserem Zusammenhang insofern von Belang, als das Spannungsverhältnis gesprochen vs. geschrieben hier thematisiert wird und zum Angelpunkt der sprachgeschichtlichen Wertung aufsteigt. Diese Selektion ist tragendes Element der sprachhistorischen Beschreibung: «So darf Sprachgeschichte zu einem guten Teil als Geschichte der sprachgebundenen und kommunikationsintensiven Konfrontation verstanden werden, deren Wirkung sich erst in der Zeit und niemals rein synchron ergibt» (Sonderegger 1979, 34).
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Vgl. als Muster Henne 1980. Vgl. zu diesem Problem die Ausführungen von Bergmann 1980.
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0.2. Gesprächsanalyse und sogenannte Neue Empirie Bekanntlich ist die conversation analysis in den sechziger Jahren in den U S A als sozialwissenschaftliche Teildisziplin im Rahmen der ethnomethodology proklamiert worden. Ihre Rezeption in der Bundesrepublik, die mit dem Forschungsbericht Kallmeyer/Schütze 1976 einsetzt, hat in der Linguistik wegen ihrer primär soziologischen Ausrichtung eine heftige Diskussion bezüglich des Theoriedefizits und der fehlenden Methodenreflexion ausgelöst12. Neben der ethnomethodologischen Fragestellung ist in Europa versucht worden, aufgrund der Nähe zur Soziolinguistik und zur Sprechakttheorie eine theoretische Einbettung vorzunehmen. Allerdings ist man dabei zumeist von einer Kombination einzelner Theorien und Analyseverfahren ausgegangen, die vorab nur zu Teilbereichen, etwa der Gesprächspartikelforschung, nach Bedarf angewendet wird; eine umfassende Theorie für die Gesprächsanalyse schlechthin ist bislang nicht erstellt worden. Die Rezeption der Sprechakttheorie scheint für Einzelprobleme Lösungen anzubieten, eine grundlegende Methodologie liefert sie nicht, da die Beschreibung von Interaktionsformen letztendlich von in der Psychologie erarbeiteten Klassifikationsrastern ausgeht, wie etwa die vehemente Rezeption von Watzlawick/Beavin/Jackson I969/6I982 (amerikanische Ausgabe 1967) als Grundlagenwerk der Kommunikationswissenschaften. Dabei übernimmt die Linguistik aus diesem «Klassiker» einer Gesprächsanalyse ante litteram lediglich die Technik der Beobachtung von Kommunikationsformen, die hier speziell psychopathologischen Analysen dienen13. Anstelle einer Theorie arbeiten diese psychologischen Ansätze mit heuristischen Konzepten wie beispielsweise Rückkoppelung und Redundanz, die nicht nachgewiesen, sondern unterstellt werden. Die psychologischen Begriffsvorgaben sind nicht verifizierbar - dies gilt ins12
13
Vgl. auch Radtke 1 9 8 6 , 4 5 - 4 6 . Die Streitfrage dreht sich grundsätzlich um die Frage, ob methodologisches Arbeiten im Sinne der Linguistik überhaupt vorliegt. M a n denke etwa an die aufschlußreichen Kommentare bei Bergmann 1980, 17: «Das, was seine K o m p e t e n z [= des Forschers] als Analytiker ausmacht, ist freilich nicht die perfekte Beherrschung vorgegebener Methoden, sondern ein hoher G r a d an Sensibilität für Interaktionsvorgänge, ein Beobachtungsvermögen für Details u n d für Strukturzusammenhänge, ein G e h ö r u n d eine Taubheit für Bedeutungsnuancen und Ausdauer bei der detektivischen Verfolgung von Strukturen eines interaktiven Objekts. Z u erkennen ist, daß es sich hierbei nicht um eine (Methodologie) im herkömmlichen Sinn handelt». Schank/Schwitalla 2 i98o, 318, erkennen in ihrem Forschungsbericht die Bedeutung dieser Übertragung psychologisch orientierter Kommunikationsforschung auf die linguistische Textanalyse, «wenn auch manchmal unklare Begriffe und Theorieteile eingeführt [werden]». Ferner verweist Betten 1975, 399, auf die Schrittmacherfunktion der Psychologen bei der Gesprächsanalyse: «In Anbetracht der noch weitgehend ungeklärten Probleme der Textanalyse in der Linguistik ist noch erwähnenswert, daß auch Psychologen mit Hilfe der pragmatischen Funktion von Äußerungen Gesprächstexte in Argumentationsfiguren zerlegen und auf diese Weise offensichtlich lückenlos erfassen können».
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besondere für psychoanalytische Untersuchungen wie Lorenzer 1977 - , und sie sind jeweils nur als Vermutungen bzw. subjektive Beobachtungen aus Fallstudien hervorgegangen, die aber nicht auf einer Theorie der Interaktion basieren, d.h. nichts beweist die Rekurrenz der beobachteten Phänomene, der Irrtum bei den Interpretationsansätzen wird billigend in Kauf genommen. Dieses Manko der subjektiven, nicht durch theoretische Einbettung objektivierbaren Sachverhaltsermittlung schließt in den empirischen Sozialwissenschaften generell andererseits nicht Beobachtungen aus, die Modelle vom Kommunikationsablauf produzieren. Um die Frage nach der sprachtheoretischen Fundierung zu klären, ist zunächst einmal vorauszuschicken, daß die Sozialwissenschaften und die Sprachwissenschaft bereits im Bereich der Gegenstandskonstitution Gemeinsamkeiten aufweisen: Daten sind als solche nicht vorab gegeben, sondern hängen in ihrer Auswahl vom Gegenstand der Untersuchung ab, d.h. sie sind gebunden an sozialwissenschaftliche bzw. linguistische Theorieentwürfe14. Mit diesem für die Linguistik veränderten Erkenntnisinteresse sind Positionen verbunden, die Modifizierungen gegenüber strukturalistischen und sprachsystemorientierten Theorien fordern: die Dialogizität des Sprechens bereits von Humboldt 1963, 137, postuliert, daß «alles Sprechen auf der Wechselrede (ruht)» - bedingt eine Gegenstandskonstitution, die etwa die Idee der Homogenität der Sprache, die Beschränkung des linguistischen Objekts auf die Maximalgröße Satz, den Ausschluß situationsbedingter Konstanten des Sprechers, die Idealisierung des Sprechers u. ä. aufgibt. An ihre Stelle tritt die Verabsolutierung des Sprechens in Dialogen, welche zumindest die Merkmale «mindestens zwei Sprecher/Hörer, Sprecherwechsel, Einhalten des kommunikativen Austauschs, Situierung des Dialogs in einen Interaktionsablauf» und die Unterstellung von Basisregeln bedingen (Cicourel 1973, Schank/Schwitalla 2 i98o, 318). Diese Basisregeln betreffen die thematische Relevanz und die Dynamik der Sprecherrolle und sind ausschließlich ableitbar aus der Prämisse, daß Sprechen in Gesprächen abläuft. Diese sprachtheoretisch relevante Akzentuierung ermöglicht den empirischen Nachvollzug nur im Rahmen einer hinreichenden Theorie. Somit sind auch die darauf aufbauenden Beschreibungskategorien der Dialogorganisation wie Handlungsplan, Ablaufmuster, Sprecherwechselregelung in eine theoretische Vorgabe eingebunden. Die modifizierte Gegenstandskonstitution lenkt zu einer methodischen Modifikation hin, die pragmatische Verfahrensweisen bemüht. In diesem Sinne evoziert die Zuschreibung einer Neuen Empirie (Henne/Rehbock 21982, 158) nur scheinbar eine Unvereinbarkeit mit sprachtheoretischen Überlegungen - empirische Beobachtungen setzen durchaus sprachtheoretische Annahmen in der europäischen Gesprächsanalyse voraus, wenngleich die diesbezüglichen amerikanischen Forschungen 14
Die Sozialwissenschaftler sprechen selbst von einer «Konstitutionsproblematik» (Luckmann/Gross 1977,199).
