189 106 25MB
German Pages 442 [444] Year 2003
Dominik Brückner Geschmack
W DE G
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann
72
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
Dominik Brückner
Geschmack Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
© Gedruckt auf säurefreiem Papier das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017873-7 Bibliografische Information Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von den Philosophischen Fakultäten I-IV der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation im Fach „Sprachwissenschaft des Deutschen" angenommen. Damit steht sie in einer Tradition von Freiburger Arbeiten zum Geschmack, die sich zufällig in den letzten Jahren ergeben hat. Darüber, welche Gründe Freiburger Wissenschaftler immer wieder zu Arbeiten über dieses Thema inspirieren, wage ich nicht zu spekulieren, in diesem Fall war es — wer auch sonst — Johann Wolfgang Goethe, in dessen Schrift „Von deutscher Baukunst" sich wohl zum ersten Mal seine tiefen Zweifel an den festgefügten Regeln des „guten Geschmacks" eindrucksvoll manifestierten: „Als ich das erstemal nach dem Münster ging, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt' ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. Unter die Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymische Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht gescheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt [...]." Da Goethe sich auch später immer wieder über „dieses unbestimmte Wort" beklagte, war mein Interesse geweckt. Daß das Ziel, zur Klärung von Goethes Problem ein wenig beizutragen, dann zu einem fast 600-seitigen Manuskript fuhren würde, hätte ich damals jedoch nicht gedacht. Wie jede Arbeit ähnlichen Umfangs wäre auch diese nicht ohne die wertvolle Unterstützung einiger wichtiger Personen und Institutionen zustandegekommen. Zunächst gilt mein Dank der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, die die Entstehung dieser Arbeit zwei Jahre lang finanziell unterstützt hat. Ebenso wichtig wie die finanzielle Seite ist jedoch auch die inhaltliche und menschliche Bereicherung, die in diese eingeflossen sind. Nennen möchte ich hier alle meine Kollegen beim Projekt „Klassikerwortschatz", die in zahlreichen Diskussionen Ideen nicht nur ausgelöst, sondern auch beigesteuert haben und die mir mehr als einmal den Freiraum gewährt haben, der nötig war, um diese Arbeit fertigzustellen. Besonders herzlich möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Ulrich Knoop bedanken, der zusammen mit den beiden anderen Korrektoren, Herrn Prof. Dr. Erik Forssman und Herrn Priv.-Doz. Dr. Jürgen Schiewe die Aufgabe hatte, die 550 Seiten „durchaus" — von vorne bis hinten — zu lesen und mir die Freude machte, zu erklären, er habe dies mit großem Vergnügen getan. Sein
VI
Vorwort
Interesse und die daraus sich speisenden Anregungen waren immer wieder ein großer Ansporn. Mein Dank gilt ebenso den Herausgebern der Reihe Studia Linguistica Germanica, Herrn Prof. Dr. Oskar Reichmann und Herrn Prof. Dr. Stefan Sonderegger für die freundliche Aufnahme in die Reihe, sowie den Mitarbeitern des Verlags für die stets angenehme Zusammenarbeit. Bei drei Kollegen und Freunden möchte ich mich noch bedanken, ohne die sich die Korrektur- und Formatierarbeit zu einem endlosen Kampf gegen die Sturheit meines Rechner ausgewachsen hätte: Vivien Friedlich und Sarah Weiß, die die undankbare Aufgabe übernahmen, meine sprachlichen Eigenwilligkeiten zu entschärfen, und Michael Mühlenhort, der mit großer Geduld nicht nur einem Rechner zu erklären vermochte, was ich von ihm wollte. Zu guter letzt gilt ein besonderer Dank einigen besonderen Menschen: Meinen Eltern, Hannelore und Heinrich Brückner, Vivien Friedrich, sowie allen, die mir in meinem Leben etwas beigebracht haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.
Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung
S. 1
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
S. 5
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
S. 13
I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte. Eine Bestandsaufnahme 1. Vorläufer 2. Der ästhetische Diskurs 2. 1. Christian Thomasius und die Demotisierung des Geschmacks 2. 2. August Friedrich Müllers Graciänübersetzung 2. 3. Johann Ulrich König und die europäische Geschmacksdiskussion 2. 4. Johann Christoph Gottsched und die Regeln der Kunst 2. 5. Der Literaturstreit um Gottsched 2. 6. Bodmer, Calepio und der Geschmack als Vernunft 2. 7. Johann Jakob Breitinger und die Sinnlichkeit des Geschmacks 2. 8. Christian Fürchtegott Geliert und die Didaktik des Geschmacks 2.9. Johann Georg Sulzer 2.10. Moses Mendelssohn, das Gute und das Schöne 2.11. Meier, Schlegel und der moralische Geschmack 2. 12. Immanuel Kant und die Möglichkeit des ästhetischen Urteils 2.13. Das Ende des Geschmacksdiskurses
S. 13 S. 15 S. 20 S. 21 S. 24 S. 25 S. 30 S. 35 S. 36 S. 38 S. 39 S. 43 S. 46 S. 46 S. 48 S. 55
II. Kritik der begriffsgeschichtlichen Methode
S. 57
III. Kritik der begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
S. 80
D. Erkenntnisinteresse und Textkorpora
S. 82
VIII
Inhaltsverzeichnis
I. Das Erkenntnisinteresse
S. 82
II. Die Grundgesamtheit
S. 85
III. Die Textkorpora
S. 85
E. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
S. 89
I. Zur hier vertretenen Auffassung von „Bedeutung"
S. 89
II. Lexikographie als Darstellungsmethode
S. 90
III. Die Abbildung „realer semantischer Verhältnisse" im Wörterbuchartikel 1. Bedeutungen als Felder 1.1. Ein Beispiel 1. 2. Verwandte Erscheinungen 1.2.1. Vagheit 1.2.2. „Brisante Wörter" 1.2.3. Onomasiologische Felder 1. 3. Mögliche Ursachen für semantische Unscharfen von „Geschmack" 2. Die Aufgabe des Lexikographen 3. Die Darstellung im Wörterbuch
S. 97 S. 100 S.100 S. 105 S. 106 S. 107 S. 110 S. 111 S. 115 S. 120
IV. Grundlagen der Artikelgliederung. 1. Sachlogische Zusammenhänge als Grundlage der Artikelgliederung
S. 126
V. Die Arbeitsschritte 1. Die Auswertung des Textkorpus 1.1. Erster Arbeitsschritt 1.2. Zweiter Arbeitsschritt 1. 2. 1. Methoden der Bedeutungsanalyse und Auswahl der Belegbeispiele 1. 2.1.1. Methoden der Bedeutungsbestimmung 1. 2.1. 2. Auswahl der Belegbeispiele
S. 137 S. 137 S. 137 S. 141 S. 141 S. 142 S. 159
VI. Die Artikelstruktur 1. Die Artikelpositionen
S. 161 S. 162
S. 130
Inhaltsverzeichnis
IX
1.1. Die Lemmazeichengestaltangabe (LZGA) S. 162 1. 2. Die Formvariantenangabe (FVA) S. 162 1. 3. Die Genusangabe (GenA) S. 162 1. 4. Die Flexionsangabe (FlexA) S. 162 1. 5. Die Bedeutungsangaben (BA) S. 162 1. 5.1. Zu terminologischen Fragen S. 163 1. 5. 2. Aufgaben der Bedeutungsangabe im Spannungsfeld zwischen adäquater Deskription und verständlicher Explikation...S. 164 1. 5. 3. Probleme der Bedeutungsbeschreibung im diachron angelegten Wortartikel S. 166 1. 5. 4. Die Frage nach der Ersetzbarkeit S. 167 1. 5. 5. Erklärungstypen S. 168 1. 5. 5.1. Die klassische Definition S. 170 1. 5. 5. 2. Zweckexplikation S. 173 1. 5. 5. 3. Die Synonym„explikation" S. 174 1. 5. 5. 4. Bedeutungsbeschreibung mit Hilfe von Stereotypen und die Frage nach dem Status von Fachwissen S. 177 1. 5. 6. Folk definitions und die Formulierung von Bedeutungsangaben S. 179 1. 5. 7. Erläuterungen zur Bedeutungsangabe S. 182 1. 6. Die Belegbeispielangaben (BelBeiA) und die Diachronie S. 183 1. 7. Die Belegbeispielstellenangabe (BelBeiStA) S. 184 1. 8. Zu Phraseologie und festen Wendungen S. 185 2. Die Kommentare S. 187 F. Wortartikel „Geschmack"
S. 190
G. Auswertung
S. 259
I. Ausweitung der Korpusanalyse S. 259 1. Die einzelnen Bedeutungsbereiche S. 259 1. 1. Die physiologischen Bedeutungen S. 259 1. 2. Guter (zeitloser) Geschmack - veränderlicher Geschmack....S. 262 1. 3. Art und Weise, Methode, Gewohnheit S. 266 1. 4. Die Bedeutungen aus dem subjektiven Bereich S. 267 1. 5. Sinn für etwas S. 267 1. 6. Die ästhetische Wahl S. 268 1. 7. Das ästhetische Urteil S. 269 1. 8. Meinung, Charakter, Denkart S. 271 1. 9. Bereich der Kunst und Kultur, des Ästhetischen S. 271 1. 10. Moral S. 271
χ
Inhaltsverzeichnis
II. Die Ergebnisse der Sprachregistration 1. Vorbemerkungen 2. Wörterbücher 2.1. Einzelanalysen 2. 1. 1. Ein Vergleich der Wörterbücher Adelungs (1775) und Campes (1808) 2 . 1 . 1 . 1 . Die Bedeutungsbeschreibungen 2.1.1.2. Die Artikelstrukturen 2. 1. 1. 3. Vergleich beider Artikel mit den Ergebnissen der Korpusanalyse 2.1. 2. Daniel Sanders, Deutsches Wörterbuch (1865) 2 . 1 . 2 . 1 . Die Bedeutungsbeschreibungen 2. 1. 2. 2. Artikelstruktur und Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse 2.1. 3. Grimm, Deutsches Wörterbuch (1897) 2.1.3.1. Die Bedeutungsbeschreibungen 2.1. 3.2. Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse 2.1. 3.3. Die Artikelstruktur 2 . 1 . 4 . Moriz Heyne, Deutsches Wörterbuch (1905) 2 . 1 . 4 . 1 . Die Bedeutungsbeschreibungen 2 . 1 . 4 . 2 . Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse 2 . 1 . 4 . 3 . Die Artikelstruktur 2.1. 5. Goethe-Wörterbuch (1999) 2. 2. Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse 2.2.1. Die einzelnen semantischen Bereiche 2 . 2 . 1 . 1 . Die odorativen Bedeutungen 2.2.1. 2. Die gustativen Bedeutungen 2. 2.1. 3. Die ästhetischen Bedeutungen 2.2.1.4. Die subjektiven Bedeutungen 2 . 2 . 1 . 5. Auf Wissen und Kenntnis bezogene Bedeutungen 2.2.1.6. Bedeutungen aus dem Bereich der Wissenschaften 2. 2.1. 7. „Geschmack" auf alle Lebensbereiche ausgedehnt 2 . 2 . 2 . Auswertung 3. Brockhaus 3.1. Vorbemerkungen 3.2. Die Bedeutungsangaben des Brockhaus 3.2.1. Bedeutungen aus dem Bereich der Physiologie 3.2.2. Bedeutungen aus dem Bereich der Ästhetik 3.2.3. Bedeutungen aus dem Bereich der Moral 3.2.4. Weitere Belege 3.3. Auswertung. 3.4. Vergleich mit den Ergebnissen der Korpusanalyse
S. 276 S. 276 S.280 S. 281 S. 281 S. 281 S. 284 S. 287 S. 289 S. 289 S. 291 S. 294 S. 294 S. 296 S. 299 S. 303 S. 303 S. 303 S. 305 S. 307 S. 309 S. 309 S. 309 S. 309 S. 311 S. 312 S. 312 S. 313 S. 314 S. 314 S. 315 S. 315 S. 319 S. 319 S. 324 S. 326 S. 326 S. 330 S. 331
Inhaltsverzeichnis
3.4.1. Die einzelnen semantischen Bereiche 3.4.1.1. Bedeutungen aus dem Bereich der Physiologie 3.4.1.2. Bedeutungen aus dem Bereich der Ästhetik 3. 5. Zusammenfassung
XI
S. 331 S. 331 S. 332 S. 333
III. Kunstgeschichten 1. Vorbemerkungen 2. Die Belege der Kunstgeschichten 3. Auswertung
S. 334 S. 334 S. 338 S. 346
IV. Das semantische Spektrum von „Geschmack" im 18. und 19. Jahrhundert
S. 348
V. Semantische Charakteristika von „Geschmack" 1. Grundsätzliches 1.1. Die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen 1.1.1. Strukturelle Ähnlichkeiten 1.1.1.1. Folgerungen 1. 1.2. Ursachen für die semantische Unscharfe, die im Wortgebrauch liegen 1. 2. Parallelen zwischen den eigentlichen und den übertragenen Bedeutungen
S. 351 S. 351 S. 352 S. 358 S. 362
VI. Zur Diachronie
S. 366
VII. Wort und Begriff.
S. 380
S. 363 S. 363
H. Schlußbemerkung
S. 385
I. DieTextkorpora
S. 387
I. Textkorpus zum 18. und 19. Jahrhundert
S. 387
II. Textkorpus zum 20. Jahrhundert
S. 394
J. Literaturverzeichnis
S. 396
Α. Einleitung Das Wort „Geschmack" ist seit 1897, dem Erscheinungsjahr des fünften Bandes des Deutschen Wörterbuchs1, der unter der Leitung von Rudolf Hildebrand herausgegeben wurde und der auch der Autor des entsprechenden Artikels ist, keiner umfassenden lexikologischen oder lexikographischen Untersuchung mehr unterzogen worden — sieht man einmal von dem 1999 erschienenen Artikel des Goethe-Wörterbuchs ab2, der sich natürlich nur auf Goethes Wortverwendung stützen kann. Angesichts der Tatsache, daß es sich bei „Geschmack" um einen der zentralen Begriffe des ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert handelt, und damit um einen der zentralen Begriffe deutscher — und als „buen gusto", „bon goüt", „buon gusto" oder „taste" europäischer — Kulturgeschichte, muß dies überraschen. Zwar finden sich auch abseits der großen Wörterbücher, in begriffs-, ideen- oder geistesgeschichtlichen Studien immer wieder Hinweise auf die Wortbedeutung, doch gehen diese über knappe Anmerkungen zur Bedeutungsübertragung um 1700 in der Regel nicht hinaus. Die meist begriffsgeschichtlich ausgerichteten Untersuchungen zur Geschmackskategorie legen auf die historische Semantik entweder keinen großen Wert oder sie lehnen sie gar als wenig hilfreich ab.3 Ziel dieser Arbeit ist es daher, der begriffsgeschichtlichen Analyse- und Darstellungsmethode eine genuin linguistische Methode entgegenzusetzen, um das herauszuarbeiten, was bei der Untersuchung von „Geschmack" bislang versäumt wurde, den Wortgebrauch abseits der Geschmacksdiskussion. Einer der großen Mängel begriffsgeschichtlicher Untersuchungen überhaupt ist, daß bei der Analyse von Diskursen und Begriffen deren sprachliche Situierung meist übergangen wird. Die Untersuchungen zur Geschmackskategorie des 18. Jahrhunderts bilden dabei keine Ausnahme. Die Begriffsgeschichte konzentriert sich gerade bei diesem Begriff viel zu sehr auf eine kleine Gruppe von als wichtig erachteten Diskurstexten, was unvermeidlich zu einer Einschränkung ihres Blickwinkels geführt hat. In dieser Arbeit wird daher das historische Bedeutungsspektrum von „Geschmack" seit der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Zeit der
1
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vierten Bandes Erste Abtheilung. Zweiter Teil. Gefoppe - Getreibs. Bearbeitet von Rudolf Hildebrandt und Hermann Wunderlich. Leipzig 1897. (= Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe, München 1984, Bd. V).
