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German Pages 189 [193] Year 2015
Karsten Gäbler
Gesellschaftlicher Klimawandel Eine Sozialgeographie der ökologischen Transformation
Geographie Franz Steiner Verlag
Sozialgeographische Bibliothek – Band 17
Karsten Gäbler Gesellschaftlicher Klimawandel
SozialgeographiSche BiBliothek Herausgegeben von Benno Werlen Wissenschaftlicher Beirat: Matthew Hannah / Peter Meusburger / Peter Weichhart Band 17
Karsten Gäbler
Gesellschaftlicher Klimawandel Eine Sozialgeographie der ökologischen Transformation
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: © shutterstock.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10480-7 (Print) ISBN 978-3-515-10794-5 (E-Book)
Inhalt
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Einleitung
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Der gesellschaftliche Klimawandel Ökologische Aktivierung Klimawandel, Sozialwissenschaften und Sozialgeographie Ein praxistheoretischer Analyserahmen Ziele und Aufbau der Studie
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Klimawandel und gesellschaftliche Wirklichkeit
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Klimadiskurse, Krisendiskurse Low Carbon Society Die alltägliche Bearbeitung der Krise Zwischenfazit
20 25 28 31
Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse
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Humanökologie Ernst Haeckel und die »Oeconomie der thierischen Organismen« Von der Ökologie zur Humanökologie Stephen Forbes: »The Humanizing of Ecology« Harlan H. Barrows: Geographie als Humanökologie Die Human Ecology der Chicago School Klimax und Ende der älteren soziologischen Humanökologie Humanökologische ›Renaissance‹ Geographie als gespaltene Disziplin Das Problem der hybriden Objekte Integrative Forschung in der Geographie Zwischenfazit
35 39 46 46 49 56 67 68 71 72 76 79
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Inhalt
Das Frankfurter Modell der Sozialen Ökologie Kritische Ausgangspunkte Natur, Gesellschaft, Gesellschaftliche Naturverhältnisse Exkurs: Inter- und Transdisziplinaritätsdenken Soziale Ökologie als transdisziplinäre Wissenschaft Probleme des sozial-ökologischen Ansatzes Zusammenfassung: Soziale Ökologie als Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen Zwischenfazit
102 103
Handlungszentrierte Sozialgeographie Natur, Raum und (Sozial-)Geographie Einige Grundzüge der Strukturationstheorie ›Raumprobleme‹ Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen Gesellschaftliche Raumverhältnisse Perspektiven Gesellschaftlicher Ökologie Zusammenfassung: Sozialgeographie als integrative Forschung Zwischenfazit
105 106 109 113 115 119 122 126 128
Eine praxeologische Heuristik
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Gesellschaftliche Transformationsprozesse Soziale Felder als Sphären der alltäglichen Praxis Exkurs: Formen und Funktionen von Kapital Das Konzept des Habitus Praxis und Praktischer Sinn Zwischenfazit
132 134 137 141 147 150
Konturen des ökologischen Feldes
153
Die Idee des ökologischen Feldes Geteilte Überzeugungen, umkämpftes Kapital Struktur und Dynamik des ökologischen Feldes Der Konflikt um den LOHAS Ökologischer Habitus Fazit
154 156 159 161 163 165
Schlussbetrachtung
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Bibliographie
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81 83 85 89 92 97
1 Einleitung
Die vorliegende Untersuchung handelt von einer Reihe gesellschaftlicher Bearbeitungsformen des Klimawandels und insbesondere von den Möglichkeiten ihrer sozialgeographischen Analyse. Die Studie strebt gleichermaßen zeitdiagnostische Überlegungen wie die Rekonstruktion und Bearbeitung eines klassischen (sozial-) geographischen Problems an – die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Der Gang der Argumentation lässt sich durch vier Thesen zusammenfassen: 1. In demokratisch-kapitalistisch verfassten Gesellschaften findet im Zuge des anthropogenen Klimawandels eine grundlegende, im Sinne der Alltagssemantik des Begriffes ›ökologische‹ Transformation statt. 2. Stärkster Ausdruck dieser Transformation ist eine ökologische Aktivierung der Individuen, d.h. die Aneignung bestimmter Handlungs- oder Praxisgrundsätze (wie sparsamer Ressourcenumgang, Beachtung der Langzeitfolgen von Handlungen, Berücksichtigung der Bedürfnisse anderer Lebewesen etc.). 3. Die theoretische Herausforderung durch den Klimawandel und die mit ihm verbundene ökologische Transformation besteht in der Verschränkung materieller und sinnhafter bzw. natürlicher und kultureller Aspekte. 4. Mit einer praxistheoretisch fundierten, human- und sozialökologische Fragen fortführenden Sozialgeographie kann dieser theoretischen Herausforderung angemessen begegnet werden. Der gesellschaftliche Klimawandel Bis auf wenige Ausnahmen herrscht in den Naturwissenschaften Konsens darüber, dass sich das Klimasystem der Erde aufgrund eines anthropogenen Treibhauseffektes gegenwärtig in einem Prozess des Wandels befindet. Der fünfte und bislang letzte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geht davon aus, dass die seit Mitte des 20. Jahrhunderts beobachtbare Erhöhung der globalen Durchschnittstemperaturen mit mehr als 95%iger Wahrscheinlichkeit auf den durch menschliche Tätigkeiten verursachten Eintrag von Treibhausgasen in die Atmosphäre zurückzuführen ist (IPCC 2014, 4). Gleichermaßen wird vom IPCC prognostiziert, dass sich der Trend der globalen Temperaturerhöhung im 21. Jahrhundert weiter fortsetzen wird. Je nach Modell und Szenario wird bis zum Ende des Jahrhunderts eine Progression der Temperaturmittelwerte von 1,5°C bis über 2°C (bezogen auf die Daten von 1850 bis 1900) erwartet (ebd., 10).
8
Einleitung
Auch wenn es innerhalb der Wissenschaftsgemeinde gelegentlich Disput über die Interpretation von Messdaten oder die konkreten Modellierungstechniken gibt, so gut wie sicher scheint, dass die bereits jetzt beobachtbaren und die für die Zukunft erwarteten klimatischen Veränderungen gravierende Folgen haben werden. So z.B. geht der IPCC-Bericht von einer globalen Schmelze von Gletschern und Inlandeis aus, in deren Folge eine signifikante Erhöhung des Meeresspiegels zu erwarten ist (ebd., 16). Weiterhin werden Veränderungen innerhalb der globalen atmosphärischen Zirkulation prognostiziert, die mit einem Wandel der globalen Niederschlagsverteilung und -intensität einhergehen (ebd., 11). Ferner schließlich werden durch den Klimawandel biogeochemische Dynamiken in Gang gesetzt, die unabhängig weiterer menschlicher Aktivitäten durch positive Rückkopplungseffekte den globalen Wandel höchstwahrscheinlich verstärken werden (ebd., 62). Vermutlich werden viele Bestandsaufnahmen der Welt im Zeitalter des Global Change so oder so ähnlich aussehen. Die (Natur-)Wissenschaften liefern das, was man landläufig als »Fakten«, »Daten« oder Aussagen zur »Sachlage« bezeichnet. Diese werden dann als Grundlage umweltbezogener Entscheidungen – von globalen Klimaschutzabkommen bis hin zu individuellen Konsumakten – herangezogen.1 Allerdings wird an einer solchen, eher alltäglichen Auffassung vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Lager heraus vielfältig Kritik geübt. So wird z.B. darauf hingewiesen, dass der alltägliche Realismus, welcher der Rede von »Fakten«, »Daten« und »Sachlage« zu Grunde liegt, oft nicht zur Kenntnis nimmt, dass die Veränderung komplexer klimatischer bzw. geophysischer Prozesse einer umfassenden diskursiven Präparierung bedarf, um zu dem zu werden, was gegenwärtig wie selbstverständlich als »Klimawandel« bezeichnet wird (vgl. Beck 1986, 31ff.; Viehöver 2010, 131; Urry 2011a, 20ff.; Görg 2010, 347f.; Egner 2007). Dies beginnt bereits mit der wissenschaftlichen Erhebung und Repräsentation: Es muss erst einmal, und das auch noch mit ganz bestimmten Methoden, etwas gemessen, berechnet, verglichen werden, und diese Ergebnisse müssen daraufhin kommunizierbar (d.h. üblicherweise textuell verfügbar) gemacht werden, um von einem Klimawandel sprechen zu können. Bereits mit Ludwik Flecks gleichnamiger Studie zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache in den 1930er Jahren sowie den Untersuchungen der Laboratory Studies in den 1980er Jahren wurde darauf hingewiesen, dass es sich auch bei den sogenannten ›harten‹ Disziplinen, den Naturwissenschaften, um hochgradig soziale – und damit bis in die Inhalte hinein kontingente – Unternehmen handelt (vgl. Fleck 1994[1935], 31ff., 109ff.; Knorr-Cetina 1984). Das bedeutet, dass der Klimawandel noch nicht einmal auf der Ebene naturwissenschaftlicher Forschung ›einfach so‹ zugänglich ist – obwohl das im Alltag gewöhnlich erwartet wird. Stattdessen ist er schon hier ein soziales, oder präziser: ein gesellschaftliches Phänomen. Und die weiterführen-
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Wenn in den folgenden Abschnitten von »Umwelt« die Rede ist, dann ist dies im Sinne der Alltagsauffassung des Begriffes (als »Natur«) gemeint, nicht als explizit sich davon unterscheidendes Konzept (vgl. zur Problematik des Umwelt- und Naturbegriffs Weichhart 2003a, 27).
Der gesellschaftliche Klimawandel
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de, aus mehreren Perspektiven zu reformulierende These lautet hier: Vom Klimawandel kann überhaupt nur als gesellschaftlichem Klimawandel die Rede sein. Die Denkfigur ist bekannt. Niklas Luhmann wies in seinem inzwischen als umweltsoziologischer Klassiker geltenden Buch »Ökologische Kommunikation« darauf hin, dass »die Frage nach der ökologischen Bedingtheit und den ökologischen Gefährdungen des gesellschaftlichen Lebens« sinnigerweise nur als Frage nach den Bedingungen, »unter denen Sachverhalte und Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt in der Gesellschaft Resonanz finden« gestellt werden kann (Luhmann 2004[1986], 41f.).2 Folgt man dieser Einschätzung Luhmanns, dann ist damit die Frage eröffnet, wie der Klimawandel nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als außerwissenschaftliche Tatsache (re-)produziert wird. Um dem nachzugehen muss man die Orte und die Formen in den Blick nehmen, an denen und in denen Klimawandel im Alltag erzeugt wird, oder anders gesagt: man muss den Klimawandel als gesellschaftliche und kulturelle Praxis perspektivieren. Ein solcher Blickwechsel ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Sie ist von der Vermutung geleitet, dass die gesellschaftliche Resonanz auf den Klimawandel gegenwärtig ein bislang kaum gekanntes Maß angenommen hat, sodass inzwischen zunehmend die Möglichkeit eines »radikalen Umbruch[s] der modernen Gesellschaft« (Weyer 2010, 385) thematisiert wird. Aus einer alltagsbezogenen Perspektive bedeutet das, dass sich das ökologische Denken und die ökologische Praxis in den demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften des globalen Nordens nachhaltig verändern. Man kann es sich anscheinend in keinem Lebensbereich mehr leisten, künftig nicht ökologisch zu denken und zu handeln. Impliziert sind mit dieser Allgegenwart des Klimawandels und dem Übergang von einem »Fossilismus« in eine »Low Carbon Society« Transformationen auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen. Auf einer Makro-Ebene deuten sich Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen an, etwa wenn von einer neuen Politik (»transnationale Umweltgovernance«, Görg 2010, 357f.) oder einer neuen Ökonomie (»Green Capitalism« und seinen Variationen) in Zeiten des Klimawandels die Rede ist. Auf der Mikro-Ebene individuellen Handelns äussert sich die gesellschaftliche Transformation z.B. durch sich verändernde Praxisformen, Bewertungsmuster und Erfahrungs- bzw. Erwartungshorizonte. Besonders die Veränderungen auf der Mikro-Ebene des Alltagshandelns sind bemerkenswert, da der Wandel der gesellschaftlichen Bearbeitungsformen ökologischer Problemlagen hier am deutlichsten wird. Gehörte zum gesellschaftlichen Umgang mit Umweltproblemen im 20. Jahrhundert vor allem die Etablierung kollektiv verbindlicher Regeln, d.h. die Bearbeitung auf einer institutionellen Ebene – wie es etwa in der Umweltgesetzgebung verkörpert wird –, so kann parallel zu dieser politisch-strukturellen Bearbeitung gegenwärtig eine starke Individualisierung der Verantwortung für ›Natur‹ beobachtet werden. Es scheint sich zunehmend die Idee im kollektiven Bewusstsein zu etablieren, dass das einzelne Subjekt in der All2
Dieses Urteil Luhmanns ist auch dann für die sozialwissenschaftliche Umweltforschung von Relevanz, wenn man – wie im Folgenden – nicht dessen systemtheoretische Grundperspektive teilt.
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Einleitung
tagspraxis etwas gegen globale Probleme (wie etwa den Klimawandel) tun kann und letztlich auch in der Pflicht ist, gemeinwohldienlich etwas zu tun. Die Umweltpolitik folgt damit der in anderen Bereichen längst Wirklichkeit gewordenen Rationalität der »Aktivgesellschaft«: Risikomanagement wird – selbst bei globalen und letztlich existenziellen Problemlagen – individualisiert (vgl. Lessenich 2009, 162ff.; Lessenich 2008, 73ff.). Ökologische Aktivierung Indikatoren solch einer alltäglichen Mobilisierung im Zeichen der »Klimafreundlichkeit« finden sich mannigfach: Von Kaufentscheidungen erleichternden Hinweisen zur CO2-Bilanz von Produkten und Dienstleistungen bis hin zu Angeboten zur freiwilligen Emissionskompensation oder dem Aufruf zum Verzicht auf »CO2intensive« Tätigkeiten reicht die Bandbreite dessen, was den neuen grünen Alltag prägt. Gemein ist all jenen Phänomenen, dass sie die Subjekte explizit wie implizit dazu aufrufen, Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen und deren Folgen »in jedem Augenblick auf die Ökologie der Weltgesellschaft hoch[zu]rechnen« (Sloterdijk 2009, 709). Der neue, nunmehr klimatologische Imperativ lautet dementsprechend: »Handle so, als ob von Deinem Handeln das Schicksal der Welt abhängt« (Beck 2008, 302). Die Voraussetzung für eine solche Aktivierung ist eine mit der Verwissenschaftlichung des Diskurses einhergehende Rationalisierung der Lebensführung. Was für den Klimawandel im Ganzen gilt, nämlich dass er als ökologische Krise zunächst einmal nur mit einer (natur-)wissenschaftlichen Optik wahrnehmbar ist (Beck 2008, 158), gilt konsequenterweise auch für die therapeutischen Maßnahmen zu seiner Bekämpfung. Erst durch die Prognose der ökologischen Folgen individueller Handlungen und Lebensstile lässt sich eine Bewertung dieser vornehmen. Ob eine Aktivität demzufolge in den Bereich »high carbon« oder »low carbon« fällt – und dementsprechend zu vermeiden ist oder nicht –, lässt sich schlechterdings nicht einfach sinnlich wahrnehmen, sondern in hochkomplexen, vernetzten Handlungszusammenhängen bestenfalls durch Rückgriff auf wissenschaftliche Expertise eruieren (vgl. Beck 1986, 35f.). Es ist daher keine Überraschung, dass das wissenschaftliche Wissen vom Klimawandel und seine spezifischen Repräsentationsformen – wie etwa die mittlerweile nahezu ikonische »Hockeyschlägerkurve« – gegenwärtig von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert werden, sei es in Sachbüchern und Zeitschriften, in Dokumentar- und Spielfilmen oder in Internetblogs. Die entsprechenden, meist populärwissenschaftlichen Narrationen changieren dabei zwischen einem Katastrophismus auf der einen und einer Art Heilsversprechen auf der anderen Seite. Die katastrophistische Variante spielt mit dem, was Swyngedouw (2010, 216) treffend als »attractions of the apocalyptic imaginaries« bezeichnet. Durch das Aufzeigen der Selbstauslöschungspotenziale menschlicher Praxis anhand wissenschaftlich unterfütterter Zukunftsszenarien werden Imaginationen lebensfeindlicher Umwelten – oder: Geographien der Furcht – mobilisiert, die zu
Ökologische Aktivierung
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einem Wandel der individuellen Lebensstile führen sollen.3 Diese apokalyptische Narration des Klimawandels knüpft letztlich an eine Imaginationsgeschichte der globalen Katastrophe an, deren Ursprünge sich bis in die Entstehungszeit des Christentums – die Zeit der Propheten und Prophezeiungen – zurückverfolgen lassen (Horn 2014, 26f.). Die positiven Spielarten der Klimawandel-Erzählung hingegen interpretieren diesen als die Möglichkeit einer wertvollen kulturellen Katharsis. Auch wenn der gesellschaftliche Umbau notwendig bleibt, so ist in ihm nicht allein die Abwendung der Katastrophe, sondern vor allem die Möglichkeit einer Steigerung der Lebensqualität zu sehen. Mobilisierung soll nach dieser Argumentation weniger durch Furcht und die Imperative von worst-case-Szenarien verwirklicht werden, als vielmehr durch die Aussicht auf Mehrwerte. Ungeachtet der jeweiligen Ausrichtung, – negativ oder positiv, Risiken oder Chancen betonend – ist der Tenor aller dieser Erzählungen, dass wir sowohl individuell wie auch kollektiv trotz der bisherigen Fehlentwicklungen noch etwas tun können. Klimaschutz ist dementsprechend darin begriffen, im Alltag mehr und mehr zur moralischen Pflicht und Etikette zu werden. Allerdings: Dass ökologische Themen mit der Autorität einer globalen Krise (Sloterdijk 2009, 701) im Rücken eine neue alltägliche Relevanz erlangt haben bedeutet noch nicht, dass sie auch unumstritten sind. Die der ökologischen Aktivierung innewohnenden Ambivalenzen zeigen sich z.B. in den Kontroversen um die Motivationen ökologischen Handelns (ehrliches Bemühen oder Streben nach Distinktionsprofiten?), in kritischen Auseinandersetzungen um den Kapitalismus (Abkehr vom Konsumismus oder »Green Capitalism«?) oder im alltäglichen Umgang mit Unsicherheiten (Aktivismus auf der einen Seite, Risiko unerwünschter Nebenfolgen auf der anderen Seite). All diese Ambivalenzen sollen – und vor allem: können – hier natürlich nicht aufgelöst, als ›falsch‹ oder ›ideologisch‹ enttarnt werden, und es geht ebenso wenig darum, die einzelnen Positionen einem Test zu unterziehen, welche von ihnen nun ›tatsächlich‹ zu einer Lösung des Klimaproblems führen kann und welche nicht. Vielmehr geht es zunächst darum, am bislang Dargestellten drei Zusammenhänge zu illustrieren: Erstens lässt sich am Beispiel des gesellschaftlichen Klimawandels zeigen, dass die entsprechenden gesellschaftlichen Debatten trotz eines scheinbaren Grundkonsenses von einem Kampf um Interpretationshoheiten bestimmt sind. Zweitens wird mit all jenen hier nur angedeuteten Äußerungen zum Klimawandel, seien es die positivistisch gefärbten Darstellungen der Naturwissenschaften oder die sozialwissenschaftlichen Anmerkungen zu seinen gesellschaftlichen Folgen, ein Denkraum konfiguriert, der – so die These – in Form von Ge3
Dies wird im Übrigen häufig aus kapitalismuskritischer Perspektive kritisiert. Der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek bemerkt dazu etwa: »Die Ökologie der Furcht hat beste Chancen, sich zur vorherrschenden Ideologieform des globalen Kapitalismus, zu einem neuen Opium für das Volk zu entwickeln und die an Boden verlierende Religion abzulösen; sie übernimmt die alte Grundfunktion der Religion, eine unbestreitbare Autorität darzustellen, die in der Lage ist, Grenzen zu setzen« (Žižek 2009, 286). Die stets betonte Dringlichkeit ökologischer Probleme führe demzufolge zu einer Marginalisierung anderer gesellschaftlicher Problemlagen.
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Einleitung
meinplätzen, Alltagsepistemologien etc. auf die alltägliche Praxis zurückwirkt. Drittens schließlich, und dieser Aspekt ist von grundsätzlicher Art, lässt sich am Beispiel des gesellschaftlichen Klimawandels zeigen, dass und wie Gesellschaft und Natur aufeinander bezogen sind. Klimawandel, Sozialwissenschaften und Sozialgeographie Es dürfte nach dem bislang Vorgetragenen unübersehbar sein, dass der Klimawandel trotz langer Phasen eines gewissen Desinteresses auch für die Sozialwissenschaften – und besonders für die Sozialgeographie – von Belang ist. Die Sozialwissenschaften können dabei nicht nur zu einem Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse im Zuge des Klimawandels beitragen, sondern sie können auch die sozialen Bedingungen analysieren, unter denen Dinge wie der gesellschaftliche Klimawandel in Wissenschaft, Politik, öffentlichem Leben etc. überhaupt erfolgreich problematisiert werden können. Spätestens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben die Sozialwissenschaften den Klimawandel dann auch als einschlägige Thematik erkannt (vgl. z.B. Voss 2010). Zwei recht prominente Arbeiten dazu sind Anthony Giddens’ »The Politics of Climate Change« (Giddens 2009) sowie John Urrys »Climate Change and Society« (Urry 2011a). Beiden Studien geht es um die gesellschaftlichen Bedingungen einer Transformation in Richtung einer nachhaltigen (Welt-)Gesellschaft, allerdings aus verschiedenen Perspektiven. Giddens thematisiert die politischen Voraussetzungen einer Dekarbonisierung gesellschaftlicher Praktiken. Im Fokus stehen hierbei kollektive Akteure wie der Staat, die Politik und die Wirtschaft (Giddens 2009, 8). Die Diagnose läuft in groben Umrissen darauf hinaus, dass bislang ein Mangel an institutionellen Rahmungen besteht, mit denen die zeitlichen und räumlichen Dimensionsunterschiede von Klimawandel und Tagespolitik überbrückbar wären. Die Persistenz ›klimaschädlicher‹ Handlungsweisen – das Weiter-so wider besseres Wissen (vgl. ebd., 1ff.) – beruht also, so könnte man Giddens interpretieren, auf einer Diskrepanz von Handlungshorizonten. Zu beheben sei dies hauptsächlich durch institutionelle Arrangements, die globale und langfristige Verbindlichkeiten schaffen. Im Blickfeld von John Urrys Studie stehen dagegen – ähnlich wie in der vorliegenden Untersuchung – alltägliche Gewohnheiten. Hier rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie sich das soziale Leben, d.h. die alltäglichen sozialintegrativen Routinen in einer ›post-karbonen‹ Gesellschaft verändern (Urry 2011a, 155ff.). Im Vergleich zu Giddens ist Urrys Text stärker soziologischen Zuschnitts: Er ist auf den Zusammenhang der Nutzung materieller Ressourcen und gesellschaftlicher Organisation gerichtet (»How social life is organized over time and space […]«, Urry 2011a, 43f.). Das Problem der gegenwärtigen Bedingungen besteht nach Urry darin, dass erst durch Nutzung von auf fossilen Energieträgern beruhenden Infrastrukturen körperliche Kopräsenz in verschiedenen sozialen und räumlichen Kontexten (wie es für moderne, differenzierte Gesellschaften charakteristisch ist) verwirklicht werden kann. Ein radikaler Bruch mit den gegenwärtigen Ressour-
Klimawandel, Sozialwissenschaften und Sozialgeographie
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cennutzungsmustern, so wie er sich anzudeuten scheint, reicht danach weiter als viele andere Argumentationen vermuten lassen. Er betrifft nicht einfach nur die Nutzung materieller Objekte, sondern unsere (soziale) Lebensweise im Ganzen. Beide Studien sind verdienstvoll: Sie weisen mit den hier nur grob skizzierten Argumenten auf einige elementare Zusammenhänge in Bezug auf den gesellschaftlichen Klimawandel hin. Gleichwohl sind beide Ansätze aus Sicht der hier zu entwickelnden Perspektive ergänzungsbedürftig. Giddens’ Vorschläge zur Lösung der Krise verkörpern in letzter Instanz eine top-down-Logik und setzen vergleichsweise rational Handelnde voraus. Die implizite Auffassung des Ansatzes, dass die Politik Sanktions- und Anreizstrukturen zu schaffen habe, mit denen die Individuen zu ›klimafreundlichem‹ Handeln bewegt werden, greift, obwohl sie einen wichtigen Bereich benennt, zu kurz. Auch wenn institutionelle Strukturen und der politische Rahmen gewiss nicht ausgeblendet werden dürfen, kommt eine sozialwissenschaftliche Analyse des gesellschaftlichen Klimawandels nicht um eine Thematisierung der Eigenlogik der materiell verstrickten alltäglichen Praxis umhin. Allein, das Alltagsleben bekommt in Giddens’ Studie kaum einen systematischen Platz eingeräumt, und selbst dort, wo es thematisiert wird, geht es hauptsächlich darum, Alltagshandlungen im Sinne einer ›Regierung von oben‹ in gewünschter Weise zu beeinflussen.4 Auch Urrys Überlegungen bedürfen der Erweiterung. Zwar führt die Fokussierung der Alltagspraxis sinnvoll über Giddens’ Argumentation hinaus, jedoch verkürzt Urry den alltäglichen Umgang mit materiellen Objekten fast ausschließlich auf zweckrationale Zusammenhänge. Seine prima facie höchst relevante These, dass der Einbezug materieller Objekte für die Aufrechterhaltung sozialen Lebens konstitutiv ist (Urry 2011a, 14), bleibt bei der Frage danach stehen, welche (materiellen) Ressourcen für welche Praktiken benötigt werden. Weder führt Urry die symbolische Aufladung von Alltagsobjekten bzw. Praxisformen und deren Bedeutung für das Soziale systematisch aus, noch interessiert er sich in seiner Studie dafür, wie der Klimawandel die individuellen Erfahrungshorizonte verändert oder wie die Beziehung von Gesellschaft und individueller Praxis zu denken ist.5 4
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Dabei gibt Giddens selbst Hinweise darauf, an welchen Stellen die alltägliche soziale Eigendynamik zum Vorschein kommt – etwa, wenn von einem Kippen der ›gesellschaftlichen Stimmungslage‹ und einer dem folgenden Veränderung von Lebensstilen die Rede ist. Diese Phänomene werden jedoch kaum systematisch in den Blick genommen und unter vergleichsweise unspezifischen Begriffen wie »public opinion« subsumiert (vgl. Giddens 2009, 109). Ob dies letztlich dem Fokus auf politischen Entscheidungslogiken – schließlich geht es um »Politics of Climate Change« – geschuldet ist oder als Folge einer pragmatischen Ausrichtung des Buches gewertet werden kann, sei dahingestellt. Umso deutlicher wird damit jedoch die Notwendigkeit einer Ergänzung. Analog zur Kritik an Giddens’ Text soll auch hier nicht gesagt sein, dass die entsprechenden Aspekte bei Urry überhaupt nicht thematisiert werden. So nimmt er an verschiedenen Stellen z.B. auf die symbolische Dimension alltäglicher Praxis Bezug, etwa am Beispiel des symbolischen Kapitals eines ›guten‹ oder ›grünen‹ Namens (Urry 2011a, 103), oder in der Vermutung, Mobilität könne zukünftig zu einem »positional good« werden, d.h. einem Gut, das Distinktionsgewinne verspricht (Urry 2011a, 145). Allein, dies wird nicht systematisch und kaum theoretisch gestützt in die Analyse einbezogen.
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Einleitung
Wie im Folgenden argumentiert werden soll, bieten die Ansätze der handlungszentrierten Sozialgeographie (vgl. z.B. Werlen 2007; 2010; 2013) einen guten Ausgangspunkt, um die bei Giddens und Urry exemplarisch zum Vorschein kommenden Probleme der Thematisierung des gesellschaftlichen Klimawandels theoretisch zu bearbeiten.6 Das an der klassisch-geographischen Fragestellung nach den Verhältnissen von Gesellschaft, Natur und Raum geschulte Vokabular der Sozialgeographie erlaubt es, den gesellschaftlichen Klimawandel jenseits konkreter empirischer Probleme zu beschreiben – als Ergebnis und Form gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse. Die Sozialgeographie verknüpft bzw. erweitert damit zwei zentrale Analysekategorien human- und sozial-ökologischer Forschung. Das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse wurde, anschließend an eine bis auf Karl Marx zurückgehende Tradition, zuerst im Kontext einer »kritischen Theorie der ökologischen Krise« (Görg 2003; 1999; Becker 2003; Becker/ Jahn 2006c) formuliert. Es bezeichnet dort »das Geflecht der vermittelnden Beziehungen und Verhaltensformen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur sowie die sich darin ausbildenden Muster« (Becker 2003, 186). Im Rahmen der handlungszentrierten Sozialgeographie wird dieses Konzept in zweierlei Hinsicht präzisiert. Erstens weist sie auf die Praxis als Hauptkategorie der Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse hin. Praxis ist dementsprechend als Kreuzpunkt von Sozialem, Symbolischem und Materiellem aufzufassen, und nur von Praxis her sind Verhältnisse von Gesellschaft und Natur – wie sie eben auch im Klimawandel Niederschlag finden – zu denken (Werlen/Weingarten 2005a, 179f.). Zweitens macht die Sozialgeographie darauf aufmerksam, dass die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft zweckabhängig erfolgt, und daher nicht von mehr oder minder gegebenen Bereichen des Sozialen und Naturalen ausgegangen werden kann (Werlen/Weingarten 2005b, 327f.; Weingarten 2005, 9f.). Mit dem Begriff der gesellschaftlichen Raumverhältnisse eröffnet die Sozialgeographie schließlich eine Perspektive, die in noch grundlegenderer Weise die Bezüge von Gesellschaft und Natur zu thematisieren erlaubt. Gesellschaftliche Raumverhältnisse sind nach Werlen (2010, 326) zu begreifen als »die gesellschaftlich und kulturhistorisch geschaffenen Bedingungen, Mittel und Medien des Handelns, die Räumlichkeit der Alltagswelt zu meistern«. Auf welche Art und Weise Natur in gesellschaftlicher Praxis materiell transformiert wird, wie sich Natur symbolisch angeeignet wird, kurz gesagt: wie Gesellschaften ihren Umgang mit Natur regulieren, ist in dieser Perspektivierung als Form der Meisterung gesellschaftlicher Räumlichkeit zu verstehen. Die Konzepte der gesellschaftlichen Raum- und Naturverhältnisse erlauben es nicht nur, ein theoretisch fundiertes Verständnis der ökologischen Krise als Ausdruck der Diskrepanz zwischen globalen Handlungsreichweiten und territorialen Politiken zu entwickeln (vgl. Werlen 2010, 321, 334ff.), sondern sie begründen 6
Interessanterweise bietet das theoretische Œuvre sowohl von Giddens als auch Urry sogar einige wichtige Ansatzpunkte dazu (vgl. Giddens 1992; Macnaghten/Urry 1995; 1998). Jedoch werden diese Konzepte in den beiden Studien nicht systematisch in die soziologische Analyse des Klimawandels einbezogen.
Ein praxistheoretischer Analyserahmen
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und erweitern auch die Auffassung des Klimawandels als kultureller Praxis. Der Klimawandel ist demgemäß als Ergebnis und Bedingung menschlichen Tuns – in gleichermaßen symbolischer wie materieller Hinsicht – zu begreifen (vgl. ebd., 325; Weingarten 2003, 139). Es handelt sich bei der alltäglichen ›ökologischen‹ Praxis in dieser Sichtweise vor allen anderen Dingen um spezielle Weisen, wie Subjekte Welt auf sich beziehen. Mit dieser sozialgeographischen Grundauffassung ist schließlich als letzter Erweiterungsschritt die Frage aufgeworfen, wie sich die sozialen Bedingungen, unter denen die strukturiert-strukturierende Praxis des gesellschaftlichen Klimawandels stattfindet, theoretisch beschreiben lassen. Ein praxistheoretischer Analyserahmen Ein Ansatz, der in einem solchen Sinne die Bedingungen von Praxis fokussiert, ist die Praxeologie Pierre Bourdieus. Aufbauend auf ihren theoretischen Schlüsselbegriffen »Feld«, »Habitus« und »Praxis« lässt sich eine Heuristik entwickeln, mit welcher die gegenwärtige Transformation aus praxiszentrierter Sicht interpretierbar ist. Die dabei zu begründende These lautet, dass sich im Zuge der ökologischen Transformation gegenwärtig ein eigenständiger ökologischer Handlungsbereich entwickelt. Dieser Handlungsbereich lässt sich mit Bourdieu als soziales Feld, und präziser als ökologisches Feld beschreiben. Soziale Felder sind nach Bourdieu Bereiche des sozialen Lebens, die Sinnressourcen für bestimmte Handlungen bereit halten, über »Spielregeln« sowie eigene Logiken verfügen (Bourdieu/ Wacquant 2006, 124ff.; vgl. Illouz 2007, 97). Das Konzept des sozialen Feldes erlaubt dabei nicht nur, die Deutungsmuster und impliziten Regeln von Handlungsbereichen zu beschreiben, sondern es macht auch die Dynamiken der Kontexte alltäglicher Praxis sichtbar. In allen Feldern »[…] kämpfen Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen SpielRaum konstitutiven Regularitäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind« (Bourdieu/Wacquant 2006, 133). Die Verknüpfung dieser sozialstrukturellen Seite mit der Seite individueller Praxis erfolgt über das Konzept des Habitus. Es bezeichnet die Fähigkeit, die es Subjekten erlaubt, auf den sozialen Feldern (erfolgreich) aktiv zu sein. Der Habitus stellt damit das individuelle Komplementärstück zum Feld dar. Er bezeichnet ein durch die Sozialität bzw. die Sozialisation entstandenes, bis in das Körperliche hineinreichende Set an Dispositionen (das ›Gespür‹ oder der ›Sinn‹ für die Praxis), das den Feldern jeweils angemessene Praxisformen hervorbringt (Bourdieu 1993b, 98ff.; 2009, 164ff.; 2000, 7ff.; Bourdieu/Wacquant 2006, 152ff.). Der Habitusbegriff bezeichnet somit die soziale Welt in den Handelnden, das inkorporierte Kollektive (Bourdieu 1974, 132). Überträgt man dieses Denken auf den hier zu verhandelnden Gegenstand – die ökologische Transformation – wird das Augenmerk auf die Fragen gelenkt, an
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Einleitung
welchen Orten und auf welche Weisen gegenwärtig ökologische Habitus7, d.h. bestimmte umweltbezogene Handlungsdispositionen formiert werden und zu welchen Brüchen und Irritationen der Alltagspraxis die neue Geltung ökologischer Kompetenzen führt. Die dahinter liegende Grundannahme ist, dass die ökologische Haltung der Subjekte weder schlicht vorauszusetzen noch sozialtechnologisch ohne Probleme herstellbar ist. Stattdessen handelt es sich um Dispositionen, die, gleich einer »stille[n] Pädagogik« (Bourdieu 1993b, 128; vgl. Schwingel 1998, 61), durch die Inkorporation ökologischer Imperative innerhalb des ökologischen Feldes erzeugt werden. Dabei mögen institutionalisierte Formen der ›Umwelterziehung‹ oder ›ökologischen Bildung‹ – wie etwa, um ein alltägliches Beispiel zu verwenden, die Förderung sogenannter »Energiedetektive« in Schulen und Kindertagesstätten – eine Rolle spielen, sie stellen jedoch nur einen Pol auf dem umkämpften Feld dar. Eine nahezu unüberschaubare Reihe an Agent*innen ist an den in verschiedenen Formen ausgetragenen Kämpfen um Deutungshoheiten sowie der Produktion entsprechender Narrative im ökologischen Feld beteiligt – von den üblichen Verdächtigen aus Wissenschaft und Politik bis hin zu öffentlichen Intellektuellen, Unternehmen, Beratungsinstitutionen, populärwissenschaftlichen Autor*innen, bis hin zu den gewöhnlichen Alltagshandelnden, die um eine Geltung ihrer Ansichten und Interpretation bemüht sind. Die durch die Begriffe des Feldes und des Habitus auf die Bedingungen alltäglicher ökologischer Praxis gerichtete Optik der vorliegenden Studie ermöglicht Anschlüsse an verschiedene gegenwärtig prominente Forschungsthemen der Sozialwissenschaften. Einerseits werden Bezüge zu kultursoziologischen bzw. kapitalismuskritischen Zeitdiagnosen hergestellt, wie sie etwa in Eva Illouz’ instruktiven Studien zur Genese des emotionalen Kapitalismus (vgl. Illouz 2007, 97ff.; 2009) oder Ulrich Bröcklings Untersuchungen zur Genese des »unternehmerischen Selbst« (vgl. Bröckling 2007) zu finden sind.8 Andererseits wird mit der Inblicknahme von Individualisierungsphänomenen und gesellschaftlichen Imperativen eine Ausweitung der Analyse gegenwärtiger Aktivierungsstrategien vorgenommen (vgl. Lessenich 2008; 2009). Bei aller Unterschiedlichkeit der theoretischen Referenzrahmen dieser Studien lässt sich dennoch zusammenfassen, dass sie in gewisser Weise alle von derselben These geleitet sind, nämlich: dass es sich bei den der alltäglichen Praxis zu Grunde liegenden Einstellungen und Haltungen um sozialhistorisch generierte – und damit kontingente – Phänomene handelt, die auf ganz bestimmte gesellschaftliche
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Die Darstellung der Pluralform von »Habitus« folgt in dieser Arbeit dem Lateinischen, nach dem sowohl für den Singular als auch den Plural die Schreibweise »Habitus« lautet (vgl. Krais 2004, 178). Wobei sich die beiden Ansätze durch ihre unterschiedliche Positionierung zur Praxeologie Bourdieus auszeichnen. Während Illouz sich – wenngleich an eher randlicher Stelle – explizit auf Bourdieu beruft, wählt Bröckling einen sich explizit von Bourdieus Arbeiten absetzenden Zugang. Allerdings stellt er mit der Frage nach den Aneignungsweisen bestimmter Handlungsgrundsätze – hier: »Handle unternehmerisch!« – eine ganz ähnliche Frage wie die vorliegende Untersuchung im Bereich ökologischer Praxis.
Ziele und Aufbau der Studie
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Konfigurationen zurückführbar sind. Eine solche Vermutung soll in der vorliegenden Studie für den Bereich der ökologischen Praxis überprüft werden. Ziele und Aufbau der Studie Die Untersuchung hat zwei aufeinander verweisende Brennpunkte: Den gesellschaftlichen Klimawandel als empirisches Phänomen einerseits und die sozialgeographischen Möglichkeiten seiner Beschreibung und Analyse andererseits. Dementsprechend lässt sich auch das Ziel der Arbeit in empirischer sowie in theorieorientierter Hinsicht formulieren. In Bezug auf die Thematik des Klimawandels besteht das Ziel darin, einen Beitrag zum Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen der ökologischen Transformation zu leisten. Der gegenwärtig beobachtbare Wandel kann dabei als eine Art Laboratorium begriffen werden, das nahezu idealtypisch eine Anwendung, Überprüfung und ggf. Präzisierung theoretischer Problemstellungen und Lösungsstrategien ermöglicht. In Hinsicht der theoretischen Dimension des Vorhabens sollen daher zunächst verschiedene Optionen integrativer – d.h. materielle und sinnhafte Aspekte in Beziehung setzende – Perspektiven ausgelotet werden, um anschließend die Sinnfälligkeit einer praxeologischen Erweiterung der handlungszentrierten Sozialgeographie zu überprüfen. Mit diesem Versuch ist die Absicht verbunden, eine der Problemkonstellation des gesellschaftlichen Klimawandels sowohl in sozialgeographischer als auch soziologischer Hinsicht angemessene Heuristik zu entwickeln. Die Argumentation setzt sich aus vier Hauptteilen zusammen. Einer allgemein orientierten Bestandsaufnahme folgen zwei ausführlichere, theoretisch ausgerichtete Kapitel, in denen die Begriffe zur abschließenden Wiederaufnahme der empirischen Befunde entwickelt werden. Im ersten Hauptteil (Kapitel 2) werden einige empirische Eckpunkte des Klimawandels als gesellschaftlicher Wirklichkeit benannt und illustriert. Die Hauptthese dieses Abschnitts lautet, dass im Gefolge der verstärkten öffentlichen Thematisierung des Klimawandels gegenwärtig ein Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung in Gang gesetzt wird, der sich unter anderem in einer zunehmenden Ökologisierung alltäglicher Praktiken zeigt. Kapitel 3 erarbeitet die konzeptionellen Grundlagen einer sozialgeographischen Analyse des gesellschaftlichen Klimawandels. Aufbauend auf der These, dass zu einer angemessenen Erforschung dieses Phänomens eine integrative Perspektive notwendig ist, werden die Ansätze der Humanökologie, Sozialen Ökologie und handlungszentrierten Sozialgeographie rekonstruiert und im Hinblick auf die Frage diskutiert, welche Optionen der Relationierung von Gesellschaft und Natur mit ihnen eröffnet werden. Zugleich werden damit in wissenschaftshistorischer Hinsicht die Eckpunkte der Entwicklung sozialwissenschaftlicher ›BindestrichÖkologien‹ benannt. Hauptthese dieses Abschnitts ist, dass zwar seit der Ökologie Ernst Haeckels die zentralen Fragen aufgeworfen sind, jedoch erst mit der Etablierung praxiszentrierter Ansätze und den Konzepten gesellschaftlicher Natur- und
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Einleitung
Raumverhältnisse die problematischen Folgen reduktionistischer Konzepte vermieden und adäquate Problemdiagnosen erstellt werden können. In Kapitel 4 wird schließlich der in der handlungstheoretischen Sozialgeographie angelegte Gedanke weiter entwickelt, dass zu einem Verständnis alltäglicher Praxis deren gesellschaftliche Einbettung und Bedingungen (stärker) berücksichtigt werden müssen. Die Leitthese ist hier, dass mit der Praxeologie Bourdieus ein sozialtheoretisches Konzept vorliegt, das die Gesellschaftlichkeit individueller Praxis ohne die Probleme individualistischer oder strukturalistischer Ansätze angemessen zu erklären vermag und ein gut ausgearbeitetes begriffliches Instrumentarium liefert. Es wird in diesem Abschnitt dabei vor allem den Begriffen der Praxis, des Habitus und des Feldes nachzugehen sein. Im letzten Hauptteil (Kapitel 5) wird schließlich versucht, die Konturen dessen, was sich praxeologisch als ›ökologisches Feld‹ beschreiben ließe, anzudeuten. Dazu wird versucht, die zentralen symbolischen Güter in diesem Handlungsbereich zu identifizieren und herauszuarbeiten, was – allen Unterschieden in den Einzelpositionen zum Trotz – die implizit gemeinsam geteilten Überzeugungen der Agent*innen der Sphäre des ökologischen Handelns sind.
2 Klimawandel und gesellschaftliche Wirklichkeit
Es dürfte kaum eine Übertreibung sein, den anthropogenen Klimawandel als die globale Problemkonstellation der späten Moderne schlechthin zu charakterisieren. Während die Naturwissenschaften die rasant zunehmende Magnitude und Frequenz klimawandelbezogener Ereignisse betonen und ein neues, auf die globalen Veränderungen abgestimmtes »Naturgefahrenmanagement« (Wagner 2010) fordern, verweisen die Sozialwissenschaften auf den Zusammenhang von sozialer Praxis und Emission von Treibhausgasen und fordern einen »radikale[n] Umbau der Strukturen der Industriegesellschaft« (Weyer 2010, 385). Und auch im Alltag schließlich ist das Klimathema – trotz aller Konjunkturen anderer Krisen – omnipräsent: Nicht nur die ökologisch engagierte Zivilgesellschaft, sondern die gesamte Öffentlichkeit ist zunehmend gezwungen, sich mit Fragen des Klimawandels und Klimaschutzes auseinanderzusetzen. Angesichts dieser scheinbaren Evidenz der Problemlage gerät leicht aus dem Blick, dass sich die aktuelle Priorität des Klimawandels in mehrfacher Hinsicht nicht aus sich selbst heraus ergibt. Erstens bedarf sie einer Wissensbasis, die das empirische Phänomen begrifflich verfügbar und erfahrbar macht. Wie Viehöver (2011, 671) diesen Aspekt pointiert zusammenfasst, beruht »die veränderte Wahrnehmung des (Welt-)Klimas auf höchst voraussetzungsvollen sozio-historischen Bedingungen«. Dazu zählt insbesondere eine spezielle Konstellation – oder, wenn man so will: Allianz – von Wissenschaft, Politik, und Öffentlichkeit (ebd.). Die Informationen über geo- und damit verbundene soziodynamische Zusammenhänge müssen dementsprechend erst einmal geschaffen und an den ›richtigen‹ Orten kommuniziert werden (vgl. Egner 2007), um überhaupt als »Klimawandel« oder »Klimaproblem« ins gesellschaftliche Bewusstsein zu kommen. Zum Zweiten setzt die Thematisierung des Klimawandels als Krise nicht nur eine bestimmte Aufmerksamkeit voraus, sondern auch eine normative Entscheidung darüber, wie eine ›normale‹, ›erwünschte‹ Klimaentwicklung auszusehen hat und was als ›unerwünschte‹ oder ›riskante‹ Abweichung davon gilt. Könnte man dies aus einer Alltagsperspektive heraus zunächst noch für ein Problem der Naturwissenschaften halten, so wird mit Blick auf den gegenwärtigen Nexus von Klimawandel und Gesellschaftswandel deutlich, wie über den Umweg des Klimas soziale Verhältnisse zur Disposition gestellt werden. Es wird hier gewiss nur schwerlich möglich sein, eine umfassende Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Konstruktionen
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Klimawandel und gesellschaftliche Wirklichkeit
des gesellschaftlichen Klimawandels zu liefern. In den nachfolgenden Abschnitten müssen einige wenige Beispiele ausreichen um anzudeuten, wie der Klimawandel zum Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit in der späten Moderne geworden ist. Dazu wird einerseits die Konstruktion des Klimawandels als »Erfahrungsraum« (Viehöver 2011, 676) thematisiert und andererseits zum Gegenstand gemacht, an welchen gesellschaftlichen Orten die Klimakrise gegenwärtig bearbeitet wird. Im ersten Abschnitt wird zu diesem Zweck ein kursorischer Abriss über die Ursprünge und den Verlauf der Klima- und Krisendiskurse gegeben, um daran anschließend die momentan beobachtbaren Bestrebungen zur Gestaltung einer »Low Carbon Society« in den Blick zu nehmen. Im dritten Abschnitt schließlich stehen einige Formen der alltäglichen Bearbeitung der Krise im Fokus. Klimadiskurse, Krisendiskurse Die Konjunkturen von Klimaforschung und Krisendiagnosen in der späten Moderne können leicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Ursprünge des wissenschaftlichen Klimadiskurses mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Ihre Ausgangspunkte hat die gegenwärtige Debatte bei Naturwissenschaftlern wie Jean-Baptiste Joseph Fourier, John Tyndall oder Svante Arrhenius, die sich erstmals mit den Grundlagen einer Atmosphärenwissenschaft auseinandersetzten (vgl. Hulme 2009, 42ff.; Grundmann/Stehr 2011, 166; Rahmstorf/ Schellnhuber 2007, 29). Der Physiker Fourier gilt als Vorbereiter der Theorie eines atmosphärischen Treibhauseffekts (Hulme 2009, 42f.). In seinen 1824 veröffentlichten »Remarques générales sur les températures du globe terrestre et des espaces planétaires« entfaltete Fourier den Gedanken, dass die globalen Temperaturen auch durch bestimmte Eigenschaften der Atmosphäre – die asymmetrische Durchlässigkeit für lang- und kurzwellige Strahlung – gesteuert werden (Hulme 2009, 42f.). Tyndall, ebenfalls Physiker, stärkte in den 1860er Jahren diese Hypothese durch die Erkenntnis, dass bestimmte Gase (Wasserdampf, Kohlenstoffdioxid, Methan, Ozon, Distickstoffoxid) Infrarot-Strahlung absorbieren und die Stärke des Fourier’schen Effekts damit von deren Konzentration in der Atmosphäre abhängig ist (ebd., 44f.). Der Physiker und Chemiker Arrhenius schließlich stellte erste Überlegungen an, wie sich die globalen Temperaturen in Abhängigkeit der Erhöhung der Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre verändern. Mit Arrhenius wurde Ende des 19. Jahrhunderts erstmals die Idee angedeutet, dass sich das globale Klima aufgrund menschlicher Aktivität wandeln könne (ebd., 47). Auch das aus heutiger Sicht letzte fehlende Element der Klimawandeldebatte, die These einer globalen Erwärmung, wurde bereits lange Zeit vor Beginn der modernen Diskurse in den Naturwissenschaften thematisiert. Der Ingenieur Guy Stewart Callendar vertrat in dem 1938 erschienenen Aufsatz »The artificial production of carbon dioxide and its influence on temperature« die Auffassung, dass es einen durch den menschlichen Eintrag von Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre verursachten Anstieg der globalen Mitteltemperaturen gebe (Callendar 1938, 223; vgl. Hulme 2009, 48ff.). Auch wenn der genaue Verlauf dieses CO2-Effekts noch in
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weiteren Langzeitmessungen bestimmt werden müsse (Callendar 1938, 233, 236), gebe es trotz aller Skeptiker keinen Zweifel daran, dass der Mensch zu globaler Umweltveränderung fähig ist: »Few of those familiar with the natural heat exchanges of the atmosphere, which go into the making of our climates and weather, would be prepared to admit that the activities of man could have any influence upon phenomena of so vast a scale. […] I hope to show that such influence is not only possible, but is actually occurring at the present time« (Callendar 1938, 223).
Lässt man einmal den aus heutiger Sicht irritierenden Umstand beiseite, dass die globalen anthropogenen Umweltveränderungen von Callendar ausgesprochen optimistisch bewertet wurden9, so ist mit seinem Aufsatz bereits der vollständige Argumentationszusammenhang entfaltet, der auch den gegenwärtigen Diskurs um den Klimawandel bestimmt. Was die Debatte allerdings von der gegenwärtigen unterscheidet ist ihr sehr viel engerer, auf naturwissenschaftliche Spezialgebiete begrenzte Horizont. So haben die Untersuchungen dazu beigetragen, den anthropogenen Klimawandel als geoökologisches Phänomen naturwissenschaftlich zu begreifen. Außerhalb von Fachpublikationen wie etwa den »Annales de Chimie et de Physique« (Fourier) oder dem »Quarterly Journal of the Royal Meteorological Society« (Callendar) fanden diese Studien in ihrer Zeit jedoch kaum Beachtung, und selbst innerhalb der größeren Fachdebatten blieben die frühen Klimawissenschaftler umstritten oder wurden marginalisiert. Ein weiterer Unterschied zu den heute vertrauten Formen des Klimadiskurses – und möglicherweise ein Grund für die weitgehende öffentliche Bedeutungslosigkeit der frühen Arbeiten – besteht darin, dass die globalen anthropogenen Umweltveränderungen von den Autoren nicht als potenzielles Problem oder als Krise thematisiert wurden, sondern eher als ›faszinierendes‹ Beispiel der transformativen Kraft menschlicher Aktivität. Diese Interpretation spiegelt sich auch noch am Beginn der modernen (naturwissenschaftlichen) Debatte um den Klimawandel wider. So heben Grundmann und Stehr (2011, 167) hervor, dass »Mitte der 1960er Jahre […] in der Forschungsgemeinschaft die verbreitete Einsicht [herrschte], dass wir zwar mit dem Planeten Erde ein Experiment im großen Stil durchführten, dies aber keine Bedrohung darstelle und politisches Handeln nicht erforderlich sei«. Spätestens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Thematisierung des anthropogenen Klimawandels jedoch nachhaltig. Mit der Kombination von geochemischer Kohlenstoffkreislauf-Forschung und informationstechnisch gestützter atmosphärischer Modellierung erfuhr die Klima(wandel)forschung eine enorme Beschleunigung, im Zuge derer die Möglichkeit eines anthropogenen Treibhauseffekts zunehmend ihren hypothetischen Charakter verlor und als faktische Entwicklung angesehen wurde (vgl. Grundmann/Stehr 2011, 166). Im Gefolge dessen wurde das Thema eines anthropogenen Treibhauseffekts erstmals auch auf die politische Agenda gehoben – wenn auch zunächst zögerlich und in starker Abhängigkeit von tagespolitischen Fragestellungen. Ein in Anbetracht der 9
Er sieht darin z.B. mögliche Profite für die Landwirtschaft des Nordens oder eine Abschwächung des Effekts zukünftiger Eiszeiten (Callendar 1938, 236; Hulme 2009, 53)
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tatsächlichen Zeitläufte bemerkenswertes Dokument für solch eine frühe politische Thematisierung des Klimawandels ist etwa der Ende der 1970er Jahre durch den damaligen US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter in Auftrag gegebene »Global 2000 Report« (CEQ 1980). Im Zusammenhang mit anderen globalen Umweltproblemen wird hier in erstaunlicher Klarheit konzediert: »Atmospheric concentrations of carbon dioxide and ozone depleting chemicals are expected to increase at rates that could alter the world’s climate and upper atmosphere by 2050« (CEQ 1980, 3). Bemerkenswert hinsichtlich der oben beschriebenen Technik-Euphorie der 1960er Jahre ist dabei vor allem die Beurteilung der Dringlichkeit der Lage und der Lösungsoptionen: »There are no quick fixes« (CEQ 1980, 4), stellen die Autor*innen lapidar fest. Die sich andeutenden globalen Umweltprobleme, so der Tenor des Berichts, erforderten stattdessen langfristige, globale politische Lösungen (ebd.). Trotz der Debatten in Wissenschaft und Politik kann nicht behauptet werden, dass der anthropogene Klimawandel bis in die 1980er Jahre hinein einen nennenswerten Widerhall in einer breiten Öffentlichkeit gefunden hätte. Das Thema blieb weitestgehend Gegenstand eines zwischen Naturwissenschaften, Politik und Umweltgruppierungen geführten Expert*innendiskurses. Die massenmediale Darstellung der ›Klimakrise‹ als einer anthropogenen Krise beginnt erst Mitte der 1980er Jahre. Als ein nicht nur für den deutschsprachigen Kontext diskursiver Markstein kann die am 11. August 1986 erschienene Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL gesehen werden.10 Das Heft, auf dessen Titelseite die Bildmontage eines unter Wasser stehenden Kölner Doms abgebildet ist, thematisiert erstmals in einer breiten Öffentlichkeit die Möglichkeit einer globalen »Klima-Katastrophe«. Unter dem Titel »Das Weltklima gerät aus den Fugen« (Der Spiegel 1986, 122) werden dabei auf einem mehrseitigen Artikel Zusammenhänge zwischen »Ozon-Loch«, »Pol-Schmelze« und »Treibhauseffekt« präsentiert. Die Grundelemente, aus denen das hier entfaltete Klimawandelnarrativ zusammengesetzt ist, ähneln dabei bis auf wenige Ausnahmen den auch im heutigen Diskurs etablierten Mustern. Zum Ersten stützt sich die Argumentation wesentlich auf naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse. So wird z.B. die Expertise eines Meteorologen der USamerikanischen NASA, einer Stratosphärenforscherin, zweier Chemiker und eines Ozeanographen angeführt, nach der unisono ein Wandel des globalen Klimas prognostizierbar ist (Der Spiegel 1986, 123ff.). Einigkeit herrscht unter den befragten Expert*innen, zum Zweiten, darüber, worauf der befürchtete Klimawandel in einem technischen Sinne zurückzuführen ist. Die Ursachen werden – wie bereits bei Fourier, Tyndall und Arrhenius – in einer zunehmenden Konzentration von Spurengasen wie CO2 in der Stratosphäre gesehen, die den natürlichen Treibhauseffekt beschleunigen bzw. intensivieren (Der Spiegel 1986, 123f.).
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So gilt dieser SPIEGEL-Titel auch im internationalen Kontext als Beginn des Klima-Katastrophen-Diskurses (Hulme 2009, 63).
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Analog zu Callendars 50 Jahre zuvor veröffentlichter Hypothese wird drittens konstatiert, der drohende Klimawandel sei auf menschliche Aktivität zurückzuführen: »Daß der im Grunde wohltätige Treibhauseffekt, der irdisches Leben überhaupt erst möglich macht, vielleicht schon bald zur Plage wird, ist der Tatkraft des Homo sapiens zuzuschreiben. Seit mehr als 150 Jahren stinken die Industriegesellschaften zum Himmel. Rund 180 Milliarden Tonnen CO2 wurden seit anno 1800 beim Verheizen fossiler Brennstoffe in die Luft gepustet; bis hinauf in die Stratosphäre herrscht inzwischen dicke Luft« (Der Spiegel 1986, 124).
Ein viertes Motiv, welches auch im heutigen Diskurs aufzufinden ist, jedoch in der damaligen massenmedialen Debatte ein Novum darstellte, sind die potenziellen sozialen Folgen der Klimakatastrophe. Im Stil dystopischer Zukunftsszenarien weist der Artikel darauf hin, dass die globalen geophysischen Veränderungen verheerende Folgen für das Leben auf der Erde haben könnten. So wird für das Jahr 2040 »ein erbarmungsloser Kampf ums Überleben«, mit Kriegen »um Trinkwasser-Reservoire, die letzten noch intakten Seehäfen oder ein paar Quadratkilometer Ackerland« prognostiziert (Der Spiegel 1986, 122). Fünftens und letztens schließlich wird mit einer ›Last Chance‹-Rhetorik die Möglichkeit der Abwendung der Katastrophe skizziert und ein bestimmter Handlungsdruck erzeugt. Das »Schlimmste«, so der Artikel, kann »noch rechtzeitig vermieden« werden (Der Spiegel 1986, 134). Bemerkenswert an dem Text ist, dass er den Klimawandel erstmals massenmedial als ein Problem darstellt, das nicht nur von wissenschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Relevanz ist und zukünftig bearbeitet werden muss. In technischer Hinsicht werden die Rahmenparameter dazu von den Naturwissenschaften geliefert: Eine zweiprozentige Reduktion der Treibhausgasemissionsraten könne demnach zu einer Begrenzung der Effekte des Klimawandels führen (Der Spiegel 1986, 134). In gesellschaftlicher Hinsicht scheinen die Autor*innen – analog zu dem politisch wenig erfolgreichen Global 2000 Report – vor allem die internationale Politik als angemessene Handlungsebene zu sehen. So etwa werden die Vereinten Nationen, mit ihrem Umweltprogramm UNEP, oder der Weltwirtschaftsgipfel als sinnvolle Foren zur Bearbeitung der Krise dargestellt (ebd.). Das mit dem SPIEGEL-Artikel dokumentierte erstmalige Auftauchen der Klimawandeldebatte im breiten öffentlichen Diskurs dürfte insgesamt durch eine allgemein größere Sichtbarkeit ökologischer Themen in den 1980er Jahren begünstigt worden sein. Topoi wie das Waldsterben oder das Ozonloch beherrschten als Klassiker der Umweltdebatte die massenmediale Darstellung, das Thema der globalen Erwärmung spielte – trotz einiger dramatischer Darstellungen – zunächst noch nicht die dominante Rolle, die es gegenwärtig einnimmt. Dies änderte sich jedoch gegen Ende der 1980er Jahre. Spätestens mit der Etablierung der globalen Klimapolitik durch den 1992 in Rio de Janeiro durchgeführten Umweltgipfel (»Earth Summit«) und die in dessen Kontext unterzeichnete Klimarahmenkonvention (UNFCCC), sowie durch die 1997 im japanischen Kyoto durchgeführte dritte Klimakonferenz mit dem gleichnamigen Protokoll zum Emissionsrechtehandel wurde das Thema des anthropogenen Klimawandels in der Politik und im öffentlichen Bewusstsein weiter konsolidiert. Auch wenn in der wissenschaft-
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lichen Debatte, auf politischer Ebene sowie im öffentlichen Diskurs weiterhin skeptische Stimmen zu vernehmen sind, wird die Verbindung der Begriffe »Klimawandel« und »Katastrophe« seitdem dennoch stetig sedimentiert. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schließlich ist die diskursive Vormachtstellung des Klimawandels in der Umweltdebatte kaum mehr zu übersehen. Das Klima scheint, ähnlich wie das Waldsterben in den 1980er Jahren, stellvertretend für die in die Krise geratenen gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Allgemeinen zu stehen. Auffällig ist dabei zum einen, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Klimawandels an Breite und Frequenz zugenommen hat. Neben der tagesaktuellen Berichterstattung in Zeitungen und Fernsehsendungen hat sich eine ganze Reihe an populärwissenschaftlicher Literatur, Magazinen, Internetblogs, Kinodokumentationen etc. etabliert, die den Klimawandel und vor allem die Notwendigkeit und Möglichkeiten des Klimaschutzes thematisieren. Zum anderen ist bemerkenswert, dass in der gegenwärtigen Klimadebatte zwei verschiedene, scheinbar gegenläufige Motive beobachtbar sind. Einerseits werden weiterhin dystopische, resignative Narrationen erzeugt. Ein eindringliches Beispiel dafür ist etwa Mike Davis’ populärwissenschaftlicher Text »Wer wird die Arche bauen?« (Davis 2011), in dem betont wird: »[W]er auch nur einige der Beweise [für die Notwendigkeit des Handelns; K. G.] akzeptiert, der wird, so er es wagt, einen ›realistischen‹ Blick auf die Zukunftsaussichten der Menschheit zu werfen, wie beim Anblick der Medusa auf der Stelle zu Stein erstarren« (Davis 2011, 92). Zwar skizziert Davis Lösungswege aus der globalen Krise, betont jedoch stets, »daß wir die erste entscheidende Schlacht im Kampf gegen die Erderwärmung bereits verloren haben« (Davis 2011, 60). Diese apokalyptische Rhetorik ist kein Einzelfall. Auch der sehr viel stärker naturwissenschaftlich angelegte Titel »Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie« der beiden Physiker und Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber schlägt mit seinen Verweisen auf bereits in Gang gesetzte Dynamiken letztlich einen ganz ähnlichen Grundton an (vgl. Rahmstorf/Schellnhuber 2007). Andererseits unterscheidet sich der gegenwärtige Diskurs von seinen Vorläufern in den 1980er Jahren jedoch dahingehend, dass er auch positive Erzählungen des Klimawandels produziert. Ein Beispiel dafür ist etwa Thomas Homer-Dixons Text mit dem sprechenden Titel »Der heilsame Schock. Wie der Klimawandel unsere Gesellschaft zum Guten verändert« (Homer-Dixon 2010). Hier ist von einer »schöpferische[n] Krise« die Rede, die, wenn sie nur richtig bewältigt wird, zu einer »blühendere[n] Welt« führt, »die ganz gewiss menschlichere Züge tragen wird« (Homer-Dixon 2010, 23, 76). In welche Richtung diese Transformation gehen kann, wird idealtypisch in der folgenden Passage aus dem sogenannten »Klima-Knigge« illustriert: »Stellen Sie sich das einmal vor. Die Welt hätte sich verändert – wir hätten Milliarden Euro eingespart, Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen, würden als Verbraucher besser und mit weniger Kosten leben, hätten eine sichere Energieversorgung, die Kriegsgefahr um Öl und Gas beseitigt und die Armut erheblich verringert. Und dann käme heraus: Alles umsonst. Die Klimaforscher haben sich geirrt« (Grießhammer 2008, 13).
Low Carbon Society
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Das entsprechende Stichwort eines solchen, verheißungsvollen Klimaschutzprogramms lautet »no regret«-Strategie (Leggewie 2010a, 9). Die Umbaumaßnahmen gingen dementsprechend unabhängig des Klimaverlaufs mit einem kollektiven, globalen Profit einher, da einige der Pathologien des spät-modernen Kapitalismus durch die notwendigen Anpassungs- und Vermeidungsmaßnahmen beseitigt werden könnten. Unabhängig davon, ob man diese Einschätzungen teilt oder nicht, ist zumindest auffällig, dass die den öffentlichen Klimadiskurs prägende Angst-Rhetorik hier erstmals einen starken Gegenpol erhält, der in gewisser Weise an die optimistischen Einschätzungen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts anschließt. Es werden dabei zwar seltener auch die ›technischen Vorzüge‹ der klimatischen Transformation hervorgehoben – wie etwa die mit der Erwärmung einhergehende Erschliessung neuer Schifffahrtswege –, wesentlich jedoch speist sich der Optimismus aus der Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Umbau in Folge des Klimawandels. Low Carbon Society Der Topos des Klimawandels als zu gestaltender Gesellschaftswandel kann als vergleichsweise junges Komplementärstück zur naturwissenschaftlichen Debatte um die anthropogenen Umweltveränderungen gesehen werden. Er hat seine Ursprünge in dem Erfolg des klimatologischen Agenda-Settings und dem zunehmenden Interesse der Sozialwissenschaften für den Klimawandel. Die beiden zentralen Fragen der Debatte um den »Klimawandel als Gesellschaftswandel« (Leggewie 2010b) sind dabei, welche Auswirkungen die Veränderung der Atmosphäre und die damit verbundenen geophysischen Prozesse auf die Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben (werden), und umgekehrt, welche gesellschaftlichen Veränderungen notwendig sind, um die inzwischen unabwendbaren Folgen des Klimawandels so gering wie möglich zu halten.11 Grundsätzlich herrscht in weiten Teilen von Wissenschaft und Politik Konsens darüber, dass dem anthropogenen Klimawandel bzw. seinen drohenden sozialen Folgen nur mit einem umfassenden Gesellschaftswandel angemessen begegnet werden kann (vgl. z.B. Beck 2010; Giddens 2009; Urry 2011a; Leggewie 2010b; WBGU 2011; Reusswig 2010a/b). Der Diskurs, der sich um die konkreten Formen dieses Wandels entfaltet hat, ist inzwischen von außerordentlicher Weitläufigkeit. An ihm sind Politiker*innen, Sozial- und Naturwissenschaftler*innen, Beratungsinstitutionen, Nichtregierungsorganisationen usw. auf den verschiedensten Maßstabsebenen beteiligt. Er umfasst dabei die unterschiedlichsten Themenbereiche, von Fragen nach globaler Gerechtigkeit oder der Bedeutung demokratischer Entscheidungsprozesse über Modelle der Finanzierbarkeit der gesellschaftlichen Erneuerung bis hin zu Fragen nach der Rolle individueller Werthaltungen und
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Die beiden Perspektiven entsprechen der in der Klimawandeldebatte etablierten Unterscheidung von Anpassung (»adaptation«) und Vermeidung (»mitigation«).
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Lebensstile. Verdichtet finden sich diese Transformationsdebatten schließlich im Begriff der »Low Carbon Society«. Die Termini »Low Carbon Society« oder »Post-carbonism« (Weyer 2010, 385; Szerszynski/Urry 2010, 1) bezeichnen dabei eine Zielgröße, bei der zwar ein vager Konsens darüber besteht, durch welche Parameter ihr Eintreten gekennzeichnet ist, bei welcher zugleich jedoch enormer Dissens herrscht, durch welche konkreten Ansätze und Hebel sie erreicht werden kann. In einem sehr allgemeinen Sinne wird mit einer Low Carbon Society eine »nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsform« assoziiert, »die mit geringeren Treibhausgasemissionen auskommt« (Leggewie 2010a, 5). Präzisiert wird diese Definition häufig durch einen Verweis auf die Bestimmungen der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC). Dort wird als langfristiges Ziel der Klimapolitik ausgegeben: »to achieve […] stabilization of greenhouse gas concentrations in the atmosphere at a level that would prevent dangerous anthropogenic interference with the climate system« (United Nations 1992, 4; Hervorhebung K. G.). ›Kohlenstoffarme‹ Gesellschaften sind in diesem Sinne als Gesellschaften aufzufassen, die ihren Umgang mit der materiellen Umwelt so regulieren, dass dadurch kein »gefährlicher« Klimawandel verursacht wird (Reusswig 2010b, 90). Es ist offensichtlich, dass auch eine solche Definition über die entscheidenden Einflussgrößen im Unklaren lässt, da die Formulierung »gefährlich« erst – mit reichlich Interpretationsspielraum – in konkrete ›Stellgrössen‹ bzw. Handlungsanweisungen übersetzt werden muss. Im Falle der UNFCCC hat als erster Schritt der Übersetzung das sogenannte »2-Grad-Ziel« einen gewissen Konsens gefunden. Damit ist die Absicht verbunden, durch einen gesellschaftlichen Strukturwandel sowie (geo-)technologische Innovationen die Erhöhung des globalen Temperaturmittelwertes nicht über 2°C in Bezug auf die sogenannten vorindustriellen Werte ansteigen zu lassen (Rahmstorf/Schellnhuber 2007, 99; Reusswig 2010b, 83). Nur durch eine solche Begrenzung, ist man sich einig, kann eine radikale, die Existenz menschlicher Gesellschaften bedrohende ›Klimakrise‹ vermieden werden. Auch wenn diese Diskussion auf den ersten Blick sehr technisch dominiert erscheinen mag und wenn in den entsprechenden Diskursen nicht selten auf die Autorität der Naturwissenschaften als Argumentationsstütze zurückgegriffen wird, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das 2-Grad-Ziel letztlich eine auf politische Aushandlungsprozesse zurückzuführende Setzung darstellt. Wie Reusswig (2010b, 83) hervorhebt, spielt die Klimawissenschaft dabei zwar die Rolle eines Lieferanten von Sachinformationen, ohne die verschiedene Handlungsoptionen nicht sinnvoll beurteilt werden könnten, allerdings ist die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen ökonomisch machbar, sozial verträglich usw. sind, letztliche eine Sache der sozialen bzw. politischen Verständigung über erwünschte und unerwünschte Welt-Zustände.12 Die Transformation zu einer Low Carbon Society ist dementsprechend nicht in allererster Linie als ein tech12
Grundmann und Stehr (2011, 258) bringen diesen Zusammenhang auf folgende knappe Formel: »Zwar gibt es einen robusten wissenschaftlichen Konsens über Erkennung und Zuordnung der anthropogenen globalen Erwärmung. Dieser sagt uns aber nicht, was zu tun ist«.