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den sprachtheoretischen Hintergrund nicht hinterfragt haben15. Zumindest in der Germanistik ist die Vorrangigkeit der sprachtheoretischen Prämissen deutlich herausgestellt worden. Gleichzeitig wird damit auch einer intuitiven Zufallsinterpretation wirkungsvoll entgegengewirkt, auch wenn die amerikanischen Vorläufer ihr Theoriedefizit (bewußt) nicht einräumen: (...) [Es] darf natürlich nicht übersehen werden, daß in diesen Ansätzen Idealisierungen eigener Art enthalten sind, die hinsichtlich der Verallgemeinbarkeit solcher Vorschläge die nötige Vorsicht nahelegen. Zum anderen aber zeigen solche Ansätze, daß die Beschreibung von Gesprächen mit einem hohen Grad an Explizitheit möglich ist. Sie machen ferner klar, daß linguistische Daten, um angemessen gedeutet werden zu können, eines breiteren Hintergrundes bedürfen, als dies hier der Satz bieten kann. Eine Einführung in die Gesprächsanalyse sollte daher nicht als die Abkehr von formalen Modellen oder gar einer systematischen Beschreibung linguistischer Daten mißverstanden werden, die einer Art von Gesellschaftsspiel Vorschub leistet, in dem ein jeder zeigen kann, mit wieviel Witz und Esprit er ein Gespräch zu interpretieren versteht. (Sucharowski 1984, 90)
Linguistische Daten sind dabei stets Elemente eines Korpus, die durch die Textsorte, hier das Gespräch, oder durch die sprachgeschichtlich bedingte Zufallsüberlieferung nur ausschnitthaft rekonstruiert werden können. Die Festsetzung, welche Datenmengen repräsentativ sind, wird stets vom Forscher selbst getroffen und hängt von der sprachtheoretischen und methodischen Konzeption ab. In der Regel wird das Datenmaterial vom Forscher selbst kontrolliert und für seine theoretischen Ausgangsstellungen nutzbar gemacht. Sprachgeschichtliche Korpora, die gesprächsanalytisch untersucht werden, stellen eine statische Datenmenge dar, «die die pragmatischen Kommunikationsprozesse nicht widerspiegeln kann» (Hoffmann 1984, 671) und auch von der Kompetenz des Forschers nicht mehr überprüft werden können. Ferner liegen bei sprachgeschichtlichen Rekonstruktionen stets nur Ausschnitte und Bruchstücke von sprachlichen Daten vor, die Untersuchungsbasis für die Daten ist also nur bis zu einem gewissen Grad abgesichert. Diese Überlegungen gehen dabei von dem Sachverhalt aus, daß Daten in der Gesprächsanalyse zur einzelsprachlichen Beschreibung herangezogen werden. Allerdings ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß - getreu den amerikanischen Vorgaben - die Gesprächsanalyse weniger am Aufbau von Einzelsprachen interessiert ist als an einer Analyse des Sprechverhaltens. Eine Interaktionsanalyse ist zunächst Gegenstand der Verhaltensforschung, darüber hinaus ist jedoch der (innersprachliche) Informationsgehalt nicht vom situativen Dialogverhalten zu trennen. In welcher Relation sprachliche Realisierungsmuster, d.h. die Grammatik, zum allgemeinen Gesprächsverhalten stehen, ist eine Fragestellung, die methodisch (noch) nicht zu bewältigen ist. Leech 1983, 7 3 - 6 , hat deutlich gemacht, daß pragmatische Faktoren 15
Dies hängt offensichtlich damit zusammen, daß die conversation analysis in den Vereinigten Staaten nicht als linguistische Teildisziplin konzipiert ist.
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nicht mit grammatikalischen Einheiten zwingend korrelierbar sind und daß eine overgrammaticization im pragmatischen Bereich keine schlüssigen Ergebnisse zeitigt. Interaktion ist nicht ausschließlich an der grammatikalischen Organisation meßbar, sondern findet nur streckenweise Indizien für Redeverhalten auf der grammatikalischen Ebene. So ist deshalb nicht verwunderlich, wenn gerade grammatikalische Problemfälle wie etwa die Kategorisierung von Partikeln - selbst die angesehensten Grammatiken führen oft nicht einmal den Begriff - dann herangezogen werden, sobald Interaktionsbestimmungen anstehen. Für eine immer gern beschworene, aber nie zur Gänze ausgearbeitete Dialoggrammatik sind zwei methodische Verfahren denkbar: Zum einen kann Dialoggrammatik als Aufbau von Sprechaktfolgen konzipiert werden (Blumenthal 1981). Dabei werden in aller Regel quantitative Verteilungen von Sprechakttypen angeboten, die nichts über einen einheitlichen Regelapparat aussagen. Die Wahl der Sprechakte unterliegt zwar der Definition der jeweiligen Gesprächsphase, aber umgekehrt ist nicht anhand der Verteilung von Sprechakten ablesbar, welche Gesprächsphase vorliegt. Dies geschieht erst unter Aufgabe der quantitativen Relevanz in der subjektiven Interpretation. Zählungen allein bieten nicht genügend Aufschluß über die Dialoggestaltungen. Aus diesem Grund hat Blumenthal 1981 die Sprechaktdistribution in Beziehung gesetzt zu sogenannten «dialogsyntaktischen Relationen». Die Gangbarkeit dieses Ansatzes soll hier nicht weiter diskutiert werden, aber der Verweis auf Leech 1983, 7 3 - 6 , stellte die Legitimität der Verquickung von Pragmatik und Grammatik bereits in Frage. Zum anderen ist die Beschreibung einer Dialoggrammatik in dem Sinne denkbar, daß bestimmte grammatikalische Sachverhalte im Gesprochenen im Gegensatz zur überkommenen schriftsprachlichen Grammatik unabhängig vom pragmatischen Kontext rekurrent auftreten. Auf diesem Prinzip baut beispielsweise Söll 31985 auf. Eine solche Grammatik orientiert sich nicht an den jeweiligen pragmatischen Gegebenheiten, sondern sucht eine Konstantenbasis für alle gesprochenen Texte. Allerdings werden manche Konstellationen nur erklärbar, wenn pragmatische Faktoren einbezogen werden. So spielt etwa das Kriterium Geplantheit bzw. Spontaneität für die Linksverschiebung oder die Thema-Rhema-Folge schlechthin eine entscheidende Rolle. Grammatikalische Elemente verweisen auf einen kommunikativen Aspekt, der neben der satzinternen Relevanz auch transphrastisch ausgreift16. Für unsere Texte läßt sich daraus keine Grammatik auf der Grundlage der Gesprächsanalyse ableiten, aber gewisse grammatische Konstellationen werden zu Regeln, die anhand der Gesprächskonstitution einsichtiger werden. Eine solche Aufarbeitung bedarf keiner gesonderten Explikation, da das grundsätzliche Programm der Textlinguistik, Funktionen sprachlicher 16
Besonders deutlich wird dies bei den Gesprächswörtern; zu «phrastisch» und «transphrastisch» in der Dialoggestaltung von Partikeln vgl. Thun 1984,13-31.