2
Goethe-Wörterbuch. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, 1. Lieferung, Geschäft - Gestalt. Stuttgart, Berlin, Köln 1999, S. 46 - 50.
3
Vgl. hierzu, zu einer weiterreichenden Kritik der begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zum Geschmack und zur begriffsgeschichtlichen Methode allgemein das Kapitel C dieser Arbeit.
2
Α. Einleitung
Jahrhundertwende um 1900 darzustellen und zu analysieren sein. Dieser Zeitraum umfaßt die gesamte deutsche Geschmacksdiskussion, die etwa um 1720/30 erste relevante Texte hervorgebracht hat, ihren Niedergang nach Kants „Kritik der Urteilskraft", sowie ihr Nachwirken im 19. Jahrhundert bis hin zu Friedrich Nietzsche. Die Wahl dieses Zeitraum ermöglicht es einerseits, einen von der Begriffsgeschichte immer wieder behaupteten, aber nie nachgewiesenen grundlegenden Bedeutungswandel von „Geschmack" zu entdecken - wenn er denn stattgefunden hat: die angebliche Zunahme subjektivistisch geprägter Wortverwendungen im Zuge des Aufkommens eines ästhetischen Subjektivismus im 19. Jahrhundert; sie ermöglicht andererseits, das Verhältnis von Begriff und Wort zu erhellen, eine Relation, die bisher weder theoretisch noch praktisch geklärt ist. Dies ist bei „Geschmack" allerdings besonders schwierig, da viele der Anfang des 18. Jahrhunderts noch neuen Bedeutungen aus den Bereichen der Ästhetik und der Moral zusammen mit dem Geschmacksdiskurs und seinem zentralen Begriff aus der Romania endehnt wurden, wodurch es unmöglich ist, ein Hervorgehen neuer Verwendungen aus dem laufenden Diskurs heraus zu beobachten, da dieses so nie stattgefunden hat. Ein Vergleich des semantischen Spektrums vor Beginn des Diskurses mit dem semantischen Spektrum nach dem Ende des Diskurses, der solche Auswirkungen deutlich herausarbeiten könnte, ist daher bei „Geschmack" nicht möglich, da diejenigen Bedeutungen, auf die der Diskurs gewirkt hat, erst von diesem selbst hervorgebracht wurden. Die Verschränkung zwischen Diskurs und Endehnung bzw. — um eine alte Metapher der historischen Wortforschung zu verwenden — Bedeutungserweiterung war zu eng, um eventuelle Folgerelationen feststellen zu können. Dies läßt sich leicht nachvollziehen, wenn man weiß, daß die frühen deutschen Geschmackstheoretiker auch die Ubersetzer wichtiger spanischer und französischer Diskurstexte waren. Aus diesen Gründen wird sich die Analyse des Verhältnisses von Wort und Begriff vor allem auf den Zeitraum konzentrieren, in dem der Geschmacksdiskurs sein Ende findet. Falls er wirklich existiert, müßte der oft behauptete enge Zusammenhang zwischen Wort und Begriff bewirkt haben, daß das Ende des Diskurses deutliche Spuren im Wortgebrauch hinterließ. Solche Spuren könnten etwa im Wegfall bestimmter, an den Diskurs gebundener Bedeutungen bestehen, oder in einer Verschiebung der Beleghäufigkeiten für die einzelnen Bedeutungen im semantischen Spektrum des Wortes. Solchen Erscheinungen gilt es daher auf die Spur zu kommen. Zunächst muß jedoch die bisherige lexikologische Aufarbeitung von „Geschmack" betrachtet werden. Da diese fast ausschließlich in Wörterbüchern stattgefunden hat, wird sich der Literaturbericht auf diese konzentrieren, wobei vor allem die großen mehrbändigen Werke des 18. und 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt unseres Interesses stehen, da sie erwartungsgemäß die größte Menge an Information bieten. Nach dieser ersten Bestandsaufnahme gilt es, die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmackskategorie auszuwerten. Zu diesem Zweck wird die Geschmacksdiskussion des 18. Jahrhunderts zusammengefaßt, allerdings nicht basierend auf den Originaltexten, sondern auf den Analysen der Begriffsgeschichte. Nur so wird es möglich, die spezifischen Charakteristika dieser Methode deutlich
Α. Einleitung
3
her auszustellen. Zudem soll dieses Kapitel den bisherigen Wissensstand zur Geschmackskategorie des ästhetischen Diskurses zusammenfassen, damit deutlich wird, was in dieser Arbeit nicht geleistet wird, nämlich eine weitere Begriffsanalyse. Vielmehr werden die Leistungen, aber auch die Grenzen der Begriffsgeschichte aufgezeigt. Dazu ist jedoch, über die Betrachtung der Aufarbeitung des Geschmacksdiskurses hinaus, eine Kritik der begtiffsgeschichtlichen Methode und ihres Begriffsbegriffes nötig. Erst danach kann eine sinnvolle Abgrenzung einer eigenen Vorgehensweise stattfinden. Zur eigenen Methodik gehört zunächst die Formulierung des Erkenntnisinteresses. Dieses bestimmt zunächst und vor allem die Zusammensetzung der Textkorpora, die die Beantwortung spezifischer Fragen zum Wortgebrauch von „Geschmack" ermöglichen. Zwei Korpora bilden die Grundlage unserer Untersuchung; das erste umfaßt Texte des 18. und 19. Jahrhunderts, das zweite, kleinere, versammelt Texte aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert, die eventuelle langfristige Wandelerscheinungen im Wortgebrauch erkennen lassen. Im folgenden muß das weitere Vorgehen bei der Analyse der Korpora theoretisch und methodisch festgelegt werden. Dabei wird vor allem auf die saubere Trennung der einzelnen lexikologischen und lexikographischen Arbeitsschritte Wert gelegt. Die Lexikographie wird als die für unseren Zweck am besten geeignete Darstellungsform betrachtet, muß jedoch, um bestimmte semantische Charakteristika von „Geschmack" sichtbar machen zu können, entsprechend modifiziert werden. Wie viele Begriffswörter, so ist auch „Geschmack" in einigen Teilen seines semantischen Spektrums vage, doch diese Vagheiten sind äußerst spezifisch und daher mit der entsprechenden Methode gut darstellbar. Grundlage der Artikelgliederung werden hierbei nicht semantische, sondern vor allem sachlogische Aspekte sein. Auf die detaillierte Beschreibung von Analyse- und Darstellungsmethode folgt der Wortartikel, der sämtliche im Korpus aufgefundenen Wortverwendungen unter dem Aspekt der bereits angesprochenen speziellen Charakteristika abbilden wird. Eine erste Auswertung wird sodann die einzelnen semantischen Bereiche zu betrachten haben. Besonderer Wert wird hierbei auf die Widerspiegelung von Sachzusammenhängen im Wortgebrauch gelegt. Dieser folgt ein Vergleich mit den Ergebnissen der Sprachregistration, zu der hier Wörterbücher und Lexika gezählt werden. Hierbei stehen zwei Aspekte im Vordergrund: Zunächst muß überprüft werden, inwiefern die Sprachregistration auf die von uns als besonders relevant erkannten Charakteristika des Wortgebrauchs eingegangen ist, zum anderen kann das von uns ermittelte semantische Spektrum des Wortes durch zusätzliche, den Wörterbüchern entnommene Einzelbedeutungen ergänzt werden, so daß letztlich durch die eigene Analyse und deren Rückprüfung an den Ergebnissen der Sprachregistration der Bedeutungsrahmen angebbar wird, in dem das Wort im 18. und 19. Jahrhundert gebraucht werden konnte. Dies läßt schließlich Rückschlüsse auf die Brauchbarkeit von Wörterbuchartikeln für historische Wort- und Begriffsanalysen zu. Da „Geschmack", wie zu zeigen sein wird, im Verlauf der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts aus den Schriften der Ästhetik vollkommen verschwindet, liegt es
4
Α. Einleitung
nahe zu fragen, ob das Wort in den eng verwandten Bereich der kunsthistorischen Fachsprache Eingang gefunden hat. Um dies festzustellen, schließt sich eine Analyse des Wortgebrauchs in kunstgeschichtlicher Fachliteratur des 19. Jahrhunderts an. Eine solche Analyse kann einerseits das Nachleben des Geschmacksbegriffs erhellen und andererseits dem Bedeutungsspektrum des Wortes die eine oder andere weitere Verwendung hinzufugen. Nach der endgültigen Feststellung dessen, was sich aufgrund der uns vorliegenden Materialien als das VerwendungsSpektrum des Wortes darstellt, werden dann die bereits angesprochenen Verwendungsspezifika im Hinblick auf ihre Ursachen untersucht. Dies führt uns zurück zu dem Problem des Verhältnisses von Wort und Begriff. Nach der Analyse des historischen Wortgebrauchs können Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen für die Bedeutungsübertragung wie für die Entwicklungen von Wort und Begriff beantwortet werden. Daran lassen sich schließlich Überlegungen über die Natur von Begriffen überhaupt anschließen.
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack" Betrachtet man die Ergebnisse, zu denen die Forschung bei der semantischen Analyse von „Geschmack" bisher gelangte, so lassen sich zwei Beobachtungen machen, die fur diesen Themenbereich charakteristisch sind. Zum einen fällt auf, daß die Wörterbuchartikel zu diesem Wort sehr heterogen sind. So versammelt der DWB-Artikel 49 verschiedene Bedeutungsangaben, alle anderen Wörterbücher bieten jedoch eine sehr viel geringere Anzahl. Diese decken sich jedoch häufig nur in einigen wenigen Angaben: Keiner dieser Artikel bietet alle in Wörterbüchern auffindbaren Bedeutungsangaben, auch der DWB-Artikel nicht. Zum anderen bemerkt man die Häufigkeit von Aussagen über die Vagheit des Wortes. So konstatiert etwa Wilhelm Amann eine „terminologische Unbestimmtheit" des Geschmacksbegriffes.1 Auch im Artikel „Geschmack" der Ästhetischen Grundbegriffe wird davon gesprochen, daß der Inhalt des Geschmacksbegriffs „unklar" sei.2 Dennoch wird dort versucht, zwei „Grundbedeutungen von Geschmack"3 zu bestimmen: 1. „...ein System von gesellschaftlichen Konventionen (öffentlicher Geschmack)"4. Das alltagssprachliche „Geschmack" bezeichne „den Sinn für das gesellschaftlich als jeweils angemessen betrachtete Aussehen oder Verhalten einer Person bzw. einer Sache."5 Werde diese Art Urteil auf ein Kunstwerk gerichtet, sei häufig unklar, ob sein Inhalt oder seine Ästhetik beurteilt werde. 2. „[...] die private Grundorientierung von Individuen (privater Geschmack)"6. Die Vagheit selbst dieser Definitionen bestätigt einerseits die Aussage, die Bedeutung von „Geschmack" sei unklar, sie illustriert jedoch andererseits auch die
1
Amann, Wilhelm: „Die stille Arbeit des Geschmacks". Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 268). Würzburg 1999, S. 11.
2
Lüthe, Rudolf/Martin Fontius: Artikel „Geschmack". In: Barck, Karlheinz/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. II, Dekadent - Grotesk. Stuttgart, Weimar 2001, S. 792 - 819, S. 792.
3
Lüthe/Fontius, a. a. O., S. 795, S. 792.
4
Lüthe/Fontius, a. a. O., S. 795, S. 793.
5
Lüthe/Fontius, a. a. O., S. 795, S. 793.
6
Lüthe/Fontius, a. a. O., S. 795, S. 793.
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
6
sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei der Bedeutungsbestimmung. Einfache definitionsartige Formulierungen scheinen dem Wort nicht gerecht zu werden. Doch nicht nur einzelne Sememe werden als unklar bezeichnet, auch die Relationen der Einzelbedeutungen zueinander scheinen komplex und undurchschaubar zu sein. So stellt Betty Heimann bereits 1924 fest: „Das Wort „Geschmack" fuhrt uns in ein kleines Labyrinth verschiedener Bedeutungen."7 Angesichts dieser Einmütigkeit namhafter Geschmacksforscher ist es auffällig, daß es kaum Erklärungsversuche fur diese Sachlage gibt. Im Jahre 1981 versucht Panajotis Kondylis diese semantische Unklarheit damit zu erklären, daß verschiedene Gruppierungen innerhalb der Geschmackdebatte das Wort in unterschiedlichen Bedeutungen verwendeten.8 Er weist damit in die Richtung der „semantischen Kämpfe" um Wortbedeutungen, wie sie in der Erforschung politischer Sprache beobachtet werden.9 Diese sind in der Regel Ausdruck und Folgeerscheinung tiefgreifender politisch-ideologischer Auseinandersetzungen und lassen die Objekte solcher Kämpfe - meist politische Leitvokabeln — auf durchaus vergleichbare Weise schillern, wie dies für „Geschmack" offensichtlich charakteristisch ist. Einen anders gearteten Erklärungsversuch bietet Hans-Jürgen Gabler 1982 in seiner wichtigen Arbeit über „Geschmack und Gesellschaft": Er erklärt die Vagheit des Wortes damit, daß es Verschiedenes ausdrücken müsse und verweist dabei auf eine umfangreiche Sammlung von Synonymen in einem frühen Text der Geschmacksdiskussion, Johann Ulrich Königs „Untersuchung Von dem Guten Geschmack In der Dicht- und Rede-Kunst" 10 . 11 Blickt man wieder in die Wörterbücher, so stellt man fest, daß den Lexikographen die Vagheit des Wortes offensichtlich weder aufgefallen ist noch
7 8
Heimann, Betty: Über den Geschmack.Berlin, Leipzig 1924, S. 1. Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 317/318.
9
Vgl. hierzu etwa Wengeler, Martin: Die Sprache der Aufrüstung. Zur Geschichte der Rüstungsdiskussion nach 1945. Wiesbaden 1992, S. 68 oder Böhe, Karin/Frank Liedtke/Martin Wengeler: Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära. Mit einem Beitrag von Dorothee Dengel. (= Sprache. Politik. Öffentlichkeit, Bd. VIII). Berlin, New York 1996, S. 20.