Low Carbon Society
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nisches Vorhaben zu begreifen, das auf ein erfolgreiches Umweltmanagement gerichtet ist, sondern als ein Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung darüber, wie ›wir‹ gegenwärtig und zukünftig leben wollen. In dieser Perspektive ließe sich die Frage, was Gesellschaften für bzw. gegen den Klimawandel tun können, leicht zugespitzt auch herumdrehen: »We need to ask not what we can do for climate change, but to ask what climate change can do for us« (Hulme 2009, 326). Der Klimawandel wird hier als ein Moment der Vergewisserung sonst häufig unreflektierter politischer, ökonomischer und sozialer Grundlagen des Zusammenlebens begriffen (ebd., 362). Wie ein solcher, normativ aufgeladener Selbstverständigungsprozess politisch ganz konkret aussehen kann, lässt sich am Beispiel des vom Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU) herausgegebenen Gutachtens »Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation« zeigen. Der knapp 450 Seiten starke Bericht exploriert aus der Perspektive von Klimaforschung, Kulturwissenschaften, Ökonomik und Energieforschung die konkreten politischen Möglichkeiten des globalen gesellschaftlichen Umbaus zu mehr ›Klimaverträglichkeit‹. Er ist dabei explizit von der Annahme geleitet, »dass die technologischen Potenziale zur umfassenden Dekarbonisierung vorhanden […] und politische Instrumente für eine klimaverträgliche Transformation wohlbekannt sind«, dass diese jedoch durch bestimmte Pfadabhängigkeiten bislang nicht in hinreichendem Maße genutzt werden (WBGU 2011, 1). Diesem Problem beabsichtigt der WBGU durch einen konsequenten Aufweis der realpolitischen Machbarkeit der Transformation zu begegnen. Die Vorschläge des Gremiums lassen sich dabei in übergeordnete normative Leitlinien sowie konkrete Transformationsbereiche untergliedern. Als normative Eckpfeiler, an denen sich die ›großen‹ und ›kleinen‹ politischen Lösungen orientieren müssen, fungieren in dem Gutachten eine »Kultur der Achtsamkeit«, eine »Kultur der Teilhabe« und eine »Kultur der Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen« (WBGU 2011, 2). Achtsamkeit wird dabei als »ökologische Verantwortung« interpretiert, Teilhabe als »demokratische Verantwortung« und Verpflichtung als »Zukunftsverantwortung« (ebd., 2). Besonders der Aspekt der demokratischen Verantwortung wird im Bericht dabei hervorgehoben. So wird betont, dass für ein Gelingen der Transformation nicht nur ein starker, gestaltender Staat notwendig sei, sondern auch das Engagement der Bürgerschaft für die klimapolitischen Ziele (ebd., 10). Dazu sind jedoch einerseits auf institutioneller Seite systematisch Möglichkeiten der Partizipation zu schaffen, um Entscheidungen stärker demokratisch zu legitimieren. Andererseits ist aufseiten der Alltagshandelnden durch Bildungsangebote etc. ein Problembewusstsein zu erzeugen und die Kompetenz systemischen Denkens zu stärken, denn »[f]ür das Gelingen einer Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft ist die Verbreitung entsprechender Einstellungen und Präferenzen unabdingbare Voraussetzung« (ebd., 8, 23). Als konkrete Interventionsfelder identifiziert der WBGU (2011, 3ff.) drei besonders emissionsintensive Bereiche der gesellschaftlichen Organisation: das Energie- und Mobilitätssystem, der Bereich der Urbanisierung und schließlich die
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Muster der Landnutzung und Raumplanung. Für alle Bereiche wird mehr oder minder explizit eine Erhöhung der Energieeffizienz (durch technologische Maßnahmen) sowie eine Reduktion der Energienachfrage (durch einen Wandel der Lebensstile) gefordert, um die große Transformation erfolgreich herbeizuführen. Beispielhaft werden dazu Maßnahmen wie etwa die Förderung einer kollektiven kontinentalen Energiepolitik (ebd., 302), die Etablierung einer UN-Suborganisation für nachhaltige Urbanisierung (ebd., 313) oder die Unterstützung klimaverträglicher Ernährungsweisen (ebd., 321) vorgeschlagen. Die Liste weiterer konkreter Ideen ist von enormem Umfang und umfasst Maßnahmen auf verschiedenen »Ambitionsniveau[s]« (WBGU 2011, 9). Was die oberflächlich so heterogenen Vorschläge eint, ist die hinter ihnen aufscheinende Vision einer umfassend transformierten Gesellschaft. Diese Low Carbon Society hat dem Gutachten zufolge – und scheinbar alternativlos – die Form eines energieeffizienten, technologieaffinen, urbanisierten, demokratischen und (last, but not least) marktwirtschaftlich organisierten Gemeinwesens.13 Aufgabe der Politik ist es nach dem WBGU schließlich, die Rahmenbedingungen für das Erreichen einer solchen Gesellschaftsform zu schaffen. Die alltägliche Bearbeitung der Krise Während Projekte wie die vom WBGU empfohlene »Große Transformation« charakteristisch für langfristige politische Zielsetzungen ›von oben‹ sind, lässt sich parallel dazu bereits jetzt eine Veränderung des individuellen Alltags beobachten. So hat sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts in den kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften des globalen Nordens zunehmend die Idee etabliert, dass die Lösung der Klimakrise nicht nur Sache politischer Programme und Abkommen ist, sondern in mindestens ebenso starkem Maße die Mitwirkung der Alltagshandelnden erfordert. Der Tenor dieses gesellschaftlichen Mentalitäts- oder eben: Klimawandels, wird exemplarisch von Claus Leggewie, einer der prominentesten Stimmen der gegenwärtigen Ökologisierungsbewegung illustriert: »Jeder einzelne Leser dieses Interviews muss wissen, dass man nicht warten kann, bis die anderen anfangen. Man kann sofort eine große Volksbewegung starten, indem man seinen eigenen Lebensstil kritisch betrachtet und freudig ändert. Die Lebensfreude in zehn Jahren hängt davon ab, ob man den alten oder den neuen Weg geht« (Leggewie 2010a, 9).
Soll die Transition zur Low Carbon Society gelingen, so die Grundargumentation des neuen Klimadiskurses, muss jede*r einen Beitrag leisten. Diese Erweiterung der Debatten um die Lösung der Klimakrise von der »Weltbühne der Aufmerksamkeit« (Egner 2007, 250) in das individuelle Alltagsleben hinein zeichnet sich dabei vor allem durch drei Merkmale aus. Erstens geht damit eine schleichende 13
Was im Übrigen in allzu deutlichem Gegensatz zum Namenspatron des Berichts steht: Karl Polanyis 1944 veröffentlichte Studie »The Great Transformation« lief gerade auf eine Begrenzung marktwirtschaftlicher Organisationsprinzipien von Gesellschaft hinaus (vgl. Sachs 2013, 22f.).
Die alltägliche Bearbeitung der Krise
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Moralisierung des Alltags einher. Zweitens lässt sich dabei eine Kommodifizierung des Klimaschutzes beobachten. Und drittens schließlich ist damit eine – zumindest graduelle – Verwissenschaftlichung der Alltagsdiskurse verbunden.14 Die Tendenz einer Moralisierung des Alltags lässt sich an den omnipräsenten Aufforderungen zur ökologischen Selbstaktivierung ablesen. Selbst einfachste Alltagstätigkeiten wie ein Einkauf im Supermarkt, die Planung einer Reise oder die Wahl eines Stromanbieters konfrontieren die Alltagssubjekte mit der (unterschwelligen) Aufforderung, etwas gegen den Klimawandel zu tun und die – nunmehr vorhandene – klimafreundliche Option zu wählen. In theoretischer Hinsicht lässt sich dies als Etablierung einer bestimmten Art von Kommunikation charakterisieren, einer Kommunikation, die auf soziale Interaktionen abhebt (Luhmann 2008, 272). Solch eine moralische Kommunikation stellt zumindest implizit die Frage, unter welchen Bedingungen menschliches Zusammenleben gelingen kann. Als »gut« und »anerkennenswert« gelten dann z.B. Entscheidungen oder Praktiken, die die mit ihnen einhergehenden (Neben-)Folgen für das menschliche Zusammenleben berücksichtigen und zu ›sozialverträglichen‹ Lösungen kommen. Als »schlecht« oder »verachtenswert« werden hingegen Aktivitäten beurteilt, die als wenig sozialbewusst wahrgenommen werden bzw. negative Nebenfolgen verursachen. In Bezug auf die Klimakrise gilt demzufolge: Wir sollen uns (als gut sozialisierte, verantwortungsbewusste Bürger) bei jeder Tätigkeit fragen, welchen ›klimatischen Fußabdruck‹ diese hinterlässt und ob sie mit den Zielen des Klimaschutzes vereinbar ist. Der ›klimatologische Imperativ‹ lautet dann, so zu handeln, dass dabei eine möglichst geringe Menge an Treibhausgasen freigesetzt oder der entstandene Schaden kompensiert wird, um die Folgen für gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft(en) gering zu halten (vgl. Beck 2008, 302). Diese Anforderungen finden dabei nicht nur in expliziten moralischen Appellen Ausdruck (z.B. »Sparen Sie Energie!«, »Verzichten Sie, wenn möglich, auf Flugreisen!«), sondern auch und vor allem in subtilen, impliziten Bewertungsschemata. Eng verbunden mit der Moralisierung des alltäglichen Klimadiskurses ist die Kommodifizierung ökologischer Praktiken. Kommodifizierung meint dabei die Ausweitung der Marktlogik auf den Bereich des alltäglichen Klimaschutzes, oder anders gesagt, die zunehmende Warenbezogenheit eines moralisch guten (klimabezogenen) Handelns. Während die klassische, den ökologischen Diskurs über lange Zeit dominierende Möglichkeit des Klimaschutzes im Konsumverzicht besteht, weist der Aspekt der Kommodifizierung darauf hin, dass die ökologische Moral inzwischen auch ›zum Kunden kommen kann‹, ohne dass dieser sich in Askese üben muss (vgl. Priddat 1998, 86). Stehr (2007, 70) charakterisiert diesen Prozess als eine umfassende »Moralisierung der Märkte«, d.h. als eine Ausbreitung der Moral, die sich »insbesondere in den an Märkten gehandelten Produkten und Dienstleistungen« zeigt.
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Einige der im Folgenden genannten Beispiele wurden vom Autor – in anderer Form und anderem theoretischem Argumentationszusammenhang – bereits in dem Aufsatz »Moralischer Konsum und das Paradigma der Gabe« diskutiert (vgl. Gäbler 2010).
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Beispiele für solche moralisch aufgeladenen Produkte und Dienstleistungen lassen sich inzwischen en masse finden: So bieten nahezu alle großen Paketdienstleister einen »klimafreundlichen« Versand an; Angebote des öffentlichen Personenverkehrs werben mit sogenannter »Ökostrom-Versorgung«; und selbst Internetsuchanfragen sollen mit entsprechenden Anbietern »CO2-neutral« verwirklicht werden können. Darüber hinaus hat sich eine ganze Reihe an Angeboten zur freiwilligen Emissionskompensation etabliert. Bei Unternehmen wie »myclimate« oder »atmosfair« lässt sich der durch unvermeidbar erscheinende Tätigkeiten verursachte Ausstoß an Treibhausgasen durch Unterstützung ökologischer Projekte (Aufforstungen, Implementation ›klimaschonender‹ Technologien usw.) kompensieren. Ihren bisherigen Kulminationspunkt findet diese scheinbare Versöhnung von kapitalistischer Ökonomie und Ökologie im sogenannten »LOHAS« (Lifestyle Of Health And Sustainability). Die Vertreter*innen des LOHAS erheben den ›guten Konsum‹ zum normativen Leitbild und beabsichtigen, ökologische Motive und Konsumgenuss widerspruchsfrei zu vereinen (Schoenheit 2009, 24). Auch wenn dieser Versuch inzwischen als eine Art elitäre Ästhetisierung des Konsums, die es bei den ökologischen Folgen letztlich nicht so genau nimmt, kritisiert wird (ebd.), zeigt das Phänomen dennoch den Wandel der gesellschaftlichen Stimmungslage an: Klimabewusstsein und Klimaschutz sind auch auf der ökonomischen Agenda angekommen (vgl. Kap. 5). Ein dritter Aspekt des gegenwärtigen ökologischen Gesellschaftswandels ist schließlich das zunehmende Eindringen wissenschaftlicher Konzepte und Informationsbestände über den Klimawandel in den Alltag. Damit ist gemeint, dass die öffentliche Klimawandeldebatte in immer stärkerem Maße eine eigene, an die Konzepte, Begriffe und das Faktenwissen der wissenschaftlichen Expert*innen angelehnte Sprache entwickelt, in der Topoi wie »2-Grad-Ziel«, »Emissionsrechtehandel« oder »ökologischer Fußabdruck« mit einer noch vor wenigen Jahren ungekannten Selbstverständlichkeit benutzt werden (vgl. z.B. Ott 2010, o.S.; Jung 2010, 62ff.; Yarrow 2009, 6). Beobachten lässt sich dies in der massenmedialen Berichterstattung zu tagesaktuellen Fragen des Klimawandels, wie etwa die Erwähnung neu erscheinender IPCC-Reports oder internationaler Klimakonferenzen in den Nachrichten, in popkulturellen Thematisierungen der globalen Veränderungen, wie dem eminent erfolgreichen Dokumentarfilm »Eine unbequeme Wahrheit« mit Al Gore (2006a/b), aber auch und besonders in unmittelbaren Handlungssituationen, wie z.B. der Entscheidung für oder gegen ein mit einer bestimmten CO2-Bilanz versehenes Produkt. Wie nachhaltig die Integration wissenschaftlicher Begriffe und Denkweisen in die alltäglichen Routinen ist, d.h. ob die Alltagshandelnden ›tatsächlich‹ über ein Verständnis der Zusammenhänge verfügen, die Situation aus Expert*innensicht angemessen interpretieren und die ›richtige‹ Entscheidungen treffen, oder ob sie die Auseinandersetzung mit derartigen Themen ablehnen, ist dabei zunächst einmal unerheblich. Entscheidend für die Beobachtung einer Verwissenschaftlichung der alltäglichen Klimawandeldebatte ist, dass eine erfolgreiche, anerkannte Teilnahme daran in zunehmendem Maß die Kompetenz voraussetzt, die Sprache dieses Diskurses zu beherrschen.
Zwischenfazit
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Insgesamt betrachtet geht mit der skizzierten fortschreitenden Ökologisierung des Alltags eine bedeutende Verschiebung von Erfahrungshorizonten einher. Mit dem derzeit steigenden gesellschaftlichen Wert ökologischer Praktiken15 werden nicht nur, wie eben gezeigt, spezielle Kompetenzen von den Individuen verlangt, sondern es müssen auch neue Wertmaßstäbe erlernt und stetig kalibriert werden. Gegenständen und Praktiken etwa, denen noch vor wenigen Jahren gesellschaftliche oder milieuspezifische Achtung zukam, kann gegenwärtig aufgrund ihrer CO2-Bilanz die Anerkennung verweigert werden. Diese Dynamisierung von Wertestrukturen zeigt sich dabei vor allem in der ökologischen Aktivierung. Sich freiwillig, aus Vernunftgründen zurückzuhalten, verspricht in der derzeitigen gesellschaftlichen Konstellation ein Maß an Anerkennung, das im Vergleich zur negativen Popularität ökologischer Themen in den 1980er Jahren bemerkenswert ist. Zwischenfazit Wie lassen sich diese hier nur kursorisch nachgezeichneten gesellschaftlichen Entwicklungen resümieren? Zunächst einmal ist der Diskurs um den Klimawandel ein nahezu prototypisches Beispiel für die Migration einer spezifisch wissenschaftlichen Debatte in andere Handlungsbereiche hinein. Spätestens mit dem zu Beginn der 1990er Jahre einsetzenden Übergang aus den Expert*innendiskursen in den Mainstream der Gesellschaft wurde aus dem (natur-)wissenschaftlichen Problem des Klimawandels ein ernst zu nehmendes Problem der (politischen) Gestaltung von Gesellschaft. Die damit verbundenen Umbrüche deuten sich in ihrer vollen Konsequenz gegenwärtig zwar erst an, doch lässt sich bereits jetzt ein Wandel des Zeitgeistes beobachten. Der Klimawandel hat sich in diesem Sinne als das die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart beherrschende Thema etablieren können (vgl. Schönherr-Mann 2015). »Gesellschaftlich« kann der Klimawandel genannt werden, weil er in materieller Hinsicht das Ergebnis gesellschaftlicher Aktivitäten ist. Auch wenn es natürliche Schwankungen des Klimasystems geben mag, die aktuellen Erwärmungstendenzen sind nahezu unumstritten auf menschliche Tätigkeiten zurückzuführen. In kulturell-symbolischer Hinsicht lässt sich der Klimawandel hingegen als »gesellschaftlich« charakterisieren, weil er als Phänomen diskursiv (re-)produziert werden muss. Die Existenz des Klimawandels als ein »globales Umweltproblem«, als »politische Herausforderung für die Zukunft« oder schlicht und einfach eben als »Klimawandel« ist dementsprechend nicht voraussetzungslos, sondern sie verdankt sich den kulturellen Operationen des Bewertens, Interpretierens, Erzählens usw. (Reusswig 2010b, 78f.; Lippuner 2010a, 3f.). 15
Vgl. dazu etwa die vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit sowie dem Umweltbundesamt herausgegebene Studie zum »Umweltbewusstsein in Deutschland 2014« (BMUB 2015). Dort wird eine besondere Priorität des Klimaschutzes im Alltag dokumentiert sowie eine zunehmende Tendenz, »selbst aktiv [zu] werden und an[zu]fangen, unsere Lebensweise zu verändern« (BMUB 2015, 33).
3 Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse
Nach den bisherigen, eher zeitdiagnostischen Bemerkungen mag es unmittelbar plausibel erscheinen vom Klimawandel als gesellschaftlichem Klimawandel zu sprechen, und es mag konsequenterweise auch plausibel erscheinen, dass dieser Klimawandel ein Gegenstand sozialwissenschaftlicher und sozialgeographischer Forschung sein kann bzw. aktuell ist (vgl. z.B. Voss 2010; Welzer et al. 2010). Diese Position ist jedoch nicht selbstverständlich. Welche Vorentscheidungen die Rede von einem gesellschaftlichen Klimawandel enthält, lässt sich andeuten, wenn man für einen Moment hinter die Ansicht einer Überlappung oder Vermischung von Sozialem und Naturalem zurückgeht und die Frage stellt, wie es eigentlich möglich ist, die zwei Bereiche der Natur – die aktuell beobachtbaren geo-physischen Veränderungen – und des Sozialen – die aktuell beobachtbaren gesellschaftlichen Veränderungen – auf der Ebene wissenschaftlicher Theorien miteinander ins Spiel zu bringen. In der einschlägigen Literatur werden zwei Strategien des Umgangs mit dieser Frage unterschieden (Groß 2006, 99ff.; Görg 1999, 21; Diekmann/Preisendörfer 2001, 55ff.; Brand/Reusswig 2007, 656). Die erste Strategie besteht darin, von einer einheitlichen Substruktur der – dann eben nur scheinbar verschiedenen – Bereiche auszugehen. Trotz der alltäglich getroffenen Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Naturalen, so diese Argumentation, sind beide Ausdruck ein und desselben Organisationsprinzips. Dieses Prinzip kann dann entweder in Natur (Naturalismus) oder in Gesellschaft bzw. Kultur (Kulturalismus) gesehen werden. Im ersten Fall wäre Gesellschaft nur die logische Fortführung natürlicher Organisation. Die beobachtbaren sozialen Transformationen wären letztlich Teil desselben Phänomenbereichs, dem z.B. auch die Klimaveränderungen angehören und wären konsequenterweise auch mit gleichen Mitteln zu erforschen. Die zentrale Herausforderung eines solchen Ansatzes bestünde darin, die alltäglich erfahrbaren Unterschiede zwischen Sozialem, dessen charakteristische Merkmale Undeterminiertheit und Kontingenz sind, und Naturalem, das sich durch Kausalität auszeichnet, möglichst plausibel auf die Seite der Natur zu reduzieren. Im zweiten Fall, der kulturalistischen Lösung, wären Natur bzw. der Klimawandel ›bloß‹ Konstrukte gesellschaftlicher bzw. kultureller Kommunikation und fielen dementsprechend ebenso in das Hoheitsgebiet sozialwissenschaftlicher Forschung wie z.B. das Thema des sozialen Wandels. Die zentrale Anforderung an jenen Ansatz bestünde darin, die alltäglich erfahrbare Wirkung der Materialität der Welt und deren
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(nicht als kulturspezifisch wahrgenommene) Eigendynamik überzeugend zu integrieren. Nicht immer treten diese beiden Positionen, die mit den erkenntnistheoretischen Auffassungen des Realismus und des Konstruktivismus bzw. Idealismus korrelieren, in Reinform auf (vgl. Brand 1998, 24). Jedoch lässt sich in der Geschichte der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften eine breite Palette von biologistisch-naturalistischen bis radikal konstruktivistischen Positionen ausmachen, auf welcher die einzelnen Ansätze zu verschiedenen Graden einer der beiden Optionen folgen. Will man die mit dem radikalen Naturalismus und Kulturalismus verbundenen Reduktionismen vermeiden, so besteht die zweite Strategie, mit den Beziehungen von Gesellschaft und Natur umzugehen, darin, zunächst die Eigenlogiken der Sphären anzuerkennen und das Verhältnis zwischen beiden als separaten Erkenntnisgegenstand in den Blick zu nehmen (Brand/Reusswig 2007, 656; Görg 1999, 21; Groß 2006, 99ff.; Weichhart 2005, 111ff.). Ein derartiges Vorgehen ist von der Einsicht geleitet, dass Natur und Gesellschaft in einer solchen Weise miteinander verschränkt sind, dass die Berücksichtigung des jeweils anderen Bereiches »hilfreich« bzw. sogar »notwendig« (Brand/Reusswig 2007, 656) zur Bearbeitung der eigenen Gegenstände ist. Allerdings ist eine bloße »Berücksichtigung« – das macht den nichtreduktonistischen Charakter aus – nicht hinreichend. Es ist wichtig, sich die Tragweite dieser Prämissen in Bezug auf beide Wissenschaftsbereiche zu vergegenwärtigen. Gewiss gilt die Notwendigkeit einer Einbeziehung ›natürlicher‹ Sachverhalte nicht in vollem Umfang für die Sozialwissenschaften. Es mag Bereiche geben, die auch ohne unmittelbare Bezugnahme zu Natur angemessen erklärt werden können.16 Umgekehrt gilt nach dieser Position jedoch immer die Notwendigkeit einer Thematisierung des Sozialen für die Vollzüge der Naturwissenschaften. Dieses Postulat speist sich einerseits aus der bereits in der Einleitung dieser Studie skizzierten Erkenntnis, dass die Naturwissenschaften selbst sozial-kulturelle Projekte sind, die mit bestimmten sozial-kulturellen Voraussetzungen (z.B. spezifischen Ideen von Natur) an ihre Gegenstände herantreten. Andererseits ist es auf die Annahme zurückzuführen, dass auch die materielle Welt in den größten Teilen als vergesellschaftet, d.h. durch (nur sozialwissenschaftlich zu verstehende) sozio-kulturelle Praktiken materiell geformt oder beeinflusst, anzusehen ist.17 In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels soll nun aus theoretischer Sicht erläutert werden, wie die Rede von einem gesellschaftlichen Klimawandel verstanden werden kann. Dazu ist es notwendig, das empirische Phänomen des gesell16
17
Auch wenn es gerade gegenwärtig viele Bemühungen gibt, den Bezug zu Natur auch für scheinbar ›unverdächtige‹ Bereiche herauszustellen, und wenn natürlich immer auf die biophysische Basis (Körperlichkeit) der gesellschaftlichen Akteur*innen verwiesen werden kann, scheint die Interaktion mit Natur in vielen Bereichen sozialwissenschaftlicher Forschung zumindest nicht das entscheidende Element zu sein. Selbst die in der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung im Labor untersuchte Natur, so eine Grunderkenntnis dieser Ansätze, ist in diesem Sinne nicht ›rein‹, sondern zu bestimmten Zwecken präpariert.
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schaftlichen Klimawandels zunächst unter dem allgemeineren (klassisch geographischen) Gesichtspunkt der Bezüge von Gesellschaft und Natur zu betrachten. Mit den genannten theoretischen Grundoptionen (Naturalismus, Kulturalismus, relationaler Nichtreduktionismus) ist in grober Interpretation das Feld umrissen, mit dem sich das Phänomen theoretisch beschreiben lässt. Ins Blickfeld geraten damit disziplinär sehr heterogene, wenngleich nicht überlappungsfreie Theorieangebote. So werden die benannten Themen gleichermaßen in Theorien reflexiver Modernisierung, der Politischen Ökologie, Humanökologie oder der Umweltpsychologie behandelt, wie auch in der Theorie des rationalen (Umwelt-)Handelns, der Humangeographie, der Umweltökonomie, der Risikoforschung, der Sozialen Ökologie oder der Umweltethik. Die konkreten Konzeptionen sowohl von »Natur« als auch von »Gesellschaft« können in Abhängigkeit der spezifischen Ausgangsperspektive (der Basistheorie) des entsprechenden Ansatzes ganz verschieden ausfallen und sind häufig nur unter Bezugnahme auf die jeweilige disziplinäre (Vor-)Geschichte angemessen zu verstehen. Im Folgenden werden speziell die Ansätze der Humanökologie, Sozialen Ökologie und handlungszentrierten Sozialgeographie in den Blick genommen. Mit der humanökologischen Traditionslinie lässt sich einerseits die frühe Entwicklung des durch Ernst Haeckel in den 1860er Jahren eingeführten Begriffs der Ökologie rekonstruieren, andererseits dessen mehrfache Umarbeitung bis hin zu einer integrativen Umweltforschung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Soziale Ökologie, die dem Denken der Kritischen Theorie nahe steht, ist ganz auf die Etablierung inter- und transdisziplinärer Umweltforschung ausgerichtet und entwickelt mit der Vorstellung gesellschaftlicher Naturverhältnisse eines der Schlüsselkonzepte integrativer Ansätze. Die handlungszentrierte Sozialgeographie bietet schließlich ebenfalls eine Perspektive an, welche die problematischen Implikationen reduktionistischer Ansätze zu vermeiden sucht, offeriert jedoch mit ihrem Fokus auf alltägliche Praxis und deren Einbettung in gesellschaftliche Raumverhältnisse einen ganz anderen Zugang als die soziologisch orientierte Umweltforschung. Die Diskussion dieser drei Konzeptionen erlaubt nicht nur eine Illustration der Fallstricke sozialwissenschaftlicher Umweltforschung, sondern es lässt sich damit auch ein (sozialgeographischer) Interpretationsrahmen für den gesellschaftlichen Klimawandel erarbeiten. Humanökologie Der Begriff »Humanökologie« lässt mindestens zwei Auslegungsarten zu. HumanÖkologie als eine Ökologie des Menschen lässt sich zum einen als Spezialfeld der biologischen Subdisziplin der Ökologie begreifen, die nach wie vor wesentlich als eine Naturwissenschaft betrieben wird. Ein programmatisches Beispiel dafür ist etwa Wolfgang Nentwigs Lehrbuch »Humanökologie« (Nentwig 2005), in dem zwar auch von kulturellen Phänomenen wie Verstädterung oder Konsummustern die Rede ist, dies aber in einer letztlich klassisch biologischen Optik geschieht – als Frage nach Populationsdynamiken, Stoff- und Energieflüssen etc. Eine solche
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Ökologie des Homo sapiens läuft dabei, ganz im Sinne der naturwissenschaftlichen Kernkompetenzen, auf eine Quantifizierung der Einflüsse des Menschen auf Ökosysteme hinaus. Kulturelles findet hier hauptsächlich in Form einer Analyse der »Systemeigenschaften unserer menschlichen Kultur« (Nentwig 2005, 2) Berücksichtigung.18 Eine andere Auslegung des Begriffes der Humanökologie besteht indessen darin, statt der methodologischen Ausrichtung der Ökologie (als biologische Wissenschaft des Naturhaushalts) eher ihre Grundperspektive als Wissenschaft der Außen- und Austauschbeziehungen zu und mit einer ›natürlichen‹ Umwelt zum Ankerpunkt zu machen. Solch eine Ökologie des Menschen müsste dann jedoch sozialwissenschaftlich über die biologische Ökologie hinausgehen. Motiviert ist ein solcher Zugang durch die Annahme, dass der Naturbezug des Menschen sozial-kulturell vermittelt ist und dementsprechend auch nicht unter Ausschluss sozial-kultureller Kategorien untersucht werden kann. Beispiele für diese auf Integration sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Ansätze ausgerichtete Forschung sind im deutschsprachigen Kontext etwa die Arbeiten aus dem Umfeld der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (vgl. Serbser 2003a) oder die bei Meusburger und Schwan (2003) versammelten, der Geographie nahe stehenden Studien. Eines der Hauptmerkmale dieser Ansätze ist neben dem Einbezug sozialwissenschaftlicher Perspektiven vor allem die wissenschaftliche Selbstreflexivität, d.h. die Frage danach, in welcher Weise die menschlichen Naturbezüge wissenschaftlich vermittelt sind bzw. welche Rolle die Wissenschaften bei der Bestimmung dessen einnehmen, was Natur ›ist‹ und wie in Bezug auf Natur gehandelt werden soll. Die beiden hier skizzierten Pole des begrifflich-konzeptionellen Verständnisses von Humanökologie können als Eckpunkte eines ganzen Spektrums der Mensch- oder Gesellschafts-bezogenen Umweltforschung gelten, auf dem sich die verschiedensten (im weitesten Sinne humanökologischen) Positionen finden lassen. Neben naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen etwa aus der Evolutionsökologie (z.B. Teschler-Nicola 2002) oder der biologischen Anthropologie (z.B. Schutkowski 2006) finden sich (umwelt-)psychologisch argumentierende Studien (z.B. Kruse 2003), Arbeiten aus der Ethnologie (z.B. Herrmann 2002) oder der Umweltpolitik und Umweltethik (z.B. Serbser/Bruckmeier 2008).19 Die verschiedenen Ansätze operieren dabei, was eine genaue Eingrenzung erschwert, mit je unterschiedlichen theoretischen Basiskonzepten, methodologischen Annahmen und disziplinären Vernetzungen. Angesichts einer solchen Heterogenität humanökologischer Forschung ließe sich also die Frage stellen, inwiefern überhaupt von der Humanökologie zu sprechen ist. In der Tat handelt es sich um ein äußerst fragmentiertes Feld, bei dem die 18 19
Nentwig (2005, 2) führt als solche Systemeigenschaften auf: »Instabilität, offene Stoffflüsse und fehlende Kontrollmechanismen«. Darüber hinaus sind natürlich die oben bereits angesprochenen vielfältigen Arbeiten aus der Geographie zu nennen, die hier ob ihrer enormen internen Differenziertheit nicht noch einmal separat aufgeführt werden sollen.
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Kennzeichnung als »Humanökologie« im Singular mehr Homogenität suggeriert als die damit benannten Wissenschaftstraditionen tatsächlich auszeichnet. Es scheint daher sinnvoll zu sein, unter »Humanökologie« oder »human ecology« zunächst einmal weniger eine Disziplin im engeren Sinne zu verstehen als vielmehr eine bestimmte Perspektive oder ein »transdisziplinäres Forschungsfeld« (Weichhart 2003c, 296). Als Kern dieser Perspektive gilt heute unter jenen, die sich selbst als Humanökolog*innen bezeichnen, eine »ganzheitliche« Behandlung der Beziehungen von »Gesellschaft, Mensch und Umwelt« (Glaeser 2003, 9). »Ganzheitlich« meint dabei erst einmal nur, dass möglichst alle Aspekte dieser Beziehungen (physisch-materiell, kulturell, wirtschaftlich, politisch) in die Analyse einbezogen werden sollen (ebd.). Den avancierteren Humanökologien – die sich auf der oben angedeuteten Skala eher am zweiten Pol befinden – geht es dabei jedoch nicht nur um eine Berücksichtigung dieser verschiedenen Aspekte, sondern um die Entwicklung nichtreduktionistischer Erklärungsansätze für ihr Zusammenspiel. Mit dem Hinweis darauf, dass es sich hierbei um ein aktuelles Verständnis humanökologischen Denkens handelt, ist bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Kernidee der Humanökologie im Verlauf der inzwischen über einhundertjährigen Verwendung des Begriffes mehrfach transformiert worden ist. Wie gegenwärtig entwickelte humanökologische Forschungsansätze verfahren, unterscheidet sich auf den ersten Blick in bedeutender Weise von den Fragestellungen der Ökologie, Geographie und Soziologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dennoch kommt eine Darstellung humanökologischen Denkens nicht um eine Erörterung ihrer kognitiven bzw. akademischen Ursprünge umhin. Ganz im Gegenteil: Erst mit Blick auf die humanökologische Entwicklungsgeschichte kann deutlich gemacht werden, warum bestimmte theoretische Optionen gegenwärtig verworfen werden oder attraktiv erscheinen, welche (mitunter festgefahrenen) Semantiken die Kernbegriffe humanökologischer Debatten besitzen, welche disziplinäre Dynamik von der Einnahme einer humanökologischen Perspektive ausgehen kann und auf welche grundsätzlichen, wenn man so will: philosophischen Probleme das Forschungsfeld der Humanökologie verweist. Die hier vertretene These ist dabei, dass bereits bei Ernst Haeckel, dem Gründervater ökologischen Denkens, die Grundfrage humanökologischen Denkens formuliert ist ‒ die Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur (vgl. Haeckel 1891[1874], 3). Auch wenn diese Frage nicht von allen Strängen humanökologischer Forschung explizit thematisiert wird, stellt sie dennoch den Horizont humanökologischer Konzepte dar. Zum anderen aber trägt bereits das Haeckel’sche Denken den problematischen Kern vieler in der Alltagssemantik ›ökologischer‹ Argumentationen in sich: der Fokus auf Räume, Habitate, Materielles, der häufig den Blick für soziale Zusammenhänge verstellt. Wie lässt sich das Forschungsfeld der Humanökologie nun historisch und systematisch ordnen? Zunächst einmal lässt sich festhalten: Dass die humanökologischen Ansätze heute nicht (einheitlich) disziplinär verfasst sind bedeutet nicht, dass der Entstehungskontext dieses Denkens sich nicht disziplinär verorten ließe. Der Begriff der Humanökologie stellt dabei das Zentrum einer ganzen Reihe an disziplinären Kämpfen um Deutungshoheiten dar, in denen Wissenschaftsberei-
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che wie Soziologie, Geographie oder Biologie jeweils aus ihrer Fachtradition heraus zu bestimmen versuchen, was unter dem Terminus zu verstehen ist.20 Groß (2006, 48ff.) bezeichnet diese Situation treffend als einen Wettbewerb um »Einzugsgebiete«. Diese Konstellation hat aus Sicht einer Rekonstruktion der Begriffsgeschichte von »Humanökologie« – und (human-)ökologischen Denkens überhaupt – zwar den bereits skizzierten ›Nachteil‹, ein äußerst zersplittertes, vielschichtiges Feld zu präsentieren, in dem Orientierungspunkte aufgezeigt werden müssen ohne zugleich in eine teleologisierende Erzählweise zu verfallen, sie gibt andererseits jedoch Gelegenheit dazu, nahezu paradigmatisch aufzuzeigen, wie die Bestimmungen des Mensch-Natur-Verhältnisses auch auf den Kontext der Bestimmung, sprich: die disziplinäre Ordnung der Wissenschaft zurückwirken. Das heißt, die Grundfrage der Humanökologie dient(e) häufig zur disziplinären Selbstvergewisserung, von den vielfältigen Konvergenz- und Divergenzbewegungen zwischen Biologie und früher Soziologie bis hin zu den innerdisziplinären Dynamiken in der modernen Geographie. In Bezug auf die Entwicklung humanökologischen Denkens lassen sich in grober Interpretation drei Diskurszusammenhänge voneinander unterscheiden: Erstens, die Etablierung der Ökologie (und einer impliziten Humanökologie) durch Ernst Haeckel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zweitens, die terminologische Fundierung und disziplinäre Ausdifferenzierung einer »human ecology« in der US-amerikanischen akademischen Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und drittens schließlich die seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart andauernde humanökologische ›Renaissance‹ in Form einer ganzheitlichen Umweltforschung.21 Während die Grundlegungen bei Haeckel vergleichsweise eindeutig nachzuvollziehen und zu kategorisieren sind, ist die Zuordnung bereits in dem zweiten benannten Zusammenhang schwierig. Neben der Selbstetikettierung als »Humanökologie« oder »human ecology« lässt sich in Bezug auf die älteren humanökologischen Ansätze als Zugehörigkeitskriterium festhalten, dass unter »Humanökologie« all diejenigen Ansätze gefasst werden, die sich an der biologischen Ökologie orientieren und auf eine spezielle Ökologie des Menschen gerichtet sind. Ins Blickfeld geraten dadurch der Ansatz des Ökologen Stephen Forbes, die humanökologische Reorganisation der Geographie durch Harlan H. Barrows und schließlich die unter dem Label »Chicago School of Sociology« firmierende humanökologische Stadtforschung. Die Wiederentdeckung der Humanökologie seit den 1970er Jahren wird schließlich am Beispiel der geographischen Debatten um die (Re-)Integration der Disziplin und das Modell einer »Dritten Säule« (Weichhart 2005, 111ff.; 2003a, 24ff.; Wardenga/Weichhart 2006) diskutiert.
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Für eine knappe historische Übersicht vgl. Bruhn (1974). Wobei der Begriff der Renaissance hier nicht andeuten soll, es habe zwischen der zweiten und dritten Phase keinerlei humanökologische Forschung gegeben – humanökologisches Denken war auch in der Zwischenzeit nicht völlig von der akademischen Bildfläche verschwunden. Allerdings ist es insofern berechtigt von einer Renaissance zu sprechen, als seit den 1970er Jahren der Begriff erneut zur Selbstbezeichnung verwendet wird und damit eine neuartige Forschung charakterisiert wird, die nur bedingt an die älteren Traditionen anschließt.
Humanökologie
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Ernst Haeckel und die »Oeconomie der thierischen Organismen« Der Begriff »Ökologie« ist zu einem Sammelplatz für Reflexionen der Verhältnisse von Mensch und Natur geworden. Der Alltagssemantik des Begriffs nach bedeutet »ökologisch« oder das gebräuchlichere Präfix »öko-« zumeist »natürlich«, »naturnah«, »nicht schädigend« usw. Klassische, d.h. in diesem Falle biologische Lehrbücher bestimmen die Ökologie folgendermaßen: »Ökologie [ist] die wissenschaftliche Erforschung der Beziehungen zwischen Organismen untereinander und mit ihrer Umwelt« (Smith/Smith 2009, 2). Und weiter: »Ökologie ist im Kern eine biologische Wissenschaft« (ebd.). Diese Formulierung beruft sich auf die bekannte Definition des Begründers der Ökologie, Ernst Haeckel. Bevor dessen im 19. Jahrhundert formulierte Ausgangsbestimmungen in den Blick genommen werden, lohnt es sich jedoch, anknüpfend an die genannte ökologische Fachliteratur eine andere Frage vorauszuschicken, die die Einschlägigkeit der klassischen Haeckel’schen Ökologie für gegenwärtige Behandlungen der Mensch/Gesellschaft-Natur/Umwelt-Beziehungen anzudeuten vermag. Die Frage lautet, was sinnvollerweise unter dem Attribut »biologisch« verstanden werden kann. Nach dem Alltagsverständnis ist die Biologie – und damit, wenn man Smith und Smith folgt, die Ökologie – eine Naturwissenschaft, die die Phänomene des Lebendigen bzw. des Lebens zum Gegenstand hat. Nach dieser Logik gehören z.B. Steine nicht oder nur insofern zum Gegenstandsbereich der Biologie, als sie für das Lebendige bzw. das Leben bedeutsam sind.22 Pflanzen und Tiere hingegen gehören eindeutig und ganz in das Einzugsgebiet der Biologie, da sie, dem Common Sense zufolge jedenfalls, unzweifelhaft zum Lebendigen gehören. Dieses Verständnis von Biologie als Wissenschaft des Lebendigen (Bio-Logie) wirft sodann aber ein weiteres Problem auf, nämlich die Frage, worin das Lebendigsein der Gegenstände der Biologie besteht. Diese Frage ist Gegenstand vieler Debatten inner- und außerhalb der Biologie, in denen unter anderem die Rede von der Biologie als der Wissenschaft des Lebens verschoben wurde zur Rede von Biologie als einer unter verschiedenen Lebenswissenschaften (Toepfer 2005, 170f.). Die Definitionsversuche laufen dabei häufig darauf hinaus, verschiedene Prinzipien, nach denen materielle Entitäten organisiert sind, als Kriterien des Lebens anzugeben. Eine mögliche Definition des Lebens wäre dann z.B.: »Leben ist eine Seinsweise von (Natur-)Gegenständen, die sich durch Organisation, Regulation und Evolution auszeichnet […]«23 (Toepfer 2005, 169). Oder aber: Lebendige Entitäten »besitzen 22
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Die Rede von der Biologie ist hier natürlich grob vereinfachend. Wie bei vermutlich sehr vielen oder allen wissenschaftlichen Disziplinen dürfte die innere Homogenität weitaus geringer ausfallen als dies der externe Blick suggeriert (siehe dazu auch Weingarten 2009, 77). »Organisation bezeichnet die Gliederung eines Gegenstandes in mehrere Teile (und Prozesse), die sich in ihrer wechselseitigen Herstellung und Erhaltung gegenseitig bedingen und durch die wechselseitige Bezogenheit aufeinander bestimmt werden. Regulation bezeichnet die Ausrichtung der in einem Gegenstand ablaufenden Prozesse auf die Erhaltung dieses Gegenstands; die Regulation besteht in der Versorgung des Systems mit notwendigen Stoffen aus der Umwelt (Ernährung), der Abwehr schädigender Einwirkungen (Schutz) und der Abstimmung der Prozesse aufeinander (Koordination und Integration). Evolution bezeichnet die
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(1) einen Stoffwechsel (Metabolismus) und (2) die Fähigkeit zur Selbstreproduktion« sowie »(3) als weitere Eigenschaft die Mutabilität« (Küppers 1987, 11). Doch schon in der zuletzt genannten Quelle wird auch darauf hingewiesen, dass eine eindeutige definitorische Abgrenzung von »Leben« nur schwerlich möglich ist, da der Übergang vom Nicht-Lebendigen zum Lebendigen fließend ist und nach den drei genannten Kriterien z.B. auch Kristalle zum Lebendigen gehörten (ebd., 13). Ungeachtet dieser definitorischen Schwierigkeiten lässt sich zunächst jedoch festhalten, dass solcherart begriffliche Fundierungen der Biologie kein bestimmtes Leben – wie etwa dasjenige der Ameisen, der Linden oder der Menschen – im Blick haben, sondern eine allgemeine Bestimmung des Lebens oder des Lebendigseins anstreben. Allerdings zeigt bereits ein Blick in die disziplinäre Gliederung der Biologie, dass hier ohne Zweifel auch nach verschiedenen konkreten Lebensformen systematisiert wird. Die Differenz zwischen einer allgemeinen Bestimmung des Lebens (oder des Lebendigseins) und einer bestimmten Qualifikation dieses Lebendigseins hat sehr weit zurück reichende Wurzeln. Im Altgriechischen, auf dessen Denktradition die Disziplinbezeichnung Bio-Logie verweist, wird zwischen zwei Begriffen des Lebens unterschieden.24 Einerseits kennt die griechische Antike den Begriff »zoë«, der die »einfache Tatsache des Lebens« (Agamben 2002, 11) bezeichnet. Andererseits gibt es den Begriff »bios«, mit dem »die Form oder Art und Weise des Lebens« (ebd.) charakterisiert wird. Während »zoë« gleichermaßen auf alle Entitäten zutrifft, die das Kriterium des ›reinen‹ Lebens erfüllen, wie z.B. Menschen, Tiere oder Pflanzen, wird mit »bios« eine bestimmte Qualität eines Lebens bezeichnet. Am prominentesten ist diese Unterscheidung bei Aristoteles formuliert, der die Kennzeichnung lebender Körper von der Charakterisierung des genussvollen, philosophischen oder politischen Lebens abgrenzt (Aristoteles 1995, 61 [Über die Seele II 1, 412a, 11ff.]; 2001, 17 [Nikomachische Ethik I 3, 1096a]). Die altgriechische Unterscheidung von »bios« und »zoë« spiegelt sich auch – wenngleich in irritierender Weise – in den heutigen (Sub-)Disziplinbezeichnungen wider. Während sich die Bio-Logie heute als Wissenschaft von den Lebenserscheinungen sowohl mit Fragen der allgemeinen Bestimmung des Lebens als auch mit Fragen der spezifischen Lebensformen beschäftigt, ist die Zoo-Logie mit der wissenschaftlichen Erforschung von Tieren befasst (vgl. Hickman et al. 2008, 5). Grenzt man Tiere nun nicht primär, wie es in der Alltagssprache häufig geschieht, von Menschen ab, sondern von anderen Lebensphänomenen wie Pflanzen oder Pilzen, dann gehören erstens auch die Menschen zum Gegenstandsbereich der Zoologie (als Bestandteil der Kategorie der Wirbel- bzw. der Säugetiere)25, und zweitens ist die Zoo-Logie dann nicht mehr im engeren Sinne von »zoë« als allge-
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Transformation von Gegenständen, die sich aus der Fähigkeit der Gegenstände zur Fortpflanzung ergibt, d.h. zur Erzeugung von selbständigen Gegenständen, die ihren Erzeugern ähneln, aber auch Variationen aufweisen, sodass es zu einer Steigerung der Komplexität der Gegenstände in einem langfristigen, generationenübergreifenden Prozess kommen kann« (Toepfer 2005, 169f.). Vgl. zu einer aktuellen Diskussion der beiden Begriffe in der Biologie Weiß (2009). Was in evolutionärer Perspektive zunächst einmal nur folgerichtig ist (vgl. Janich 2010, 33).
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meine Wissenschaft vom Leben zu begreifen, sondern, folgt man z.B. der Definition von Hickman et al. (2008, 15), als spezielle Wissenschaft derjenigen Lebenserscheinungen, die in ihrem Grundaufbau einen von einer Membran umschlossenen Zellkern besitzen, sich durch den Verzehr anderer Organismen ernähren, keine Photosynthese betreiben usw. – Tieren eben. Das bedeutet, während nach heutiger Auffassung die Biologie die übergeordnete Disziplin darstellt, deren Subbereich die Zoologie ist, gehörte nach altgriechischer Begriffslogik das Verhältnis umgekehrt: Zoo-Logie als allgemeine Wissenschaft des Lebendigen, Bio-Logie als Wissenschaft spezieller Formen des Lebendigen (die freilich »zoë« zur Voraussetzung haben). Das Bemerkenswerte an der hier aufgezeigten Verwischung des Unterschieds zwischen »bios« und »zoë« ist, dass damit sehr oft eine Verengung des Bedeutungsgehalts von »bios« einhergeht. Wenn behauptet werden kann, die Bio-Logie beschäftige sich mit spezifischen Lebensformen oder -erscheinungen, dann ist damit sicher etwas anderes gemeint als etwa Aristoteles in der Nikomachischen Ethik oder der Politik mit der Verwendung von »bios« gemeint haben dürfte. Auch wenn sich verschiedene Zweige der Biologie wie z.B. die Verhaltensbiologie oder die Soziobiologie mit – oberflächlich betrachtet – Ähnlichem beschäftigen wie die Sozialwissenschaften, bleibt der Untersuchungshorizont der modernen Biologie jedoch die Naturwissenschaft. Begrifflich allerdings schließt »Bio-Logie« als Lebenswissenschaft nicht aus, auch sozial- und geisteswissenschaftlich zu verfahren – dann nämlich, wenn sie anerkennt, dass substanzieller Bestandteil menschlichen Lebens die sinnhafte und in der Regel soziale Existenz ist. Die Erörterung dieser Zusammenhänge ist für eine Annäherung an das humanökologische Denken insofern von Bedeutung, als mit der Spannweite der Begriffe »bios« und »zoë« das Feld aufgezeigt ist, in welchem sich die Ökologie als biologische Disziplin entwickelte. Die Fragen nach der Stellung des Menschen in der Natur sowie dem disziplinären Ort der Erforschung des Menschlichen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von hoher Bedeutung in den Wissenschaften – und auch die Ökologie kann als ein Versuch, diese Fragen zu bearbeiten, interpretiert werden. Wie oben bereits erwähnt geht die weithin als klassisch anerkannte Bestimmung der Ökologie als biologischer Subdisziplin auf den Mediziner und Naturforscher Ernst Haeckel zurück.26 Haeckel setzte sich als Anhänger Darwins mit dessen »Descendenz-Theorie« auseinander und skizziert im Rahmen dieses Aufgreifens der Darwin’schen Thesen unter anderem eine (neue) disziplinäre Ordnung der biologischen Wissenschaft (Haeckel 1866a, 8ff.). Ausgehend von einer Systematik der Biologie, die eine Teilung in die Bereiche der Statik (Morphologie), Chemie und Dynamik (Physiologie) der Organismen vorsieht, schlägt Haeckel (ebd., 234ff., 21f.) eine Anwendung dieser Gliederung der Biologie auf die unter26
Womit natürlich keineswegs behauptet werden soll, es gebe keine ideengeschichtlichen Vorläufer Haeckels. So etwa ließe sich z.B. Carl von Linnés im 18. Jahrhundert entstandenes Konzept einer »Oeconomia Naturae« auch als Form ökologischen Denkens beschreiben (vgl. Worster 1977, insbes. 33ff.).
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schiedlichen Bereiche der Welt der Organismen vor. Das heißt, es ergibt sich daraus nach gleichem strukturellem Muster jeweils eine Morphologie, Chemie und Physiologie der Tiere, Protisten (Einzeller) und Pflanzen. Die Ökologie ordnet Haeckel (1866a, 237) dabei in den systematischen Bereich der Dynamik von Organismen (die Physiologie) und spezifischer: in die Rubrik der sogenannten äußeren oder Relationsphysiologie ein. Sie wird in ihren Aufgaben und Grundannahmen folgendermaßen bestimmt: »Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedingungen‹ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind, wie wir vorher gezeigt haben, von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen Existenz-Bedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muss, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Electricitäts-Verhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungsmittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenz-Bedingungen betrachten wir die sämmtlichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten entweder zu seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen« (Haeckel 1866b, 286).
Dieser Bestimmung der Ökologie ist zunächst einmal zweierlei zu entnehmen. Erstens: Die angesprochene Trennung der Bereiche der Morphologie und der Physiologie kann höchstens vorläufiger analytischer Natur sein. Wenn es einen Zusammenhang zwischen den Außenbeziehungen von Organismen und ihrer Form gibt, dann können die beiden Aspekte zwar getrennt voneinander beschrieben werden, für eine umfassende Analyse jedoch müssen beide Gesichtspunkte miteinander in Beziehung gesetzt werden (vgl. Haeckel 1866a, 9). Zweitens, aus demselben Punkt folgend: Die Ökologie ist aus Haeckels Sicht als eine Art Schlüsselwissenschaft eines darwinistischen Weltbildes in der Biologie zu verstehen. Die Inaugenscheinnahme der Umwelt- bzw. »Existenzbedingungen« ist demzufolge unerlässlich, um die Entstehungsgeschichte und gegenwärtige Verfassung lebender Entitäten zu verstehen. Dieser Bezug zum Denken Darwins wird an einer anderen Stelle noch deutlicher, an der Haeckel die Aufgaben der Ökologie betont. Sie habe zu zeigen: »wie alle die unendlich complicirten Beziehungen, in denen sich jeder Organismus zur Aussenwelt befindet, wie die beständige Wechselwirkung desselben mit allen organischen und anorganischen Existenz-Bedingungen nicht die vorbedachten Einrichtungen eines planmässig die Natur bearbeitenden Schöpfers, sondern die nothwendigen Wirkungen der existirenden Materie mit ihren unveräusserlichen Eigenschaften, und deren continuirlicher Bewegung in Zeit und Raum sind« (Haeckel 1866b, 287).
Die Wechselbeziehungen von Organismen mit einer Umwelt stellen demzufolge die Bedingungen dar, unter denen der »Kampf[…] um’s Dasein« (Haeckel 1870, XV; Haeckel 1891[1874], 81ff.) stattfindet. Die weitere Ausarbeitung der Ökologie wurde von Haeckel hauptsächlich für den Bereich der Tierwelt vorgenommen. So findet sich die zweite häufig genannte Stelle, an der die neue Disziplin skizziert wird, im Kontext der Erörterung des »Entwickelungsgang[s] und [der] Aufgabe der Zoologie« (Haeckel 1870). Im Rah-
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men dieser Antrittsvorlesung zur Besetzung des neu geschaffenen Lehrstuhls für Zoologie an der Universität Jena definiert Haeckel die Ökologie im nahezu gleichen Wortlaut wie im Rahmen der »Generellen Morphologie«: »Unter Oecologie verstehen wir die Lehre von der Oeconomie, von dem Haushalt der thierischen Organismen. Diese hat die gesammten Beziehungen des Thieres sowohl zu seiner anorganischen, als zu seiner organischen Umgebung zu untersuchen […]« (Haeckel 1870, XV). Hier thematisiert Haeckel zudem implizit die etymologische Verwandtschaft von Wirtschaftslehre und (naturwissenschaftlicher) Ökologie. Beide Begriffe stammen von dem altgriechischen Wort »oikos« ab, das »Haus« oder »Haushalt« bedeutet. Es ist kein Zufall, dass Haeckel auf die Nähe der beiden Begriffe hinweist. Seine Argumentation läuft nämlich darauf hinaus, wie Werlen und Weingarten (2003, 198f.) hervorheben, dass nicht nur die Ökologie als Naturwissenschaft verstanden werden muss, sondern auch die Ökonomie, als Wissenschaft des natürlichen Wirtschaftens.27 Damit ist bereits die Frage angedeutet, die für die an Haeckels Begriffe anknüpfende Entwicklung der Humanökologie von Bedeutung ist, nämlich wie der Mensch im Rahmen des frühen ökologischen Denkens konzeptualisiert wird. Mit dem Verweis auf Haeckels Anhängerschaft Darwins ist die Richtung angegeben – und die biologische Weltsicht des Jenaer Zoologen stellt sich auch als konsequente Weiterentwicklung der Hypothesen Darwins dar.28 Deutlich wird dies bereits durch die disziplinäre Verortung der Anthropologie, welche Haeckel als Teilbereich der Zoologie betrachtet (Haeckel 1866b, 432ff.). Dies ergibt sich folgerichtig aus der Ansicht, dass zwischen Mensch und Tier kein qualitativer Unterschied besteht: ein Umstand, den Haeckel in dem gemeinsamen Entwicklungsursprung des Menschen und der Tiere begründet sieht (ebd., 427). Das heißt, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller ist, ergibt sich direkt aus den Grundannahmen der Darwin’schen Theorie: »Der Satz, dass der Mensch sich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächst aus echten Affen entwickelt hat, ist ein specieller Deductions-Schluss, welcher sich aus dem generellen InductionsGesetz der Descendenz-Theorie mit absoluter Nothwendigkeit ergiebt« (Haeckel 1866b, 427). Bis zu dieser Stelle könnte man nun der Auffassung sein, Haeckels Anthropologie sei ausschließlich eine Behandlung des Menschen in Hinsicht seiner zoologischen (›natürlichen‹) Verfassung. Dass sich die Biologie/Zoologie auch für den Menschen als Lebewesen interessiert, darf kaum überraschen. Der Mensch dürfte 27
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Wobei »natürlich« hier so viel wie »gut«, »angemessen« oder »sinnvoll« meint. Dies ist bereits im Begriff der Ökonomie, wie er in der griechischen Antike formuliert wurde, enthalten. Es geht nicht nur um irgendeine Verwaltung des Hauses (oikos), sondern um eine »gute Verwaltung des Hauses« (Agamben 2010, 32). Prägnant ist dies bereits bei Xenophon in dessen einschlägigem Werk »Oikonomikos« formuliert (Xenophon 1992, 31 [Gespräch über die Haushaltführung I, 2]). Freilich hat Haeckel nicht alle Aspekte der Darwinschen Theorie(n) in seine Arbeiten einbezogen, sondern sich hauptsächlich auf die Frage der Abstammung konzentriert (Di Gregorio 2009, 92ff.). Dennoch kann Haeckel als einer der bedeutendsten frühen Interpreten des Darwin’schen Werkes in Kontinentaleuropa gelten.
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sogar, darauf weist auch Haeckel hin, zu den am besten erforschten Lebewesen überhaupt zählen. Allein, Haeckels bio- oder zoologische Anthropologie führt wesentlich weiter als die Verortung des Menschen innerhalb der biogeschichtlichen Stammbäume zunächst vermuten lässt. Es sei nach Haeckel nämlich ausdrücklich hervorzuheben, »dass jedenfalls diese ›Frage aller Fragen‹ [diejenige nach der Stellung des Menschen in der Natur; K. G.] im eigentlichsten Sinne des Wortes eine rein zoologische ist, und dass der Kampfplatz für ihre definitive Entscheidung einzig und allein das Gebiet der wissenschaftlichen Zoologie, d.h. der empirisch-philosophischen Thierkunde ist« (Haeckel 1870, XIX; Hervorhebungen K. G.).
Um den vollen Umfang dieser Behauptung zu erfassen muss man sich vergegenwärtigen, dass damit nicht allein gemeint ist der Mensch sei auch ein Naturwesen, sondern dass behauptet wird er sei in letzter Hinsicht ausschließlich ein Naturwesen (vgl. Haeckel 1923[1904], 291). Fragen, die den Menschen betreffen, werden somit nicht nur dann in der Biologie/Zoologie verhandelt, wenn es um den Menschen in Hinsicht seiner physiologischen Vollzüge geht, während für Fragen der kulturellen Existenz des Menschen andere Wissenschaften zuständig wären. Vielmehr ist die Biologie zuständig für alle Fragen bezüglich des Menschlichen. Diese (All-)Zuständigkeit der Biologie begründet sich in Haeckels monistischer Weltsicht. Haeckel geht es wesentlich darum, dualistische Weltanschauungen, die eine Trennung der Welt in »Geist und Körper«, »Freiheit und Natur« usw. behaupten, zu vermeiden und eine Anschauung zu etablieren, die von einer (ontologischen) Einheit der Welt ausgeht und demzufolge die Anwendung eines einzigen, universellen Erklärungsprinzips ermöglicht (Haeckel 1866a, 105ff.). Dieses Prinzip ist bei Haeckel – ganz im Sinne des naturwissenschaftlichen 19. Jahrhunderts – eine kausalistische Mechanik, die die Natur, und damit sowohl die Bereiche des Anorganischen als auch des Organischen, durch universelle mechanische Gesetze erklärt. Das bedeutet erstens, dass Haeckel sämtlichen metaphysischen Erklärungen des Lebens oder des Lebendigen eine Absage erteilt und damit die fundamentale Trennung von Organik und Anorganik abschwächt (auch wenn die Unterscheidung von Lebendigem und Nicht-Lebendigem für bestimmte Zusammenhänge weiterhin relevant bleibt). Und es bedeutet zweitens, dass sich auch innerhalb des Bereiches organischer Phänomene bzw. des Bereiches der Lebewesen alle Erscheinungen als Natur- und damit kausal erklärbare Phänomene darstellen lassen müssen. »Wir wissen jetzt, dass alle Lebenserscheinungen der Thiere, ebenso wie des Menschen, mit absoluter Nothwendigkeit nach grossen mechanischen Naturgesetzen erfolgen, dass sie nicht durch Endzwecke (Causae finales), sondern durch mechanische Ursachen (Causae efficientes) bewirkt werden, und dass sie im letzten Grunde auf physikalisch-chemischen Processen beruhen […]« (Haeckel 1870, XVIf.; Hervorhebung K. G.).
Diese Ansicht erlaubt es Haeckel dann, auch die seiner Ansicht nach durch die spekulative Philosophie mystifizierte »Seelentätigkeit« des Menschen auf ausschließlich physiologische Prozesse zu reduzieren und als somatische Funktion zu beschreiben (Haeckel 1870, XVIII; 1866a, 85). Auch wenn Haeckel an anderer
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Stelle – es geht um die Frage des »Lebenswerts« – darauf verweist, das menschliche Leben stehe durch Vernunftentwicklung und Kultur »unendlich« über dem Leben der Tiere29, so kann es sich dabei aus seiner Sicht letztlich nur um einen quantitativen Unterschied handeln (Haeckel 1923[1904], 295). Aus diesen ersten Bestimmungen der Ökologie durch Haeckel folgt zusammengefasst: Die neue Wissenschaft der Ökologie ist konsequent als Naturwissenschaft zu begreifen. Sie ist Bestandteil der Biologie, der Wissenschaft des Lebendigen, da ihr Gegenstand Organismen – »die elementaren Einheiten des Lebendigen« (Laubichler 2005, 109) – bzw. deren Umwelt-Beziehungen sind. Die Biologie wird dabei als neue Leitwissenschaft begriffen. Aus dem darwinistischen Erbe der Haeckel’schen Biologie ergibt sich, dass es die Ökologie letztlich mit den Existenzbedingungen von Organismen und mit der Frage der evolutionären Entwicklung zu tun hat. Anders gesagt: In der Ökologie werden Fragen der Anpassung von Organismen an äußere Umstände verhandelt, was im darwinistischen Denken – im Zusammenspiel mit dem Aspekt der Vererbung (Di Gregorio 2009, 95) – Aufschluss über ihre onto- und phylogenetische Entwicklung gibt. Die Frage nach dem Menschen, auf welche die (spätere) Begriffskonstruktion einer Humanökologie abzielt, stellt für Haeckels Ökologie keine besondere Frage mehr dar, sondern wird systematisch in die naturwissenschaftliche Bio- bzw. Zoologie integriert. Von Humanökologie ließe sich demgemäß genau so reden wie von jeder anderen Bindestrich-Ökologie. Betrachtet man Haeckels Ökologie nicht primär unter dem Gesichtspunkt biologischer Fragestellungen, sondern hebt das Allgemeine des ökologischen Denkens hervor, so kann dieses Besondere als die relationale Betrachtungsweise aufgefasst werden, die mit der Ökologie etabliert wird. Ökologisch zu denken bedeutet seit der Geburtsstunde der Disziplin in Beziehungen zu denken. Vor allem für die spätere Verwendung des Ökologie-Begriffs außerhalb der disziplinären Grenzen der Biologie scheint dies der wesentliche Zug von Haeckels Ökologie-Konzept zu sein. Die Entwicklungsgeschichte der im engeren Sinne biologischen Ökologie soll im Folgenden nicht weiter dargelegt werden. Nur so viel: Die Disziplin legt das Weltanschauungs-Pathos der Biologie Haeckels (vgl. Weingarten 1993, 61ff.) ab und interessiert sich für den Menschen bzw. menschliches Handeln zunehmend nicht mehr in dem Sinne einer (philosophischen) Anthropologie, sondern nur noch in seiner Funktion als »Ökofaktor«. Arthur George Tansley z.B., der als Begründer des Ökosystemkonzepts gilt, fasst die Frage, ob der Mensch Teil der Natur sei oder nicht, nur noch in dem Sinne, ob der Mensch sich harmonisch in das natürliche Gleichgewicht einpasse oder als Störfaktor agiere (Tansley 1935, 303). »Regarded as an exceptionally powerful biotic factor which increasingly upsets the equilibrium of preexisting ecosystems and eventually destroys them, at the same time forming new ones of very different nature, human activity finds its proper place in ecology« (ebd.). Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kiel29
Wobei Haeckel sogleich einschränkend davon spricht, Kultur komme nur den »höheren Menschenrassen« zu (Haeckel 1923[1904], 295).
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wasser des Haeckel’schen Denkens entwickelnde Ökologie kapriziert sich hauptsächlich auf eine Tier- (d.h. hier: Nicht-Human-) und Pflanzenökologie (Groß 2006, 66); Ansätze zu einer spezifischen Ökologie in Bezug auf den Menschen bleiben bis in die 1920er Jahre hinein – trotz der beginnenden Verwendung des Begriffes der Humanökologie – wenig prominent. Der Schwerpunkt der Diskussion verlagert sich zudem in den anglophonen, oder präziser: den US-amerikanischen Bereich. Dort sind in drei akademischen Feldern Versuche beobachtbar, eine Humanökologie zu formulieren: Erstens in der (biologischen) Ökologie selbst (Stephen Forbes), zweitens in der Geographie (Harlan H. Barrows) und drittens schließlich, in der avanciertesten und sicher bekanntesten Form: in der Soziologie (Chicago School). Von der Ökologie zur Humanökologie Der Begriff der Humanökologie bzw. der human ecology ist, wie bei Groß (2006, 57) ausführlich dargelegt wird, erstmalig 1908 vor einem breiten wissenschaftlichen Publikum verwendet worden. In einem Aufsatz im American Journal of Sociology diskutiert Edward C. Hayes, einer der Vorreiter der US-amerikanischen Soziologie, die Beziehungen der drei sich etablierenden Disziplinen Soziologie, Psychologie und Geographie. In Bezug auf die Arbeitsteilung der Soziologie und der Geographie zitiert Hayes aus seiner Korrespondenz mit dem Chicagoer Geographen John P. Goode. Dieser bestimmt eine Aufgabe der Geographie, oder zumindest ihres Subbereichs Wirtschaftsgeographie, als »Human ecology, a study of the geographic conditions of human culture« (Goode zit. in Hayes 1908, 395). Während diese Formulierung darauf schließen lassen könnte, die Geographie sei in Goodes Programm zumindest teilweise als Sozialwissenschaft zu konzeptionieren, reserviert er die Disziplin dennoch hauptsächlich für naturwissenschaftliche Forschung: »The matter of the largest interest in modern geography is the interaction between man and his physical environment. But the physical environment itself is the fundamental part of the field« (Goode zit. in Hayes 1908, 395). Dennoch, Goodes Charakterisierung der Wirtschaftsgeographie als Humanökologie ist bereits als Anzeichen einer Debatte zu werten, die in dem 1922 erschienenen Artikel »The Humanizing of Ecology« des amerikanischen Pioniers der Ökologie Stephen A. Forbes und Harlan Barrows’ programmatischem Aufsatz »Geography as Human Ecology« ihren prominentesten Ausdruck findet. Was ist mit der Forderung nach einer Humanisierung der Ökologie gemeint? Was kann damit überhaupt angesprochen sein?
Stephen Forbes: »The Humanizing of Ecology« Ein solcher Ruf kann nach dem bisher Gesagten verschieden verstanden werden. Zunächst kann damit gemeint sein, in den Gegenstandsbereich der klassischen Ökologie auch den Menschen einzubeziehen. Da sich die biologische Ökologie
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weitestgehend als Naturwissenschaft begreift und in naturwissenschaftlichen Kategorien operiert, liegt hier zunächst nahe, den Menschen nur hinsichtlich seiner natürlichen, biologischen Prozesse in den Blick zu nehmen und die kulturelle Perspektive außen vor zu lassen. Dies entspricht in etwa der später entwickelten Konzeption menschlicher Kräfte in einem Ökosystem. Eine Humanisierung der biologischen Ökologie kann jedoch auch bedeuten, den Menschen als Gesamtes, d.h. als ›natürliches‹ bzw. ›biologisches‹ und als kulturelles Wesen in den Blick zu nehmen. Verbleibt man dabei im Rahmen biologischer Kategorien, führt dies zu einer – zu plausibilisierenden – Reduktion des Kulturellen auf Naturhaftes. Dies wäre etwa das Modell von Haeckels Monismus, bei dem die Seite der Kultur in die Seite der Natur kollabiert. Eine dritte Option schließlich wäre, eine spezielle Ökologie des Menschen zu konzeptualisieren, die wesentlich den Menschen (als Einzelwesen oder menschliche Gemeinwesen) unter dem Gesichtspunkt von Austauschbeziehungen zum Gegenstand macht und die sich auf die Besonderheiten der menschlichen Existenz (i.e. Kultur) einzustellen hat. Für die biologische Ökologie gälte dann, dass sie dort, wo sie es mit Menschlichem zu tun hat, auch für Kulturelles begrifflich sensibel zu sein hätte – d.h. den Rahmen der naturwissenschaftlichen Biologie verlassen und zu einer Sozial- oder Geisteswissenschaft werden müsste. Das Hauptanliegen und der Ton des Aufsatzes von Stephen Forbes müssen angesichts dieser konzeptionellen Optionen zunächst überraschen. Was Forbes nämlich in erster Linie anstrebt, ist weniger eine wissenschaftlich motivierte Einbeziehung des Menschen in die Ökologie – wenngleich diese für Forbes’ Anliegen notwendig ist –, sondern es geht ihm in letzter Instanz um die Entwicklung einer angewandten Wissenschaft, oder konkreter: um eine Verbesserung der Nutzung von Natur für menschliche Zwecke. »[E]cology« so Forbes (1922, 89) »should need to be brought into any special or intimate relation to considerations of human welfare«. Konkret bedeutet eine solche Fokussierung menschlichen Wohlergehens, dass Ökologie jenes Wissen bereitstellen soll, das notwendig ist um die Nutzung ›natürlicher‹ Ressourcen zu intensivieren und deren unerwünschte Nebenfolgen zu minimieren. Forbes rückt die Ökologie damit wieder in die Nähe ihrer etymologischen Schwester, der Ökonomie; er betont sogar, dass die Ökologie das einzig sinnvolle Einfallstor ökonomischen Denkens innerhalb der Biologie sei (ebd., 90).30 Vom Standpunkt einer »economic biology« (ebd., 92), als Wissenschaft der Nutzbarmachung der lebendigen Welt für menschliche Zwecke, erscheint die Ökologie demzufolge geradezu als Paradedisziplin. Nur der auf Relationen gerichtete Blick der Ökologie kann auf Zusammenhänge aufmerksam machen, die sich als beabsichtigte sowie positive wie negative unbeabsichtigte Nebenfolgen charakterisieren lassen – und die in der ›reinen‹ Ökonomie als (negative 30
Das Interesse an einer Indienststellung der Wissenschaft für wirtschaftliche Zwecke lässt sich bei Forbes schon sehr viel früher als zum Erscheinungszeitpunkt des Aufsatzes »The Humanizing of Ecology« beobachten. Bereits 1893 wird Forbes nämlich zum Präsidenten der »Association of Economic Entomologists« gewählt, einer Institution, die sich für die Untersuchung des Einflusses von Insekten auf die Landwirtschaft einsetzt (Croker 2001, 97).
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wie positive) Externalitäten auftauchen. Praktisch gesehen läuft Forbes’ Vorhaben dabei wohl hauptsächlich auf agrarwissenschaftliche Forschung hinaus. So etwa wäre eine Aufgabe der ›humanisierten‹ Ökologie, den Einsatz von Pestiziden durch genaue Analyse des Naturhaushalts zu effektivieren (ebd., 91). Während diese Ausrichtung der ökologischen Disziplin auf den ersten Blick nach einem rein pragmatischen Manöver aussieht, mit dem die Einsichten einer Wissenschaft für den menschlichen Alltag fruchtbar gemacht werden sollen, scheint es auf den zweiten Blick jedoch auch interne Gründe dafür zu geben, Verbindungen zwischen Ökologie und Ökonomie herzustellen. Dies begründet sich durch die Stellung des Menschen im ökologischen Denken Forbes’. Dieser bestimmt den Menschen zunächst einmal als Organismus unter anderen Organismen und macht ihn damit zu einem gewöhnlichen Gegenstand der Ökologie: »The relationship of man himself to his environment is an inseparable part of ecology; for he also is an organism and other organisms are a part of his environment« (Forbes 1922, 89f.). Mit der Annahme, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen dem Menschen und der restlichen belebten Welt gibt, scheint Forbes auf den ersten Blick ganz im Sinne Haeckels zu argumentieren. Während sich auf Basis dessen nun annehmen ließe, die Außenbeziehungen des Menschen seien gleich denen nichthumaner Organismen und müssten daher auch gleich behandelt werden, deutet eine zunächst unscheinbar erscheinende Stelle jedoch darauf hin, dass Forbes unterschwellig gleichwohl mit einer Unterscheidung operiert, die den Menschen aus der Menge aller Organismen heraushebt. Forbes schreibt: »I would humanize ecology, therefore, first by taking the actions and relations of civilized man as fully into account in its definitions, divisions, and coordinations as those of any other kind of organism. The ecological system of the existing twentieth-century world must include the twentieth-century man as its dominant species […]« (Forbes 1922, 90).