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Elemente im Text herauszustellen, dies leistet. Dieses Verfahren besteht unabhängig von sprechaktbezogenen Beschreibungen und tritt zu ihr nicht in Konkurrenz. 0.3. Das neue Erkenntnisinteresse Der Abriß zur theoretischen Fundierung und zur Methodologie der Sprachgeschichte legt nahe, daß sprachgeschichtliches Arbeiten unter neuen Vorzeichen zu einer anderen Wertung sprachhistorischer Prozesse führen kann. Im folgenden wird versucht, eine «andere» Sichtweise für das Französische und Italienische im 17. Jahrhundert einzuführen, die sich von der forschungsgeschichtlichen Tradition abhebt. Dabei werden Verfahren, deren Anwendung bislang nur auf die Gegenwartsphasen von Einzelsprachen erfolgte, in die Sprachgeschichte ergänzend eingebaut. Unsere Position wird in den folgenden Kapiteln dargelegt, unter Bezugnahme auf die skizzierten allgemeinen Voraussetzungen für die Sprachgeschichte betrifft der Paradigmawechsel einige elementare Konstellationen: -
Sprachgeschichte erfaßt auch «die reale Erfahrung mit der Sprache» (Coseriu 1980 b, 143), die eine empirische Beschreibung bedingt. Diese Empirie gilt für die Verwendung von Sprache aus der Sicht des Sprachbenutzers. - Die Verwendung gesprochener Sprache ist Untersuchungsgegenstand einer pragmatisch ausgerichteten Sprachgeschichte, die sozialgeschichtliche und interaktive Zusammenhänge auf der Ebene der parole beschreibt. - Die pragmatische Dimension ist ferner ablesbar an den Textfunktionen, die wiederum von der Gestaltung der Textsorten abhängen. So ist etwa die Analyse von Texten, die Alltagskommunikation wiedergeben, insofern sinnvoll, als die Verwendungsbedingungen von Sprache aus der Textsortengeschichte abgeleitet werden können. - Die Konstitution von Gesprächen im 17. Jahrhundert wird uns heute aus gesprächsanalytischen Rekonstruktionen ersichtlich. Dabei steht die Konversationsanalyse, wie sie die nordamerikanische ethnomethodology propagiert, im Hintergrund: Gegenstand unserer Analyse ist die Sprechsprache des 17. Jahrhunderts, und die sprachlichen Gegebenheiten dienen nicht als Ausgangspunkt für die Beschreibung soziologischer oder ethologischer Zusammenhänge, sondern umgekehrt: das Situative wird zur Erhellung des Sprachlichen bemüht. Von daher umfaßt Gesprächsanalyse in unserem Sinn zweierlei: 1. Beschreibungen im Rahmen von Gesprächseinheiten, die die Auswirkungen von interaktiven Zusammenhängen auf die Sprache dokumentieren können; 2. Beschreibungen von grammatischen Einheiten, deren Bedeutung durch den Gesprächsverlauf erst plausibel wird. Inwieweit Dialogfunkn
tion und grammatische Funktion sich wechselseitig bedingen können, wird in den Ansätzen zu einer Dialoggrammatik thematisiert. Diese Gesichtspunkte stellen für die Sprachgeschichtsschreibung in der Romanistik eine Neukonzeption dar, die so zuvor weder postuliert noch ausgearbeitet wurde. In der Germanistik deckt sich diese Vorstellung einer «Sprachgeschichte als historischer Soziolinguistik» (Löffler 1985, 204-210) mit einigen programmatischen Ansätzen (Sitta 1980, Cherubim 1984), aber auch hier zeigt sich eine defizitäre Bearbeitung des Gegenstandsbereiches, der gesprochene Sprache und Textsortenspezifika der Alltagskommunikation erhellen könnte (vielleicht mit Ausnahme von Schikorsky 1990). Hierin liegt das primäre Erkenntnisinteresse, das eine Modifikation der theoretischen und methodologischen Voraussetzungen von Sprachgeschichte erforderlich macht'7. Das innovatorische Moment unserer Untersuchung soll beinhalten: -
neue Quellen Das Gesprächsbuch im Fremdsprachenunterricht ist als sprachgeschichtlich bedeutsame Textsorte noch nicht gewürdigt worden. - neue Themenbereiche Die Formen der Alltagskommunikation sind sprachgeschichtlich in der Romanistik allenfalls marginal beschrieben worden. Die Sprachgeschichte hat sich fast ausschließlich mit der Literatursprache befaßt, wobei auf das Sprachverhalten im Alltag und auf die Geschichte nichtliterarischer Sprachvarietäten nicht eingegangen worden ist18. - neue Zielsetzungen Die Geschichte der gesprochenen Sprache tritt erst seit knapp zehn Jahren als Programm in der Romanistik in Erscheinung (Hausmann 1975). - neue Methoden Gesprächsanalytische Rekonstruktionen wurden nur sporadisch oder fragmentarisch für die Sprachgeschichte nutzbar gemacht. In der romanischen Sprachwissenschaft sind sie nicht geleistet worden. 17
18
Vgl. auch Löffler 1985, 210: «Man müßte die bisherigen Quellen nach neuen Gesichtspunkten wie Sprecherintention, Hörererwartung, Gruppenbezogenheit, Themaerfordernis, soziale Erwartungen und Erfüllungen gliedern und neu zu soziolinguistischen Textsorten gruppieren. Dadurch würde nicht nur die bisherige Sicht der Entwicklung der deutschen Sprache modifiziert, es würden ganz neue Erkenntnisse über die historischen Sprachstufen und über bisher unbeachtete Sprachstile zutage treten und den gesamten Bereich, der seit langem als erforscht gilt, zur abermaligen Erkundung freigeben». Vgl. auch Radtke 1986a, 117: «Die Geschichte nichtliterarischer Sprachvarietäten ist jedoch kaum anhand des präskriptiven Kanons der Normgebungsschriften ausreichend nachzuzeichnen; eine Verlagerung in die Frage der Textsortenselektion dürfte für das Sprachverhalten des ist gleich: = ist kleiner:
schließen zu lassen» (Gülich 1981, 357). eine elaborierte Kommunikation wird abgelehnt: «Aus dieser Haltung heraus geäußert, kann die kommunikative Funktion des Gemeinplatzes - so paradox es klingt - u. U. gerade darin bestehen, die Kommunikation zu verweigern» (Gülich 1981,362).
Die kontinuierliche Reaktivität auf Initiativformeln mit Gemeinplätzen dokumentiert lediglich die Beibehaltung der Interaktion unter Abweisung eines thematischen Eingehens. Kommunikationsfördernde Elemente prallen ab, und das Gesprächsziel bleibt auf die Bestätigung der Interaktion als solche beschränkt. Insofern liegt hier eine Sonderform der Zweckrede vor. Man darf bezweifeln, ob reale Tischgespräche unter Freunden einen solchen Verlauf annehmen. Es ist nicht auszuschließen, daß Fabre dem Leser einige Redewendungen oder boutades vermitteln will und deshalb konsekutiv eine Gesprächsphase mit immer neuen Varianten ablaufen läßt. Andererseits bestehen in intimeren Tischgesprächen Tendenzen, auf einen Kunstgriff - hier die Wiederholung durch variierende Gemeinplätze - als ausschlaggebendes Moment für Erheiterung beständig zu beharren. In diesem Fall würde die Modalität «Spaß» angestrebt werden (Müller 1983).
126
Die bisherigen Unterscheidungen von Makrostrukturen der Gesprächsmitte lassen sich in folgendem Schaubild zusammenfassen: Makrostrukturen der Gesprächsmitte sprachintern formal:
Argumentieren primär dialogdominant
pragmatisch
Zweckrede
kommunikative Funktion
inhaltsbezogen
interaktive Funktion
sprecherbezogen
vs.
Erzählen primär monologdominant
Erzählrede
interaktive kommunikative Funktion Funktion
inhaltsbezogen
Nun stehen Argumentieren und Erzählen, Zweckrede und Erzählrede nicht unabhängig voneinander in der Gesprächsmitte, sondern ihre Verwendungsweisen unterliegen organisierten Gefügen 6 0 . Dabei werden stets Manifestierungen der Zweckrede (Verhandlungen, Interviews, Sachverhaltsdarstellungen) als «Normal»-Form eines Gesprächs gewertet, während die Erzählrede stets einer besonderen Interpretation bzw. auch Legitimation («warum erzählt jetzt jemand etwas?») bedarf. Die Zweckrede ist also die übliche Gesprächsform, während der Erzählung in einem Gesprächszusammenhang eine besondere, herausgehobene Funktion zukommt. So knüpft man an die Erzählung bestimmte Erwartungen: -
Sie füllt ein Informationsdefizit des Zuhörers (Kallmeyer/Schütze 1977, 169; Gülich 1980, 339). Sie belegt eine Argumentation oder eine Sachverhaltsdarstellung.
Mit anderen Worten: Die Erzählrede nimmt im Interaktionsverlauf eine Funktion wahr in Relation zur Zweckrede (Gülich 1980). Daneben treten auch Erzählungen auf, die diesen Erwartungen nicht genügen, d. h. die nicht in ein Handlungsschema eingebettet sind (Gülich 1980 spricht deshalb von nichtfunktionalen Erzählungen). Diese Erzählungen, die nicht an ein Handlungsschema gekoppelt sind, haben keinerlei Relevanzsetzungen zum Handlungsschema als Ganzem (vgl. auch Gülich 1980, 363). F ü r diese nichtfunktionalen Erzählungen ist das Bemühen um eine besonders elaborierte sprachliche Fassung kennzeichnend (Gülich 1980, 3 6 0 - 3 7 1 ) . F ü r unsere Musterdialoge ist diese Unterscheidung recht problematisch, weil sie von längeren Gesprächsverläufen ausgeht. Zwar liegen recht um60
Als ausführlichste Darlegung zur Konstitution von Kommunikationsschemata vgl. Kallmeyer/Schütze 1977.