10
König, Johann Ulrich: Untersuchung Von dem Guten Geschmack In der Dicht- und Rede-Kunst, In: König, Johann Ulrich (Hrsg.): Der Freyherm von Canitz Gedichte, Mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schrifften verbessert und vermehret, Mit Kupfern und Anmerckungen, Nebst Dessen Leben, und einer Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst, ausgefertiget von Johann Ulrich König,... 2. Aufl., Berlin, Leipzig 1734 (1. Aufl. 1727), S. 438 und S. 394.
11
Gabler, Hans-Jürgen: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 549). Frankfurt am Main, Bern 1982, S. 35/36.
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
7
Probleme bereitet hat. Selbst das GWb, das an anderer Stelle 12 sehr wohl auch explizit auf Vagheiten eingeht, äußert sich im entsprechenden Artikel nicht dazu.13 Tatsächlich zeigt es sich, daß die lexikologisch-lexikographische Bestandsaufnahme und die eher begriffsgeschichtlich ausgerichtete Forschung zu „Geschmack" kaum Berührungspunkte aufweisen. Nicht nur gilt der einen Seite das Wort explizit als vage und der anderen implizit als unproblematisch, es findet auch keine gegenseitige Rezeption statt — von einigen wenigen Ausnahmen wie den — knappen — begriffsgeschichtlich-kulturgeschichtlichen Anmerkungen im D W B oder im GWb einmal abgesehen. Wenn dies doch einmal der Fall ist, so geschieht das, wie die beiden Beispiele zeigen, einseitig, von der Seite der Lexikographie her. 14 Eine solche Trennung der Disziplinen bewirkt denn auch, daß für einen Literaturbericht in einer lexikologisch ausgerichteten Arbeit wie dieser kaum ein nichtlexikographisches Werk in Frage kommt, da es außerhalb der Lexikographie nur wenige Aussagen über die Bedeutung von „Geschmack" gibt. Um dem Kapitel G. II., wo die Sprachregistration ausführlich aufgearbeitet werden soll, nicht vorzugreifen, wird hier nur mit knappen charakterisierenden Bemerkungen auf die einzelnen lexikographischen Werke hingewiesen. Den ersten umfangreicheren Wörterbuchartikel, in dem über die physiologischen Bedeutungen hinaus auch übertragene Bedeutungen verzeichnet sind, und der deshalb hier den Anfang macht, stellt der Adelungsche Artikel „Der Geschmack" dar.15 Der relativ umfangreiche, beinahe eineinhalb Spalten umfassende Artikel ist äußerst übersichtlich nach klaren Kriterien gegliedert. Adelung unterscheidet zunächst auf ein Objekt bezogene und auf ein Subjekt bezogene Bedeutungen, die auf einer zweiten Gliederungsebene weiter in jeweils eigentliche und figürliche Bedeutungen untergliedert werden. Seine Bedeutungsangaben sind nicht nur für die damalige Zeit beispielhaft präzise formuliert — wenngleich der Lexikograph von heute manche komplexe Angabe wohl in ihre Einzelteile zerlegen und diese gesondert abhandeln würde — und mit gut ausgewählten Beispielen belegt. Der Wert
12 Vgl. etwa folgende Anmerkung zum Wortartikel „abgeschmackt": „Bei dem sehr komplexen Charakter des Worts ist eine Oifferensjerung nach Bedeutungen nicht scharf durchfiihrbar. Die Belege werden deshalb im folgenden nach Anwendungshrtichen geordnet." Goethe Wörterbuch. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. I Α-azurn, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, Sp. 65. 13 Vgl. Goethe Wörterbuch. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. I Α-azurn, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978, Bd. II B-einweisen 1989, Bd. III, Einwenden Gesäusel 1998, Artikel „Geschmack", Sp. 46 - 50. 14 Hierbei scheint es sich um ein grundsätzliches Manko der Begriffgeschichte zu handeln, auf das später umfassender einzugehen sein wird. Vgl. hierzu Kapitel C. 15 Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart: mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1793 (Bd. I, A-E), 1796 (Bd. II, F-L), 1798 (Bd. III, M-Scr) und 1801 (Bd. IV, Seb-Z). Art. „Der Geschmack": Bd. II, Sp. 612/613. Im folgenden als: Adelung.
8
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
des Adelungschen Artikels liegt vor allem darin, daß er die erste lexikographische Arbeit zu diesem Wort darstellt, die auch dessen ästhetische Bedeutungen in großem Umfang berücksichtigt, und damit auch als Zugang zur Geschmacksdebatte des 18. Jahrhunderts, aus der er zuweilen sogar zitiert, dienen kann. Campes Wörterbuchartikel16, nur wenig später entstanden, ist dem Adelungs in vielerlei Hinsicht ähnlich. Vor allem in den Details gleichen sich beide Artikel, oft bis hin zu den Formulierungen und den Belegbeispielen. Dies ist bei einem so qualitätvollen Vorläufer auch durchaus legitim. Doch Campe nahm bei der Gliederung des Artikels wichtige Änderungen vor: Im Gegensatz zu der Adelungs ist seine dreiteilige Artikelstruktur vollkommen undurchsichtig, lediglich eine Vorordnung von eigentlichen vor uneigentlichen Bedeutungen ist zu bemerken. Als Ausgangspunkt für eine Erschließung der zeitgenössischen Wortbedeutungen ist Campes Artikel daher nicht so gut geeignet wie der Adelungs. Als Ergänzung zu diesem ist er jedoch unverzichtbar, da sich beide Artikel zwar in Teilen decken, allerdings nur in einem Kernbereich, denn Campes Artikel geht stellenweise über den Adelungs hinaus. Auf Vagheiten im Wortbedeutungsspektrum gehen beide Wörterbücher nicht ein. Das 1865 erschienene „Wörterbuch der Deutschen Sprache" von Daniel Sanders17 enthält einen umfangreichen Artikel, der aufgrund der Anlage des Wörterbuches, die hier als bekannt vorausgesetzt wird, dem Artikel „Schmack" nachgeordnet ist. Aus diesem Grund und wegen der großen Zahl an Abkürzungen ist der Artikel, der mehr als doppelt so lang ist wie die Adelungs oder Campes, teilweise nur schwer lesbar. 18 Er versammelt zwar eine ganze Reihe von Bedeutungen, seine Qualität wird allerdings durch eine mangelhafte und daher nicht immer einleuchtende Zuordnung von häufig ungeeigneten Belegbeispielen geschmälert. Die Gliederung des Artikels ist logisch - wie bei Adelung — wenn auch nicht übersichtlich. Ahnlich wie dieser unterscheidet Sanders zunächst auf ein Subjekt und auf ein Objekt bezogene Bedeutungen, die er dann weiter in physiologische und übertragene Bedeutungen unterteilt. Bei den ästhetischen Bedeutungen geht Sanders dann einen Schritt über seine Vorläufer hinaus: Der Geschmack als produktive künsderische Fähigkeit erscheint hier ebenso wie der Geschmack als Vorliebe oder Neigung. Letzteres war zwar von den älteren Wörterbüchern ebenfalls erfaßt worden, allerdings nicht an so exponierter Position wie in Sanders' Artikel. Bedeutungen aus dem Bereich der Moral fehlen erneut, auch geht Sanders nicht auf Vagheiten in der semantischen Struktur von „Geschmack" ein.
16
Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Braunschweig 1807 (Bd. I, A-E), 1808 (Bd. II, F-K), 1809 (Bd. III, L-R), 1810 (Bd. IV, S-1) und 1811 (Bd. V, U-Z). Art. „Der Geschmack": Bd. II, S. 332/333. Im folgenden als: Campe.
17
Sanders, Daniel: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Zweiter Band. Zweite Hälfte. S - Z. Leipzig 1865.
18 Vgl. etwa die Stelle „Zsstzg., wo das Bstw. den Ggstd. bez., den man schmeckt", Sanders, a. a. O.
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
9
1897 erschien Band V des DWB (gefoppe - getreibs).19 Mit annähernd acht Spalten Umfang ist der Artikel „Geschmack" des DWB der umfangreichste Wörterbuchartikel zu diesem Wort in deutscher Sprache. Sein Wert für jede lexikologische Untersuchung von „Geschmack" ist allein dadurch bereits begründet, da er damit bei weitem die meisten Einzelbedeutungen verzeichnet. Der Artikel ist zunächst zweigeteilt: Unter A. findet sich der ,geschmack der nase oder fir die nase"70, unter B. der ,geschmack des mundes oder fir den mund"2I. Diese Voranstellung einer tandständigen, weil dialektalen Bedeutung verursacht in der Folge einige Gliederungsprobleme, die hier noch nicht im einzelnen diskutiert werden sollen.22 Im Bereich des Geschmacks , f i r den Mund' wird dann zwischen Eigenschaft, Empfindung, ,geschmack der seele"2i und Geschmack „in anmndung auf das schöne"24 unterschieden. Die Bedeutungsangaben, im ganzen 49, werden durch mehr oder weniger gut gewählte Belegbeispiele gestützt, wobei im Vergleich zu Sanders die Zahl der geeigneten Beispiele bei weitem überwiegt. Der Artikel hat seine Schwächen vor allem im Bereich der ästhetischen Bedeutungen. So fehlen etwa Bedeutungen aus dem Bereich der Beurteilung des Schönen ganz, ebenso wie solche aus dem Bereich des Gefallens am bzw. der Neigung zum Schönen. Dies muß angesichts der Tatsache, daß gerade die Beurteilung des Schönen Hauptschwerpunkt der ästhetischen Diskussion im 18. Jahrhundert war, überraschen. Als positiv hervorzuheben ist allerdings, daß im DWB erstmals subjektivistische Bedeutungen, die sich von der Ästhetik gelöst haben, wie ζ. B. „die art, wie man fihlt und denkt, die denk- und anscbauungsweise des einsahen"25, aufgeführt werden. Mit dem DWB-Artikel verlassen wir allmählich den Betrachtungszeitraum, dennoch sollen hier zwei weitere lexikographische Arbeiten betrachtet werden. 1905 erscheint die hier herangezogene zweite Auflage des „Deutschen Wörterbuchs" von Moriz Heyne.26 Der Artikel, der sich wieder dem Umfang der beiden frühen Artikel von Adelung und Campe annähert, bietet lediglich zehn Bedeutungsangaben, davon nur fünf aus dem Bereich der Ästhetik. Moral und Benimm werden nicht berücksichtigt, ebensowenig wie „Geschmack" als persönliche Vorliebe. Dennoch bietet der Artikel Belege für diese Bedeutungen, die allerdings unkommentiert bleiben. Interessant sind jedoch diejenigen
19
Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Vierten Bandes Erste Abtheilung. Zweiter Teil. Gefoppe - Getreibs. Bearbeitet von Rudolf Hildebrandt und Hermann Wunderlich. Leipzig 1897. (= Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe, München 1984, Bd. V), S. III (Vorwort).
20
DWB, a. a. O., Sp. 3925.
21
A. a. O., Sp. 3926.
22 Vgl. hierzu Kapitel G. II. 2. 1. 3. 23 A. a. O., Sp. 3927. 24 A. a. O., Sp. 3928. 25 A. a. O., Sp. 3932. 26 Heyne, Moriz: Deutsches Wörterbuch. Erster Band A - G. Zweite Auflage, Leipzig 1905.
10
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
Bedeutungsangaben, die den Geschmack als Eigenschaft von Gegenständen charakterisieren. In einer derartigen Ausprägung waren diese Bedeutungen vorher nicht beschrieben worden. Angeordnet sind die Bedeutungsangaben nach keinem erkennbaren Prinzip, es ist nicht einmal ersichtlich, ob der Artikel hierarchisch oder linear gegliedert ist. Zu Vagheiten der Wortsemantik wird auch hier nichts gesagt. Trotz einiger Weiterentwicklungen ist der Heynesche von allen hier besprochenen Wörterbuchartikeln derjenige, der am wenigsten Aufschluss über die Bedeutung von „Geschmack" bietet. Das GWb 27 bietet mangels eines umfassenderen aktuellen historiolexikographischen Werkes zur Sprache des 18. bzw. 19. Jahrhunderts den einzigen größeren Artikel zum Wort „Geschmack" - sieht man einmal vom DWB ab, dessen Artikel noch während unseres Betrachtungszeitraums entstanden ist - und soll daher, trotz der idiolektalen Orientierung des Werkes hier aufgenommen werden. Tatsächlich ist der Artikel im GWb der einzige, der sich mit dem DWB-Artikel messen kann, was Umfang und Anzahl der Bedeutungsangaben sowie der Belege angeht. Darüber hinaus eignet er sich auch wegen Goethes lebenszeitlicher, aber auch sprachlicher Zentralstellung in unserem Untersuchungszeitraum beonders gut zur Erfassimg der historischen Bedeutungen von „Geschmack". Ahnlich wie der DWB-Artikel ist der des GWb hierarchisch gegliedert. In vier Hauptabschnitten werden zunächst die objektiven („Eigenschaft von Speisen und Getränken" u. ä.), dann die subjektiven physiologischen Bedeutungen („Geschmackssinn" etc.) behandelt, gefolgt vom großen dritten Block der ästhetischen Bedeutungen und, in einem vierten Abschnitt, den subjektiven Bedeutungen „Neigung", „Vorliebe" etc. Auffällig ist dabei, daß die Bedeutungen aus dem Bereich des moralischen Verhaltens unter den ästhetischen Bedeutungen eingeordnet werden. Dies spricht dafür, daß in die Artikelanlage über sprachliches Wissen hinaus Wissen um die Theorie des Geschmacks eingeflossen ist, was dem Artikel zumindest an dieser Stelle nicht zuträglich ist, da derartige theoretische Zusammenhänge auf der Sprachebene nicht nachzuweisen sind. Die Belegauswahl ist, im Gegensatz zu manch anderem Geschmacksartikel, durchweg gut. Obwohl der Artikel nicht auf Vagheiten und Übergangsbereiche zwischen einzelnen Sememen eingeht, befindet er sich auf hohem lexikographischen Niveau und bietet die derzeit beste lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack". Es wurde bereits gesagt, daß die begriffsgeschichtliche Forschung nur selten auf die Lexikographie zurückgreift. Diese Haltung wird sogar bisweilen zur Antipathie, wenn etwa Betty Heimanns Buch „Über den Geschmack"28 von 1924 als „gänzlich unergiebig" bezeichnet wird.25 Heimanns Buch ist zwar kein lexikographisches
27 Goethe-Wörterbuch, Bd. III 1998, Artikel „Geschmack", Sp. 46 - 50. 28 Heimann, Betty: Über den Geschmack.Berlin, Leipzig 1924. 29 Hans Jürgen Gabler bezeichnet in „Geschmack und Gesellschaft" Heimanns Buch als für seine Zwecke unergiebig. Zwar ist Gablers Studie keine lexikologische Arbeit, dennoch darf auch und gerade eine kulturgeschichtlich und sozialgeschichtlich ausgerichtete Studie den sprachlichen Aspekt
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
11
Werk und es bietet auch wenig Information zur Geschmacksdebatte des 18. Jahrhunderts, aber es bietet etwas, das man in der begriffsgeschichtlichen Literatur nirgends findet: eine Zusammenstellung wenn auch nicht sehr vieler, so doch wichtiger Bedeutungen von „Geschmack". Aus diesem Grunde seien die entsprechenden Seiten hier kurz referiert: Heimann unterscheidet anhand des physiologischen Geschmacks zwischen Aussagen über ein Objekt (etwa über den „süßen Geschmack des Weines" 30 ) und über ein Subjekt (so etwa über den „unterentwickelten Geschmack dessen, der ihn kostet"). Die subjektiven Bedeutungen bezeichnen laut Heimann Empfindungsklassen, darunter sei die Bedeutung „Geschmackssinn" die ursprüngliche. Mit dieser untrennbar verbunden sei diejenige Bedeutung, die die (Un)lust an der Geschmacksempfindung bezeichne. Als Beispiel hierfür führt sie Wendungen wie „Geschmack an etwas finden" oder „einer Sache (keinen) Geschmack abgewinnen" an. Aus dieser Lust erwachse dann ein „Trieb, Begehren, eine Art von Streben und Bewegung". Im Bereich der übertragenen Bedeutungen gebe es im subjektiven Bereich dieselben „drei Faktoren; sinnliche Reizbarkeit, leichtes und kräftiges Ansprechen der Gefühle, eine entschiedene Richtung der Neigungen und Wünsche" 31 . Die Übertragung der objektiven Bedeutungen dagegen habe sich „nicht ebenso einfach [...] vollzogen"32, mit der Zeit seien diese „verloren gegangen", man rede allenfalls noch von „geschmackvollen" Dingen. Heimann schließt daraus: „Geschmack ist also etwas, das nur Personen zukommt, niemals Sachen" und vermutet, daß man ein Wort wie „Geschmack", das aus dem „niedrig-stofflichen Gebiet" stamme, als der Würde eines Kunstgegenstandes unangemessen empfunden haben müsse. Heute, also 1924, verstehe man „unter dem Geschmack einer Person hauptsächlich ihre Neigungen und Abneigungen, ihre Tendenzen" 3 3 , eine wachsende Betonung der Subjektivität lasse sich nachweisen.34 Heimann führt sogar die dialektale Bedeutung „Geruchssinn" 35 an, sowie einige Wendungen, die „das Verhältnis einer Person zu etwas" 36 ausdrücken, wie etwa „Geschmack an etwas" oder „Geschmack für etwas" und stellt die seltene Formulierung „Geschmack in etwas", die meine, „daß die betreffende Person
nicht übergehen. Vgl. hierzu Gabler, Hans-Jürgen: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 549). Frankfurt am Main, Bern 1982, S. 372. 30 Das folgende nach Heimann, Geschmack 1924, S. 1. 31 Heimann, a. a. O., S. 1/2. 32 Das folgende nach Heimann, S. 2. 33 Heimann, a. a. O., S. 4. 34 Vgl. hierzu Heimann, a. a. O., S. 4. 35 Vgl. hierzu Heimann, a. a. O., S. 6. 36 Heimann, a. a. O., S. 8.