Es ist die Tatsache, dass Forbes hier vom »zivilisierten« Menschen spricht und den Menschen des 20. Jahrhunderts hervorhebt, die eine Differenz zu anderen Organismen markiert. Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass der Unterschied auch von Forbes eher quantitativ denn qualitativ gedacht wird – der Mensch zeichnet sich aus ökologischer Sicht durch seinen die Wirkung aller anderen Organismen übersteigenden Einfluss aus. Allerdings weist der Text zumindest implizit auf einen bedeutsamen Gedanken hin, die Idee nämlich, dass man den Naturbezug des Menschen gesondert charakterisieren kann und muss. Die Annahme scheint dabei zu sein, dass der spezifische Naturbezug des zivilisierten Menschen die Nutzung für wirtschaftliche Zwecke ist, wobei das Attribut »wirtschaftlich« oder »ökonomisch« hier stärker in die Richtung der Alltagssemantik des Begriffs zu denken und weniger im klassischen, aristotelischen Sinne zu verstehen ist. Für die Ökologie des Menschen – d.h. die Wissenschaft seiner Außenbeziehungen – folgt daraus, dass sie, wenn sie den Naturbezug des modernen Menschen untersucht, gewissermaßen unbeabsichtigt parallel Ökonomik, Wirtschaftswissenschaft betreibt. Oder anders formuliert: Humanökologisches Wissen ist immer auch ökonomisch verwertbares Wissen, da der Naturbezug des
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Menschen, seine Ökologie, in die Ökonomie eingelassen ist (vgl. Forbes 1922, 89). So wie die Ökonomie in diesem Denken eine Beschreibung der Ökologie des (modernen, zivilisierten) Menschen ist, so fällt die Humanökologie im 20. Jahrhundert quasi mit Ökonomie in eins. Kurzum: Forbes’ Parole einer Humanisierung der Ökologie ist nicht einfach nur in einem wissenschaftspragmatischen Sinn zu verstehen, sondern leitet sich aus der ökologischen Betrachtung des menschlichen Lebens, spätestens desjenigen der Moderne, her. Der bei Forbes implizit enthaltene Gedanke einer Parallelisierung von Ökologie und Ökonomie ist deshalb von Interesse, weil sich mit ihm die Anforderungen an eine spezielle Ökologie des Humanen andeuten lassen. Folgt man Forbes und charakterisiert den Naturbezug des modernen Menschen als ökonomisch, bzw. begreift man die Ökonomie als Wissenschaft der menschlichen Transformation von Natur, dann wäre zu eruieren, welcher Logik diese Ökonomie folgt und ob der Unterschied von menschlicher und nicht-menschlicher Haushaltführung ein qualitativer oder, wie Forbes behauptet, ein bloß quantitativer ist. Das heißt es wäre zu thematisieren, ob zur Analyse der Ökologie des Menschen – die man eben auch »Ökonomie« nennen kann – andere Zugänge notwendig sind als sie für die Untersuchung der Umweltbeziehungen anderer Organismen geeignet sind. In Bezug auf diese Frage bleibt Forbes’ berühmter Aufsatz zwar auf der Seite der biologischen Ökologie, deutet aber zumindest implizit und möglicherweise unbeabsichtigt an, ob es sinnvollerweise als Aufgabe der biologischen Ökologie verstanden werden kann, menschliche Handlungen bzw. Handlungsweisen in Bezug auf Natur als kulturell zu begreifen und mit entsprechenden Mitteln zu analysieren.
Harlan H. Barrows: Geographie als Humanökologie Auch der zweite in den 1920er Jahren an prominenter Stelle formulierte Versuch, eine Humanökologie zu entwickeln, argumentiert disziplinpolitisch bzw. programmatisch. Harlan H. Barrows’ 1923 erschienener Aufsatz »Geography as Human Ecology«, der auf eine Presidential Address vor der Association of American Geographers zurückgeht, beabsichtigt eine Neujustierung der Geographie im System der Wissenschaften. An Barrows’ Beispiel lässt sich noch deutlicher als bei Forbes zeigen, welche Konsequenzen die Etablierung ökologischen Denkens für die Organisation wissenschaftlicher Disziplinen hat. Darüber hinaus lässt sich hier illustrieren, wie geographisches Denken im frühen 20. Jahrhundert zwischen sozialwissenschaftlichen Ansätzen und einer naturwissenschaftlich orientierten Logik des Raumes changiert. Ausgangspunkt der Rekonzeptualisierung der Geographie ist bei Barrows die Forderung, die Geographie – ihrem eigentlichen, wohl aber vergessenen Wesen gemäß – konsequent als ökologische Wissenschaft zu betreiben. »Geography«, betont Barrows, »is a science of relationships« (Barrows 1923, 12).31 Wodurch ist die 31
Interessanterweise findet sich bereits in dem 1920 von dem US-amerikanischen Forstwissenschaftler Barrington Moore verfassten Leitartikel zur ersten Ausgabe des neuen Journals
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Notwendigkeit einer Neuausrichtung oder Umbenennung der Geographie (vorsichtiger: der US-amerikanischen Geographie) am Beginn des 20. Jahrhunderts notwendig geworden? Der Grund für die erforderliche Neuausrichtung liegt nach Barrows in einem Problem, das die Geographie spätestens seit ihrer institutionellen Etablierung begleitet: die Frage nach der Einheit des Faches. Barrows sieht diese Einheit durch die Ausdifferenzierung von Disziplinen wie Astronomie, Botanik, Zoologie, Geologie, Meteorologie, Archäologie oder auch Anthropologie aus dem ursprünglichen Korpus der Geographie bedroht (ebd., 1). Dieser Spezialisierungsprozess habe die Fachidentität der geographischen Wissenschaft zunehmend ausgehöhlt, sodass sich die Geographie am Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Art Identitätskrise befindet. Wenn geographische Themen in den verschiedensten Disziplinen – unter ihrem jeweiligen Gesichtspunkt und mit spezifischen Methoden – bearbeitet werden, fragt Barrows (ebd., 2), was bleibt dann noch für die allgemeine Wissenschaft der Geographie übrig? Die Antwort darauf sieht Barrows in der Konzeptualisierung des Faches als Humanökologie. Zu einer solchen wurde oder wird die Geographie durch den Wettbewerb der naturwissenschaftlich operierenden physischen Geographie und ihren innerdisziplinären sozialwissenschaftlichen Konkurrenten. Als produktiver Kompromiss daraus ergibt sich nach Barrows eine Geographie als Wissenschaft der Verhältnisse des Menschen zu seiner natürlichen Umwelt: »Scarcely was physical geography established, or perhaps I should say rejuvenated and reestablished, before an insistent demand arose that it be ›humanized.‹ This demand met with a prompt response, and the center of gravity within the geographic field has shifted steadily from the extreme physical side toward the human side, until geographers in increasing numbers define their subject as dealing solely with the mutual relations between man and his natural environment. By ›natural environment‹ they of course mean the combined physical and biological environments« (Barrows 1923, 3).
Eine solche Geographie ist Barrows gemäß angemessen als »Humanökologie« zu bezeichnen, deren Aufgabe es sei, die Beziehungen zwischen der natürlichen Umwelt und den menschlichen Tätigkeiten (sowie ihrer räumlichen Verteilung) zu erklären (Barrows 1923, 3). Dieses Konzept einer ökologischen Geographie schließt – wenngleich auch lose – an ein bereits 60 Jahre zuvor im US-amerikanischen Kontext entwickeltes Denken an: das Werk George Perkins Marshs. Dessen voluminöse Studie »Man and Nature; or, Physical Geography as Modified by Human Action« von 1864 macht die (globalen) Auswirkungen menschlicher Naturnutzung zum Gegenstand und etabliert implizit bereits eine ökologische, relationale Perspektive, noch bevor das Konzept der Ökologie begrifflich überhaupt entwickelt ist. Marshs Schrift gilt mit ihrem kritischen Subtext als eines der frühesten Dokumente des amerikanischen Umweltschutzes, fand trotz vielfacher Bezugnahme zur Geographie, etwa auf Alexander von Humboldt oder Carl Ritter (Marsh 1864, 8), jedoch kaum »Ecology« eine nahezu identische Formulierung: »Geography, in so far as it is the study of man in relation to his environment, is human ecology« (Moore 1920, 4; vgl. Groß 2006, 66; Weichhart 2003c, 295).
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Beachtung in den prominenten Schriften zur Ökologisierung der Disziplin im frühen 20. Jahrhundert. In Barrows’ humanökologischer Geographie ist der kritische Unterton Marshs nicht zu beobachten, eher im Gegenteil. Während Marsh die umfassende transformative Kraft des modernen Menschen hervorhebt, scheint Barrows nicht davon auszugehen, dass menschliche Handlungen Natur – zumal in einem globalen Maßstab – zum Nachteil des Menschen veränderten. Vielmehr sollen nach Barrows zunächst einmal in einem allgemeinen Sinne die Anpassungsleistungen des Menschen an Natur zum Gegenstand gemacht werden. Diese Fragestellung macht das klassisch ökologische Erbe sichtbar: Im Zentrum steht das Problem der Passfähigkeit von Individuen oder Gruppen von Individuen an einen ›Naturraum‹. Neben einem eher impliziten Anknüpfen an Marsh lassen sich weiterhin auch Bezüge von Barrows’ Konzept zu einer anderen prominenten Variante der geographischen Mensch-Umwelt-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts ausmachen, der (natur-)deterministischen Argumentation Ellsworth Huntingtons. Auch Huntington, einflussreicher akademischer Geograph und 1917 Präsident der US-amerikanischen Gesellschaft für Ökologie, argumentiert in einer ökologischen Denklinie, indem er die Umweltwirkungen auf die belebte Welt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt. So erklärt er im Vorwort zu seinem 1915 erschienenen Werk »Civilization and Climate«, die Aufgabe der modernen Geographie sei: »[…] determining how far vital phenomena depend upon geographic environment« (Huntington 1922, v). Mit dieser Beschreibung ist bereits angedeutet, wie Huntington die Frage nach den Mensch-Umwelt-Beziehungen zu lösen beabsichtigt. Er führt die bereits seit der Entstehungszeit der Geographie in der griechischen Antike bestehende Idee einer kausalen Wirkung natürlicher Gegebenheiten auf menschliches Tun und gesellschaftliche Entwicklung fort und baut sie zu einer Art ›Klima-Human-Geographie‹ aus. Während Huntingtons Ansatz das Hauptaugenmerk auf natürliche Gegebenheiten und ihre mehr oder minder gesetzmäßigen Wirkungen legt, richtet Barrows’ humanökologisches Konzept, zumindest der programmatischen Absicht nach, vorderhand den Blick auf menschliche Aktivität und den schöpferischen Umgang mit Umwelt.32 Es wird hier also nicht argumentiert, die ›natürlichen‹ Gegebenheiten determinierten das menschliche Tun, sondern dass eine Passung zwischen Gegebenheiten und Tun hergestellt werden müsse (vgl. auch Barrows/Putnam Parker 1925, 493). Auch wenn darin immer noch der Gedanke der ›Gunst‹ von verschiedenen ›Naturräumen‹ aufgehoben ist, wird der Fokus hier auf den ersten Blick auf die Leistungen des Menschen gerichtet. Die Verschiebung, die mit Barrows’ Neuorientierung der Geographie vorgeschlagen wird, darf nicht unterschätzt werden. Bedeutende Teilbereiche der Disziplin fallen damit aus dem Zuständigkeitsbereich der Geographie heraus. Konzentrierte sich die physische Geographie etwa auf Landschaftsformen oder klimatische Prozesse ›an sich‹, sollen diese nunmehr nur noch eine untergeordnete Rolle spielen – als Rahmenbedingungen, die für ein Verständnis menschlicher 32
Zur Beziehung von Barrows und Huntington – und besonders zur Auseinandersetzung um den Naturdeterminismus – vgl. Chappell Jr. (1971).
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Adaption an Natur erörtert werden müssen. Alle weiter führenden Fragen, etwa nach der Genese der Landformen, sollen den Spezialdisziplinen wie z.B. der Geologie überlassen werden (Barrows 1923, 4). Barrows argumentiert damit unverhohlen für eine Preisgabe der Physischen Geographie, der Pflanzen- und Tiergeographie sowie der Klimatologie zu Gunsten seines humanökologischen Ansatzes (ebd., 13). Das Argument, mit dem Barrows diese disziplinpolitische Provokation abgestützt sieht, läuft darauf hinaus, dass keine der anderen Wissenschaften – weder Ökonomik noch Geschichtswissenschaft, Soziologie oder Politikwissenschaft – sich seiner Ansicht nach genuin mit den Beziehungen des Menschen zu seiner erdräumlichen bzw. ›natürlichen‹ Umwelt beschäftigt, da in all jenen Bereichen der Fokus entweder auf innersozialen Prozessen (Ökonomik, Politikwissenschaften), der zeitlichen Dimension (Geschichte), oder der kulturellen statt der ›natürlichen‹ Umwelt (Soziologie) liegt (Barrows 1923, 5ff.). »Geography finds in human ecology, then, a field cultivated but little by any or all of the other natural and social sciences« (ebd., 7). Während mit der humanökologischen Ausrichtung eine Stärkung der Geographie nach außen, d.h. in Bezug auf ihre Nachbardisziplinen beabsichtigt ist, ist die von Barrows skizzierte Reorganisation der Geographie wie angedeutet auch für ihre innere Differenzierung folgenreich. Barrows geht dabei von einer Binnengliederung der Geographie in die vier Bereiche der systematischen Geographie (I), regionalen Geographie (II), Stadtgeographie (III) und historischen Geographie (IV) aus. Systematisch (I) identifiziert Barrows (1923, 7) drei Hauptfelder geographischer Forschung, Wirtschaftsgeographie (I.a), Politische Geographie (I.b) und Sozialgeographie (I.c). Diese Gliederung gehe auf die drei wesentlichen Felder menschlichen Handelns zurück. Von besonderem Interesse ist für Barrows – analog zu den Ausführungen zu Forbes oben – die humanökologische Wirtschaftsgeographie (I.a). Diese habe sich mit den stärksten Naturbezügen des Menschen auseinanderzusetzen, nämlich denjenigen, die aus seiner Existenzsicherung heraus folgen (Barrows 1923, 7). Die dominante Stellung der Wirtschaftsgeographie hat auch Konsequenzen für die beiden anderen systematischen Bereiche – sie haben es in den meisten Fällen mit Phänomenen zu tun, die in direktem Zusammenhang mit der Existenzsicherung stehen. Wenn Barrows etwa die Aufgabe der Politischen Geographie (I.b) darin bestimmt, in humanökologischer Perspektive diejenigen Naturbezüge zu thematisieren, die mit den politischen Einstellungen und Institutionen zu tun haben (ebd., 7), dann lässt sich dies nicht losgelöst von einer Bezugnahme zu existenzsichernden Tätigkeiten des Menschen zustande bringen. Und ebenso bezieht sich die Sozialgeographie (I.c), als Wissenschaft der sich aus dem Leben in Gemeinschaft (»social life«) ergebenden Naturbezüge von Gruppen immer auch auf die in jenem Sinne ›wirtschaftlichen‹ Tätigkeiten (ebd., 7f.). Die in Barrows’ Konzept systematisch entwickelten Bereiche humanökologischer Geographie (I.a/b/c) bilden nun die Grundkategorien, mit denen auch die drei anderen genannten Hauptbereiche (regionale, historische und Stadtgeographie) bearbeitet werden. Während der Gegenstand der historischen Geographie
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die Evolution der Mensch-Umwelt-Beziehungen in allgemeiner wie konkreter Form sein soll – sie also als eine Art Humanökologie unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Dimension zu verstehen ist (Barrows 1923, 11) – geben Barrows’ Ausführungen zur regionalen und zur Stadtgeographie stärker Auskunft zu den Folgen der proklamierten humanökologischen Wende innerhalb der Geographie. Wie verhalten sich das humanökologische Paradigma und seine Ausdifferenzierung in den systematischen Bereichen der Geographie also zur Kerndomäne traditioneller geographischer Forschung, den Regionalstudien (II)? Barrows plädiert hier für eine Stärkung der empirischen Kompetenz der Disziplin und fordert unzweideutig eine zentrale Rolle regionaler Geographie humanökologischen Zuschnitts ein: »the center of geography is the study of human ecology in specific areas« (Barrows 1923, 9). Geographie als Humanökologie wird in diesem Sinne wesentlich als eine angewandte Wissenschaft verstanden, deren empirischer Fokus auf räumlichen Einheiten liegt. Auch in Bezug auf die regionale Geographie zeigt sich nach Barrows die oben bereits angesprochene Problemlage der sich überschneidenden Kompetenzen von Geographie und anderen Wissenschaften. Das Argument, das er daraus für eine humanökologische Neuorientierung der Regionalgeographie formuliert, besteht in einer pragmatischen Kritik räumlicher Kategorien als Ordnungskriterium von Wissenschaften und es gibt Aufschluss über das ökologische Denken Barrows’. Wie ist diese Kritik konzipiert? Barrows konstatiert zunächst, dass nahezu alle von der Geographie mit spezifischem regionalen Bezug untersuchten Umweltelemente (»environmental elements«) auch von anderen Disziplinen – wie etwa der Geologie oder der Zoologie – in den Blick genommen werden (Barrows 1923, 8). Da sich die traditionelle Geographie jedoch nicht auf einen bestimmten Phänomenbereich beschränkt, sondern alle regional auftretenden Phänomene in den Blick zu nehmen beabsichtigt, entsteht durch die Preisgabe der Spezialisierungsprofite ein Kompetenzdefizit. Der Grund dafür ist nach Barrows’ Ansicht, dass keine Disziplin über die konzeptuellen Mittel verfügt, alle Phänomene in einem bestimmten Ausschnitt der physisch-materiellen Welt hinreichend zu analysieren; oder anders herum: all jene spezifischen Aufgaben können von den sich nicht raumbezogen organisierenden Spezialdisziplinen besser bearbeitet werden. »Kritisch« ist dieses Argument Barrows’ zu nennen, weil er damit eine humanökologische Re-Organisation der Regionalgeographie einfordert und in dieser überhaupt erst die Möglichkeit sieht, geographische Regionalforschung zu betreiben: »The thesis I am trying to maintain is, that a regional treatment has geographic quality only when the governing concept throughout is human ecology« (Barrows 1923, 9). Unter humanökologischer Regionalgeographie lässt sich dann eine Wissenschaft der regional differenzierten Anpassungsleistungen des Menschen an Natur verstehen. »Pragmatisch« ist seine Argumentation, weil er nicht etwa ontologische oder erkenntnistheoretische Gründe für die Untauglichkeit räumlicher Kriterien anführt, sondern einzig die Praktikabilität regionaler Forschung sowie im weiteren Sinne wissenschaftssoziologische Entwicklungen – den Wettbewerb von Disziplinen –
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im Blick hat. Es ist mit Barrows jedenfalls nicht davon auszugehen, dass es prinzipielle Gründe gibt, die gegen eine beschreibende Regionalforschung sprechen. Besonders interessant – auch im Lichte der weiteren Entwicklung der Humanökologie im Rahmen der Chicago School – ist Barrows’ Darstellung der Stadtgeographie (III). Stadtgeographie in humanökologischer Perspektivierung zu betreiben bedeutet einerseits, die Stadtlandschaft als besondere Form einer Kulturlandschaft zu betrachten und inner-urbane Prozesse als Ausdruck und Folge spezifischer menschlicher Relationen zu dieser Umwelt in den Blick zu nehmen: »To account for the use of land […] within a city area is as truly geographic as to account for the use of land for different crops in a rural district« (Barrows 1923, 10). Für die allgemeine Forschungspraxis bedeutet das, räumliche Nutzungsformen zu typisieren und zu untersuchen sowie – hier argumentiert Barrows ähnlich wie Stephen Forbes für die biologische Ökologie – die Raumnutzung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu evaluieren. Gleichermaßen solle laut Barrows aber auch die Beziehung von Städten als kollektiven Entitäten zu ihrer Umgebung betrachtet werden (ebd.). Besonders an den Erläuterungen zur Stadtgeographie wird deutlich, dass es für eine humanökologische Geographie nicht ausschließlich um Natur – im alltäglichen Sinne – geht, sondern um Umweltrelationen im Allgemeinen. Geographie hat es, anders gesagt, immer (auch) mit kulturell überprägten oder erst erzeugten Umwelten zu tun. Wie ist Barrows’ Versuch der Neuorientierung der Geographie nun zusammenfassend zu bewerten? Zunächst einmal stellt er einen im englischsprachigen Kontext bedeutsamen Schritt dar, menschlichen Tätigkeiten im Rahmen geographischer Forschung einen größeren Stellenwert beizumessen. Indem die (kulturellen) Anpassungsleistungen an Natur thematisiert werden verschiebt sich der Fokus von einem Naturdeterminismus à la Huntington hin zu einer stärker differenzierten kulturellen Perspektive. Auch wenn Barrows’ Aufsatz letztlich über das Wesen der Anpassungsleistungen im Unklaren lässt – konzeptionell wäre auch eine Humanökologie als Wissenschaft der regional verschiedenen Natureinflüsse auf menschliche Aktivität denkbar –, ist die Mehrzahl der Kommentare zu seinem Werk einig darüber, dass Barrows’ Konzept nicht deterministisch auszulegen ist (vgl. Koelsch 1969; Chappell Jr. 1971; Harris 1979, 23). Stattdessen sind Parallelen zu possibilistischen Argumentationen, wie sie im französischsprachigen Kontext etwa von Paul Vidal de la Blache vertreten wurden, zu ziehen, auch wenn diese Bezüge bei Barrows nicht explizit gemacht werden. Insgesamt kann das Konzept als ein Versuch gewertet werden, die Geographie stärker sozialwissenschaftlich auszurichten. Diese Verschiebung ginge nach Barrows’ Ansicht sogar so weit, dass sich daraus erneut disziplinäre Abgrenzungsprobleme ergäben: »I readily agree that in studying the affairs of men from that point of view which is geography, it is exceedingly difficult to determine where we pass from geography into the social sciences« (Barrows 1923, 12f.). Die Stärken und das Alleinstellungsmerkmal einer solchen Geographie werden dann jedoch darin gesehen, dass diese in den Mensch-Natur-Bezügen einen Gegenstand hat, der von keiner anderen sozialwissenschaftlichen Disziplin exklusiv bearbeitet wird. Darüber hinaus vermag auch die Außenorientierung der Disziplin ihre Position zu
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stärken. Analog zu Stephen Forbes in Bezug auf die (biologische) Ökologie sieht Barrows die Aufgabe der Humanökologie nämlich nicht nur in einer Interpretation bestehender Mensch-Natur-Verhältnisse, sondern gleichermaßen in einer intervenierenden Optimierung. Das heißt, die Geographie soll die vielfältigen Anpassungsleistungen von Menschen einerseits beschreiben und verstehen, andererseits aber auch Potenziale darlegen, die bestimmte ›Naturräume‹ für menschliche Aneignung bzw. Inwertsetzung haben (ebd., 9f.). Während die konsequente Betonung der kulturellen Leistungen bei Barrows einen Gegenpol zu deterministischen Ansätzen der Geographie bildet, darf sie jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der Ansatz in letzter Instanz auch nicht von der klassischen raumzentrierten Rhetorik und Denkweise lösen kann. Thematisch ist mit Barrows, das zeigt sich besonders an seiner Betonung der regionalgeographischen Kompetenz, nämlich nicht nur menschliche Aktivität ins Zentrum geographischer Forschung zu rücken, sondern menschliche Aktivität in bzw. in Bezug auf spezifische Räume und Regionen. Hier verbleibt das Konzept ganz im Rahmen der traditionellen ökologischen Denkweise: Innerhalb gegebener Einheiten (»Lebensräume« oder »Habitate«) rücken adaptive Tätigkeiten in das Blickfeld, die Konstitution von Regionen und »Naturraum« jedoch wird nicht als Resultat von (regionalisierender) Tätigkeit konzeptualisiert. Diese substantialisierende Sichtweise wird auch in Bezug auf die Unterscheidung von Natur und Sozialem sichtbar. Trotz – oder gerade aufgrund – der Betonung von Interaktionen zwischen Gesellschaft und Natur als eigenständigem Untersuchungsgegenstand der Humanökologie scheint Barrows von zwei gegebenen, mehr oder minder eindeutig unterscheidbaren Bereichen der Natur und des Sozialen auszugehen (Huber 2010, 77). Dies spiegelt sich z.B. auch in der strikten Gegenüberstellung naturwissenschaftlicher Bereiche (wie etwa der Geologie oder der Physischen Geographie) und sozialwissenschaftlicher Felder (wie etwa die Politik- oder die Geschichtswissenschaft) wider. Weder führt Barrows dabei aus, worin die Unterschiede beider Bereiche liegen, noch werden in seinem Aufsatz mögliche Verweisungszusammenhänge thematisiert.33 Das Gros der Kritik, die sich in den 1920er Jahren bis in die 1940er Jahre hinein um die Neuorientierung der Geographie entwickelte, konzentriert sich jedoch weniger auf diese konzeptionellen als vielmehr auf disziplinpolitische und terminologische Aspekte. Vor allem aus dem soziologischen und geographischen Lager erntet Barrows dabei Widerspruch. So etwa bemerkt James A. Quinn, dass die (Human-)Geographie nicht über die Mittel verfüge, alle Aspekte der MenschUmwelt-Beziehungen angemessen in den Blick zu nehmen (Quinn 1940, 716). Gewissermaßen die entgegengesetzte Kritik aus geographischer Sicht formuliert Carl Sauer, der in Barrows’ Konzept eine zu starke Beschränkung geographischer Kompetenzen (a »drastic limitation of the field«) sieht (Sauer 1927, 168, zit. in Huber 2010, 78).34 Es mag in diesen zahlreichen Einsprüchen aus der eigenen Dis33 34
Dass eine solche Forderung durchaus bereits zu Barrows’ Zeiten thematisiert wurde, macht die im folgenden Abschnitt darzustellende Chicago School deutlich. Weichhart (1975, 79) moniert ganz ähnlich, dass das bei Barrows zugrunde gelegte Konzept
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ziplin begründet liegen, dass sich Barrows’ Vorschlag nicht durchzusetzen vermochte – die Tatsache jedenfalls dass sich in Barrows’ Gefolge keine systematische humanökologische Geographie entwickelte, führte zu verstärkten Ansprüchen der Soziologie auf das Label »human ecology« (Quinn 1940, 716). Mit der Chicago School, die parallel zu Barrows einen eigenständigen humanökologischen Ansatz entwickelt, wird auf den ersten Blick eine ganz andere Art der Übernahme ökologischer Denkweisen etabliert. Dennoch lassen sich Parallelen zwischen beiden Traditionen ausmachen. Die Human Ecology der Chicago School Dreh- und Angelpunkt der soziologischen Etablierung der Humanökologie ist die nordamerikanische Soziologie, oder genauer: das soziologische Institut der Universität von Chicago. Die unter der Bezeichnung »Chicago School of Sociology« zusammengefassten Arbeiten von Robert Ezra Park, Ernest W. Burgess, Roderick D. McKenzie, Louis Wirth und anderen stehen dabei zunächst wie keine andere Schule der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für eine Thematisierung der Stadt als genuin soziologischem Forschungsobjekt. Gleichzeitig geht mit der Chicago School von Beginn an – verbunden vor allem mit den migrationssoziologischen Studien William Isaac Thomas’ – eine enorme Aufwertung empirischer Forschung einher (Bulmer 1984, 3). Sowohl die empirische Sättigung als auch der Fokus auf urbane Zusammenhänge, d.h. ihr Interesse an der Morphogenese der Stadt, stellen aus der hier zu entfaltenden Perspektive jedoch nur Nebenaspekte dar. Die theoretische bzw. programmatische Innovation der Chicagoer Schule besteht vielmehr in der Entwicklung eines an der biologischen Ökologie geschulten spezifisch soziologischen Ansatzes, der sich mit den Grundfragen der Disziplin, nicht nur mit speziellen Soziologien, auseinandersetzt. In vielerlei Hinsicht entwerfen die Chicagoer Soziolog*innen damit unter den bislang vorgestellten Ansätzen den avanciertesten Entwurf einer Humanökologie. Bevor dieser genauer dargestellt werden kann, gilt es zuvor zwei (eng miteinander zusammenhängende) terminologische bzw. konzeptionelle Irritationen zu diskutieren. Die erste betrifft den Begriffsbestandteil »ökologisch«, und damit die Frage nach der Relevanz der Chicago School für die sozialwissenschaftliche Naturforschung. Es gibt Kontroversen darüber, ob die vor allem als Stadtsoziologie ausformulierte »human ecology« der Chicagoer Schule in eine Traditionslinie mit anderen, stärker auf Naturbezüge ausgerichteten humanökologischen Bestrebunder »human ecology« nicht geeignet sei, die gesamte Breite geographischen Forschungsinteresses zu erfassen, »sodaß die methodologische Konsequenz dieser Definition in der weitreichenden Reduzierung und Beschränkung des Organisationsplans der Geographie liegen müßte«. Dem kann allerdings entgegengehalten werden, dass es Barrows ja gerade um eine Neuausrichtung der Disziplin, und nicht bloß um eine Umbenennung tradierter geographischer Ansätze geht. Das heißt, Barrows fragt nicht, was der kleinste gemeinsame Nenner bisheriger geographischer Wissenschaft ist, sondern stellt stattdessen die Frage in den Mittelpunkt, was sinnvollerweise Gegenstand der Disziplin in der Zukunft sein kann.
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gen gestellt werden sollte. Rammstedt (1994, 281) etwa bemerkt knapp, Humanökologie sei »der Teil der Ökologie, der sich mit den Beziehungen zwischen den Menschen und der Umwelt beschäftigt«, und sie sei, darauf kommt es hier an, »zu unterscheiden von der human ecology der Chicagoer Schule«. Jene freilich – und damit ist die zweite Schwierigkeit angesprochen – wird unter dem Schlagwort »Sozialökologie« verhandelt (ebd.). Weichhart (1975, 77) weist darauf hin, dass beide Begriffe häufig undifferenziert, als Synonyme gebraucht werden (vgl. auch Friedrichs 1988 8; Atteslander/Hamm 1974, 21; Groß 2001, 92). Diese terminologische Irritation betrifft nicht nur den deutschsprachigen Kontext, und sie lässt sich weitaus früher schon beobachten. Milla Aïssa Alihan beispielsweise, eine der in den späten 1930er Jahren prominentesten Kritikerinnen des Chicagoer Ansatzes, spricht im Titel ihrer Studie zur Chicago School von »social ecology«, auch wenn in der Darstellung der Argumentationen Parks, Burgess’ etc. unkommentiert der Begriff »human ecology« benutzt wird (vgl. Alihan 1938). Warum hier also von »human ecology« sprechen? Versteht man jenseits der konkreten Verwendung der Begriffe bei Park und seinen Ko-Autor*innen unter »Human-Ökologie« zunächst einmal eine Ökologie des Menschen, d.h. eine Inaugenscheinnahme der Umweltbeziehung(en) von Menschen, ganz gleich welcher Art diese Umwelt ist, so scheint dies ein weiter gefasster Begriff als derjenige der social ecology zu sein. Die Betonung des Sozialen durch den Terminus »Sozialökologie« macht begrifflich vor allem in zwei Fällen Sinn: Einerseits, wenn damit auf einen bestimmten Bereich der Beziehungen, nämlich den der Beziehungen zu anderen Menschen oder zwischen Gruppen von Menschen abgehoben wird. Andererseits, wenn die Beziehung von menschlichen Sozialsystemen, d.h. mehr oder weniger integrierten Kollektiven zu einer materiellen Außenwelt angesprochen werden soll. In beiden Fällen wird, im Vergleich mit einer humanökologischen Betrachtung der Außenbeziehungen des Menschen – im Stile etwa der philosophischen Anthropologie –, die Zusatzannahme gemacht, dass Menschen sich zu Kollektiven aggregieren, die ggf. einer eigenen Logik des Sozialen folgen. Es erscheint vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick nicht unberechtigt, die Chicago School als »social ecology« zu etikettieren. Schließlich behauptet Park »It is not man, but the community; not man’s relation to the earth which he inhabits, but his relations to other men, that concerns us most« (Park 1952a[1925], 165). Allerdings verkürzt Park hier unnötig das umfassende Programm der Chicago School auf ihren soziologischen Kerngehalt. Zwar versuchen die Arbeiten der Chicago School aufbauend auf den biologischen Theoremen Haeckels und Darwins sowie den Arbeiten der Pflanzenökologen Johannes Eugenius Bülow Warming und Frederic Edward Clements ein spezifisch soziologisches Programm menschlicher Umweltbeziehungen zu entwickeln (vgl. Park 1936a, 3; 1952a[1925], 165; Warming [in Park/Burgess] 1921, 173ff.; Alihan 1938, 118ff.). Allerdings besteht ein großer Teil der Studien aus allgemeinen Fragen nach der Stellung des Menschen in der und in Bezug auf die Natur. Darüber hinaus wird mit dem Fokus auf urbane Prozesse die auch für die (biologische) Ökologie relevante Frage aufgeworfen, welcher Natur die Umwelten des modernen Menschen sind, d.h. einerseits, ob nicht in materieller Hinsicht von einer nahezu umfassend artifiziellen
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Umwelt ausgegangen werden muss und welche Folgen dies hat; und andererseits, ob die Beziehungen des Menschen zu seiner menschlichen Umwelt nach gleichem Muster erfassbar sind, wie diejenigen zwischen nicht-menschlichen Organismen. Es erscheint angesichts dieser Allgemeinheit der Fragen der Chicago School terminologisch konsequent, deren Selbstetikettierung zu folgen und sie als »human ecology« zu bezeichnen. Mit diesen terminologischen Erwägungen ist bereits das Spannungsfeld benannt, in dem sich die Chicago School entwickelt. Der über die gesamte Wirkungsgeschichte bestehende Kern ihres Denkens findet sich in der folgenden Definition Parks exemplarisch formuliert: »Human ecology is an attempt to apply to the interrelations of human beings a type of analysis previously applied to the interrelations of plants and animals« (Park 1936a, 1).35 Nahezu reflexhaft ruft diese Begriffsbestimmung zunächst die vielfach kritisierten Formen der Biologisierung in der frühen Phase der Soziologie am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts in Erinnerung. Dass es sich bei der Humanökologie Chicagoer Prägung um eine Annäherung der Sozial- an die Naturwissenschaften handelt, ist Parks Erachten nach jedoch ein Fehlschluss. Gewiss lässt sich die Aufnahme naturwissenschaftlicher bzw. biologischer Terminologien in die Sozialwissenschaft als Annäherung der Disziplinen verstehen – die Ironie daran jedoch ist, so argumentiert Park (1936a, 2f.; vgl. Groß 2006, 67; 2001, 137), dass die Ökologisierung der Soziologie als Re-Import genuin soziologischen Vokabulars aus der Biologie zu verstehen ist. Die biologische Ökologie habe sich – ganz entgegengesetzt der gewöhnlichen Auffassung – in ihrem Denken bzw. ihrer Begriffsbildung an soziologischen Konzepten orientiert: »It is interesting to note that it was the application to organic life of a sociological principle – the principle, namely, of ›competitive co-operation‹ – that gave Darwin the first clue to the formulation of his theory of evolution« (Park 1936a, 2f.; Hervorhebung K. G.).36 Die Entfaltung einer soziologischen Humanökologie vollzieht sich nahezu über die gesamte Geschichte der Chicagoer Schule. Dabei können grob drei Stadien voneinander unterschieden werden: Erstens gibt es frühe, etwa in der Mitte der 1910er Jahre formulierte Texte zur Stadtsoziologie, in denen das später als »ökologisch« charakterisierte Denken bereits angelegt ist, ohne dass aber explizite Bezüge zur biologischen Ökologie hergestellt werden (vgl. Serbser 2003b, 122). 35
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Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich im Übrigen bei Radhakamal Mukerjee, einem indischen Zeitgenossen Parks und ebenfalls Vertreter humanökologischen Denkens: »Like the distribution of plants and animals man’s spatial and temporal location is largely governed by ecological factors« (Mukerjee 1968[1940], 1). Allerdings werden die Probleme eines Theorieaustauschs zwischen Biologie und Soziologie mit dieser Feststellung nicht – wie sich leicht annehmen ließe – obsolet. Auch wenn Park »competitive co-operation« als soziologisches Prinzip bezeichnet, ist damit nicht notwendigerweise impliziert, dass die Biologie diesen Prozess auf dieselbe Weise wie die Soziologie interpretiert. Und gleichermaßen ist damit nicht gesagt, dass es sich bei dem Theorie-Import nicht dennoch um die Etablierung oder Verfestigung naturalistischen Denkens in der Soziologie handeln kann. Der Verweis zeigt zunächst nur, dass zwischen biologischem und soziologischem Denken in der Frühphase der Soziologie enge Verbindungen bestanden haben.
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Daneben werden, zweitens, hauptsächlich in den Texten der frühen 1920er Jahre die begrifflichen Grundlagen humanökologischer Soziologie ausgearbeitet. In dieser Mittelphase rücken einerseits explizit die Konzepte der biologischen Ökologie als Referenzrahmen in den Mittelpunkt. Andererseits wird auf deren Basis eine (makro-)soziologische Perspektive entwickelt, in der Fragen nach dem Wesen von Gesellschaft und den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erforschung von Gesellschaft aus humanökologischer Perspektive im Zentrum stehen. Eine dritte Periode lässt sich schließlich in den 1930er Jahren ausmachen, in denen die sozialtheoretischen Bemühungen fortgeführt und begrifflich geschärft werden und in zunehmendem Maße von einer ausgereiften Humanökologie mit programmatischem Anspruch die Rede ist. In welchen konkreten Zusammenhängen taucht nun ökologisches Denken bei der Chicago School zuerst auf? Bereits in dem 1915 erschienenen Aufsatz Parks »The City« wird im Untertitel mit dem Umweltbegriff eines der zentralen Konzepte der Ökologie angesprochen: »Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the City Environment«. Obwohl in diesem Text weder der Begriff der Humanökologie noch derjenige der Ökologie ein einziges Mal auftauchen, trägt die darin skizzierte Vorgehensweise bereits die Signatur ökologischen Denkens. Deutlich wird dies nicht nur oberflächlich im Gebrauch des Umweltbegriffs, sondern vor allem in einem der Grundargumente des Aufsatzes: »The city, in short, shows the good and evil in human nature in excess« (Park 1915, 612). Nicht die Stadt als solche wird hier als gut oder schlecht charakterisiert, sondern ihre Wirkung auf das, was in ihr als (Lebens-)Raum geschieht, steht im Mittelpunkt. In diesem Sinne spricht Park (ebd., 596) auch von Effekten der städtischen Umwelt. An derselben Stelle wird im Übrigen – und folgerichtig – auch der für die Chicagoer Soziologie prägende Gedanke artikuliert, die Stadt sei als ein Laboratorium zu begreifen, in dem sich die menschliche Natur und das Soziale am deutlichsten studieren ließen.37 Aus einer Alltagssicht heraus scheint es nun keinen Unterschied zu machen, ob die Stadt ›an sich‹ gut oder schlecht ist, oder ob sie wünschenswerte oder nicht wünschenswerte Effekte hat. Für die stadtsoziologische Forschung ist mit der Verschiebung zu einer Umwelt-Perspektive auf (Lebens-) Raum jedoch der Boden bereitet, nach den genauen Wirkungsmechanismen der Umwelt Stadt zu fragen. Wenn hier etwas homogenisierend von der Stadt die Rede ist, so wird damit ein zweiter zentraler Aspekt des ökologischen Denkens der Chicago School unterschlagen, der auch bereits in den frühen Schriften Parks präsent ist: der Fokus auf räumliche Beziehungen innerhalb von Städten. In den Blickpunkt geraten diese durch die Frage, nach welchen Kriterien sich die Bevölkerung innerhalb einer Stadt verteilt. Parks These ist hierbei, dass es verschiedene Mechanismen der Verteilung gibt, von ›harten‹, d.h. in diesem Sinne ökonomischen Standortfaktoren bis hin zu ›weichen‹, nicht quantitativ zu erfassenden Kriterien (Park 1915, 579). Das bedeutet, neben wirtschaftlichen Aspekten (etwa Bodenpreisen oder Arbeits37
Rolf Lindner (1990, 76) bringt diese Auffassung mit der Formulierung »Großstadt als pars pro toto für Gesellschaft« prägnant auf den Punkt.
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angebot) werden zur Erklärung der urbanen Segregation explizit auch Einflüsse wie gleicher Geschmack, ähnliches Freizeitverhalten oder schlicht Sympathie zwischen den benachbarten Bewohnern einer städtischen Region angeführt (ebd., 610, 579). Aus diesen Mechanismen der Verteilung ergibt sich schließlich ein »Mosaik« von mehr oder minder abgeschlossenen Mikrowelten oder Regionen innerhalb der Stadt (ebd., 608). In der Vielfalt an intra-städtischen Umwelten liegt Park zufolge auch der Reiz und positive Effekt der Großstadt begründet: »The attraction of the metropolis is due in part, however, to the fact that in the long run every individual finds somewhere among the varied manifestations of city life the sort of environment in which he expands and feels at ease; finds, in short, the moral climate in which his peculiar nature obtains the stimulations that bring his innate qualities to full and free expression« (Park 1915, 608).
Bemerkenswert an diesem Passus ist, dass hier bereits nahezu alle zentralen ökologischen und anthropologischen Bestimmungen der Chicago School enthalten sind – vom Gedanken der Passung zwischen Organismus und (Lebens-)Raum bis hin zur Idee einer Entfaltung der inhärenten Menschennatur durch Umwelteinflüsse. Seine volle Ausweitung erfährt dieses im Park’schen Frühwerk angelegte ökologische Denken nur wenige Jahre später. In ihrem 1921 erschienenen Standardwerk »Introduction to the Science of Sociology«38 sprechen Park und Burgess (1921, 558) bereits explizit von »human ecology«, wenn auch eher zögerlich und noch nicht mit dem Anspruch ein umfassendes Paradigma zu formulieren. Spätestens bei Burgess (1928) jedoch wird der Terminus schließlich als ein etabliertes Konzept soziologischer Stadtforschung verwendet. Bereits an der Oberfläche kann man in dieser Phase die Anlehnung der soziologischen Humanökologie an die biologisch-ökologischen Denkweisen erkennen. In Fortführung und Abstrahierung der bereits in den frühen Texten entwickelten (Lebens-)Raum-Logik wird in der mittleren Phase der ökologische Gedanke, dass Verhältnisse zwischen Organismen eben auch räumliche Verhältnisse sind, weiter entfaltet und zu der – letztlich sozialgeographischen – Behauptung ausgebaut, dass Soziales sichtbare räumliche Effekte hat. Die Aufgabe der Humanökologie sei es demgemäß, soziale Prozesse über die Untersuchung räumlicher Bewegungen bzw. Distanzverhältnisse zu erfassen (Park 1952a[1925], 166). Auch wenn Park verschiedentlich betont, dass sich Soziales bzw. soziale Distanzen, wie sie etwa zwischen verschiedenen Gruppen oder Klassen bestehen, nicht immer in physisch präzise messbaren Sachverhalten abbilden, läuft sein Grundansatz dennoch auf eine quantitative Sozialforschung hinaus, die von der – später viel kritisierten – Annahme geleitet ist, dass soziale Beziehungen eben nicht nur mit räumlichen Beziehungen korrelieren, sondern sich letztlich auf diese reduzieren lassen (ebd., 173, 176f.).39 38
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Das Lehrbuch stellt eine Mischung aus Beiträgen anderer Autor*innen und Beiträgen Parks und Burgess’ dar. Die Texe anderer Autor*innen werden im Folgenden durch einen Hinweis gekennzeichnet, der auf den Ursprung in diesem Soziologiebuch aufmerksam macht. Zu der den ebenfalls in Chicago entwickelten stadtethnographischen Ansätzen scheinbar entgegen gesetzten quantitativen Tradition der Chicago School vgl. Harvey (1987, 74ff.).
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Neben dieser Übernahme ökologischer Denkweisen in einem ganz allgemeinen Sinne sind in der Chicago School der 1920er Jahre vor allem die zahlreichen expliziten Reflexionen klassisch biologischer Theoreme auffällig. So etwa wird in Park und Burgess’ Lehrbuch mehrfach auf die über Stoff- und Energiekreisläufe vermittelte Interrelation der Elemente der lebendigen bzw. nicht-lebendigen Welt verwiesen. »Everything in nature, living or not living, exists and develops at the expense of some other thing, living or not living. The plant borrows from the soil; the soil from the rocks and the atmosphere; men and animals take from the plants and from each other the elements which they in death return to the soil, the atmosphere, and the plants« (Crile [in Park/Burgess] 1921, 522).
Verkürzt wird dieser Zusammenhang später zu der an den Biologen und Evolutionstheoretiker John Arthur Thomson angelehnten Formel eines über Nahrungsketten (»nutritive inter-relations«) verwirklichten »web of life« (Thomson 1920a, 294; 1920b, 455f.; vgl. Park 1936a, 1). In der genaueren Bestimmung dieser Interrelationen wird schließlich auch das darwinistische Erbe der Chicago School sichtbar. Fluchtpunkt der für ein Soziologiebuch möglicherweise irritierend ausführlich gehaltenen naturwissenschaftlichen Passagen40 ist nämlich die Idee des Konkurrenzkampfes (vgl. Park/Burgess 1921, 505ff.). Bei Park und Burgess werden nicht nur die von Darwin prominent formulierten Thesen eines bis in die kleinsten Elemente der Natur reichenden Kampfes um begrenzte lebensnotwendige Ressourcen sowie die sich daraus ergebenden (dynamischen) Gleichgewichtszustände hervorgehoben, sondern auch der ökologische Kern des Evolutionsdenkens, die Anpassung an spezifische Umweltbedingungen (Crile [in Park/Burgess] 1921, 522f.). »Everywhere something is pursuing and something is escaping another creature […] For each must live, and those already living have proved their right to existence by a more or less complete adaption to their environment« (Crile [in Park/Burgess] 1921, 523). Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass der Mensch – im darwinistischen Sinne natürlich konsequent – hier zunächst ›nur‹ im Licht seiner Naturhaftigkeit betrachtet wird. Homo sapiens ist in dieser Perspektive das Tier, das sich, auf Basis eines besonders gut entwickelten zentralen Nervensystems, im Kampf um das Dasein vor allem durch seine Vielseitigkeit oder Anpassungsfähigkeit an heterogene Umweltbedingungen auszeichnet (ebd., 524). Könnte man diese Anleihen der Chicagoer Soziologie bei der Biologie und biologischen Anthropologie zunächst noch für eine primitive Übernahme darwinistischen Mainstreams halten, so zeigt sich an anderer Stelle, dass Park und Burgess tatsächlich an einer soziologischen Weiterentwicklung dieses Gedankenguts interessiert sind. Deutlich wird dies z.B. dort, wo nicht nur die Gattungsentwicklung aus ökologischer Sicht in den Blick genommen wird, sondern auch die soziologisch interessante Individualentwicklung. So wird die mit Haeckel (z.B. 1866b, 7; 1891[1874], 7) etablierte Vorstellung einer Wiederholung der Phylogenese in der
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Wobei die Irritation sicher aus heutiger Sicht größer sein dürfte als aus Sicht einer der Biologie deutlich näher stehenden Soziologie der Zeit Parks.
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Ontogenese41 von Park ([in Park/Burgess] 1921, 77) herausgehoben und sozialisationstheoretisch re-interpretiert. Der Mensch werde demnach nicht (bereits) als Mensch geboren (ebd.). Stattdessen: »It is only slowly and laboriously, in fruitful contact, co-operation, and conflict with his fellows, that he attains the distinctive qualities of human nature« (Park [in Park/Burgess] 1921, 77). Gewiss ist der Mensch bereits mit der Geburt ein Angehöriger der biologischen Art Homo sapiens und muss sich diese ›Eigenschaft‹ nicht in Auseinandersetzung mit einer bestimmten Umwelt aneignen. Und als Angehöriger dieser biologischen Art bringt der Mensch ein bestimmtes Set an Fähigkeiten und (Re-)Aktionsmustern gleichsam ›natürlich‹ mit auf die Welt. In diesem Sinne lässt sich, ganz nach der bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts etablierten Unterscheidung, auch von einer »ersten Natur« des Menschen sprechen. Diese erste Natur oder biologische Grundausstattung des Menschen jedoch erfährt im Zuge der individuellen Entwicklung gemäß Park und Burgess zahlreiche Modifikationen. Dazu zählen eben nicht nur die eher biologisch-mechanistisch gedachte Verkümmerung nicht gebrauchter Fähigkeiten, Verhaltensweisen oder Instinkte etc. (Park [in Park/Burgess] 1921, 77), sondern auch die eher soziologisch oder genauer: pädagogisch gedachte Einhegung der ersten Menschennatur durch die Sozialisation. Das Ergebnis dieser sozialisatorischen Modifikationen ist dementsprechend dann als zweite Natur, »[…] modified by experience and formed by the education and the discipline of contact and intercourse with […] fellows« (Park [in Park/Burgess] 1921, 77) zu charakterisieren. In gewisser Weise legt Park hier das Modell einer kulturellen (wenn vielleicht nicht Evolution, so doch) Entwicklung vor, die parallel zur bzw. verzahnt mit der biologischen Entwicklung des Menschen verläuft. Park und Burgess, so lässt sich zusammenfassen, zeigen in der mittleren Phase der Chicagoer Humanökologie also nicht nur eine vergleichsweise profunde Kenntnis der ökologischen Gründungsdokumente, sondern auch eine Sensibilität für den Doppelstatus des Menschen als Teil biologischer und kultureller/sozialer Prozesse. Der spezifisch soziologische Horizont der Ausführungen zur Natur des Menschen deutet sich darin an, dass die Autor*innen der klassischen, z.B. bereits in Thomas Hobbes’ politischer Philosophie entfalteten Idee einer Einhegung der ersten Natur durch Kultur (bzw. Gesellschaft und Staat) folgen und die Frage dieser Einhegung gewissermaßen den Grund ihres soziologischen Denkens darstellt (vgl. Park/Burgess 1921, 81; Alihan 1938, 94ff.). Erst durch die kulturelle Einhegung komme schließlich die ›eigentliche‹ humane Natur zum Vorschein, die den Menschen über den ›rohen‹ Rest der belebten Welt erhebt und die Formierung menschlicher Gemeinwesen wie Gesellschaften ermöglicht (Park/Burgess 1921, 81).42 Die Chicagoer Soziologie begreift sich damit in ihrer mittleren Phase als eine an den biologischen Wissenschaften geschulte »science of collective behavior« (Park/Burgess 1921, 42). 41 42
Zur Wissensgeschichte dieses »Rekapitulationsgesetzes« vgl. Gould (1977). Das Stichwort, unter dem dieser Sachverhalt in Park/Burgess’ Soziologie verhandelt wird, ist »soziale Kontrolle«. Diese sei, so das bekannte Diktum, »the central fact and the central problem of society« (Park/Burgess 1921, 42).
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Wie weit die biologische Analogisierung führt und worin die Unterschiede zwischen biologischen und sozialen Gemeinschaften – und damit schließlich auch zwischen Bio-Ökologie und Soziologie bzw. Humanökologie – bestehen, wird besonders gut in den Texten der dritten Phase der Chicago School herausgearbeitet. In einer der bekanntesten Standortbestimmungen der Humanökologie, dem 1936 im American Journal of Sociology erschienenen Aufsatz »Human Ecology«, erörtert Robert Ezra Park genau jene Tragweite der soziologischen Orientierung an bio-ökologischen Paradigmen. Angesichts der Emphase, mit der an anderer Stelle die Analogie von Bio-Ökologie und Soziologie betont wird, muss Parks Verdikt hier überraschen. Verhältnismäßig deutlich stellt er heraus, dass die Humanökologie sich in bedeutsamen Hinsichten (»important respects«) von der Tier- und Pflanzenökologie unterscheide (Park 1936a, 12). Auch wenn die (zwischen-) menschlichen Interaktionen sowie die Interaktionen des Menschen mit seinem Lebensraum vergleichbar mit denen anderer Organismen seien, so seien sie doch keinesfalls – qualitativ, ließe sich hinzufügen – mit ihnen identisch (ebd.). Dafür führt Park (ebd., 12f.) drei Gründe an. Erstens sei der Mensch durch die Entwicklung der Arbeitsteilung und des Warentausches im Vergleich zu anderen Tieren weniger abhängig von der lokalen natürlichen Umwelt; zweitens sei er vor allem durch die zunehmende Technisierung wesentlich Erzeuger seiner (Um-) Welt; und drittens schließlich, das ist das Hauptargument, werde die biologische Existenz des Menschen von kulturellen Phänomenen (wie etwa institutionellen Strukturen) begleitet. So unterschiedlich die drei Argumente im Einzelnen erscheinen mögen, sie laufen alle darauf hinaus einen qualitativen Unterschied zwischen der Umwelt des Menschen und derjenigen anderer Organismen zu behaupten. Der Mensch lebt demnach in einer weitestgehend selbst produzierten und damit auch von ihm veränderbaren Welt, er ist in ungleich stärkerem Maße Hervorbringer seiner eigenen (ökologischen) Lebensbedingungen als andere Organismen. Wichtig an diesem Befund ist, dass er sich nicht nur in einem relativ trivialen Sinn auf die Transformation der materiellen (Um-)Welt bezieht, sondern auch auf das Soziale.43 Das Soziale ist als kultureller Überbau für Park sogar der wesentlich interessantere Teil der menschlichen Umwelt, da über das Soziale (z.B. eben durch die Arbeitsteilung oder durch Traditionen) letztlich auch der materielle Umweltbezug des Menschen vermittelt wird. Die Sozialität bzw. Kulturalität des Menschen und der artifizielle Charakter seiner Umwelt sind nach Parks Denken die Gründe dafür, warum oberflächlich betrachtet ähnliche Phänomene in der menschlichen und nicht-menschlichen belebten Welt nicht vorschnell miteinander identifiziert werden dürfen. Die terminologische Drehscheibe der Differenzierung menschlicher und nicht-menschlicher Gemeinwesen ist bei Park (1936a, 13) das Begriffspaar »com43
Wobei das Soziale hier in mehrfachem Sinne zu begreifen ist. Einerseits als direkter Kontakt zu anderen Menschen, der überhaupt erst so etwas wie Persönlichkeit entstehen lässt (vgl. Park 1952a[1925], 177), dann allerdings auch im Sinne von immateriellen menschlichen Hervorbringungen wie Institutionen oder Tradition, und schließlich im Sinne von vergegenständlichter Kultur wie Artefakten und Technik (vgl. Park 1936a, 15).
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munity« und »society«.44 »Community« oder »Gemeinschaft« (in Übersetzungen wird selten auch von »Gemeinde« gesprochen, vgl. Atteslander/Hamm 1974, 91) bezeichnet nach der Bio-Logik des Konkurrenzkampfes organisierte Kollektive; so wie in der Ökologie z.B. von »plant communities« die Rede ist. »Society« oder »Gesellschaft« dagegen werden die kulturell überformten Zusammenschlüsse von (menschlichen) Individuen genannt. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Unterschied zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Gemeinwesen besteht Parks Erachten nach nicht darin, dass erstere ausschließlich kulturell (und damit nicht bio-logisch) organisiert sind, vielmehr seien menschliche Gemeinwesen nach beiden Prinzipien organisiert: »There is a symbiotic society based on competition and a cultural society based on communication and consensus« (Park 1936a, 13). Beide seien nicht als unabhängig voneinander zu betrachten, sondern es handele sich dabei lediglich um »different aspects of one society« (ebd.). Dieser Gedanke eines Verhältnisses von biotischer Sub- und kultureller Superstruktur macht den Kern des Park’schen Denkens zum Verhältnis von Gesellschaft und Natur aus – und er zeigt auch, wie Groß (2001, 90ff.) hervorhebt, dass die Soziologie der Chicagoer Schule nicht als eine triviale Biologisierung des Gesellschaftlichen zu verstehen ist. Wie lässt sich diese Ambivalenz von Gesellschaften, ihre Organisation auf zwei Ebenen verstehen? Um dies zu verdeutlichen, ist ein Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten der Kollektivierung bzw. Integration von Individuen in eine übergeordnete Einheit notwendig. Nach Park (1952b, 119) gibt es zwei grundlegende Typen der Interaktion zwischen den Individuen eines Kollektivs. Einerseits der Modus des Wettbewerbs, andererseits der Modus der Kommunikation. Der Interaktionsmodus des Wettbewerbs ist mit den Begriffen »community« und »symbiosis« assoziiert – er fällt sozusagen auf die Seite der Natur. Wie er verfasst ist, erläutert Park (1936a, 4) mit den bio-ökologischen Erkenntnissen seiner Zeit: Es handelt sich bei dem biologischen Konkurrenzkampf demnach nicht um einen zerstörerischen Agonismus, sondern um eine Form der durch Konkurrenz verwirklichten Kooperation (»competitive co-operation«). Das bedeutet, dass durch den Konkurrenzkampf eine Ordnung etabliert wird, in der – analog zur »unsichtbaren Hand« der Volkswirtschaftstheorie Adam Smiths – durch Verwirklichung individueller Ziele die Wohlfahrt der übergeordneten Einheit befördert wird (Park/Burgess 1921, 508). Diese Kooperation ist überhaupt erst die Basis dafür, eine Einheit miteinander in Verbindung stehender Organismen als solche zu kennzeichnen und von einer anderen Einheit zu unterscheiden. Die symbiotische Gemeinschaft reicht danach genau so weit, wie die Mechanismen der durch Wettbewerb verwirklichten Kooperation reichen – was durchaus auch räumlich bzw. territorial zu verstehen ist (vgl. Park 1936a, 7). 44
Terminologisch wird die Trennung von »community« und »society« bei Park nicht immer sauber vollzogen: Stellenweise wird zur Bezeichnung der Bewohner eines Habitats allgemein der Begriff »society« verwendet, um ergänzend dann von »biotic society« im Gegensatz zu »cultural society« zu sprechen (vgl. Park 1936a, 13; vgl. zu dieser Kritik auch Alihan 1938, 13f.). Der Grundlogik nach bleibt die Unterscheidung aber in allen Terminologien enthalten.
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Biotische Gemeinschaften verwirklichen die Kooperation durch Spezialisierung und Nischenbesetzung. Im Zuge des Kampfes um das Dasein, so referiert Park (1936a, 3; vgl. McKenzie 1927) den evolutionstheoretischen Grundgedanken, etabliert sich eine funktionale Differenzierung, bei der jedes Element der Gemeinschaft (bzw. jede Spezies) einen spezifischen Platz innehat und eine spezifische Aufgabe erfüllt. Innerhalb dieser funktional differenzierten Gemeinschaft ist der Wettbewerb zwischen Gruppen von Organismen und zwischen Individuen jedoch nicht suspendiert, sondern er besteht weiterhin und wirkt als Mechanismus der Regulation innerhalb einer Gemeinschaft. Die Rahmenbedingungen des Konkurrenzkampfs werden durch die Funktionszusammenhänge der Gemeinschaft vorgegeben. Das heißt, in einer stabilen symbiotischen Gemeinschaft ist die numerische Größe einer spezifischen Gruppe mehr oder minder vorgegeben und wird durch interne Konkurrenz reguliert – ein Sachverhalt, der als »balance of nature« bezeichnet wird (Park 1936a, 4f.). Die ›natürlichen‹ Gleichgewichtszustände werden jedoch von Zeit zu Zeit beeinträchtigt, sei es durch äußere Einflüsse (z.B. eine Veränderung der physisch-materiellen Rahmenbedingungen durch eine ›Naturkatastrophe‹ oder den Einfall ›fremder‹ Spezies in ein Habitat) oder durch interne ›Funktionsstörungen‹, welche die numerische Größe einer Spezies unproportional anschwellen lassen und den sogenannten »Bevölkerungsdruck« erhöhen (ebd., 6). In diesem Krisen-Fall findet eine Re-Organisation der biotischen Gemeinschaft statt, in der es durch Wettbewerb zu einer Neuordnung der funktionalen Aufteilung kommt. Es müssen in Bezug auf die Organisation biotischer Gemeinschaften also zwei Formen des Wettbewerbs unterschieden werden: Einerseits der regulative Konkurrenzkampf innerhalb der Stabilitätsphasen, andererseits der kreative Konkurrenzkampf in Phasen der Neuorganisation. Das Wechselspiel von Stabilität, Krise und Neuordnung kann schließlich noch weiter differenziert und zu einer dynamischen Lebenszyklusperspektive auf biotische Gemeinschaften ausgebaut werden. Der sicher bekannteste Ausdruck dieser Sichtweise ist der der Biologie Clements’ entlehnte Migrations-Zyklus (vgl. Park 1936a, 9ff.; Clements [in Park/ Burgess] 1921). Soweit mit dem Interaktionsmodus des Konkurrenzkampfes nicht-menschliche Kollektive angesprochen sind, entspricht die Park’sche Argumentation genau der klassischen biologischen Sichtweise. Wie aber ist es zu verstehen, dass auch menschliche, oder präziser: kulturelle Kollektive (»cultural communities«) als durch den Konkurrenzkampf organisiert aufzufassen sind? Parks These ist schließlich, dass das Grundprinzip des Wettbewerbs in beiden Sphären nicht nur ähnlich, sondern substanziell gleich sei (Park 1936a, 10). Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn man statt der konkreten Form des Konkurrenzkampfes (etwa des mit Zähnen und Klauen um Nahrung ausgetragenen) seine allgemeine Funktion in den Blick nimmt. Diese ist die Herstellung einer funktional differenzierten, symbiotischen Gemeinschaft. Unschwer lässt sich nun erkennen, worauf die Beschreibung einer kulturellen Gemeinschaft (oder alltäglich: »der Gesellschaft«) als »biotic community« hinauswill: Auch wenn der Konkurrenzkampf hier eine kulturell transformierte Gestalt annimmt – Park (ebd., 7) spricht von »higher and more sublimated forms« –, entwickeln sich dadurch dennoch relativ stabile, diffe-
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renzierte Gemeinwesen. Am deutlichsten lässt sich diese Denkweise anhand der Ökonomie illustrieren. Durch wirtschaftliche Aktivität etabliert sich einerseits eine Hierarchie, die sich z.B. an der unterschiedlich verteilten finanziellen Potenz sichtbar machen lässt, andererseits ermöglichen Produktion und Warentausch die (vorteilhafte) Verfügbarkeit von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht selbst hergestellt oder erbracht werden können. Was also in Bezug auf nichtmenschliche Gemeinschaften bloß metaphorisch gemeint war, erhält auf kulturelle Gemeinschaften angewendet seine volle Bedeutung: die Rede von einer »Arbeitsteilung«. Legt man das Augenmerk auf den Interaktionsmodus der Konkurrenz, so gerät nach Parks Denken diejenige Ordnung in den Blick, die – auch in kulturellen Gemeinwesen – biotischen Ursprungs ist. Das naturhafte Erbe von Gesellschaft besteht dann in ihrer Differenzierung durch Konkurrenz, auch wenn der Wettbewerb in kulturell überprägter Form (z.B. ökonomisch) ausgetragen wird. Die Betonung dieses Aspekts der Soziologie Parks könnte leicht den Eindruck erwecken, es handele sich dabei in der Tat um eine bloße Biologisierung sozialer Tatbestände (auch wenn die Behauptung der kulturellen Überprägung des Wettkampfes sogleich die Frage aufwirft, ob und in welchem Sinne diese eine Eigenlogik des Kulturellen beinhaltet). Dass auch Park jedoch von einer eigenlogisch operierenden »cultural society« ausgeht, die sich zumindest analytisch von der biologischen Gemeinschaft unterscheiden lässt, wird mit dem Konzept eines kommunikativen Interaktionsmodus hervorgehoben. Kommunikation besteht darin, zumindest der Möglichkeit nach den Standpunkt des Kommunikationspartners einzunehmen (Park 1952b, 122), oder, um einen klassischen Terminus der Soziologie zu verwenden, zum Verstehen fähig zu sein (vgl. Park 1938, 189). Er führt damit über die in der biotischen Gemeinschaft vorfindbaren Bezüge zwischen Individuen hinaus. Diese seien eine bloß äußerliche »interstimulation«, frei von sinnhaften Bezügen und bewussten Intentionen (Park 1938, 189).45 Die Spezifika der kommunikativen Interaktion werden besonders deutlich, stellt man die beiden Interaktionsmodi des Konkurrenzkampfs und der Kommunikation nebeneinander. Beide konfigurieren verschiedene Kräftefelder: Konkurrenz, obwohl sie zu einer äußerlich kooperativen Gemeinschaft führt, spezialisiert, individualisiert, separiert. Kommunikation hingegen vermittelt, führt zusammen, integriert. Daher ist Kommunikation für Park auch aus soziologischer Sicht interessant – sie stellt die notwendige Voraussetzung für die Genese von Traditionen, Bräuchen und Konventionen dar. Da jene überzeitlichen und überindividuellen Gewohnheiten Formen darstellen, individuelle bzw. kollektive Intentionen aufeinander abzustimmen, kann Kommunikation schließlich als Basis der Einhegung des ›rohen‹ Konkurrenzkampfs und der Etablierung sozialer Bereiche gelten, die gerade nicht wettbewerbsmäßig funktionieren (vgl. Park 1952b, 121; 1938, 193). 45
Obwohl im selben Kontext ausgeführt wird, dass auch bestimmte Tiere zu Kommunikation fähig seien, hat dies bei ihnen Parks Ansicht nach scheinbar nicht die gleichen Effekte wie in menschlichen Kommunikationszusammenhängen: die Ausbildung von überzeitlichen Bräuchen und Traditionen, die schließlich eine dauerhafte Sozialintegration ermöglichen.
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Gerade dieser zuletzt genannte Aspekt weist schließlich auf einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt in Parks Soziologie hin. Während Tiere und Pflanzen Symbiosen (»symbiotic order«) bilden, die nach stets demselben Prinzip entstehen – die Aggregation über den Interaktionsmodus des Konkurrenzkampfes –, entwickeln sich in kulturellen Formationen (»cultural order«) weitere Prinzipien der Ordnung, bzw. verschiedene Handlungsbereiche (Park 1936a, 14). Park führt drei über die Ebene der (reinen) ökologischen Konkurrenz hinausführende Ordnungen an: Den Bereich des Ökonomischen, der am stärksten noch die Signatur des biologischen Wettbewerbs trägt, den Bereich des Politischen und schließlich denjenigen des Moralischen (ebd.). Diese Ebenen verkörpern eine zunehmende Einhegung des ›natürlichen‹ Erbes des Menschen, bis hin zur (moralischen) Internalisierung von Zwängen (Park 1936a, 14; 1936b, 176). Die Konzeption verschiedener Organisationsebenen kultureller Gemeinwesen nimmt in einer Makroperspektive den oben bereits angeführten sozialisationstheoretischen Gedanken auf, dass biologische und kulturelle Entwicklung miteinander verzahnt sind. Gesellschaft (oder Kultur) und Natur lassen sich bei Park zwar analytisch separieren – indem die jeweiligen Organisationsprinzipien herausgestellt werden –, jedoch sind beide Prinzipien in tatsächlichen Gesellschaften untrennbar miteinander verwoben (Groß 2001, 153). Das Biologische reicht in das Soziale hinein, und das Soziale (über-)prägt das Biologische. Von einer eindeutigen Trennbarkeit kann danach ebenso wenig die Rede sein wie von einer einseitigen Dominanz des einen oder anderen Bereiches.
Klimax und Ende der älteren soziologischen Humanökologie Zusammengefasst lässt sich behaupten: Die Humanökologie der Chicago School stellt einen der anspruchsvollsten Versuche dar, ökologische Perspektiven in die Sozialwissenschaften zu integrieren. Als ihr hervorstechendstes Merkmal lässt sich die Ansicht einer engen Verkopplung von Sozialem und Naturalem nennen. In Phänomenen wie Gesellschaft oder Stadt sind naturhafte Prozesse und soziale Prozesse so miteinander verzahnt, dass ein Separieren kaum möglich ist. Auch in der impliziten Anthropologie der Chicago School findet sich dieses Motiv wieder – die volle Entfaltung der Menschennatur ist erst in einem gesellschaftlichen Umfeld möglich. Die humanökologische Frage »Gesellschaft oder Natur?« wird hier also erstmals systematisch in Richtung eines in späteren Ansätzen verstärkt thematisierten »Gesellschaft und Natur« gedacht. Insofern ist die Frage, ob es sich bei der Chicago School um einen naturalistischen Ansatz handelt, nicht so einfach zu beantworten, wie die spätere Kritik zum Teil den Eindruck erweckt. Einerseits sind die Ursprünge bei Haeckels Denken – und dessen Fortführung in der Geographie Friedrich Ratzels – unübersehbar. Vor allem die Fokussierung räumlicher Einheiten (Habitate oder Lebensräume) sowie die Betonung des Wettbewerbs um begrenzte Ressourcen machen dies deutlich. Der darauf zurückgehende morphologische Ansatz der Chicago School, nach dem sich Soziales mehr
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oder minder auf Räumliches reduzieren ließe, dürfte letztlich ein wesentliches Hindernis für einen nachhaltigen soziologischen Erfolg des Programms gewesen sein. Auch die Überbetonung des ökonomischen Wettbewerbs und die damit einhergehende Ausblendung anderer Handlungsmotive scheinen ein Erbe der biologischen Ökologie zu sein und wurden bereits in den 1940er Jahren vielfach kritisiert (vgl. z.B. Hawley 1944, 399ff.; Firey 1944). Andererseits muss jedoch auch betont werden, dass die Chicagoer Theoretiker*innen dort, wo sie gesellschafts- und evolutionstheoretisch argumentieren, ein weitaus subtileres, soziologisch orientiertes Konzept der Natur-Kultur-Interaktion vorlegen, als viele – mit einfachen Dichotomien operierende – (human-) ökologische Ansätze ihrer Zeit anbieten können. Die Chicago School macht letztlich als einer der wenigen Ansätze in der Soziologie darauf aufmerksam, dass Gesellschaftliches eine materielle bzw. biologische Basis besitzt, und dass die Auseinandersetzung mit materieller Umwelt aus der Erklärung der Entstehung gesellschaftlicher Ordnung nicht ausgeklammert werden darf. Darüber hinaus thematisieren Park und seine Chicagoer Kollegen ähnlich wie bereits Harlan H. Barrows die kulturellen Anteile der materiellen Umwelt des Menschen. Obwohl in der Chicago School nur für den Untersuchungsbereich der (Groß-)Stadt ausgearbeitet, scheint es keine prinzipiellen Gründe dafür zu geben, den humanökologischen Ansatz nicht auch als allgemeine Theorie der menschlichen Umweltbeziehungen anzuwenden. Allerdings wurde diese Fortführung im Rahmen der ›klassischen‹ Chicago School nicht (mehr) geleistet. Trotz verschiedener Initiativen, etwa bei Amos Henry Hawley, der in den 1940er und 1950er Jahren eine einheitliche Humanökologie außerhalb der Soziologie zu entwickeln versuchte (Hawley 1944)46, endete die erste Phase der Humanökologie, die mit den Auseinandersetzungen mit Haeckel am Anfang des 20. Jahrhunderts begann, dennoch in den 1950er Jahren. Als Mensch-Umwelt-Forschung taucht Humanökologie erst gut 20 Jahre später unter ganz anderen Vorzeichen wieder auf.