127
fangreiche Dialoge vor, doch zumeist werden Geschichten weniger als Teile eines Gesprächs gesehen, sondern als eigenständige Einheit, die aus größeren Handlungsschemata ausgesondert werden. Dies ist z. B. bei dem dialogue du mariage von Rayot 1644 der Fall. Aus diesem Grunde ist es auch obsolet, Handlungs- oder Sachverhaltsschemata erfassen zu wollen, weil die gegebene Künstlichkeit der Mustergespräche sich auf der Ebene der Makrostrukturen eher zeigt als auf der Mikroebene. Je länger ein Gespräch ist, desto intensiver ist zudem die Anlehnung an die Schriftsprachlichkeit zu beobachten. Darüber hinaus tendieren gerade längere Gesprächspartien zur Zweckrede. Von daher kann die Frage nach der Funktionalität von Erzählungen nicht beantwortet werden. Dennoch lassen sich hinsichtlich der so verstandenen Funktionalität bestimmte elementare Gesprächsorganisationen erkennen. A m häufigsten liegt eine Anordnung vor, die ein neues Thema in den Sachverhalt einbezieht und darauf ausgerichtet ist, die Argumentation und die Interessen des Sprechers zu stützen wie z.B. bei Lanfredinis Dialog in einer Kutsche 1673,193-195: TITIUS, Non pas cela, Monsieur, ie vous en prie, & on doit en user ainsi à vôtre égard. Touche Cocher vite, & prens garde à toy, que le Carrosse ne verse pas en passant les pons étroits. CAIUS, Le plus important, c'est qu'il ne s'enyvre pas, car il nous ietteroit tous dans quelque fossé. TITIUS, VOUS me pardonnerés, il ne fait iamais mieux son devoir, que lors qu'il est yvre. CAIUS, Voilà une hôtelerie, voulés-vous que nous nous arrêtions pour faire collation, le vin a coûtume d'y être bon. Tinus, Non pas s'il vous plaît, c'est trop tôt si vous le trouvés bon faisons encore un poste, les chevaux se sont assez reposés dans l'ecurie. CAIUS, Comm'il vous plaira, nous en aurons meilleur appétit à dîner (...)
Man kann entweder annehmen, daß das Thema des Alkoholkonsums des Kutschers abgelöst wird durch das Vorbeifahren an einem Gasthaus, so daß ein nicht vorprogrammierter Themenwechsel vorliegt, oder vermuten, daß die Trunksucht des Kutschers das neue Thema einer Rast vorbereitet («le vin a coûtume d'y être bon»). Im ersten Fall läge die schon angesprochene Vorliebe für Klatschthemen vor, im zweiten Fall liegen bewußt oder unbewußt assoziierte Themensprünge vor, wobei der Alkoholkonsum des Kutschers eingebettet wird in ein Rast- oder Trinkbedürfnis. Der erste Sachverhalt fungiert als Vorbereitung auf das eigentliche Thema. Die Funktionalität betrifft dabei die Handlungsebene. Die vorgespannte Aussage über den Kutscher wäre dabei fest integrierter Bestandteil der Zweckrede. Da die Funktionalität in diesem Sinne nicht eindeutig nachweisbar ist und mehr oder weniger eine Gesprächsstrategie unterstellt wird, soll die funktionale Erzählung an einem weiteren Gesprächstyp nachvollzogen werden, nämlich im Zusammenhang mit der Bitte zum Sekundieren beim Duell. Diese Bitten werden häufig in die Gesprächsbücher aufgenommen. Die Anordnung erfolgt recht stereotyp: Einem Freund oder einem Bekannten wird von einer Streitigkeit berichtet, an 128
die sich die Bitte zum Sekundieren anschließt, der nicht durchweg nachgekommen wird 61 . Die vorgelagerte Erzählung fungiert lediglich als verständnisweckende Legitimation für den erbetenen Beistand: Bonjour Monsieur, dormez vous encore? Pourquoy Monsieur? vous n'avez pas accoutumé de vous lever si matin. Quel dessein avez vous? (ou) quelle est vôtre resolution, qui vous fait venir? (ou) qui vous conduit si matin chez moy? Je vous le diray, mais je vous supplie de vous lever promptement. Je me jetteray incontinent à bas du lit, en cas qu'il y aille de vôtre service. Vous devez sçavoir que Monsieur N. me donna hier à souper de sa grâce: étant à table, il fut question de boire plusieurs santez, & nonobstât mes excuses & protestations, il me falut vuider les verres comme les autres. Voilà qui va bien, quand on est avec les loups il faut hurler, ou pour mieux parler, quand on est à Rome il faut faire comme les Romains. Et bien achevez. Pour vous le faire court, j'eus une petite prise avec Monsieur Paul. Je m'en suis bien douté, mais pour quel sujet? Pour fort peu de chose, ce fut pour une santé qu'il dit que je n'avois pas eiie; en après il me reprocha que j'avois répandu plus de la moitié du vin qui etoit dans le verre. Si ce n'est que cela, il y a bien moyen de vous rapatrier. D'un discours nous en vînmes à un autre. En fin d'un ton de voix plus haut, il dit que j'avois menti. Alors je levay la main pour le frapper, & sans Monsieur André qui me retint le bras, je luy eusse donné un bon soufflet; (ou) je luy eusse couvert la joiie. Nat'on (sic!) pas taché de vous accorder sur le champs? Ouy bien, mais je pris mon manteau, ne pouvant plus long temps supporter ses bravades. Vous avez fort bien fait, chien qui abboye, mord rarement, ceux qui ont tant de caquet font fort peu d'execution. Je desire de vous servir en cette occasion-cy & en toutes autres, employez moy librement, si vous me tenez pour vôtre amy. Monsieur je suis marry de vous donner tant de peine, mais puis qu'il vous plaît me servir de second, vous vous en irez là luy parler de ma part, & luy direz que je l'attens seul avec une epée, à Catvic. Monsieur je vous remercie de l'honneur que vous me faites de m'employer dans une occasion, en laquelle je feray paroitre que je suis vôtre serviteur, mais ne me donnez vous pas un Cartel? (Parival 1670, 1 0 4 - 1 0 7 ) Die Funktion der Erzählung über den Streit wird vom Gesprächspartner schnell richtig eingeschätzt, denn nach Fragen zum Verlauf und Kommentierungen mittels Gemeinplätzen («quand on est avec les loups il faut hurler» usw.) bietet er sich selbst als Sekundant an. Die Erzählung ist also nicht um ihrer selbst willen wiedergegeben worden wie bei den bavardages
(vgl. Stem-
pel 1984), sondern ist unverzichtbarer Bestandteil in einer größer angelegten Zweckrede. Sämtlichen Bitten um Beistand im Duell geht eine solche erklärende Erzählung in der Dialogführung des 17. Jahrhunderts voraus. 61
So war das Duellieren in Holland und in weiten Teilen Deutschlands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verboten «bey hoher Strafe und dem Bann» (Parival 1670,107). 129
Wie bereits gesehen, dominiert in den Musterdialogen eindeutig die argumentierende, konstatierende oder beschreibende Wechselrede des Alltagsklatsches. Die geringe Bedeutung der Erzählungen läßt solche rekurrenten Gesprächsmuster einleitende Erzählung über vorgefallene Streitigkeit - Bitte um Beistand im Duell - Nachkommen/Ablehnung der Aufforderung nicht in der Gesamtheit der Texte festhalten: Zahlreiche Gesprächsbücher klammern Erzählungen a priori aus, da sie für den Unterricht zu kompliziert zu sein scheinen, sie reduzieren angeblich die gewünschte Dialogfahigkeit. Für die Sprachmeister und -lehrer bedeutet in der Regel Fremdsprachenkompetenz eine elementare Verständigung in der Wechselrede zur Bewältigung von Alltagssituationen. Lediglich bei unerläßlichen Erzähleinschüben wie bei der Beistandsbitte im Duell kommt die Erzählung zum Tragen. Sie findet manchmal Eingang in Alltagsgesprächen, ohne dort regelmäßig integriert zu sein; so nehmen Verkaufsgespräche allerdings selten Bezug auf frühere Verkaufssituationen zumeist in anderen Ländern, sie sind aber insofern funktional, als sie darauf hinwirken können, den Preis zu drücken oder die vergleichsweise schlechte Produktqualität des Anbieters zu betonen. Ebenso sparsam wird von Belegerzählungen für vorausgegangene Sachverhaltsdarstellungen Gebrauch gemacht, Duëz 1653,788-789, gibt einen solchen Beleg für den Schwatz in der Alltagskommunikation: (Gesprochen wird über die Jagd). C'est un contentement incomparable, de voir de bons chiens poursuivre gaillardement vne beste, & d'avoir vn bon cheval entre les jambes, pour courir après. Je le croy, quand on est bien monté. Autrement c'est vne peine & vn tourment ineffable. J'aimerois autant aller à pied, que de monter vn cheval qui trotte. Et moy aussi. Nous fusmes seulement Lundy passé un peu pourmener, si tost que nous eusmes disné, & parce que j'avois une meschante haridelle, qui trottoit furieusement dur, j'estois comme rompu & estropié de tous les membres, après que nous fusmes de retour. Aussi vray, cela travaille bien un homme. Autrement je suis assez bien fait à la fatigue.