Β. Die lexikologisch-lexikographische Aufarbeitung von „Geschmack"
12
Geschmack bekunde in ihrem Tun, in ihrem Schaffen, in ihrem Wählen, in ihrem Genießen" 37 , an das Ende ihres Überblicks über die Semantik von „Geschmack". Sicher ist Heimanns Skizze mit dem DWB-Artikel nicht zu vergleichen, ihr Text ist immerhin kein lexikographischer, man kann ihn jedoch durchaus neben manchen der kleineren Artikel stellen. Denn auch hier finden sich Gliederungskriterien wie etwa objektiv vs. subjektiv, die in manchem Wörterbuchartikel wirksam waren. Heimanns Anmerkungen zur Semantik von „Geschmack" und ihre persönlichen Beobachtungen und Einschätzungen als Zeitgenossin der Jahrhundertwende sind also durchaus nicht zu unterschätzen. Es zeigt sich letztlich, daß trotz der langen Tradition der lexikographischen Aufarbeitung der Wortbedeutungen von „Geschmack" und solcher Anstrengungen wie dem DWB-Artikel noch große Lücken in der Untersuchung der Wortsemantik bestehen, die es auszufüllen gilt. Die begriffsgeschichtliche Forschung hat dazu aufgrund ihrer eher kulturgeschichtlichen als wortgeschichtlichen Ausrichtung nur sehr wenig beigetragen. Betrachten wir nach diesem Literaturbericht nun also die Ergebnisse der begriffsgeschichtlichen Forschung zum Geschmack.
37
Heimann, a. a. O., S. 8.
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte. Eine Bestandsaufnahme Die Begiiffsgeschichte ist in den letzten Jahren immer mehr zur herrschenden methodischen Ausrichtung in der Geschmacksforschung geworden. Spätestens seit den 1980er Jahren berufen sich die führenden Autoren auf die begriffsgeschichtliche Methode.1 Eine Arbeit, die sich mit dem Geschmack auseinandersetzt, kann also ebensowenig an den Ergebnissen wie an den Methoden der Begriffsgeschichte vorübergehen. Um den Rahmen der hier zu unternehmenden Untersuchung abzustecken, sei zunächst die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie sich in den begriffsgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahre und Jahrzehnte darstellt, zusammengefaßt. Anschließend soll untersucht werden, wo die Probleme dieses Forschungsansatzes liegen, und welches die Ursachen für diese Probleme sind, um die eigene Methodik davon absetzen zu können. Zunächst aber soll der kulturgeschichtliche Rang der Geschmackskategorie und der Geschmacksdiskussion bestimmt werden, wie ihn die Begriffsgeschichte beschreibt. Da die Forschungen auf diesem Gebiet durch die genannten oder noch
1
Vgl. hierzu ζ. B. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus 1981, der „Geschmack" als „Begriff' bezeichnet (a. a. O., S. 313), ähnlich Scheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern, München 1984, S. 54. Vgl. ebenso Frackowiak, Ute: Der gute Geschmack. Studien zur Geschichte des Geschmacksbegriffes (= Freiburger Schriften zur romanischen Philologie, Bd. 43). München 1994, S. 11 - 14. Auch das Historische Wörterbuch der Rhetorik hat einen explizit begriffsgeschichtlichen Ansatz. Vgl. hierzu Fick, Monika: Artikel „Geschmack". In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. III, Eup - Hör. Tübingen 1996, Sp. 870/871. Wilhelm Amann spricht vom „Begriff „Geschmack"", ebenso wie von den „gelehrten Diskursen der Aufklärung" (Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 11) und auch das Lexikon „Ästhetische Grundbegriffe" spricht von „Geschmacksbegriff' (Lüthe/Fontius: Artikel „Geschmack". In: Ästhetische Grundbegriffe 2001, S. 792. Im folgenden zitiert als: AGB).
14
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
zu nennenden Studien bereits sehr weit fortgeschritten sind — was unter anderem daran abzulesen ist, daß jüngere Arbeiten wenig Neues ans Licht gebracht haben —, und das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf das wort- bzw. bedeutungsgeschichtliche Feld und weniger auf die Sachgeschichte bzw. Ideengeschichte gerichtet ist, wurden für diese Arbeit keine eigenen diskursgeschichtlichen Untersuchungen unternommen. Die folgende Darstellung stützt sich also allein auf das, was den im Literaturverzeichnis aufgeführten und im folgenden zitierten Studien zu entnehmen ist. Ziel ist es zunächst, das bisher erarbeitete Wissen zur Geschmackskategorie in der ästhetischen Diskussion des 18. Jahrhunderts darzustellen und damit eine Grundlage zu schaffen für die Einordnung der eigenen Ergebnisse in dieses. Erst dann kann gezeigt werden, welchen Erkenntnisgewinn die lexikologische Analyse gegenüber der begriffsgeschichtlichen Methode bringt. Um dieses Ziel zu erreichen, muß dieser Abschnitt eher eine synoptische Darstellung der von der Begriffsgeschichte zusammengetragenen Ergebnisse als der Geschmacksdiskussion selbst bieten. Aus diesem Grund werden Originalzitate aus den Texten der Geschmackstheoretiker im folgenden die Ausnahme bleiben, wenn auch die Texte selbst immer angegeben werden. Nur wenn das spezifisch Begriffsgeschichtliche dieser Ergebnisse erkennbar wird, ist eine Kritik der begriffsgeschichtlichen Methode sowie ein Absetzen der eigenen Analyse von dieser Methode möglich. Die Darstellung wird dabei kurz, wenn auch nicht oberflächlich bleiben. Weitergehende Einzelfragen können nicht beantwortet werden. Hierfür sei auf die zitierte Literatur verwiesen. Es wird hier in erster Linie die deutsche Geschmacksdiskussion dargestellt. Damit soll nicht die grenzenübergreifende Natur dieses Diskurses geleugnet werden2, vielmehr steht dabei die Überlegung im Vordergrund, daß die vorliegende Arbeit sich mit den Bedeutungen des deutseben Wortes „Geschmack" beschäftigt, nicht jedoch mit seinem gesamteuropäischen Inhalt. Dies bedeutet wiederum nicht, daß die europäische Perspektive vollkommen ausgeblendet werden wird, der Bezug zu französischen, englischen oder italienischen Autoren bleibt erhalten, vor allem dann, wenn einer der deutschen Geschmackstheoretiker sich auf deren Texte bezieht.
2
Die europäische Reichweite der ästhetischen Diskurse stellen vor allem Barck, Fontius und Thierse heraus. Vgl. Barck, Karlheinz/Martin Fontius/WolfgangThierse: Ästhetik, Geschichte der Künste, Begriffsgeschichte. Zur Konzeption eines „Historischen Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe". In: Barck, Karlheinz/Martin Fontius/Wolfgang Thierse: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Berlin 1990, S. 19.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
15
1. Vorläufer Als direkter Vorläufer des Geschmacksdiskurses wird in der Literatur allgemein Baltasar Graciän angesehen.3 Bestimmte Vorstellungen jedoch, die in den Geschmacksbegtiff eingehen, reichen wesentlich weiter zurück4: Die AGB nennen als Vorläufer Piaton mit seiner Trennung des Schönen vom bloß Angenehmen und der Gegenüberstellung von Rhetorik und Philosophie, Cicero und Quintilian mit dem Iudiciumbegriff, Horaz' Aptumbegriff in der Ars Poetica sowie die irrationalistischen Wahrnehmungskonzepte der Mystik.s Hans-Jürgen Gabler weist sehr viel spezifischer als die AGB auf die antike Rhetorik als Bezugsrahmen der neuzeitlichen Geschmackskategorie hin. Er zeigt an ausgewählten Beispielen (z. B. J. U. König, Gottsched, Meier, F. J. Riedel, H. Blair) das Aufgreifen von Gedanken Ciceros durch die Geschmackstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts6. Es sei die Frage nach der Gültigkeit des Laienurteils gewesen, die das iudicium der antiken Rhetorik zum Prototyp des Geschmacks
3
Vgl. etwa Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6., durchgesehene Auflage, Tübingen 1990, S. 40/41, Markwardt, Bruno: Art. „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. 2. Auflage. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Erster Band, Α - Κ, Berlin 1958, S. 558/559, Solms, Friedhelm: Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder (= Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Bd. 45). Stuttgart 1990, S. 83, auch das Historische Wörterbuch der Philosophie beginnt seinen Artikel „Geschmack" mit Baltasar Graciän. Vgl.: Stierle, Κ., H. Klein, Fr. Schümmer: Artikel „Geschmack". In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. Ill G - H, Basel 1974, Sp. 445 (Vgl. hierzu auch Schümmers vorbereitenden Artikel „Die Entwickelung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts" in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1956), S. 120 - 141.).
4
Als einer der ersten macht Reinhard Brandt darauf aufmerksam, daß Graciän nicht der alleinige Schöpfer der Geschmackskategorie sein konnte. Er weist auf Verwendungen von „gusto" im Sinne einer ästhetischen Urteilskraft schon im 15. Jahrhundert hin. Graciän sei daher lediglich Fortsetzer einer Tradition gewesen. Brandt verweist dabei auf Vorstellungen der Antike und gibt als Quellen Piaton und Pseudo-Longinus an. Zusätzlich verweist er auf den Cortegiano von Castiglione. Brandt, Reinhard: Marginalie zur Herkunft des Geschmacksbegriffes in der neuzeitlichen Ästhetik (Baltasar Graciän). In: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 60, 1978, S. 168 - 174. Vgl. hierzu auch Gabler, Hans-Jürgen: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 549). Frankfurt am Main, Bern 1982, S. 338/339, der weiterführende Literatur zur Relativierung der Position Graciäns angibt.
5
Vgl. hierzu Lüthe/Fontius: „Geschmack". In: AGB 2001, S. 795.
6
Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 1 - 7.
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
16
werden ließ: Das charakteristische Prozedere antiker Gerichtspraxis habe die anwesesende, in ihrer Zusammensetzung zufällige Zuhörerschaft zu Richtern werden lassen. Diese, so Gabler, fällten ihr Urteil spontan, ohne Beratung, unter dem unmittelbaren Eindruck der Reden. 7 Konnte man dem Pöbel diese Urteilsfähigkeit aber zu Recht zuschreiben? Die Rhetorik habe auf diese spezielle Situation Rücksicht genommen: die faktische Zusammensetzung der Zuhörerschaft habe die argumentationsstrategische Vorgehensweise des Redners bestimmt.8 Die Stärke des antiken Redners liege folglich nicht in der fachlich korrekten Darstellung der zu beurteilenden Sachlage, sondern vielmehr im „psychologischen Sondieren der Neigungen und Erwartungen seines Adressaten" 9 , der auf emotionaler Ebene angesprochen werden solle. In den daraus erwachsenden taktischen Vorgehensweisen, die nicht regelhaft angebbar, sondern im jeweiligen Einzelfall immer neu zu erspüren seien, sieht Gabler die Grundlagen für die Klugheitslehren Graciäns und anderer.10 Er zeigt anhand mehrerer Beispiele (Antoine Gombauld Chevalier de ΜέΓε, Charles Rollin, Charles Batteux, Johann Georg Sulzer) die Funktion des Geschmacks als Urteilskraft, „die über die Einhaltung der aptum-Gebote wacht" n . Die geschmackvolle Wahl der rhetorischen Mittel führe zum Erfolg der Rede. 12 Wie in der Antike sei der Geschmack auch in der Neuzeit zunächst „Wirkungsaspekt rhetorischer Versinnlichung", nicht Erkenntnisinstanz.13 Und dies sowohl als produktiver, wie als rezeptiver Geschmack: Ziel des Redners sei es, Gleichheit der Geschmäcker von Redner und Zuhörer herzustellen.14 Sachliche Angemessenheit sei dabei wie in der Antike so auch etwa bei König, Fabricius und in August Friedrich Müllers Graciänübersetzung nebensächlich.15 Mit den direkten Vorläufern Graciäns setzt sich Ute Frackowiak auseinander.16 Sie zeigt, wie der neuzeitliche Geschmacksbegriff aus dem Wechselverhältnis der
7
Gabler, a. a. O., S. 10.