Humanökologische ›Renaissance‹ Die humanökologische ›Renaissance‹, von der seit den 1970er Jahren die Rede ist, ist ebenso disziplinär inhomogen wie die Bemühungen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Eher schwieriger noch: Das, was man in der gegenwärtigen Phase als humanökologische Forschung bezeichnen kann, firmiert unter sehr verschiedenen (Selbst-)Bezeichnungen, sodass eine genaue Bestimmung eines konzeptionellen Kerns der Humanökologie zunehmend kompliziert wird. Zur Humanökologie, beschreibt Weichhart (2003c, 295) diese Situation hintersinnig, kommt man gegenwärtig »durch Selbstdeklaration«. 46
Dieses Vorhaben, so Hawley im Vorwort seiner 1986 erschienenen Zusammenschau »Human Ecology«, sei jedoch nur teilweise eingelöst worden: »I wish I could say that in this volume that challenge [a unified theory of human ecology; K. G.] has been met and overcome. But any such claim would be presumptuous« (Hawley 1986, vii).
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Wie im Eingang des Kapitels bereits darauf hingewiesen wurde, reicht die Bandbreite gegenwärtiger humanökologischer Forschung von Ansätzen einer biologischen Ökologie des Homo sapiens bis hin zu konstruktivistischen bzw. postkonstruktivistischen (vgl. Kneer 2009; 2010) Perspektiven. Konzentriert man sich hierbei eher auf den zweiten Pol – wie es im Folgenden getan werden soll – dann lässt sich als (kleinster) gemeinsamen Nenner dieser avancierten Humanökologien die integrative Erforschung der Beziehungen von Gesellschaft und Natur charakterisieren. Nicht mehr strikte natur- oder sozialwissenschaftliche Perspektiven sollen hier entwickelt werden, sondern Zugänge, die sensibel für Ideell-Geistiges, Soziales und Materielles gleichermaßen sind. Ihren Ausgangspunkt nehmen diese integrativen Bemühungen empirisch in der zunehmenden gesellschaftlichen Wahrnehmung einer ökologischen Krise (vgl. Kap. 2). Zu den nahezu schon kanonisch genannten Kronzeugen dieser Entwicklung gehören dabei das bereits 1962 veröffentlichte Buch »Silent Spring« der USamerikanischen Biologin Rachel Carson (Carson 1962), der 1972 erschienene Bericht »The Limits to Growth« des Club of Rome (Meadows et al. 1972) sowie das 1987 publizierte, unter dem Namen »Brundtland-Bericht« bekannt gewordene Papier »Our Common Future« der UN-World Commission on Environment and Development (WCED 1987).47 All jene Texte heben mehr oder minder umfassend den Zusammenhang von materiell-physiologischen Prozessen (Krise ›der Natur‹) und den Grundlagen menschlichen Zusammenlebens (Wirtschaftsformen, Wertesysteme, Wissensbestände etc.) hervor. Mit dieser öffentlichen Wahrnehmung einer ökologischen Krise verstärkten sich auch die wissenschaftlichen Bemühungen zu einer Interpretation und Bearbeitung des problematisch gewordenen Naturbezugs. Vor allem angesichts der Evidenzen einer menschlichen Verursachung der ökologischen Krise wenden sich zunehmend auch die Sozialwissenschaften ökologischen Themen zu. Als Vorreiter in der Soziologie, auf die sich zahlreiche spätere Arbeiten affirmativ oder kritisch beziehen, gelten dabei die Ende der 1970er Jahre veröffentlichten Studien von William R. Catton und Riley E. Dunlap (Groß 2001, 190ff.; Brand 1998, 15ff.; Brand 2014, 65ff.; Lippuner 2010a, 59ff.; Diekmann/Preisendörfer 2001, 17; Kraemer 2008, 39ff.).48 Die beiden US-amerikanischen Soziologen identifizieren dabei ein grundlegendes Problem ihrer Disziplin mit ökologischen Fragestellungen – der systematische Anthropozentrismus, d.h. die Auffassung einer menschlichen 47
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Wobei dies lediglich einige der Genreklassiker sind. Die Liste inzwischen fast ikonischer Texte zur ökologischen Krise ließe sich noch sehr viel weiter ausbauen, etwa durch Garrett Hardins 1968 erschienenen Artikel »The Tragedy of the Commons« (Hardin 1968), den Aufsatz »The Historical Roots of Our Ecologic Crisis« von Lynn White Jr. (White Jr. 1967), im deutschsprachigen Bereich etwa Hans Jonas’ umweltethische Studie »Das Prinzip Verantwortung« (Jonas 1979) sowie Ulrich Becks »Risikogesellschaft« (Beck 1986), oder in jüngerer Zeit »The Economics of Climate Change« des Ökonomen Nicholas Stern (Stern 2009 [2006]) sowie – als Ausdruck multimedialer Präsenz – den Dokumentarfilm und das dazugeörige Buch »An Inconvenient Truth« von Albert Gore bzw. Davis Guggenheim (Gore 2006a; 2006b). Bei Catton/Dunlap (1978, 42, 44) finden sich im Übrigen explizite Verweise auf Rachel Carson und Garrett Hardin sowie den Topos der »limits to growth«.
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Einzigartigkeit und folglichen Ausnahmestellung (Catton/Dunlap 1978, 43). Diese als »Human Exceptionalism Paradigm« (Catton/Dunlap 1978, 43) bzw. »Human Exemptionalism Paradigm«49 (Dunlap/Catton 1979, 250) bezeichnete Auffassung sei durch eine Vernachlässigung der Abhängigkeit menschlicher Gesellschaften von Ökosystemen sowie eine naive, fortschrittsgläubige Überbetonung kultureller Leistungen und Potenziale gekennzeichnet (Catton/Dunlap 1978, 43). Eine angemessene (Umwelt-)Soziologie müsse Dunlap und Catton (1979, 244) zufolge demgegenüber von der die Disziplin bislang konstituierenden Auffassung Abschied nehmen, dass Soziales nur durch Soziales erklärt werden könne und müsse auch die Umweltwirkungen auf Gesellschaft in den Blick nehmen. Eine solche Soziologie hätte sich an einem »New Environmental Paradigm« bzw. einem »New Ecological Paradigm« zu orientieren, das erstens von der Auffassung geleitet ist, dass Menschen eine ›gewöhnliche‹ Spezies unter anderen ›gewöhnlichen‹ Spezies darstellen, das zweitens davon ausgeht, dass menschliche Handlungen durch die physisch-materielle Eigendynamik innerhalb des ›Netzes der Natur‹ (»web of nature«) oft unbeabsichtigte Nebenfolgen erzeugen, und welches drittens anerkennt, dass Gesellschaft in einer begrenzten Welt physische und biologische Grenzen gesetzt sind (Catton/Dunlap 1978, 45; Dunlap/Catton 1979, 250). Der umweltsoziologische Ansatz Dunlaps und Cattons läuft dann darauf hinaus, soziale Veränderungen (wie etwa eine gesellschaftliche Transformation in Folge von Ressourcenknappheit) als Reaktion auf objektiv gegebene Naturzustände und -veränderungen zu untersuchen. Natur, als der Gesellschaft äußerlicher physisch-materieller Wirkungszusammenhang, wird damit eine direkte Wirkkraft auf Gesellschaft unterstellt. Die Aufgabe der Umweltsoziologie sei es dann zwar nicht, wie in älteren soziologischen und geographischen Ansätzen, die einseitige Determination der Gesellschaft durch die Natur herauszustellen – stattdessen sollen Interaktionen zwischen Gesellschaft und Umwelt untersucht werden (Dunlap/ Catton 1979, 251f.). Allerdings gehen die Autoren von einer klaren Trennbarkeit von Gesellschaft und Natur sowie einer Objektivität ›natürlicher‹ Prozesse bzw. ›natürlicher‹ Bedingungen (wie etwa die Tragfähigkeit gesellschaftlicher Umwelten) für Gesellschaftliches aus. Auch wenn mit Catton und Dunlap das Thema der Natur wieder Eingang in die Soziologie gefunden hat – schließlich wurde mit ihnen der Zweig einer Umweltsoziologie etabliert – konnten die mit dem »New Ecological Paradigm« gemachten Vorschläge der Soziologie (noch) nicht zu einer systematischen und begrifflich kohärenten Erforschung der gesellschaftlichen Naturbezüge verhelfen (Brand 1998, 15; Lippuner 2010a, 60). Als Hauptproblem erwies sich dabei das »naturalistische[…] Bias« (Brand 1998, 15) des Catton/Dunlap’schen Entwurfs, welches nicht nur einen unreflektierten Import naturwissenschaftlicher Argumentationen in die Sozialwissenschaften implizierte, sondern auch den Anschluss an 49
Mit der zweiten Formulierung präzisieren Dunlap/Catton (1979, 250) den Topos der menschlichen Ausnahmestellung. Die Besonderheit des Menschen bestehe nach dem kritisierten Denken nämlich darin, von den physisch-materiellen Zwängen, denen alle anderen Lebewesen unterworfen sind, ausgenommen zu sein.
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das etablierte Vokabular der Soziologie (und damit ihren genuinen Kompetenzbereich) erschwerte. Gewissermaßen als Gegenreaktion innerhalb der Sozialwissenschaften entwickelten sich, wie Brand (1998, 17ff.) darlegt, in den 1980er Jahren stärker kultur- bzw. gesellschaftszentrierte Ansätze der Umweltforschung, z.B. in der Kulturanthropologie durch Mary Douglas’ und Aaron Wildavskys Studie »Risk and Culture« (Douglas/Wildavsky 1982) oder in der Soziologie mit Niklas Luhmanns Arbeit »Ökologische Kommunikation« (Luhmann 2004[1986]) und Ulrich Becks »Risikogesellschaft« (Beck 1986). Gemein ist diesen Positionen, mehr oder weniger ausschließlich innergesellschaftliche Prozesse in Bezug auf die Umwelt der Gesellschaft zu thematisieren und ›Natur‹ als eigenständigen Gegenstand aus der Sozialwissenschaft ausschließen. An diese Frontstellung naturalistischer (bzw. realistischer) und kulturalistischer (bzw. konstruktivistischer) Ansätze zur Erforschung gesellschaftlicher Naturbezüge knüpfen die neueren humanökologischen Arbeiten kritisch an. Diese sind – zumindest in der jeweils vorgeschlagenen konkreten Forschungsperspektive – häufig nicht mehr eindeutig disziplinär zu verorten, sondern stellen in der Regel Integrationsbemühungen verschiedener sozialwissenschaftlicher sowie sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Positionen dar. Wie die Probleme zwischen den verschiedenen Ausgangspositionen gelöst werden sollen und welche neuen konzeptionellen Schwierigkeiten dadurch entstehen, lässt sich exemplarisch am Beispiel der Geographie zeigen.
Geographie als gespaltene Disziplin Die Geographie in die Nähe eines humanökologischen Denkens zu rücken oder sie als Humanökologie zu konzipieren liegt nicht nur aufgrund Barrows’ früher (wenngleich gescheiterter) Versuche einer humanökologischen Re-Organisation der Geographie nahe, sondern auch und besonders aufgrund ihrer Sonderstellung im System der Wissenschaften, als gleichermaßen in den Naturwissenschaften wie den Sozialwissenschaften verankerte Disziplin.50 Peter Weichhart, ein Vorreiter humanökologischen Denkens in der deutschsprachigen Geographie, spricht z.B. von einer »evidenten Affinität« zwischen beiden Forschungsbereichen (Weichhart 2003c, 294). Allerdings ist eine vereinheitlichende Rede von der Geographie, wie von Weichhart an gleicher Stelle herausgearbeitet wird, aus mindestens zwei Gründen problematisch. Erstens ist angesichts der fundamentalen Differenzen ihrer beiden Kernbereiche fraglich, inwiefern die Charakterisierung von einer Geographie sinnvoll ist, wenn damit lediglich noch eine disziplinär-organisatorische Tradition benannt wird – distinkte Disziplinen unter einem gemeinsamen Label –, ohne jedoch systematische Gründe für einen gemeinsamen Disziplinkern 50
Die Geographie hatte bereits vor der durch die ökologische Krise angeregten Debatte um Gesellschaft-Natur-Verhältnisse Berührungspunkte mit (human-)ökologischem Denken, etwa durch Beziehungen zwischen quantitativer Geographie und Ökosystemdenken oder in den von der Chicago School beeinflussten Planungsdiskursen (Jaeger/Steiner 1988, 133).
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angeben zu können (Weichhart 2005, 110ff.). Und zweitens verkennt eine vereinheitlichende Rede die »multiparadigmatische[…] Struktur« selbst der beiden Subbereiche (Weichhart 2003c, 296). Bevor auf die Implikationen dieser internen Zersplitterung sowie die gegenwärtig zu beobachtende Revitalisierung des Einheitsmythos der Geographie (Weichhart 2005, 110; vgl. Harrison et al. 2004; Heinritz 2003; Müller-Mahn/Wardenga 2005) eingegangen werden kann, lohnt es sich zunächst noch einmal, die traditionelle duale Struktur der Geographie und deren Ursprung ins Blickfeld zu rücken. Mit dem (gut begründeten) Ende landschaftsgeographischer Bemühungen um eine Einheitsdisziplin entwickelten sich auch die Bereiche der Physischen Geographie und der Humangeographie zunehmend auseinander. Die Subdisziplin der Physischen Geographie beschäftigt sich als Naturwissenschaft mit der Beschreibung und Erklärung ›natürlicher‹ erdoberflächlicher Erscheinungen, die Humangeographie setzt sich – grosso modo – mit der Bedeutung der räumlichen Dimension (bzw. ›des Raumes‹) für menschliche Tätigkeiten auseinander. Als Gründe für eine möglichst scharfe Trennung der beiden Bereiche werden nach Weichhart (2003a, 21f.) üblicherweise unterschiedliche theoretisch-kategoriale Voraussetzungen sowie disparate Methodologien der als Referenzpunkte dienenden Naturund Sozialwissenschaften angegeben. Untergründig verweisen diese Differenzierungen dabei auf eine ontologische Unterscheidung der Untersuchungsbereiche beider Subdisziplinen. Das Problem der hybriden Objekte Zur Plausibilisierung einer Trennung verschiedener Domänen der Wirklichkeit wird häufig Karl R. Popper mit dem in der Theorie objektiver Erkenntnis entwickelten Drei-Welten-Theorem angeführt (Weichhart 2003a, 22).51 Popper unterscheidet darin drei unterschiedlich verfasste Bereiche bzw. »ontologisch verschiedene[…] Teilwelten« (Popper 1984, 160) der Realität: »erstens die Welt der physikalischen Gegenstände oder physikalischen Zustände; zweitens die Welt der Bewußtseinszustände oder geistigen Zustände oder vielleicht der Verhaltensdispositionen zum Handeln; und drittens die Welt der objektiven Gedankeninhalte, insbesondere der wissenschaftlichen und dichterischen Gedanken und der Kunstwerke« (Popper 1984, 109; vgl. ebd. 160). Im Gegensatz zu dem in der Philosophie und anderen Wissenschaften weit verbreiteten Denken in Dichotomien erweitert Popper hier also die Kategorisierung, indem er auf der immateriellen Seite objektive und subjektive Entitäten differenziert. Die philosophische Innovation, oder, je nach Lesart: die Provokation, besteht hier darin, einerseits sowohl den inneren, subjektiven Bewusstseinszuständen eine Realität sui generis zuzusprechen, und andererseits auch den Bereich objektiver Ideen, der ein Ergebnis subjektiver Tätigkeiten ist, als eigenständig aufzufassen. Mit Poppers Vorschlag wird folglich mo51
Vgl. zu einer Diskussion dieses Theorems im Kontext der handlungszentrierten Sozialgeographie Werlen (1997[1987], 64, 68ff.).
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nistischen (häufig: physikalistischen) und dualistischen Perspektiven das Konzept einer trichotomen Wirklichkeit entgegengesetzt (Popper 1978, 146ff.). In der modernen Geographie schloss man nach Weichhart (1999, 70; 2003b, 16f.) aus disziplingeschichtlich nachvollziehbaren Gründen – der Vermeidung deterministischer Argumentationen – aus Poppers Überlegungen allerdings vorschnell darauf, dass zwischen den Elementen der drei Domänen keine Interaktionen bestünden bzw. keine Verbindungen hergestellt werden können. Aus diesem Grund gebe es auch keine Verbindung zwischen den Gegenständen der geographischen Subdisziplinen: Die Physische Geographie habe als Naturwissenschaft dementsprechend Dinge der Welt 1 zum Gegenstand. Auch wenn sie sich als Wissenschaft natürlich operativ auf Dinge der Welt 3 bezieht (z.B. geomorphodynamische Theorien) und die Disziplin durch konkrete Subjekte betrieben wird (als Bewusstseine der Welt 2), so sei der wissenschaftliche Bezugspunkt der Disziplin dennoch die Sinn-freie, physikalische Welt 1. Parallel dazu befasse sich dieser Ansicht nach die Humangeographie mit Entitäten der Welten 2 und 3, gleich wenn sie es in diesem Zuge auch mit materiellen Objekten zu tun hat (vgl. Werlen 1997[1987], 74).52 Bereits die hier notwendigen Ergänzungen zur Charakterisierung der Subdisziplinen machen jedoch deutlich, dass Poppers drei-WeltenUnterscheidung nicht im Sinne einer Geschlossenheit der Sphären zu verstehen ist, sondern damit, ganz im Gegenteil, das Augenmerk auf die Möglichkeiten und Faktizität der Interaktion zwischen den Welten gelenkt wird. So stehe nach Popper die erste und zweite Welt miteinander in einer direkten Wechselwirkung, sowie die zweite und dritte Welt (Popper 1984, 160; vgl. Werlen 1997[1987], 68f.). Zwischen dem Bereich des Physisch-Materiellen und dem Bereich des Objektiven bzw. des Sozialen besteht dementsprechend eine indirekte Verbindung durch individuelles Bewusstsein bzw. konkrete individuelle Tätigkeit (Popper 1984, 161; 1978, 164). Den mit Popper argumentierenden Kritikern einer Einheitsgeographie hält Weichhart (2003b, 16f.) konsequenterweise entgegen, dass sie genau diese Möglichkeit der Interaktion zwischen den Welten mehr oder weniger ignorieren und die ontologische Differenz zwischen ihnen überbetonen. Nur durch diesen gegenseitigen Ausschluss der wissenschaftlichen Gegenstände von Human- und Physischer Geographie ließen sich die Claims der Subdisziplinen eindeutig voneinander abgrenzen. Die hier formulierte Kritik basiert dabei jedoch nicht allein auf der Annahme, die ›Trennungs-Denker‹ ignorierten Poppers Verweis auf die Interaktionen zwischen den Welten, sondern sie macht darüber hinaus eine Zusatzannahme, die über Poppers Konzept hinauszugehen scheint. Dieser Zusatz besteht in der Annahme der Existenz nicht im Popper’schen System klassifizierbarer Hybridobjekte. So weist Weichhart (2003b, 20; vgl. Weichhart 2007, 947) darauf hin, dass 52
Mit Blick auf die oben bereits angesprochene multiparadigmatische Struktur der Subdisziplinen ist eine solche vereinheitlichende Redeweise selbstverständlich problematisch. Die Trennung gilt hier vor allem in Bezug auf die sich streng sozialwissenschaftlich bzw. naturwissenschaftlich verstehenden Bereiche der Humangeographie.
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eine eindeutige Kategorisierung »für sehr große Bereiche der Körperwelt« schlicht unmöglich sei. Damit scheint gemeint zu sein, dass eine Reihe an Objekten sowohl materiellen als auch sozialen Charakters ist. Es handelt sich dabei also um physikalische Gegenstände mit physikalisch bestimmbaren Eigenschaften, deren Beschreibung als physikalische Gegenstände jedoch als unzureichend empfunden wird, da sie gleichermaßen Anteil z.B. an der Welt 3 haben. Dieser Einwand Weichharts weist zunächst auf einen wichtigen Aspekt hin: Das für die klassischen Dichotomien (Natur/Kultur, Sinn/Materie, Leib/Seele, Gesellschaft/Individuum etc.) oder die Popper’sche Trichotomie grundlegende Separierungsdenken suggeriert eine Ordnung, die empirisch häufig unplausibel erscheint. Allerdings muss betont werden, dass Popper selbst in gewisser Weise (bereits) von Hybridobjekten ausgeht (vgl. Werlen 1997[1987], 252f.). Mit Poppers Auffassung wird das Grundproblem zwar nicht gelöst, es kann allerdings begrifflich präzisiert werden. Wo wird das Hybriditätsdenken bei Popper sichtbar? Deutlich wird dies z.B. bei der Illustration möglicher Gegenstände der Welt 3. Hier behauptet Popper, dass nicht nur »languages«, »tales and stories«, »scientific conjectures or theories« etc. als immaterielle Ergebnisse menschlichen Bewusstseins bzw. menschlicher Tätigkeit zur Welt 3 gehören, sondern auch »aeroplanes and airports and other feats of engineering« (Popper 1978, 144). Als unbezweifelbare Bestandteile der Welt physikalischer Objekte ordnet Popper hier irritierenderweise auch materielle Dinge der Welt 3 zu. Im engeren Sinne widersprüchlich, erklärt sich dies allerdings durch die Einführung des Konzepts der Verkörperung (embodiment) bzw. Realisierung (realization). Damit ist gemeint, dass die Objekte der Welt 3 häufig eine – durch menschliche Tätigkeit hergestellte – Entsprechung in Welt 1 haben. So erklärt Popper: »Of most though not of all world 3 objects it can be said that they are embodied, or physically realized, in one, or in many, world 1 physical objects« (Popper 1978, 145). Durch die (materielle) Realisierung kann also behauptet werden, dass zur Welt 3 gehörige Objekte gleichzeitig in der Welt 1 beheimatet sind. Oder umgekehrt gesagt: Flugzeuge gehören als physisch-materielle Dinge in die Welt 1, sind jedoch als Konkretisierung einer abstrakten Idee eines (bestimmten) Flugzeugs wesentlich auch Bestandteil der Welt 3.53 Diese Idee eines Verkörperungsverhältnisses hat auf den ersten Blick den Vorzug, an dem Grundgedanken der Popper’schen Kategorisierung festzuhalten und – unter Hinzunahme der ›Übersetzungsregeln‹ aus den jeweiligen Welten – auf die Verwirklichung der abstrakten Ideen durch menschliche Tätigkeit hinzuweisen. Allerdings wird damit die ›Gretchenfrage‹ des Hybriditätsdenkens (auch) nicht beantwortet, die Frage danach, wie das Verhältnis von Ideen und Verkörperungen zu denken ist. Handelt es sich um ein und dasselbe Objekt, das verschieden beschrieben werden kann und somit verschieden erscheint, oder handelt 53
Wobei diese Bezugnahme zu den objektiven Ideen der Welt 3 (wie etwa Bauplänen für Flugzeuge etc.) nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass Objekte der physisch-materiellen Welt als »›Träger‹ subjektiver Sinngehalte« (Werlen 1997[1987], 227) vielfache Korrelate in der Welt 2 subjektiver Aneignungen haben können.
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es sich um zwei parallele Objekte, die zwar eine Verbindung aufweisen, jedoch ontologisch streng voneinander zu unterscheiden sind? Zur Beantwortung dieser Frage, so scheint es, müssen die Verkopplungsprozesse, d.h. die verbindende Welt 2 in den Blick genommen werden. Bevor der von Weichhart für die Geographie vorgeschlagene programmatische Lösungsweg dieser Probleme skizziert werden kann, muss indessen noch eine andere Variante des Hybriditätsdenkens aufgezeigt werden, die auf eine bisherige Verengung der Sichtweise aufmerksam macht. Die Verengung besteht darin, die zu Beginn für die Humanökologie als typisch dargestellten Fragen nach dem Gesellschaft-Natur-Verhältnis durch den Verweis auf Popper stillschweigend in eine Diskussion um das Verhältnis von Sinn bzw. Immateriellem und Materiellem transformiert zu haben. Obwohl, wie Zierhofer (zit. in Weichhart 2003a, 29) zu Recht betont, die Frage nach dem »Zusammenhang zwischen Sinn und Materie« zu den – anerkannten oder auch nicht anerkannten – Grundproblemen humanökologischer sowie geographischer Forschung gehört, werden die Probleme einer integrativen Umweltforschung üblicherweise mit Bezug auf die Gesellschaft-Natur-Dichotomie formuliert. Wie schlägt sich diese jedoch in Poppers Kategorien nieder? Im Gegensatz zu der Thematisierung von Hybridität als gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Welten spielt sich die klassische Variante der Gesellschaft-Natur-Hybriden, wie sie mit dem Verweis auf die »Körperwelt« (Weichhart 2003b, 20) nahegelegt wird, hier hauptsächlich in der Sphäre des Materiellen ab. Der gewöhnlichen Auffassung nach gibt es zunehmend Objekte der Welt 1, bei denen nicht mehr ohne Weiteres zu entscheiden ist, ob es sich um Produkte menschlicher Tätigkeiten (Artefakte) handelt oder nicht. In Poppers Terminologie sind solche Gegenstände als Mischwesen zwischen materiellen Dingen, die nicht durch Wirkung der Welten 2 und 3 entstanden sind, und materiellen Dingen, die erst durch diese Interaktionen entstehen, zu konzipieren. Für solche Gegenstände scheint es in Poppers Kategorienschema jedoch keinen systematischen Platz zu geben, da Gegenstände der Welten 1 und 3 entweder Produkte menschlicher Tätigkeit sind (wie alle Gegenstände der Welt 3 und manche der Welt 1) oder dies nicht sind (wie manche Gegenstände der Welt 1) – jedoch nicht beides zugleich. Diese Kategorisierungsprobleme machen darauf aufmerksam, dass die Dichotomien von Sinn/Materie und Gesellschaft/Natur nicht ineinander aufgehen (Moscovici 1982 [1968], 37; Jahn/Wehling 1998, 84; Kraemer 2008, 140).54 Auch wenn Popper (1978, 166) betont, dass es enge Verbindungen zwischen Welt 3 und dem Kulturbegriff gebe, können die Unterscheidungen nicht gleichgesetzt werden, sondern durchdringen sich gegenseitig. Das heißt, nach der Standardauffassung der Natur/Gesellschaft- bzw. Natur/Kultur-Unterscheidung können im Bereich des Materiellen sowohl ›natürliche‹ als auch ›kulturelle‹ Objekte beobachtet werden, und analog dazu lassen sich im Bereich des Immateriellen ›kulturelle‹ Objekte wie menschliche Bewusstseinszustände und Produkte des Geistes sowie, was selten thematisiert wird, ›natürliche‹ Entitäten wie z.B. die Wahrnehmungsinhalte 54
Vgl. dazu auch das unten folgende Kapitel zur Sozialen Ökologie.
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von Tieren ausmachen (Jahn/Wehling 1998, 84f.). Und von der anderen Differenzierung her gedacht: Sowohl die Bereiche der Natur als auch der Kultur enthalten jeweils materielle und immaterielle (mentale, symbolische) Elemente. Folgt man dieser Auffassung, lässt sich schlussfolgern, dass materielle Objekte aus dem Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften keineswegs systematisch ausgeschlossen sind. Ganz im Gegenteil sind sie, wie in Werlens (1997[1987], 253) sozialgeographischer Analyse mit Bezug auf Alfred Schütz ausgeführt wird, als Träger von Sinnzusammenhängen auch als Bestandteil der sozialen Welt anzusehen. Allerdings haben vor allem größere Teile der Mainstream-Soziologie dieser sinnhaften oder sozialen Dimension materieller Artefakte lange wenig Aufmerksamkeit geschenkt, sodass mitunter von einer regelrechten »Dingblindheit« der Soziologie ausgegangen wird (Weichhart 2005, 115; 2003b, 17). Ob dieser Diagnose umfänglich zuzustimmen ist, bliebe einer systematischen Untersuchung der soziologischen Disziplingeschichte vorbehalten.55 Behauptet werden kann jedoch, dass diese Problemstellungen erst mit neueren Ansätzen, die vor allem im Kontext der Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse entstanden, in der Soziologie (wieder) prominent verhandelt werden.
Integrative Forschung in der Geographie Analog zu dieser Neu-Thematisierung humanökologischer Fragen in der Soziologie gibt es, wie oben bereits angeklungen, auch in der Geographie verstärkt Bemühungen um die integrative Erforschung gesellschaftlicher Naturbezüge sowie die theoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Sinn und Materie. Nach Weichhart (2003a, 24f.; vgl. Weichhart 2005; 2008a) sind dazu zwei in ihren Voraussetzungen und Implikationen teils gravierend unterschiedliche Varianten denkbar: Ein »Reintegrationsmodell« bzw. Brückenmodell auf der einen Seite und ein »Drei-Säulen-Modell« auf der anderen Seite. Das gegenwärtig dominantere Reintegrationsmodell geht davon aus, dass die beiden Kernbereiche der Disziplin – Physische Geographie und Humangeographie – gemeinsam an Fragestellungen der gesellschaftlichen Naturbezüge arbeiten (Weichhart 2003a, 24). »Gemeinsam« heißt hier, dass die beiden Subdisziplinen jeweils mit ihren spezifischen Kompetenzen und Voraussetzungen operieren und so zu einem umfassenden Zugang zu einem Problem beitragen sollen. Die (gesellschaftlichen) Umweltprobleme bzw. ihre Bearbeitung stellen nach diesem Denken die Brücke dar, die zwischen Physischer und Humangeographie geschlagen wird (Weichhart 2008a). Allerdings gibt es bei diesem Vorgehen mindestens zwei Probleme. Einerseits ist nicht geklärt, ob und wie aus dieser Zusammenarbeit eine tatsächlich neue Perspektive entstehen kann, die über eine lediglich parallele Unter55
Bei Lippuner (2010a, 4f.) wird z.B. argumentiert, dass auch die (klassische) sozialwissenschaftliche Theorie sich mit Fragen der Natur/Kultur- bzw. Sinn/Materie-Unterscheidung befasst(e) und so keineswegs von einer Dingblindheit ausgegangen werden kann. Auch die oben nachgezeichneten Überlegungen der Chicago School fallen letztlich in diesen Bereich.
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suchung eines Gegenstands hinausgeht und dessen hybridem Charakter gerecht wird (Weichhart 2003a, 24). Oder noch zugespitzter formuliert: Bereits die Verständigung darüber, was denn genau der Gegenstand der gemeinsamen Forschung ist, dürfte bei Beibehaltung der subdisziplinären Kategorien enorm schwierig sein. Andererseits scheint – als Konsequenz daraus – der Versuch, zwei separate Disziplinen so zu verknüpfen, dass beide ihren spezifischen Kompetenzbereich aufrecht erhalten, das Problem einer inadäquaten Erfassung der Hybridobjekte noch zu verstärken (Weichhart 2008a, 66). Suggeriert wird damit nämlich, dass ein additives Vorgehen erschöpfend sei, obwohl bei un(an)geleiteter bzw. unreflektierter ›Brückenforschung‹ nicht nur die spezifischen Kompetenzen, sondern auch die jeweiligen blinden Flecken und Schwächen der Subdisziplinen reproduziert werden. Aus dieser Lage heraus fordert Weichhart (2003a, 25) die Idee einer Brückendisziplin zu Gunsten einer dritten Säule der Geographie aufzugeben. Dies bedeutete anzuerkennen, »[…] dass mit der Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Sinn und Materie ein völlig eigenständiges Erkenntnisobjekt konstituiert wird, das sich von der Summe der Erkenntnisinteressen von Physio- und Humangeographie grundsätzlich unterscheidet« (Weichhart 2008a, 66; vgl. Zierhofer 2009, 199). Humanökologische Forschung sei demzufolge als eigenständiges Forschungsfeld der Geographie neu zu konzipieren. Die Idee einer dritten Säule der Geographie verkörpert damit eine Möglichkeit, die Kompetenzbereiche der Physischen Geographie und der Humangeographie für ihre spezifischen, gut etablierten Untersuchungsgegenstände aufrecht zu erhalten und dennoch einen Anschluss an (tatsächlich) integrative Umweltforschung zu schaffen. Nur durch die Ausweisung der Mensch-Umwelt-Beziehungen als Gegenstandsbereich neben natur- und sozialwissenschaftlichen Objekten kann dem Drei-Säulen-Denken nach vermieden werden, die problematische Ausblendung materieller Sachverhalte in großen Teilen der Sozialwissenschaften und die Blindheit der Naturwissenschaft für Sinn und Bedeutung zu reproduzieren. Diese programmatische Argumentation erscheint plausibel. Vor allem die zahllosen gescheiterten Reintegrationsversuche in der geographischen Disziplingeschichte sowie die in anderen Bereichen gegenwärtig zu beobachtenden Bemühungen um eine eigenständige human- oder sozial-ökologische Forschung lassen das Modell der dritten Säule als möglicherweise einzig sinnvolles Vorhaben erscheinen, die Geographie anschlussfähig an transdisziplinäre Umweltforschung zu machen und ihre vorhandenen Potenziale nicht aufzugeben.56 Allerdings muss im gleichen Zug darauf hingewiesen werden, dass mit den Vorschlägen Weichharts bislang bestenfalls die Rahmenbedingungen und grundlegenden Probleme einer Forschung in der dritten Säule benannt sind. Ein ausgearbeitetes und breit diskutiertes Forschungsprogramm oder geeignete institutionelle Rahmenbedingungen sind trotz zahlreicher theoretischer Überlegungen in der Geographie (z.B. Lippuner 2009; 2010a; 2010b; Zierhofer 2009; 2007; Zierhofer et al. 2008; Köck 2008; Dirksmeier 2008; Steiner 2014) bislang kaum etabliert. 56
Vgl. dazu ebenfalls das folgende Kapitel.
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Die Richtung, in die ein solches Forschungsprogramm gehen kann, skizziert Weichhart (2005, 116; 2003b, 25; vgl. Wardenga/Weichhart 2006, 19f.) vor allem mit dem Verweis auf das aus der Soziologie heraus entstandene Wiener Modell einer Sozialen Ökologie. Ziel dieses Forschungsprogramms ist die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie, die nicht nur sozialen und symbolischen Aspekten von Gesellschaft Rechnung trägt, sondern auch ihre materielle Basis thematisiert. Zu diesem Zweck etablieren die Wiener Sozial-Ökolog*innen eine analytische Dreiteilung der komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Natur. Zwischen dem Pol der Natur und dem Pol der Kultur steht hier als Integrationsbegriff die Population. Populationen gehören nach Sieferle (1997, 38f.) einerseits zu einem human-ökologischen System (Natur und Population) sowie andererseits zu einem Sozialen System (Population und Kultur). Die ›kulturellen‹ Eingriffe in ›Natur‹ lassen sich diesem Modell nach nur über die Population, d.h. über die Körperlichkeit der Handelnden erzielen (Sieferle 1997, 50). Diese physischen Effekte kennzeichnen die Wiener Sozial-Ökolog*innen schließlich als »Kolonisierung natürlicher Systeme«, mit denen der grundlegende bio-physische Metabolismus von Gesellschaften aufrechterhalten wird (Fischer-Kowalski/Haberl 1997, 7). Obwohl der grundlegenden Zielrichtung des Wiener Ansatzes sicher zuzustimmen ist, bleibt dennoch fraglich, ob das Modell einen überzeugenden Anknüpfungspunkt für die Geographie der dritten Säule liefern kann. Ohne hier eine ausführliche Kritik des Ansatzes liefern zu können ist dennoch bereits auf den ersten Blick auffällig, dass zahlreiche Erkenntnisse einer nicht nur natur- sondern auch sozialwissenschaftlich informierten Umweltforschung hier keine systematische Beachtung finden. So etwa werden die Unterscheidungen von Kultur und Natur nicht einmal im Ansatz als innergesellschaftlich getroffene Unterscheidungen thematisiert, sondern schlicht als gegeben angenommen (Brand 2008, 163). Überhaupt liegt der Fokus hier sehr stark auf materiellen Zusammenhängen – und auch das gewählte Vokabular scheint ein Ausdruck starker Anschlussbestrebungen an naturwissenschaftliche Studien zu sein. Letztlich scheint es der Wiener Sozial-Ökologie nicht zu gelingen, den Populationsbegriff als Integrationselement nach beiden Seiten überzeugend zu interpretieren, sodass die auf den ersten Blick integrative Perspektive auf Gesellschaft-Natur-Verhältnisse im Grunde merkwürdig akulturell bleibt. Für die humanökologische Geographie der dritten Säule bieten sich angesichts dessen zwei Optionen an. Sie kann sich einerseits an anderen Ansätzen integrativer Umweltforschung in den Sozialwissenschaften orientieren, in denen ein angemesseneres Verständnis von Gesellschaft entwickelt wird. Ein solcher Ansatz wird im folgenden Kapitel mit dem Frankfurter Modell der Sozialen Ökologie vorgestellt. Oder aber sie kann versuchen, mit den aus der Geographie heraus verfügbaren Theoriekonzepten eine Forschungsperspektive zu entwickeln. Weichhart (2007, 948) weist darauf hin, dass handlungszentrierte Ansätze in der Geographie einen Rahmen für eine solche Forschung bieten könnten. Diese stehen im Fokus des übernächsten Kapitels.
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Zwischenfazit Abschließend zur Darstellung des ersten Theoriestranges lässt sich nun die Frage stellen, welcher Horizont der wissenschaftlichen Bearbeitung des gesellschaftlichen Klimawandels mit humanökologischen Forschungsansätzen eröffnet wird. Oder etwas allgemeiner formuliert: Was wird mit humanökologischen Argumentationen auf die Agenda gesetzt? Mit welchen grundlegenden Denkweisen wird der Bereich des Denk- und Sagbaren in Bezug auf die (Krise der) Verhältnisse von Gesellschaft und Natur strukturiert, und wie kann damit der gesellschaftliche Klimawandel in den Blick genommen werden? Während solcherlei Fragen in Bezug auf die neueren Ansätze der Humanökologie vergleichsweise nahe liegen und Hinweise auf deren Beantwortung ohne größere Mühen zu finden sein sollten – schließlich speisen die Konzepte sich explizit aus der Erfahrung einer Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse –, stellt sich die Aufgabe hinsichtlich der älteren, disziplinär heterogenen Konzepte von Humanökologie komplizierter dar. Geht man von der gegenwärtigen Problemlage des Klimawandels sowie den im heutigen Diskurs etablierten wissenschaftlichen Ansätzen zu seiner Bearbeitung aus, so scheinen die dem späten 19. sowie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstammenden Konzepte keinen nennenswerten Beitrag zu einer sozialwissenschaftlich fundierten Analyse leisten zu können. Kaum eine der dargestellten Positionen bearbeitet explizit die Themen, die im heutigen sozialwissenschaftlichen Diskurs als Schlüsselprobleme zum Verständnis der globalen Umweltkrise gelten. Und es ist wenig überraschend, dass es sich so verhält, hält man sich den Umstand vor Augen, dass auch die jüngere sozialwissenschaftliche Umweltforschung grosso modo erst mit dem Bewusstwerden einer ökologischen Krise in den 1970er Jahren einen Aufschwung erlebte. Bis auf wenige Ausnahmen – wie George Perkins Marshs weitsichtige, aber in ihrer Zeit theoretisch nicht systematisch fortgeführte Arbeit – spielte der Topos negativer ›Umweltfolgen‹ menschlichen Handelns in den frühen humanökologischen Studien kaum eine Rolle. Dennoch haben die nach heutigen Maßstäben bemessen theoretisch defizitären Zugänge zur Gesellschaft-Umwelt-Problematik mehr als nur historischen Wert. Lässt man nämlich die Kritik einer theoretischen Insuffizienz beiseite und fokussiert stattdessen die neutralere Frage danach, wie der Gegenstand gesellschaftlicher Naturverhältnisse (um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen) im frühen 20. Jahrhundert diskursiv präpariert wurde, dann wird damit der Blick für die gegenwärtig zu beobachtenden Relikte dieser Ansichten geöffnet. Am aufschluss- und folgenreichsten ist in dieser Hinsicht die Ökologie Ernst Haeckels. Indem Haeckel die Biologie und damit die Ökologie konsequent in Richtung einer kausallogischen Naturwissenschaft entwickelt, werden sinnhafte Elemente aus der Disziplin weitgehend ausgeschlossen. In gewisser Weise degradiert Haeckels naturalistischer Reduktionismus die Menschen dabei zu einer Art ›Automaten‹, deren Handlungen als rein bio-physische Prozesse aufgefasst werden können. Individuelle oder kollektive Wissensbestände, Bewertungsmuster, kulturelle Kompetenzen etc. spielen in dieser Denkweise nicht nur keine Rolle,
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sondern werden, wie oben dargestellt, im Sinne »mechanischer Ursachen« auf Physiologisches reduziert. Ins Blickfeld einer solchen naturalistischen Perspektive geraten dann die ›natürlichen‹, d.h. die als gegeben angenommenen, materiellen Umweltbedingungen und ihre Wirkungen auf die menschlichen Gesellschaften – oder knapp formuliert, die Anpassung von Organismen an ihre Umwelt. Auch wenn die anthropologischen Annahmen Haeckels aus vielerlei guten Gründen kritisiert werden können, hat die Ökologie ein bis heute entscheidendes Thema auf die Agenda gebracht: die biophysische Einbettung menschlicher Lebensvollzüge. Die frühen humanökologischen Ansätze bei Stephen Forbes und Harlan H. Barrows übernehmen zwar nicht den darwinistischen Grundton Haeckels und zeigen sich im Gegensatz zu dem Jenaer Naturforscher sensibel für den kulturellen Charakter des menschlichen Umgangs mit Natur, sie stehen dem ökologischen Grundgedanken allerdings durchaus nahe – es geht um die Nutzungsformen bzw. die bestmögliche Anpassung an eine prä-existierende Natur. Der Mensch gerät in diesen Denkweisen als ein sich die Welt verfügbar machendes Lebewesen in den Blick, dessen Tätigkeiten in letzter Instanz jedoch von den Möglichkeiten der Natur begrenzt sind. Wenn bio-physische Dynamiken nicht berücksichtigt werden, so die Argumentation, scheitert die Bearbeitung von Natur. Es ist von dieser Position nur ein kleiner Schritt zu der Behauptung, die ökologische Krise bzw. der Klimawandel seien Ergebnisse der Nichtbeachtung ›natürlicher‹ Grenzen.57 Bereits die Ansätze Forbes’ und Barrows’ deuten jedoch auch an, dass es sich bei der frühen Humanökologie nicht einfach nur um einen naturalistischen Reduktionismus handelt. Was in jenem Diskurszusammenhang nämlich auch auf die Agenda gerät, ist der Doppelstatus des Menschen als Teil bio-physischer und sozial-kultureller Prozesse. Am deutlichsten wird dies in den Texten der Chicago School verhandelt – der einzige der dargestellten Ansätze, der explizit einen gesellschaftstheoretischen Anspruch verfolgt. Das Programm der Chicago School wird dabei häufig so rezipiert, dass es sich bei Gesellschaft um die Fortführung der Natur ›mit anderen Mitteln‹ handelt. Betont wird dabei in der Regel der erste Teil der Formulierung und die Chicago School wird damit in die Nähe eines sozialen Darwinismus gerückt. Zweifelsohne lassen sich die Texte auch so lesen. Stellt man stattdessen jedoch den Aspekt der ›anderen Mittel‹ in das Blickfeld, dann lautet die Argumentation, dass Gesellschaft und Natur weder als identisch noch als Gegenspieler aufgefasst werden können, sondern dass Gesellschaft nicht ohne Bezug zu der (materiellen) äußeren Natur und inneren Natur des Menschen angemessen verstanden werden kann. Die Ausgangsposition der neueren humanökologischen Ansätze stellt sich nun anders dar als bei den Klassikern. Hier steht zum einen explizit die Erfahrung einer Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im Zentrum, und zum ande57
Eine solche, auf die Gegenwart bezogene Argumentation wird im Kontext der Sozialen Ökologie im folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert – es handelt sich um Jared Diamonds These eines Zusammenbruchs von Gesellschaften (»Kollaps«) infolge nicht-nachhaltiger Ressourcennutzungsmuster.
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ren werden sehr viel stärker ganzheitlich-nichtreduktionistische Ansätze verfolgt. Diese Zielstellung steht insofern in ein und derselben Traditionslinie mit Haeckel, Forbes, Barrows und der Chicago School, als auch in sozialwissenschaftlich orientierten Ansätzen der Aspekt der bio-physischen Einbettung menschlichen Handelns betont wird. Es wird damit darauf aufmerksam gemacht, dass auch ein explizit als »gesellschaftlich« charakterisierter Klimawandel nicht ohne Rekurs auf die materielle Dimension analysiert werden kann – auch wenn er nicht vollständig in diese auflösbar ist. Allerdings unterscheiden sich die neueren, integrativen Ansätze in wichtigen Hinsichten von den humanökologischen Klassikern. Erstens wird in wissenschaftsorganisatorischer Perspektive betont, dass der Einbezug der physisch-materiellen Welt in die menschlichen Lebensvollzüge einen gesonderten Forschungsgegenstand darstellt, der weder allein aus naturwissenschaftlicher noch allein aus sozialwissenschaftlicher Sicht (noch in einer bloßen ›Zusammenarbeit‹) angemessen bearbeitet werden kann. Damit ist das Thema der Transdisziplinarität wissenschaftlicher Umweltforschung angesprochen. Zweitens wird größeres Augenmerk auf die gesellschaftliche bzw. sinnhafte Dimension der Mensch-Natur-Bezüge gelegt. Somit wird die Auffassung etabliert, dass eine Analyse der gesellschaftlichen Naturbezüge sich nicht auf die Untersuchung der physisch-materiellen Welt (der ›Umweltbedingungen‹) beschränken darf, sondern die gesellschaftliche Einbettung der materiell wirksamen Praktiken sowie Prozesse der symbolischen Aneignung von Natur in den Blick nehmen muss. Drittens schließlich besteht ein eminenter Unterschied zu den Klassikern in der – zumindest in der humanökologischen Forschung in der Geographie beobachtbaren – wissenschaftlichen Selbstreflexivität. Damit geraten Fragen danach in das Blickfeld, wie unterschiedliche disziplinäre Zugänge unterschiedliche Gegenstände konstituieren und welche kommunikativen bzw. forschungspragmatischen Probleme sich daraus ergeben. Das Frankfurter Modell der Sozialen Ökologie Es ist in der Darstellung jüngerer humanökologischer Ansätze im vorangegangenen Abschnitt bereits angeklungen, dass die sozialwissenschaftlich orientierte Umweltforschung spätestens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine enorme Diversifizierung erfahren hat. Sei es aus der Umweltsoziologie heraus, von Seiten der Humangeographie, vor politikwissenschaftlichen oder ökonomischen Theoriehintergründen – die Thematisierung gesellschaftlicher Umweltbezüge hat seit knapp vier Jahrzehnten Konjunktur. Auch wenn die verschiedenen Ansätze häufig auf ein ähnliches Vokabular zurückgreifen und mit scheinbar gleichen Problemen befasst sind lassen sich in Bezug auf die (erkenntnis-)theoretischen Hintergrundauffassungen, die Forschungsmethodologien und das wissenschaftliche Selbstverständnis teilweise enorme Unterschiede zwischen den einzelnen Positionen ausmachen. Eine Theorierichtung, die trotz ähnlicher Basiskonzepte in eine andere Richtung argumentiert als die bislang dargestellten Ansätze ist das Frankfurter Modell der Sozialen Ökologie. Im Unterschied zur plural verfassten Humanöko-
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logie lässt sich bei der Sozialen Ökologie tatsächlich von einem mehr oder minder einheitlichen, auf einen bestimmten institutionellen Kontext zurückführbaren Ansatz ausgehen. Soziale Ökologie begreift sich ganz allgemein als »Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen« (Becker/Jahn 2006a, 16). Sie ist in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Diskursfeld entstanden und hat sich seitdem institutionell etabliert. Durch Integration sozial-ökologischer Denkweisen in die Förderkonzepte des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung und die 1999 erfolgte Einrichtung eines sozial-ökologischen Förderschwerpunktes58 haben die Zugangsweisen, Begriffe und Konzepte der Sozialen Ökologie eine – nicht ganz unumstrittene – Vormachtstellung im umweltsoziologischen Diskurs und den Anwendungsfeldern sozialwissenschaftlicher Umweltforschung erlangt. Initiiert wurde dieses sozial-ökologische Denken wesentlich von den Frankfurter Soziologen, Physiker und Wissenschaftstheoretiker Egon Becker und Thomas Jahn. Parallel zu dem im vorangegangenen Abschnitt bereits angesprochenen Wiener Projekt der Sozialen Ökologie, von welchem sich Becker und Jahn (2006b, 135f.) explizit abgrenzen59, gründeten sie 1989 das Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE), als dessen Aufgabe sie die Weiterentwicklung eines neuen Forschungsfeldes verstehen. Die selbst ernannte Grundvoraussetzung bzw. der erklärte »Forschungsanlass« der Sozialen Ökologie ist dabei eine Krisenerfahrung in der Gegenwart (vgl. Jahn 1991). Diese Krisenhaftigkeit der Gegenwart tritt in verschiedenen Formulierungen auf: Eher im Alltagsjargon als »ökologische Krise«, als theoretisch aufgearbeitete »Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse« oder aber als »gestörte Regulationsmuster der gesellschaftlichen Naturverhältnisse«. Gemein ist allen Formulierungen und den dahinter liegenden Konzepten, dass sich sozial-ökologische Forschung an konkreten Alltagserfahrungen eines ›außer Kontrolle‹ geratenen, pathologisch gewordenen gesellschaftlichen Naturbezugs orientieren soll. Nicht theoretische oder bloß wissenschaftsinterne Fragestellungen sollen am Beginn sozial-ökologischer Forschung stehen, sondern gesellschaftliche Problemlagen. Insbesondere diese Orientierung an konkreten Alltagsproblemen macht prima facie den Reiz sozial-ökologischer Forschung aus. Sie erfordert jedoch auch ein spezifisches theoretisches Instrumentarium sowie eine spezielle disziplinäre Organisation zur Übersetzung komplexer alltäglicher Probleme in wissenschaftliche Gegenstände. Wie die Soziale Ökologie ihren kritischen Anspruch theoretisch einzulösen versucht, wird im Folgenden in vier Schritten dargestellt. Zunächst wird der an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule orientierte Ausgangspunkt der Sozialen Ökologie skizziert, um anschliessend ihre Konzepte zur Relationierung von Gesellschaft und Natur – gesellschaftliche Naturverhältnisse und sozial-ökologische Systeme – darzustellen. Nachfolgend wird die wissenschaftstheoretische Position der Sozialen Ökologie, d.h. ihre 58 59
Mittlerweile innerhalb des BMBF-Rahmenprogramms »Forschung für Nachhaltige Entwicklung (FONA)« Wenn im Folgenden von »Sozialer Ökologie« die Rede ist, sind daher ausschließlich der Frankfurter Ansatz bzw. die Texte der Frankfurter Autor*innen gemeint.
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Orientierung an einem transdisziplinären Wissenschaftsverständnis knapp umrissen. Abschließend wird der sozial-ökologische Ansatz einer kritischen Diskussion unterzogen, die auf einige Schwierigkeiten des Konzeptes aufmerksam macht. Kritische Ausgangspunkte Ausgangspunkt der Sozialen Ökologie ist in mehrerlei Hinsicht die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Dies zeigt sich nicht nur an der expliziten Etikettierung sozial-ökologischer Denkmodelle als »Kritische Theorie der ökologischen Krise« (Görg 2003) oder als »Kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse« (Becker/Jahn 2003), sondern der Bezug ist sowohl durch ihren zeitdiagnostischen bzw. sozialkritischen Duktus als auch durch ihre Wissenschaftskritik bereits grundlegend im Ansatz der Sozialen Ökologie enthalten. Sehr grob zusammengefasst ließe sich die Ausrichtung der Kritischen Theorie als eine ins Prinzipielle hineinreichende Kritik an der modernen, aufgeklärten Gesellschaftsform beschreiben. Als »prinzipiell« lässt sich die Kritik charakterisieren, weil sie nicht Einzelaspekte oder gesellschaftliche Teilbereiche in den Blick nimmt, sondern Fehlentwicklungen des modernen, gesellschaftlichen Ganzen kritisiert. Kern dieser Kritik ist dabei die Beobachtung moderner »Pathologien der Vernunft« (Honneth 2007), d.h. paradoxer Folgen von Aufklärung und Modernisierung. Wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« ausführen, habe die Vernunft, die eine Loslösung von den Zwängen der Natur ermöglichte, im Laufe der Modernisierung schließlich nur zur Ersetzung einer Gewalt durch eine andere Gewalt geführt: »Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet« (Horkheimer/Adorno 2008[1944], 45; vgl. Welsch 1996, 75). Die Verkürzung von Vernunft auf instrumentelle Rationalität, so ließe sich diese Kritik auf den Punkt bringen, verunmögliche die Entfaltung einer »freien, sich selbst bestimmenden Gesellschaft« (Horkheimer 1988b[1937], 221). Aus dieser kapitalismuskritischen Problemdiagnose entsteht schließlich der Auftrag der Kritischen Theorie, zu einer »vernünftigen [nicht bloß rationalen; K. G.] Organisation der menschlichen Aktivität« beizutragen, d.h. Unrecht in der Gesellschaft zu eliminieren und »das Glück aller Individuen« zu befördern (Horkheimer 1988b[1937], 218; 1988a[1937], 195; 1988b[1937], 221). Analog zu dieser Ausrichtung der Kritischen Theorie soll ihrem Selbstverständnis nach auch die Soziale Ökologie zur Verwirklichung bzw. Sicherung einer ›lebenswerten‹ Zukunft beitragen. Dies lässt sich vor allem an Aussagen verdeutlichen, die das programmatische Ziel sozial-ökologischer Forschung zum Gegenstand haben. So soll »die grundlegende normative Intention der Kritischen Theorie, den alltäglichen Leidenserfahrungen und gewaltförmigen Verletzungen individuellen Lebens Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen« (Becker/Jahn 2003, 95) auch für die Soziale Ökologie übernommen werden, für die es dann folgerichtig nicht ausschließlich darum gehen darf, »bloß bestimmte technische oder poli-
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tisch-administrative Systeme zu optimieren« (Becker/Jahn 2003, 95). Vielmehr müsse die Soziale Ökologie, und diesen Anspruch teilt sie mit bestimmten Ansätzen der Politischen Ökologie, spezifische, durch den Naturbezug vermittelte Probleme der menschlichen Existenz in Gesellschaft ausfindig machen und zu deren Lösung beitragen.60 Dabei geht es explizit um zwei Aspekte, einerseits die »zukünftige Reproduktions- und Entwicklungsfähigkeit sowohl der Gesellschaft als auch ihrer natürlichen Lebensgrundlagen«, und andererseits – freilich damit zusammenhängend – »eine gerechte und menschenwürdige gesellschaftliche Entwicklung […]« (BMBF 2000, 6). Neben, oder präziser mit dieser kritisch-theoretischen Grundausrichtung nimmt die Soziale Ökologie auch wissenschaftskritische Anleihen bei der Frankfurter Schule. Anders als hinsichtlich ihrer allgemeinen sozialkritischen Ziele sind hier jedoch stärkere inhaltliche Differenzen bzw. Weiterentwicklungen auszumachen. Die (letztlich auch namensgebende) wissenschaftstheoretische Grundposition der Kritischen Theorie lässt sich auf Max Horkheimers Unterscheidung von traditioneller und eben kritischer Theorie zurückführen. Horkheimer sah die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung vor allem durch den Siegeszug naturwissenschaftlichen Denkens gegeben. »Die Wissenschaften von Mensch und Gesellschaft sind bestrebt, dem Vorbild der erfolgreichen Naturwissenschaften nachzufolgen«, konstatiert er, und unterstellt einer solchen, traditionellen Sozialwissenschaft Blindheit für die angesprochenen Pathologien moderner Gesellschaften (Horkheimer 1988a[1937], 164). Stattdessen müssten die Wertgeladenheit von Sozialwissenschaft und ihre Einbindung in die Reproduktionsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft reflektiert und kritisiert werden. Wie in der späteren Frankfurter Schule prominent durch Jürgen Habermas’ »Erkenntnis und Interesse« ausgeführt wird, seien Wissenschaft und wissenschaftliche Theorie demnach sowohl in ihrer Praxis als auch in Bezug auf das durch sie produzierte Wissen stets als zweckabhängig sowie sozial bedingt zu betrachten (ebd., 169, 182f.).61 Dies zeige sich etwa darin, dass die Begriffssysteme, in welche die Tatsachen eingeordnet werden, bereits präformiert sind, d.h. einen sozial-historischen Ort haben und als veränderbar bzw. bedingt aufzufassen sind (ebd., 178, 192). Für die kritische Forschung gelte es dann, diese gesellschaftliche Vermitteltheit in den Blick zu nehmen, d.h. das (auch) durch die Sozialwissenschaften durchscheinende gesellschaftliche Ganze sichtbar zu machen. Insofern mit dieser Argumentation eine Selbstreflexivität sozialwissenschaftlicher Forschung angemahnt wird, folgt auch die Soziale Ökologie den Grundgedanken der Kritischen Theorie. Allerdings: Während Horkheimer (1988a[1937], 60
61
Vgl. dazu auch folgende Selbstbeschreibung: »Sie [die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse; K. G.] liefert den Gegenstandsbezug der Forschung und die Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit dieser Krise fungiert als theoretische und methodische Leitlinie unserer wissenschaftlichen Arbeit« (Becker/Jahn 2003, 94). Vgl. dazu auch folgende Aussage Horkheimers: »Welchen Sinn und welchen Wert ein bestimmtes Wissen hat, läßt sich nicht allgemein und a priori sagen. Das hängt vielmehr von dem jeweiligen Gesamtzustand der Gesellschaft, von der konkreten Situation ab, zu der es gehört« (Horkheimer 1988c[1935], 294).
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203) oder Marcuse (1989[1964], 172) davon ausgehen, die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften betrachte die Beobachtungsobjekte als vom Beobachten unabhängig, lehnen die sozial-ökologischen Autor*innen einen solchen Positivismus-Verdacht gegenüber den Naturwissenschaften ab (Becker/Jahn 2003, 97).62 Was für die Sozialwissenschaften gefordert wird, nämlich ein konsequenter Ausweis der Konstitutionsbedingungen der eigenen Forschungsobjekte bzw. Beobachtung, gelte ebenso für das naturwissenschaftliche Denken. Auch dies müsse zur (selbstreflexiven) kritischen Wissenschaft werden (ebd., 97f.). Die Unterscheidung von traditioneller und kritischer Theorie, wie sie von Horkheimer vorgeschlagen wurde, müsse konsequenterweise nicht nur für den Bereich der Sozialwissenschaften, sondern auch für den der Naturwissenschaften getroffen werden (ebd., 98). Was bedeuten diese affirmativen bzw. kritischen Anknüpfungspunkte an die Frankfurter Schule nun für die Soziale Ökologie? Zunächst sollen sozial-ökologische Ansätze sowohl Naturwissenschaften als auch Geistes- und Sozialwissenschaften mit der kritischen Frage nach den eigenen Konstitutionsbedingungen, der Kontingenz der Ordnungsschemata etc. konfrontieren. Nach diesem Verständnis ist die Soziale Ökologie ein wissenschaftskritisches Projekt, das die Grenzziehungen zwischen Gesellschaftswissenschaft und Naturwissenschaft selbst unter dem Gesichtspunkt machtgeladener Symbolisierungen betrachtet (Becker/ Jahn 2003, 99). Sie bleibt allerdings, wie oben gezeigt wurde, nicht auf diese Wissenschaftskritik begrenzt. Soziale Ökologie soll darüber hinaus auch zu einer vernünftige(re)n Gesellschaft beitragen. Der Bereich, auf den sich die sozialökologische Kritik gesellschaftlicher Pathologien bezieht, ist dabei ebenfalls ein klassisches Thema der Kritischen Theorie: die Bezüge von Gesellschaft zu Natur bzw. zu ›natürlichen Lebensgrundlagen‹. Natur, Gesellschaft, Gesellschaftliche Naturverhältnisse Das Konzept, mit dem sozial-ökologische Forschung diese Bezüge begrifflich fassbar macht, ist die Idee der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Anknüpfend an Karl Marx versteht die Soziale Ökologie darunter »das Geflecht der vermittelnden Beziehungen und Verhaltensformen zwischen Individuen, Gesellschaft und Natur sowie die sich darin ausbildenden Muster« (Becker 2003, 186; vgl. Görg 1999, 43ff.). Die Rede vom Verhältnis soll anzeigen, dass »nicht Dinge oder isolierte Phänomene« untersucht werden, sondern dynamische Prozesse und Beziehungen (Becker 2003, 186). Mit dieser Auffassung knüpft die Soziale Ökologie an ein auf Übergänge und Differenzen bzw. Differenzierungen gerichtetes relationales Denken an, das auch in den (anderen) Sozial- und Geisteswissenschaften verbreitet ist (ebd.; Becker 2006, 44).
62
Vgl. Becker/Jahn (2003, 98): »Die pauschale Zurechnung der gesamten Naturwissenschaften zum Positivismus und zur instrumentellen Vernunft war für uns die größte Hürde, die von der Kritischen Theorie aufgebaut worden war«.
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Inwiefern ist in dem Untersuchungsobjekt ›gesellschaftliche Naturverhältnisse‹ nun Naturales und Soziales aufgehoben? Grundsätzlich wird angenommen, dass sich der Bereich des Gesellschaftlichen und der Bereich des Naturalen voneinander unterscheiden lassen und auch begrifflich voneinander unterschieden werden müssen (Janowicz 2011, 27; Becker 2003, 168). Bereits die Etikettierung der Forschungsrichtung als »sozial-ökologisch« solle durch den Bindestrich kennzeichnen, dass von zwei unterscheidbaren und zu unterscheidenden Sphären ausgegangen wird (Becker 2003, 168). Mit einer solchen Annahme geht die Soziale Ökologie zunächst einmal bewusst in Opposition zu Ansätzen wie beispielsweise der Akteur-Netzwerk-Theorie, welche die Idee einer strikten Unterscheidbarkeit der Bereiche untergraben (ebd.). Dass sich Natur und Gesellschaft differenzieren lassen bedeutet nach Ansicht der Sozial-Ökolog*innen allerdings nicht, dass beide Bereiche auch als unabhängig voneinander zu betrachten sind. Vielmehr müsse davon ausgegangen werden, »dass Gesellschaft und Natur in einer Vermittlungsbeziehung stehen, die letztlich nach keiner Seite hin aufgelöst werden kann« (Janowicz 2011, 28). Natur kann demnach nicht ohne Hinzunahme von Gesellschaftlichem gedacht werden, und Gesellschaft hat immer auch Anteile an Natur. Dies scheint dabei sowohl begriffslogisch – im Sinne des Verweises auf das jeweils Andere – als auch in Bezug auf die konkreten Phänomene – etwa die biologischreproduktive Basis von Gesellschaft oder die kulturellen Konzepte von Natur – gemeint zu sein. Analog zur Verkopplung von Gesellschaftlichem und Naturalem lassen sich auch die materiellen und symbolischen Aspekte gesellschaftlicher Naturverhältnisse zwar analytisch voneinander unterscheiden, sind jedoch in der konkreten (gesellschaftlichen) Praxis miteinander verschränkt (Jahn/Wehling 1998, 84; Kraemer 2008, 139). Gesellschaftliche Naturverhältnisse weisen demnach zugleich eine stoffliche und eine sinnhafte Struktur auf, sie werden materiell reguliert und kulturell symbolisiert (Becker et al. 2006, 192f.; Jahn 2013a, 59). Beide Dimensionen sind nach der Sozialen Ökologie als ›gleichwertige‹ oder in gleichem Maße bedeutsame Aspekte des Forschungsobjektes gesellschaftliche Naturverhältnisse zu betrachten, d.h. keine der beiden Seiten kann sinnvoll aus der Betrachtung ausgeschlossen oder auf die jeweils andere Seite reduziert werden. Es ist dabei wichtig darauf hinzuweisen, dass auch nach dem sozial-ökologischem Denken – wie oben bereits für die Humanökologie angedeutet wurde – die beiden Dimensionen des Materiellen und des Symbolischen nicht der einen oder anderen Seite des Vermittlungsverhältnisses von Gesellschaft und Natur zugeschlagen werden dürfen. Das bedeutet, Materielles ist nicht als identisch mit Naturalem, und Symbolisches nicht als identisch mit Gesellschaft anzusehen (Jahn/Wehling 1998, 84; Kraemer 2008, 140). Stattdessen seien Natur und Gesellschaft »auf unterschiedliche Weise materiell und symbolisch strukturiert« (Jahn/Wehling 1998, 84). So klar und instruktiv diese Konzeption gesellschaftlicher Naturverhältnisse zunächst erscheinen mag, ergeben sich bei einem zweiten Blick in die sozial-ökologischen Grundlagentexte allerdings einige Fragen. Diese betreffen einerseits den Status der Differenz von Gesellschaft und Natur, und andererseits die Schärfe der Unterscheidung. Welchen Status die Differenz hat bzw. von welchem Standpunkt
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aus die Unterscheidung überhaupt getroffen werden kann, bleibt in den Texten der Sozialen Ökologie undeutlich. Einerseits scheint die Unterscheidung als vorgesellschaftlich betrachtet zu werden. Natur sei demzufolge »extra-diskursiv«, mehr als »nur eine soziale Konstruktion«, und Gesellschaft weise eine eigenständige, nicht naturhafte Organisationsform auf (Janowicz 2011, 27). Andererseits wird auf die Praxisabhängigkeit der Unterscheidung hingewiesen. Das, was Natur und was Gesellschaft ›sind‹, hänge demzufolge davon ab, in welchem kommunikativen Kontext und mit welchen (Erkenntnis-)Zielen die Unterscheidung getroffen werde (Becker et al. 2006, 177; Becker/Jahn 2006b, 119; Janowicz 2011, 28). »Man kann zwischen Gesellschaft und Natur nicht mehr ontologisch unterscheiden, sondern nur noch theorie- und beobachterabhängig« (Becker 2003, 189), lautet dementsprechend die Leiterkenntnis. In diese Richtung geht auch die Alltagszentrierung sozial-ökologischer Forschung, nach der Gesellschaft-Natur-Relationen nicht allgemein, d.h. in den Universalkategorien der Gesellschaft und der Natur in den Blick zu nehmen sind, sondern vom empirischen Fall her. So sieht das Forschungsprogramm vor, »die Beziehungen von Menschen in konkreten Situationen oder die Beziehungen einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche zu ihrer jeweiligen natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt« (Becker et al. 2006, 176; Hervorhebung K. G.) zu untersuchen. Die Spannung zwischen beiden Interpretationen der Gesellschaft-NaturDifferenzierung speist sich vor allem aus dem vermittlungstheoretischen Bemühen, die Annahme einer sozialen bzw. symbolischen Vermitteltheit des Weltbezugs nicht in eine radikal konstruktivistische Position kippen zu lassen, in der nach Befürchtung der Sozialen Ökologie kein Platz mehr für die alltäglich erfahrene Wirkung einer (scheinbar) vor-symbolischen materiellen Welt wäre (vgl. Janowicz 2011, 24ff.). Auch wenn dieses Bemühen nachvollziehbar ist, bleibt die begrifflich kohärente Einlösung schwierig. Dies wird besonders dort deutlich, wo es um die forschungspragmatische Operationalisierung der Untersuchung gesellschaftlicher Naturverhältnisse geht. Nach Becker/Jahn (2006a, 24) muss das Augenmerk dazu auf das »Überschneidungsgebiet zwischen Natur- und Sozialwissenschaften« gerichtet werden, in welchem »sich eigentümliche Objekte, Mischgebilde aus natürlichen und gesellschaftlichen Elementen, hybride Artefakte, die sich nicht durch die binäre Opposition von Natur und Kultur ordnen lassen« finden. Diese Objekte werden – inspiriert von der allgemeinen Systemtheorie63 – als »sozio-ökologische Systeme« (Becker 2003, 24; vgl. Jahn 2013a, 60) charakterisiert, d.h. als Systeme, die eine Kopplung zwischen Gesellschaft und Natur herstellen bzw. verkörpern. Diese sozial-ökologischen Systeme können nach dem Frankfurter Ansatz mit verschiedenen system-typischen ›Eigenschaften‹ assoziiert werden. So könne man zwischen offenen und geschlossenen sowie autopoietischen und allopoietischen sozial-ökologischen Systemen unterscheiden (Liehr et al. 2006, 270). Darüber hinaus lassen sich sozial-ökologische Systeme, so die These, auch funktional und räumlich abgrenzen (ebd., 269). 63
D.h. explizit hier nicht der Theorie sozialer Systeme, wie sie etwa von Niklas Luhmann vorgeschlagen wurde.
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Angesichts der oben dargestellten Differenzthese wirkt die Kennzeichnung der konkreten Ausformung gesellschaftlicher Naturverhältnisse als kaum eindeutig zu kategorisierende »Mischgebilde« irritierend. Geht man in den oben dargestellten Kontexten von einer (zumindest analytischen) Unterscheidbarkeit von Sozialem und Naturalem aus, scheint hier eher der Gedanke einer ›unentwirrbaren‹ Verbindung im Zentrum zu stehen. Die Irritation bleibt auch dann bestehen, nimmt man die weiteren Ausführungen zur Kopplung von Gesellschaft und Natur in sozial-ökologischen Systemen in den Blick. So unterscheiden Liehr et al. (2006, 269) zwischen zwei Möglichkeiten der Relationierung von Gesellschaft und Natur in systemtheoretischer Hinsicht. Im ersten Fall werden die beiden Entitäten – ganz im Sinne der obigen Differenzthese – als separate Systeme betrachtet, zwischen denen es (für sie jeweils) externe Beziehungen gibt. Im zweiten Fall allerdings, der nach den Frankfurter Autor*innen die sinnvollere Option darstellt, werden Gesellschaft und Natur als Teile eines einzigen, integrierten Systems betrachtet (ebd.). Gesellschaft und Natur, oder präziser: die jeweiligen ›gesellschaftlichen‹ und ›natürlichen‹ Aspekte eines konkreten sozial-ökologischen Problemfalls, werden dann als (binnendifferenzierte) Subsysteme desselben Gesamtsystems aufgefasst. Spätestens hier scheint die These einer starken Unterscheidbarkeit beider Bereiche aufgegeben zu werden. Dies legt jedenfalls der Vorschlag nahe, Gesellschaft und Natur unter systemtheoretischen Gesichtspunkten gleich zu behandeln. Die naturwissenschaftlichen systemtheoretischen Konzepte – d.h. die Perspektive auf Stoff- und Energieflüsse – könnten dementsprechend auch zur Formalisierung sozialer Sachverhalte herangezogen werden: »In solch einer formalisierten sozialwissenschaftlichen Perspektive wird bspw. im Fall der Kooperation die Rolle des Energieflusses für Selbstorganisation und Selbststabilisierung emergenter Phänomene von einem ständigen Informationsfluss aus der Umwelt in das offene System der Akteure übernommen« (Liehr et al. 2006, 275; Hervorhebung K. G.).