Die kurze Erzählung belegt lediglich einen wohlbekannten, allgemeingültigen Sachverhalt, wobei allerdings die egozentrische Referenz und die Expressivität mit Hilfe der Erzählung ausgebaut wird. Denn die Erzählung als solche ist eher banal62. Die sprachliche Form verleiht der Erzählung einen herausgestellten Wert, weil anstelle der sachverhaltsneutralen Berichtweise die adjektivischen und adverbialen Intensivierungen und Mittel der Hervorhe-
62
Nach Stempel 1984, 157, scheint die verbalsprachliche Tätigkeit in der Offenheit des Gesprächsverlaufs um sich selbst zu kreisen. In der Erzählung selbst bestehen ein starker Kondensierungszwang und eine Relevanzfestlegung bezüglich des Themas. 130
bung der Erzählung einen emphatischen, vor allem identitätsprojizierenden Charakter verleihen 63 . Damit geht ein Abweichen vom Standard einher, indem übersteigerte Ausdrücke der familiären Umgangssprache wiedergegeben werden («furieusement dur»). Die Erzählung beeinflußt das Thema nicht, sondern unterstützt es lediglich, ohne auf eine Weiterentwicklung im Gesprächsverlauf hinzuwirken. Solche für die heutige Alltagssprache geradezu charakteristischen Erzählungen (Ehlich 1980) werden im Dialogbuch des 17. Jahrhunderts zumeist ausgespart, weil sie für die Zweckrede allgemein und für das Voranschreiten des Handlungsaufbaus im Gespräch wenig förderlich sind. Belege wie Duëz 1653, 788-789, untermauern, daß auch dieser Erzähltyp in der Alltagskommunikation des 17. Jahrhunderts genauso geläufig gewesen sein dürfte wie heute. Die Kategorisierung Zweckrede vs. Erzählrede und die damit verbundenen Untergliederungen sagen noch nichts über die Gesprächsthemen selbst aus. Die Gesprächsanalyse geht davon aus, daß thematische Rahmen die Einheiten der Analyse wiedergeben: «Größere G[espräch]-seinheiten können über eine thematische Analyse von G[espräche]-n ausgegrenzt werden» (Schank/Schwitalla 2 i98o, 320). In der Alltagskommunikation sind grundsätzlich alle Themen denkbar, und thematische Klassifizierungen sind unergiebig, denn jedes Thema würde ein eigenständiges Gruppierungsmoment darstellen. Diese Offenheit hinsichtlich des Themenkataloges trifft nun aber nicht für die idealisierten Musterdialoge zu: Die Wahl der Themen ist äußerst streng begrenzt, und die Inhalte im Gesprächsverlauf werden ebenso kanonisiert wie die situativen Rahmenbedingungen. In Anbetracht dieser Selektion bietet sich eine Auflistung der rekurrenten Themenbereiche an. Die Ausgrenzung der Themen wird oftmals schon von der Dialogüberschrift geleistet wie etwa bei Duëz 1653: Premier Dialogue. Du lever, & des habits. (Duëz 1653, 607) Second Dialogue. Du boire & manger. (Duëz 1653, 662) Dialogue Troisième. De la Promenade, de la visite, du logement, & d'aller coucher. (Duëz 1653, 718) Dialogue Quatrième. Des exercices d'un Cavalier, & de voyager. (Duëz 1 6 5 3 , 7 7 1 )
63
Zur Hervorhebung vgl. die Werke von Bally 1909 und 1932, Spitzer 1922 und Gossen 1954 für die italienische Syntax, Beinhauer 1963 für das Spanische, Kröll 1985 für Determinativa im Portugiesischen, zur Intensivierung durch Adjektive im Portugiesischen vgl. Cruzeiro 1973, 1 2 0 - 1 7 6 . Bezeichnenderweise führt Söll 2 i98o die Termini Intensivierung und Hervorhebung für das français parlé nicht, allerdings wird unter Subjektivität die Neigung zu bildhaften Wendungen und zum übersteigerten Ausdruck aufgeführt (Söll 2 i98o, 61).
131
Überwiegend wird für einen Dialog ein Thema angesetzt, wobei die Themenbereiche wie bei Duëz 1653 weniger den inhaltlichen Aspekt erfassen als die situative Einbettung. Oftmals läßt sich gar kein übergreifendes Großthema herausarbeiten, vielmehr werden Situationen ohne kohärentes Großthema aufbereitet. Es handelt sich dabei zumeist um eine offene Folge von lose, assoziativ miteinander verbundenen Einzelthemen, die lediglich der Anforderung an die Aufrechterhaltung einer sozialen Beziehung nachkommen: Quand partirez vous d'icy? Je ne le sçay pas moy même. Je croy que ce sera sur la fin de Juin. Quând reviendrez vous en Ville? Nous y reviendrons à la Sainct Michel. Demeurez vous loin de la Haye? A trente milles d'icy. Par quelle voye irez vous? Nous y irons en Carosse. Estes vous proche de la Mer? Nous n'en sommes qu'à six milles. Est ce un pais de Chasse? Le plus beau de Pays bas. Y avez vous une belle maison? Fort grande, & fort belle. Avez vous bien du Poisson en vôtre pais? Nous en avons de toutes sortes. Avez vous un Parc? Nous n'en avons point. Aimez vous la campagne? Je m'y plais bien en Esté. Aimez vous mieux la Ville? Ouy, en hyver. Avez vous force Givier en vôtre pais. Ouy Monsieur. Allez vous à la Chasse? J'y vay tous les jours. Tuez vous du Gibier? Quêque fois. Ne vous importune - je pas? Point du'tout. Quand reviendray - je icy? Quand il vous plaira. (Mauger 1686,126-127)
Dieses vollständig wiedergegebene Gespräch ist aufgrund seiner Anlage von Kurzfragen mit sich ausschließenden, knappen Antwortteilen kein Beleg für tatsächliche Dialogabläufe. Jedoch kann man von der Intention, dem Lehrbuchbenutzer einen minimalen Fragekatalog mit konzisem Antwortschema zu präsentieren, davon ausgehen, daß eine gewisse Sprachfertigkeit für den sog. small talk vermittelt werden soll. Dieser small talk als eigenständige 132