8
Gabler, a. a. O., S. 10/11. Dort finden sich auch Zitate sowie Literaturangaben zu Cicero und Quintilian.
9
Gabler, a. a. O., S. 14.
10 Gabler, a. a. O., S. 19 - 22. 11
Gabler, a. a. O., S. 151.
12 Gabler, a. a. O., S. 151 - 154. 13 Gabler, a. a. O., S. 124. 14 Gabler, a. a. O., S. 125. 15 Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 123 - 126 und S. 161. Zu Müllers Ubersetzung s. unten, Abschnitt C. I. 2. 2. 16 Vgl. hierzu Frackowiak, Der gute Geschmack 1994.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
\~j
Literaturen Italiens und Spaniens des 16. Jahrhunderts heraus entsteht17 und verweist dabei vor allem auf die Herausbildung eines literarästhetischen Geschmacksbegriffes bei Ariost18 sowie eines moralistischen Geschmacksbegriffes bei Guicciardini.19 Sie betont schließlich die Bedeutung Juan Boscans, eines „wenig gelesenen und wenig bekannten" Autors des 16. Jahrhunderts, der nicht nur den „Cortegiano" ins Spanische übersetzt und italienische Versmaße in die spanische Lyrik eingeführt, sondern darüber hinaus den Geschmacksbegriff „erfunden" hab£? Dies meint vor allem21 den über die Vorlage, den „Cortegiano" hinausgehenden Geschmacksbegriff als Zusammenfassung verschiedener Begriffe Castigliones22 unter dem spanischen „gusto": Der Geschmack fasse damit ein nicht weiter spezifiziertes Gefallen, ein ästhetisches Vergnügen sowie Erkenntnis und Urteilsvermögen zusammen.23 Träger des Geschmacks sei der 'hombre de gusto', der Fürst oder Höfling, dem er Handlungsrichtschnur in der Welt der höfischen Gesellschaft und Konversation sei.24 Frackowiak verfolgt die Entwicklung des Geschmacksbegriffes bis hin zu Baltasar Graciän, den sie trotz ihrer Betonung der Rolle Boscans als den ersten heraushebt, „der die zur damaligen Epoche aktuellen Funktionen des Begriffes erkennt und in einen Zusammenhang stellt."25 Baltasar Gracian y Morales wurde nicht nur lange von der Forschung als Schöpfer des Geschmacksbegriffes betrachtet, sondern auch von den Zeitgenossen und Teilnehmern der europäischen Geschmacksdiskussion.26 Von den beiden für die
17 Vgl. hierzu Frackowiak, a. a. O., S. 79 - 115. 18 Frackowiak, a. a. O., S. 82 - 85. 19 Frackowiak, a. a. O., S. 85/86. 20 Frackowiak, a. a. O., S. 87. 21 Zum Geschmacksbegriff im lyrischen Kontext vgl. Frackowiak, a. a. O., S. 88/89. 22 Frackowiak nennt „dolcezza", „piacere", „piacevole(zza)", „modo", „grato", „conveniente", „apprezzar" sowie „sangue". Frackowiak, a. a. O., S. 92. 23 Vgl. Frackowiak, a. a. O., S. 93/94. 24 Vgl. Frackowiak, a. a. Ο., S. 94 - 98. 25 Frackowiak, a. a. O., S. 226. 26 Entsprechende Zitate von Charles de Saint-Evremont, Joseph Addison, Christian Thomasius finden sich bei Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 39. Vgl. hierzu auch Freier, Hans: Kritische Poetik. Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst. Stuttgart 1973, S. 111. Vgl. auch Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 40/41 und Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 558/559, die beide Graciän als den Urheber der Geschmackskategorie hervorheben. Gadamer betont noch die Herkunft der Geschmackskategorie aus der Morallehre.
18
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Geschmacksdiskussion zentralen Werken Graciäns, „Oräculo manual y arte de prudencia" (1647) und „El Criticon" (1651 - 1657 in drei Teilen erschienen) wurde in Deutschland jedoch nur das „Oräculo manual" rezipiert27, das bis 1723 fünf Mal ins Deutsche übersetzt worden war.28 Graciäns „Handorakel" bietet eine „arte de prudencia" (so der Untertitel), eine „praktische Wissenschaft von den strategischen Erfordernissen des Lebens"29. Adressat seines Handorakels ist der „discreto", der Höfling, der um die Mitte des 17. Jahrhunderts identitätssuchende, weil funktionslos gewordene Adlige, dem im aufstrebenden Großbürgertum eine nach Einfluß strebende Konkurrenz erwachsen ist. Basis des Oräculo ist, so Hans Freier, ein machiavellisches, pessimistisches Welt- und Menschenbild: „Die Grunderfahrung, die aus seinen [Graciäns, D. B.] aphoristischen Maximen spricht, ist die des permanenten Kampfes, des Zwanges zu raschen Entscheidungen und Stellungnahmen in einer Welt voller Fallen und Tücken." 30 Moralische Besserung sei in den Augen Graciäns unmöglich.31 Er richte sich daher explizit gegen die vom humanistischen Bildungsideal geprägte Schulphilosophie der Renaissance: Zweck seines Textes sei es nicht, das moralische Verhalten des einzelnen im Hinblick auf das gemeinsame Gute zu bessern, sondern vielmehr diesem die Erhaltung und Erweiterung seiner Machtposition im sozialen Geflecht bei Hofe zu erleichtern.32 Die Regeln für den „discreto" sind also taktische Regeln für den Umgang mit der höfischen Umwelt. Ziel sei es, so Monika Fick, eine Menschenkenntnis zu entwickeln, die es ermögliche, die sozialen Verflechtungen und gesellschaftlichen Rollenspiele, die diese Gesellschaft hervorgebracht habe, zu durchschauen, die Funktionsweise des Systems zu verstehen und andererseits ebendieselben Rollenspiele selbst derart perfekt zu erlernen, daß es den Mitspielern und Gegnern unmöglich werde, diese zu dechiffrieren: Da das äußerlich sittsame Verhalten
27 Amann, Wilhelm: „Die stille Arbeit des Geschmacks". Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 268). Würzburg 1999, S. 181. 28 Vgl. hierzu die Anmerkungen zu den verschiedenen Ubersetzungen Kromayers (1686), Santers (1686), Silentes' (1711), Müllers (1716/1719) und Freieslebens (1723) bei Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 40 - 43 sowie S. 304, Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 880, Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 559 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 199. 29 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 112. Ähnlich: Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 445 und Brandt, Marginalie 1978, S. 172. 30 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 112. 31 Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 112 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 183/184. 32 Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 111/112, Brandt, Marginalie 1978, S. 171, sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 185.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
19
Täuschimg sei, müsse man es noch besser beherrschen als der andere und es beim anderen durchschauen können. 33 Der Geschmack spielt dabei eine entscheidende Rolle: „gusto" „bezeichnet die Fertigkeit des einzelnen und abgesonderten, grundsätzlich auf seine eigenen Fähigkeiten verwiesenen Individuums, sich in der schwierigen Lebenspraxis z u r e c h t z u f i n d e n u n d d e n V e r h ä l t n i s s e n so a n z u p a s s e n , d a ß sein Herrschaftsanspruch erfüllbar wird. Er ist bei Graciän mit einer Theorie des richtigen oder, in diesem Fall, des erfolgsorientierten Handelns verbunden und umschreibt die geniale (angeborene) Fähigkeit, in einer Weltsituation, in welcher der schützende Traditionszusammenhang zerrissen ist und keine verläßlichen Maßstäbe vorhanden sind, mit der Sicherheit eines Instinktes optimale Entscheidungen zu treffen." 34 Der Geschmack sei, so Karlheinz Stierle im Historischen Wörterbuch der Philosophie, „das durch Erfahrung und unablässige Introspektion zur Vollkommenheit gebrachte Vermögen [...], in allen Bereichen und Situationen des Lebens immer die rechte Wahl zu treffen und alle Dinge frei von subjektiver Täuschung nach ihrem wirklichen Wert zu beurteilen."35 Doch der Geschmack könne in bestimmten Situationen auch dazu raten, sich nach dem Geschmack anderer zu richten, etwa dann, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht werden solle. So könne auch Graciäns „gusto" zu einem iudicium commune werden, allerdings nicht im Sinne Kants, durch die Kommunizierbarkeit des Urteils, sondern durch strategische Klugheit des einzelnen. 36 Reinhard Brandt bestimmt Gracians Geschmack daher als eine Urteilsfähigkeit, eine Fertigkeit, zielgerichtet zu wählen und sich erfolgsorientiert zu verhalten. All diese Einzelfähigkeiten werden von Graciän im Begriff des „gusto" zusammengefaßt. 37 Doch Freier macht darauf aufmerksam, daß „gusto" im Gegensatz zu „razon" subjektiv und nicht an Regeln oder Begriffen ausgerichtet ist: Der Mann von Geschmack handle natürlich, nicht nach Normen. Seine Urteile seien notwendig situationsgebunden und daher nicht
33 Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 870, Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 185/186. 34 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 113. 35 Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 445. Ahnlich Brandt, Marginalie 1978, S. 171 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 186/187. 36 Vgl. hierzu Brandt, Marginalie 1978, S. 173. 37 Nach Reinhardt Brandt gehen in den Geschmacksbegriff „agudeza", „prudencia", „discreciön" und „elecciön" ein. Vgl. Brandt, Marginalie 1978, S. 171. Zu diesen und anderen Begriffen Graciäns s. Jansen, Hellmut: Die Grundbegriffe des Baltasar Gracian [sie] (= Kölner Romanistische Arbeiten. Neue Folge. Heft 9). Genf, Paris 1958.
20
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
allgemeingültig.38 Hier schließt sich Stierle an: Ein wichtiges Moment des Gracianschen Geschmacksurteils sei die Spontaneität mit der es gefällt werde. Da es nicht auf Überlegung beruhe, sei es direkt und damit schneller und wirkungsvoller als ein Verstandesurteil.39 Damit korrespondiert, daß Graciän im „Oräculo" lediglich Hinweise zum richtigen Verhalten bei Hofe gebe, wie Amann betont, jedoch keine direkten Handlungsanweisungen.40 Dies setze sich bis auf die sprachliche Ebene fort: „Die von Graciän verwendeten Begriffe sind nicht scharf fixiert, sie wechseln ihre Bedeutung [...]: schon die Sprache ist gleichsam objektivitätsfeindlich und schmiegt sich möglichst den momentanen Intentionen des Autors an." 41 Für Außenstehende, so Amann, sei die Aphorismensammlung daher eher undurchsichtig.42
2. Der ästhetische Diskurs Hans Freier sieht die Übernahme des Gracianschen Geschmacksbegriffes in die Ästhetik vor allem durch strukturelle Ähnlichkeiten bedingt.43 Drei Faktoren seien es, die dabei eine Rolle spielten: 1. Die Opposition zwischen Geschmack und Verstand bzw. gesellschaftlichen Regeln, die der wachsenden Individualisierung von Künsder und Publikum entspreche. Wie der Künsder sich von Konventionen emanzipiere, so emanzipiere sich auch das Publikum von überkommenen Rezeptionsvorschriften und setze die eigene Erfahrung an deren Stelle.44 2. Die lebenspraktische Orientierung des Geschmacks: Die nichtrationalen Erkenntnis-Wahl- und Entscheidungsvorgänge gehen in der Spontaneität des Geschmacks eine Verbindung mit Erkenntnis und Lust ein. Die Idee, daß die Ratio für das ästhetische Urteil keine Rolle spielt, sei in den kunsttheoretischen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts eine wichtige Position.45
38
Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 113/114.
39
Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 445/446.
40
Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 182.
41
Brandt, Marginalie 1978, S. 172.
42
Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 183.
43
Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 111/112.
44
Freier, Kritische Poetik 1973, S. 114.
45
Freier, Kritische Poetikl973,S.114/115. Zum Irrationalismus in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts vgl. Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. 2., durchgesehene Auflage, Darmstadt 1967.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
21
3. Gracians Bild vom Geschmack als einem Korrelat zu Vernunft und Regeln, die zur Bewältigung mancher Situation nicht ausreichen, finde seine Entsprechung in der Kritik des 18. Jahrhunderts an Kunstregeln aller Art. Der Geschmack solle als eigenständiges Erkenntnisvermögen neben Sinnlichkeit und Verstand etabliert werden.46 Auch wenn die drei Faktoren Freiers neben anderen47 sicher eine wichtige Rolle bei der Bedeutungsübertragung von „Geschmack" bzw. „gusto" in den ästhetischen Bereich gespielt haben, so hat die Relativierung der Position Gracians in den letzten Jahren doch gezeigt, daß die Ästhetiker des 17. und 18. Jahrhunderts nicht auf Graciän als Ideengeber angewiesen waren. Gabler zeigt anhand einer Reihe von früheren Beispielen für den ästhetischen Gebrauch von „goüt" und „gouster" im Französischen, daß man durchaus auf ältere Traditionen zurückgreifen konnte. 48 E r beschränkt sich allerdings zu sehr auf die antike Rhetorik — von der sicher wichtige Impulse für die Herausbildung des neuzeitlichen Geschmacksbegriffes ausgingen — land übersieht dabei die Kontinuitäten, die durch die Ästhetik des Mittelalters und Spätmittelalters auf die Geschmackstheoretiker des späten 17. Jahrhunderts gekommen waren. Diese Kontinuitäten sind von Ute Frackowiak zumindest für die Romania ausführlich und erhellend dargestellt worden und sollen daher hier nicht über das bereits Gesagte hinaus referiert werden.49
2. 1. Christian Thomasius und die Demotisierung des Geschmacks In Frankreich sind es vor allem La Rochefoucauld, de Mere, Bouhours, SaintEvremond und La Bruyere, die Ideen Gracians aufgreifen50, in Deutschland sind es Christian Thomasius und August Friedrich Müller. Jener bezieht sich in seinem „Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel
46
Freier, Kritische Poetik 1973, S. 115.
47
Zu denken wäre etwa an die Spontaneität, mit der der Geschmack seine Urteile fällt, an den Elitismus, der bis hin zu Schiller nie ganz an Bedeutung verliert, die Situationsgebundenheit der geschmacklichen Vorgaben, die Frage nach der Natürlichkeit und damit verbunden, nach der Allgemeingültigkeit der Geschmacksurteile und einige andere.
48
Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 38.
49
Vgl. hierzu Frackowiak, Der gute Geschmack 1994, S. 23 - 50, sowie S. 51 - 125.