Ungeachtet des Hinweises auf den Umstand, dass die Systemeigenschaften hier nur eine heuristische Funktion als »Instrument[…] zur Theoretisierung« (Liehr et al. 2006, 275) hätten, scheinen die Autoren unterschwellig dennoch von einer immerhin so weit reichenden Analogie zwischen Gesellschaft und Natur auszugehen, dass eine Anwendbarkeit der systemtheoretischen Kategorien auf beide Bereiche gewährleistet ist. Auch die Rede von einem »Gesamtverhalten« eines sozial-ökologischen Systems oder von dem Risiko des »erheblichen Verlust[s] von Informationen« bei »Zerlegung« des Gesamtsystems (Liehr et al. 2006, 273) deutet darauf hin, dass es innerhalb der Sozialen Ökologie eine Spannung zwischen dem – differenzierenden – Grundkonzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse und den eher die Vermischung betonenden Vorstellungen praktischer sozial-ökologischer (d.h. systemtheoretisch orientierter) Forschung gibt. Möglicherweise lässt sich größere Klarheit über diese Spannung gewinnen, nimmt man nicht die konkreten Thematisierungen dieses Problems in den Blick, sondern verlagert die Aufmerksamkeit auf das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis der Sozialen Ökologie. In diesem Diskurs wird die Frage nach der Differenzierbarkeit verschiedener Phäno-
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menbereiche über die wissenschaftstheoretische Frage nach der disziplinären Zuständigkeit für sozial-ökologische Probleme diskutiert. Die zentralen Stichwörter dieser Debatte lauten »Inter-« und »Transdisziplinarität«. Exkurs: Inter- und Transdisziplinaritätsdenken Das Interesse für inter- bzw. transdisziplinäre Behandlungen von Mensch-NaturBeziehungen teilt die Soziale Ökologie mit anderen Forschungsrichtungen und Disziplinen, wie etwa der Humanökologie oder den Sustainability Studies (vgl. Becker 1997; 2003, 174f.; Becker/Jahn 2003, 94; Jahn 2013a, 51ff.; Jahn 2013b, 68ff.). Gemein ist diesen Ansätzen, dass sie von einem Typus wissenschaftlich zu bearbeitender Phänomene ausgehen, der sich innerhalb der klassischen disziplinären Arbeitsteilung in der Wissenschaft nicht (mehr) angemessen bearbeiten lasse. Demgegenüber solle eine Forschung betrieben werden, die (wie oben bereits angedeutet) von konkreten, meist komplexen Problemen aus nicht bereits über die Zugangsweise präjudiziere, sondern anhand der konkreten ›Sachlage‹ durch verschiedene, die Disziplinen überschreitende Zugänge ein angemessenes Bild liefere. Um den Problemhorizont der sozial-ökologischen Debatten um »Inter-« und »Transdisziplinarität« darzustellen sind zunächst einige allgemeine Überlegungen notwendig. Für welche Schwierigkeiten bieten diese Ansätze ein Lösungsangebot? Ausgangspunkt der Inter- und Transdisziplinaritätsdebatte ist die scheinbar triviale Frage danach, womit sich Wissenschaft beschäftigt. Beantwortet wird diese Frage zunächst damit, dass Wissenschaft sich mit wissenschaftlichen Problemen befasse. Damit ist einerseits impliziert, dass wissenschaftliche Probleme von anderen Problemen, eben nicht-wissenschaftlichen Problemen unterscheidbar sind, und andererseits, dass etwas Problem-Status haben muss, um zu einem wissenschaftlichen Gegenstand zu werden. Besonders in Bezug auf diesen zweiten Aspekt wird häufig noch auf die interne Differenzierung von Wissenschaft in verschiedene Disziplinen sowie die Zuordnung bestimmter Probleme zu bestimmten Disziplinen hingewiesen. Wie ist es jedoch möglich, Probleme Disziplinen zuzuordnen? Karl R. Popper gibt in Bezug auf diese Frage folgende Antwort: »I am quite ready to admit that many problems, even if their solution involves the most diverse disciplines, nevertheless ›belong‹ in some sense to one or another of the traditional disciplines; […] because each of them arises out of a discussion characteristic to the tradition of the discipline in question.« (Popper 2000[1963], 67).64
Popper weist also darauf hin, dass wissenschaftliche Gegenstände oder Probleme abhängig von (disziplin-)spezifischen kognitiven Voraussetzungen sind. Als solche wären Theorien, Denkweisen, Sprachen, Begriffssysteme, oder eben Traditionen etc. denkbar. Dieser Hinweis ist nicht trivial, denn er macht nicht nur darauf aufmerksam, dass Probleme in gewisser Weise disziplinspezifisch sind, sondern auch darauf, dass wissenschaftliche Gegenstände oder Probleme zunächst einmal an die eigenlogisch operierende Sphäre der Wissenschaften bzw. der Disziplinen 64
Für den Hinweis auf die Textstelle bei Popper vgl. Schäfer (1999, 70f.).
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gebunden sind, oder, stärker formuliert, sogar nur aus ihr heraus entstehen können. Die Problematik solcher wissenschaftsinternen Charakterisierungen disziplinspezifischer Probleme besteht allerdings darin, dass die Lösungen von Problemen – und damit die Generierung neuer Probleme – sich (häufig) schon nicht mehr im engen disziplinären Rahmen abspielt, sondern (oft) über die Disziplinen hinausweist. Und im strengen Sinn können nicht einmal die Probleme eindeutig den Disziplinen zugeordnet werden (sie können dies nur »in some sense«). Auch wenn Popper die Spezial-Kompetenzen der Einzeldisziplinen sicher nicht generell in Zweifel zieht (Schäfer 1996, 74), so lässt sich bereits erahnen, dass seine Argumentation auf die Möglichkeit einer Überschreitung disziplinärer Einteilungen hinausläuft. Erst der Blick über die Disziplingrenzen hinaus verhindere eine Essentialisierung der Wissenschaftsbereiche, d.h. die Auffassung, wissenschaftliche Spezialisierung sei das Abbild einer natürlichen Ordnung der Welt (vgl. Werlen/Weingarten 2005b, 316; Weichhart 2005, 113f.; 1975, 46ff.): »The belief that there is such a thing as physics, or biology, or archaeology, and that these ›studies‹ or ›disciplines‹ are distinguishable by the subject matter which they investigate, appears to me to be a residue from the time when one believed that a theory had to proceed from a definition of its own subject matter. […] But subject matter, or kinds of things, do not, I hold, constitute a basis for distinguishing disciplines. Disciplines are distinguished partly for historical reasons and reasons of administrative convenience […], and partly because the theories which we construct to solve our problems have a tendency […] to grow into unified systems. But all this classification and distinction is a comparatively unimportant and superficial affair. We are not students of some subject matter but students of problems. And problems might cut right across the borders of any subject matter or discipline« (Popper 2000[1963], 66f.).
Es ließe sich mit Popper dann sagen, dass disziplinäre Einteilungen nicht nur oberflächlich sind, sondern dass es Disziplinen – außerhalb ihres Status als »Verwaltungseinheit« – schlichtweg gar nicht ›gibt‹ (Popper 2002[1983/1956], 3). Stellt man Probleme statt Disziplinen in den Vordergrund, verliert die Unterscheidung von Disziplinen an Bedeutung, auch wenn Disziplinen nicht wegzudenken und forschungspragmatisch notwendig sind. Mit diesen mit Popper angestellten Überlegungen ist das Feld skizziert, in dem sich die Debatten um Inter- und Transdisziplinarität bewegen. Auch wenn terminologisch oft nicht sauber zwischen Multi-, Inter- und Transdisziplinarität unterschieden wird und fraglich ist, ob eine trennscharfe Unterscheidung im konkreten Fall überhaupt möglich ist, lässt sich die Differenz etwa folgendermaßen umreißen: Im Gegensatz zu einem – die Differenzen und spezifischen Perspektiven eher noch hervorhebenden – interdisziplinären Dialog zwischen den Disziplinen soll in transdisziplinärer Forschung die Zusammenarbeit verschiedener Zugänge »zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung« führen (Mittelstraß 2003, 9). Anders gesagt: In der Arbeit ›am Objekt‹ bzw. ›dem Problem‹ solle sich einerseits herausstellen, welche theoretischen Zugänge zu einem Verständnis der zu behandelnden Problemlage beitragen, und andererseits sollen durch diese Öffnung auch die Zugangsweisen (oder eben: Disziplinen) selbst verändert werden.
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Exemplarisch für ein solches Vorgehen – und für die Soziale Ökologie stilbildend – ist etwa das in den Naturwissenschaften diskutierte Projekt einer »Einheit der Natur« (von Weizsäcker 1971, zit. in Mittelstraß 2003, 13). Dessen auf den ersten Blick einleuchtende Grundfrage lautet: »Wenn die Natur nicht zwischen Physik, Chemie und Biologie unterscheidet, warum sollten dies auf eine auch noch unverrückbare disziplinäre Weise diejenigen Wissenschaften tun, die sie erforschen?« (Mittelstraß 2003, 13). Diese Frage bzw. die in ihr enthaltene Forderung lässt mindestens zwei Interpretationen zu. Einerseits kann daraus gefolgert werden, die Einheit der Natur solle konsequenterweise auch durch eine einheitliche Wissenschaft der Natur zu erfassen sein. In eine solche Richtung scheint von Weizsäcker selbst zu argumentieren (ebd.). Andererseits lässt sich daraus aber auch folgern, dass Wissenschaft nicht ausschließlich nach disziplinären Einteilungen vorgehen sollte, sondern – etwa in gegenstandsbezogenen Forschungsverbünden – verschiedene Perspektiven zunächst gleichzeitig zulassen und fordern sollte, um der Komplexität eines Gegenstandes angemessen Rechnung zu tragen.65 Wenn bislang von »Disziplinen« die Rede ist, wird damit zwar einerseits die Überbrückung oder Bearbeitung von Unterschieden thematisiert – Disziplinen haben unterschiedliche Gegenstände, Methoden usw. –, es wird damit zugleich aber unterschlagen, dass es auch Ähnlichkeiten zwischen Disziplinen oder Gruppen von Disziplinen gibt. Zieht man zum Problem der unterschiedlichen Einzeldisziplinen die Unterscheidung von Wissenschaftskulturen66 hinzu, d.h. beispielsweise die Unterscheidung verstehender und erklärender Wissenschaften, dann wird etwas genauer ersichtlich, wo die Probleme transdisziplinärer Forschung liegen, und wo sie es vergleichsweise ›einfach‹ hat. Die klassischen Formulierungen transdisziplinärer wissenschaftlicher Praxis entstammen, wie das Konzept der Einheit der Natur, zum großen Teil den Naturwissenschaften. Sie sind vor allem auf Überwindung der disziplinären Dogmen innerhalb ein und desselben Wissenschaftsbereiches ausgerichtet. Hier gilt es, zwischen unterschiedlichen Hintergrundtheorien zu vermitteln bzw. den Bedarf an neuen Konzepten zu plausibilisieren. Einvernehmen besteht jedoch über den grundsätzlichen Zugang (oder, so könnte man sagen, die der Forschung zu Grunde liegenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Vorentscheidungen). Problematischer ist indessen die Vorstellung transdisziplinären Arbeitens, hat man es mit wissenschaftskulturellen Differenzen zu tun. Im Sinne der oben genannten Optionen könnte Transdisziplinarität in diesem Zusammenhang 65
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Besonders in dieser ›schwachen‹ Variante sind die Grenzen zum Konzept der Interdisziplinarität fließend. Ein sinnvolles Abgrenzungskriterium wäre hier, von Transdisziplinarität überall dort zu sprechen, wo Disziplinen offen für interne Veränderung durch die Arbeit an einem komplexen Gegenstand sind und nicht allein auf Bearbeitung ›ihres‹ Teilbereiches ausgerichtet sind. Vgl. z.B. Snow (1959). Snow hatte in seinem Essay »The Two Cultures« zwar die Unterscheidung von Literatur und (Natur-)Wissenschaft im Blick, dies kann jedoch ebenso übertragen werden auf die bereits mit Wilhelm Windelbands Unterscheidung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften etablierte Differenz zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft (Eder 2007, 17f.; vgl. Snow 1959).
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zunächst bedeuten, von einer Einheit des Forschungsgegenstands (z.B. materiell und geistig bzw. sozial) auszugehen, diesen jedoch unter verschiedenen disziplinären Voraussetzungen zu untersuchen. Ein Beispiel dafür wäre etwa die traditionelle Landschaftsgeographie, in der von einer untrennbaren Einheit physischmaterieller und sozial-kultureller Aspekte im Forschungsgegenstand ›Landschaft‹ ausgegangen wird, diese Aspekte dann aber doch wieder (sub-)disziplinär gegliedert in die Forschungspraxis aufgenommen werden. Ein anderer Fall wäre es indessen, wenn mit der angenommenen Einheit des Gegenstands auch eine Einheit der Methoden oder eine Einheit der Theorien angestrebt wird. Dies bedeutete, ausgehend vom – wie auch immer als solchen konstituierten – Gegenstand her neue, originär auf den speziellen Fall zugeschnittene Zugangsweisen zu generieren, die nicht eindeutig in das Gebiet der einen oder anderen Wissenschaftskultur hineinfallen bzw. erklärende und verstehende Elemente zugleich beinhalten.
Soziale Ökologie als transdisziplinäre Wissenschaft Wie versteht sich die Soziale Ökologie nun in diesem Feld der Inter- und Transdisziplinarität, d.h. in welcher Form tauchen die dargestellten allgemeinen Überlegungen in den sozial-ökologischen Konzepten auf? Der Ansatz begreift sich zunächst einmal als transdisziplinäre Wissenschaft (Becker/Jahn 2006b, 138; Jahn 2013a, 54ff.; Jahn 2013b, 68ff.; Jahn et al. 2012). Transdisziplinarität wird im Rahmen der Sozialen Ökologie in Bezug auf zwei (in der Praxis gleichwohl miteinander verschränkte) Aspekte thematisiert: Einerseits, in der ›klassischen‹ Variante, als eine erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Frage nach dem Zusammenspiel disparater Wissenschaftsdisziplinen und -kulturen; andererseits als Frage nach dem Zusammenwirken von alltäglichen, lebensweltlichen und wissenschaftlichen Wissensformen bei der Konstitution der sozial-ökologischen Forschungsgegenstände (Jahn/Keil 2006a, 319f.).67 Der zweite Aspekt der Übersetzung alltäglicher Problemlagen in wissenschaftliche Sachfragen lässt sich als Konsequenz aus dem kritischen Erbe der Sozialen Ökologie begreifen. Um das Ziel der »praktischen Problemlösung für die Gesellschaft« (Jahn/Keil 2006a, 321) erreichen zu können, muss eine Wissenschaft der gesellschaftlichen Naturverhältnisse demzufolge nicht nur auf Transzendenz der disziplinären Kategorien und die wissenschaftstheoretische Reflexion bzw. Entwicklung neuer, disziplinübergreifender Methoden ausgerichtet werden, sondern auch und vor allem die Entwicklung einer alltagsweltlich anschlussfähigen Sprache beinhalten. Aus der Orientierung an alltäglich wahrgenommenen, als problematisch bewerteten Phänomenen ergibt sich im Denken der Sozialen Ökologie also die Notwendigkeit der doppelten »Wissensintegration« (Jahn/Keil 2006a, 322; vgl. Jahn et al. 2015, 94f.; Jahn/Schuldt-Baumgart 2013, 76ff.). Einerseits müssen wissenschaft67
Mit diesem Verständnis schließt die Soziale Ökologie freilich an eine längere Traditionslinie der Reflexion transdisziplinärer Wissenschaft an (vgl. etwa Stauffacher 2011).
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liches Wissen und Alltagswissen miteinander anschlussfähig gemacht werden, andererseits müssen Wissensbestände unterschiedlicher theoretischer Traditionen integriert werden. Wie kann eine solche Vermittlung im Detail funktionieren, und was ergeben sich daraus für Konsequenzen? Betrachtet man zunächst die ›innerwissenschaftliche‹ Wissensintegration, so ist auffällig, dass die Position der Sozialen Ökologie – ganz entgegen der Entschiedenheit der programmatischen Aussagen – uneindeutig ist. Ausgangspunkt für diese Uneindeutigkeiten ist die Ansicht, dass vernünftigerweise keine Disziplin (oder Wissenschaftskultur) einen exklusiven Zugang zum Gegenstandsbereich der Sozialen Ökologie (gesellschaftliche Naturverhältnisse) beanspruchen kann (Becker/Keil 2006, 304). Dies wird mit Behauptungen unterstützt, die der Charakterisierung des Programms der Einheit der Natur (vgl. oben) frappierend ähnlich sind. Es sei »[…] keineswegs so, dass sich die Probleme immer an die disziplinären Grenzen halten. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt vielmehr, dass bestimmte Probleme mehrmals die Disziplin wechseln, bevor eine Lösung in Form einer widerspruchsfreien theoretischen Beschreibung (auf Zeit) gefunden wird« (Jahn/Keil 2006b, 309).
Dass traditionelle disziplinäre Zugänge für den erklärten Gegenstandsbereich der Sozialen Ökologie nicht fruchtbar sind, liegt also daran, dass die prima facie unabhängig erscheinenden, d.h. scheinbar ›an sich‹ bestehenden sozial-ökologischen Probleme oder Gegenstände widerständig sind – und zwar dadurch, dass sie einen Charakter oder eine innere Einheit aufweisen, die nicht zur Differenzierung der wissenschaftlichen Perspektiven passt. Wie geht die Soziale Ökologie mit diesen Inkongruenzen um? Wie oben bereits angedeutet sind mindestens zwei Optionen denkbar: Zulassen verschiedener, paralleler disziplinärer Zugänge einerseits, Erarbeitung einer integrierten/integrierenden Perspektive andererseits. In den Selbstbeschreibungen der Sozialen Ökologie sind beide Varianten zu finden. Anhaltspunkte für die erste Option finden sich überall da, wo von Perspektiven eines »Sowohl-als-auch« bzw. »Weder-noch« (Becker/Jahn 2003, 105) die Rede ist, wo eine gleichberechtigte Zusammenarbeit von Natur- und Sozialwissenschaften gefordert wird (ebd., 98). Die Gegenstände, für die sich die Soziale Ökologie interessiert, lassen sich Becker und Jahn (ebd., 107) gemäß sowohl mit naturwissenschaftlichen Mitteln als auch unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersuchen – und beiden Beschreibungen muss gleichermaßen Gültigkeit zugeschrieben werden. Dieses Vorgehen weist Analogien zu der aus der Philosophie des Geistes bekannten »dual aspect theory« (Nagel 1986, 28ff.) auf. Für bestimmte – dort: mentale – Phänomene gebe es sowohl Beschreibungen in naturwissenschaftlicher als auch lebensweltlicher, phänomenaler Sprache, ohne dass einer dieser Beschreibungen ein Mangel an Adäquanz attestiert werden könne. Becker und Jahn (2003, 107) bemühen in diesem Zusammenhang zudem das aus der Quantenphysik entstammende Konzept der »Komplementarität«. Komplementär sind Beschreibungen, die ein »sowohl-als-auch« zulassen. Mit dieser Position vermeidet die Soziale Ökologie zunächst einmal Vorentscheidungen zugunsten eines Wissenschaftsbereiches, bleibt aber dem Differenzdenken der (tra-
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ditionellen) Wissenschaftseinteilung verpflichtet. Sie handelt sich jedoch, bleibt sie allein bei dem »sowohl-als-auch«-Denken, die Frage ein, inwiefern – und von welchem Standpunkt aus – überhaupt sinnvoll von ein und demselben Gegenstand die Rede sein kann, wenn dieser Gegenstand gleichermaßen von hermeneutisch verfahrenden Sozial- und Geisteswissenschaften und auf Kausaleffekte abhebenden Naturwissenschaften bearbeitet werden können soll. Über das Dogma der parallelen Zugänge hinaus geht die Soziale Ökologie an denjenigen Stellen, an denen von einer Überbrückung der »Kluft zwischen getrennten Wissenskulturen und Praktiken« (Becker/Keil 2006, 292) die Rede ist. Das Ziel ist hier, durch Integration vorhandener Wissensbestände und paradigmatischer Zugriffsformen eine neue Perspektive auf die Gegenstände der Sozialen Ökologie zu generieren: »Unterschiedliche Benennungen des Gleichen und gleiche Benennungen des Unterschiedenen müssen ebenso in einer gemeinsamen Begrifflichkeit aufgehoben werden, wie unterschiedliche Problembeschreibungen als Folge unterschiedlicher kognitiver, theoretischer oder konzeptioneller Perspektiven aufeinander bezogen werden müssen« (Jahn/Keil 2006b, 314).
Damit ist natürlich mehr gemeint als das oben beschriebene »Sowohl-als-auch« bzw. »Weder-noch«.68 Es ist damit die Annahme einer inneren Einheit der Gegenstände impliziert sowie, darüber hinausgehend, die Notwendigkeit einer Einheit des Zugriffs auf diese Gegenstände. Die Rede von der Einheit des Zugangs kann dabei verschieden verstanden werden – mit unterschiedlichen Implikationen für das Forschungsprogramm. In einer schwachen Variante kann damit gemeint sein, dass auf einer übergeordneten Betrachtungsebene nicht mehr zwischen den spezifischen Logiken einzelner Disziplinen oder Wissenschaftskulturen unterschieden wird, sondern die Komplexität bzw. Eigenständigkeit des Problems anerkannt wird. Es wird also nicht bereits vor der Bearbeitung spezifischer Einzelprobleme die gesamte sozial-ökologische ›Sachlage‹ disziplinär zugerüstet, sondern ausgehend von einer transdisziplinären Überblicksperspektive wird a posteriori über den notwendigen Typus der Zugriffe entschieden. Der Sozialen Ökologie käme in dieser Interpretation die Aufgabe der Einnahme einer Meta-Perspektive zu, die über die Binnenlogiken der Einzelwissenschaften hinauszublicken vermag. Dies kann freilich auch dazu führen, dass keine neue Perspektive für notwendig erachtet und eine Bearbeitung herkömmlichen disziplinären Zuschnitts für sinnvoll gehalten wird (Jahn/Keil 2006a, 324). Allein, dies ergibt sich erst nach der disziplinär unvoreingenommenen Inaugenscheinnahme. Die Einheit des Zugangs zu sozial-ökologischen Problemen kann allerdings auch in einer starken Variante interpretiert werden. In dieser folgt aus der angenommenen Einheit der zu untersuchenden Phänomene auch die erkenntnistheoretische Einheit, im Sinne der Formulierung einer sozial-ökologischen Einheitstheorie, der Anwendung einheitlicher Methoden und Konzepte usw. Auch für 68
Wovon sich die Autoren der Sozialen Ökologie in anderen Zusammenhängen explizit absetzen. So etwa wird an (human-)ökologischen (und anderen) Ansätzen kritisiert, dass diese den Menschen immer nur entweder als Naturwesen oder Kulturwesen in den Blick nehmen (Becker 2003, 177).
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eine solche Interpretation gibt es Hinweise in den Textkorpora der Sozialen Ökologie. So behaupten Jahn und Keil (2006b, 310; Hervorhebung K. G.) etwa, dass in bestimmten »Problemlagen […] gesellschaftliches Handeln und ökologische Effekte ineinander greifen und nicht mehr getrennt beschrieben werden können«. Versteht man unter der Vermeidung getrennter Beschreibung hier mehr als ein loses Nebeneinander verschiedener Zugriffsweisen, so stellt dies den Ruf nach einer neuen, integrierten sozial-ökologischen Theorie dar. Die Notwendigkeit einer solchen Theorie sehen Becker und Jahn (2006a, 23) vor allem angesichts der Bedrohung aus »den beiden Großkulturen«, die ›Grenzgebiete‹ zu kolonisieren und die Zwischendisziplinen zu vereinnahmen. Diesen disziplinären Kolonisierungsbewegungen möchte sich die Soziale Ökologie hingegen durch eine »doppelseitige Kritik am Naturalismus und Kulturalismus« (Becker/Jahn 2006a, 23) entziehen. Fasst man die bisherigen Erläuterungen zusammen, lässt sich folgendes konstatieren: In Bezug auf die innerwissenschaftliche Wissensintegration ist das Grundmotiv der Sozialen Ökologie ganz allgemein der Abbau ›erkenntnishemmender‹ Grenzen durch Beseitigung derjenigen disziplinären Verengungen, die den Blick für die Vielschichtigkeit des Ganzen verstellen. In den Argumentationen der Sozialen Ökologie lassen sich dabei sowohl Momente der Differenzierbarkeit (parallele Zugänge von sozial- und Naturwissenschaften) als auch Momente der Vermischung (eine neue, transdisziplinäre sozial-ökologische Wissenschaft) identifizieren. Beide Sichtweisen laufen dabei auf eine Orientierung an (konkreten) empirischen Gegenständen hinaus. Wie geht die Soziale Ökologie nun mit dieser Außenorientierung um? Bei eingehenderer Betrachtung enthält die Forderung zwei Elemente. Einerseits ist damit die Fokussierung von Praxisproblemen angesprochen, andererseits die soeben besprochene (transdisziplinäre) Sorgfalt, die Vielgestaltigkeit des Gegenstands nicht umstandslos in die Fragmentiertheit wissenschaftlicher Praxis zu überführen. An dieser Stelle soll zunächst vor allem der Bezug auf praktische, lebensweltliche Problemlagen interessieren. Jahn und Keil (2006b, 310) spezifizieren diesen auf das kritische Erbe der Sozialen Ökologie referierenden Zugang folgendermaßen: »In einem für die Soziale Ökologie typischen Projekt stammen die in der Forschung bearbeiteten Probleme nicht aus den Einzeldisziplinen, sondern haben ihren Ursprung in einem in der gesellschaftlichen Praxis vorgefundenen Problem«. Was für die Soziale Ökologie demgemäß zum Gegenstand wird, hängt davon ab, ob es in lebensweltlicher Praxis Problemstatus erlangt hat, oder nicht. Dieser Problemstatus lässt sich analytisch etwa begreifen als das Auftreten unerwünschter Nebenfolgen des Handelns (d.h. die Inkongruenzen zwischen Handlungsabsichten und Handlungsfolgen) sowie – das erklärte die zusätzliche Charakterisierung als »gesellschaftlich« – die überindividuelle, eben gesellschaftliche Kommunikation dieser Inkongruenzen. Die Betonung einer Orientierung an gesellschaftlich »vorgefundenen« oder »praxisrelevanten« (Becker/Jahn 2006c, 289) Problemen weist dabei zugleich auf einen anderen Aspekt des sozial-ökologischen Denkens hin, das ist die Gegenüberstellung von Lebenswelt und Wissenschaft, Praxis und Theorie, oder Alltag und Wissenschaft. »Gesellschaftlich
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vorgefunden« scheint in diesem Sinne so viel zu meinen wie »außerwissenschaftlich«, »nicht einer besonderen Perspektive bedürfend«, oder auch »ohne Vorbedingungen existierend«. Diese Sichtweise wird etwa auch dort gestützt, wo von »realen Phänomenen« die Rede ist, denen nicht a priori eine ihnen fremde »sachliche Ordnung unterstellt« (Jahn/Schramm 2006, 101) werden solle. Zur Unterscheidbarkeit der Sphären Natur und Gesellschaft kommt in der sozial-ökologischen Forschung also noch die Unterscheidung von wissenschaftlicher und alltäglicher Logik hinzu. Daraus ergibt sich, dass ein im Alltag ›vorgefundenes‹ Problem nach dem Denken der sozial-ökologischen Autor*innen der Übersetzung bedarf, um zu einem wissenschaftlich bearbeitbaren Phänomen zu werden: »Sozial-ökologische Probleme werden dadurch in wissenschaftliche transformiert, dass sie in einem theoretischen Kontext reformuliert werden« (verändert nach Jahn/Schramm 2006, 106). Lässt man hier einmal unbeachtet, dass sich die Frage stellt, was »sozial-ökologische Probleme« sind, wenn nicht qua dieser Charakterisierung bereits wissenschaftliche Probleme, dann ist es also Aufgabe der Sozialen Ökologie, die gesellschaftlich kommunizierten Probleme wahrzunehmen, in Theorieprobleme zu transformieren, Lösungen zu finden, und diese wieder anschlussfähig an alltägliche Kontexte zu machen. Ein Problem kann in dieser Perspektive als »gelöst« gelten, wenn die Inkongruenzen von Absichten und Folgen in der Alltagspraxis abgeschwächt oder aufgelöst worden sind, oder aber zumindest auf andere Problemlagen verwiesen worden ist, die mit der (Un-)Lösbarkeit des in Frage stehenden Problems zu tun haben (Jahn/Keil 2006b, 312f.). Entscheidend für die Lösbarkeit ist dabei, dass bereits die (theoretische) Forschungsarbeit die Alltagsanwendung am Ende im Blick hat und Beschränkungen, spezielle Alltagslogiken etc. akzeptiert (ebd., 313). Es müssen also die »spezifischen Restriktionen, Interessen und Definitionen der in der institutionellen Praxis vorgefundenen Probleme in Form epistemischer Elemente innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin reproduziert« werden (Jahn/Keil 2006b, 313). Besonders der zuletzt genannte Aspekt verweist darauf, dass die Orientierung an alltäglichen Problemen nicht als Abkehr von innerwissenschaftlichen Problemstellungen gedeutet werden darf, sondern dass mit einem so verstandenen Forschungsprogramm auch die Genese (rein) theoretischer Fragestellungen verbunden ist. Soziale Ökologie versteht sich in diesem Sinne nicht, oder nicht ausschließlich als empirisch orientierte Auftragsforschung, sondern generiert aus konkreten empirischen Problemlagen (auch) theoretische Grundsatzfragen. In diesem Sinne bedeutet (sozial-ökologische) Transdisziplinarität, von einem nicht wissenschaftlich-disziplinär geordneten Alltag auszugehen und aus den Irritationen disziplinären Denkens wissenschaftliche Fragestellungen zu erstellen. Die bisherige Darstellung der Sozialen Ökologie lässt sich folgendermaßen resümieren: Der Frankfurter Ansatz versucht auf der Grundlage einer sozialkritischen Gesellschaftsdiagnose eine Vermittlungsposition zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Ansätzen zur Analyse der ökologischen Krise zu etablieren. Ziel dieser Vermittlungsposition ist, naturalistische oder kulturalistische Reduktionen auszuschließen. In Bezug auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur gehen die sozial-ökologischen Autor*innen einerseits von
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einer Unterscheidbarkeit beider Bereiche aus, konstatieren jedoch zugleich die Einheit der Forschungsobjekte gesellschaftliche Naturverhältnisse bzw. sozialökologische Systeme. Diese Spannung zwischen dem Differenz- und Einheitsdenken spiegelt sich auch im Wissenschaftsverständnis der Sozialen Ökologie wider, das zwischen einem auf Trennbarkeit von Bereichen abhebenden Interdisziplinaritätsdenken und einem auf Neukonstituierung von Gegenständen und Disziplinen gerichteten Transdisziplinaritätsanspruch changiert. Trotz dieser Uneindeutigkeiten lässt sich am Ansatz der Sozialen Ökologie zunächst einmal würdigen, dass mit der Verbindung theoretischer Reflexion und Orientierung an Alltagsproblemen ein Ausweg aus den mitunter stark verfahrenen Theoriedebatten gesucht wird (vgl. z.B. Janowicz 2011, 24ff.). Auch die grundlegende Position, eine nicht einfach aufzulösende Hybridität gesellschaftlicher Naturbezüge anzunehmen, erscheint angesichts naturwissenschaftlich dominierter Debatten über die ökologische Krise sinnvoll. Darüber hinaus zeigt sich der Ansatz durch die Idee pluraler Naturverhältnisse, d.h. die Kritik der Auffassung, »dass Gesellschaften nur durch ein spezifisches Naturverhältnis gekennzeichnet sind« (Kraemer 2008, 141), sowie die Konzentration auf empirisch konkrete Forschung sensibel für die verschiedenen Kontexte, in denen Bezüge von Gesellschaft und Natur hergestellt werden. Probleme des sozial-ökologischen Ansatzes Allerdings weckt die Form, in der die Soziale Ökologie diese empirische Orientierung umzusetzen sucht, Zweifel. So hat es den Anschein, dass die Soziale Ökologie – ganz entgegen ihrer eigentlichen Intention – auf einem unterschwelligen Realismus gründet. Dies deutet sich einerseits in der Frage nach dem Status sozial-ökologischer Systeme an, andererseits in der Frage, wie alltägliche Probleme in der Sozialen Ökologie zu wissenschaftlichen Problemen werden. Wie oben skizziert wurde stellen sozial-ökologische Systeme das konkrete Forschungsobjekt der Sozialen Ökologie dar. Sie sind der Ort, an denen Kopplungen zwischen Gesellschaft und Natur, oder eben: gesellschaftliche Naturverhältnisse für den Forschungsansatz greifbar werden. Welchen Status weisen diese Entitäten jedoch auf? In gut konstruktivistischer Manier heben die Autor*innen der Sozialen Ökologie zunächst hervor, dass die von ihnen untersuchten Phänomene Ergebnisse wissenschaftlicher Reflexion – d.h. hier: Übersetzungs- oder Interpretationsleistungen aus dem Alltag in Wissenschaft – seien. Exemplarisch hierzu betonen Becker et al. (2006, 177): »Gesellschaftliche Naturverhältnisse [und die sie konkretisierenden sozial-ökologischen Systeme; K. G.] sind nicht einfach wie stinkende Müllhalden und überlastete Autobahnen in der sinnlichen Erfahrung gegeben. Man braucht eine theoretische Brille und Abstraktionskraft, um sie zu erkennen«.
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Erst der voraussetzungsvolle sozial-ökologische Blick kann demnach die gesellschaftlichen Naturverhältnisse erfassen und macht eine Beschreibung alltäglicher Phänomene als ökologische Pathologien möglich (Becker et al. 2006, 177). Allerdings zeigt sich in der eben zitierten Textstelle eine Schwierigkeit mit der sozial-ökologischen Sprache von gesellschaftlichen Naturverhältnissen und Systemen. Wenn behauptet wird, gesellschaftliche Naturverhältnisse könnten nur in theoretischer Perspektive erkannt werden und bestehende Beziehungsgeflechte würden repräsentiert oder beschrieben, so scheint die an anderer Stelle engagiert vertretene konstruktivistische Grundposition der Sozialen Ökologie gerade hier nicht konsequent eingehalten zu werden. Genauer: Der sozial-ökologische Blick scheint hier bereits vorauszusetzen, was er erst wissenschaftlich zu konstruieren vorgibt – die systemhafte, relationale Verfassung der Welt. Interessanterweise scheinen sich die Autor*innen der Sozialen Ökologie über dieses Problem auch im Klaren zu sein: »Einen Realitätsbereich als System zu beschreiben«, betonen Liehr et al. (2006, 270), »ist eine starke ontologische Annahme: Sein Systemcharakter wird bereits unterstellt, bevor er überhaupt nachgewiesen ist«. Zwar wird im selben Abschnitt hervorgehoben, dass es sich bei den Systemen ›nur‹ um Werkzeuge handele (ebd., 280), sie fallen jedoch andererseits immer wieder in realistische Terminologien zurück. So kann bereits die zitierte, als Verteidigung einer konstruktivistischen Sicht gemeinte Aussage als unterschwellig realistisch argumentierend interpretiert werden – die Rede von einem Nachweis eines Systemcharakters deutet jedenfalls darauf hin. Zum anderen indiziert auch die Idee von »Modellen von Systemen« (Liehr et al. 2006, 280), dass Systeme im sozial-ökologischen Denken eben nicht als mit (konstruierten) Modellen identisch angesehen werden, sondern dass zumindest ein Restbestand der Idee ›real existierender‹ Systeme die sozial-ökologische Forschungspraxis leitet. Darauf weist ebenso die Vorstellung von einer räumlichen Grenze sozial-ökologischer Systeme (ebd., 269) hin. Es wird insgesamt also nicht konsequent von Konstruktion sozial-ökologischer Systeme statt deren Repräsentation gesprochen, sodass die Stellung der Sozialen Ökologie in Bezug auf den Status ihres Gegenstands aller begrifflichen Bemühungen zum Trotz uneindeutig bleibt. Könnte man dies vielleicht noch als ein lediglich terminologisches Problem betrachten, das jedoch nicht die generelle Ausrichtung der Sozialen Ökologie betrifft, deutet mit der Orientierung an gegebenen gesellschaftlichen Problemen noch ein weiterer Aspekt auf das schwierige Verhältnis der Sozialen Ökologie zu konstruktivistischen Positionen hin. Die Schwierigkeit nimmt ihren Ausgang dabei in der Unterscheidung von Wissenschafts-internen und Wissenschaftsexternen Problemen. Als interne Probleme werden all diejenigen Probleme aufgefasst, die sich aus ›rein‹ wissenschaftlichen, theoretischen Fragestellungen ergeben. Als externe Probleme hingegen werden Probleme bezeichnet, die außerhalb der Sphäre der Wissenschaft ent- und bestehen. Gemeint sind technisch-praktische, ›reale‹ Probleme im Sinne von: lebensweltlich relevant, unabhängig ihrer wissenschaftlichen Anerkennung (Schäfer 1999, 67, 74). Diese Unterscheidung scheint dabei zugleich eine Hierarchisierung zu enthalten: Während Wissenschafts-interne Fragen bloß für einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich relevant sind, sind
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externe Probleme von größerer Wichtigkeit – sie betreffen das gesellschaftliche Leben in einem (scheinbar) stärker existenziellen Sinn. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn externen Problemen eine mitunter enorme Wirkung auf die Sphäre der Wissenschaft unterstellt wird. Wie Schäfer etwa – ganz im Ton der Inter- und Transdisziplinaritätsverfechter – betont, üben die »realen, externen Probleme, vor die die Wissenschaften, und gerade die hochspezialisierten, gestellt sind, […] einen integrativen, ja totalisierenden Zwang aus, der gegen die Spezialisierungstendenz der Wissenschaften gerichtet ist und zu einem neuen Typus von Wissenschaftseinheit führt« (verändert nach Schäfer 1999, 70).
Als Grund für diesen auf die Wissenschaft ausgeübten Anpassungsdruck werden häufig moralische Motive angegeben. Aus der Bedrängung durch die »realen« Probleme erwächst, z.B. in der ökologischen Krise, die Frage nach »verantwortbaren […] [und] unverantwortlichen Handlungsweisen des Menschen gegenüber der Natur«, zu deren Klärung die Wissenschaften beizutragen haben (Schäfer 1999, 74, 82). So nachvollziehbar diese Orientierung an »realen« Problemen sein mag, sie birgt freilich einige Schwierigkeiten. Auffällig werden diese, wenn man die Frage nach dem Status dieser externen Gegenstände stellt. Hier gibt es zwei Optionen: Einerseits können externe Probleme als schlichtweg gegeben angenommen werden, als Herausforderung der Wissenschaft, die ihr aber letztlich äußerlich bleibt (auch wenn es zur Lösung der Probleme der Übersetzung in wissenschaftliche Konzepte bedarf). Andererseits aber können die externen Probleme auch zunächst – vor allen konkreten Lösungsbemühungen – als gesellschaftliche Konstrukte aufgefasst werden, die nicht voraussetzungslos existieren. Was ein Problem ist, hängt in dieser zweiten Perspektive davon ab, ob ein entsprechender Sachverhalt gesellschaftlich als Problem thematisiert wird oder werden kann. Wie Kitsuse und Spector in einem viel diskutierten Aufsatz über die Genese sozialer Probleme betonen, bedarf es dazu eines bestimmten sozialen Settings: »The emergence of a social problem, then, is contingent on the organization of group activities with reference to defining some putative condition as a problem, and asserting the need for eradicating, ameliorating, or otherwise changing that condition. […] The existence of social problems depends on the continued existence of groups or agencies that define some condition as a problem and attempt to do something about it« (Kitsuse/Spector 1973, 415).
Übertragen auf (sozial-)ökologische Problemlagen bedeutete dies, die ökologische Krise nicht allein in einem technischen Sinne zu betrachten, d.h. nicht nur die gegenständliche oder sozialtechnologische Dimension der Krise zu erforschen. Worum es stattdessen auch gehen kann – und gehen sollte –, ist die Frage nach der Genese der ökologischen Krise als Krise, oder anders gesagt: die kommunikativen und kognitiven Bedingungen der Erfahrbarkeit einer ›ökologischen Problemlage‹.69 Wie bereits darauf hingewiesen wurde, lässt sich dieser Aspekt mit Niklas Luhmann (2004[1986], 46) als Frage nach den Begriffen und Unterscheidungen, mit denen Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Kommunikation die ökolo69
Zu dieser Formulierung vgl. Krohn (1997, 132).
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gische Krise bearbeitet, fassen. Mit dieser Perspektive ist eine Abkehr von der naiv zu nennenden Vorstellung impliziert, es gebe ›bedrohliche‹ Tatsachen ›einfach so‹ in der Lebenswelt (ebd., 31). Stattdessen sei es notwendig, die Konditionen zu fokussieren, unter denen ›externe Probleme‹ überhaupt als Probleme bestehen. Eine kritische Fokussierung dieser gesellschaftlichen Problematisierung erlaubte nicht nur, alltagsweltliche Kategorien sozialwissenschaftlich zu reflektieren und sich als Wissenschaft damit gegen Formen der Naturalisierung bestmöglich zu immunisieren, sondern sie wäre überhaupt erst ein theoretisch konsequentes sozialwissenschaftliches Vorgehen. In genau dieser Hinsicht bleibt die Soziale Ökologie jedoch seltsam unbestimmt. Mit ihrem spezifischen Transdisziplinaritätsverständnis – als Orientierung an in der Praxis vorgefundenen Problemen – bindet sich die Disziplin an eine außerwissenschaftliche Definition ihres Gegenstandes, ohne dessen Genese systematisch in den Blick zu nehmen. Dies wirkt vor allem irritierend, hält man sich die kritisch-theoretische Wissenschaftskritik sowie den konstruktivistischen Stil der sozial-ökologischen Grundlagentexte vor Augen. Hier heißt es, disziplinäre Einteilungen und die daraus folgenden wissenschaftlichen Traditionen seien Ergebnis machtgeladener Aushandlungsprozesse. Diese reflexive Perspektive wird jedoch an genau jenem Punkt verlassen, der die Fundierung der Sozialen Ökologie darstellt: die Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Naturbezüge. Der Problembestand wird hier schlicht vorausgesetzt und nicht als Ergebnis ebensolcher Unterscheidungs- und Bestimmungspraktiken betrachtet, wie sie bei der NaturGesellschaft Unterscheidung am Werk sind. Das heißt, im Rahmen der (wissenschaftlichen) Bearbeitung der Krise wird innerhalb der Sozialen Ökologie konstruktivistisch argumentiert, aber der Anstoß des Programms und die Konstante dahinter ist aus ihrer Sicht ein ›reales‹ oder ›objektives‹ Problem. Diese Diskrepanz scheint ein im Rahmen konstruktivistischer Sozialforschung oft zu beobachtenden Problems zu sein. Die Wissenschaftssoziolog*innen Steve Woolgar und Dorothy Pawluch bezeichnen einen solchen selektiven Konstruktivismus als »ontological gerrymandering«, d.h. die willkürliche Setzung bzw. das unsystematische Einhalten konstruktivistischer Prämissen (Woolgar/Pawluch 1985a, 216f.; vgl. Woolgar/Pawluch 1985b).70 Am Beispiel der konstruktivistisch orientierten Sozialforschung der 1970er und 80er Jahre zeigen die beiden Autor*innen, dass zwar die Objekte dieser Forschung als in sozial-kommunikativen Zusammenhängen konstruierte Gegenstände behandelt werden, die eigenen Aussagen der Forscher jedoch nicht als ebenso kontingent und an sozialen Konstruktionsprozessen beteiligt ausgewiesen werden: »They apply relativism to the definitional activities of others, but fail to consider its relevance for their own explanatory formulations« (Woolgar/Pawluch 1985b, 159). Ein solches Vorgehen scheint implizit anzunehmen, dass (Sozial-)Wissenschaften einen ›unmittelbareren‹ Zugang zu den empirischen Phänomenen haben. So suggeriert das Vorgehen der Sozialen Ökologie, dass diese ›objektiv‹ die Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse feststellen könne, während sie in ihrer wissenschaftlichen 70
Der Hinweis auf Woolgar/Pawluch geht auf Groß (2006, 117) zurück.
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Bearbeitung auf den sozialen Charakter des ökologischen Diskurses und der ökologischen Praktiken verweist. Bereits in den Gründungsschriften der Sozialen Ökologie lässt sich eine solche problematische Denkweise beobachten. So unterstellt z.B. Thomas Jahns frühe Kritik an Luhmanns theoretischer Position eine Ignoranz der »historischen Aktualität« der ökologischen Krise, die auf einer »Marginalisierung der stofflichmaterialen Seite« von Gesellschaft beruhe (Jahn 1991, 12). Und später betonen die Schlüsseltexte der Sozialen Ökologie eindringlich: »Die ökologische Krise verändert zwar ständig ihre Formen, durch Wegsehen lässt sie sich aber nicht zum Verschwinden bringen. Ihre bloße Existenz zwingt dazu, sämtliche gesellschaftlichen Aktivitäten mit einem neuen Blick zu betrachten« (Becker/Jahn 2006a, 12). Mit solchen Argumentationen bewegen sich die sozial-ökologischen Autor*innen in einem Diskursfeld, das gegenwärtig Konjunktur erfährt. Texte wie Jared Diamonds Bestseller »Kollaps«, auf den sich Becker et al. (2006, 192) sowie Janowicz (2011, 34f.) sogar explizit beziehen, verweisen dabei – auf zweifelhafter argumentativer Basis – auf die Faktizität gegenwärtiger ökologischer Bedrohungen und den daraus entstehenden Handlungsdruck. Diamond etwa skizziert das Szenario eines drohenden »Ökozids«, d.h. eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs als Konsequenz des erfolglosen Versuchs der Naturbeherrschung (Diamond 2006, 18, 20). Die Beschreibung und Erklärung dieses gesellschaftlichen Kollapses geht dabei auf die klassische ökologische Frage der angemessenen Anpassung von (Pflanzen-, Tier- und menschlichen) Gesellschaften an natürliche Bedingungen zurück. Der Grund eines möglichen gesellschaftlichen Zusammenbruchs ist diesem Denken zufolge eine »besondere Empfindlichkeit« der entsprechenden Naturräume und/ oder »mangelnde Klugheit« der betroffenen Gesellschaften (Diamond 2006, 26; vgl. ebd., 29). Solche darwinistischen, aus der traditionellen Geographie bekannten Argumentationen laufen letztlich darauf hinaus, dass die »gestaltende Kraft des Menschen« nicht im Widerspruch »zu den Gestaltungskräften des Raumes« stehen darf, um das Überleben der menschlichen Spezies zu sichern (Werlen/ Weingarten 2003, 199f.). Ohne die Soziale Ökologie nun mit solchen naturalistischen Argumentationen vorschnell gleichzusetzen ist mit ihrer Nähe dazu dennoch angedeutet, worin das Problem mit einem unterschwelligen Realismus der Umweltforschung besteht. Es besteht darin, dass aus den Beschreibungen einer scheinbar objektiven ›Sachlage‹ normative Urteile in Form von praktischen Handlungsempfehlungen folgen. Wie oben dargestellt wurde solle die Soziale Ökologie Handlungswissen zur gelingenden Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse bereitstellen, »damit ein menschenwürdiges Leben möglich ist und der gesellschaftliche Lebensprozess intergenerativ fortgesetzt werden kann« (Becker 2003, 186; vgl. Becker/ Jahn 2003, 93). Weder die Basis jedoch, auf der diese Forderung formuliert wird (die ökologische Krise) noch die Form ›angemessener‹ Naturverhältnisse sind, wie die Soziale Ökologie suggeriert, voraussetzungslos gegeben. Wenn mit »gelingender Regulation« der gesellschaftlichen Naturverhältnisse mehr als eine ›rein‹ biologische Existenzsicherung gemeint ist (die selbst schon kaum zu bestimmen ist, ohne sich in definitorische Schwierigkeiten zu begeben), dann muss eine konse-
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quent sozialwissenschaftlich argumentierende Disziplin auch Kriterien dafür angeben, welche Gesellschaft(sform) erhalten werden solle, und angesichts welcher Gründe. Die Formulierung normativer Aussagen allein auf Basis der als Faktizität präsentierten Krise ist jedenfalls problematisch, weil in ihr stetig soziale Kategorien – wie etwa ein »menschenwürdiges Leben« – mit kausalen Kategorien – physisch-materielle Prozesse – vermischt werden und damit die Gefahr eines Imports naturwissenschaftlicher Argumente in die Sozialwissenschaften bzw. den Bereich des sozialen Handelns besteht. Auch wenn die Vermeidung solcher Gefahren mit schwierigen wissenschaftstheoretischen Fragen nach dem Status konstruktivistischer Erklärungen usw. konfrontiert ist (vgl. z.B. Best 2006, 25ff.), lässt sich dennoch grob skizzieren, an welchen Punkten eine sozialwissenschaftliche Thematisierung der ökologischen Krise sinnvollerweise anzusetzen hat. Trägt sie der Annahme Rechnung, dass die von ihr bearbeiteten Probleme sozial konstruiert sind, d.h. in sozialen Aushandlungsprozessen entstehen, muss sie sich selbst auch als Teil ihres Gegenstandes begreifen. Konsequenterweise ist demnach eine reflexiv-konstruktivistische Sozialforschung gefragt (Woolgar/Pawluch 1985b, 162). In Bezug auf die Soziale Ökologie bedeutete dies, die ökologische Krise als Ergebnis – oft subtiler, nicht koordinierter, machtgeladener – sozialer Aushandlungsprozesse (vgl. Beck 1986, 25ff.) zu verstehen, und darüber hinaus die Prämissen der eigenen Zugänge sowie die Veränderung des Gegenstands durch das wissenschaftliche Tun systematisch zu reflektieren. Als Gegenargument gegen solche Forderungen wird oft betont, dass mit einer Wende zur Selbstreflexivität das gesellschaftliche Interventionspotenzial von Sozialwissenschaft gefährdet sei und sie sich damit auf eine »abstrakte LehnstuhlSoziologie« reduziere (Best 2006, 26; Groenemeyer 1999, 50; vgl. May 2005, 51). Auch die sozial-ökologischen Autor*innen argumentieren ähnlich, indem sie etwa ihre Disziplin als pragmatisch orientierte Reaktion auf »theoretische Blockaden« beschreiben (z.B. Jahn 1991; Becker/Jahn 2006d, 66ff.; Janowicz 2011, 24ff.). Hier wird der Anschein erweckt, dass das Bemühen um erkenntnistheoretische Kohärenz einer Anschlussfähigkeit an Alltagshandeln, z.B. in politischer Praxis, entgegenstehe. Ironischerweise scheint aber genau eine solche – wenn auch pragmatisch motivierte – Ausblendung der Gegenstandskonstitution diejenigen Denkweisen zu reproduzieren, die auch zur Entstehung der ökologischen Krise geführt haben: Die Fokussierung von Natur ›an sich‹ statt von Sozialem.
Zusammenfassung: Soziale Ökologie als Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen Als Bilanz der Sozialen Ökologie kann an dieser Stelle festgehalten werden: Bei dem Frankfurter Modell handelt es sich um einen Ansatz, der in sehr ehrgeiziger Weise die Schwierigkeiten der bisherigen sozialwissenschaftlichen Umweltforschung zu beheben versucht. Auch wenn die Soziale Ökologie dabei mit einer problematischen Hintergrundannahme operiert und bestimmte interne argumen-
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tative Probleme aufweist, sind mit dem Ansatz dennoch die theoretischen Fragen benannt, denen sich eine sozialwissenschaftlich informierte Erforschung der gesellschaftlichen Naturbezüge stellen muss. Diese Fragen kreisen letztlich um das Problem des Verhältnisses von Materiellem, Sinn und Sozialem. Hervorzuheben ist als sozial-ökologischer Lösungsversuch dieser Fragen dabei besonders das Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Hält man sich an die allgemeinen theoretischen Grundaussagen, die in der Sozialen Ökologie dazu formuliert werden, erlaubt die Idee gesellschaftlicher Naturverhältnisse einerseits eine Betonung der Eigenlogik der Bereiche des Sozialen und Naturalen, ohne dabei jedoch von einer strikten Trennung von Sphären auszugehen. Diese (dialektische) Vermittlungsposition macht allerdings nicht nur die Stärke und Attraktivität des Konzepts aus, sondern zugleich auch seine Schwäche. So sind die forschungspragmatischen Präzisierungen des Frankfurter Ansatzes bislang wenig überzeugend. Vor allem der Bezug auf allgemein systemtheoretische Konzepte weckt Zweifel darüber, ob die konkrete sozial-ökologische Forschung über bisherige Ansätze der Umweltforschung substanziell hinauszugehen vermag. Die dazu referierten Texte jedenfalls legen eher einen vergleichsweise konventionellen Forschungszugang nahe. Ob dies auf theoretische oder rhetorische Zugeständnisse an die naturwissenschaftliche Seite der inter-/transdisziplinären sozial-ökologischen Forschung zurückzuführen ist oder von Beginn an ein konzeptionelles Problem der Sozialen Ökologie darstellt(e) scheint dabei letztlich bedeutungslos zu sein.71 Dennoch: Der generellen Stoßrichtung der sozial-ökologischen Forschung ist gewiss zuzustimmen. Für eine auf ihren Prämissen aufbauende, eigene Perspektive ist jedoch erstens stärker zu thematisieren, wie die Spannung zwischen Differenz und Einheit von Gesellschaft und Natur begrifflich präzise(r) gefasst werden kann; zweitens muss die Reflexion der Gegenstandskonstitution (die ökologische Krise) systematisch einbezogen werden; und drittens schließlich ist es erforderlich konzeptionell präziser auszuarbeiten, worauf sich die Forschung empirisch richten soll – die bislang vorgeschlagenen Forschungszugänge schwanken hier etwas unsystematisch zwischen »Bedürfnisfeldern«, »Handlungsbereichen« und »Themenfeldern« (Becker/Jahn 2006c, 341).
Zwischenfazit Welcher Denkrahmen wird nun mit den Konzepten der Sozialen Ökologie für eine Analyse des gesellschaftlichen Klimawandels eröffnet? Welche Fragen kommen mit ihr – unabhängig davon, ob sie überzeugende Antworten generiert – auf die Agenda? Zunächst einmal lässt sich der Frankfurter Ansatz im Rückblick auf die oben dargestellte Forschungstradition der Humanökologie als eine Fortführung des ökologischen Grundgedankens charakterisieren. Auch die Soziale Ökologie thematisiert die bio-physische Einbettung der menschlichen Lebensvollzüge, 71
Zur Beantwortung der Frage wären eingehendere Studien sozial-ökologischer Forschungsberichte notwendig.
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dies stellt bei ihr im Vergleich zu anderen aktuellen Ansätzen sogar ein starkes Moment dar. Sie macht darüber hinaus ebenfalls auf den Doppelstatus des Menschen aufmerksam und erarbeitet mit dem Konzept der gesellschaftlichen Naturverhältnisse einen nichtreduktionistischen Erklärungsansatz. Was mit der Sozialen Ökologie sehr viel stärker in den Mittelpunkt gerückt wird als in den anderen bislang dargestellten Konzeptionen sind einerseits der Alltag bzw. die Alltagserfahrungen, andererseits die Rolle konkreter gesellschaftlicher Lagen bzw. der gesellschaftlichen Einbettung des Alltagshandelns.72 Mit dem erstgenannten Aspekt wird der Gedanke etabliert, dass es Alltagshandlungen sind, die – wenngleich häufig erst in akkumulierter Form sichtbar – die gesellschaftlichen Naturverhältnisse etablieren, aufrecht erhalten, herausfordern und/oder transformieren. In den Alltagshandlungen wird demnach die materielle Welt umgearbeitet und verfügbar gemacht sowie sich symbolisch (als »Natur«) angeeignet. Und es sind ebenso Alltagserfahrungen, an denen eine Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Naturverhältnisse festgemacht werden kann. Erst wenn, salopp gesprochen, bestimmte Dinge nicht mehr ›klappen‹, wenn Ziele nicht verwirklicht werden können, systematisch unbeabsichtigte Handlungsfolgen auftreten, Erwartungsmuster nicht mehr erfüllt und Routinen unterbrochen werden, ist die Rede von einer Krise – wie etwa dem gesellschaftlichen Klimawandel. Auch wenn die Texte der Sozialen Ökologie mitunter unklar darüber bleiben, was das konkrete Untersuchungsobjekt ihrer Forschungspraxis sein soll (sozial-ökologische Systeme, Handlungen etc.), ist mit dem Hinweis auf die empirisch konkrete Alltagswelt ein entscheidender Zugangspunkt zum Verständnis gesellschaftlicher Naturverhältnisse und ihrer Krise benannt. Der zweite durch die Soziale Ökologie hervorgehobene Ansatzpunkt, die Gesellschaftlichkeit alltäglicher und wissenschaftlicher Praxis, verdeutlicht, warum bewusst von einer Sozialen Ökologie die Rede ist. Ob man den kapitalismuskritischen Unterton des Frankfurter Ansatzes teilt oder nicht, das dahinter liegende allgemeine Postulat ist für den hier zu entfaltenden Gedankengang von eminenter Bedeutung: Ohne ein Verständnis der jeweils spezifischen gesellschaftlichen Formation können auch die jeweils spezifischen gesellschaftlichen Naturverhältnisse nicht angemessen erforscht werden. Diese Auffassung betont zum einen, dass die alltägliche Praxis nicht beliebig ist, sondern bestimmten gesellschaftlich etablierten Mustern folgt, strukturellen Zwängen – bzw. als solchen erlebten Handlungsbedingungen – unterliegt und in ein normatives System eingebettet ist. Sie hebt zum anderen hervor, dass auch die Wissenschaft (als Wissenschaft der Natur oder Reflexion sozialer Praxis) als ein wertgeladenes, gesellschaftliches Projekt aufzufassen ist. Wie nicht voraussetzungslos zu sagen ist, was Natur und was Nicht-Natur oder Kultur ist, sind auch die Gegenstandsbereiche 72
Wobei diese Themen durchaus in den jüngeren Ansätzen humanökologischer Forschung – etwa in der Geographie – verhandelt werden. Interpretiert man den Terminus »Humanökologie« nicht disziplinär oder institutionell, sondern (wie oben vorgeschlagen) vor allem als eine bestimmte Denkweise oder einen bestimmten Forschungsbereich, dann lässt sich auch der skizzierte Ansatz der Sozialen Ökologie als humanökologisches Projekt darstellen.
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der Wissenschaften diesem Argument gemäß nicht als gegeben zu begreifen, sondern als Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse. Dass diese Aushandlungsprozesse dabei nicht nur innerwissenschaftlicher Art sind, darauf macht der Umstand aufmerksam, dass sie häufig durch ›externe‹ gesellschaftliche Vorgaben – wie etwa die Förderung inter- und transdisziplinärer Forschungsprojekte – beeinflusst werden. Mit diesem Verweis auf die Gesellschaftlichkeit ist angedeutet, dass die wissenschaftliche Erforschung gesellschaftlicher Naturverhältnisse konsequent als Teil ihres eigenen Untersuchungsbereichs anzusehen ist. Wissenschaften sind in diesem Sinne als gesellschaftlich wirksam aufzufassen. Unabhängig davon, ob sie, wie von der Sozialen Ökologie vorgeschlagen, direkten Einfluss auf die Regulation gesellschaftlicher Naturverhältnisse nehmen, oder ob sie indirekt durch die Bereitstellung von Information (typischen Erklärungsmustern, einschlägigen Definitionen etc.) zu ›Umweltthemen‹ Stellung beziehen, tragen sie dazu bei, einen bestimmten Handlungs- und Erfahrungsraum des Alltags herzustellen (vgl. Viehöver 2011, 673). Das Verhältnis der alltäglichen Reproduktion gesellschaftlicher Naturverhältnisse und ihrer wissenschaftlichen Erforschung ist in diesem Sinne als rekursiv zu charakterisieren. Für die weitere Argumentation wird vorgeschlagen, den sozial-ökologischen Gedanken einer Fokussierung des Alltags systematisch aufzunehmen und theoretisch auszubauen. Entgegen der in dieser Hinsicht nicht konsequent argumentierenden Sozialen Ökologie soll im nächsten Schritt als Untersuchungsobjekt die alltägliche Praxis, d.h. das Alltagshandeln in den Blick genommen werden. Einen sinnvollen Zugang dazu bietet die handlungszentrierte Sozialgeographie. Mit ihr wird ein Interpretationsangebot unterbreitet, welches das in vielen anderen alltagszentrierten Ansätzen eher lose verwendete Konzept des Handels sozialtheoretisch ausbuchstabiert. Handlungszentrierte Sozialgeographie Die Behandlung der Beziehungen Gesellschaft und Natur kann als eines der grundlegenden Themen der wissenschaftlichen Geographie betrachtet werden. Wie bereits im Abschnitt zur »Dritten Säule« der Geographie dargestellt wurde, begreift sich die Geographie als eine Wissenschaft, die besondere Potenziale zur Untersuchung gesellschaftlicher Naturverhältnisse besitzt. Während im Kontext humanökologischer Denkweisen argumentiert wird, dass weder die Physische von Geographie noch die Humangeographie für sich (oder in einer bloß nebeneinander erfolgenden Forschung) einen angemessenen Zugang zu diesem Gegenstand entwickeln können, soll im folgenden Abschnitt die Frage im Mittelpunkt stehen, inwiefern eine integrative Perspektive bereits in einem handlungstheoretisch gewendeten human- oder sozialgeographischen Denken angelegt ist bzw. daraus entwickelt werden kann. Ins Blickfeld gerät damit ganz konkret der Ansatz einer »Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen« (Werlen 1999) sowie dessen Weiterentwicklung zur Erforschung »gesellschaftlicher Raumverhältnisse« (Wer-
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len 2010, 321ff.). Die beiden Perspektiven bieten, so die These, einen adäquaten Ausgangspunkt zur Untersuchung gesellschaftlicher Naturverhältnisse. In einem ersten Schritt soll in diesem Kapitel skizziert werden, vor welchem fachhistorischen Hintergrund die Thematisierung gesellschaftlicher Naturbezüge in der handlungszentrierten Sozialgeographie erfolgt. Dazu wird kurz umrissen, in welcher Weise Natur in der Disziplingeschichte thematisiert wurde und welche Beziehungen zwischen ›Naturfragen‹ und den in der modernen Geographie populäreren ›Raumfragen‹ bestehen. Im darauf folgenden Abschnitt werden die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der handlungszentrierten Sozialgeographie rekonstruiert. Ankerpunkte sind hierbei die Begriffe des Handelns, der Struktur und der Strukturierung. Auf Grundlage dessen werden in einem nächsten Schritt die Bedeutung und Probleme von Raum bzw. Räumlichkeit in einer tätigkeitszentrierten Konzeption zum Gegenstand gemacht, um anschließend die Perspektive einer auf gesellschaftliche Raumverhältnisse gerichteten geographischen Gesellschaftstheorie zu skizzieren. Wie in einer solchen sozialgeographischen Perspektive Fragen nach Natur aufgehoben sind, ist schließlich Gegenstand eines abschließenden Argumentationsstrangs.
Natur, Raum und (Sozial-)Geographie Die Frage nach gesellschaftlichen Naturbezügen innerhalb eines sozialgeographischen Analyserahmens zu betrachten bedeutet zunächst einmal, die Frage nach »Natur« im Horizont der Frage nach »Raum« oder präziser: »Räumlichkeit« und Gesellschaft zu betrachten. Damit ist keine grundsätzliche Veränderung der Frage impliziert, denn, wie Zierhofer und Baerlocher (2008, 89) betonen, »[…] was immer unter Gesellschaft und Raum verstanden werden mag, sind damit die Beziehungen zwischen Natur und Kultur, zwischen Gesellschaft und Umwelt, zwischen Geist und Materie, zwischen Bedeutung und Körper etc. angesprochen«. Allerdings lohnt es sich, die Verschiebung vor dem Hintergrund der geographischen Disziplingeschichte zu thematisieren, da mit der Umstellung von ›Naturfragen‹ auf ›Raumfragen‹ und schließlich auf Fragen der Räumlichkeit einige forschungslogische Entscheidungen verbunden sind, die bestimmte Möglichkeiten der Thematisierung von Natur eröffnen und andere ausschließen. Am Beginn der wissenschaftlichen Geographie steht als disziplinärer Gegenstand Natur.73 In der – vor allem mit den Namen Carl Ritter und Alexander von Humboldt verbundenen – Phase der wissenschaftlichen Etablierung der Geographie in der Mitte des 19. Jahrhunderts versteht sich die Disziplin als eine deskrip73
Die folgenden Ausführungen beziehen sich wesentlich auf den deutschsprachigen Kontext. Zwar kann in der Anfangsphase der wissenschaftlichen (d.h. westlich akademischen) Geographie von einer – mit aller Vorsicht formuliert – ›gewissen‹ Homogenität der Geographien der verschiedenen Diskursbereiche ausgegangen werden (wie etwa die geodeterministischen Argumentationen sowohl im deutschsprachigen als auch im angelsächsischen Bereich andeuten), jedoch entwickeln sich, hauptsächlich nach Sprachgemeinschaften differenziert, schließlich sehr heterogene Ansätze ›der‹ Geographie.
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tive Wissenschaft der Natur bzw. der menschlichen Anpassungsformen an Natur. Das »Kernparadigma« der traditionellen Geographie besteht dabei »aus einer Verbindung traditioneller Land-und-Leute-Beschreibung mit moderner Geschichtsphilosophie und vor allem mit bestimmten Philosophemen der Mensch-NaturBeziehung« (Hard 2002, 71). Konkret geht es der traditionellen Geographie darum, die regional differenzierten Symbiosen von Mensch und Natur als Verwirklichung der Humanität zu interpretieren, als Leben des Menschen, wie Ritter es im Anschluss an Johann Gottfried Herder formuliert, im »Wohn- und Erziehungshaus des Menschengeschlechts« (zit. in Hard 2002, 72). Auch wenn mit einer zunehmenden Orientierung an den Naturwissenschaften statt »Natur« die Kategorie des Raumes in den Vordergrund rückt, wie es etwa bei Friedrich Ratzel mit seiner Lebensraum-zentrierten Anthropogeographie prominent beobachtbar ist74, bleibt die Kategorie einer konkreten Natur bzw. eines konkreten NaturRaumes (bzw. bei Ratzel: Lebens-Raumes) hintergründig die Leitidee der traditionellen Geographie. Ihren wohl bekanntesten Ausdruck findet diese Naturbezogenheit im Konzept der Landschaft bzw. der Landschaftsgeographie. Landschaften als genuin geographisches Untersuchungsobjekt gelten diesem holistischen Forschungsprogramm nach als individuelle, einmalige Symbiosen von natürlicher Grundausstattung und menschlicher Anpassung bzw. Nutzung. In Fortführung des traditionell geographischen Denkens wird dabei – zumindest implizit – eine Passung von Natur und Mensch postuliert: »regionale Natur« und ein »zugehörige[r] homo regionalis« machen demnach die Landschaft aus (Hard 2002, 81). Die problematischen Implikationen eines solchen Denkens sind vielfach kritisiert worden, am eindrücklichsten vielleicht von Gerhard Hard, der die Vermischung physisch-materieller und sozial-kultureller Phänomene im altgeographischen Raum als »ontologischen Slum« bezeichnet (Hard 2008, 268). Spätestens zu Ende der 1960er Jahre wurde eine um den Landschaftsbegriff herum konzipierte Einheitsgeographie disziplinpolitisch dann auch zunehmend hinterfragt.75 Stattdessen rückte auf Seite der Physischen Geographie eine stärker abstrakt naturwissenschaftlich orientierte Forschung76 sowie auf Seiten der Humangeographie ein raumwissenschaftlich orientierter Ansatz (spatial approach) ins Zentrum der Subdisziplinen. Raumwissenschaftliche Forschung richtet das Augenmerk dabei auf die erdräumlichen Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster und sucht nach kau74
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Diese Verschiebung der Leitbegriffe wird bei Ratzel explizit als Ausweitung der Darwin/Haeckel’schen Biologie verstanden: »Der viel mißbrauchte und noch mehr mißverstandene Ausdruck Kampf ums Dasein meint eigentlich zunächst Kampf um Raum« (Ratzel 1901, 153). Die in der Fachgeschichte dafür gebräuchliche Chiffre lautet »Kiel 1969«. Ob mit dem Kieler Geographentag jedoch tatsächlich eine bruchhafte, auf ein singuläres Ereignis reduzierbare Wende hin zur quantitativen Geographie verbunden ist, dürfte mehr als fraglich sein (vgl. Michel 2014). Wenngleich die an der allgemeinen Systemtheorie orientierten Ansätze der Landschafts- und Geoökologie – trotz Abstrahierung und Mathematisierung – subkutan immer noch den ›alten‹ Holismusgedanken der Landschaftsgeographie weiter tragen. Das Ganze der Landschaft, der ästhetische Holismus, wird hier durch den Gedanken eines intakten systemischen Funktionszusammenhangs ersetzt (Gäbler 2008, 17).
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sallogischen Korrelationen bzw. sogenannten »Raumgesetzen« (Werlen 2008a, 189). Die konkrete Natur der traditionellen Geographie verschwindet dabei aus dem Blickfeld. Stattdessen werden im Kontext einer erdräumlichen Verortung und Relationierung materielle Zusammenhänge im Allgemeinen thematisiert (beispielsweise in der Frage nach der Verteilung und Erreichbarkeit von Infrastruktureinrichtungen). Auch mit dem raumwissenschaftlichen Ansatz können in letzter Instanz jedoch die problematischen Konsequenzen einer Vermischung von Wirklichkeitsbereichen nicht vermieden werden. Tritt hier an die Stelle der Landschaft als Lebensraum der formalisierte, topologische Raum der Lagebeziehungen, und wird der (platte) Naturdeterminismus durch die Erklärungsgröße der Distanz ersetzt, bleibt die grundsätzliche Logik dennoch eine »Geographie der Dinge und Orte« anstatt einer »Geographie der Subjekte« (Werlen 2010, 10f.). Den Umschwung zu einer stärker zwischen Sozialem, Mentalem und Physisch-Materiellem differenzierenden Perspektive, die weder den alltagsweltlichen Naturbegriff der traditionellen Geographie (Hard 2008, 279ff.) noch den »Raumfetischismus« des spatial approach (Belina 2008, 528f.) reproduziert, liefern schließlich handlungszentrierte Ansätze. Als Vorläufer dieser Theorierichtung kann die bereits in der Nachkriegszeit entwickelte Sozialgeographie Wolfgang Hartkes gesehen werden, in der eine stärkere Berücksichtigung der menschlichen Tätigkeiten zur Erforschung gesellschaftlicher Raum- und Naturbezüge gefordert wird (vgl. Hartke 1956; 1959; Werlen 2009, 151). Nach der Grundlogik dieses Ansatzes sollen erdräumliche Anordnungen durch Rückbezug auf gesellschaftliche Prozesse erklärt werden, materielle Konstellationen sind demnach als »Spuren« der Aktivität von Gruppen zu interpretieren (ebd.). Diesen Gedanken nehmen die in der deutschsprachigen Sozialgeographie seit Beginn der 1980er Jahre erarbeiteten (Weichhart 2008b, 248) handlungszentrierten Theorieansätze schließlich auf. Im Zentrum der handlungszentrierten Sozialgeographie stehen, wie anschließend noch genauer darzulegen sein wird, entsprechend nicht mehr »Räume«, sondern die »alltäglichen Praktiken des Geographie-Machens« (Werlen 2008b, 365). Der Ansatz ist von der Absicht geleitet, geographische Wirklichkeiten wie etwa »Regionen« oder »Naturräume« als »sinnhafte Wirklichkeiten« (Werlen 2010, 9) zu begreifen – und zwar nicht in Form der Landschaftshermeneutik der traditionellen Geographie, sondern im Sinne eines Nachvollzugs der alltäglichen (Re-)Produktionsprozesse dieser Wirklichkeiten.77 Eine solche Ausrichtung sozialgeographischer Forschung erfordert spezielle wissenschaftliche Bezugspunkte: Stehen alltägliche (Re-)Produktionsprozesse sozialer Wirklichkeiten im Fokus, so muss der geographische Blick auch sozialwissenschaftlich begründet sein (vgl. Werlen 2009, 146). Die aus der geographischen Disziplingeschichte verfügbaren Konzepte können diese Anforderung allerdings nur bedingt erfüllen. Entweder interessieren sie sich nur für die materiellen Konsequenzen, nicht jedoch für die Gründe menschlichen Tuns, oder aber mensch77
Gerhard Hard (2002, 79) beschreibt diesen Perspektivenwechsel in Bezug auf die Naturthematik als Wechsel des »ontologischen Aggregatzustand[s]«, in dem die »klassisch-geographische Natur […] Objekt einer Beobachtung zweiter Ordnung geworden« sei.