Textsorte in der Alltagskommunikation 64 ist gekennzeichnet durch das Fehlen eines Großthemas und aus der Abfolge von zumeist knappen Einzelthemen, die die Aufrechterhaltung der getroffenen sozialen Beziehung konstituieren. Schank 1977, 238, sieht die «gemischte Themenbehandlung» als Merkmal des small talk an, zu ergänzen wäre dabei, daß die Themenwechsel sich rasch und oft abrupt vollziehen, ohne markante Ausdruckssignale für Themenanfang und -ende, wie es sich in der Passage von Mauger 1683,126-127, überpointiert abgezeichnet hat65. Aufgrund der strikten Abtrennung von Großthemen in jeweilige, nichtübergreifende Dialoge und der Loslösung bzw. Isolierung von Einzelthemen geringeren Relevanzgrades fehlen in den Gesprächen zumeist themeneinleitende Signale, lediglich Wendungen zur Einhaltung des Themas können vereinzelt nachgewiesen werden wie Mais pour revenir au propos de vostre voyage, dites moy, je vous prie, quel chemin voulez-vous prendre? (Duèz 1669,481). Aber Formulierungen zum Themenwechsel oder zum Rückgriff auf bereits angeschnittene Themen und dafür vorgesehene Gesprächswörter (Henne 1978) werden kaum vermittelt und tauchen eher zufällig auf. Das Gespräch im Lehrbuch des 17. Jahrhunderts setzt sich entweder aus einem Großthema mit hohem Relevanzgrad oder aus sprunghaften Themen im small talk mit niedrigem Relevanzgrad zusammen66. Die folgende Übersicht S. 134 listet die das Gespräch beherrschenden Großthemen auf, wobei der Komplex nicht-zentrierter Themen als small talk aufgenommen worden ist. Um Entwicklungen in der Themenwahl der Textsorte zu erkennen, ist auch die anonyme manière de langage von ca. 1396 (= M L ) herangezogen worden, für das 18. Jahrhundert sind Mauger/Kramer 1745, Des Pepliers 1763 und Veneroni 1780 bemüht worden. Da Veneroni 1752 im Themenauf-
64
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66
Diese Zuweisung nimmt Schank 1977 auch für die gesprochene Alltagssprache vor. Innerhalb der Alltagskommunikation bestehen jedoch Gesprächsformen, die auf einem Großthema beruhen und nicht dem small talk zuzurechnen sind wie etwa der Dialog über die Ehe bei Rayot 1 6 4 4 , 4 1 - 5 1 . Für das gesprochene Deutsch gelten Formulierungsanfänge wie übrigens, hör mal, in dem Zusammenhang fällt mir ein als themeneinleitende Signale (Schank 1977, 235)Z u m Relevanzgrad vgl. Schütze 1971, Schank 1977, speziell für den small talk gilt: «Aufeinander folgende Themen dürfen hinsichtlich des Relevanzgrades nicht zu stark voneinander abweichen». Die Bedeutung der Relevanz wurde bereits von Grice in seinen Konversationsmaximen erkannt, ohne, wie er selbst einräumt, die Bestimmung der Relevanz zufriedenstellend zu leisten: «A la qualité R E L A T I O N je rattache donc une seule règle: x> xi ¡» tO 1 1 1
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im Italienischen reduziert
thematischer Ausbau (Beispiel: Verkaufsgespräch)
reduzierte Verhandlungsinteraktion
ausgebaut
Tendenzen in der Gesprächskonstitution auf der Makroebene: Die heutige Situation im Vergleich zum 17. Jahrhundert
nen sich etwa im Verkaufsgespräch (3.2.2.2.) unterschiedliche Gesprächsorganisationen ab, die zueinander cum grano salis in Beziehung gesetzt werden können. Die angedeuteten Tendenzen deuten eine Entwicklung an, die Gesprächsphasen formal stabilisiert, d.h. die Variationsbreite des 17. Jahrhunderts ist weitgehend reduziert und auf wenige Formen hin vereinheitlicht worden. Weniger Formen bedeutet unmißverständliche Festlegung des Konventionalitätscharakters. Besteht im 17. Jahrhundert ein beachtlicher Spielraum an kreativen Gestaltungsmöglichkeiten etwa in der Phasensteuerung des Verkaufsgesprächs oder in den Begrüßungsmodalitäten, so präsentieren sich in der Gegenwartssprache Züge der Vereinfachung. Mit anderen Worten: Die angesprochenen Gesprächsphasen sind eindeutig formal determiniert, die knappe Strukturierung hat die kreativere Phasengestaltung im 17. Jahrhundert abgelöst. Offensichtlich orientiert sich das Alltagsgespräch im 17. Jahrhundert primär an der sozialen Stellung des Partners bei der Begrüßung und bei der Verabschiedung. Sie bestimmen die Anlage des Gesprächs und sind für die Rollendefinition ausschlaggebend. Heutige Gespräche richten diese eröffnenden bzw. schließenden Gesprächsphasen an dem Vertrautheitsgrad aus, d.h. Fremdheit oder Bekanntheit setzen den Ablauf eines Dialoges fest. Beide Qualitäten stellen eine gemeinsame Kommunikationsbedingung dar, indem sie die Skala soziale Nähe vs. Distanz gliedern. Auch die gelegentlich bemühte Opposition Öffentlichkeit vs. Privatheit wäre hier einzuordnen 7 , wenn-
i
Eine ähnliche Auffassung findet sich bei Koch 1986,117.
336
gleich sie in den Dialogen des 17. Jahrhunderts nicht vorgesehen ist. Die Kommunikationsbedingung soziale Nähe vs. Distanz steuert die Gesprächsorganisation und wird in der Eröffnungs- und Schlußphase als Teil der Gesprächsroutine indiziert. Nicht alle Charakteristika der Gesprächskonstitution sind rein sprachlicher Natur. Wenn dem Verkaufsgespräch eine Tendenz zur Vereinfachung nachgesagt wird, kann dies auch eine Vereinfachung des Verkaufens meinen, d. h. ein Begriff aus der Sachwelt ändert sich, nicht aber a priori der Gesprächsaufbau. Damit wird nicht mehr die sprachliche Fassung analysiert, sondern die Beschreibung von Zusammenhängen aus der Sachwelt. Im Grunde spiegelt sich hierin das Problem der amerikanischen ethnomethodology, die Gespräche als Bestandteil der Verhaltensforschung sieht. Von daher hat sich aber unsere Untersuchung unterschieden, indem sie eine sprachliche Beschreibung der Begrüßung oder der Höflichkeit verwirklicht, so daß allenfalls Außersprachliches die linguistische Analyse stützt, nicht aber umgekehrt. Auf der Mikroebene sind nur vergleichsweise geringfügige Änderungen im Formenbestand zu verzeichnen. Die kommunikative Steuerung durch Partikeln ist damals wie heute eine Konstante der Kommunikationspraxis. Zwar erfahren Gesprächswörter als offene Klasse rasch Veränderungen, aber die Technik des Sprechens sowie ein beachtlicher Bestand an Partikeln haben ihre Funktion in der Gesprächskonstitution bewahrt. Womöglich neigt die Darstellung des Sprecherempfindens mittels Interjektionen zu einem Rückgang, da die im 17. Jahrhundert verzeichnete Verwendung heute nicht immer der Gebrauchsnorm entspricht, während die Kontaktfunktion von Interjektionen keine nachweisbaren Veränderungen zeigt. Aber in diesem Fall kann es sich höchstens um graduelle Nuancierungen handeln. Grundsätzlich sind die kommunikativen Abläufe eines Alltagsgesprächs reproduzierbar, und die Rekonstruktionen erklären auch heutige Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Alltagsdialogen in literarischen Texten des 17. Jahrhunderts selbst bei gegebenem wörtlichen Verständnis: die kommunikativen Rahmenbedingungen sind nicht immer bekannt, so daß Verstehensprobleme aufgrund der eigenständigen, unterschiedlichen Gesprächsgestaltung im 17. Jahrhundert nicht verwundern.