50
Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 191 und Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 445 sowie zu La Rochefoucauld Solms, Frühgeschichte 1990, S. 83.
22
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
nachahmen solle?" (1687) ausdrücklich auf Gracian 51 , dieser fertigt gar, von Thomasius angeregt, eine Übersetzung des Handorakels an, die in zwei Bänden 1716 und 1719 erscheint. 52 Vor allem Thomasius muß als Vermitder des Geschmacksbegriffes nach Deutschland angesehen werden, bezeichnet ihn doch Johann Ulrich König, der Verfasser einer frühen und bedeutenden Geschmacksschrift, als denjenigen, der „zuerst von dem guten Geschmack etwas gedacht" habe.53 Wie Gabler nachzuweisen versucht, verwendet Thomasius das Wort „Geschmack" als erster im ästhetischen Sinn, in einer Rezension des Lohensteinschen Armenius, die in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift „Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher"54 erschienen ist.55 Hier benutzt er auch schon das deutsche „Geschmack", während es in dem älteren Text „Von der Nachahmung der Franzosen" (1687) noch „goüt" heißt.56
51 Vgl. hierzu Kaiser, Claudia: „Geschmack" als Basis der Verständigung. Chr. F. Gellerts Brieftheorie. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1563). Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996, S. 16 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 191. 52 Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 42 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 198. Auf einige frühere Streubelege bei Harsdörffer, Menantes und Neumeister machen Markwardt und Freier aufmerksam: Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 559 und Freier, Kritische Poetik 1973, S. 111. 53 König, Untersuchung 1734, S. 386. Vgl. hierzu auch: Matuschek, Stefan: Lc bongoüt und dtrgutt Geschmack. Ein Versuch, Winckelmann nach Voltaire zu lesen. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 40, 1990, H. 2, S. 230 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 192 und 249 und Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 34. 54 Halle 1689, Bd. IV, S. 646 - 686. Thomasius, Christian: Daniel Caspers von Lohenstein Großmüthiger Feld-Herr ARMINIUS oder Hermann / nebst seiner Durchlauchtigsten Thußnelda/in einer Sinnreichen / Staats / Liebes/und Helden-Geschichte in zwey Theilen vorgestellet etc. Leipzig bey JOH: FRIED: Gleditschen/ in Groß QVART. pagg. 1430. In: Christian Thomasius: Freimüthige, lustige und ernsthafte, jedoch vernunftmässige Gedanken oder Monatsgespräche über allerhand, fürnehmlich aber neue Bücher. Bd IV, Juli - Dezember 1689. Athenäum, Frankfurt am Main 1972, S. 646 - 686. 55 Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 34/35 sowie S. 180. Er widerlegt damit die ältere Forschungsmeinung, Thomasius habe „Geschmack" nicht im ästhetischen Sinn verwendet. Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 115. 56 Thomasius, Christian: Von Nachahmung der Franzosen. Nach den Ausgaben von 1687 und 1701 (= Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, Nr. 51). Stuttgart 1894. Damit konnte Gabler die ältere Forschungsmeinung, Thomasius übernehme zwar den Graciänschen
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
23
Formulierungen wie „[...]/ wannenhero man auch in verschiedenen Sprachen in Fällung eines Urtheils von dieser oder jener Schrifft zu sagen pflegt: Dieses ist nicht nach meinem Geschmack: In diesem habe ich einen vortrefflichen GUSTO gefunden / u. s. w." 57 und einige andere legen jedoch nahe, daß Thomasius der Wortgebrauch im übertragenen Sinn bereits geläufig gewesen sein muß, da er sie wie hier etwa in eine feste Wendung einbindet, oder frei in verschiedenen übertragenen Bedeutungen verwendet. Auch muß er diesen Gebrauch nicht umfassender rechtfertigen als dies lange Zeit später etwa Gottsched tut. Thomasius vergleicht bereits im Nachahmungstext den eigentlichen mit dem figürlichen Geschmack: In physiologischer Bedeutung werde das Wort von jenen gebraucht, „die nicht alleine das was gut schmeckt von anderen gemeinen Speisen wol zu unterscheiden wissen, sondern auch geschwinde durch ihren scharfsinnigen Geschmack urtheilen können, woran es einem essen mangele", in figürlicher Bedeutung von all denen, „die wol und vernünfftig das Gute von den Bösen oder das artige von dem unartigen unterscheiden" können. 58 Nach der Ansicht Matuscheks und Amanns verwendet Thomasius das Wort „goüt" dann im Sinne einer sozialen Urteilsfähigkeit mit ästhetischem, rationalem und moralischem Anspruch, die lebenspraktische Entscheidungen bestimmt. 59 So empfiehlt er etwa die Nachahmung der Franzosen auf verschiedensten Gebieten wie Kleidung, Speisen, Hausrat, aber auch in den Umgangsformen und in der Sprache. 60 Einmütig stellt die begriffsgeschichtliche Forschung zu Thomasius fest, daß im Gegensatz zu Graciän die aufklärerische Pädagogik in Deutschland (vertreten durch Thomasius, Weise, Leibniz, Schuppius und Müller) den Geschmack nicht adeligindividualistisch, sondern bürgerlich-sozial auffaßt: Guter Geschmack vermittle sich über Verhaltensweisen und sei daher von allen Aufgeklärten erlernbar.61 Ziel sei die Formung des „vollkommen weisen Mannes", der sich durch „honnetete,
Geschmacksbegriff, verwende aber nicht das deutsche Wort dafür, die noch Freier vertreten hatte, widerlegen. 57
Thomasius, ARMINIUS 1 6 8 9 / 1 9 7 2 , S. 6 5 0 .
58 Thomasius, Nachahmung, S. 10. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen bei Matuschek, Le bongoüt 1990, S. 231 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 194. 59 Vgl. hierzu auch Matuschek, LI bau goüt 1990, S. 231 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 194/195. 60 Vgl. Thomasius, Nachahmung, S. 6. 61 Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 116 und Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 41. Ahnlich äußert sich auch Amann in „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 199.
24
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
gelehrsamkeit, beaute, d'esprit, un bon gout und galanterie" auszeichne. 62 U m den Geschmack als Eigenschaft auf eine breitere Menge ausweiten zu können, orientiere Thomasius ihn an der Vernunft. 6 3 Dennoch gebe es bei ihm wie auch später bei Müller durchaus Ansätze zu einer Relativierung des Geschmacks, wodurch eine Verlagerung des Schwerpunkts v o m barockrhetorischen Iudiciumbegriff eines Urteils a u f g r u n d v o n R e f l e x i o n und Regeln hin zu s p o n t a n - i n t u i t i v e r Geschmacksbeurteilung eingeleitet werde. 6 4
2. 2. August Friedrich Müllers Gracianübersetzung A u f Anregung von Christian Thomasius übersetzt August Friedrich Müller Gracians „oräculo manual". 65 Seine Ubersetzung erscheint in zwei Bänden 1 7 1 6 und 1719. Müllers Gracian-Über setzung ist nicht die erste 66 , sie ist allerdings die mit der größten Wirkung. Dies läßt sich unter anderem daran ablesen, daß sie die wichtigste Quelle des Zedier für konversations- und gesellschaftspraktische Fragen war. 6 7 Monika Fick macht allerdings auf den bedeutenden Umstand aufmerksam, daß Müller ebenso wie Thomasius Gracians Klugheitslehre in die neue geistige
62 Thomasius, Nachahmung, S. 33. Vgl. hierau auch die Anmerkungen bei Matuschek, Li bongoüt 1990, S. 232 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 193, der sich ähnlich äußert. 63 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 116. 64 Vgl. hierzu Amann in „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 197. Ausgewählte Textbelege finden sich bei Gabler, in Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 185/186. 65 Müller, August Friedrich: Balthasar Gracians Oracul, das man mit sich fuhren, und stets bey der hand haben kan. Das ist: Kunst-Regeln der Klugheit, vormahls von Hm. Amelot de la Houssaie unter dem Titel, L'Homme de la Cour ins Frantzösische, anietzo aber Aus dem Spanischen Original, welches durch und durch hinzu gefuget worden, ins Deutsche übersetzet, mit neuen Anmerckungen, In welchen die maximen des Autoris aus den gründen der Sitten-Lehre erklähret und beurtheilet werden...2. Bände, Leipzig 1716/1719. Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 42. 66 Auf weitere Graciän-Übersetzungen wurde oben bereits hingewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich alle deutschen Übersetzungen nicht auf den Graciäntext selbst, sondern auf französische Ubersetzungen desselben, meist auf die des Amelot de la Houssaie von 1684 stützen. Dies zeigt in großer Deutlichkeit die Dominanz französischer Einflüsse auf die deutsche Geschmacksdiskussion zumindest in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Vgl. hierzu: Graciän, Baltasar: L'Homme de Cour. Maxims traduites de l'espagnol sur ['edition originale de 1647 par Amelot de la Houssaie, secretaire de l'ambassade de France a Venise er precedees d'une introduction par Andre Rouveyre. Paris 1924. 67 Vgl. hierzu Amann in „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 198/199, dort finden sich auch mehrere Beispiele aus Zedler-Artikeln. S. auch: Zedier, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal Lexicon, Zehenter Band, G.-Gl. Halle und Leipzig 1735, Nachdruck Graz 1961 Bd X, Sp. 1225 - 1228.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
25
Umgebung der Aufklärung transponiert, in eine Epoche also, die Gracians Zeit schlechten Geschmack bescheinigt. Ein neues Menschen- und Ständeideal sei an die Stelle des „discreto" getreten, das Rollenspiel und die Notwendigkeit des Durchschauenkönnens verliere zunehmend an Bedeutung. 68 Müller, so Amann, weite daher ebenso wie Thomasius die Gruppe der Geschmacksträger auf das Bürgertum aus. Ziel sei es, den Bürger durch praktische Einflußnahme auf Sprache, Bewegungen des Leibes etc. klug und weltgewandt zu machen. 69 Der Geschmack spiele dabei eine wichtige Rolle in der Einschätzung von Personen und Situationen als sinnliches Vermögen, das auf das Gute mit Vergnügen, auf das Schlechte und Böse aber mit Abscheu reagiere. Gut sei der Geschmack dann, wenn seine Empfindungen der Dinge als gut oder böse, wahr oder falsch etc. der Vernunft gemäß seien.70 Der Geschmack werde also an Vernunft und Moral rückgebunden. Er diene nicht mehr — wie noch bei Graciän — einem selbstsüchtigen Individualismus, sondern vielmehr einer vernunftgebundenen Affektdisziplinierung im Hinblick auf ein gemeinsames Gutes.71 Dennoch habe der Geschmack das Element des Anderen-gefallen-Wollens nicht ganz verloren, es gebe auch einen Geschmack, der am Anderen, an der Mode orientiert sei, an denen, denen man gefallen will. Das Ziel sei dabei jedoch erneut ein soziales: Zwischen den Parteien solle eine Gleichheit der Geschmäcker hergestellt werden. 72 Der Mode solle allerdings nur bis zu einem gewissen Grade nachgegeben werden: Der innere, an der Vernunft orientierte Geschmack gebe den Rahmen vor, innerhalb dessen dies geschehen dürfe. Gegenüber solchen Modeerscheinungen, die über diesen vernunftgemäßen Rahmen hinausgehen, sichere er den Bürger ab. Damit werde der Geschmack dem Gewissen ähnlich.73
2. 3. Johann Ulrich König und die europäische Geschmacksdiskussion Im Jahre 1727 gibt Johann Ulrich König „Des Freyherrn von Canitz Gedichte" heraus und fügt diesen eine „Untersuchung Von dem Guten Geschmack In der
68
Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 880.
69 Vgl. hierzu die Anmerkungen bei Amann in „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 199/200 und bei Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 42/43. 70
Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 200/201.
71
Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 201/202.
72 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 204/205 sowie Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 123 - 126 und S. 161. 73 Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 205.