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liche Tätigkeit wird wesentlich auf Verhalten, d.h. die quasi mechanische Reaktion auf bestimmte Umweltreize, reduziert. Als Konsequenz dieserart Überlegungen orientiert Werlen seinen Entwurf der Sozialgeographie an etablierten soziologischen Handlungstheorien. Neben der Auseinandersetzung mit Vilfredo Pareto, Max Weber, Talcott Parsons oder Alfred Schütz (vgl. Werlen 1997[1987], 169ff.) ist die Bezugnahme auf die Theorie der Strukturierung des britischen Sozialtheoretikers Anthony Giddens am folgenreichsten für die handlungszentrierte Sozialgeographie (vgl. Werlen 1999, 79ff.; 2007, 127ff.). Mit Giddens’ Ansatz liegt für die sozialgeographische Neuausrichtung eine Theorie vor, die aufgrund ihrer Vermittlungsposition zwischen individualistischen und strukturalistischen Ansätzen nicht nur in besonderem Maße (sozial-)theoretische Attraktivität besitzt, sondern durch die Thematisierung räumlicher Aspekte des Handelns bereits Elemente sozialgeographischen Denkens aufweist. Gleichwohl enthält die Strukturationstheorie aus der Perspektive einer modernen Sozialgeographie gesehen einige problematische Argumentationslinien, die sich vor allem auf die Übernahme traditioneller Raumkonzepte aus der (dem skandinavischen Diskurskontext entstammenden) Zeitgeographie beziehen (Werlen 2007, 128). Im Folgenden werden einige Grundbestimmungen der Giddens’schen Strukturationstheorie sowie Werlens Umarbeitung dieser skizziert, die für den weiteren Gang der Argumentation von Belang sind. Es handelt sich dabei jedoch selbstverständlich nicht um eine umfassende systematische Darstellung bzw. Diskussion dieser beiden Entwürfe.
Einige Grundzüge der Strukturationstheorie Der Ankerpunkt strukturationstheoretischer Überlegungen ist der Begriff des Handelns (Werlen 2007, 128). Begrifflich ist dies zunächst zu unterscheiden von einer Fokussierung von Handlungen, denn nicht das einzelne, singuläre Ereignis der Handlung soll im Zentrum stehen, sondern stattdessen der kontinuierliche Fluss menschlichen Tuns (ebd., 134). Kern dieser dynamisierten Perspektive ist die Überzeugung, dass so etwas wie eine Handlung nur ex-post identifiziert werden kann: »›Handlungen‹ als solche«, konstatiert Giddens (1992, 54), »werden nur durch ein diskursives Moment der Aufmerksamkeit auf die durée durchlebter Erfahrung konstituiert«. Die Kontinuität dieses Handelns ist folglich auch das Untersuchungsobjekt handlungszentrierter Ansätze. Wie diese Auffassung verstanden werden kann, wird deutlicher, richtet man den Blick auf die Kernelemente Giddens’ strukturationstheoretischen Handlungskonzepts. Als solche identifiziert Werlen (2007, 134ff.) Intentionalität, Reflexivität und Sozialität. Intentionalität bezeichnet den Umstand, dass Handelnde bestimmte Absichten haben. Als »intentional« soll nach Giddens (1992, 61) eine Handlung gekennzeichnet werden, »von der der entsprechende Akteur weiß oder glaubt daß sie eine besondere Eigenschaft oder Wirkung hat und wo solches Wissen von ihm in Anschlag gebracht wird, um eben diese Eigenschaft oder Wirkung hervorzu-
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bringen«. Diese Bestimmung läuft darauf hinaus, eine zumindest analytische Trennung von beobachtbarem Tun und Absichten zu ermöglichen (ebd.). Handelnde mögen demzufolge zwar bestimmte Zwecke verfolgen, das Handeln insgesamt jedoch umfasst intentionale und nicht-intentionale Aspekte. Oder präziser formuliert: Durch das Tun werden Veränderungen in der Welt hervorgebracht, die sowohl beabsichtigt als auch unbeabsichtigt sind. Intentionalität darf dabei jedoch nicht als eine zeitlich vorgeordnete und permanent bewusste Zielorientierung missverstanden werden. Sie sei »a routine feature of human conduct, and does not imply that actors have definite goals consciously held in mind during the course of their activities« (Giddens 1979, 56; vgl. Werlen 2007, 135). Stattdessen müsse Intentionalität prozessual aufgefasst werden, d.h. nicht als einmal entworfene – und dann konsequent umgesetzte – Zielsetzung, sondern als (selbst-)reflexive Kontrolle (»reflexive monitoring«) des Tuns bzw. des Flusses des Handelns (Giddens 1979, 56). Diese Überprüfung des Handelns bezieht sich auf den zweiten von Werlen besonders hervorgehobenen Aspekt, die Reflexivität. Reflexivität ist nach Giddens (1992, 53) eine der zentralen Bedingungen dafür, überhaupt »[e]in menschliches Wesen zu sein«. Reflexiv kann das Tun der Agent*innen genannt werden, weil es, wie bereits angedeutet, eine dauerhafte Überprüfung oder Revision der Handlungsgründe beinhaltet (Giddens 1979, 57). Das bedeutet, dass Intentionen sich im Verlaufe des Handelns häufig verändern und situativ angepasst werden – und dass da, wo von Reflexivität und Handeln gesprochen wird, immer auch die Möglichkeit eines anders-Tuns bestehen muss (Werlen 2007, 136). Reflexivität kann daher als notwendige Bedingung dafür angesehen werden, überhaupt von Handeln zu sprechen. Als dritter wichtiger Aspekt schließlich muss Handeln als soziales Geschehen aufgefasst werden. So konstatiert Werlen (2007, 136), dass jedes Handeln sozialer Art sei. Damit ist gemeint, dass sich Handeln an Regeln orientiere und folglich als normatives sowie kommunikatives Geschehen aufzufassen sei (ebd.). Wie sehr das Handeln in soziale Kontexte eingebunden bzw. verstrickt ist wird deutlich, vergegenwärtigt man sich den enormen Umfang an Wissen, der notwendig ist, um als kompetenter Handelnder den sozialen Alltag zu bewältigen. Der Umstand, dass die Subjekte gewöhnlich »in der praktischen Durchführung sozialer Aktivitäten beträchtlich qualifiziert [sind]« Giddens (1992, 78) – d.h. dass die soziale Praxis erstaunlich problemlos abläuft – sollte also nicht darüber hinwegtäuschen, dass soziale Praxis letztlich enorm voraussetzungsvoll ist. Handeln kann zusammengefasst als sozial eingebettetes, intentional-reflexives Tun verstanden werden. Allerdings muss diese Darstellung eingeschränkt bzw. präzisiert werden. Mit Giddens’ Betonung der Reflexivität bzw. Intentionalität des Handelns sollte nämlich nicht der Eindruck entstehen, Handeln sei stets und umfänglich ein (direkt) bewusster Prozess. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass unbewusste und bewusste Elemente das Handeln beeinflussen. Zur Kennzeichnung der verschiedenen Elemente führt Giddens (1992, 57, 91ff.; vgl. Werlen 2007, 137) eine dreiteilige Unterscheidung von diskursivem und praktischem Bewusstsein sowie unbewussten Motiven (bei Werlen: »Unbewusstsein«)
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ein. Unbewusste Motive referieren – sehr grob gesprochen und Giddens’ elaborierte Auseinandersetzung mit Freud für den Moment außer Acht lassend – auf eine nicht zugängliche individuelle psychologische Substruktur, die gewöhnlich keine direkte Auswirkung auf das Handeln hat. Diskursives und praktisches Bewusstsein hingegen stehen in direktem Zusammenhang mit dem Handeln und bezeichnen im ersten Falle »[das], was gesagt werden kann«, und im zweiten Falle »[das], was charakteristischerweise schlicht getan wird« (Giddens 1992, 57). Nach diesem Konzept sind Handelnde einerseits in der Lage, Dinge zu tun und (diskursiv) darüber Auskunft zu geben, und andererseits befinden sie sich in einem Fluss von Routinen, die erst durch eine (nachträgliche) Operation gerechtfertigt oder begründet werden können. Besonders mit Blick auf die spätere Analyse umweltbezogenen Alltagshandelns ist wichtig hervorzuheben, dass Werlen davon ausgeht die Grenze zwischen diskursivem und praktischem Bewusstsein sei fliessend, sodass »dieses praktische Bewußtsein […] auf die Ebene des diskursiven Bewußtseins gehoben werden [kann]« (Werlen 2007, 139). Für das Handeln bedeutet dies nicht etwa, dass es Handlungen gibt, die nicht reflexiv gesteuert sind, sondern vielmehr dass von zwei Typen der Steuerung ausgegangen werden kann: der ein vergleichsweise hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordernde diskursive Modus, und der ›entlastende‹ (Lamla 2003, 49) praktische Modus. Reflexivität ist, mit anderen Worten, in diesem Handlungsmodell nicht exklusiv an das diskursive Bewusstsein gebunden. Besonders der praktische Modus weist nun auf ein bedeutsames Charakteristikum der sozialen Welt in Giddens’ Konzeption hin: die Routinehaftigkeit der meisten Alltagstätigkeiten. Routinen sind nach Giddens (1992, 112) »sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure […] wie auch für die sozialen Institutionen« konstitutiv. Sie erschaffen im Alltagshandeln eine »ontologische Sicherheit« oder »Seinsgewissheit« (Giddens 1992, 116), die überhaupt erst die Basis für die Entstehung einer (relativ) dauerhaften sozialen Ordnung ist. Allein, wie nahezu alle Aspekte der Giddens’schen Handlungstheorie sind auch Routinen ein ambivalentes Phänomen. Die Routinisierung von Praktiken bedeutet nämlich nicht, dass diese Praktiken unabänderlich wären. Zwar erlauben Routinen »das Gefüge des Alltagslebens« (Giddens 1992, 141) zu erhalten, jedoch sind sie der reflexiven Steuerung – und dadurch der Möglichkeit der Revision – nicht enthoben. Ganz im Gegenteil: Auch wenn Routinen »etwas psychologisch Entspannendes« haben mögen, wird ihre Kontinuität »nur durch die ständige Wachsamkeit aller Beteiligten gewahrt« (Giddens 1995, 125). Die durch Routinen gewährte (relative) Stabilität des Sozialen ist dementsprechend stets mit einem Moment der Unberechenbarkeit ausgestattet. Eine elementare Rolle in Bezug auf die Routinisierung des Alltagshandelns spielt schließlich die Körperlichkeit der Subjekte. Die routinehaften Handlungsvollzüge gehen im Sinne einer »spielerischen Beherrschung« in den Körper über – Handeln wird demgemäß in der Strukturationstheorie auch als »physische[…] Aktivität im Fluss des Alltagsverhaltens« (Giddens 1992, 118; vgl. Werlen 2007, 146ff.) begriffen. So trivial dieser Aspekt auf den ersten Blick erscheinen mag, in theoretischer Hinsicht ist er nicht zu unterschätzen. Durch die Tatsache, dass die
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Agent*innen über Körper verfügen und Materielles in ihre Tätigkeiten einbeziehen, ist die bio-physische Welt nämlich immer (auch) Bestandteil handlungszentrierter Forschung. Die Körperlichkeit der Handelnden und die materiale Dimension der Welt (auf die Handeln Bezug nimmt), wird hinsichtlich strukturationstheoretischer ›Raumfragen‹ dementsprechend noch eine zentrale Rolle spielen. Bevor diese thematisiert werden können, gilt es zunächst jedoch die handlungstheoretische Pointe von Giddens’ Konzept darzustellen. Diese besteht grob gesagt darin, Handeln und soziale Struktur nicht als entgegengesetzte, einander äußerliche Pole aufzufassen, sondern als zwei Seiten ein und desselben Phänomens. Diese Auffassung lässt sich am besten von der Grundintention der Strukturationstheorie her verstehen. Grundsätzlich geht es in dieser – wie in mehr oder minder allen Formen von Praxistheorien – um die Frage, wie soziale Ordnung (oder Gesellschaft) in alltäglicher Praxis (re-)produziert wird. Hauptziel ist dabei die Vermeidung essentialisierender bzw. reduktionistischer Argumentationen. Erreicht wird dies zunächst durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Begriff der Struktur – der gleichwohl weiterhin von Bedeutung bleibt – auf den Begriff der Strukturierung, oder anders gesagt: durch eine dynamisierte Sichtweise vermittels der konsequenten Fokussierung von Herstellungsprozessen. Konkret vertritt Giddens die Auffassung, dass soziale Systeme in Interaktionszusammenhängen strukturiert werden, d.h. dass Strukturen hergestellt und aktualisiert werden (müssen), um sozial wirksam zu sein. Der terminus technicus, mit dem Giddens (1992, 77) diesen Sachverhalt bezeichnet, ist »Dualität« von Struktur, bzw. von Struktur (structure) und Handlung (agency). »Gemäß dem Begriff der Dualität von Struktur sind die Strukturmomente sozialer Systeme sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren« (Giddens 1992, 77). Strukturen haben demgemäß erstens keine andere Existenz als durch die bzw. in den Praktiken der Akteur*innen, und zweitens wirken sie für die alltägliche Praxis nicht nur – wie das in der gewöhnlichen Oppositionsstellung von Handeln und Struktur nahe gelegt wird – einschränkend, sondern als Medium des Handelns auch ermöglichend (vgl. Giddens 1992, 222f.; Werlen 2007, 165ff.). Der ermöglichende und einschränkende Charakter von Strukturen erklärt sich aus ihrer spezifischen strukturationstheoretischen Interpretation als Regeln und Ressourcen. Verkürzt gesagt bezeichnen Regeln aus dieser Sicht die »Verfahren […], die in der Ausführung/Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden« (Giddens 1992, 73). Damit sind offenbar nicht nur wie im klassischen Regelbegriff kodifizierte Handlungsgrundsätze (wie etwa Gesetze) gemeint, sondern auch und vor allem die Bezugspunkte des praktischen Bewusstseins, d.h. das implizite Wissen der Akteur*innen darüber, was zu tun und was nicht zu tun ist. Ressourcen hingegen können nach Giddens als Mittel der Verwirklichung der Handlungsabsichten betrachtet werden. Dabei sind zwei Arten von Ressourcen analytisch zu unterscheiden: Einerseits allokative Ressourcen, die grob gesprochen das Vermögen der Herrschaft über materielle Aspekte bezeichnen, andererseits autoritative Ressourcen, die das Vermögen der Herrschaft über Personen bezeichnen (ebd., 86, 315ff.). Das Handeln nimmt nun sowohl auf Regeln wie auf Ressourcen Bezug.
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Fasst man die bisher aufgeführten handlungstheoretischen Bestimmungen bei Giddens und Werlen zusammen, so ergibt sich zunächst das Bild eines anti-essentialistischen, sozialkonstruktivistischen Handlungskonzepts, das einerseits die Alltagskompetenzen der Subjekte betont, andererseits auf die materiell-körperliche Dimension sozialer Praxis aufmerksam macht. Grundsätzlich, soviel kann vorweggenommen werden, übernimmt Werlen die Giddens’sche Idee der Strukturierung und entwickelt darauf aufbauend eine prozessuale, dynamisierte Sozialgeographie. Soweit die elementaren Bestimmungen angesprochen sind, divergieren die Positionen Giddens’ und Werlens wenig voneinander. Auch wenn Werlen das Strukturationskonzept des britischen Sozialtheoretikers im Zusammenhang mit der Idee eines revidierten methodologischen Individualismus diskutiert und kritisch anmerkt, Giddens’ Abweisung individualistischer Konzepte beziehe sich z.T. auf einen ontologischen statt auf einen methodologischen Individualismus (Werlen 1999, 37, 53f.), teilt er doch die entscheidenden Prämissen der Handlungstheorie Giddens’. In gesellschaftstheoretischer – und sozialgeographischer – Hinsicht ergibt sich daraus zunächst einmal der Anspruch, Gesellschaft nur unter Bezugnahme auf Handlungen sowie die Umstände bzw. Bedingungen dieser Handlungen zu untersuchen (ebd., 45). Allerdings kann Werlen, bei aller affirmativen Aufnahme strukturationstheoretischer Argumente in die Sozialgeographie, einen entscheidenden Aspekt nicht teilen, das ist das Raumkonzept Giddens’. Nach Werlen (2007, 189ff.) bezieht sich Giddens in seinen Ausführungen zur Räumlichkeit der Praxis problematischerweise auf das Konzept eines Newton’schen Containerraums und argumentiert damit – ausgerechnet als Vertreter eines Anti-Essentialismus – in theoretischer Inkonsistenz verdinglichend. Wie kommt dies zustande?
›Raumprobleme‹ Raum spielt bei Giddens insofern eine Rolle, als soziale Praktiken als grundlegend raum-zeitlich aufzufassen sind. Der zeitliche Aspekt bezieht sich auf die Wiederholbarkeit von Praxis im Sinne der oben dargestellten Routinen. Wie Reckwitz (2007, 322) zusammenfasst, stellt sich soziale Reproduktion bei Giddens »als ein permanenter Prozeß des Bindens von Zeit dar: In jedem Moment droht potentiell der Zerfall des Vergangenen, seiner Sinnkriterien und Handlungsformen, und soziale Reproduktion läßt sich mit einem hohen Grad der Wiederholung von Regeln und Handlungsformen über zeitliche Grenzen hinweg identifizieren«.
Zugleich jedoch ist die Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung auch an räumliche Aspekte gebunden. Damit ist gemeint, dass Räumliches, wie etwa die Relationierung von Körpern zueinander oder die Einbindung von Artefakten in bestimmte Tätigkeiten, von entscheidender Bedeutung für die Ausführung sozialer Praktiken ist. Giddens verhandelt diesen Sachverhalt unter dem Begriff des »Ortes« (locale)78 sowie dem – für die handlungszentrierte Sozialgeographie dann 78
Werlen (2007, 179) übersetzt den Giddens’schen Begriff »locale« mit »Schauplatz«.
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umgearbeiteten – Begriff der Regionalisierung. Mit »locale« werden physischmaterielle (und sozial-kulturelle) Settings bezeichnet, die zur Verwirklichung von Routinen konstitutiv beitragen (Giddens 1979, 207; 1992, 170f.). »Regionalisierung« bezeichnet hingegen den Prozess der Herstellung, oder besser: der Meisterung von Ko-Präsenz und Abwesenheit zur Verwirklichung sozialer Praktiken bzw. sozialer Stabilität. Konkret ist damit in der Strukturationstheorie die »raumzeitliche[…] Begrenzung von Regionen« durch »symbolische[…] oder physische[…] Markierungen« gemeint (Werlen 2007, 179; vgl. Giddens 1992, 171). Unter Bezugnahme auf die oben genannten Ressourcen wird Raum zur Verwirklichung bestimmter bzw. zum Ausschluss anderer Handlungen strukturiert (Werlen 2007, 178f.). Das paradigmatische Beispiel Giddens’ für eine solche Regionalisierung ist die an Erving Goffman angelehnte Unterscheidung von vorderseitigen und rückseitigen Regionen. Beide stellen je unterschiedliche Interaktionsrahmen – und unterschiedliche Möglichkeitsräume des Sagbaren und Machbaren – dar, und beide lassen sich in einem räumlichen Sinne voneinander unterscheiden (Giddens 1992, 175ff.). Die Diskussion, die Werlen um Giddens’ Raumverständnis entfaltet, ist ambivalent. Einerseits erkennt er die systematische Aufnahme der räumlichen Dimension in die soziologische Theoriebildung durch Giddens’ Konzept an und stellt die Strukturationstheorie explizit als »kompatibel« mit der Grundperspektive der handlungszentrierten Sozialgeographie dar (Werlen 2007, 189; 2010, 260). Andererseits jedoch kritisiert er, wie oben bereits angedeutet, die Bezugnahme zur Zeitgeographie Torsten Hägerstrands als den Import eines essentialisierenden Raumkonzepts. Hägerstrands Idee besteht grob gesagt darin, die raum-zeitlichen Pfade der (körperlichen) Individuen sichtbar zu machen und die damit verbundenen Bedingungen des alltäglichen Handelns zu untersuchen (Hägerstrand 1970; vgl. Werlen 2008a, 71f.). In dieser Chrono-Choreographie des Alltags wird Raum als ein gegebenes Behältnis gedacht, in dem Aktivitäten stattfinden. Analog dazu finden sich Werlen gemäß bei Giddens Formulierungen, die auf dasselbe Raumkonzept schließen lassen. So verräumliche auch Giddens soziale Tatsachen, wenn er etwa Gesellschaften als Entitäten in einem bestimmten Territorium beschreibe (Werlen 2010, 260). Auch an anderen Stellen lassen sich Formulierungen finden, die auf die Idee eines primär gegebenen, vorstrukturierten Raumes hinweisen, etwa wenn Giddens (1979, 207) in Bezug auf »locale« von »space used as a setting for interaction« spricht. Einer solchen, missverständlichen Interpretation setzt Werlen schließlich ein weiter zugespitztes Konzept der (alltäglichen) Regionalisierung entgegen, welches Giddens’ Handlungskonzept sozialgeographisch präzisiert und das in der Strukturationstheorie problematische »Verhältnis von physisch-weltlichem Raum und seiner sozial konstituierten Bedeutung für menschliches Handeln« (Werlen 2010, 260) aus konsequent subjektzentrierter Perspektive konzeptualisiert.
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Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen Die zentralen Begriffe dieses sozialgeographischen Konzepts sind Regionalisierung, Welt-Bindung und Geographie-Machen – sein theoretischer Kern, von dem aus diese Begriffe Bedeutung erlangen, ist ein neues, alternatives Raumverständnis. Der entscheidende Schritt auf dem Weg zu einer neuen Sicht auf die Beziehungen von Gesellschaft und Raum ist der Übergang von kausal-logisch geprägten Konzepten eines selbst wirksamen, absoluten Raumes zur Auffassung von Raum als relationalem Begriff (Werlen 2009, 144; vgl. Werlen 2013, 4). Um den vollen Umfang dieser Verschiebung zu begreifen ist es notwendig, beide Bestandteile der Formulierung »relationaler Begriff« zu beachten. Relationalität bedeutet, Raum nicht als dinglichen Behälter, sondern als Beziehungssystem zwischen materiellen Objekten aufzufassen (ebd.). Relational ist in diesem Sinne auch der Raum der raumwissenschaftlichen Geographie. Allerdings bleibt auch in raumwissenschaftlicher Optik die problematische Kausal-Logik erhalten, die es für die Sozial- und Humangeographie gerade zu verhindern gilt. Eine solche Argumentation kann vermieden werden, wird Raum als ein formal-klassifikatorischer Begriff aufgefasst (Werlen 1999, 221f.; 2007, 231ff.; 2008a, 295; 2013, 9). Ohne auf die vielfältigen erkenntnistheoretischen und sozialontologischen Voraussetzungen einzugehen, die einer solchen Argumentation zu Grunde liegen79, lässt sich zusammenfassen: »Raum« ist als formaler Begriff zu begreifen, weil er sich nicht auf ein konkretes Objekt bezieht, sondern auf die Eigenschaft der materiellen Ausdehnung von Objekten; und er ist als klassifikatorischer Begriff anzusehen, weil er Relationierungen, d.h. eine Ordnung der (materiellen) Welt erlaubt (ebd.). Der Bezugspunkt dieses Begriffs ist dementsprechend nicht mehr ein Objekt »Raum«, sondern die Tätigkeit der körperlichen Relationierung. Anders gesagt: Wenn der Begriff des Raumes verwendet wird, dann geht es um die Angabe der Bedingungen des durch den Körper realisierten Tuns, es geht um die »Bedeutung der eigenen Körperlichkeit und der materiellen Kontexte für soziale Praktiken« (Werlen 2008b, 383). Im Blickpunkt einer Thematisierung von Raum stehen dann nicht mehr primär materielle Dinge, sondern (zu verwirklichende) Tätigkeiten. Mit dieser Einsicht ist schließlich die Grundlage für ein erweitertes Verständnis von »Regionalisierung« gelegt. Bezeichnet der Terminus bei Giddens die Abgrenzung physisch-materieller Settings für bestimmte Handlungszusammenhänge, so sind damit im Rahmen der handlungszentrierten Sozialgeographie »alle Formen gemeint, in denen die Subjekte über ihr alltägliches Handeln die Welt einerseits auf sich beziehen, und andererseits erdoberflächlich in materieller und symbolischer Hinsicht über ihr Geographie-Machen ›gestalten‹« (Werlen 2007, 194; Hervorhebung K. G.). Einer auf die Regionalisierungen gerichteten Sozialgeographie geht es dann nicht mehr um fixe Regionen und deren Bedeutung für den Alltag – auch wenn dies auf andere Weise ein Thema sein kann –, sondern 79
Die vertiefte Diskussion dessen wird vor allem in Werlen (1999) sowie Werlen (2007) geführt. Vgl. überdies die kritische Diskussion zu Werlen (2013).
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zunächst einmal um die im Handeln verwirklichten individuellen Welt-Bindungen. Damit kann in diesem Sinne empirisch ganz Verschiedenes gemeint sein, von der symbolischen Aneignung z.B. biographisch bedeutsamer Orte, über die Möglichkeit über materielle Güter privat zu verfügen, bis hin zur Ausübung territorial verfasster (Gesetzes-)Macht nationalstaatlicher Institutionen. Im Rahmen dieser Perspektive wird schließlich auch der strukturationstheoretisch bedeutsame Aspekt der Macht virulent: Wenn Welt-Bindung bzw. Geographie-Machen nach Werlen auf das Vermögen bezogen sind, sich in Beziehung zur Welt zu bringen, dann besteht eine der grundlegenden Erfahrungen der sozialen Wirklichkeit darin, dass diese Vermögen höchst verschieden verteilt sind. Die Erfahrung von (Handlungs-)Zwängen oder (Handlungs-)Optionen kann in sozialgeographischer Perspektive als Potenz zur »Beherrschung räumlicher und zeitlicher Bezüge zur Steuerung des eigenen Tuns und der Praxis anderer« (Werlen 2008b, 383) beschrieben werden. In Giddens’scher Terminologie lassen sich diese Zusammenhänge als raumbezogene Strukturierung der Alltagswelt veranschaulichen. Damit ist impliziert, dass die Handelnden sich in ihren raumbezogenen, körperlich vermittelten Tätigkeiten einerseits auf Dinge beziehen, die Ergebnis vorangegangenen Tuns (anderer Handelnder) sind, und andererseits mit ihrem Tun – und den damit hervorgebrachten Veränderungen – die Bedingungen für anschließendes Tun schaffen. Zu berücksichtigen sind dabei, wie oben angedeutet, gleichermaßen beabsichtigte wie unbeabsichtigte Handlungsfolgen. Die Strukturierung der Alltagswelt im Handeln betrifft sowohl physisch-materielle wie auch sinnhaft-symbolische Aspekte. Auch wenn die Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen die Rolle der Körperlichkeit der Handelnden stark betont, darf dies nicht so missverstanden werden, dass Materiellem in irgendeiner Form ein Primat zukomme. Vielmehr macht der Ansatz darauf aufmerksam, dass stets zu thematisieren ist, in welcher Hinsicht Körperliches bzw. Materielles zum Gegenstand gemacht wird. So sind physisch-materielle Objekte aus Sicht einer auf das Handeln gerichteten, also sozialwissenschaftlichen (Sozial-)Geographie in Hinsicht ihrer sinnhaften Aneignung durch Handelnde von Belang (Werlen 2007, 255). Das bedeutet freilich nicht, dass ihre physikalischen Eigenschaften in diesem Zusammenhang irrelevant wären. Wenn Handelnde ihre Ziele verwirklichen wollen, müssen sie die physikalischen Eigenschaften und Dynamiken der involvierten Objekte (inklusive ihres eigenen Körpers) selbstverständlich berücksichtigen. So ist es – um ein triviales Beispiel zu verwenden – aufgrund bestimmter physikalischer Gesetze nicht möglich, den menschlichen Körper durch andere Festkörper hindurchzubewegen. Die Interpretation einer Wand als Hindernis auf dem Weg von Punkt A nach Punkt B jedoch stellt bereits eine kognitive Operation dar, die eben nicht unter ausschließlichem Rückbezug auf physikalische Eigenschaften eines Objekts angemessen zu untersuchen ist, sondern des Verstehens von Handlungsabsichten bedarf.80 Deutlich wird dieser Zusammenhang vor allem in Fällen 80
Auf eine knappe Formel bringt Ernste (2004, 440) diese Interpretationsbedürftigkeit der Welt: »The action-theoretical approach […] builds on the insight that people live in an interpreted world of subjectively and collectively constituted meanings […]«.
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nicht erfolgreichen Handelns: Während ein Scheitern im Alltag häufig auf die Widerständigkeit der materiellen Welt zurückgeführt wird, lässt es sich doch nicht allein durch den Verweis auf physisch-materielle Sachverhalte erklären, sondern nur über den Einbezug der Zwecke und (unangemessenen) Vorstellungen der Subjekte über die materielle Welt (vgl. Zierhofer 2009, 205). In umgekehrter Perspektive schließlich muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass in den materiellen Artefakten »Sinnsetzungen der Hervorbringerakte« aufgehoben sind, die zu einem erfolgreichen bzw. den Zwecksetzungen gemäßen Handeln im Alltag verstanden werden müssen (Werlen 1997[1987], 252).81 Bereits in der oben geführten Diskussion um Poppers Drei-Welten-Theorem wurde auf diesen Doppelstatus von Artefakten als Bestandteile der Welt 1 physischer Objekte und Welt 3 immaterieller menschlicher Hervorbringungen hingewiesen (embodiment, realization). Hier wird schließlich deutlich, wie dies sozialgeographisch zu interpretieren ist: Materielle Artefakte stellen als strukturierte Alltagswelt eine Art ›Konservierung‹ von Absichten dar, die im Zuge aktueller Handlungsvollzüge eingearbeitet werden müssen, ohne jedoch – da sie stets auch anders interpretiert werden können – determinierend zu wirken. Sie sind damit, wie Werlen (1997[1987], 253) in Anlehnung an Alfred Schütz ausführt, eine Form der anonymisierten sozialen Interaktion von Erzeuger und Nutzer und weisen damit auf den sozialen Charakter der (materiellen) Welt hin.82 Mit dem Fokus auf Zusammenhänge von sinnhaften und materiellen Aspekten im Handeln bearbeitet der sozialgeographische Ansatz Werlens ein Gegenstandsfeld, das – wie bereits im Kontext der Frage nach einer »Dritten Säule« (in) der Geographie betont wurde – inzwischen das Zentrum zahlreicher theoretischer Bemühungen innerhalb und außerhalb der Geographie darstellt. Dabei stehen Ansätze, die die handlungstheoretischen Grundprämissen teilen, Konzepten gegenüber, die völlig neue Ideen des Handelns und der Handelnden zu etablieren versuchen. Ein Beispiel für den ersten Fall ist der (geographische) Ansatz der Action Settings von Peter Weichhart. Hier wird in Erweiterung der Behavior-SettingTheorie des Psychologen Roger G. Barker die »Verknüpfung von Sach- und Sozialstrukturen im alltagsweltlichen Handeln« (Weichhart 2003b, 15) analysiert. Action Settings als räumlich und zeitlich begrenzte Konstellationen, die spezifische Tätigkeiten erlauben und andere ausschließen, sind dabei als hybride Objekte aus Elementen der physisch-materiellen, sozialen und mentalen Welt gleichermaßen zu verstehen (ebd., 31ff.). Durch seine Orientierung an den Theoremen Poppers und Giddens’ ist das Action-Setting-Konzept mit den oben skizzierten Begriffen der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen vereinbar. Als prominentestes Beispiel für den zweiten Fall kann die im Kontext der Science Studies und Techniksoziologie formulierte Actor-Network-Theory gelten. Auch bei dieser geht es um die Betrachtung des Zusammenspiels menschlicher 81 82
Ein Feld, in dem diese Zusammenhänge gegenwärtig besonders intensiv diskutiert werden, ist die Architektursoziologie (vgl. etwa Steets 2015, insbes. 32ff.). Kazig und Weichhart (2009, 113) sprechen in einem ganz ähnlichen Zusammenhang von »›sozialisierte[r]‹ Materie«.
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und nicht-menschlicher materieller Elemente (in einem Netzwerk), jedoch wird dabei postuliert, diese Mischformen hätten selbst Handlungskapazitäten, d.h. sie seien als Akteurinnen aufzufassen (vgl. Latour 2007; Kneer et al. 2008; Belliger/ Krieger 2006)83. Mit den theoretischen Prämissen der Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen ist diese Auffassung allerdings inkompatibel. Nicht-menschlichen Entitäten Akteursstatus zuzuschreiben ist aus handlungstheoretischer bzw. strukturationstheoretischer Sicht wenig plausibel.84 Die bisherigen Darstellungen zusammengefasst: Die handlungszentrierte Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen bietet einen konsequent sozialkonstruktivistischen Zugang zum Verhältnis von Gesellschaft und Raum bzw. Gesellschaftlichkeit und Räumlichkeit an. Sie versteht sich in diesem Sinne durch und durch als geographische Sozialwissenschaft, oder präziser, als eine »raumorientierte Handlungswissenschaft« (Werlen 2008a, 319). Raum ist für sie, im Gegensatz zur traditionellen Geographie, als Bestandteil sozialer Praxis, nicht als Determinante relevant. Was Raum in empirisch konkreten Situationen ›ist‹, hängt dementsprechend vom Handlungskontext ab. Diesem Umstand Rechnung tragend sind sozialgeographische Untersuchungen der Geographien des Alltags auch auf alltägliches Handeln (verstanden als intentional-reflexive, größtenteils routinisierte Praxis) bezogen. Bevor nun auf die Implikationen dieses sozialgeographischen Denkens für die Behandlung ökologischer Problemkreise eingegangen werden kann, muss noch eine entscheidende Erweiterung des Fragehorizonts vorgenommen werden. Diese betrifft den in den letzten Abschnitten etwas aus dem Blick geratenen – jedoch für die Erforschung gesellschaftlicher Naturbezüge elementaren – Begriff der Gesellschaft. Während der Aspekt der Räumlichkeit bislang (implizit) in Bezug auf individuelle Handlungen diskutiert wurde, ist nun ein sozialgeographisch gewendeter Rückbezug zur Ausgangsfrage der Strukturationstheorie angezeigt. Mit Giddens wurde thematisiert, wie Gesellschaft in alltäglicher Praxis (re-)produziert wird. Dahinter verbirgt sich letztlich die Grundproblematik der Gesellschaftstheorie, die Frage danach, wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist (Rosa et al. 2007, 13). Auf Basis der durch Werlens Konzept geleisteten Dynamisierung des Blickwinkels85 wird nun eine spezifisch sozialgeographische Re-Formulierung dieser gesellschaftstheoretischen Grundfrage möglich: Wie ist soziale Ordnung unter den Bedingungen der Räumlichkeit und Körperlichkeit möglich? Das theoretische Zentrum dieser Bemühungen stellt das Konzept der gesellschaftlichen Raumverhältnisse dar (Werlen 2010, 321ff.; vgl. Werlen 2008b, 372ff.; Werlen 2013, 13ff.). 83 84
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Vgl. überdies die früheren – gleichwohl von der Latour’schen Schule der ANT nur wenig diskutierten – Arbeiten Donna Haraways (1991; 1985). Was natürlich nicht bedeutet, der Ansatz der ANT sei gänzlich zu verwerfen. Er bietet, wie etwa von Jöns (2003) herausgearbeitet wurde, zahlreiche Anknüpfungspunkte für ›klassisch‹ geographische Fragestellungen. Allerdings wird damit letztlich eine gänzlich andere Ontologie der sozialen Welt entworfen, sodass die konsistente Vereinigung handlungstheoretischer Ansätze mit dieser Theorierichtung schwierig bleiben dürfte. Diese beinhaltet sämtliche oben genannten Verschiebungen: Von Handlungen zu Handeln, Raum zu Räumlichkeit, Körper zu Körperlichkeit etc. (Werlen 2010, 323ff.).
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Gesellschaftliche Raumverhältnisse Der Ausgangspunkt der Thematisierung gesellschaftlicher Raumverhältnisse ist eine Problemstellung, die bereits von Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert worden war, jedoch von der Soziologie in Simmels Gefolge – bis auf wenige Ausnahmen – kaum systematisch bearbeitet wurde: der Zusammenhang von Raum und den Prozessen der Vergesellschaftung.86 Wie lässt sich dieser Zusammenhang verstehen? Geht man zunächst vom Begriff der Gesellschaft aus, so lässt sich mit Simmel Folgendes konstatieren: »Irgendeine Anzahl von Menschen wird nicht dadurch zur Gesellschaft, daß in jedem für sich irgend ein sachlich bestimmter oder ihn individuell bewegender Lebensinhalt besteht; sondern erst, wenn die Lebendigkeit dieser Inhalte die Form der gegenseitigen Beeinflussung gewinnt, wenn eine Wirkung von einem auf das andere – unmittelbar oder durch ein Drittes vermittelt – stattfindet, ist aus dem bloß räumlichen Nebeneinander oder auch zeitlichen Nacheinander der Menschen eine Gesellschaft geworden« (Simmel 1992[1908], 19).
Gesellschaft entsteht nach Simmel kurz gesagt da, wo Individuen in Wechselwirkung treten, oder, in einem weiten Sinne gedacht: wo Kommunikation herrscht.87 Gesellschaft ist bei Simmel folglich nicht als statisches Objekt zu denken, sondern als dynamischer Prozess der Vergesellschaftung, als »ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet« (Simmel 1992[1908], 33; vgl. Degele/Dries 2005, 77). Ohne auf die zahlreichen Implikationen eines solchen, eher minimalistischen Gesellschaftsbegriffs einzugehen, kann damit dennoch bereits ein erster Bogen zu den oben skizzierten sozialgeographischen Überlegungen geschlagen werden. Wenn Gesellschaft bzw. Vergesellschaftung aus einer bestimmten Art der sozialen Interaktion besteht, dann sind aus sozialgeographischer Perspektive für dieses Tun die Körperlichkeit der Handelnden sowie die räumliche Dimension der Welt zu berücksichtigen. Oder, in Simmels Termini formuliert: Gesellschaft ist zwar mehr als ein »bloß räumliches Nebeneinander«, aber sie ist eben auch hinsichtlich ihrer Räumlichkeit bzw. der Räumlichkeit der sie konstituierenden sozialen Prozesse zu denken. Es ist in diesem Zusammenhang noch einmal wichtig hervorzuheben, dass eine solche Perspektive erst durch eine dynamisierte Sicht ermöglicht wird, die nicht »Raum« in das Zentrum stellt, sondern menschliche Tätigkeiten (vgl. Werlen 2010, 152). 86
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Erst seit Beginn der 2000er Jahre gibt es überhaupt so etwas wie ein Label »Raumsoziologie«, unter das sich etwa Autor*innen wie Martina Löw (2001) oder Markus Schroer (2006) stellen, deren Arbeiten zu einer Popularisierung der Raumthematik in der Soziologie und darüber hinaus beigetragen haben. Spätestens hier werden im Übrigen die starken Bezüge zwischen Simmel und der Chicago School sichtbar: Auch Robert Ezra Park, Schüler Simmels in Berlin, deutet die elementare Rolle von Kommunikation für Gesellschaft an: »It is because communication is fundamental to the existence of society that geography and all the other factors that limit or facilitate communication may be said to enter into its structure and organization at all« (Park 1952a[1925], 174f.).
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Ein zweiter Bogen zur dynamisierten sozialgeographischen Perspektive kann geschlagen werden, betrachtet man nicht die Zusammenhänge von Räumlichkeit und Gesellschaftlichkeit überhaupt, sondern stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie soziale Integration unter sozialgeographischen Bedingungen der Moderne möglich ist. Damit geraten die allgemeinen Spezifika der für die Moderne charakteristischen Gesellschaften in den Blick, die meist anhand von Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft dargestellt werden. Gesellschaft zeichnet sich dieser Denkweise gemäß (im Gegensatz zu Gemeinschaft) durch ihren instrumentellen Charakter aus (Tönnies 1887, 46ff.; vgl. Gertenbach et al. 2010, 40). Sie ist demnach kein urwüchsiger, durch selbstzweckhafte willentliche Bejahung bestehender Zusammenschluss, sondern ein rationales, weitestgehend anonymes Kollektiv (Gertenbach et al. 2010, 41). Nach der klassischen Erzählung des Modernisierungsprozesses erlangen gesellschaftliche Bezüge in der Moderne insofern eine gewisse Vorherrschaft, als die mit ihnen verbundenen Pathologien – wie etwa die auf eine Dominanz instrumentellen Denkens zurückgeführte Massenverelendung der Arbeiterklasse – als charakteristisch für die Epoche angesehen werden und häufig zu Utopien eines wieder stärker gemeinschaftlichen Zusammenlebens geführt haben (ebd., 34). Hält man sich allerdings eng an die Tönnies’schen Definitionen, dann ist eher anzunehmen, dass im Alltagsleben in der Moderne eine Pluralität von gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Bezügen vorherrscht und dass sich darüber hinaus Mischformen beider Integrationsweisen entwickelt haben (ebd., 43). Ungeachtet der genauen Zuordnung zu einem der beiden Begriffe kann aus sozialgeographischer Sicht zunächst behauptet werden, dass für die Gemeinwesen in der Moderne die räumliche Ausbreitung über einen lokalen, von face-to-faceInteraktionen geprägten Kontext hinaus charakteristisch ist (Werlen 2008a, 32ff.).88 Die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Integration impliziert in einer solchen Konstellation einen speziellen Umgang mit der Räumlichkeit des Alltagshandelns: Gesellschaft setzt, wie Werlen (2010, 328) es auf den Punkt bringt, in allererster Linie das Vermögen zum »Handeln über Distanz« voraus. Die von Simmel beschriebene direkte oder indirekte Wechselwirkung wird in der modernen Welt demnach hauptsächlich durch Handlungen realisiert, bei denen die Handlungsfolgen an anderen, vom Handelnden selbst (physisch) weit(er) entfernten Orten auftreten. Aus dieser Konstellation ergibt sich die Anforderung einer »Meisterung der Räumlichkeit der Alltagswelt« (Werlen 2010, 326). Oder, in den oben entwickelten Begriffen formuliert: Vergesellschaftung setzt bestimmte Formen der erfolgreichen Welt-Bindung voraus bzw. ist als Ergebnis von erfolgreichen Welt-Bindungen aufzufassen (ebd., 327).
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Werlen bezieht sich ausschließlich auf den Begriff der Gesellschaft und scheint Tönnies hier eher im Sinne einer (historischen) Abfolge von Gemeinschaft und Gesellschaft zu lesen. Das im Folgenden entfaltete Argument der Raumverhältnisse bedarf jedoch einer solchen Chronologie gar nicht – ganz im Gegenteil: Es wird eher noch stärker, bezieht man es sowohl auf gesellschaftliche als auch auf gemeinschaftliche Bezüge in der (späten) Moderne. Für beide sind dementsprechend die Bedingungen der Räumlichkeit zu berücksichtigen.
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Auf der Grundlage dieser Überlegungen skizziert Werlen schließlich das Themenfeld einer (sozial-)geographisch gewendeten Gesellschaftstheorie. Als Gegenstand eines solchen Forschungsbereiches schlägt er »gesellschaftliche Raumverhältnisse« vor. Präzise formuliert sind darunter »die gesellschaftlich und kulturhistorisch geschaffenen Bedingungen, Mittel und Medien des Handelns, die Räumlichkeit der Alltagswelt zu meistern« (Werlen 2010, 326) zu verstehen. Im Zentrum einer solchermaßen ›geographisierten‹ Gesellschaftstheorie steht die Frage, unter Rückgriff auf welche Mittel gesellschaftliche Integration unter entankerten Bedingungen (re-)produziert wird. Dabei kann einerseits thematisiert werden, welche Formen der Meisterung der Räumlichkeit eine spezifische gesellschaftliche Formation hervorbringt, aber auch, andererseits, welche Formen der Sozialintegration bestimmte Modi der Meisterung ermöglichen oder verhindern (ebd.). Nimmt man diese Fragen nun zur Grundlage einer kulturhistorischen bzw. zeitdiagnostischen Betrachtung, dann wird das heuristische Potenzial des Konzepts gesellschaftlicher Raumverhältnisse sichtbar. Nicht mehr die vorherrschenden Produktionsmodi geben dann die Kriterien für kulturhistorische Epochen und Umbrüche an, sondern die typischen Formen bzw. Potenziale zu der Meisterung der Räumlichkeit (Werlen 2010, 329). Werlen (ebd., 330f.) hebt mit dieser Optik schließlich drei Zäsuren hervor: die lokale Welt-Bindungen ermöglichende neolithische Revolution, die durch die Rationalisierung räumlicher Bezüge und zunehmende Territorialisierung des Zusammenlebens charakterisierte industrielle Revolution, sowie schließlich die globale Handlungszusammenhänge bzw. entankerte Lebensbedingungen ermöglichende digitale Revolution. Besonders die Umbrüche in Folge der sogenannten digitalen Revolution sind dabei für Werlen von Interesse, da sie für ihn auf ein Kernproblem gegenwärtiger geographischer Lebensbedingungen aufmerksam machen. Unter dem Eindruck einer scheinbar mühelos möglichen Distanzüberwindung – wie sie etwa durch die digitale Kommunikation erfolgt – sind Fragen der räumlichen Bedingungen alltäglichen Handelns in vielen Kontexten aus dem Blickfeld geraten. Und auch im Rahmen sozialwissenschaftlicher Analysen der Globalisierung in der späten Moderne meinte man etwa, wie Helmuth Berking (2006, 9f.) herausstellt, nicht nur das »Ende des Nationalstaats« verkünden zu können, sondern zugleich das »Ende der Territorialität«.89 Eine auf gesellschaftliche Raumverhältnisse gerichtete Perspektive macht allerdings darauf aufmerksam, dass in vielen Handlungszusammenhängen weder von einer Ubiquität des Vermögens über (große) Distanz zu handeln ausgegangen werden kann noch sich tatsächlich aterritoriale, globale Politiken der Sozialintegration andeuten. Im Gegenteil, viele der gegenwärtig diskutierten Probleme globalen Formats sind auf eine Diskrepanz politischer Territoriallogiken und globalisierter Alltagslogiken zurückzuführen (Werlen 2010, 334f.).90 89 90
Zu einer kritischen Diskussion dieser Diagnosen vgl. Bach (2013) sowie Jureit/Tietze (2015). Es wäre allerdings eine eigene Untersuchung wert, in welchem Maße und mit welchen Mitteln die nationalstaatliche Territoriallogik in globalen oder ›virtuellen‹ Handlungssphären dupliziert wird. Für eine Untersuchung am Beispiel des re-territorialisierten Internets vgl. Steinbicker (2013).
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Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse
Mit der Untersuchung der räumlichen Logiken des Alltagshandelns geraten auch die gegenwärtig beobachtbaren ökologischen Problemlagen in einen neuen Blick. Damit ist die Argumentation schließlich wieder bei der Frage nach Natur angelangt. Natur soll sozialgeographisch nach dem Vorschlag Werlens (2010, 14) im Rahmen einer »Gesellschaftliche[n] Ökologie« thematisiert werden.
Perspektiven Gesellschaftlicher Ökologie Folgt man den oben skizzierten strukturationstheoretischen Prämissen und setzt als Bezugspunkt sozialgeographischer Forschung die alltägliche Praxis, dann sind konsequenterweise auch Natur bzw. gesellschaftliche Bezüge zu Natur – will man sie sozialgeographisch in den Blick nehmen – nur über Praxis zu untersuchen. »Natur« ist für eine handlungszentrierte Forschung dabei von Belang, weil mit dem Begriff in der Hauptsache bestimmte materielle Aspekte der Wirklichkeit bezeichnet werden.91 Dies kann sich auf konkrete Objekte beziehen, aber auch auf allgemeine Dynamiken und Entwicklungsprinzipien in der materiellen Welt. So etwa können Gegenstände wie Bäume – bei allem bereits die Problematik andeutenden Disput, der sich in der Regel darum entfaltet – dem Bereich der Natur zugeordnet werden, aber es können auch sogenannte »Naturgesetze« als elementare (physikalische) Zusammenhänge in der materiellen Welt gemeint sein, wenn von »Natur« die Rede ist. Im Sinne einer minimalen Definition lässt sich zunächst festhalten, dass der Begriff der Natur wesentlich eine Ordnung der materiellen Welt (eine Einteilung in »natürliche« und nicht-»natürliche« Dinge und Prozesse) bezeichnet. Die Leitfrage einer handlungszentrierten Thematisierung von Natur ist dementsprechend, welche Bedeutung »Natur« als Ordnungsbegriff sowie die damit bezeichneten materiellen Zusammenhänge für soziale Praktiken erlangen. Diese Leitfrage lässt sich in zwei weiterführende Teilfragen zerlegen. Erstens ist zu thematisieren, wie Natur als Handlungskontext überhaupt konstruiert wird. Darüber hinaus ist, zweitens, zum Gegenstand zu machen, wie Verhältnisse von Gesellschaft und Natur etabliert werden. Beide Fragen verweisen in der hier vorgeschlagenen Perspektive aufeinander bzw. stellen zwei Seiten desselben Phänomens dar. Die Verwendung des Begriffes »Natur« ist sozialgeographisch im Kontext alltäglicher Strukturierungsprozesse zu sehen. In einer auf Strukturierung von Natur gerichteten Perspektive wird Natur nicht als gegebener, von ihrem Gegenüber (Kultur, Gesellschaft usw.) eindeutig und universell abgrenzbarer Bereich der Wirklichkeit aufgefasst, sondern die Differenz von Natur und ihrem ›Anderen‹ ist als Ergebnis von (reflektierten oder unreflektierten) Unterscheidungspraktiken zu verstehen. Folglich ist »[a]m Tun von Menschen […] aufzuzeigen, wie in gegenständlicher und symbolischer Hinsicht die Unterscheidung von Sozialem und Naturalem vollzogen und als Unterschied thematisiert wird« (Werlen/Weingarten 91
Zur Problematik immaterieller als »natürlich« bezeichneter Phänomene vgl. die obigen Ausführungen zur humanökologischen ›Renaissance‹.
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2005a, 179f.). In dieser anti-essentialistischen Sichtweise bezeichnet »Natur« einen symbolisch angeeigneten materiellen Handlungskontext, der je nach spezifischer Handlungssituation – spezifischen Absichten, verfügbaren Ressourcen etc. – unterschiedlich bestimmt sein kann. Was Natur ›ist‹, ist dementsprechend zuallererst zweckabhängig (Werlen/Weingarten 2005b, 327f.; Weingarten 2005, 9f.). Da einer solchen sozialkonstruktivistischen Position häufig der Vorwurf gemacht wird, eine symbolische Beliebigkeit zu behaupten sowie die ›harte Realität‹ der Außenwelt nicht angemessen einzubeziehen, muss darauf hingewiesen werden, dass die alltägliche Strukturierung von Natur in sozialgeographischer Perspektive in mehrfacher Hinsicht nicht als beliebig anzusehen ist. Erstens müssen für ein erfolgreiches Handeln, wie oben dargestellt, selbstverständlich die Dynamiken der physisch-materiellen Welt berücksichtigt werden (vgl. Weingarten 1998, 408). Und zweitens bezieht sich auch die symbolische Strukturierung von Natur auf gesellschaftlich etablierte Semantiken, die zur Aufrechterhaltung sozialer Anschlussfähigkeit beachtet werden müssen. Im Gegensatz zu naturalistischen Positionen weist eine vom Handeln und seinen Folgen ausgehende Perspektive darauf hin, dass einerseits die materiellen Bedingungen des Handelns – auch wenn sie in der verkürzten Alltagssicht nicht so erscheinen – häufig das Ergebnis vorangegangener Strukturierungen sind und somit zumindest prinzipiell auf das Handeln Anderer zurückgeführt werden können (Werlen/Weingarten 2003, 203; Weingarten 2005, 13). Andererseits wird darauf aufmerksam gemacht, dass die im Gebrauch des Naturbegriffs implizit enthaltenen Handlungsanweisungen sich nicht auf eine vorgesellschaftliche, ›natürliche‹ Realität sui generis beziehen, sondern ebenso als Elemente strukturierter und damit veränderbarer Struktur aufzufassen sind. Beide Aspekte zusammen genommen machen deutlich, dass die vor allem in alltäglichen ›ökologischen‹ Zusammenhängen beobachtbare Rede von Natur als Maßstab für menschliches Handeln hochgradig problematisch ist. Slavoj Žižek (2009, 278ff.) macht in seiner Reflexion über »Das Unbehagen in der Natur« in prägnanter From auf diesen Aspekt aufmerksam: »Es gibt kein festes Fundament, keinen Rückzugsort, auf den wir uns sicher verlassen könnten. Wir müssen voll und ganz akzeptieren, daß ›die Natur nicht existiert‹ […]. […] Die ›Natur‹ als Reich der ausgewogenen Reproduktion und der organischen Entfaltung, in die der Mensch in seiner Hybris eingreift und deren Kreislauf er brutal aus der Bahn wirft, ist eine menschliche Phantasie« (Žižek 2009, 290).
Auch wenn Žižek letztlich in eine andere Richtung argumentiert, weist die Textstelle dennoch in größter Deutlichkeit auf einen ersten hier zu bilanzierenden Gedanken hin: Die Nicht-Anerkennung von Natur als in Handlungen strukturierter und damit sozial-kultureller Wirklichkeit versperrt den Blick für ökologische Zusammenhänge bzw. Problemlagen und folglich auch für deren erfolgreiche Bearbeitung (Werlen/Weingarten 2005b, 323). Oder mit Žižek formuliert: »Das größte Hindernis für den Schutz der Natur ist gerade die Naturvorstellung, auf die wir uns stützen« (Žižek 2009, 295). Wie sind im Licht dieses konstruktivistischen Verständnisses von Natur nun die Bezüge von Gesellschaft und Natur zu perspektivieren? Grundsätzlich kann
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Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse
die Differenz von Gesellschaft und Natur im Rahmen der handlungszentrierten Sozialgeographie nur als aus dem Bereich des Gesellschaftlichen heraus getroffene Unterscheidung betrachtet werden.92 Wann immer also von »Natur« die Rede ist, ist damit auf einen gesellschaftlichen Unterscheidungsprozess verwiesen. Dies bedeutet allerdings nicht, Natur werde durch ein Kollektivsubjekt »Gesellschaft« strukturiert, sondern vielmehr, dass dies durch die Tätigkeiten gesellschaftlich eingebetteter Agent*innen geschieht. Der Prozess der Strukturierung von Natur kann schließlich als Etablierung und Reproduktion gesellschaftlicher Naturverhältnisse bezeichnet werden. Das Attribut der Gesellschaftlichkeit kommt den so verstandenen Naturverhältnissen dabei in mehrfacher Hinsicht zu. Zum einen werden, wie dargestellt, spezifische Naturverhältnisse, d.h. bestimmte Muster der Welt-Bindung etabliert, die in materialer und symbolischer Hinsicht die (gesellschaftlichen) Bedingungen für anschließende Handlungen bilden (Weingarten 2003, 139). Zum anderen aber werden durch den Einbezug von Natur in Alltagstätigkeiten auch spezifisch gesellschaftliche Verhältnisse (re-)produziert (Weingarten 2005, 17, 22), was sich etwa an der unterschiedlichen Verteilung von Ressourcen festmachen lässt. Vor allem dieser zuletzt genannte Aspekt weist auf Konvergenzen zwischen gesellschaftlichen Raum- und Naturverhältnissen bzw. die mit diesen beiden Perspektiven sichtbar gemachten Phänomene hin (vgl. Werlen 2010, 331f.). Versteht man »gesellschaftliche Raumverhältnisse« als Kürzel dafür, wie Gesellschaften Räumlichkeit meistern, dann sind damit auch gesellschaftliche Naturverhältnisse angesprochen. Die Frage nach den räumlichen Bedingungen der Gesellschaftlichkeit lässt sich dementsprechend auch auf Natur beziehen: »Meisterung« weist dann auf die verschiedenen Formen hin, in denen die Transformation von Natur in sozialintegrative Tätigkeiten eingebunden wird. Empirisch lässt sich der Bezug von gesellschaftlichen Raum- und Naturverhältnissen dann z.B. in der Frage nach der Ökologie globalisierter Gesellschaften, d.h. ihren Bezügen zu einer als ›natürlich‹ charakterisierten Umwelt, thematisieren. Globalisierte Gesellschaften haben – das ist in ihrem Begriff angelegt und insofern eine triviale Feststellung – einen anderen materiellen Effekt als traditionelle, räumlich gekammerte Gesellschaften. Im Zuge der Globalisierung wird lokales Handeln meist nicht (nur) im Lokalen wirksam, sondern (auch) andernorts sowie oft auch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Die Möglichkeit der raumzeitlichen Auslagerung von Handlungsfolgen scheint hierbei geradezu konstitutiv für die Praktiken der Welt-Bindung in westlich-kapitalistischen Gesellschaften zu sein – mit all den physisch-materiellen und sozialen Folgen, die heutzutage »ökologische Krise« genannt werden. In umgekehrter Fragerichtung ließe sich jedoch auch thematisieren, wie die Praktiken der Transformation von Natur Spielräume zur Meisterung gesellschaft92
Eine gegenwärtig in der Sozialgeographie diskutierte systemtheoretische Begründung dieser Annahmen liefert Lippuner (2011; 2010a; 2010b). Allerdings geht es dort – den Maßgaben systemtheoretischen Denkens folgend – nicht um »Natur« sondern um »Umwelt« (vgl. Lippuner 2010b, 202f.).
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licher Räumlichkeit eröffnen oder schließen, bzw. wie durch den Verweis auf »Natur« sozialintegrative Praktiken verändert werden. Ein Beispiel dafür wären etwa technologische Innovationen wie die Nutzung fossiler Energieträger, die zu einer enormen Beschleunigung der Distanzüberwindung beigetragen haben. Die vielfach diagnostizierte spät-moderne raum-zeitliche Implosion ließe sich in diesem Sinne eben auch auf ein verändertes Naturverständnis – Entzauberung der Welt und Metrisierung des Raumes (Weber 2002[1919], 488; Werlen 2010, 331) – sowie erweiterte Mittel der Transformation von Natur zurückführen.93 Treffend auf den Punkt gebracht wird dieser Zusammenhang von John Urry, der auf den Doppelsinn der Rede von einer »Liquid Modernity« hinweist: Die von Zygmunt Bauman (2003) beschriebene »Flüchtige Moderne« beruht dementsprechend wesentlich auf der großflächig etablierten Nutzung von Erdöl (Urry 2011b). Ein anderes, in genau die entgegengesetzte Richtung zielendes Beispiel wäre hingegen die durch eine neue Sensibilität für globale ökologische Zusammenhänge angeregte Renaissance traditioneller (›CO2-armer‹) Gesellschaft-Raum-Formationen, wie sie sich gegenwärtig etwa im sogenannten »Bio-Regionalismus« bzw. der Debatte um »Postwachstumsgesellschaften« andeuten (vgl. Andruss et al. 1990; Latouche 2009; Lorenz 2014). Bereits die wenigen genannten Beispiele verdeutlichen, dass sich die beiden Perspektiven gesellschaftlicher Raum- und Naturverhältnisse im empirischen Bezug nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen und große Überlappungsbereiche aufweisen. Beide thematisieren den gesellschaftlichen Umgang mit der materiellen Welt94, akzentuieren aber Unterschiedliches. Das Konzept gesellschaftlicher Naturverhältnisse betont die gesellschaftlich getroffenen Unterscheidungen im Bereich des Materiellen (zwischen Artefakten, ›Naturgegenständen‹ und Hybriden) und die daraus folgenden Handlungsmuster; die Idee gesellschaftlicher Raumverhältnisse hingegen hebt die Rolle der Räumlichkeit bzw. Materialität für Sozialintegration und Prozesse der Vergesellschaftung hervor. Worauf mit der Etablierung einer auf gesellschaftliche Raumverhältnisse gerichteten, sozialgeographischen Sicht hingewiesen werden kann, ist die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der entsprechenden ›Raumlogiken‹ zum Verständnis gegenwärtiger ökologischer Sachverhalte und Problemlagen – man denke etwa an die Diskrepanzen zwischen der Globalität ökologischer Probleme und der (weitestgehend nationalstaatlichen) Territorialität deren politischer Bearbeitung.95 93 94 95
Als Modernisierungsgeschichte, die ihren Ausgang wesentlich im 19. Jahrhundert hat, wird dies etwa bei Kaschuba (2004) und Schivelbusch (2011[1977]) erzählt. Wenngleich, wie mehrfach betont wurde, die Natur/Kultur-Unterscheidung sich auch auf Immaterielles beziehen kann. Ein ganz konkretes, aktuelles Beispiel für die Vielschichtigkeit dieses Phänomens ist die Debatte um die Auslagerung der – die länderspezifische CO2-Bilanz negativ beeinträchtigenden – Produktion von Konsumgütern in Länder der sogenannten ›Dritten Welt‹. Durch die territoriale Zurechnung von Treibhausgasemissionen können die ›entwickelten‹ Länder mit dem späteren Import dieser Waren hinsichtlich der Klimabilanz gewissermaßen ›über ihre Verhältnisse leben‹, d.h. sie sind für mehr Klimagase verantwortlich, als ihnen letztlich zugerechnet werden (Peters et al. 2011; Uken 2011). Dass die Mechanismen des Kyoto-Protokolls für
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Konzepte gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse
Zusammenfassung: Sozialgeographie als integrative Forschung Inwiefern ist die hier skizzierte sozialgeographische Perspektive nun zusammengefasst als integrativer Ansatz zu betrachten? Versteht man unter »Integration« zunächst einmal die nichtreduktionistische Berücksichtigung materieller und immaterieller (sozialer, mentaler) Aspekte, dann bietet die Sozialgeographie unzweifelhaft einen integrativen Zugang zu den Bezügen von Gesellschaft und Natur: Sowohl Sozial-Kulturelles als auch Materielles werden in ihrer Eigenlogik anerkannt und aufeinander bezogen. Da dem Ansatz gemäß das körperlich vermittelte Handeln als Kreuzpunkt von Sozialem, Symbolischem und Materiellem aufzufassen ist, sind auch nur vom Handeln her die Verhältnisse von Gesellschaft und Natur zu thematisieren. In den gesellschaftlich eingebetteten alltäglichen Praktiken, so die sozialgeographische These, werden Verhältnisse von Gesellschaft und Natur (in materieller wie symbolischer Hinsicht) etabliert, aufrecht erhalten, herausgefordert und/oder transformiert. Diese strukturationstheoretisch informierte Sichtweise vermeidet die verdinglichenden Argumentationen, wie sie seit der Haeckel’schen Ökologie in den Diskursen über den Zusammenhang von Gesellschaft und Natur beobachtbar sind, indem sie die Differenz – und alle damit assoziierten Handlungsanweisungen – konsequent als eine innerhalb des Gesellschaftlichen getroffene bzw. stetig zu treffende Unterscheidung konzipiert und damit sozialwissenschaftlich zugänglich macht. Leicht ›luhmannisierend‹ könnte man behaupten, dass die Natur ›an sich‹ der Gesellschaft in dieser Sichtweise gar nichts sagt – wenn überhaupt, ›spricht‹ Gesellschaft über Natur zu sich selbst. Um keine Irritationen zu erzeugen: Mit diesen Ausführungen ist mitnichten gemeint, dass ein handlungstheoretisch konzipierter sozialgeographischer Zugang allein schon ein integratives Forschungsprogramm abgeben könnte. Wie Werlen und Weingarten (2005b, 325) darauf hinweisen, ist für die materiellen Zusammenhänge des Handelns, d.h. die beabsichtigten und unbeabsichtigten materiellen Folgen menschlichen Tuns die Kompetenz der Naturwissenschaften unerlässlich. Mit ihnen ist z.B. zu eruieren, »welche Handlungsweisen zu ökologisch problematischen Folgen führen«, bzw. anders herum: auf welche Formen des Handelns die als ökologisch problematisch bewerteten Zusammenhänge zurückgeführt werden können (Werlen/Weingarten 2005b, 325). Allerdings ist mit dem Begriff der Bewertung bereits darauf hingewiesen, dass die ›ökologische Problematik‹ sich eben nicht ›aus der Sache selbst‹ ergibt, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Strukturierungsprozesses von Natur ist. Folgt man dieser Argumentation, dann ergibt sich für den sozialwissenschaftlichen Teil integrativer Forschungsvorhaben eine doppelte Anforderung: Einerseits besteht ihre Kompetenz und spezifische Aufgabe darin, die sozialen/symbolischen/diskursiven etc. Bedingungen des alltäglichen naturbezogenen Handelns zu die Globalisierung des Warentauschs nicht sensibel genug sind, sondern dahingehend eine eher traditionelle Vorstellung zugrunde legen – jede Region produziert selbst, vor Ort, was sie braucht –, illustriert das ›Hinterherhinken‹ der Klimapolitik hinter den aktuellen gesellschaftlichen Raumverhältnissen.
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untersuchen, andererseits hat sie im Sinne wissenschaftlicher Selbstreflexivität die Konstruktion der (natur-)wissenschaftlichen Gegenstände im Blick zu behalten. Nur durch eine konsequente Sensibilisierung für die eigenen Voraussetzungen, so die These, kann sich Wissenschaft gegen einen unhinterfragten Import alltagsweltlicher Kategorien und Interpretationsmuster bestmöglich zu immunisieren versuchen.96 In Bezug auf die Analyse alltäglichen Handelns, um die es im weiteren Verlauf der Argumentation gehen soll, besteht die sozialgeographische Aufgabe darin, die »Sinnzusammenhänge« (Werlen/Weingarten 2005b, 329), d.h. die etablierten Logiken der Praxis sowie den Nexus von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Tun begrifflich zu erfassen und im empirisch konkreten Fall zu analysieren. Für den Bereich naturbezogenen Handelns schlägt Weichhart (2009, 101ff.; 2007, 949) vor, diesen Zusammenhang als »ökologische Doktrin« zu bezeichnen. Darunter versteht er »ein Gefüge von Handlungsanweisungen, Strategien und Praktiken, die vor dem Hintergrund der Wertestrukturen eines gesellschaftlichen (Teil-)Systems diskursiv und reflexiv entwickelt werden und als normative Vorgaben die Kolonisierungsaktivitäten der betreffenden Population bestimmen« (Weichhart 2009, 101).
Auch wenn man Weichharts Anlehnung an die Wiener Soziale Ökologie und ihr Konzept der Population nicht teilt, macht das Konzept der ökologischen Doktrin dennoch auf einige wichtige Zusammenhänge aufmerksam (Weichhart 2009, 101f.): Erstens ist der Bezirk ökologischen Handelns von zahlreichen, in der Regel nicht kodifizierten Handlungsanweisungen durchsetzt. Zweitens verdanken diese Normen ihre Wirksamkeit hauptsächlich der subjektiven Internalisierung: indem die Handelnden die ›Vorgaben‹ der ökologischen Doktrin zu ihren eigenen Handlungszielen machen (und so, ließe sich hinzufügen, die Verbindung von Gesellschaftlichem und Individuellem herstellen). Und drittens schließlich sind ökologische Doktrinen in einem erweiterten kulturhistorischen Zusammenhang zu sehen, der kulturelle Deutungsmuster o.ä. berücksichtigt. Der Stoßrichtung von Weichharts Gedankengang ist durchaus zuzustimmen. Allerdings wird für die folgende Argumentation vorgeschlagen, einen alternativen theoretischen Bezugspunkt zu seiner Ausformulierung zu wählen. Einer der Gründe dafür liegt in dem vergleichsweise rationalistischen Handlungs-Verständnis, das in dem oben zitierten Passus – und in der handlungszentrierten Sozialgeographie ganz allgemein – zum Tragen kommt. Die Rede von »normative[n] Handlungsanweisungen […], die für das Erreichen bestimmter Ziele als erforderlich oder geboten angesehen werden« (Weichhart 2009, 101) suggeriert z.B. konkrete gesellschaftliche bzw. individuelle Zielsetzungen und bewusste Strategien zur Handlungsverwirklichung. Wie gezeigt werden soll, zeichnet sich aber gerade das ökologische Handeln häufig nicht durch bewusste Zielsetzungen und/oder Befolgung doktrinärer Vorgaben aus, sondern durch eine subtile Anwendung prakti96
Womit nicht behauptet sein soll, eine gänzlich wertfreie Wissenschaft sei möglich. Allerdings entlastet diese Annahme nach der hier vertretenen Auffassung nicht von der Anforderung, die (eigenen) wissenschaftlichen Kategorien kritisch zu reflektieren.
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scher (ökologischer) Logiken. Diese Internalisierungspraktiken und ihre sozialen Voraussetzungen gilt es im nächsten Kapitel begrifflich verfügbar zu machen.