4.2. Die Textsortenselektion in der Sprachgeschichte In 2.r. ist die Bedeutung von Gebrauchstexten für die Rekonstruktion des gesprochenen Französisch und Italienisch herausgestellt worden. Von allen in Frage kommenden Textsorten scheint das Gesprächsbuch u. E. am nächsten der gesprochenen Sprache im Alltag zu kommen. Wir haben aus ihnen eine textsortenspezifische Gesprächskonstitution abgeleitet, leider fehlt es an vergleichbaren Untersuchungen zu anderen Textsorten dieses Bereiches, an 337
denen unsere Ergebnisse überprüft werden könnten. Zwar bestehen andere Verschriftlichungen dialogischer Kommunikation, aber: -
-
-
Gerichtsprotokolle als mögliche Textsorte verzichten weitgehend auf eine dialogische Kommunikationsanordnung; sie erschöpfen sich in einer resümierenden Darstellung. Sie werden nicht durch eine wörtliche Wiedergabe charakterisiert (sog. Wortprotokoll), sondern stellen als Ergebnisprotokoll eine Textsorte dar, die die institutionell bedingte Verschriftlichung mündlicher Kommunikation abbildet. Für die Wiedergabe von Gesprächsabläufen ist sie aber nicht geeignet. Tagebücher bzw. Autobiographien verzichten zumeist in wörtlichen Wiedergaben von Gesprächen auf die gesprächssteuernden Mechanismen der Eröffnung oder der Partikeln. Gesprochene Sprache findet sich meist in reduzierter Form, die von der Verschriftlichung merklich beeinflußt ist. Literarische Werke berücksichtigen oft nicht die Versuche der Sprecher, auf eine gegenseitige Situationsfindung einzugehen. Diese wird etwa im Theater ausgespart. Es handelt sich in aller Regel um geplante Diskurse, denen aus literarischen Zwecken und um der Praktikabilität willen die Spontaneität entzogen worden ist.
Damit soll anderen Textsorten gegenüber keine Geringschätzung ausgesprochen werden, nur bietet das vorgelegte Quellenmaterial Einblicke in eine Kommunikationspraxis, die andere Textsorten in dieser Fülle kaum einarbeiten dürften. Neben der Rekonstruktion gesprochener Sprache ist versucht worden, einen Beitrag zur Textsortengeschichte zu leisten, wie sie in jüngster Zeit in der Germanistik vor allem programmatisch gefordert wird: Eine soziolinguistisch eingefärbte Sprachgeschichte kann nicht mehr von der deutschen Sprache handeln. Sie kann ihre Aussagen pro Epoche immer nur auf die Textsorten beziehen, an denen Beobachtungen gemacht wurden. Ein neues Verhältnis zu den historischen Quellen, auch solchen eher niederer Gattung, bilden (sie!) hierzu die Datengrundlagen. Erste Versuche, mit soziolinguistischem Raster textsortenspezifische Sprachgeschichte zu betreiben (...) deuten an, daß es auch früher Funktionalstile und eine Reihe von Textsorten mit eigenen sprachlichen Merkmalen je nach Status von Text und Benutzern gegeben hat. (Löffler 1985, 209-210)
Dieses Desiderat gilt nicht weniger für die Sprachgeschichtsschreibung in der Romania, und insbesondere hier scheint ein Umdenken vonnöten zu sein, wenn man Gebrauchstexte nur in Ermangelung literarischer Texte in den frühen Stadien der Sprachentwicklung bemüht wie die Straßburger Eide oder die Placiti cassinesi. Die Textsorte, wie sie in 2.2. und 2.3. geschichtlich umrissen worden ist, repräsentiert eine Sprachwirklichkeit, die zudem den Rang des Französischen bzw. Italienischen im Europa des 17. Jahrhunderts illustriert. Eine Studie zur Bestimmung der französischen und italienischen Alltagssprachlichkeit im 17. Jahrhundert stößt immer wieder auf Textsortenspezifi-
338
ka wie die weitgehend unterbliebene Berücksichtigung von Rückmeldesignalen (3.3.2.). Die Beschreibung der gesprochenen Sprache hängt von der Repräsentation in der Textsorte ab, sie ist Reflex des Gesprochenen, soweit es der Aufbau der Textsorte zuläßt. Um ein noch nuancierteres Bild von der Beschaffenheit des français parlé zu erhalten, muß die Sprachgeschichte Gebrauchstexte aus dem Alltag in Zukunft stärker in ihre Gesamtwertung einarbeiten. Dazu steht selbst eine systematische Sichtung der vorhandenen Quellen aus. Nur das Konsultieren neuer Textsorten wird den vagen Inhalt von Alltagssprachlichkeit im 17. Jahrhundert verbindlicher fassen können, als es unsere Untersuchung einer Textsorte zu leisten vermag.
4.3. Norm, Gebrauchsnorm und Subnorm In 2.2. ist festgehalten worden, daß zahlreiche Sprachlehrer als Flüchtlinge aus Glaubensgründen oder aus finanzieller Not im Ausland ihren Beruf wählten, der nicht hoch im Ansehen stand (Streuber 1914). Ebenso mittelmäßig waren mitunter auch die Französischkenntnisse. Sie lehrten die Sprache so, wie sie sie sprachen, und so wurde sie auch in den Musterdialogen publiziert. Die Normansprüche sind also entsprechend niedrig zu stellen, und die meisten Gesprächsbücher führen keine mustergültigen Dialoge vor, sondern verstehen sich als ein Abbild der Alltagswirklichkeit. Formen der Gesprächsführung sind zwar im 17. Jahrhundert des öfteren in speziellen Anleitungen vorgeschrieben worden (Strosetzki 1980), aber sie klammern den Umgang mit niederen Ständen oder das banale Wirtshausgespräch aus. Das Sprachverhalten des kleinen Mannes oder mit dem kleinen Mann von der Straße war nicht präskriptiv sanktioniert, vielmehr wird es von Gebrauchsnormen bestimmt, deren Kenntnisse zur Bewältigung des Alltags als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Diese nicht fixierte statistische Norm ist verbindlich. Sie regelt den Gebrauch von Gesprächstechniken wie Höflichkeit und sprachliche Routine. Sie ist also nicht dem System der Sprache immanent, sondern wählt aus den Möglichkeiten des Systems bestimmte Realisierungen aus als eine Art «intermediäre Norm» zwischen langue und parole (Coseriu 2 i97i, 65). Die Textsorte «Gesprächsbuch» stellt diesen Bereich heraus, der sozial akzeptiert ist, wenngleich er nicht automatisch mit dem bon usage einhergeht. Die Verfasser der Lehrbücher schreiben vielfach an dem bon usage vorbei, die Sprachnormierung in Paris wird nicht unbedingt von Sprachlehrern in deutschen oder flämischen Provinzen zur Kenntnis genommen. Vom Gesprächsarrangement her richtet man sich an Gebrauchsnormen, auf der Wort- und Satzebene können sich sogar Substandardrealisierungen einfinden, die keine Präsenz in einem Lehrbuch verdienten. Die Sprechsprache ist hier nicht unter diesem Aspekt untersucht worden, aber die Textpassagen enthalten zahlreiche Beispiele. Besondere Beachtung sollte bei weiteren Un339
tersuchungen dem Bereich zukommen, der heute sprechsprachlich geduldet, aber schriftsprachlich nicht der Norm entspricht wie E da Venetia, cosa vi scrive il Signor Domenico. (Lieutaud 1677, '44) Die Ellipse cosa zu che cosa dominiert zwar gegenüber der Vollform im italiano parlato, aber von den Puristen wird sie deswegen noch nicht toleriert 8 . Fragwürdig ist auch die dialektale Verwendung von Ausdrücken, die auf das romanesco verweisen, so beim Suffix -aro gegenüber toskanischem -aio: macellaro (Lieutaud 1677,140; Chiarelli 1681,270) portinaro (Lieutaud 1677,142) Ii marinari (Lanfredini 1673, 2 I 4 ) lavandara (Chiarelli 1681,270) Hier dringt eine markierte Regionalsprachlichkeit durch, die römische Formen über florentinische stellt. Bei Lanfredini 1673, 225, findet sich mi dichino il loro nome, eine Form, die zur klassisch-ironischen Beispielgruppe des heutigen italiano popolare mit vadi oder venghi gehört. Wenngleich Dante dichi und Machiavelli convenghi, venghino kennen (Rohlfs 1969, § 555), lassen die Grammatiker diese Konjunktive im Seicento nicht mehr zu, so daß unser Autor zu einem frühen Vertreter des italiano popolare gezählt werden könnte. Die Geschichte des sprachlichen Substandards ist für das Französische und Italienische noch weitgehend ungeschrieben, aber die hier gewählte Textsorte bietet mannigfache Anhaltspunkte, die Varietät halbgebildeter Sprachlehrer für die Geschichte des sprachlichen Substandards auszuwerten 9 . Sowohl die usuellen Normen von Gesprächsabläufen als auch die Spannung zwischen Norm und Subnorm in Grammatik und Wortschatz korrigieren die bestehende Sprachgeschichtsschreibung. Gebrauchsnorm und Subnorm als Themen einer historischen Alltagssprachlichkeit sind in der Romanistik noch weitgehend unbehandelt geblieben.