26
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Dicht- und Rede-Kunst" bei.74 Diese äußerst gelehrte Abhandlung ist einer der frühesten zentralen Texte der deutschen Geschmacksdebatte. König erfaßt vor allem die französische, aber auch die spanische, italienische und englische Literatur zum Thema 75 und zieht zusätzlich die griechische, römische und sogar die hebräische Tradition heran.76 König bringt nicht nur das mittlerweile zum klassischen Topos gewordene Bild der mit Salz gewürzten und daher
74 König, Johann Ulrich: Untersuchung Von dem Guten Geschmack In der Dicht- und Rede-Kunst. In: König, Johann Ulrich (Hrsg.): Der Freyherrn von Canitz Gedichte, Mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schrifften verbessert und vermehret, Mit Kupfern und Anmerckungen, Nebst Dessen Leben, und einer Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst, ausgefertiget von Johann Ulrich König,... 2. Aufl., Berlin, Leipzig 1734 (1. Aufl. 1727), S. 371 - 476. 75 Die Geschmacksdiskussion war in anderen europäischen Ländern, vornehmlich in Frankreich, schon sehr viel älter und folglich weiter gediehen als in Deutschland. Hier hatte sich in der „querelle des anciens et des modernes", der Auseinandersetzung um die Vorbildhaftigkeit der Antike und die Relativität ästhetischer Vorstellungen neben einer rationalistischen Seite, für die vor allem Boileau und Voltaire, mit Einschränkungen auch Diderot und Batteux stehen, mit Dubos und Bouhours auch eine sensualistisch-individualistische Seite etabliert, die in den Jahrzehnten nach König und Gottsched mehr und mehr an Einfluß auf die deutschsprachige Geschmacksdiskussion gewinnen sollte, insbesondere zur Zeit des Sturm und Drang. Vgl. hierzu vor allem die Abschnitte über Johann Jakob Breitinger (C. I. 2. 7.) und Christian Fürchtegott Geliert (C. I. 2. 8.). Zudem hatte sich in Frankreich bereits eine klassische Literatur gebildet, während in Deutschland eine solche erst zeitgleich mit der Geschmacksdiskussion entstand. Dieser Umstand ist für zahlreiche Eigenheiten des deutschen Diskurses verantwortlich, etwa dafür, daß hier seltener auf vorbildhafte Schriftsteller aufmerksam gemacht wurde. Vgl. zur französischen Geschmacksdiskussion und deren Rezeption u. a. Cassirer, Emst: Die Philosophie der Aufklärung. Mit einer Einleitung von Gerald Härtung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. (= Philosophische Bibliothek, Bd. 513) Hamburg 1998, S. 400 417, Stierle/Klein/Schümmer, Art. „Geschmack", Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 447, Nivelle, Literaturästhetik 1974, S. 43/44, Kapitza, Peter K.: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981, Pago, Thomas: Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung des Vorzugsstreits für die Dichtungstheorie der Aufklärung (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1142). Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1989, Solms, Frühgeschichte 1990, S. 82 - 84, Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 884/885 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 225 - 234 (zu Rousseau) und S. 241 - 247 (zu Dubos). 76 Vgl. hierzu Königs Fußnoten in Untersuchung 1734, passim. Vgl. zu Königs Lektüre auch Freier, Kritische Poetik 1973, S. 119, der sein Augenmerk vor allem auf Königs Rezeption der zeitgenössischen Geschmacksdiskussion in anderen europäischen Ländern richtet, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 451, die sein Aufgreifen französischer Autoren hervorheben, und Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 42/43, der vor allem auf Anknüpfungspunkte an die antike Rhetorik hinweist.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
27
wirkungsvollen Rede, das sich auch bei Cicero, Quintilian und bei Kol 4,6 findet77 - womit er sogar an die religiösen Traditionen der Mystik und des Pietismus anknüpft —, sondern darüber hinaus das später auch von Hildebrand im DWB zitierte Gedicht Hans Sachs* über die „neun Geschmack des Ehstandes".78 Daran, wie auch an der Tatsache, daß der gesamte Punkt II. B. 4) ή im immerhin 170 Jahre nach Erscheinen des Textes verfaßten Geschmacksartikel des DWB von Belegstellen aus Königs „Untersuchung" gebildet wird, läßt sich die Bedeutung seines Textes ermessen.79 König stellt fest, daß der figurative Gebrauch von „Geschmack" in der deutschen Sprache zwar zugenommen habe, für die meisten jedoch noch ungewohnt klinge. Die Deutschen hätten diesen Wortgebrauch vergleichsweise spät übernommen.80 Der Ausdruck habe sich deshalb so gut zur Übertragung angeboten, weil der ästhetische Geschmack ebenso wie der physische über die reine Reaktion hinausgehe und zur Urteilskraft werde: So wie man feststellen könne, daß eine Sache gut schmeckt, ohne Koch sein zu müssen, könne man herausfinden, was schön ist, ohne wie ein Kunstkenner umfangreiche Untersuchungen anstellen zu müssen.81 Weitere Ähnlichkeiten bestünden in der Intensität der Wahrnehmung sowie in dem mit der Empfindung verbundenen Gefühl der Lust oder Unlust.82 Der Geschmack „ist eine aus gesundem Witz und scharfer Urtheilungs-Krafft erzeugte Fertigkeit des Verstandes, das wahre, gute und schöne richtig zu empfinden, und dem falschen, schlimmen und heßlichen vorzuziehen"83. Er empfinde und urteile zugleich. Seine Entscheidungen treffe er spontan, nicht durch Überlegung und Begründung, sondern durch die Sinne, die durch das harmonische Verhältnis der Eigenschaften des Gegenstands und der Empfindungen, die diese im
77 Vgl. hierzu König, Untersuchung 1734, S. 391, sowie Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 37/38. 78 König, Untersuchung 1734, S. 389. DWB, Artikel „Geschmack", Sp. 3927. 79 DWB, Artikel „Geschmack", Sp. 3931 /3932. 80 König, Untersuchung 1734, S. 410. Vgl. hierzu auch Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 559 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 294. 81 König, Untersuchung 1734, S. 394. Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 294 sowie Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 126 - 128 und S. 171 - 175, der auf die Geschichte dieses klassischen Bildes eingeht und anhand einiger Beispiele sein Wiederaufgreifen in der Frühaufklärung illustriert. Vgl. hierzu und zu Königs Geschmacksbegriff auch Pago, Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland 1989, S. 62 - 64. 82 König, Untersuchung 1734, S. 392 - 396. Vgl. hierzu auch Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 886. 83 König, Untersuchung 1734, S. 405. Vgl. hierzu auch Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 130.
28
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Betrachter auslösen, als Erkenntniswerkzeuge geeignet seien.84 Hinzu trete ein Gefühl der Zu- oder Abneigung, das die Geschmacksempfindung begleite.85 König stellt das Geschmacksurteil dem rational begründeten Verstandesurteil gegenüber, das erst nach langer Prüfung aller Faktoren gefällt werde. Wie der Verstand für die Wissenschaften, so sei der Geschmack für die schönen Künste zuständig.86 Dadurch erhält der ästhetische Bereich zunächst ein gewisse Autonomie. Dennoch spricht König mehrfach vom „Geschmack des Verstandes"87. Die Bindung an den Verstand gehe so weit, so die verbreitete Forschungsmeinung, daß man in ihm eine Fertigkeit, ein Teilvermögen des Verstandes sehen müsse.88 Geschmack und Verstand werden in ein derartig enges Abhängigkeitsverhältnis gestellt, daß sie nur durch ihre verschiedenen Funktionsweisen voneinander unterschieden werden können: Beide kommen zum gleichen Urteil, aber auf verschiedenen Wegen. Während der Geschmack spontan aufgrund einer Empfindung urteile, fälle der Verstand seine Urteile erst nach Prüfung aller Grüne®. Beide beurteilen dabei dasselbe, nämlich die Vollkommenheit des Gegenstandes.90 Auf diese Weise werde der Verstand zum Korrektiv für das Geschmacksurteil: Der Geschmack urteile dann richtig, wenn sein Urteil der Prüfung durch den Verstand
84 Vgl. hierzu Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 560/561, Hermann, Hans Peter: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670-1740 (= Ars Poetica. Texte und Beiträge zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Studien, Bd. VIII). Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1970, S. 118 und 120, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 119/120, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 451, Bormann, Alexander v.: Vom Laienurteil zum Kunstgefiihl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert. Ausgewählt und mit einer Einleitung herausgegeben von Alexander von Bormann. Tübingen 1974, S. 5, Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 20, Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 886 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 255. 85 Vgl. hierzu Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 119, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 120, Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 56 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 258. 86 Vgl. hierzu Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 118 - 120. 87 Ζ. B. König, Untersuchung 1734, S. 404. 88 So sehen ihn ζ. B. Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 559, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 118, Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 177 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 255. 89 Vgl. Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 560/561, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 119, Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 886. 90 Vgl. hierzu Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 118 - 120.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
29
standhalte.91 Nur wenn dies der Fall sei, befinde sich der Laie im Besitz des guten Geschmacks, entspreche sein Geschmack der Regelkompetenz des Kunstrichters.92 Es stellt sich die Frage: warum eine derart starke Vemunftkontrolle des Geschmacksurteils? Dies hat mehrere Gründe. Zunächst, so Hans Peter Hermann, ordnet auch König Geschmack und Verstand in die damals gängige Hierarchie der Erkenntnisvermögen ein. Doch er beklage dabei die theoretische Unterscheidung von höheren und niedrigeren Vermögen und die Betonung des Allgemeingültigkeitsanspruchs des Verstandes. Dies habe zu einer Vernachlässigung der sogenannten niedrigen Vermögen gefuhrt.93 Amann deutet König dahingehend, daß dieser das Ästhetische und seine Urteilskraft, denen er durchaus eine Autonomie einräumen wolle, an den Verstand rückbinden müsse, um sie von ihrer durch diese Verselbständigung noch verstärkten Abwertung zu befreien.94 Damit löse er auch noch ein weiteres Problem: In den Augen der Aufklärung sei das Geschmacksurteil ein klassisches Vorurteil, da es nicht auf nachprüfbaren Kriterien beruhe.95 Es mußte daher auf die Kritik der Aufklärer stoßen. Indem König den Geschmack als Vermögen des Verstandes bestimme, trete er dieser Kritik entgegeif. Zudem, so Freier, sei es dadurch möglich, der Bedrohung der poetologischen
91 Vgl. hierzu die Anmerkungen von Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 560/561, Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 121, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 118/119, Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 179, Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 55 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 255/256. 92 Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 119. 93 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 253 sowie Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 118 -120. 94 Ob diese Autonomie dadurch gleich vollständig aufgehoben wird, wie Freier meint, darf bezweifelt werden. Vgl. Freier, Kritische Poetik 1973, S. 121. Auch Scheible wendet sich gegen diese Auffassung: in seinen Augen wird der Geschmack dem Verstand zwar unter-, nicht aber zugeordnet. Vgl. hierzu Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 56. 95 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 256/257. 96 Die Vorurteilskritik am Konzept des Geschmacksurteils wird erst um die Mitte des Jahrhunderts durch die Aufwertung des Emotionalen und des Sinnlichen zurückgedrängt werden. Dies geschieht vor allem durch den Einfluß englischer Gelehrter, darunter v. a. Shaftesbury, Young, Harris, Burke und Hume, auf die Theoretiker der Geniezeit. Die Sinnlichkeit wird aufgewertet, der Spontaneität mehr Raum gelassen. Texte wie Klopstocks „Messias" fördern diese Entwicklung dann im deutschen Sprachraum. Vgl. hierzu Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 561/562, Solms, Frühgeschichte 1990, S. 85, Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 23, sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 257. Zum englischen Geschmacksbegriff vgl. Klein, Hannelore: There is no Disputing about Taste. Untersuchungen zum englischen Geschmacksbegriff im achtzehnten Jahrhundert (= Neue Beiträge zur englischen Philosophie. Bd. VII). Münster 1967.
30
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Automie durch einen Geschmackspluralismus zu begegnen: Der Geschmack beruhe auf der „Übereinstimmung unserer Gedancken und Handlungen mit der Natur und der wahren Vernunft [...]", „[er] bleibet [daher] allemahl eben derselbige"97.98 Für König ist der Geschmack ahistorisch. Auf Differenzen in Geschmacksfragen gehen Bormann und Kaiser ein: Diese erklären sich daraus, daß der Geschmack nach König zwar Naturanlage sei, jeder Mensch also Geschmack habe, daß diese Naturanlage aber ausgebildet werden müsse. Eine wichtige Rolle spiele dabei der soziale Umgang, weniger dagegen Regelstudium oder pädagogische Einrichtungen.99 Vor allem die Jugend und die Frauen werden, so Kaiser, als Rezipienten von Literatur aufgewertet.100 Nach Einschätzung Freiers bleibt König im ganzen hinter dem Stand der Diskussion im Ausland zurück.101 Sein Verdienst bestehe darin, die bisherige europäische Diskussion in ihrer ganzen Breite und Tiefe in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Er sei damit vor allem für Gottsched und den Streit um dessen Ansichten wirksam geworden: König habe eine Wissenschaftlichkeit des Schönen postuliert, die umzusetzen Gottsched versuchte. Später habe die klassizistische Idee der Zeitlosigkeit des Schönen auf einigen von König formulierten Gedanken aufbauen können.102
2. 4. Johann Christoph Gottsched und die Regeln der Kunst In der 1730 erstmals erschienenen „Critischen Dichtkunst" handelt das dritte Kapitel „Vom guten Geschmacke eines Poeten".103 Darin stellt Gottsched zunächst fest, „Geschmack" in seiner figurativen Bedeutung sei „eine bekannte und völlig
97 Beide Zitate König, Untersuchung 1734, S. 408. 98 Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 121, Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefühl 1974, S. 5 sowie Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 451. 99 Vgl. hierzu Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefühl 1974, S. 5 und Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 86 und S. 89. 100 Vgl. hierzu Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 93 - 100. 101 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 118/119. 102 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 122. 103 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Gottsched, Johann Christoph: Critische Dichtkunst, unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4. vermehrten Auflage Leipzig 1751, 5. Aufl., Darmstadt 1962.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
31
eingeführte" Bezeichnung.104 Nach dieser im Vergleich zu den Bemerkungen Königs wortgeschichtlich interessanten Anmerkung parallelisiert Gottsched den physiologischen und den ästhetischen Geschmack105. Die Legitimität dieses Vergleichs sieht er vor allem darin, daß beide zwar klare, nicht aber deutliche Erkenntnis der Dinge ermöglichen.106 Dann wendet er sich dem ästhetischen Geschmack zu. Zunächst konstatiert Gottsched eine auffällige Inhomogenität der Geschmacksurteile. Dieser stellt er dann eine unwiderlegbar erscheinende Überlegung entgegen: Wenn zwei Menschen ästhetische Urteile über denselben Gegenstand fällen, von denen das eine diesen Gegenstand als schön, das andere ihn als häßlich bewerte, dann könne nur eines der beiden Urteile richtig sein, da ein Gegenstand nicht schön und häßlich zugleich sein könne. Gottsched leitet daraus ab, daß das Geschmacksurteil unzuverlässig sei und daher an die Kunstregeln rückgebunden werden müsse.107 Die Kenntnis dieser Regeln jedoch, die „in der unveränderten Natur der Dinge selbst; in der Übereinstimmung des Mannigfaltigen, in der
104 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 118. Gablers wendet dagegen ein, diese Behauptung Gottscheds könne nicht korrekt sein, da noch lange Zeit „gusto" oder „goüt" gebraucht würden. Doch selbst wenn dieser Einwand gerechtfertigt wäre, könnte man ihn mit diesem Argument nicht stützen. Denn noch heute werden diese Ausdrücke benutzt und entsprechend von den gängigen Wörterbüchern verzeichnet, so etwa von Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Bd. IV: Gele - Impr, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1999, S. 1561 und S. 1620. Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 33. 105 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 118 - 122. 106 Diese Unterscheidung stammt von Christian Wolff. Sie besagt, daß eine bloß klare Erkenntnis es dem Subjekt zwar ermöglicht, einen Gegenstand von anderen zu unterscheiden, daß eine deutliche Erkenntnis es ihm aber zusätzlich möglich macht, diesen Gegenstand in seiner Zusammensetzung und Funktionsweise zu verstehen. Vgl. hierzu Wolff, Christian: Vernünfftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: Wolff, Christian: Gesammelte Werke. I. Abt.: Deutsche Schriften. Hrsg. von Charles A. Corr. Bd. II, Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. 526 und Wolff, Christian: Der Vernünfftigen Gedanken [...] anderer Theil, bestehend aus ausführlichen Anmerckungen. In: Wolff, Christian: Gesammelte Werke. I. Abt.: Deutsche Schriften. Hrsg. von Charles A. Corr. Bd. III, Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. 162, S. 112. Vgl. zu dieser Parallelisierung Gottscheds Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 121, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 123, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 451 und Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 29/30. 107 Vgl. hierzu Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 122/123 sowie Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 115 und Freier, Kritische Poetik 1973, S. 125.