Zwischenfazit Im Abschluss der Darstellung theoretischer Interpretationsangebote zur Analyse (krisenhafter) gesellschaftlicher Naturverhältnisse lässt sich nun auch in Bezug auf die handlungszentrierte Sozialgeographie resümierend die Frage stellen, welche Denkweisen in Bezug auf den gesellschaftlichen Klimawandel sie etabliert und was mit ihr besonders hervorgehoben wird. Grundsätzlich lässt sich festhalten: Auch die handlungszentrierte Sozialgeographie nimmt sich in gewisser Weise der ökologischen Ausgangsfrage nach der bio-physischen Einbettung des Menschen an. Vermittelt über die zentralen Aspekte der Körperlichkeit der Subjekte und der Materialität der Umwelt thematisiert der handlungszentrierte Ansatz die Frage nach den (Außen-)Welt-Beziehungen des Menschen. Analog zu den jüngeren humanökologischen Ansätzen und dem Konzept der Sozialen Ökologie konzipiert sie dabei ›den‹ Menschen jedoch nicht wie die biologische Ökologie als Organismus, sondern fokussiert Handelnde als mit Bewusstsein ausgestattete, sich die Welt sinnhaft aneignende, körperliche Agent*innen. Das in theoretischer Sicht hervorstechendste Merkmal des dargestellten sozialgeographischen Ansatzes ist die konsequente Fokussierung des Handelns. Darin unterscheidet sich die sozialgeographische Forschungstradition nicht nur von den hier präsentierten, sondern auch von vielen anderen Konzepten der Umweltforschung. Nicht Gesellschaft oder gesellschaftliche Bedingungen, nicht die materielle Welt ›an sich‹ oder eine ökologische Krise werden primär thematisiert, sondern zunächst einmal (alltägliches) Handeln. Alltägliches Handeln zur Basiskategorie des Ansatzes zu machen ergibt sich aus der Erkenntnis, dass es den Kreuzpunkt von Sozialem, Symbolischem und Materiellem darstellt. Folgt man diesen sozialgeographischen Prämissen – wie es in der weiteren Argumentation getan werden soll – dann ist das Handeln auch als Bezugspunkt für eine Untersuchung des gesellschaftlichen Klimawandels zu setzen. Phänomene wie Gesellschaft, die materielle Welt etc. sind in dieser Perspektive keineswegs marginal, sie sind jedoch in einer speziellen Weise zu thematisieren, nämlich als materielle, soziale bzw. symbolische Bedingungen sowie intendierte und nichtintendierte Folgen des alltäglichen Handelns. Speziell der Aspekt der Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher Naturverhältnisse lässt sich mit einer solchen Sichtweise neu perspektivieren. Entgegen der in der Sozialen Ökologie vertretenen Argumentation einer gegebenen Krisenlage hebt der sozialgeographische Blick die (Re-)Produktionsprozesse der ökologischen Krise hervor. Als »Krise« können mit Rückbezug auf das Handeln Konfigurationen beschrieben werden, die die Verwirklichung von Handlungsabsichten systematisch beeinträchtigen. Während in der Sozialen Ökologie – und gleichermaßen in anderen ›ökologischen‹ Argumentationen – zumindest unterschwellig von einer Selbstevidenz der erwünschten und un-
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erwünschten Handlungsfolgen ausgegangen zu werden scheint, legt der handlungszentrierte Zugang gerade den Ausweis der Absichten des Tuns, der Vorstellungen über die Welt sowie der verfügbaren Handlungsressourcen nahe. Mit einer solchen Denkweise ist die Ernsthaftigkeit der Folgen menschlicher Handlungen nicht bestritten, es wird jedoch retrospektiv der Blick stärker auf die alltäglichen Strukturierungsprozesse gelenkt, mit denen die gegenwärtigen Handlungsbedingungen geschaffen wurden und geschaffen werden, und es wird prospektiv auf die Notwendigkeit einer Verständigung über zukünftige Handlungsziele und verfügbare Ressourcen hingewiesen. Der zweite von der handlungszentrierten Sozialgeographie besonders hervorgehobene Aspekt sind die Bezüge der alltäglichen Strukturierung von Natur zu gesellschaftlichen Raumverhältnissen. Die im Eingang der Studie beschriebenen gesellschaftlichen Umbrüche (›Ökologisierung des Alltags‹), die damit verbundenen Widerstände und ihre internen Widersprüche lassen sich unter diesen Vorzeichen als ein Transformationsprozess der Raumlogiken alltäglichen Handelns beschreiben. Auf einer Makro-Ebene sind damit, wie oben angedeutet, Phänomene wie das Missverhältnis von häufig noch nationalstaatlich oder regional organisierter Klimapolitik und der Aterritorialität z.B. der CO2-Verbreitung angesprochen. Die weithin sichtbaren Probleme einer ökologischen Transformation weisen in dieser Perspektive auf die Beharrlichkeit traditioneller Weltsichten hin. Auf der Mikro-Ebene individuellen Handelns, die im Folgenden stärker im Zentrum stehen soll, gerät mit einer sozialgeographischen Perspektive die Frage in den Blick, wie die Welt-Bezüge subjektiv gestaltet werden (können). Während die individuelle Welt-Bindung in ›ökologischen‹ Kontexten häufig jedoch hauptsächlich in Bezug auf die materielle Dimension thematisiert wird, etwa wenn am Beispiel von Stoffkreisläufen auf die räumliche und zeitliche Reichweite individueller Praxis hingewiesen wird, werden im Folgenden stärker die sozialen und mentalen Bedingungen des materiell verstrickten Handelns thematisiert. Zur Erörterung dieser Zusammenhänge wird im Folgenden eine an Pierre Bourdieus Praxeologie angelehnte Perspektive vorgeschlagen. Mit Bourdieu wird dabei nicht nur der neben Giddens zweite weit über die Grenzen seiner Disziplin hinaus rezipierte Theoretiker der Praxis herangezogen, sondern auch ein theoretisches Konzept angewendet, das der bei Giddens und Werlen vorhandenen Betonung der Reflexivität und Intentionalität des Handelns eine stärkere Akzentuierung der gesellschaftlichen Einbettung entgegensetzt.
4 Eine praxeologische Heuristik
Die Orientierung an der Kultursoziologie Pierre Bourdieus folgt einer Bewegung, die in der deutschsprachigen Humangeographie als »Neue Kulturgeographie« bezeichnet wird. Als kleinster gemeinsamer Nenner der sehr heterogenen unter diesem Label versammelten Ansätze lassen sich die Einnahme gesellschaftstheoretischer, sozialkonstruktivistischer und macht- bzw. kontextsensitiver Perspektiven anführen (Gebhardt et al. 2007, 14). Bourdieus Praxeologie gerät in den Blick einer solchen Ausrichtung der Humangeographie, weil es sich einerseits konsequent auf die alltägliche (Re-)Produktion sozialer Wirklichkeit richtet, und weil es andererseits, wie Lippuner (2005a, 141ff.) ausführt, zur kritischen wissenschaftlichen Selbstreflexivität anhält. In der kulturtheoretisch orientierten Humangeographie werden praxeologische Theoreme in verschiedenen Zusammenhängen thematisiert. Während Lippuner (2005a; 2005b) eine systematische, theorieaffine Auseinandersetzung mit Bourdieu führt, wird die Theorie der Praxis in anderen Feldern der Subdisziplin eher anwendungsorientiert rezipiert. So etwa finden sich Studien aus der Entwicklungsforschung (Sakdapolrak 2014; Dörfler et al. 2003; Rothfuß 2006; Deffner/ Haferburg 2014), der kritischen Geographie (Kühne 2008), der Geographie des Städtischen (Dirksmeier 2009) oder der geographischen Konfliktforschung (Janoschka 2009) bzw. der Politischen Geographie (Bonn 2013), die explizit Bezug zu Bourdieu nehmen. Für den hier zu verhandelnden Zusammenhang – der gesellschaftliche Klimawandel als alltägliche Strukturierung von Natur – wird die Bourdieu’sche Praxeologie herangezogen, um die gesellschaftlichen Bedingungen und die Eigenlogik ›ökologischer‹ Praktiken theoretisch zu erfassen. Es handelt sich damit um eine praxeologische Erweiterung der Grundperspektive handlungszentrierter Sozialgeographie. Die Darstellung der Grundzüge der Theorie der Praxis wird im Folgenden in fünf Schritte gegliedert. Im ersten Abschnitt geht es um Bourdieus Ausgangspunkt: die Beobachtung gesellschaftlichen Wandels am Beispiel der Modernisierung Algeriens. An diesen Darstellungen lassen sich das Kerninteresse des praxeologischen Ansatzes sowie die Relevanz der weiteren eingeführten Konzepte illustrieren. Im zweiten Abschnitt werden im Sinne einer differenzierungstheoretischen Perspektive soziale Felder als spezifische gesellschaftliche Handlungssphären thematisiert. Der dritte Abschnitt wendet sich den in der Praxis eingesetzten Handlungsressourcen, den Kapitalformen zu. Im vierten und fünften Abschnitt
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Eine praxeologische Heuristik
schließlich werden mit dem Begriff des Habitus die Sozialität der Handelnden sowie die Praxis selbst bzw. ihre Logik thematisiert. Gesellschaftliche Transformationsprozesse Ein Ausgangspunkt, um zu illustrieren, warum eine praxeologische Perspektive einen sinnvollen Zugang zur Problematik des gesellschaftlichen Klimawandels bietet, ist ihre eminente Sensibilität für die Folgen gesellschaftlicher Transformationsprozesse. Theoriegenetisch stehen Beobachtungen der Veränderung eines ganzen sozialen Universums am Beginn der Praxeologie – es handelt sich dabei um Bourdieus Analyse der Modernisierung Algeriens in den 1950er und 1960er Jahren. Besonders der Prozess der Installation eines westlich-kapitalistischen Wirtschaftssystems stößt dabei auf Bourdieus Interesse, da sich hier die Verwerfungen zwischen einer traditionellen (bei Bourdieu: der kabylischen) und einer modernisierten gesellschaftlichen Organisation mit der Deutlichkeit einer »Laborsituation« (Bourdieu 2000, 7) zeigen. Kernpunkt der Analyse Bourdieus sind die typischen Haltungen, d.h. Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster im Bereich des Ökonomischen; es geht Bourdieu, wie es Schultheis (2000, 179) in Durkheim’scher Diktion beschreibt, um die »elementaren Formen des ökonomischen Lebens«. Wirtschaften, das heißt produzierende Arbeit und Handel, erfolgt bei den von Bourdieu untersuchten Kabylen traditionellerweise nicht nach den Prinzipien des einträglichen Geschäfts, sondern nach dem Prinzip der Ehre: »Ehrenhafte Personen verkaufen weder Milch (›Na hör’ mal! Der hat Milch verkauft‹), noch Butter, noch Käse, auch nicht Gemüse oder Früchte, sondern ›lassen es Nachbarn zugute kommen‹« (Bourdieu 2000, 8). Dabei handelt es sich nicht etwa um gönnerhafte Ausnahmen, sondern um konstitutive Prinzipien der kabylischen Ökonomie: Wirtschaften erfolgt grundsätzlich »nach den Regeln der Reziprozität und der Unentgeltlichkeit« (Bourdieu 2000, 9). Die Logik dieser präkapitalistischen97 Ökonomie »Auf-Treu-und-Glauben« (Bourdieu 2000, 18) ist dabei nicht einfach nur das ›Regelwerk‹ eines ganz bestimmten, genau abgrenzbaren Lebensbereiches, sondern sie ist eingebettet in eine umfassende Weltsicht. Innerhalb dieser ist es nicht statthaft allzu kalkulatorisch zu denken. Der Versuch der Beherrschung von Zeit (durch Planung der Zukunft) und Raum (durch rationalisierte Landwirtschaft) gilt etwa als unangemessene Berechnung der »Großzügigkeit Gottes« (Bourdieu 2000, 42). Gleichermaßen dürfen Tätigkeiten nicht vor dem Hinter97
Der Begriff »präkapitalistisch« entspricht Bourdieus eigener Terminologie (bzw. derjenigen seiner Übersetzer). Auch wenn im Falle Algeriens die mit dem Begriff angedeutete historische Abfolge sicher zu großen Teilen den ›Tatsachen‹ entspricht, trägt das Adjektiv dennoch die befremdliche – und sicher unbeabsichtigte – Konnotation einer Notwendigkeit der Transformation in eine kapitalistische Ökonomie. Allerdings: Gewiss ist die kapitalistische nicht die einzig denkbare alternative Wirtschaftsform, die Unterschiede zur traditionellen kabylischen Ökonomie aufweist. Es ließe sich höchstens davon ausgehen, dass diese die größtmögliche Differenz zu jener aufweist.
Gesellschaftliche Transformationsprozesse
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grund des durch sie erschaffenen Produkts bewertet werden, d.h. sie dürfen nicht an einem modernen Verständnis von »Arbeit« gemessen werden. Stattdessen sind sie nach kabylischen Maßstäben anhand ihrer gesellschaftlichen Funktion – eine der entsprechenden sozialen Rolle gemäße Tätigkeit auszuführen – zu bewerten (ebd., 75). Diese traditionellen Wirtschaftsformen erleben mit der französischen Kolonialisierung Algeriens und seiner zunehmenden Modernisierung in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine dramatische Umwertung. Der Weber’sche ›Geist des Kapitalismus‹ greift Platz und die auf der Ehre basierende Weltsicht der Kabylen gerät in Spannung zu einem Wirtschaftssystem, das gerade auf Kalkulation, Zukunftsplanung, Erwerbsarbeit etc. ausgerichtet ist. Die Friktionen zwischen kabylischer und kapitalistischer Haltung sind dabei nicht nur in Hinsicht der materiellen Lebensbedingungen der Kabylen folgenreich, sondern auch und vor allem führt die gesellschaftliche Transformation zu einer symbolischen Deprivation der Betroffenen. Diesen wird eine symbolische Ordnung oktroyiert, die schlichtweg mit allen vertrauten Glaubenssätzen bricht. Aus diesem Grund spricht Bourdieu (2010, 313) auch nicht von einer notwendigen Anpassung der Kabylen an das moderne Wirtschaftssystem, sondern von einer Konversion, einem Bruch mit »eingefleischten Vorannahmen«. Aus soziologischer Sicht lässt sich an diesem Transformationsprozess vor allem zeigen, dass ökonomische Haltungen und Einstellungen keineswegs eine voraussetzungslose Tatsache sind, sondern eine im engsten Sinn des Wortes sozial kontingente Tat-Sache, d.h. das Produkt einer subjektiven wie kollektiven Aneignungsarbeit. Bourdieus frühe, kolonialismuskritische Studien zielen dementsprechend u.a. darauf, hervorzuheben »daß das, was sich die gesamte Wirtschaftswissenschaft als unhinterfragbare Tatsache vorstellt, d.h. das Ensemble der Einstellungen des ökonomischen Akteurs, welche die Illusion einer ahistorischen Universalität der von dieser Wissenschaft verwandten Kategorien und Konzepte begründet, sich in Wirklichkeit als das Produkt einer langfristigen kollektiven Geschichte darstellt und im Rahmen der Ontogenese […] immer wieder aufs Neue über und durch eine zu leistende Konversionsarbeit angeeignet werden muß, welche nur unter bestimmten Bedingungen Erfolg hat« (Bourdieu 2000, 17).
Im historischen Fall der Kabylen wurde versucht, passfähige ökonomische Haltungen (d.h. moderne ökonomische Einstellungen) vor allem durch gewaltsame Transformation ökonomischer Institutionen, d.h. de facto durch eine Umerziehungsarbeit zu erzeugen (Bourdieu 2010, 303ff.). In der sozialen Wirklichkeit sind allerdings – das lässt sich als eines der Grundmotive des gesamten Œuvres Bourdieus begreifen – häufig sehr viel subtilere Mechanismen der Aneignung von Haltungen am Werk. Aufbauend auf den skizzierten Studien zur algerischen Modernisierung lässt sich mit Bourdieu nun eine erste allgemeine theoretische Frage formulieren: In welcher Beziehung stehen die Haltung der Individuen und die soziale Welt, in der sie agieren? Die theoretischen Begriffe, die Bourdieu zum Umgang mit dieser Frage entwickelt, sind »Feld«, »Habitus« und »Praxis«.
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Eine praxeologische Heuristik
Soziale Felder als Sphären der alltäglichen Praxis Der Begriff des Feldes bezeichnet die Welt-Seite der oben dargestellten Beziehung. Er ist in praxistheoretischer Sicht nur analytisch vom Begriff der Haltung (oder des Habitus) zu trennen, beide Begriffe sind komplementär aufeinander bezogen. Sie bezeichnen damit, wie Bourdieu (1985, 69) sich ausdrückt, »zwei[…] Zustände des Sozialen«. Etwas über die Welt oder spezifische Felder zu sagen bedeutet damit, immer auch etwas über die Haltungen und Habitus der auf den Feldern befindlichen Agent*innen zu sagen, und vice versa. Als weiteres Präliminarium ist hinzuzufügen, dass Felder im Rahmen der Praxeologie den Status eines heuristischen Mittels haben. Auch wenn sich essentialistisch anmutende Redeweisen in Bezug auf Felder kaum vermeiden lassen, ist mit dem Feldbegriff zunächst einmal eine bestimmte Art zu denken angesprochen (Bourdieu/Wacquant 2006, 126). Felder sind in diesem Sinne »nicht wie ein Ding, auf das man zeigen kann« (Rehbein/ Saalmann 2009a, 101) und sie sind auch keine alltagsweltlichen Konstrukte, sondern ein spezifisches (sozial-)wissenschaftliches Erkenntnisinstrument. Auf welche Zusammenhänge macht der Feldbegriff nun aufmerksam? Zwei Aspekte des von Bourdieu vielfältig verwendeten Begriffs sollen im Folgenden hervorgehoben werden: Einerseits weist das Konzept auf die Einteilung der sozialen Welt in verschiedene Handlungsbereiche hin. In Analogie zu Alfred Schütz und Max Weber ließe sich hier auch von »Sinnprovinzen« oder »Wertsphären« sprechen (vgl. Jäger/Meyer 2003, 68), d.h. von mehr oder minder eigenlogischen, abgrenzbaren Bezirken des sozialen Lebens. Bezogen auf das oben genannte Beispiel der algerischen Transformation bezeichnet das Feld etwa den Bereich des kapitalistisch-ökonomischen Handelns.98 Andererseits beinhaltet das Feldkonzept den Aspekt einer sozialen Struktur, in welche die konkrete Praxis eingebettet ist. Felder stellen sich in diesem Sinn als Systeme von Relationen dar, die durch unterschiedlich verteilte und zu verteilende Vermögen der Partizipation an den feldspezifischen Aktivitäten generiert werden (Bourdieu/Wacquant 2006, 127). Im Falle des ökonomischen Feldes bezeichnet dies z.B. die durch ungleiche Verfügung über ökonomische Ressourcen verwirklichten Hierarchien; aber auch jene, die sich aus der Möglichkeit der Einflussnahme auf die Logik des Feldes ergeben, wie etwa die Anerkennung ›ehrlicher Arbeit‹ oder die Legitimität von Finanzhandel. Stellt man zunächst den Aspekt der Eigenlogik ins Zentrum, lässt sich der Feldbegriff als eine Art implizite Gesellschafts- bzw. Modernisierungstheorie Bourdieus lesen. Differenzierungstheoretisch stellt sich die moderne Gesellschaft nämlich als eine »Ausgliederung« verschiedenster Handlungsbereiche dar (Jurt 2008, 90). Der Bereich der Bildung lässt sich hier trennen vom Bereich der Kunst, das Feld der Politik von demjenigen der Religion und dem des Sports etc. Jede dieser Sphären verfügt über eine eigene, nicht ohne Irritationen oder Sanktionen auf die anderen Bereiche übertragbare Logik. Diese Grundperspektive einer Differenzierung teilt die Theorie sozialer Felder mit der Theorie sozialer Systeme, wie sie 98
Wobei gleichermaßen natürlich auch der Bereich der traditionellen kabylischen Ökonomie in Feldbegriffen beschrieben werden könnte.
Soziale Felder als Sphären der alltäglichen Praxis
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etwa von Niklas Luhmann entwickelt worden ist. Analog zur systemtheoretischen Differenzierung in gesellschaftliche Systeme besteht der soziale Kosmos nach Bourdieu und Wacquant (2006, 127) »in hochdifferenzierten Gesellschaften […] aus der Gesamtheit dieser relativ autonomen sozialen Mikrokosmen«. Allerdings betonen die beiden Autoren im selben Argumentationszusammenhang, dass zwischen beiden Theorierichtungen nur »oberflächliche Ähnlichkeiten« bestünden (Bourdieu/Wacquant 2006, 134). So sei ein elementarer Unterschied zwischen Feld- und Systembegriff, dass Systeme selbststabilisierende, mehr oder minder klar umrissene Entitäten darstellen, während Felder sich gerade durch eine konstitutive Dynamik und flexible, umkämpfte Grenzen auszeichnen (ebd., 135). Die Autonomisierung der Felder sei dementsprechend als historisch unabgeschlossener Prozess aufzufassen und jede soziologische Analyse könne nur eine Momentaufnahme sein. Die Ausgliederung von Handlungssphären und deren Dynamik werden im Kontext des Feldes als eines Kampfplatzes um Positionen noch einmal zu thematisieren sein, für den Moment soll das Augenmerk zunächst auf die Funktionsweise der Felder gerichtet werden. Auch wenn es in den Sozialwissenschaften häufig – und aus gutem Grund – vermieden wird, Analogien zu physikalischen Theorien zu bilden, kann ein Verweis auf den Ursprung des Feldbegriffs in der Physik instruktiv sein. Als Felder werden hier räumliche Bereiche bezeichnet, in denen bestimmte Kräfte wirken. Das klassische Beispiel dafür ist das Magnetfeld. Innerhalb eines bestimmten Bereiches wirken genau definierbare Kräfte auf besondere, nämlich ferromagnetische Körper. Die Feldeffekte mögen an unterschiedlichen Stellen des Feldes unterschiedlich groß sein, solange sie jedoch wirken, befindet sich der entsprechende Körper auf dem Kräftefeld. Und umgekehrt natürlich: Verlässt der Körper den Bereich, in dem die Feldkräfte wirken, verlässt er auch das Feld (vgl. Rehbein/Saalmann 2009a, 99).99 Sowohl der Aspekt der Bestimmung der Feldgrenzen durch Effektreichweiten als auch die Definition als ein Kräftefeld werden im praxeologischen Feldbegriff beibehalten – auch wenn, entgegen einiger Kritiker Bourdieus, der mechanistische bzw. kausalistische Grundgedanke der Physik hier natürlich nicht zum Tragen kommt (vgl. Bourdieu 1985, 74). Wie stellen sich Feldeffekte nun im Bereich des Sozialen dar? Zum Eintritt in ein Feld – und damit den Wirkungsbereich der Feldeffekte – sind verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen. Wichtigstes Erfordernis aus Sicht der Individuen ist, ein Interesse für das zu besitzen, was auf dem Feld ›auf dem Spiel steht‹ (Bourdieu 1993a, 107). Sie müssen also, um z.B. auf dem Feld der (kapitalistischen) Ökonomie überhaupt aufzutauchen und etwas bewirken zu können, einerseits ein Verständnis für die Logik des einträglichen Geschäfts ha99
Eine erste Übertragung des physikalischen Begriffs des Feldes auf die Sozialwissenschaften wurde von dem Sozialpsychologen Kurt Lewin vorgenommen (vgl. Lewin 1963). Kern ist die Idee der Kraft auf Handelnde (Rehbein/Saalmann 2009a, 99). Die Entscheidungssituationen, in denen sich Handelnde permanent befinden, werden von Lewin als Kräftefelder konzeptualisiert, in denen verschiedene Vektoren wirksam sind. So kann die Wahl zwischen zwei Handlungsoptionen in Lewins topologischer Sozialpsychologie als Wirken zweier Vektoren beschrieben werden, die das Handeln beeinflussen.
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ben, und andererseits diese Logik anerkennen. Unabhängig davon, ob die Teilnehmer*innen in der Lage dazu sind, die Regeln der Felder zu verändern, werden mit dem Eintritt in den Interessenbereich eines Feldes also zunächst einmal dessen grundlegende Bestimmungen reproduziert (ebd., 109; Bourdieu 1998, 142). Zur Bezeichnung der spezifischen Interessenobjekte, die auf den Feldern verhandelt werden, führt Bourdieu den Terminus »illusio« ein (Bourdieu/Wacquant 2006, 147ff.; Bourdieu 1998, 140ff.). In einer »falschen Etymologie« an Johan Huizingas Topos des homo ludens angelehnt, referiert der Begriff auf die Involviertheit der Handelnden in einem Feld, »die Tatsache, daß man vom Spiel erfaßt, vom Spiel gefangen ist, daß man glaubt, daß das Spiel den Einsatz wert ist, oder […], daß sich das Spielen lohnt« (Bourdieu 1998, 140f.). Das Konzept der illusio hebt damit hervor, dass die Praxis auf häufig unhinterfragten, selbstverständlichen Annahmen beruht, die zwar nicht prinzipiell unabänderlich sind, da sie sich einer kontingenten Praxis der Reproduktion verdanken, die aber in der Regel eine gewisse Kontinuität aufweisen. Die feldspezifischen illusiones sind dementsprechend als der individuellen Praxis äußerliche, strukturelle Bedingungen aufzufassen. Bourdieu (2001a, 193; 1985, 69) bezeichnet die Felder in diesem Sinn auch als »Ding gewordene Geschichte«. Für die Untersuchung von sozialen Feldern ergibt sich daraus zunächst, dass nur da von einem spezifischen Feld die Rede sein kann, wo sich ein bestimmtes feldspezifisches Gut, eine illusio identifizieren lässt (Bourdieu 1998, 142). Damit ist impliziert, dass die Felder nicht ineinander aufgehoben sind. Auch wenn Bourdieu verschiedentlich von Subfeldern spricht, geht es in den einzelnen Sphären dennoch um ein jeweils spezifisches Gut von eigener Qualität (Bourdieu/Wacquant 2006, 135). Sozialwissenschaftliche ›Feld-Arbeit‹ muss demgemäß mit der Suche nach spezifischen Handlungslogiken beginnen. Der Feldbegriff und das Konzept der illusio weisen implizit auch auf den Machtaspekt alltäglicher Praxis hin: Es mag vor allem im Bereich von sehr vertrauten, ›in Fleisch und Blut‹ übergegangenen Feldern wie der Ökonomie trivial erscheinen darauf aufmerksam zu machen, dass das grundlegende Verständnis für ein Feld eine Art Eintrittsbedingung darstellt. Hält man sich jedoch andere Felder vor Augen – wie etwa die Sphären der Wissenschaft oder der Kunst, oder auch die kapitalistische Ökonomie aus Sicht der oben beschriebenen Kabylen –, so wird deutlich, dass das Verständnis der feldspezifischen illusio in der Tat häufig ein effektives Ausschlusskriterium sein kann (vgl. Bourdieu 1993a, 111). Nicht ohne Grund spricht Bourdieu (1993a, 109) in ökonomistischer Analogie auch von »Investition[en]« oder »Eintrittspreis[en]«, die zu leisten bzw. zu entrichtet sind, um am Spiel des Feldes teilzuhaben. Neben der illusio ist das zweite Merkmal von Feldern, dass sie als topologische Räume konzipiert sind. Das bedeutet, dass soziale Felder einen Raum von Unterschieden darstellen, in dem nach den Regeln des Feldes um begehrte Positionen gekämpft wird. Ein solches Verständnis von Feldern als Bereichen des Kampfes erklärt sich aus Bourdieus soziologischem Grundverständnis. Soziologie begreift er als eine Sozialtopologie, d.h. im Zentrum der Disziplin stehen Fragen nach der Position von Individuen oder Gruppen in Relation zu Anderen sowie die sich da-
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raus ergebende soziale Dynamik (vgl. Bourdieu 1985, 9). Dementsprechend werden auch die den sozialen Raum ausmachenden Felder definiert »[…] als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen« (Bourdieu/Wacquant 2006, 127). Als typische, über alle Felder hinweg beobachtbare Grundkonstellation lässt sich nach Bourdieu die Einteilung von Feldpositionen in Orthodoxie und Häresie beobachten (Bourdieu 1993a, 109; Rehbein/Saalmann 2009a, 101). Während die der Orthodoxie zuzurechnenden Subjekte eher an einer Erhaltung der Feldstrukturen – und damit ihrer Monopolstellung – interessiert sind, fordern die Vertreter*innen der Häresie die feldspezifische Ordnung (Strukturen und Regeln) heraus. Exkurs: Formen und Funktionen von Kapital Damit ist schließlich die Frage aufgeworfen, mit welchen Mitteln die Konkurrenz auf den Feldern verwirklicht wird bzw. wodurch sich die Relationen zwischen Subjekten bestimmen. Das, was im Kampf um eine bessere Position auf den Feldern oder zur Verteidigung von Positionen eingesetzt wird, bezeichnet Bourdieu als Kapital. In Anlehnung an Karl Marx wird Kapital dabei als »akkumulierte Arbeit«, d.h. als Ergebnis von Aneignungsprozessen konzipiert (Bourdieu 1992a, 49). Entgegen der marxistischen Interpretation kann in Bourdieus Praxeologie allerdings nicht nur ökonomischer Besitz als Kapital charakterisiert werden, sondern alle »Ressourcen, die gesellschaftlich wertvoll sind«, d.h. Handlungsoptionen erschließen (Rehbein/Saalmann 2009b, 135). Dementsprechend wird der Kapitalbegriff auf verschiedene Vermögen aufgefächert. Generell unterscheidet Bourdieu drei bzw. vier Grundformen von Kapital: ökonomisches, kulturelles, soziales sowie als Sonderform symbolisches Kapital. Als ökonomisches Kapital werden diejenigen Güter bezeichnet, die sich monetär quantifizieren, also »unmittelbar in Geld« umsetzen lassen (Bourdieu 1992a, 51). Damit sind materielle und immaterielle Vermögenswerte gemeint, die von den Individuen erworben werden und deren Akkumulation durch Eigentumsrechte gedeckt ist. Ökonomisches Kapital kann dabei, wie es die obige Formulierung nahe legt, durch zeitintensive Arbeit erworben werden. Allerdings, wie Rehbein und Saalmann (2009b, 135) betonen, darf diese Vorstellung nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der sozialen Wirklichkeit auch andere Formen der Aneignung ökonomischen Kapitals beobachtbar sind, welche nicht zwingend mit der ›klassischen‹ Vorstellung von Arbeit übereinstimmen. Das kulturelle Kapital charakterisiert diejenigen Handlungsressourcen, die sich (im weitesten Sinne) aus der Teilhabe an Bildungsprozessen ergeben. Dabei lassen sich drei Formen unterscheiden (Bourdieu 1992a, 53ff.): Erstens, das inkorporierte kulturelle Kapital, das individuell erworbene Wissensbestände und Fähigkeiten bezeichnet (etwa die Kenntnis von Fremdsprachen oder das Beherrschen eines Musikinstruments). Zweitens, das objektivierte kulturelle Kapital, welches dingliche Ergebnisse der kompetenten kulturellen Praxis wie Bücher, Kunstwerke etc. darstellt. Drittens schließlich, das institutionalisierte kulturelle Kapital, das
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beispielsweise durch anerkannte Bildungstitel (wie Schulabschlüsse oder Zertifikate) verkörpert wird. Relevant ist an den Formen kulturellen Kapitals aus Sicht der Feld-Dynamik, dass sie auf verschiedene Weise sich anzueignen und in unterschiedlichem Maße übertragbar sind. Während inkorporiertes kulturelles Kapital einen individuellen Aneignungsprozess voraussetzt, der unhintergehbar Zeit in Anspruch nimmt und es an die spezifische Person bindet, kann objektiviertes kulturelles Kapital – als Gegenstand – erworben bzw. übertragen werden, und auch Bildungstitel sind unter bestimmten Bedingungen direkt aus ökonomischem Kapital heraus zu generieren (vgl. Bourdieu 1992a, 55ff.). Allerdings wäre es ein Trugschluss und eine Unterschätzung der Logik der Praxis anzunehmen, dass mit dem Besitz kultureller Güter und Titel bereits eine Inwertsetzung jener verbunden sei. Stattdessen erhalten sie ihren Wert nur in Verbindung mit individuellen Kompetenzen (ebd., 59). Die Inhaber müssen über eine Kompetenz im Umgang mit den Kulturgütern verfügen bzw. ihre Bildungstitel in der Praxis rechtfertigen, um auf den Feldern dauerhaft zu reüssieren.100 Soziales Kapital als dritte Grundform bezeichnet schließlich die sich aus der Einbindung in bestimmte soziale Netzwerke ergebenden Handlungsoptionen. Es besteht nach Bourdieu (1992a, 63) in der alltäglichen Praxis »auf der Grundlage von materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen«, d.h. soziales Kapital wird nur im Zugang zu anderen Ressourcen bzw. durch Anerkennung der eigenen Person sichtbar. Als kanonische Beispiele von Sozialkapital gelten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie oder zu einem Club, einer Partei oder auch, so Bourdieu (ebd., 67), zu einer Nation. Auch die Akkumulation sozialen Kapitals erfordert in der Regel Arbeit oder eine Investition, da die Beziehungen beständig reproduziert werden müssen um einsetzbar zu bleiben (ebd.). Als vierte Kapitalform neben ökonomischem, kulturellem und sozialem wird häufig das symbolische Kapital angegeben. Es handelt sich dabei allerdings nicht im engeren Sinne um eine Kapitalform, sondern gewissermaßen um einen besonderen ›Aggregatzustand‹ sonstigen Kapitals. Der Begriff des symbolischen Kapitals bezeichnet eine bestimmte Qualität, die ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapital annehmen kann, wenn es in einem bestimmten Bereich Anerkennung findet (Barlösius 2006, 110). Das heißt, symbolische Qualität nimmt das jeweilige spezifische Kapital an, wenn es »gemäß [feldspezifischer] Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien, Klassifikationssystemen, kognitiven Systemen wahrgenommen wird«, wenn es, kurz gesagt, als legitim anerkannt wird (Bourdieu 1998, 150; 1985, 11). Die symbolische Qualität wirkt damit als ein feldspezifischer Verstärker der Wirkungen des Kapitals. Ihre Funktionsweise beruht auf der Existenz von Handelnden, die in der Lage sind, Unter100 Bourdieu (1992a, 62) verweist zwar darauf, dass insbesondere Bildungstitel vom dauerhaften Zwang der Legitimation befreien (im Gegensatz zu den Kompetenzen der unter Rechtfertigungszwang stehenden »Autodidakten«), allerdings dürfte davon auszugehen sein, dass ein Mindestmaß an Kongruenz zwischen dem ›Vertrauensvorschuss‹ eines Bildungstitels und den tatsächlich vorhandenen Kompetenzen (bzw. dem Habitus) einer Person bestehen muss, um das institutionalisierte kulturelle Kapital erfolgreich einzusetzen.
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schiede zu erkennen und anzuerkennen (Bourdieu 1998, 22).101 Das Konzept des symbolischen Kapitals kann in diesem Sinne als ein Verdichtungspunkt des soziologischen Denkens Bourdieus gesehen werden. Es macht darauf aufmerksam, dass sich die Position in einer sozialen Struktur nicht einfach aus der Erhebung objektiven Kapitalvolumens ergibt, sondern dass sie nur kontextuell – in Bezug auf ein bestimmtes Feld und in Relation zu bestimmten Agent*innen – zu erschließen ist. Symbolisches Kapital ist in diesem Sinne nicht einfach als ein zusätzlich zu anderen Handlungsressourcen hinzukommendes Element zu verstehen, sondern gehört als Anerkennungsverhältnis grundlegend zur sozialen Existenz.102 Auch wenn die drei dargestellten Kapitalgrundformen im Rahmen der Praxeologie eine gesonderte Rolle einnehmen, erfährt die Differenzierung im Zuge der konkreten Feldanalysen eine Ausweitung. Folgt man der feldtheoretischen Annahme, dass auf den Feldern spezifische Güter verhandelt werden und spezifische Logiken der Praxis zur Anwendung kommen, dann sollten sich auch feldspezifische Kapitalsorten ausmachen lassen. Im Wissenschaftsfeld, um eines der kanonischen Beispiele zu verwenden, sind beispielsweise Reputation, Originalität usw. die Mittel, um seine Position zu verändern oder zu verteidigen. Analog dazu lassen sich auch in allen anderen Feldern spezifische Kapitalien ausmachen (vgl. Bourdieu 1992b, 112; 1993a, 108; Bourdieu/Wacquant 2006, 139). Fuchs-Heinritz und König (2005, 161) rekonstruieren in Bourdieus Werk z.B. die Identifikation von so verschiedenen Sorten wie wissenschaftlichem, staatlichem, literarischem, juristisch-wirtschaftlichem, technologischem oder linguistischem Kapital. Diese Unterscheidungen werden von einigen Kommentatoren zwar mit kritischem Unterton als »kreative Vermehrung von Kapitalsorten« (Rehbein/Saalmann 2009b, 139f.; vgl. Schwingel 1998, 89) beschrieben, andererseits aber zugleich als Anzeichen einer hohen empirischen Sensibilität des Kapitalansatzes gewertet. Ein demgegenüber vielfach geteiltes Problem stellt indessen die ungeklärte theoretische Beziehung der feldspezifischen Kapitalsorten zu den drei Grundfor101 Vgl. illustrativ dazu Bourdieu (1998, 22): »Genauer gesagt […], ein Unterschied, ein Unterscheidungsmerkmal […] wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial relevanten Unterschied, wenn es von jemandem wahrgenommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen – weil er selber in den betreffenden Raum gehört und daher nicht indifferent ist und weil er über die Wahrnehmungskategorien verfügt, die Klassifizierungsschemata, den Geschmack, die es ihm erlauben, Unterschiede zu machen, Unterscheidungsvermögen an den Tag zu legen, zu unterscheiden – zwischen einem bunten Bildchen und einem Gemälde oder zwischen Van Gogh und Gauguin«. 102 So betont Bourdieu im sicherlich nicht zufällig am Ende seiner »Meditationen« stehenden Kapitel zum symbolischen Kapital: »Alle Bezeugungen sozialer Anerkennung, die das symbolische Kapital ausmachen, alle Formen des Wahrgenommenwerdens, aus denen das bekannte, sichtbare (durch visibility ausgezeichnete), berühmte (oder gerühmte), bewunderte, zitierte, geliebte usw. soziale Sein sich zusammensetzt, sind Bezeugungen der Gnade […], die diejenigen, denen sie zuteil wird, von dem Elend einer nicht gerechtfertigten Existenz befreit […]. Umgekehrt gibt es vielleicht keine schlimmere Enteignung, keinen grausameren Verlust als den, den die im symbolischen Kampf um Anerkennung, um Zugang zu einem sozial anerkannten sozialen Sein, das heißt, mit einem Wort, um Menschlichkeit, Besiegten erleiden« (Bourdieu 2001a, 310).
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men dar. So geht Bourdieu kaum auf die Frage ein, ob sich ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital auf einer allgemeineren Ebene als die feldspezifischen Kapitalformen befinden, und sich z.B. letztere aus ersteren ableiten lassen. Eine mögliche Interpretation wäre, dass mit der Etikettierung als »Grundformen« gemeint ist, dass die drei Basissorten eben nicht feldspezifisch sind und in allen Sphären sozialen Lebens relevante Ressourcen darstellen – allerdings findet sich dies bei Bourdieu nicht explizit formuliert. Besonders mit diesem zuletzt genannten Aspekt der Konvertierung von Kapitalformen ist der eigentliche heuristische Wert des praxeologischen Kapitalkonzepts – und sein Bezug zur Konkurrenz-Logik der Felder – angesprochen. Die Legitimationskämpfe, von denen oben die Rede war, können vor dem Hintergrund einer Wandelbarkeit der Kapitalformen nämlich genauer bestimmt werden: als Kämpfe um den Wert und den Wechselkurs der einzelnen Kapitalia. Einerseits kann dabei der Tauschwert der üblichen Kapitalformen zur Disposition stehen, z.B. wenn die Notwendigkeit bestimmter persönlicher Beziehungen (soziales Kapital) zum Eintritt in exklusive Bildungsinstitutionen (kulturelles Kapital) kritisiert und ein ›gerechtes‹ Zulassungssystem gefordert wird. Andererseits kann, noch fundamentaler, auch über die Verteilung von Anerkennung oder symbolischem Kapital in Bezug auf eine andere Kapitalform verhandelt werden, was die Veränderung einer Feldstruktur und Feldlogik nach sich zöge. Insgesamt betrachtet weisen die Kapital- und Feldtheorie innerhalb des praxeologischen Ansatzes auf ein ganz ähnliches Moment hin, wie es bei Giddens als Dialektik von Ermöglichung und Zwang von Struktur gefasst wird: die Einsicht, dass Praxis nicht voraussetzungslos ist, da sie sich stets in vorstrukturierten sozialen Kontexten entfaltet, auf verschieden verteilten Handlungsressourcen beruht, im selben Moment jedoch auch als offen, kreativ und strukturell transformativ begriffen werden muss (vgl. Hillebrandt 2009b, 376). Der Begriff des sozialen Feldes bezeichnet in diesem Sinne keine starre Struktur, in der genau angebbare Regeln das Tun der Agierenden leiten, sondern einen in »geschmeidiger, offener und flexibler« sozialer Interaktion (Krais 2004, 202) dynamisierten Kontext. Wurde oben behauptet, der Feldbegriff charakterisiere die (objektivierte) Welt-Seite der Beziehung von Haltung der Subjekte und Welt des Agierens, so ist bereits in der Darstellung der illusio bzw. der Kapitalformen stillschweigend ein Perspektivenwechsel vorgenommen worden: der Blickwechsel zu den Haltungen und Kompetenzen der Handelnden, zu ihrem Vermögen, in einem Feld aktiv zu sein. Das zentrale Konzept, mit dem dies in der Praxeologie bearbeitet wird, ist der Habitus. Der Habitus kann als notwendiges Gegenstück zum Feld gelesen werden, als Garant für eine gewisse Stabilität der Felder und eine Beständigkeit der Praxis (Joas/Knöbl 2004, 547f.). Bezeichnet das Feld die »in […] Sachen objektivierte Geschichte«, so charakterisiert der Habitus die »leibhaft gewordene[…] Geschichte« (Bourdieu 1985, 69).
Das Konzept des Habitus
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Das Konzept des Habitus Das Habituskonzept gehört zu den bekanntesten und wenigen auch außerhalb der Praxeologie verwendeten Konzepten Bourdieus. Die damit verbundene Denkweise lässt sich bereits bei Aristoteles beobachten, der mit dem später zum »Habitus« latinisierten Begriff der »Hexis« eine ›erworbene Haltung‹ bezeichnet (Holder 2009, 124). Der Habitusbegriff wird schließlich in der Philosophie Thomas von Aquins aufgegriffen und findet im frühen 20. Jahrhundert in den soziologischen Arbeiten Durkheims, Webers, Mauss’ und Elias’ eine erste soziologische Ausarbeitung (Krais/Gebauer 2002, 5). Bourdieu greift den Begriff in Anschluss an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky und seine Arbeit über den Zusammenhang von gotischer Architektur und scholastischer Philosophie auf (Bourdieu 1974) und entwickelt ihn zu einem Schlüsselkonzept seiner Soziologie. Um die zentrale Stellung des Habituskonzepts im Denken Bourdieus zu erfassen ist es notwendig, sich den theoretischen Ausgangspunkt der Praxistheorie zu vergegenwärtigen: die Auseinandersetzung mit dem Dualismus von objektivistischen und subjektivistischen Sozialtheorien. Jenen Dualismus bezeichnet Bourdieu als »grundlegendste[n] und verderblichste[n]« aller Gegensätze, »die die Sozialwissenschaften künstlich spalten« (Bourdieu 1993b, 49). Die Verderblichkeit besteht darin, dass beide Positionen jeweils entscheidende Elemente der sozialen Welt bzw. der Praxis ausklammern und auf eine entweder ›bloß‹ sozialphysikalische oder eine ›bloß‹ sozialphänomenologische Wissenschaft hinauslaufen (Bourdieu 1993b, 49; Wacquant 2006, 24ff.). Der ›falsche‹ Antagonismus besteht dabei zwischen Sozialtheorien, die die strukturelle Dimension der Sozialwelt (d.h. die gesellschaftlichen Verhältnisse) betonen und solchen, die die individuellen Handlungskapazitäten und Welt-Interpretationen hervorheben. Objektivistische bzw. strukturalistische Ansätze »beurlaub[en]« der Kritik nach die Individuen und suspendieren die Frage nach den subjektiven Erfahrungen der sozialen Welt (Wacquant 2006, 28; Bourdieu 1993b, 52). Überdies neigen sie dazu, Elemente sogenannter gesellschaftlicher Strukturen, wie etwa »Klassen« oder »Gruppen« als »substanzielle ›Realitäten‹« zu behandeln, und nicht in allererster Linie als Konstrukte sozialwissenschaftlicher Beobachtung (Bourdieu 1998, 7). Subjektivistische Sozialtheorien hingegen interessieren sich Bourdieus Urteil gemäß nicht in ausreichendem Maße für die Bedingungen, unter denen die soziale Welt in individueller Praxis reproduziert wird. Sie bleiben blind für die Beziehung zwischen »objektiven Strukturen« und dem »praktische[n] Erfahren der vertrauten Welt« (Bourdieu 1993b, 50). Bourdieu kommt es nun allerdings nicht darauf an, eine Mittelposition zwischen objektivistischen und subjektivistischen Theorien des Sozialen zu formulieren – wenngleich sich die Praxeologie so lesen lässt und häufig auch so rezipiert wurde –, sondern ihm geht es um eine grundlegende Kritik dualistischen Denkens in der Sozialtheorie (Engler/Zimmermann 2002, 36ff.). Dies betrifft nicht nur die Antinomie von Subjektivismus und Objektivismus, sondern auch alle anderen damit assoziierten Gegensatzpaare, wie z.B. Gesellschaft/Individuum, Struktur/Handeln, individuell/kollektiv, bewusst/unbewusst etc. (Bourdieu 1998, 8; Engler/Zim-
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Eine praxeologische Heuristik
mermann 2002, 36). Mit diesen vorausgesetzten Gegensätzen mache die Sozialtheorie starke Annahmen über die soziale Welt, die jedoch keineswegs als abgesichert gelten können. Bourdieus Folgerung ist die Entwicklung einer konsequent reflexiven Sozialwissenschaft, die nicht Dualismen zu überbrücken versucht – und diese dadurch, wie Engler und Zimmermann (2002, 36f.) betonen, nur bestätigt –, sondern die bereits von vornhinein an anderen Punkten ansetzt. Paradigmatisch für ein solches Denken ist das Konzept des Habitus. So konstatiert Bourdieu in einer frühen Studie zur »Soziologie der symbolischen Formen«: »Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht […], begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdekken« (Bourdieu 1974, 132). Dieses Kollektive in Innersten des Individuums bezeichnet der Habitus. Neben den Feldern ist der Habitus die zweite Existenzweise des Sozialen. Dieses Verständnis wird emblematisch in der folgenden, an Blaise Pascal angelehnten Passage ausgedrückt: »Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure« (Bourdieu/Wacquant 2006, 161). Der Begriff des Habitus bezeichnet also die durch die Individuen angeeignete, einverleibte soziale Welt, d.h. die gespeicherten sozialisatorischen Erfahrungen, die die jeweilige (Welt-)Haltung der Subjekte ausmachen. Zugleich ist der Habitus jedoch nicht nur ein Speicher individueller und kollektiver Geschichte, sondern erzeugt auch neue Praxis bzw. neue Geschichte. Aufgrund dieser doppelten Eigenschaft der Verinnerlichung von Vergangenheit und Produktion von Gegenwart bzw. Zukunft bezeichnet Bourdieu den Habitus auch als strukturiert-strukturierende Dispositionen, oder als »opus operatum«, d.h. ein strukturiertes Produkt, und »modus operandi«, d.h. eine strukturierende Struktur (Bourdieu/Wacquant 2006, 154; Bourdieu 1987, 281; 2009, 164). Das Konzept versucht damit, die oben beschriebenen Probleme objektivistischer und subjektivistischer Ansätze zu umgehen, indem es individuelle Praxis und soziale Verhältnisse nicht gegeneinander stellt, sondern konstitutiv aufeinander bezieht. Der Begriff des Habitus, so betont Bourdieu, »gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, daß diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers […]« (Bourdieu 2001a, 175; vgl. Hillebrandt 2009b, 377).
Stellt man zunächst den Aspekt des opus operatum in den Mittelpunkt, ergibt sich die Frage nach den Orten und Mechanismen des Erwerbs habitueller Eigenschaften. Hinsichtlich der Orte sind die Antworten der Praxeologie mehrdeutig. Einerseits betont Bourdieu sehr stark die Phase der frühen, kindlichen Sozialisation. Vor allem die vielfältigen Studien zum Bildungssystem weisen darauf hin, dass institutionalisierte pädagogische Kontexte wirkmächtige Orte darstellen, an denen die ›sozial geschaffenen Körper‹ erzeugt werden (vgl. Bourdieu 1974, 139). Dies bedeutet allerdings nicht, dass explizite Unterweisungen bzw. ein bewusster Lernprozess zur Habitualisierung führen. Vielmehr ist die Aneignung spezifischer
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Praxisformen und körperlicher Ausdrucksweisen häufig eher auf beiläufige Nachahmung zurückzuführen als auf bewusste Instruktion (Bourdieu 2009, 189f.). Dieser Zusammenhang zeige sich nach Bourdieu (2009, 190) am deutlichsten in der besonderen Aufmerksamkeit von Kindern »für die Gesten und Posituren, die in ihren Augen den richtigen Erwachsenen ausmachen«. Allerdings darf die Betonung der kindlichen Sozialisation nicht zu der Annahme verleiten, Habitualisierung sei ein mit dem Kindes- und Jugendalter abgeschlossener Prozess. Nimmt man die Dialektik von verinnerlichter Sozialität und objektiven sozialen Strukturen ernst, so bedeutet dies, dass Habitus auch durch spätere biographische Erfahrungen wandelbar sind – auch wenn sie eine gewisse Trägheit aufweisen. Besonders die den Habitus innewohnende Beharrlichkeit ist nun für die Sozialwissenschaften mehr als nur ein Nebeneffekt. In der Praxeologie wird das Phänomen einer nur langsamen Transformation verinnerlichter Haltungen mit dem Begriff der »Hysteresis« beschrieben (Bourdieu 1993b, 116; Bourdieu/Wacquant 2006, 164). Das Konzept bietet eine Analysekategorie vor allem für jene Situationen, in denen ein Missverhältnis zwischen Entstehungsbedingungen eines spezifischen Habitus und den aktuellen Handlungsbedingungen besteht. Besonders auffällig wird dieser Effekt z.B. bei Phasen raschen Wandels, wie etwa der eingangs genannten algerischen Transformation, bei der die traditionellen ökonomischen Habitus nicht mehr zu den Gegebenheiten der späteren ökonomischen Verhältnisse passen (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006, 164). Ein anderes Beispiel sind sogenannte Generationenkonflikte. Diese stellen sich aus praxeologischer Sicht Konflikte zwischen Habitus dar, die unter unterschiedlichen Bedingungen erzeugt wurden und die dementsprechend unterschiedliche Bewertungsmuster und Praxisformen generieren (Bourdieu 1993b, 116f.; vgl. Suderland 2009, 128). Hinsichtlich der Stärke des Hysteresis-Effekts sind verschiedene Reaktionen der Habitus beobachtbar: Von umfassenden Adaptions- bzw. Konversionsprozessen bis hin zur Unangepasstheit und Inkaufnahme der damit verbundenen sozialweltlichen Irritationen (Bourdieu/Wacquant 2006, 164). Neben diesen Optionen kann die Konfrontation mit neuen Handlungsbedingungen ebenfalls dazu führen, dass Habitus sich nur teilweise verändern, d.h. dass zwar neue Elemente integriert, aber nicht die neuen sozialen Bedingungen in umfänglichem Maße inkorporiert werden. Mitunter kann eine solche partielle Transformation sogar sehr heterogene, widersprüchliche Elemente beinhalten, sodass die Habitus »gespalten« werden (Bourdieu/Wacquant 2006, 160f.; Suderland 2009, 128). Dieser Sachverhalt macht darauf aufmerksam, dass die Haltungen der Agent*innen nicht notwendig kohärent sein müssen, sondern die Ambivalenzen unterschiedlicher sozialer Bereiche und sozialhistorischer Episoden aufnehmen können. Das Phänomen der Hysteresis wirft schließlich die Frage auf, auf welche Weise die Haltungen in den Handelnden verankert sind. Die bisherigen Ausführungen lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Konzept des Habitus und dem damit in den Blick genommenen Prozess der Habitualisierung um eine andere Bezeichnung für das handelt, was z.B. in der Psychologie oder der Pädagogik Sozialisation genannt wird. In der Tat bietet die Praxeologie mit ihrem Fokus auf
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die Aneignung kontextspezifischer emotionaler, kognitiver und mentaler Aspekte eine sozialisationstheoretische Perspektive. Habitualisierung beschränkt sich jedoch nicht auf psychische Elemente (vgl. Hillebrandt 2009b, 379). Wie kaum eine vergleichbare Sozialisationstheorie betont die Praxeologie – über die geistig-immaterielle Ebene hinaus – die eminente Rolle des Körpers bei der Verankerung des Gesellschaftlichen in den Subjekten. Habitus sind dementsprechend auch als somatisierte soziale Strukturen aufzufassen, oder, wie Bourdieu (2009, 171) sich ausdrückt, als »zur Natur gewordene Geschichte«. Die Idee einer solchen Einverleibung von Gesellschaftlichem geht im soziologischen Kontext auf Marcel Mauss zurück. Dieser weist bereits in dem 1935 erschienenen Aufsatz »Die Techniken des Körpers« auf die Kulturalität selbst elementarer körperlicher Verrichtungen – wie etwa das Gehen – hin. Besonders deutlich wird dieses Phänomen in folgender Episode Mauss’ illustriert: »Eine Art Erleuchtung kam mir im Krankenhaus. Ich war krank in New York. Ich fragte mich, wo ich junge Mädchen gesehen hatte, die wie meine Krankenschwestern gingen. Ich hatte genug Zeit, darüber nachzudenken. Ich fand schließlich heraus, daß es im Kino gewesen war. Nach Frankreich zurückgekehrt, bemerkte ich vor allem in Paris die Häufigkeit dieser Gangart; die jungen Mädchen waren Französinnen und gingen auch in dieser Weise. In der Tat begann die amerikanische Gangart durch das Kino bei uns verbreitet zu werden. Dies war ein Gedanke, den ich verallgemeinern konnte. Die Stellung der Arme, der Hände während des Gehens, stellen eine soziale Eigenheit dar und sind nicht einfach ein Produkt irgendwelcher rein individueller, fast ausschließlich psychisch bedingter Handlungen und Mechanismen« (Mauss 1989[1935], 202).
Analog dazu können auch die meisten anderen körperlichen Dispositionen als Ergebnisse intendierter und nicht intendierter Aneignungsprozesse aufgefasst werden: von alltäglich als ›kulturelle‹ Leistungen wahrgenommenen Praktiken wie der Beherrschung von Musikinstrumenten oder Werkzeugen, bis hin zu häufig als ›natürlich‹ angesehenen Körperpraktiken wie dem spezifischen Schmecken oder Hören. Diese tiefe Verankerung der sozialen Erfahrungen im Körperlichen hat zwei Seiten: Einerseits ermöglicht sie eine Vielzahl von unbewussten Routinetätigkeiten und eine vergleichsweise stabile Passfähigkeit der Habitus zu bestimmten Handlungskontexten. Andererseits ist darin auch ein Moment der Unverfügbarkeit bzw. des Zwangs enthalten. Auch wenn die Habitus nicht als determinierend aufzufassen sind, sondern sich in einem unabgeschlossenen Prozess stets ändern können, führt die Inkorporierung zu einer Verstärkung der Hysteresis-Effekte. Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die einverleibte Sozialität nicht einfach diskursiv oder bewusstseinsmäßig zugänglich ist (Bourdieu 2009, 200). »Was der Leib gelernt hat«, betont Bourdieu, »das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man« (Bourdieu 1993b, 135; vgl. Rehbein/Saalmann 2009c, 113).103 103 Am deutlichsten zeige sich dieser Sachverhalt an ganz alltäglichen, ›unverdächtigen‹ Beispielen, wie etwa der an Kinder gerichteten Aufforderung nach einer bestimmten Sitzhaltung oder einer bestimmten Weise, das Besteck zu benutzen. Wie Bourdieu (2009, 200) ausführt, liegt in diesen scheinbar bedeutungslosen Anweisungen jedoch die Nachhaltigkeit der Inkor-
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Mit der Idee der Inkorporierung wird in der Praxeologie sehr starkes Augenmerk auf den opus operatum-Charakter des Habitus gelegt. Wie jedoch auch bereits angedeutet wurde, umfasst die Geschichtlichkeit nur dessen eine Seite. Die Pointe des Konzepts besteht darin, die sozialen Erfahrungen der Handelnden im Sinne eines modus operandi auf spezifische, aktuelle Praxissituationen zu beziehen. Bereits in der Darstellung des Hysteresis-Effekts kam diese generierende Eigenschaft des Habitus zum Vorschein. Der Habitus ist in diesem Sinne als eine aus kontextualisierter Praxis entstandene, neue Praxis generierende Instanz aufzufassen. Dies bedeutet nicht, dass Habitus und Praxis identisch sind – wenngleich sich, wie Lahire (2011a, 50f.) betont, Habitus nur von ihrem Ergebnis her, d.h. Praxis, beobachten lassen. Vielmehr bezeichnet »Habitus« ein bestimmtes Eigenschaftsbündel der Subjekte, ein Set von »Dispositionen«, das bestimmte Praxisformen ›nahe legt‹ (Bourdieu 2009, 165). Die Rede von einer solchen »Tendenz« oder »Neigung« zu einer bestimmten Handlungsweise (Bourdieu 2009, 446) macht deutlich, dass es sich bei den Habitus nicht um quasi-kausale Gesetzmäßigkeiten handelt, sondern dass die konkreten Formen der Bewältigung von Alltagssituationen sehr unterschiedlich ausfallen können. Agent*innen interpretieren demnach die Situationen des Handelns und bringen spezifische Lösungen hervor – die jedoch nach der Habitustheorie eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Analog zur Handschrift einer Person, die auch unabhängig des konkreten Schreibmittels, der Unterlage usw. immer ähnlich bleibt, sind die Praxisformen nicht als beliebige, in der konkreten Situation erst entstehende Lösungen von Alltagsproblemen zu betrachten104, sondern als Ausdruck eines allgemeinen Stils (ebd., 282; vgl. Krais 2004, 192). Dieser Stil wird in der Praxeologie dabei auf zwei Erscheinungsformen des Sozialen bezogen, wobei nicht restlos geklärt ist, wie sich beide zueinander verhalten (Kieserling 2008; vgl. Krais 2004, 195; Reckwitz 2003, 295). Es handelt sich dabei einerseits um feldspezifische, andererseits um klassenspezifische Habitus.105 Der Bezug zur Klassentheorie ist bei Bourdieu vor allem in dem berühmten Werk »Die feinen Unterschiede« (1987) ausformuliert. Bourdieu erarbeitet hier den Gedanporierung begründet: »Die ganze List der pädagogischen Vernunft besteht gerade darin, unter dem Deckmantel, das Bedeutungslose zu fordern, das Wesentliche zu entreißen: Indem sie den Respekt der Formen und die Formen des Respekts erwirkt, die die sichtbarste und zugleich meistverborgene, weil natürlichste Manifestation der Unterwerfung unter die herrschende Ordnung darstellen, vernichtet die Einverleibung der Strukturen […] ›die Nebenmöglichkeiten‹ […], d.h. all die Akte, die die Alltagssprache als ›Verrücktheiten‹ bezeichnet und die doch nichts anderes sind als das alltägliche Antlitz des Wahnsinns« (Bourdieu 2009, 200f.). 104 Wie es nach Bourdieus verschiedentlich vorgebrachter Kritik von den klassischen, rationalistischen Handlungstheorien angenommen wird (Hillebrandt 2009b, 377). 105 Krais und Gebauer (2002, 34, 48) führen darüber hinaus als dritte Kategorie geschlechtsspezifische Habitus ein. Auch, oder gerade weil die Beziehungen zwischen den drei Formen hier ebenfalls nicht geklärt werden, wird der übergreifende Werkzeugcharakter des Habituskonzepts hervorgehoben: Herausgelöst von seinem konkreten Entstehungszusammenhang kann es da eingesetzt werden, wo es bestimmte Erkenntnisleistungen ermöglicht. Das heißt, theoretisch sind damit auch andere gesellschaftliche Kategorisierungen beschreibbar.
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ken, dass sich soziale Erfahrungen zu kollektiven Habitus verdichten können und als klassenspezifische Haltungen und Praxisformen die gesellschaftliche Stratifikation (re-)produzieren. Die Genese von feldspezifischen Habitus indessen – als Ausschnitte der umfassenden biographischen Disponierung der Handelnden – wird von Bourdieu am prominentesten in den Studien zum wissenschaftlichen Feld (»Homo Academicus«, 1992c) sowie zum literarischen Feld (»Die Regeln der Kunst«, 2001b) ausgeführt. Die Grundthese ist hier, dass »[d]ie spezifische Logik eines Feldes […] als spezifischer Habitus Gestalt an[nimmt]« (Bourdieu 2001a, 20). Die Erfahrungen in einem bestimmten Handlungsbereich führen demzufolge zur Inkorporierung bestimmter, in einem entsprechenden Feld bedeutsamer Werte, Wissensbestände etc. und schließlich zur Erzeugung einer dem Feld adäquaten Praxis. Wie diese beiden Habitusformen miteinander in Beziehung stehen, läuft auf die letztlich gesellschaftsdiagnostische Frage hinaus, welche Differenzierungsform – nach sozialen Klassen oder funktional – in einer Gesellschaft dominant ist (Kieserling 2008, 4). Das theoretische Problem besteht dabei darin, dass sich Feldund Klassenlogik nicht vollständig kohärent miteinander vereinbaren lassen. »Die Theorie der Felder« hebt Kieserling (2008, 12) hervor, »schließt den Befund ein, daß von einer diffusen Determination des Gesamtverhaltens einer Person durch ihre Klassenlage nicht länger die Rede sein kann«. Man kann z.B. in bestimmten Feldern reüssieren, ohne sich dadurch gleichzeitig klassenübergreifende Aufstiegschancen zu erarbeiten. Andererseits ist eine weit geteilte Erfahrung, dass die Position im sozialen Raum für eine Vielzahl von ›Teilnahmemöglichkeiten‹ an den Feld-Spielen erhebliche Bedeutung hat. Im sozialen Raum ›oben‹ positionierte Subjekte dürften tendenziell auch in den Feldern machtvolle Positionen einnehmen – ohne dass sich diese Struktur vollständig, d.h. in allen Handlungsbereichen abbildete. Ein möglicher Umgang mit diesem Problem besteht in der Annahme, dass der soziale Status in den Feldern von unterschiedlicher Wirksamkeit sein kann (vgl. Kieserling 2008, 12). Damit ist zwar die Spannung zwischen den beiden Habitusbegriffen (feld- und klassenspezifisch) nicht gelöst, jedoch wird der Erfahrung einer multiplen Gliederung der Sozialwelt Rechnung getragen. Ein anderer Umgang bestünde in einer Aufweichung des eindimensionalen Klassenkonzepts (ebd., 13). Mit einer z.B. an den Kapitalsorten orientierten Mehrdimensionalität des Klassenbegriffs wäre jedoch die Frage aufgeworfen, welche Erklärungskraft dem ja gerade durch seine Komplexitätsreduktion bestechenden Klassenbegriff noch zukommt. Im Rahmen der hier weiter zu erarbeitenden Argumentation sollen statt der sozialtheoretisch umstrittenen Klasseneinteilung die funktionale Differenzierung, d.h. die Feld-Logik, und ihre alltäglichen Ausdrucksformen in den Vordergrund gerückt werden. Dazu wird in einem folgenden Schritt die um den dritten zentralen Begriff der Praxeologie herum organisierte Frage thematisiert, auf welche Weise Habitus und Feld konkret miteinander verbunden werden.
Praxis und Praktischer Sinn
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Praxis und Praktischer Sinn Das Element, in dem die äußerlichen und einverleibten sozialen Strukturen miteinander verbunden werden, ist die Praxis. Durch Praxis werden Welt-Bezüge aufgenommen, und in Praxis schreibt sich die soziale Welt in Form der Habitualisierung in die Agent*innen ein. Analog zu Giddens’ strukturationstheoretischem Konzept hat auch in Bourdieus Praxeologie das Soziale keine andere Existenzweise außer der Praxis (Reckwitz 2003, 289). Die Art und Weise, wie die Praxis in Bourdieus Ansatz konzipiert wird, unterscheidet sich jedoch von anderen tätigkeitsorientierten Ansätzen. Das nach Bourdieu wichtigste Merkmal der Praxis ist, dass sie einer praktischen Logik folgt, die von der Logik der Theorie strikt unterschieden werden muss: »Man muß der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat« (Bourdieu 1993b, 157). Dinge, die aus der analytischen Perspektive wissenschaftlicher Beobachtung – z.B. durch die Sozialwissenschaften – also unsinnig, unschlüssig oder widersprüchlich erscheinen mögen, werden im Vollzug der Praxis als kohärent, sinnvoll und angemessen erlebt. Um Praxis angemessen zu verstehen, muss man sich demzufolge auf ihre »unscharfe Logik« einlassen (Bourdieu 2009, 319; 1993b, 25). Ein illustratives Beispiel für die Eigenlogik der Praxis stellt die Gabe dar (vgl. Bourdieu 1998, 163ff.; 2001a, 246ff.). Bourdieu analysiert diesen in der soziologischen und ethnologischen Literatur kanonischen Fall – man denke etwa an Marcel Mauss’ »Essai sur le don« (Mauss 1990[1923/1924]) oder Georg Simmels »Exkurs über Treue und Dankbarkeit« (Simmel 2005[1908], 103) – unter dem Gesichtspunkt der darin enthaltenen Widersprüche zwischen einer utilitaristischen Logik des Warentausches und einer symbolischen Logik des interesselosen Handelns. Der Alltagserfahrung nach ist die Praxis des Schenkens zunächst eine frei von ökonomischen Interessen vollzogene Form sozialer Interaktion. Wenn wir Geschenke erhalten, so wissen wir diese zumeist als großzügige Gaben zu schätzen; und wenn wir selbst schenken, dann würde es uns Unbehagen bereiten wenn es so aussähe, als ob wir uns ein Gegengeschenk (oder zumindest Dankbarkeit) erkaufen wollten. Allerdings gehört es ebenso zur Alltagserfahrung mit der Gabepraxis, dass Geschenke erwidert werden sollten bzw. dass ein dauerhaftes ›übergangen Werden‹ oder Undankbarkeit zur Einstellung des eigenen Gebens führen können.106 Aus Sicht des Alltagshandelns wird das Problem, das zwischen der (ernst gemeinten) Großzügigkeit der Gabe und der (dennoch vorhandenen) Erwartung einer Gegengabe besteht, so gelöst, dass die Beteiligten eine gewisse »Zeitspanne« zwischen beiden Akten des Annehmens und des Erwiderns einhalten (Bourdieu 106 Geschenke sind aus dieser Sicht also nicht nur altruistische Gaben, sondern sie enthalten auch die Rückseite der Verpflichtung. Man bekommt sozusagen mehr geschenkt, als allein das Objekt des Geschenks. Dieser Zusammenhang findet sich bereits in der Doppelbedeutung des Wortes »Gift«. Marcel Mauss hat sehr pointiert herausgestellt, wie das »Gift« als »Giftstoff« und das althochdeutsche »Gift« als »Geschenk« (was heute noch im Begriff der Mitgift erhalten ist) sprachlich zusammengehören (Mauss 2006[1924], 13).
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2001a, 246; Bourdieu 1998, 163). Damit wird einerseits der ›Verpflichtung‹ zur Erwiderung nachgekommen, andererseits nicht der Eindruck erweckt, man wolle den Gebenden bezahlen. Allerdings: Das Einhalten dieser Zeitspanne entspringt keiner bewussten Überlegung oder gar Kalkulation, sondern einer nicht diskursiv bewussten Disposition. Dies ist nach Bourdieu (1998, 165) so zu verstehen, »daß der Gebende wie der Nehmende durch die ganze Arbeit ihrer Sozialisation darauf eingestellt und dazu geneigt sind, sich ohne jede auf Profit gerichtete Absicht und Berechnung auf den großmütigen Tausch einzulassen, dessen Logik sich ihnen objektiv aufzwingt […]«. Was nach außen hin, aus einer nicht in das Spiel involvierten Perspektive, den Eindruck eines nutzenorientierten, von bestimmten Zielen geleiteten Austausches erweckt, stellt sich aus der Logik der Praxis heraus also tatsächlich als großzügiges, altruistisches Handeln dar.107 Aus praxeologischer Sicht ist es nun wichtig, auf die Voraussetzungen eines solchen Handelns hinzuweisen. Zum einen funktioniert die Gabe nur dann, wenn entsprechend habitualisierte Individuen am Werk sind, die sich in das Spiel ›hineinziehen‹ lassen, d.h. im Sinne der oben genannten illusio ein Wissen darum und ein Interesse dafür haben, worum es bei der Gabe geht. Zum anderen jedoch müssen die Beteiligten in der Lage sein, in der konkreten Situation adäquat zu handeln, d.h. »die Balance zwischen Herausforderung und Annahme der Herausforderung durch eigene Praktiken zu erzeugen« (Hillebrandt 2009a, 149). Diese spezifische Kompetenz, die sich aus der generellen Disposition des Habitus ergibt, bezeichnet Bourdieu als praktischen Sinn. Damit ist »der gekonnte praktische Umgang mit der immanenten Logik eines Spiels, die praktische Beherrschung der ihm innewohnenden Notwendigkeit« gemeint (Bourdieu 1992b, 81; vgl. Bourdieu 2001a, 182; 1993b, 167; 2009, 270). Der praktische Sinn erlaubt also, das komplexe Spiel aus Geben, Annehmen und Erwidern zu spielen, ohne sich die Spielregeln und konkreten Techniken stets vergegenwärtigen zu müssen. Je nach Handlungskontext kann der praktische Sinn dabei in den verschiedensten Formen auftreten: als »Sinn für die Verpflichtung und die Pflicht«, als »Sinn für Rangfolgen, für Humor und für das Lächerliche«, als »politische[r] Sinn« usw. (Bourdieu 2009, 270; vgl. Reckwitz 2008, 43). Mit den Konzepten der praktischen Logik und des praktischen Sinns versucht Bourdieu zu erklären, wie so etwas wie eine Regelmäßigkeit der Praktiken zustande kommt. Durch den praktischen Sinn können die Individuen die sozialen Spiele – wie gute, geübte Sportler – weiter spielen, sie wissen, was zu tun ist und schaffen Anschlussmöglichkeiten für eine Fortsetzung der Praxis (Bourdieu 1992b, 83). Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Praxis damit vorhersehbar, geplant und sicher ist. Genau wie es bei der Gabe trotz eingeübter nicht-kalkulierender Reziprozität keine Garantie dafür gibt, dass das Spiel fortgesetzt wird, d.h. dass eine
107 Der ›Fehler‹ der theoretischen Sichtweise besteht hier darin, ihre eigene, interpretierende Sichtweise als identisch mit der Sichtweise der Handelnden anzunehmen, d.h. »der Praxis das Modell zugrunde zu legen, das man zu ihrer Erklärung erst konstruieren muß« (Bourdieu 1993b, 148; vgl. Bourdieu 1992b, 81).