4.4. S p r a c h w a n d e l : K o n t i n u i t ä t u n d B r u c h Trotz aller bereits angedeuteten Schwierigkeiten kann eine gesprächsanalytische Auswertung aus zwei unterschiedlichen Zeiträumen bedingt zum Vergleich herangezogen werden. Der Gesprächsaufbau von Gesprächsbüchern des 17. Jahrhunderts und in heutigen, natürlichen Dialogen unterliegt dem Sprachwandel (vgl. 4.1.). Sprachgeschichtlich werden die beiden diachronen Varietäten des 17. Jahrhunderts und des heutigen Französisch einer gemein-
8
9
Vgl. auch zur sprachhistorischen Filiation des Polymorphismus der Interrogativpronomen für Sachen im Italienischen (cfte/c/ie cosajcosa) Radtke 1993. Vgl. Radtke 1986a zum Substandard in der Sprachgeschichte anhand von Grammatiken des 17. und 18. Jahrhunderts. 340
samen Sprachstufe zugeschrieben, bei von Wartburg 9 1969, 167-189, dem français moderne und bei Müller 1975, 36, dem Neufranzösischen. Diese Einteilung basiert auf phonetischen, morphosyntaktischen und lexikalischen Kriterien, die in den letzten dreihundert Jahren eine relative Stabilität bewahrt haben. Die Sprachgeschichtsschreibung empfindet diesen Zeitraum als Epoche der Stabilität, Sprachveränderungen schlagen sich nicht so markant nieder wie in den Zeiträumen zuvor. Von der pragmalinguistischen Seite stellt sich die Frage nach dem Sprachwandel gleichermaßen. Zwar setzen sich Gespräche aus konstanten, übereinzelsprachlichen Merkmalen, wie wir sie als Beschreibungsgrundlage der Makro* und Mikroebene gewählt haben, zusammen, aber die Vollzugsmittel etwa eines Gesprächsabschlusses oder der Abtönung sind offensichtlich Schwankungen unterworfen. So sind etwa die Grußformeln als herausgestellte pragmatische Indikatoren sehr stark für Sprachwandel anfällig. Die Sprachhistoriker des Französischen haben sich bislang der radikalen Erneuerung der Grußformeln nicht angenommen, aber im 19. und 20. Jahrhundert dürften Verschiebungen eingetreten sein, die im Kontrast zur Begrüßungspraxis im 17. und 18. Jahrhundert stehen:
Begrüßung 20. Jahrhundert
17. Jahrhundert zu Gesprächspartnern mit gleichem oder höherem sozialen Status
zu Gesprächspartnern mit niedrigerem sozialen Status
zu Gesprächspartnern mit geringem Bekanntheitsgrad
zu Gesprächspartnern mit hohem Bekanntheitsgrad
bonjour-Typ (tageszeitlicher Gruß)
hola (Interjektion)
bonjour-Typ
salut (ca. seit 1920)
Dieu vous gardeTyp (religiöser Gruß)
(t)chao (seit ca. 1945)
(Votre) Serviteur Servante (soziale Demutsformel) soyez le bienvenu (Willkommensformel) Gliederung nach sozialer Dimension
Gliederung nach Bekanntheitsgrad 341
Verabschiedung 17. Jahrhundert
20. Jahrhundert
zu Gesprächspartnern mit gleichem oder höherem sozialen Status
zu Gesprächspartnern mit niedrigerem sozialen Status
niedriger Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner
hoher Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner
adieu
adieu
(adieu)
(adieu)
bonjour-Typ au revoir
bonjour-iyp à bientôt
Dieu vous garde bonjour-iyp
(t)chao
(jusques) au revoir
salut
(Votre) Serviteur Servante Je vous baise les mains Gliederung nach sozialer Dimesion
Gliederung nach Vertrautheitsgrad
Bei der vereinfachten Übersicht - die detaillierte Darstellung findet sich in 3.2.1. und 3.2.4. - zeichnet sich ein Bruch ab, indem das Grußrepertoire auf der Grundlage der sozialen Hierarchien von einem Grußsystem auf der Grundlage des Vertrautheitsgrades abgelöst wird. Diese Tendenz wird im 20. Jahrhundert ausgebaut und sanktioniert. A l s Übergangszeit des Umschwungs ist das 19. Jahrhundert anzusehen (Radtke 1989), wenngleich erste Anzeichen für eine Neuorientierung sich bereits im 17. Jahrhundert manifestieren, etwa mit dem anfangs noch zögernd aufkommenden (jusques) au revoir. Für das Grußrepertoire wird jedenfalls in der neufranzösischen Entwicklung kaum die Kontinuität im diachronen Ablauf bezeugt werden können. Solche Brüche finden sich ebenfalls auf der Mikroebene bei den Gesprächspartikeln. Ihre kommunikative Funktion unterliegt mitunter Stabilitätsschwankungen, wofür etwa die Abtönungen des Sichversicherns stehen:
342
Abtönungen des Sichversicherns 17. Jahrhundert
20. Jahrhundert
I.
bien sûr certes certainement
certes pour certes certainement assurément je m'asseure que etc.
II. en vérité dans la vérité à la vérité véritablement vrayement pour dire vray je vous jure que
vraiment pour vrai dire
Dieses Begriffsfeld ist im 20. Jahrhundert im Stellenwert entscheidend gesunken, nur noch wenige Partikeln verdeutlichen die dadurch herausgerückte Stellung des Sprechers. Zwar erfüllen die Partikeln heute noch gelegentlich abtönende Funktionen (certes, vraiment, certainement), aber meistens nehmen sie grammatische, adverbielle Aufgaben wahr. Der aus heutiger Sicht fast schon exzessive Rückgriff auf Formeln zur Bekräftigung der Gewißheit und des Wahrheitsgehaltes markiert einen Bruch im Gesprächsverhalten. Hier handelt es sich wiederum um Gebrauchsnormen, so daß wir die Entwicklung als eine interne Veränderung in der Gesprächsroutine auffassen können. Anhand dieser beiden Beispiele kann keine Dynamik in der Entwicklung der Gesprächskonstitution repräsentativ vorgestellt werden, doch lassen die beiden Fälle vermuten, daß Sprachwandel im Zeichen der linguistischen Pragmatik einer systematischen Erforschung bedarf und daß die Periode des Neufranzösischen und neueren Italienisch von der Anordnung gesprochener Kommunikationsformen her weniger homogen ist als im phonetischen oder grammatischen Bestand. Daraus kann nicht folgen, daß sprachgeschichtliche Periodisierungen sich an pragmatischen bzw. gesprächsgebundenen Kriterien ausrichten sollen. Aber eine sprachgeschichtliche Bedeutung kommt diesen Entwicklungen zweifelsohne zu. Zwar verkörpern die sprachlichen Veränderungen keinen radikalen Bruch im Gesprächsverhalten, aber vom 17. zum 20. Jahrhundert sprechen einige wichtige Anzeichen für einen regen Wandel in der Gesprächskonstitution. Deren genauere Darstellung wird sich erst mit Hilfe von gesprächsanalytischen Rekonstruktionen zum 18. und 19. Jahrhundert präziser erfassen lassen. 343
Die Rekonstruktion der Gesprächskonstitution im 17. Jahrhundert hat erwartungsgemäß einige Gesichtspunkte nur partiell oder fragmentarisch darstellen können, weil geschriebene Texte zur Ermittlung der damaligen Sprechsprache notgedrungen defizitären Charakter aufweisen. Ungeachtet dieser Einschränkung vermittelt das Verfahren einer historischen Gesprächsanalyse eine Vorstellung vom Gebrauch der Sprechsprache im 17. Jahrhundert, die die Geschichte der Alltagssprache in Frankreich und Italien mit neuen Konturen versieht. Dies ist das Ziel unserer Untersuchung, die das Programm einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung konkret umsetzt.
344
5- Literaturverzeichnis
Die benutzten Gesprächsbücher und Grammatiken werden an dieser Stelle nicht mehr aufgeführt, da sie bereits mit vollständiger Titelei in 2.3. (S. 3 4 - 4 8 ) vorgestellt worden sind
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