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Gegengabe erfolgt, sind auch alle anderen sozialen Praktiken als nicht berechenbare, ›unscharfe‹ Geschehen aufzufassen. Worauf kann dies zurückgeführt werden? Wie Reckwitz (2003, 294ff.) ausführt, sind dafür vor allem die folgenden vier – nicht scharf voneinander zu trennenden – Zusammenhänge verantwortlich: 1. Die enorme Diversität der jeweils konkreten Handlungssituationen, auf die ein Individuum trifft, erfordert eine beständige kreative Anpassung der Praxisformen. Auch wenn Habitus und praktischer Sinn für eine gewisse Einheitlichkeit der praktischen Lösungen sorgen, können Abwandlungen der Handlungskontexte immer auch mit einem Bruch oder einer Transformation des Stils einhergehen. 2. Die Zeitlichkeit der Praxis impliziert eine Unsicherheit über die Zukunft. Da Praxis stets neu hervorgebracht werden muss, und sich Kontexte wandeln können, kann sie im Prinzip immer auch scheitern. 3. Da Praktiken gleichzeitig unterschiedlichen Bereichen angehören können, sind sie nicht immer vollständig der Logik des jeweiligen Bereiches angepasst. Darüber hinaus können auch die Praxiskontexte innere Variationen aufweisen, die nicht vollständig von den inkorporierten Kompetenzen der Agent*innen abgedeckt werden. 4. Die Teilhabe an verschiedenen Praxiskontexten kann mit Inkonsistenzen inkorporierter Handlungsmodi und daraus folgenden Irritationen einhergehen. Das verbindende Merkmal dieser vier Eigenschaften der Logik der Praxis ist in der eminenten synchronen und diachronen Pluralität der sozialen Welt zu sehen. Aufgrund der im praxeologischen Konzept besonders hervorgehobenen Passung zwischen den Handelnden und der Welt sowie der betonten Kontinuität des Tuns mag der Eindruck entstehen, die Praxis verliefe in der Bourdieu’schen Welt allzu bruchlos. Doch sowohl der zeitlich aufeinander folgende Wandel von Praxislogiken ist darin theoretisch vorgesehen – wie etwa die Studien zur Genese und Transformation bestimmter Felder zeigen –, als auch die Parallelität verschiedener, sich überschneidender und widerspruchsvoller Praxissphären, wie etwa im Topos des gespaltenen Habitus angedeutet wird. Dennoch kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass sich Bourdieus Studien in der Tendenz auf die Hervorhebung stabiler sozialer Entitäten (wie etwa relativ homogene Felder und Habitus) fokussieren und diejenigen Fälle, in denen die Unberechenbarkeit der Praxis nachhaltig zum Tragen kommt, unterrepräsentiert sind (vgl. Peter 2004, 304; Schäfer 2013, 93ff.). Aus dieser Spannung zwischen Homogenisierungsstreben und einer zunehmenden Pluralisierung der Lebenskontexte hat sich in den vergangenen Jahren eine fruchtbare theoretische Diskussion entwickelt. So hebt z.B. Bernard Lahire, einer der gegenwärtig prominentesten Kritiker Bourdieus, die Fähigkeit der Subjekte hervor, in verschiedenen, sich mitunter radikal gegenüber stehenden Handlungsbereichen gleichzeitig ›heimisch‹ zu sein und ganz unterschiedliche Register zu beherrschen: »And so we are plural, different in the different situations of ordinary life, foreign to other parts of ourselves when we are engaged in this or that domain of social existence« (Lahire 2011a, 35). Mit seinem Konzept des durch »heterogene Sozialisationseinflüsse« geprägten »Pluralen Akteurs« (Lahire 2011b, 50; vgl. Peter 2004, 304) macht Lahire darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die
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Passungen zwischen Handlungsbereich und Praxis mühsam hergestellt werden müssen. Die Vorliebe Bourdieus für Sport-Analogien aufgreifend betont Lahire, dass der ›fertige‹ praktische Sinn nur als Ergebnis zahlreicher in der Praxeologie kaum thematisierter ›Übungsstunden‹ und ›Fehlversuche‹ angemessen aufzufassen ist: »Taking seriously the sporting metaphors that he used […] to speak of the sense of a game (the positioning of a football player, the feints of a boxer, the practical anticipation of a tennis player, etc.), we may think of all the situations of training, outside the actual time of performance, when the coach comments on gestures or actions, either directly or subsequently (thanks to video recording), in order to bring to awareness a certain number of mistakes or imperfections to be corrected« (Lahire 2011a, X).
Soziale Agierende sollten demgemäß nicht am Wettbewerbsmodus des Sportlers gemessen werden. Man vergliche sie besser mit Sportlern in einer permanenten Situation des Trainings (Lahire 2011a, X). Ungeachtet der Frage, ob die bei Lahire daraufhin entfaltete theoretische Kritik an Bourdieu zur Gänze berechtigt ist, macht das Konzept des pluralen Akteurs dennoch in zeitdiagnostischer Hinsicht auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Die alltägliche Praxis spielt sich unter gegenwärtigen Bedingungen in vielen verschiedenen Sinnprovinzen ab und erfordert eine enorme Flexibilität der Subjekte. Durch die Überlagerung heterogener Handlungslogiken besteht ein beträchtliches Potenzial der Irritation und Variation, sodass selbst innerhalb spezifischer Felder die Homogenität der Habitus eher abnehmen als bestehen bleiben dürfte. Zwischenfazit Mit der Erörterung der praxeologischen Grundkategorien wurde ein Begriffsinventar dargestellt, das in mehrfacher Hinsicht an die oben entwickelte sozialgeographische Perspektive anschlussfähig ist. Zunächst einmal lässt sich Bourdieus Konzept ebenso im Feld der soziologischen Praxistheorien verorten wie Giddens bzw. Werlen. Alle drei Theorieansätze betonen die grundlegende Sozialität des Handelns, oder, wie Nassehi (2009, 245) es auf den Punkt bringt, »die Alternativlosigkeit des Eingebettetseins in eine Struktur«. Dieser für die Welt-Bindungen der Individuen entscheidende Umstand wird zwar von den Konzeptionen unterschiedlich ausgedeutet, jedoch stimmen sie darin überein, dass nur in der Praxis die Verknüpfung von Subjektivem und Objektivem zu beobachten ist. Darüber hinaus ähnelt sich auch das Grundkonzept der Praxis als eines Flusses von Aktivitäten, der häufig routinisiert abläuft. Ebenso charakterisieren alle drei Ansätze die Praxis als eine wesentlich körpervermittelte Tätigkeit. Die Besonderheit der Bourdieu’schen Praxeologie besteht hier allerdings darin, den Körper nicht nur als materielles Objekt, sondern auch als biographischen Speicher aufzufassen und Körperlichkeit damit entscheidend theoretisch aufzuwerten. Es sind biographisch geformte Körper, die am Vollzug der Praxis teilhaben und durch Praxis weiter geformt werden.
Zwischenfazit
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Neben diesen grundlegenden Konvergenzen von Strukturationstheorie, handlungszentrierter Sozialgeographie und Praxeologie lassen sich jedoch auch einige Differenzen ausmachen. Diese betreffen wesentlich den Grad der Reflexivität des Handelns und die Beständigkeit der Praxis. Während die strukturationstheoretischen Modelle mit Konzepten wie dem »reflexive monitoring« eher die Anpassung und Wandelbarkeit alltäglicher Routinen hervorheben, argumentiert Bourdieu mit dem Konzept einer starken Verankerung des praktischen Sinns in den Habitus eher für eine Unreflektiertheit und Stabilität der Praxis. Diese Divergenz spiegelt sich auch in der Frage der Intentionalität der Praxis wider. Zwar besitzt auch Giddens ein im Vergleich zu klassischen Handlungstheorien schon ›abgeschwächtes‹ Konzept von Intentionalität, indem er sie, wie oben beschrieben, als prozessual auffasst, denkt das Handeln dennoch grundlegend reflexiv. Im Prinzip, so scheint die dahinter liegende Annahme zu sein, können sich die Handelnden jederzeit die Grundsätze und Absichten ihrer Handlungen bewusst machen, auch wenn das in der routinisierten Praxis häufig nicht erfolgt und erfolgen muss. Bourdieus Theoriemodell hingegen ersetzt die Intentionalitätsvorstellung durch die Idee der weitestgehend nicht diskursiv zugänglichen Disposition und argumentiert damit stärker für eine sozial geprägte Implizitheit der Praxis (vgl. Bourdieu 1998, 167f.). Aus diesem Grund wird Bourdieu in Theorievergleichen entlang von Achsen wie Subjektivismus/Objektivismus, Freiheit/Determination oder Individualismus/Strukturalismus häufig auch stärker als Giddens auf der rechten, objektivistischen Seite eingeordnet (vgl. z.B. Ernste 2004, 438). Ohne hier einen ausführlichen Theorievergleich anbieten zu können: Die Lesart von Bourdieu als einem untergründig (zumindest in der Tendenz) strukturalistischen Theoretiker scheint überzogen zu sein. Auch wenn die praxeologischen Studien, wie mehrfach betont, gewiss die Stabilität stärker betonen, sind Wandlungs- und Anpassungsprozesse der Praxis begrifflich-konzeptuell alles andere als ausgeschlossen. Was der praxeologische Ansatz mit seiner ›Schlagseite‹ zur Internalisierung und Verstetigung108 jedoch sehr viel besser als andere Ansätze einfangen kann, sind die in der sozialen Wirklichkeit auftretenden Friktionen, die sich aus ›eingefleischten‹ Gewohnheiten und veränderten sozialen Bedingungen ergeben. Er hebt damit die spezifische sozial-historische Situiertheit der Praxis hervor.
108 Vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei Schäfer (2013, insbes. 93–105).
5 Konturen des ökologischen Feldes
Folgt man dem bisherigen Argumentationsgang und deutet den gesellschaftlichen Klimawandel im Rahmen einer an human- und sozial-ökologischen Fragen orientierten Sozialgeographie, dann lässt sich die im zweiten Kapitel in Alltagsbegriffen veranschaulichte Konstellation zunächst folgendermaßen re-interpretieren: Die in soziale Systeme eingebetteten, habitualisierten Alltagssubjekte sind in ihren Praktiken durch die Körperlichkeit in materielle Vollzüge involviert und nehmen – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Veränderungen der materiellen Welt vor. Die Integration dinglicher Objekte in Praktiken (und damit die Strukturierung der materiellen Welt) geht dabei mit einer symbolischen Strukturierung einher, d.h. Materielles wird in Abhängigkeit des Praxiskontexts als ›Natur‹ oder ›Ressource‹, als ›wertvoll‹ oder ›nutzlos‹ etc. konfiguriert. Doch nicht nur in der symbolischen Dimension des Naturbezugs ist Soziales aufgehoben: Selbst die scheinbar natürliche körperliche Erfahrung der Welt muss bereits, darauf weist die Praxeologie hin, als soziale Praxis gesellschaftlich geformter Körper begriffen werden. Die akkumulierten Ergebnisse der Praktiken verdichten sich schließlich zu bestimmten materiellen und symbolischen Mustern, die durch (weitere) Praktiken aufrechterhalten, herausgefordert und/oder transformiert werden können. Was sich dabei gegenwärtig unter Stichworten wie der Großen Transformation oder einer Ökologisierung von Gesellschaft andeutet, stellt theoretisch formuliert eine Metamorphose etablierter gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse dar. Damit sind Verschiebungen in drei – empirisch gleichwohl miteinander zusammenhängenden – Bereichen verbunden. Erstens bedeutet die Transformation eine Veränderung der materiellen Muster der Weltaneignung. Wenn im Alltag z.B. zunehmend öffentliche Verkehrsmittel statt motorisiertem Individualverkehr genutzt werden, wenn der Konsum von Fleisch eingeschränkt, auf Flugreisen verzichtet oder Strom aus regenerativen Energiequellen genutzt wird, dann werden aufgrund dieses Tuns (bzw. des damit verbundenen Unterlassens alternativer Tätigkeiten) andere Geodynamiken in Gang gesetzt als durch emissionsintensive(re) Praktiken.109 Zweitens ist der Wandel mit einer Veränderung 109 Aufgrund der komplexen Verflechtung von Handlungen in der spät-modernen Welt ist allerdings keineswegs garantiert, dass eine noch so gut motivierte, individuelle Verhaltensänderung auch den erwünschten Effekt einer Minderung der Emissionsmenge zeitigt – CO2-Bilanzen können überraschend ausfallen.
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Konturen des ökologischen Feldes
der Wertesysteme und kulturellen Symbolisierungen, die die materiell involvierten Praktiken organisieren, verbunden. Die kulturelle Codierung von Natur bzw. Klima bewegt sich zunehmend vom Paradigma der unverfügbaren Alterität hin zur Auffassung menschlich beeinflusster (oder gar bedrohter) Umwelt, die es aus verschiedenen Gründen – Gefährdungen der Gesellschaft oder die Aussicht auf Profite – stärker zu schützen gilt. Drittens schließlich sind mit der gesellschaftlichen Reaktion auf die gegenwärtigen Umweltprobleme Wandlungsprozesse im sozialen Bereich verbunden, die nicht in einem direkten Sinne auf die Nutzung der materiellen Welt gerichtet sind, sondern Ergebnisse eines durch den Klimadiskurs angeregten, allgemeinen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesses darstellen. Die als Klimakrise prominenten Pathologien des gesellschaftlichen Naturbezugs werden hier als Ausdruck umfassender Pathologien des Gesellschaftlichen begriffen und es werden zunehmend Fragen nach der Organisation des Sozialen im Ganzen gestellt (etwa als Kritik der kapitalistischen Lebensform, als Problem globaler Gerechtigkeit oder der Gerechtigkeit zwischen den Generationen etc.). In Anwendung der oben eingeführten praxeologischen Heuristik des sozialen Feldes soll hier nun vorgeschlagen werden, die mit der Neukonfiguration gesellschaftlicher Naturverhältnisse verbundene neue Geltung ökologischer Fragen als Entstehung eines ökologischen Feldes, d.h. einer spezifischen, autonomen Sphäre alltäglicher ökologischer Praxis, zu begreifen.110 Um dies zu plausibilisieren wird das ökologische Feld im Folgenden in fünf Schritten skizziert: Zunächst wird die theoretische Grundidee eines ökologischen Feldes umrissen. Anschließend werden die geteilten Überzeugungen und Kapitalformen thematisiert, die Beteiligten des Feldes angedeutet sowie seine gegenwärtigen Konfliktlinien beschrieben. Im Abschluss wird schließlich zum Gegenstand gemacht, wie ökologische Habitus erzeugt werden und welche Widersprüche damit verbunden sind. Auch wenn das Kapitel keine umfassende Diagnose oder Rekonstruktion der Genese des ökologischen Feldes zu liefern vermag – dies wäre Gegenstand einer eigenen Studie –, mögen dennoch die Konturen dieses Handlungsbereiches und das analytische Potenzial einer praxeologisch orientierten Sozialgeographie sichtbar werden. Die Idee des ökologischen Feldes Der Ausgangspunkt für die These einer Feldstruktur der gegenwärtigen Ökologisierungsprozesse ist eine Lesart von Bourdieu als einem Theoretiker sozialen Wandels. Während das Interesse Bourdieus für die Weitergabe- bzw. Verfestigungspraktiken sozialer Verhaltens- und Bewertungsschemata dazu geführt hat, dass ihm von großen Teilen der Theoriedebatte eine nahezu obsessive Betonung der Stabilität sozialer Wirklichkeiten unterstellt wurde, missachten dieserlei Posi110 Vgl. zu einer ebenfalls praxeologisch geleiteten Gegenwartsdiagnose – in einem inhaltlich ganz anderen, strukturell aber ähnlichen Bereich – Eva Illouz’ instruktive Studie zur Genese des »emotionalen Feldes« (Illouz 2007, 97ff.).
Die Idee des ökologischen Feldes
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tionen fast durchweg die Entstehungskontexte und Ausgangsinteressen der Praxeologie. Wie oben dargestellt wurde, entwickelte Bourdieu die Praxeologie im Zuge seiner ethnographischen Studien zur algerischen Modernisierung. Kernkonzepte wie die Hysterese oder der Habitus verweisen also gleichermaßen auf Momente von Stabilität wie auf die Effekte des sozialen Wandels. Auch wenn nun keineswegs von einer Identität der historischen Situationen gesprochen werden soll – insbesondere die Gewaltförmigkeit der in Algerien beobachteten Transformationsprozesse verbietet dies – lassen sich dennoch aus praxeologischer Sicht bestimmte Parallelen zwischen der bei Bourdieu beschriebenen algerischen Modernisierung und der gegenwärtigen ökologischen Transformation ausmachen (vgl. Kap. 4). In beiden Fällen entsteht innerhalb einer kurzen Zeitspanne die Anforderung an die Subjekte, routinisierte Praxisformen auf neue Bedingungen abzustimmen. Während hier das ökonomische, auf Profit und das einträgliche Geschäft ausgerichtete Denken gegen die Widerstände vielfach habitualisierter Muster etabliert werden muss, muss dort das ökologische, auf Rücksicht und Vorausschau gerichtete Denken entwickelt und in entsprechende Praxisformen übersetzt werden. In beiden Fällen entstehen Reibungsflächen zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Haltungen, gibt es Kämpfe um Deutungshoheiten zwischen mit verschiedenen Handlungsressourcen ausgestatteten Agent*innen sowie von allen Beteiligten gemeinsam geteilte Überzeugungen. Kurz gesagt, beide Beispiele stehen für die Transformation bzw. Entstehung einer Domäne der Praxis, die angemessen in Feld-Begriffen beschrieben werden kann. Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Bereich des ökologischen Handelns ist kein Bereich wie die meisten anderen Sphären des Alltagslebens. Weder lässt er sich restlos gegen andere Felder abgrenzen noch kann man ihn – wie das z.B. für den Bereich der Rechtsprechung oder der Wissenschaft möglich ist – eindeutig mit bestimmten Berufsgruppen oder professionellen Traditionen assoziieren. Ganz im Gegenteil, die meisten Tätigkeiten in den unterschiedlichen sozialen Feldern (mithin menschliche Tätigkeiten überhaupt) haben durch die Korporealität bzw. die Materialität der Praxis und die damit einhergehende physische Interaktion mit der Welt einen Bezug zum ökologischen Feld. Ähnlich wie der Bereich des Ökonomischen, der über die Kommerzialisierung des Alltagslebens mit vielen anderen Praktiken eng verknüpft ist, scheint auch das ökologische Feld quer zu den meisten anderen sozialen Feldern zu liegen bzw. alle sozialen Mikrokosmen zu durchdringen. Ungeachtet dessen kann man dennoch davon ausgehen, dass das ökologische Feld auf eine ähnlich Weise funktioniert wie andere Felder. Wie in anderen Handlungsbereichen werden auch hier – wenn vielleicht auch nicht stark institutionalisiert – Unterschiede zwischen Etablierten und Neulingen gemacht, gibt es bestimmte Erwartungen an ›richtige‹ Praxismuster und eine ganzes Repertoire an Standards, die diesen Praxismustern Anerkennung verleihen. Darüber hinaus besteht inzwischen ein umfassender Komplex an Texten, der die legitimen Gegenstände des Feldes beschreibt, den Beteiligten eine Orientierung im Feld bieten soll, eine einigermaßen präzise Verständigung über die feldspezifischen Themen er-
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möglicht usw. Während die neue Geltung ökologischer Themen aus der Alltagssicht heraus nahezu fraglos sein dürfte – vergleichsweise leicht lassen sich immer neue empirische Belege dafür finden, wie ökologische Motive in den Alltag einfließen und ihn verändern –, stellt sich indessen die Frage, wie die These des sich konstituierenden ökologischen Feldes praxeologisch genauer begründet werden kann. Dazu erscheint es sinnvoll, sich zunächst an die Grundkategorien der Bourdieu’schen Feldtheorie zu halten. Demnach müssen sich für das ökologische Feld folgende Elemente identifizieren lassen: Erstens, ein gemeinsam geteilter Glaube und ein feldspezifisches Gut, oder anders gesagt: etwas, um das es geht, wenn man ökologisch handelt; zweitens, ein Netz verschiedener Agent*innen, die sich an dem Spiel des Feldes beteiligen, um seine Regeln kämpfen, Einsätze und Strategien definieren und mit all dem zur Reproduktion des Feldes beitragen; und drittens schließlich, ein mit dem Feld verbundener, spezifisch ökologischer Habitus. Geteilte Überzeugungen, umkämpftes Kapital Was kann nun – ungeachtet der Heterogenität aller Positionen – als gemeinsam geteilte Überzeugung im ökologischen Feld angenommen werden? Das ökologische Feld organisiert sich um die Idee herum, dass gesellschaftliche Naturverhältnisse regulierbar sind, und genauer: dass sie etwas durch individuelle Handlungen Gestaltbares darstellen. Der Hintergrund von Initiativen wie dem WBGU-Papier für eine Große Transformation, von der Ansprache der Konsument*innen durch ›grüne‹ Produkte und Dienstleistungen oder von großen Teilen des massenmedial geführten Diskurses um die Klimakrise (vgl. Kap. 2) ist die Überzeugung, dass das einzelne Subjekt etwas gegen gesellschaftliche Problemlagen wie den Klimawandel tun kann und tun soll, dass es angerufen ist, sich für ökologische Belange einzusetzen und aktiv zu werden. Die zunehmend im Alltag beobachtbare Überprüfung der ökologischen Bezüge (der materiellen Verstrickungen) des eigenen Lebens basiert dementsprechend auf dem Glauben, dass eine Änderung des individuellen Lebensstils nicht insignifikant ist, d.h. dass Einzelne in der Lage sind, einen Unterschied zu machen. Oder anders gesagt, es wird zumindest implizit behauptet, dass die Agent*innen nicht nur ›Opfer der Verhältnisse‹ sind, sondern Gestalter ihrer eigenen Lebensbedingungen. Selbst die gelegentlich zu beobachtende Kritik an einer empfundenen Wirkungslosigkeit des eigenen Handelns lässt sich als Stabilisator dieses feldspezifischen Glaubens lesen: Auch wenn das individuelle Vermögen zur Veränderung de facto nicht gegeben sein mag, ist dennoch darauf hinzuwirken dass es zukünftig gegeben sein wird. Während die individuelle ökologische Signifikanz die feldspezifische illusio darstellt, lassen sich die Einsätze in diesem Spiel als eine bestimmte Form von Kapital bestimmen. Fasst man die empirischen Beobachtungen der gegenwärtigen Transformationsprozesse zusammen, so scheint das spezifisch ökologische Kapital wesentlich aus zwei Elementen zu bestehen: Einerseits die Kompetenz zu einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Selbstmanagement; und andererseits – als Ergebnis eines erfolgreichen Selbstmanagements – ein Zustand, der sich als ökolo-
Geteilte Überzeugungen, umkämpftes Kapital
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gische Integrität charakterisieren ließe. Die Kompetenz des ökologischen Selbstmanagements befähigt, mit einem prominenten Schlagwort formuliert, zur Minimierung des individuellen oder kollektiven ökologischen Fußabdrucks. Die Prüfung alltäglicher Vollzüge setzt dabei ein zumindest rudimentäres Verständnis ökologischer Zusammenhänge voraus, denn die Subjekte müssen in der Lage sein, die Folgen ihres Handelns abzuschätzen. Sie müssen dazu über ein Wissen verfügen, das es ihnen erlaubt, ökologisch ›gute‹ (oder als solche anerkannte) Handlungen von ökologisch ›schlechten‹ (oder als solchen anerkannten) Handlungen zu unterscheiden und ihre körpervermittelten Tätigkeiten so anzulegen, dass sie z.B. mit möglichst geringen Emissionen von Treibhausgasen verbunden sind. Diese ökologische Selbstüberprüfung muss dabei nicht notwendigerweise auf einem expliziten, stets reflexiv verfügbaren Wissen beruhen, sie kann vielmehr auch als implizites, im Zuge einer ökologischen Habitualisierung inkorporiertes Wissen wirksam werden. Die normative Richtschnur des ökologischen Selbstmanagements ist der Zustand ökologischer Integrität. Das, was symbolische Anerkennung auf dem ökologischen Feld findet, was Gegenstand der Aktivierung und Horizont zahlreicher öffentlich geführter Debatten ist, ist eine ökologisch integere Existenzweise, d.h. eine Existenzweise, die möglichst geringe, möglichst wenig dauerhafte, möglichst reversible etc. Veränderungen der physisch-materiellen Welt impliziert. Dieses Ziel taucht in den gegenwärtigen Diskursen in vielen semantischen Formen auf: als »umwelt-« oder »klimafreundliches« Leben, als »naturnahes« bzw. »ökologisch verantwortungsvolles« Dasein oder, in der verdichteten Form dieser Bestimmungen, als »nachhaltige« Existenzweise. Das nachhaltige Leben bedeutet nach der prominenten Definition des Brundtland-Berichts ein Leben, das eigene Bedürfnisse befriedigt ohne die Bedürfnisbefriedigung zukünftiger Generationen einzuschränken (WCED 1987, 8). Ökologisch ausbuchstabiert heißt dies üblicherweise, bei der Nutzung physisch-materieller Ressourcen zur Verwirklichung von Handlungszwecken die Regenerationszyklen und Aufnahmekapazitäten von Natur zu beachten und nur solche Dinge in die alltägliche Praxis zu integrieren, die regenerierbar bzw. ohne dauerhafte Rückstände zu entsorgen sind, oder aber im Falle unvermeidbarer Schäden für eine entsprechende Kompensation zu sorgen. Zu erreichen sind eine als nachhaltig anerkannte Lebensweise bzw. ökologisches Kapital auf verschiedenen im ökologischen Feld legitimen Wegen. Dabei lassen sich grob zwei Strategien unterscheiden: Einerseits die Einschränkung der materiellen Verflechtungen durch Askese (was für gewöhnlich mit dem Schlagwort der Suffizienz assoziiert wird), andererseits eine ökologische Optimierung durch die bewusstere Auswahl der materiellen Handlungsmittel (womit das Schlagwort der Effizienz verbunden ist). Die erste Option ist mit Strategien und Zielstellungen wie »Simple Living«, »Lifestyle of Voluntary Simplicity« (LOVOS), freiwilliger »Entschleunigung« (Rosa 2005, 146ff.), »Konvivialität« (Les Convivialistes 2014), »Post Affluent Society« (Etzioni 2004) oder »De-Growth« (Latouche 2009) assoziiert. Nachhaltigkeit soll hier wesentlich durch Verringerung des Ressourceneinsatzes verwirklicht werden, oftmals verbunden mit der Orientierung am Ideal einer lokalen/regionalen Subsistenzwirtschaft, oder, wenn man so will,
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der Simulation traditioneller gesellschaftlicher Raumverhältnisse. Die zweite Option indessen, die historisch jünger ist, versucht ökologische Integrität durch die Wahl ökologisch unbedenklicher Produkte und Dienstleistungen innerhalb eines auf intensive Ressourcennutzung angelegten Lebensstiles zu erzeugen. Sie folgt damit dem im zweiten Kapitel beschriebenen Trend der Kommodifizierung des Klima- bzw. Umweltschutzes bzw. der Idee eines grünen Kapitalismus (vgl. Tienhaara 2013, 7; Steinberg 2010; 8ff.). Bei aller – unten noch auszuführender – Unterschiedlichkeit der Strategien sind beide jedoch gleichermaßen von der Überzeugung geleitet, zu nachhaltigen Lebensvollzügen beizutragen. Ein wesentliches Merkmal des durch ökologisches Selbstmanagement und seine Produkte gebildeten ökologischen Kapitals ist die Konvertierbarkeit in andere Kapitalsorten. Das heißt, ökologisches Kapital lässt sich zu einem bestimmten Grad und nach einem bestimmten Wechselkurs in Kapitalsorten transformieren, die auf anderen Feldern relevant sind und dort Handlungsoptionen eröffnen. In zeitdiagnostischer Perspektive am interessantesten ist dabei die Beziehung von ökologischem zu ökonomischem Kapital, da sich hier am stärksten die Verschiebungen durch die ökologische Transformation zeigen. Einerseits lässt sich ökologisches Kapital unter bestimmten Umständen direkt in ökonomisches Kapital umsetzen, wie etwa durch Steuererleichterungen oder Einsparungseffekte durch Konsumverzicht. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Ende der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland initiierte ökologische Steuerreform, die durch erhöhte steuerliche Belastung der Energienutzung zu sparsamem Ressourcenumgang motivieren sollte.111 Andererseits verspricht ökologisches Kapital durch seine symbolische Wirkung jedoch auch indirekte ökonomische Vorteile. So etwa können durch die Marketingeffekte eines umweltfreundlichen oder verantwortungsbewussten Images von Unternehmen gegenwärtig beträchtliche Gewinne erwirtschaftet werden, und ebenso können sich auch Individuen in bestimmten Kontexten durch ökologisches Kapital und den mit ihm verbundenen ›guten Ruf‹ Vorteile im Kampf um ökonomische Einsätze verschaffen (etwa auf dem Arbeitsmarkt in der sogenannten Kreativbranche112). Ökologisches Kapital nimmt in all diesen Zusammenhängen die Form symbolischen Kapitals an und es ist ein wesentliches Merkmal der gegenwärtigen Ökologisierungsprozesse, ökologisches Selbstmanagement und ökologische Integrität symbolisch aufzuwerten und damit zu prämieren. Während die Konvertierbarkeit von ökologischem in ökonomisches Kapital auf die Frage verweist, wozu ökologisches Kapital unter gegenwärtigen Bedingungen befähigt, lässt sich in umgekehrter Richtung auch thematisieren, aus welchen Kapitalformen sich ökologisches Kapital generieren lässt. Damit sind die Eintrittsbedingungen in das ökologische Feld angesprochen. Wie oben bereits angedeutet 111 In ökonomischer Sprache entspricht dieses Vorgehen einer Internalisierung externer Effekte, indem Umweltschäden einen Preis bekommen. 112 Die Debatte um den ›Öko-Lifestyle‹ (LOHAS) ist beispielsweise auf das Engste mit dieser Branche verknüpft – bereits der Begriff entstammt einer zur Jahrtausendwende veröffentlichten (und seitdem fast zu einer Art Manifest der Branche gewordenen) Studie zu den »Cultural Creatives« (vgl. Ray/Anderson 2000, 11, 139ff.).
Struktur und Dynamik des ökologischen Feldes
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wurde, beruht ein Eintritt in das Feld auf bestimmten kognitiven Kompetenzen, d.h. einer Art von kulturellem Kapital. Nur wer über eine entsprechende (ökologische) Bildung verfügt, kann ökologisches Selbstmanagement in der erwarteten Form betreiben bzw. den Zustand ökologischer Integrität als Ergebnis bewussten eigenen Bemühens rechtfertigen. Andererseits jedoch lässt sich auch eine zunehmende Aufwertung des Wechselkurses von ökonomischem in ökologisches Kapital beobachten, d.h. es besteht in wachsendem Maße die Möglichkeit, durch entsprechend ausgerichtete Kaufakte Anerkennung im ökologischen Feld zu generieren. Diese oben als Kommodifizierung des Klimaschutzes angesprochene Entwicklung lässt sich also kapitaltheoretisch als die Etablierung einer neuen, legitimen Konversionsform charakterisieren. Mit der Möglichkeit der Etablierung neuer Regularitäten innerhalb eines Feldes ist bereits angedeutet, dass sich die Sphären alltäglicher Praxis durch eine eminente Dynamik auszeichnen und selten als abgeschlossene, feste Regelwerke gelten können. Grund für die Dynamik sind nach der Feldtheorie die internen Positionskämpfe der Agent*innen, die sich letztlich als Konflikte um Deutungshoheiten intepretieren lassen. Bevor diese Konflikte thematisiert werden können, ist zunächst jedoch die grundlegende Frage zu beantworten, wer überhaupt zu den Agent*innen des ökologischen Feldes gezählt werden kann. Struktur und Dynamik des ökologischen Feldes Die Frage nach den Beteiligten des ökologischen Feldes lässt sich in zweierlei Hinsicht stellen: einerseits als (sozial-historische) Frage danach, welche Instanzen zur Entstehung und Autonomisierung der ökologischen Handlungssphäre beigetragen haben, andererseits als Frage nach konkreten in die Konkurrenz um Kapital und Deutungshoheiten involvierten Agent*innen der gegenwärtigen ökologischen Transformation. In feldgenetischer Hinsicht sind hier vor allem jene Beteiligten angesprochen, die zu dem entsprechenden Reservoir an im ökologischen Bereich zirkulierenden Denkfiguren, Argumentationsmustern und Begründungsstrategien beigetragen haben und so den Boden für die Idee der ökologischen Signifikanz bereiteten. Ins Blickfeld geraten damit zunächst speziell die Wissenschaften, und an dieser Stelle sicher zuerst die Naturwissenschaften. Diese haben nicht nur, wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde, die konkrete Idee eines anthropogenen Klimawandels etabliert und später im öffentlichen Diskurs untergebracht, sondern auch das ökologische, auf Vernetzung bio-physischer Prozesse gerichtete Denken populär machen können. Nicht zuletzt das Label »ökologisch« für eine bestimmte Art von Phänomenen oder Problemlagen macht auf den grundlegenden Beitrag der Naturwissenschaften, und besonders der biologischen Ökologie, zur Genese einer auf Natur bezogenen Praxissphäre aufmerksam.113 113 Womit im Übrigen nicht behauptet werden soll, dass eine solche Dominanz naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster sinnvoll oder angemessen sei. Ganz im Gegenteil: Wie im
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Konturen des ökologischen Feldes
Darüber hinaus werden – als im Vergleich dazu recht neues Phänomen – zunehmend jedoch auch Elemente sozialwissenschaftlicher Argumentationen im Klimadiskurs mobilisiert. Als klassische Beispiele dafür können die beiden prominenten umweltsoziologischen Studien der 1980er Jahre gelten, Ulrich Becks »Risikogesellschaft« (Beck 1986) und Niklas Luhmanns »Ökologische Kommunikation« (Luhmann 2004[1986]). Wie Dirk Baecker ausführt, sind Elemente dieser Argumentationen »[…] mehr oder minder elaboriert zum Allgemeingut des intellektuellen Wissens in dieser Gesellschaft geworden, das man unter Zeitungslesern, Ministerialdirigenten, Vorstandsassistenten, Dramaturgen, Geschäftsführern von Nichtregierungsorganisationen, Rundfunk- und Fernsehredakteuren voraussetzen kann. Zwischen den Zeilen bestimmt es mit, was gesagt werden kann und was nicht« (Baecker 2006, 6).
Zum Pool wissenschaftlicher Narrative, die von den Agent*innen des Feldes (potenziell) in den Klimadiskurs eingearbeitet werden, zählen darüber hinaus jedoch auch Stellungnahmen wie der 2006 populär diskutierte Stern-Report, der auf die ökonomischen Konsequenzen des Klimawandels aufmerksam macht (vgl. Egner 2007, 252f.), die sozialwissenschaftlichen Diskussionen um eine Low Carbon Society bzw. eine Große Transformation (vgl. z.B. Weyer 2010; Reusswig 2010a; 2010b; WBGU 2011), oder auch die im dritten Kapitel vorgestellten integrativen Ansätze zur Konzeptionierung gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse. Die Subjekte und Institutionen, von denen diese speziellen Diskurse ausgehen und in Gang gehalten werden, sind nolens volens in entscheidendem Maße in den Prozess eingebunden, der die Sphäre ökologischen Handelns als eigenlogischen Bereich der Praxis ermöglicht und aufrecht erhält. Erst durch die Narrative eines gefährdeten Klimas, einer ökologisch problematischen Dominanz spät-moderner Lebensformen, einer die Existenzgrundlagen gefährdenden Wirtschaftsform oder einer von den sozialen Entwicklungen längst überholten Territoriallogik wird die Basis für ein neues Selbstverständnis der Handelnden – als ökologisch verantwortliche Subjekte – gelegt. Stellt man nun die Frage nach den unmittelbar in das ökologische Feld Involvierten in den Mittelpunkt, lässt sich zunächst allgemein behaupten, dass all diejenigen Agent*innen dazu gehören, die von der entsprechenden illusio des Feldes eingenommen sind. Diese Agent*innen können nun auch im ökologischen Feld entlang der charakteristischen Differenz von Orthodoxie und Häresie gruppiert werden (vgl. Kap. 4). Die Orthodoxen, die sich auch als Gruppe ökologischer Expert*innen charakterisieren ließen, vertreten die etablierten Ansichten zum Klimaschutz und sind bemüht darum, ihre Deutungsmuster im Feld auf Dauer zu stellen. Das heißt, sie verfügen über die Anerkennung und die entsprechenden Durchsetzungsmöglichdritten Kapitel gezeigt wurde, führt eine Reduktion gesellschaftlicher Naturbezüge auf naturwissenschaftliche Kategorien zu elementaren Verständnisschwierigkeiten der gegenwärtigen Krise und scheint – als Reduktion – eher Bestandteil des Problems als der Lösung zu sein. Allerdings ändert diese Diagnose zunächst einmal nichts an der Dominanz naturwissenschaftlichen Wissens im ökologischen bzw. im Klimadiskurs.
Der Konflikt um den LOHAS
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keiten, Probleme und Lösungswege als legitim zu definieren. Der Erwerb ökologischen Kapitals hängt dann von der Fähigkeit ab, einen von den Expert*innen legitimierten Weg zu ökologischer Integrität zu wählen, d.h. das ökologische Selbstmanagement in einem bestimmten, anerkannten Stil durchzuführen. Die Gruppe der Neulinge oder Häretiker*innen hingegen versucht, neue Wege zur ökologischen Integrität auszuloten und zu legitimen Strategien im Feld zu machen. Sie befinden sich, anders gesagt, in einem Kampf um Anerkennung ihrer ökologischen Expertise. Ohne hier nun eine ausführliche Analyse der gegenwärtigen Feld-Konstellation anbieten zu können, lässt sich auf der Basis dieser Differenzierung dennoch eine erste empirische Orientierung vornehmen. Auf der Seite der deutungsmächtigen Expert*innen finden sich dabei staatliche Institutionen, wie z.B. im bundesdeutschen Kontext das Bundesumweltamt, das für die »Information der Bürgerinnen und Bürger in Fragen des Umweltschutzes« zuständig ist und den Umweltschutz befördern soll (UBA 2010, 1); Nichtregierungsorganisationen wie z.B. Greenpeace oder der World Wide Fund for Nature (WWF), die Fragen des Umwelt- und Naturschutzes in die Öffentlichkeit bringen und durch vielfältige Aktivitäten ökologische Schäden zu vermindern versuchen; wissenschaftliche Beratungsgremien, wie etwa der im zweiten Kapitel angesprochene WBGU, die auf die Durchsetzung konkreter Maßnahmen politisch hinwirken; oder aber auch der in den vergangenen Jahren enorm populär gewordene Bereich gemeinverständlicher ökologischer Ratgeberliteratur. Neulinge im Feld können z.B. Unternehmen sein, die im Umweltbereich tätig sind oder nachhaltige Produkte und Dienstleistungen an den Markt bringen – wie etwa die Anbieter von Emissionskompensationsmaßnahmen oder Mobilitätsdienstleister. Die Aktivitäten dieser Beteiligten des ökologischen Feldes lassen sich praxeologisch als Kampf um die Deutungsmacht darüber interpretieren, welche Form ökologisches Selbstmanagement haben soll und was als geglückte Verwirklichung dessen gelten kann. Die hier genannten Konflikte auf institutioneller Ebene spiegeln sich auch auf der Ebene individuellen Alltagshandelns wider. Auch hier versuchen verschiedene Agent*innen ihren ökologischen Stil zur Geltung zu bringen. Ein typischer Konflikt, der sich gegenwärtig zwischen orthodoxen und häretischen Beteiligten des ökologischen Feldes entwickelt und an dem sich gut die Grundzüge einer Logik ökologischer Praktiken verdeutlichen lassen, ist die Auseinandersetzung um den Konsumhedonismus des LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability). Der Konflikt um den LOHAS Hinter den Debatten um den LOHAS verbirgt sich eine bestimmte Variante des Gegensatzes zwischen den oben beschriebenen Strategien der Askese und der ökologischen Optimierung. Wie im zweiten Kapitel bereits angedeutet wurde, versuchen die Vertreter*innen des LOHAS (kapitalistische) Ökonomie und (nachhaltige) Ökologie zu versöhnen. Dies soll durch einen bewussten Konsum ökologisch unbedenklicher Produkte und Dienstleistungen erfolgen, der sowohl die ökologi-
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Konturen des ökologischen Feldes
sche Integrität befördert als auch zum persönlichen Wohlbefinden und zur individuellen Gesundheit beiträgt (oder anders gesagt: der eine persönliche Rendite abwirft). Assoziiert ist dies mit einem vergleichsweise aufwendigen Lebensstil, der der klassischen Verzichtsstrategie der ökologischen Orthodoxie entgegensteht. Obwohl beide Positionen an der feldspezifischen Idee einer individuellen ökologischen Signifikanz orientiert sind, könnten die Gegensätze zwischen ihnen kaum größer sein. So nimmt es auch nicht weiter wunder, dass mit dem Aufstieg des LOHAS stets auch seine Kritik verbunden war: »Wer sich viele Gedanken über Nachhaltigkeit macht und bei seinem Ernährungsverhalten, das seine Gesundheit tangiert, bei Textilien, die seine Haut berühren und bei seiner Kosmetik auf alles Mögliche achtet, aber dennoch gerne schicke Autos (mit Hybridantrieb) fährt und gern in der Freizeit mit dem Flugzeug in die Ferne reist, hinterlässt einen größeren ökologischen Fußabdruck als die Familien, die zwar kein entwickeltes LOHAS-Bewusstsein haben, aber aus Gründen des geringen Familienbudgets oder aus alter Gewohnheit ohne PKW auskommen und Urlaub allenfalls in Deutschland auf dem Lande machen« (Schoenheit 2009, 24).
Der Auszug macht sowohl explizit als auch implizit auf verschiedene Aspekte der Kontroverse zwischen traditionellen ökologischen Agent*innen und ökologischer Avantgarde aufmerksam. Offensichtlich ist hierbei zunächst einmal die technischinstrumentelle Kritik einer praktischen Wirkungslosigkeit des LOHAS-Konsums. Dies ließe sich auf die Formel verknappen, dass es sich bei dem Öko-Lifestyle letztlich um eine ›Milchmädchenrechnung‹ handelt. Während dieser Streitpunkt eine Frage der genauen Messung und Zurechnung ist, die zumindest prinzipiell auch zu Gunsten der LOHAS-Anhänger*innen entschieden werden könnte, deutet sich zwischen den Zeilen indessen eine andere, tiefer greifende Kritik an. Diese besteht in der Skepsis gegenüber den eigeninteressierten Motiven des Konsumhedonismus. Der traditionellen Struktur des ökologischen Feldes nach, so scheint es jedenfalls, finden ökologische Praktiken dann Anerkennung und werfen symbolischen Profit ab, wenn sie sich im weitesten Sinne frei von (ökonomischem) Eigeninteresse zu zeigen vermögen. Die Akquise ökologischen Kapitals gelingt nach orthodoxen Maßstäben nur dann, wenn sie praxeologisch gesprochen die Form einer »›anti-ökonomische[n]‹ Ökonomie« annimmt, die »auf der obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie der Verleugnung der ›Ökonomie‹ (des ›Kommerziellen‹) und des (kurzfristigen) ›ökonomischen‹ Profits« (Bourdieu 2001b, 228) basiert.114 Das Ziel von Anhänger*innen des LOHAS im ökologischen Feld ist nun gerade das Aufbrechen einer solchen an altruistischen Motiven orientierten Handlungslogik und der Versuch, einen neuen Stil ökologischer Praxis als legitim zu definieren. Über den Konfliktpunkt der Interessefreiheit hinaus lässt sich an dem in der oben zitierten Passage angeführten Vergleich jedoch noch ein weiterer Aspekt der Logik ökologischer Praxis andeuten. Dies betrifft die Zurechenbarkeit ökologischer Integrität zu selbst getroffenen Entscheidungen. Während nachhaltigkeits114 Dieser Umstand stellt zugleich auch die in der praktischen Logik begründete Einschränkung der oben angeführten Konvertierbarkeit ökologischen Kapitals dar.
Ökologischer Habitus
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orientierte Konsumhedonist*innen und klassische Umweltschützer*innen Anerkennung dafür finden, ökologisches Selbstmanagement zu betreiben und ihren CO2-Fußabdruck zu minimieren, wird unfreiwillig erzeugte ökologische Integrität häufig kaum anerkannt. Ökonomisch Marginalisierte – wie etwa »Familien, die […] aus Gründen des geringen Familienbudgets […] Urlaub allenfalls in Deutschland auf dem Lande machen« (Schoenheit 2009, 24) – gelten im ökologischen Feld nicht als legitime Beteiligte, weil sie ihre ökologische Integrität in der Regel nicht durch eine entsprechende kulturelle Kompetenz legitimieren (können) bzw. nicht in einer Situation sind, um eine solche Kompetenz ausspielen zu können. Vor allem die Debatten um den Klima- und Umweltschutz als ein wesentlich von ökonomisch abgesicherten Eliten betriebenes Phänomen scheinen diese Aspekte hervorzuheben und weisen auf die über die ökologische Frage ausgetragenen gesellschaftlichen Ab- und Ausgrenzungsprozesse hin. Wer unter diesen Bedingungen weder zur Teilhabe am ökologischen Konsum fähig ist noch seinen (erzwungenen) Verzicht symbolisch geltend machen kann, gehört nicht nur zu den materiell, sondern auch zu den symbolisch Marginalisierten. Was sich hieran besonders gut zeigen lässt ist die konstitutive Kulturalität ökologischer Praxis, denn über den gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg einer individuellen Ökologisierung entscheiden nicht etwa Zahlen oder Messwerte, sondern die Positionierung in einem (vor-)strukturierten sozialen Raum. Ökologischer Habitus Während die bisherigen Darstellungen hauptsächlich die strukturelle, objektivierte Seite ökologischer Praxis hervorgehoben haben, ist als letztes Element der praxeologischen Skizze des ökologischen Feldes nun das Komplementärstück – die habituelle Seite der Praxis – zu thematisieren. Folgt man den oben dargelegten praxeologischen Grundlinien, dann dürfte sich fast von selbst verstehen, dass mit der Idee eines ökologischen Habitus mehr gemeint sein muss, als die im ökologischen Diskurs durchaus präsenten Vorstellungen eines »Umweltbewusstseins« (vgl. BMUB 2015) oder »ökologischer Intelligenz« (vgl. Goleman 2010). Was mit dem Terminus stattdessen gemeint ist, geht über diese vornehmlich kognitiv argumentierenden Konzepte hinaus: ein Set inkorporierter Dispositionen, das es den Alltagssubjekten erlaubt, ökologisch integere Praxisformen zu generieren.115 Nach welchen Grundsätzen diese Praxisformen konkret organisiert sind, kann sich – wie das Beispiel der LOHAS-Kontroverse zeigt – durchaus wandeln. Allerdings bleibt der gegenwärtig hinlänglich stabil erscheinende Kern der ökologischen Handlungssphäre die feldspezifische illusio einer ökologischen Signifikanz. 115 Mit dieser Fassung des Begriffs sind auch die Differenzen zu anderen Verwendungsweisen markiert: Weder bezieht sich »ökologischer Habitus« einzig auf die ökologischen Folgen von Habitus (als Lebensstilen) im Allgemeinen, wie dies z.B. bei Kasper (2009, insbes. 320) vertreten wird, noch sind damit nur die Verhaltensstrategien von Vertreter*innen mehr oder minder radikaler Umweltbewegungen gemeint (vgl. Haluza-DeLay 2008, insbes. 210; Smith 2001, insbes. 25f.). Zum Vergleich der Positionen siehe auch Gäbler (2015, 79f.).
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Konturen des ökologischen Feldes
Die Existenz von solchen ökologischen Dispositionssystemen ergibt sich aus den (individuellen) Anverwandlungen und Einübungsprozessen der feldspezifischen Logik. Begreift man nun die ökologische Transformation der Gesellschaft als Entstehung eines ökologischen Feldes, dann sind dieser Wandel und die Verstetigung der neuen Bedingungen notwendig auf eine ausreichende Zahl entsprechender ökologisch disponierter Alltagssubjekte angewiesen (vgl. Bourdieu 2000, 7ff.; Hillebrandt 2009a, 118). Dass die damit verbundenen Konversionsprozesse – trotz der genannten Ökologisierungstendenzen – in der Breite kaum selbstverständlich sein dürften, macht auf die gravierenden Schwierigkeiten gesamtgesellschaftlicher Metamorphosen à la »Great Transformation« aufmerksam. Worin diese Schwierigkeiten genau begründet liegen, lässt sich habitualisierungstheoretisch genauer benennen. Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde, bezeichnet der Habitus die inkorporierten sozialen Bedingungen (opus operatum). Aufgrund der mit einer Aneignungsarbeit verbundenen körperlichen Verankerung des Habitus zeichnet sich dieser in der Regel durch eine bestimmte Trägheit oder Hysteresis aus. Richtet man den Blick nun auf die außerhalb des Feldes stehenden Akteure, so bestehen die Widerstände einer Etablierung neuer, ökologischer Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster im gesellschaftlichen Mainstream darin, dass völlig anders ausgerichtete, gewissermaßen prä-ökologische Habitus umgearbeitet werden müssen, um den ökologischen Fußabdruck gegenwärtiger Gesellschaften kollektiv zu mindern. Das Format dieser Aufgabe wird deutlich, wenn man sie in einen kulturhistorischen bzw. modernisierungsgeschichtlichen Rahmen setzt. Leggewie und Welzer (2009, 11) etwa behaupten dazu prägnant: »Unser Selbstbild und unser Habitus sind, nach 250 Jahren überlegener Macht, Ökonomie und Technik, noch an Verhältnisse gebunden, die es so gar nicht mehr gibt. Dieses Nachhinken unserer Wahrnehmung und unseres Selbstbildes hinter der Veränderungsgeschwindigkeit einer ›globalisierten Welt‹ findet sich auch auf anderen Ebenen unserer Existenz – etwa in Bezug auf die Energie-, Umwelt- und Klimakrisen«.
Der Hinweis ist vor dem praxeologischen Begriffshorizont nicht trivial. Anders als Konzepte wie »Überzeugungen« oder »Ansichten«, bei denen ein Wandel nach der Alltagserfahrung durchaus nicht ungewöhnlich ist, macht der Habitusbegriff auf die vergleichsweise starke intra-personelle Stabilität aufmerksam. Habituell gewordene umweltbezogene Handlungsmuster sind eben – leger formuliert – nicht einfach abzuschütteln. Ein Aufbrechen der psycho-physisch inkorporierten Dispositionen ist zwar möglich – schließlich ist sozialer Wandel ja auch empirisch beobachtbar –, allerdings ist davon auszugehen, dass dies kaum politisch steuerbar oder durch Erziehungsprogramme von ›oben‹ zu verordnen ist (vgl. Brand 2011, 180).116 Es dürfte von daher kaum überraschen, dass die gegenwärtige Umweltpolitik zu großen Teilen gerade nicht auf die Komplexität und Kontextualität betonende Habitustheorie zurückgreift, sondern sich vergleichsweise simpler ver116 »›Sozialer Wandel‹ wird«, wie Brand (2011, 190) betont, innerhalb der Praxistheorie »als weitgehend ungesteuertes Produkt der Dynamik sozialer Praktiken, ihrer Verknüpfungen und Nebenfolgen gesehen«.
Fazit
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haltenstheoretischer Modelle bedient, die auf der Annahme eindeutiger Kausalbeziehungen zwischen (kognitiven) Einstellungen und entsprechenden Handlungsweisen beruhen (vgl. Shove 2010, 1274f.). Zum einen erfüllt das behavioristische Modell nämlich die zumindest implizit artikulierte politische Forderung nach eindeutigen Determinanten und Steuerungsgrößen besser als die Praxeologie. Zum anderen aber – und möglicherweise noch bedeutsamer – entlasten die eher technischen Ansätze der Verhaltenswissenschaften davon, die Frage nach den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen bzw. Widerständen der ökologischen Habitualisierung zu stellen. Der praxeologische Fokus auf Fragen der Genese ökologischer Habitus und ökologischer Handlungssphären wird somit (zumindest im Kontext des globalen Nordens) notwendig auf eine Thematisierung des Kapitalismus hinauslaufen. Fazit Als Resümee zu dieser theoretisch reformulierten Skizze der gegenwärtigen ökologischen Transformation kann folgendes festgehalten werden: Das Erkenntnisinstrument des ökologischen Feldes erlaubt es, einen alternativen Blick auf die (Neu-)Gestaltung gesellschaftlicher Natur- und Raumverhältnisse sowie die sich daraus ergebenden Probleme zu entwickeln. Mit ihm gerät die soziale Einbettung der materiell involvierten Praxis in Kämpfe um Deutungshoheiten sowie die kulturelle Codierung oder Aneignung von Natur und naturbezogenem Handeln in den Fokus. Es kann dabei helfen, die Praktiken scheinbar getrennter Agent*innen auf verschiedenen Ebenen als Teil ein und desselben Spiels zu interpretieren und den Blick auf die ungleichen Voraussetzungen der Teilhabe an ökologischen Praktiken zu lenken (vgl. Brand 2011, 181). Darüber hinaus erlaubt der mit der Feldtheorie verbundene Praxisbegriff eine Abkehr von einfachen, rationalistischen Erklärungen des ökologischen Handelns, die den Beteiligten eine mehr oder minder stetige Reflexivität ihres Tuns unterstellt. Stattdessen ist in der hier vorgeschlagenen Perspektive die ökologische Praxis durch implizite Überzeugungen (wie z.B. diejenige der ökologischen Signifikanz) und die Befolgung einer praktischen Logik (z.B. am Motiv der Interesselosigkeit orientiert) geprägt. All jene theoretischen Potenziale des Feldbegriffs dürfen jedoch, das ist nochmals zu betonen, nicht dazu verleiten, Felder als Objekte in der sozialen Wirklichkeit zu behandeln. Ebenso wie die feldinterne Differenzierung in die Pole der Orthodoxie und der Häresie stellt der Feldbegriff ein sozialwissenschaftliches Erkenntnismittel dar, das eine bestimmte soziale Dynamik sichtbar machen soll, nicht aber den Selbstbeschreibungen und -wahrnehmungen der Alltagssubjekte entspricht (vgl. Kap. 4). In empirischer Hinsicht lässt sich zusammenfassen, dass der Bereich der ökologischen Praxis durch die enorme Ausweitung an beteiligten Expert*innen, die damit verbundene Zunahme an verfügbaren Narrativen und insbesondere durch den impliziten Konsens über die notwendige individuelle Aktivierung in Zeiten des Klimawandels an Autonomie gewonnen hat. Die ökologische Handlungs-
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sphäre steht, mit anderen Worten, nicht mehr unter dem Verdacht, ein für lediglich eine begrenzte Anzahl an Expert*innen relevanter Spezialbereich zu sein, sondern kann sich gegen andere Domänen der Praxis behaupten. Wie an verschiedenen Stellen dieser Arbeit deutlich geworden sein mag, ist die Sphäre des ökologischen Handelns gegenwärtig zugleich ein in hohem Maße dynamischer Bereich, in dem es zu stetigen Verschiebungen der Gewichte der Beteiligten kommt und in dem permanent neue Probleme konstruiert und Lösungen angeboten werden.
Schlussbetrachtung
Die vorliegende Studie verfolgte zwei Ziele: In empirischer Hinsicht sollte ein Überblick über einige gegenwärtig zu beobachtende Bearbeitungsformen der sogenannten »Klimakrise« gegeben werden. In theoretischer Hinsicht war das Ziel, das traditionelle geographische Problem der Bezüge von Gesellschaft und Natur zu rekonstruieren und einen analytischen Bezugsrahmen zum Umgang mit diesem Problem zu entwickeln. Die Ausgangsbeobachtung der Arbeit war dabei die Hybridität des Klimawandels, der nicht ohne Rekurs auf die Sphären des Gesellschaftlichen und des Materiellen angemessen zu verstehen ist. Klimawandel, so die Leitthese, ist als materiell involvierte kulturelle Praxis zu begreifen. Um dies zu plausibilisieren wurde zunächst untersucht, wie der Klimawandel aus einer spezifischen naturwissenschaftlichen Diskussion als Krisenphänomen in das kollektive Bewusstsein gelangte und zum Anlass gesellschaftlicher Selbstauslegungsprozesse wurde. Mit dem Topos des Klimawandels als Gesellschaftswandel wurde illustriert, wie der Klimawandel gegenwärtig als ein gesellschaftspolitisches Gestaltungsproblem konstruiert wird und welche institutionellen und individuellen Bearbeitungswege dazu erschlossen werden. Als charakteristische Merkmale dessen konnten – wenn auch nur kursorisch – eine Moralisierung des Alltags bzw. eine Aktivierung der Subjekte, eine Kommodifizierung des Klimaschutzes sowie eine Verwissenschaftlichung der Alltagsdiskurse identifiziert werden. Zu einer Sozialgeographie der ökologischen Transformation wird die Studie schließlich durch ihren spezifischen analytischen Bezugsrahmen. Die vorgeschlagene nicht-reduktionistische Perspektive schließt dabei an humanökologische, sozial-ökologische und handlungstheoretische Argumentationen an. Am Beispiel humanökologischer Forschungstraditionen konnte zunächst gezeigt werden, wie sich die Mensch-Umwelt-Forschung in den disziplinären Traditionen der Ökologie, Geographie und Soziologie von dem naturalistischen Erbe Haeckels loslösen und ein auf die Integration der sinnhaften und materiellen Dimension zielendes eigenständiges Forschungsprogramm etablieren konnte. An der Frankfurter Sozialen Ökologie wurde wesentlich die Idee der Gesellschaftlichen Naturverhältnisse als Kernkonzept transdisziplinärer, integrativer Forschung diskutiert. Die zentralen Fragen der Analyse des gesellschaftlichen Klimawandels konnten hier um die Dimension einer am Naturproblem aufgehängten Gesellschaftskritik erweitert werden. Zugleich jedoch konnte an der Sozialen Ökologie die Schwierigkeit der wissenschaftlichen Immunisierung gegen alltägliche Problemkonstitutionen ge-
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zeigt werden. Die theoretische Frage der Reproduktion der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in Alltagshandlungen wurde schließlich am Beispiel der handlungszentrierten Sozialgeographie diskutiert. Diese erlaubt den gesellschaftlichen Klimawandel als alltägliche Strukturierung von Raum und Natur bzw. als Prozess der sinnhaften Aneignung von Welt zu konzipieren. Gewonnen wird durch solche strukturationstheoretische Perspektiven ein Zugriff auf Prozesse des sozial-ökologischen Wandels, der mit den Alltagshandlungen als Kreuzpunkt von Materiellem, Symbolischem und Sozialem einen konkreten Ansatzpunkt empirischer Beobachtungen bietet – es sind eben nicht Gesellschaften oder Populationen, die agieren, sondern sozial-kulturell eingebettete Subjekte. Man handelt sich damit jedoch die Frage ein, auf welche Weise das Alltagshandeln eingebettet oder vergesellschaftet ist, oder anders gesagt, was Praxis zu sozialer Praxis macht. Das dazu hier entwickelte Theorieangebot ersetzt mit Pierre Bourdieus Praxeologie den Begriff des Handelns durch das Konzept der Praxis. Wie gezeigt wurde, weist eine praxistheoretische Analyse der alltäglichen Reproduktionsprozesse des gesellschaftlichen Klimawandels stärker als andere Ansätze auf die impliziten Logiken (praktischer Sinn) und Verfestigungsmechanismen (Habitualisierung, Inkorporierung) der ökologischen Alltagspraxis hin und macht auf die Genese und die Transformation der feldspezifischen Güter bzw. Kapitalformen aufmerksam. Nimmt man die hier vorgetragenen Überlegungen in toto in den Blick, so ist zunächst natürlich auf deren Unabgeschlossenheit hinzuweisen. Weder kann die vorliegende Studie für sich beanspruchen, ein auch nur einigermaßen detailliertes Bild der gegenwärtigen Transformationsprozesse zu zeichnen, noch wurde das Reservoir potenziell zur weiteren Diskussion in Frage kommender theoretischer Zugriffe annähernd ausgeschöpft. Sowohl die empirische Analyse als auch die Evaluation theoretischer Alternativangebote müssen Gegenstand von Folgestudien bleiben. Besonders hervorstechende Forschungsdesiderate sind dabei in Bezug auf drei Themenkreise absehbar: Methodik und Methodologie, Blindstellen der Praxistheorie sowie zeit- und gesellschaftsdiagnostische Anschlusspunkte. Auf weiterführende methododische und methodologische Überlegungen ist der vorgeschlagene Ansatz sowohl mit Blick auf eine disziplinübergreifende Forschungspraxis als auch hinsichtlich der praxistheoretischen Alltagsfokussierung angewiesen. Im Zentrum des ersten Problembezirks steht die Frage, wie eine transdisziplinäre Integration (Bergmann et al. 2010, 18ff.) ermöglicht werden kann. Auch wenn das Hauptinteresse der vorliegenden Studie der sozial-kulturellen Logik alltäglicher Praktiken galt, sind die stofflich-energetischen Mensch-Umwelt-Beziehungen – das sollte klar geworden sein – ein notwendiger Bestandteil praxiszentrierter integrativer Forschung. Die zur Untersuchung der physischmateriellen Eigendynamik notwendige naturwissenschaftliche Expertise kann allerdings nicht auf beliebige Weise mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeitsweisen und Analysekategorien zusammengeführt werden.117 Wie insbeson117 Der für Theorien der Praxis konstitutive Verweis auf die Körperlichkeit bzw. die Materialität der Praxis suspendiert dabei die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Erforschung
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dere im Umfeld der Frankfurter Sozialen Ökologie herausgearbeitet wurde, sind differente Problemdefinitionen, Epistemologien und Methodologien nur die offensichtlichsten Hindernisse einer ›einfachen‹ Integration (vgl. Bergmann et al. 2010, 42f.). Für die zukünftige Forschung gilt es daher, Methoden der Wissensintegration zu entwickeln, die um die Alltagspraxis herum – und gerade nicht um sozial-ökologische Systeme – organisiert sind, ohne dabei das Missverständnis zu erzeugen, soziale Praktiken seien ›einfach so‹ gegeben. Die konstitutive Selbstreflexivität praxistheoretischer Forschung mag dabei ein hilfreicher und im Transdisziplinaritätsdiskurs bislang zu wenig diskutierter Ausgangspunkt sein – ein entsprechendes Methodenrepertoire steht bislang allerdings noch aus. Eine ähnliche methodische Herausforderung ergibt sich aus der hier vorgeschlagenen Orientierung an Theorien der Praxis. Obwohl sich die sozial- und kulturwissenschaftliche Aufwertung der Praxis theoriehistorisch aus intensiven Erfahrungen ›im Feld‹ speist, korrespondiert damit bislang kein praxeologisch spezifisches Set an empirischen Forschungsmethoden – Konsens ist bestenfalls, dass man sich »ethnograpischer« Zugänge zu bedienen habe (Schmidt 2012, 28; Schäfer/Daniel 2015, 40).118 Diese methodische Lücke hat u.a. mit dem zu tun, was man in jüngeren Theoriediskussionen die Performativität der Praxis nennt. Leitkategorien praxeologischen Denkens wie etwa »praktischer Sinn« oder »Habitus« gewinnen ihre Bedeutung empirisch erst im Vollzug von Praxis (Hillebrandt 2015, 15; Schmidt 2012, 45). Nimmt man den Gedanken ernst, dass der Vollzug von Praxis auf nicht-propositionalen bzw. inkorporierten Kompetenzen der Agent*innen beruht, dann scheiden all diejenigen Untersuchungsmethoden als primäres Werkzeug aus, die auf dem Reflexionsvermögen von Agent*innen basieren. Klassische Methoden der empirischen Sozialforschung – wie etwa das Interview – sind damit vom praxistheoretischen Methodenrepertoire nicht ausgeschlossen, bedürfen aber einer theoretisch wie empirisch angeleiteten praxeologischen Weiterentwicklung (Schmidt 2012, 48). Ein zweites Forschungsdesiderat, das sich aus den vorgetragenen Überlegungen unmittelbar ergibt, betrifft eine Blindstelle tätigkeitszentrierter Ansätze. Wie gezeigt wurde, liefern Handlungs- und Praxistheorien (ungeachtet der jeweiligen Basiskonzepte) einen analytischen Bezugsrahmen für das Tun von Subjekten. Ihr Hauptinteresse gilt also beobachtbaren und mit bestimmten Hervorbringungsakten assoziierbaren Ereignissen in der sozialen Wirklichkeit – seien diese Ereignisse das Ergebnis bewusster Handlungsabsichten oder eines inkorporierten prakphysisch-materieller Eigenlogiken nicht. Dass Artefakte Bedeutungen verkörpern und in vielfältiger Weise in Praktiken integriert werden (können) heißt nicht, dass man mit den Methoden der Naturwissenschaften nichts Wissenswertes über sie erfahren kann. Allein, weder eine natur- noch eine sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Perspektive für sich können die komplexen Interaktionsdynamiken der materiell involvierten Praxis heuristisch befriedigend beschreiben. 118 Womit im Übrigen natürlich nicht gemeint ist, dass es keine praxistheoretische empirische Forschung gebe. Ganz im Gegenteil. Was jedoch auffällig ist, ist das Fehlen einer spezifisch praxistheoretischen Methodendiskussion und die darauf aufbauende Weiterentwicklung etablierter Feldzugänge (vgl. Schäfer/Daniel 2015).
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tischen Sinns. Was mit dieser Fokussierung des Tuns allerdings aus dem Blick zu geraten droht, sind Phänomene des Nichttuns, der Unterlassung oder der Zurückhaltung.119 Weder lebensweltlich noch theoretisch handelt es sich dabei um triviale Phänomene: Empirisch lässt sich etwa im Kontext des gesellschaftlichen Klimawandels an vielen Stellen eine Aufforderung zur Unterlassung oder zur Askese beobachten. Insbesondere wachstums- und konsumkritische Programme operieren mit solchen – den Spielraum von Tun und Nichttun betonenden – Verzichtsimperativen und geraten u.a. deshalb in Spannung zur kapitalistischen Aktivitäts- und Umsatzlogik. In theoretischer Hinsicht sind damit eine Reihe grundsätzlicher Herausforderungen verbunden. Während die Unterlassung in der Rechtswissenschaft, der Ethik oder der Theologie vielleicht noch einen systematischen Platz hat, wird sie in Tätigkeitstheorien häufig ignoriert oder bloß negativ bestimmt: Handlungen etwa sind dann das, was nicht unterlassen wurde. Dieses »gelingensfixierte« Begriffsverständnis (Setton, 2008, 46) schließt allerdings in gesellschaftlichen Konstellationen, die Nichttun prämieren, gerade die aufschlussreichen Fälle aus. Es ist daher nicht überraschend, dass in jüngerer Zeit zunehmend Kritik an der sozial- und kulturwissenschaftlichen Vernachlässigung des Unterlassens artikuliert wurde (vgl. etwa Gronau/Lagaay 2008; 2013; Flick 2015). Verschiebt man mit dieser Kritik zunächst den Blick vom (passiven) »nicht tun« auf das (aktive) »Nichttun« und holt die Unterlassung damit in den Erkenntnisbereich der Tätigkeitstheorien, so sind – wie bei allen anderen Tätigkeitsformen – Fragen nach den Bedingungen und Folgen der ›aktiven Passivität‹ eröffnet. Dass etwa auch das Nichttun einer praktischen Logik folgen kann, dass es kontextspezifische Unterschiede des (ja immer auf spezifische Normalsituationen bezogenen) Unterlassens gibt, wird mit einer solchen Verschiebung heuristisch produktiv hervorgehoben. Zu klären wäre im Rahmen einer solchen Praxistheorie des Nichttuns also, ob dieses den gleichen Logiken wie das Tun folgt, wie es in verschiedenen Sphären kulturell codiert wird, welche sozialen Effekte damit verbunden sind etc. Wenn das Unterlassen, wie Flick (2015, 12) herausfordernd formuliert, tatsächlich »die anspruchsvollere Handlung ist« so ist mit einer theoretischen Zuwendung zu diesem Phänomen auch die Aussicht auf eine größere Tiefenschärfe der Theorie verbunden. Ein drittes Problemfeld für die humanökologische Erforschung des gesellschaftlichen Klimawandels schließlich betrifft die Notwenidgkeit einer stärkeren Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen. Dass dies weniger ornamentalen Charakter hat, sondern sich systematisch aus den praxistheoretischen Grundbestimmungen ergibt, mögen drei Beispiele verdeutlichen: Die sich aus sozialkritischen Argumentationen speisenden Thesen eines Eigenverantwortung betonenden »Neue[n] Geist[s] des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2003) bzw. einer »Aktivgesellschaft« (Lessenich 2009) geben Hinweise darauf, warum auch die ökologischen Anrufungen des Individuums auf so fruchtbaren Boden fallen. Die inzwischen auch in tagespolitischen Zusammenhängen kursie
119 Für die hier verfolgten Zwecke können die drei Begriffe synonym verwendet werden.
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rende Diagnose einer »Wissensgesellschaft« (z.B. Drucker 1969; Bell 1999[1973]) mag Aufschluss darüber geben, weshalb die Verwissenschaftlichung des alltäglichen Klimadiskurses seit Mitte der 1980er Jahre so erfolgreich war. Und schließlich: Auch wenn sie auf den ersten Blick einer rein deskriptiven geologischen Rationalität von Erdzeitaltern zu folgen scheint – die heute populäre Charakterisierung der Gegenwart als »Anthropozän« (Crutzen/Stoermer 2000; Ehlers 2008) weist auf die globalen, langfristigen Folgen menschlichen Handelns hin und befeuert eine normative Debatte über die Zukunftsfähigkeit spät-moderner Gesellschaften. Bei allen Vorbehalten gegen Diagnosen solchen Formats, sie weisen eine praxistheoretisch kaum zu ignorierende Qualität auf: als gesellschaftliches Reflexionsmedium stellen sie ein Reservoir an Leitmetaphern und Interpretationsschemata zur Verfügung, das ins kollektive Bewusstsein einsickern und diejenigen sozialen Wirklichkeiten mit erzeugen kann, die durch die Diagnosen gerade beschrieben werden sollen. Aus dieser performativen Kraft von Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen erwächst für eine praxeologisch fundierte Sozialgeographie die Anforderung, wissenschaftliche Theoriebildung und Gesellschaftsdiagnostik zu einem konstitutiven Gegenstand ihrer Feldforschung zu machen. Kritisches Potenzial dürfte sie dabei weniger durch einen positivistisch gefärbten ›Faktencheck‹ als durch akribische Genealogien der entsprechenden Leitmetaphern und einer Analyse ihrer Anverwandlung in der Alltagspraxis gewinnen.
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Die Konzeptionalisierung der Beziehungen von Gesellschaft und Natur stellt insbeson dere unter den Bedingungen des globalen Wandels eine Herausforderung für die Sozi alwissenschaften dar. Sowohl die unter dem Stichwort der Low Carbon Society verhandel ten gesellschaftlichen Transformationspro zesse als auch das zunehmende Aufbrechen althergebrachter disziplinärer Abgrenzun gen machen die gegenwärtige Konstellation zu einer Art sozialwissenschaftlichem Labo ratorium, das eine Anwendung, Überprü fung und Präzisierung theoretischer Kern
konzepte ermöglicht und zur Reflexion der disziplinären Selbstverständnisse und Selbstverständlichkeiten anregt. Das Buch versteht sich als eine sozialgeogra phisch fundierte Exploration der gegenwär tigen Transformationsprozesse. Auf Basis einer Rekonstruktion humanökologischer, sozialökologischer und sozialgeographi scher Theoriepositionen zum Verhältnis von biophysischer und sozialer Welt wird ein in tegrativer, tätigkeitszentrierter Zugriff auf den gesellschaftlichen Klimawandel entwi ckelt.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10480-7