32
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Ordnung und Harmonie"108 begründet liegen, sei Sache des Verstandes. Damit sind wir bei Gottscheds Geschmacksdefinition angelangt: Der gute Geschmack „ist nämlich der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntnis hat."109 Ähnlich wie König bindet Gottsched den Geschmack also an den Verstand: „Ich rechne zuvörderst den Geschmack zum Verstände, weil ich ihn zu keiner andern Gemüths-Kraft bringen kann. Weder der Witz, noch die Einbildungs-Kraft, noch das Gedächtnis, noch die Vernunft können einigen Anspruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man müßte denn einen sechsten Sinn davon machen wollen."110 Gut, so die einhellige Auffassung der Begriffsgeschichte, könne der Geschmack also nur dann sein, wenn er, obwohl in Unkenntnis der Regeln der Kunst, seine Urteile diesen sowie der vernünftigen Natur überhaupt gemäß fälle, also mit den Urteilen des Verstandes übereinkomme.111 Damit werde der Geschmack zum analogon rationis.112 Ein freies, individuelles Geschmacksurteil wird unmöglich, noch weniger kann Gottsched einen Relativismus des Geschmacks zulassen: Gott habe alle Dinge der Natur geschaffen und er habe sie schön geschaffen. Wer also Schönes schaffen wolle, müsse sich an diesem einzigen Vorbild orientieren.113 Gottscheds Geringschätzung des Geschmacks liege, so Freier, darin begründet, daß er ihn als bloße Vorstufe eines Zustandes ansehe, in dem er durch
108 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 123. 109 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 123. Vgl. hierzu auch Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 451 und Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 29. 110 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 123. Ob diese Formulierung Gottscheds „Verlegenheit" oder gar „Unsicherheit" erkennen läßt, wie Hermann, Scheible und Kaiser meinen, bleibe hier dahingestellt. Vgl. hierzu Hermann, Natumachahmung 1970, S. 121, Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 55 und Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 22. 111 Vgl. hierzu Hermann, Natumachahmung 1970, S. 115, Hohner, Ulrich: Zur Problematik der Natumachahmung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts (= Erlanger Studien, Bd. XII). Erlangen 1976, S. 57, Siegrist, Christoph: Poetik und Ästhetik von Gottsched bis Baumgarten. In: Grimminger, Rolf (Hrsg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. III). München, Wien 1980, S. 282, Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 243. 112 Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 32. 113 Vgl. hierzu Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 132 sowie Hohner, Natumachahmung 1976, S. 58 und Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 57/58. Darin liegt auch der Grund für die Vorbildhafügkeit der Antike: Die Griechen, die „vernünftigsten Leute von der Welt", hätten die tiefste Einsicht in die Regelhaftigkeit der Natur und die dieser innewohnenden Schönheit gehabt. Vgl. Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 129.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
33
wissenschaftliche Fundierung in Form einer - rationalen - Philosophie des Schönen obsolet geworden sei.114 Der Geschmack sei zuständig für den Bereich des Undeutlichen und Unerwiesenen und für den der Vermischung dieser mit dem Deutlichen und Erwiesenen, Ziel sei es aber, diese dunklen Bereiche durch das Licht der Vernunft zu erhellen.115 Dadurch aber wird der Geschmack letztlich überflüssig. Indem Gottsched die These aufstellt, „das Geschmacksurteil sei ein Provisorium oder ein vorwissenschaftliches Surrogat der Regelkompetenz"116, wird seine Theorie des Geschmacks117 zu einer Theorie der Abschaffung des Geschmacks durch die Vernunft. Ahnlich wie König will Gottsched den Autoritätsverlust des Traditionszusammenhangs der Regelpoetik durch die Rückkoppelung des ästhetischen Urteils an die Ratio kompensieren, um die Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils nicht preisgeben zu müssen. Tatsächlich geht Gottsched, so Hermanns Einschätzung, nur in einem Punkt über König hinaus, nämlich in der scharfen Unterscheidung von klarer und deutlicher Erkenntnis.118 Was die Geschmacksträger angeht, so zeigt sich Gottsched nach Freiers Auffassung liberaler: Obwohl er eine Verwissenschaftlichung der Ästhetik fordere, gestehe er den Geschmack doch auch denjenigen zu, die nicht an Wissenschaft teilhaben können, an der Kunst jedoch trotzdem kritisch partizipieren wollen.119 Durch seine Stellung zu Vernunft und Regelkompetenz könne der Geschmack durchaus deren Stelle vertreten. Wie diese, so sei auch der Geschmack jedem Menschen angeboren, wenngleich er auch durch das Studium vorbildhafter Werke verfeinert werden müsse.120 Damit, so fügt Siegrist hinzu, sei prinzipiell auch der Laie zum ästhetischen Urteil befähigt, im Zweifelsfall entscheide aber der Kenner, weil der Kenner im Besitz der Regelkompetenz sei, während der Laie nur aufgrund
114 Freier zeigt dies unter anderem anhand einiger einleuchtender Beispiele der Verwendung des Wortes „noch" in Gottscheds Text. Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 123/124. 115 Vgl. hierzu Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 120/121 sowie Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 54. 116 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 124, ähnlich Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 54. 117 Die letztlich doch nichts anderes ist als eine Musterpoetik traditionellen Zuschnitts, die mit Beispielen arbeitet. Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 127. 118 Vgl. hierzu Hermann, Naturnachahmung 1970, S. 121. 119 Vgl. hierzu Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 125 sowie Freier, Kritische Poetik 1973, S. 128. 120 Vgl. hierzu Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 125/126 sowie Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 283 und Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 86.
34
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
seiner „bloßen Empfindung" urteilen könne.121 Gottsched ziele jedoch auf ein noch zu formendes Publikum, das nicht dasjenige schön finden solle, was dem Fürsten gefalle, sondern das, was dem Verstand notwendig gefallen müsse.122 Der durch die unterschiedliche Sozialisation aufgetretene Geschmackspluralismus solle durch Bildung nivelliert werden, wie eine Reihe von Begriffsgeschichdem betont.123 Ansätze zu einer Demokratisierung sind bei Gottsched also vorhanden, wenn auch das Ziel in einer Angleichung der Geschmäcker zu suchen ist. Wichtigster Faktor bei der Geschmacksbildung ist, so Amanns Interpretation, der Künstler: Ihm obliege es, den Geschmack des Publikums zu läutern. Er dürfe sich daher nicht den Vorlieben des Publikums unterwerfen, sondern müsse sich an den Vernunfterkenntnissen der Kenner oder an den Kunstregeln orientieren.124 Dies impliziere die Teilhabe des Kenners am Schaffensprozeß: der Künsder solle dessen abstrakte Erkenntnisse sinnlich umsetzen.125 Auch der Bereich der Produktion wird also von der Vernunft und den Regeln dominiert. Letztlich muß Gottscheds Geschmackskonzept mit Freier und Scheible als ein Versuch zur Rettung der Regelkompetenz angesehen werden.126 Gottsched kann den Geschmack seiner rationalistischen Poetik nur integrieren, indem er ihn seiner spezifischen Merkmale beraubt. Dadurch ist er aber vom Verstand nicht mehr wirklich verschieden und deshalb gegen ihn austauschbar. Der Geschmack ist somit für seine Dichtkunst nicht konstitutiv.127 Vom Kunstrichter fordert er lediglich „Gelehrsamkeit" und Kenntnisse in „Künsten und Wissenschaften"12B, Gefühle der Lust oder Unlust erwähnt Gottsched nicht einmal.129 Damit bleibt Gottsched nicht nur hinter dem bei König erreichten Stand zurück.
121 Vgl. hierzu Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 282 und Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 138 und S. 243. 122 Vgl. hierzu Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 283. 123 Vgl. hierzu Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefiihl 1974, S. 6, Freier, Kritische Poetik 1973, S. 130, Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 138 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 264. 124 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 260 - 262. 125 Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 261. 126 Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 126 und Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 55/56. 127 Vgl. Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 138. 128 Gottsched, Critische Dichtkunst 1751/1962, S. 105. 129 Vgl. hierzu Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 56/57.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
35
2. 5. Der Literaturstreit um Gottsched Gottscheds Texte in der „Critischen Dichtkunst" und den „Vernünftigen Tadlerinnen" rufen einen Streit hervor, in dem vor allem die Schweizer Bodmer und Breitinger Gottsched und den Gottschedianern gegenüberstehen. Christlob Mylius, ein Anhänger Gottscheds, veröffentlicht 1743 seine „Bemühungen zur Beförderung der Kritik und des guten Geschmacks"130, Immanuel Jakob Pyra reagiert darauf mit seinem „Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe" (1742^.' Pyra steht auf der Seite der Schweizer. Als empfindsamer Dichter will er die Poesie aus der engen Verbindung mit der Vernunft lösen: diese bringe zwar Wahrscheinlichkeit, nie aber Wahrheit mit sich. Wahrheit erwachse nur aus der Einbildungskraft.132 Gottsched selbst beharrte nach Siegrists Einschätzung auf dem 1730 formulierten Stand seiner Theorie und verweigerte sich den geforderten Neuerungen.133 Gottscheds Gegner sahen, so Gabler, die Gefahr der Etablierung einer neuen Regelpoetik durch nach logisch-philosophischen Verfahrensweisen geordnete Dichtungstheorien Wolffscher Provenienz.134 Im Jahre 1753 erstellte Wieland eine „Sammlung der Züricherischen Streitschriften zur Verbesserung des deutschen Geschmacks wider die Gottschedische Schule".135 An diesen Streitschriften um Gottsched kann man das Grundproblem der Ästhetik des 18. Jahrhunderts ablesen: Die bisherige Normierung des Schönen soll aufgegeben werden, ohne daß der Geschmack der Gefahr einer völligen Subjektivierung anheimfallt.136 Nach Cassirers Einschätzung ist Individualisierung nicht unerwünscht; am Ende sollen jedoch nicht unzählige einzelne Geschmacksurteile einander gegenüberstehen, sondern vielmehr ein freiwilliger Konsens im guten Geschmack erreicht werden. Das heißt, der Anspruch
130 Vgl. hierzu Markwardt, „Geschmack Literaturgeschichte 1958, S. 561.
(literarischer)".
In:
Reallexikon
der
deutschen
131 Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe. Ueber die Hällischen Bemühungen zur Aufnahme der Critik. Etc. Hamburg und Leipzig 1743. Die Schrift erschien ohne Angabe des Autors. Vgl. hierzu Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 561. 132 Vgl. hierzu Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 292. 133 Vgl. hierzu Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 291. 134 Vgl. Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 138. 135 Vgl. Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 561. 136 Dies sieht Claudia Kaiser als Grundproblem an. Vgl. Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 21.
36
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
auf rationale Begründbarkeit, für den Gottsched und Diderot standen, wird nach und nach aufgegeben, nicht aber der Anspruch auf Allgemeingültigkeit.137 2. 6. Bodmer, Calepio und der Geschmack als Vernunft Zu den Gegnern Gottscheds gehört auch der Züricher Johann Jakob Bodmer, der 1736 einen Teil seiner Korrespondenz mit dem Italiener Pietro dei Conti di Calepio unter dem Titel „Briefwechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes"138 veröffentlicht. Nach der bereits selbstverständlichen Parallelisierung von physischem und ästhetischem Geschmack, bei der er vor allem die Unterscheidungsfähigkeit beider Geschmäcker hervorhebt139, vertrete Bodmer, so Amann, als „Eurisius" eine intellektualistische, Calepio dagegen, als „Hypsäus", eine sensualistische Position:140 Bodmer lehne einen auf Empfindung basierenden Geschmack als Basis von Kritik ab, in diesem Falle könne schließlich jeder über Kunst urteilen, auch diejenigen, die nichts davon verstünden. Explizit gegen Dubos sich wendend und den „critischen Enthusiasten" Schwärmerei und Irrationalität vorwerfend, bindet Bodmer den Geschmack an den Verstand: Nur dies könne eine Einheitlichkeit der Urteilenden gewährleisten.141 Bodmer will allenfalls einen auf Vernunftschlüssen basierenden, Schritt für Schritt prüfenden Geschmack zulassen!42 Kaiser hat daraus den Schluss gezogen, daß Bodmer nurmehr das Wort „Geschmack" verwende, in Wirklichkeit aber den Verstand meine.143 Calepio dagegen unterscheidet den Geschmack, „die Empfindung, welche in dem Gemüthe durch die Beredtsamkeit verursachet wird", vom guten Geschmack, der „Wahl, durch welche, mit Beyhülffe der Vernunft, die Vollkommenheiten und
137 Cassirer, Philosophie der Aufklärung 1998, S. 399/400. 138 Bodmer, JohannJakob: Briefwechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes. Dazu kömmt eine Untersuchung, Wie ferne das Erhabene im Trauerspiele Statt und Platz haben könne; Wie auch von der Poetischen Gerechtigkeit. Zürich 1736. Neudruck Stuttgart 1966. 139 S. Bodmer, Briefwechsel 1736/1966, S. 8 - 12. Vgl. hierzu auch Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 277. 140 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 269. 141 S. Bodmer, Briefwechsel 1736/1966, S. 42 - 47. Vgl. hierzu auch Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefuhl 1974, S. 6, Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 28/29 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 270. 142 Vgl. Bodmer, Briefwechsel 1736/1966, S. 11 und S. 19/20. 143 Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 29.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
37
die Fehler in der Rede erkennet werden."144 Nach Amanns Einschätzung leitet Calepio aus seiner Konzeption des guten Geschmacks die Forderung ab, vollkommene Dichtkunst müsse die Vernunft ebenso wie die Sinne befriedigen. Ähnlich wie bei Gottsched solle das von den Kennern für vernünftig Befundene, das nicht jeder unmittelbar verstehe, sinnlich vermittelt werden.145 Calepios Beispiel hierfür ist die Tragödie: Laien wie Kenner empfinden Mideid, aber der Kenner wisse um die Ursachen des Mideids und somit um die Funktionsweise des Kunstwerks. Sein Vergnügen ist daher etwas größer als das des Laien. 146 Trotz dieser Anknüpfung des Vergnügens an das verständige Mitleiden hat der Geschmack bei ihm keine moralische Komponente. Bei Bodmer dagegen rühre das Vergnügen nicht von der mitleidigen Empfindung, sondern von der überlegenden Erkenntnis her: Der Kenner wisse, daß das Mideid, welches er empfinde, nur ein scheinbares sei, das sich nur auf Figuren, nicht auf reale Personen beziehe, und er wisse auch, auf welche Weise es hervorgerufen werde. Aus dieser rationalen Erkenntnis erwachse ihm das Vergnügen.147 J e besser sein Geschmack also ausgebildet sei, desto größer das Vergnügen des Zuschauers. Bodmer leite daraus die Forderung nach Ausbildung der von ihm als ebenso wie der physiologische Geschmack grundsätzlich angeboren betrachteten Geschmacksfähigkeiten ab. Der Weg zum guten Geschmack führe bei ihm, wie bei vielen anderen Geschmackstheoretikern über Erziehung und ReflexiotA® Während für Calepio also das Vergnügen eines breiten Publikums im Vordergrund stehe, zählen für Bodmer eine dünne, bürgerliche Schicht, die Kunstverstand besitzt, und die ausgewiesenen Kenner. Einen Mehrheitskonsens könne es für ihn nicht geben.149
144 Bodmer, Briefwechsel 1736/1966, S. 5. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Hohner, Naturnachahmung 1976, S. 95 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 271. 145 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 274. 146 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 272. 147 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 275/276. 148 Vgl. zur Frage der Geschmacksbildung bei Bodmer auch Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 270 und 278 - 280. 149 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 280.
38
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
2. 7. Johann Jakob Breitinger und die Sinnlichkeit des Geschmacks Breitinger veröffentlicht im Jahre 1740 seine „Critische Dichtkunst".150 Nach Ficks Einschätzung zeigt er sich darin weit stärker von Dubos beeinflußt als Bodmer: Er definiere den Geschmack als „sinnliche Empfindung" und „Ergetzen".151 Anders als der Philosoph, der nur den Verstand anspreche, wolle der Dichter vor allem das Gemüt einnehmen und bewegen. Er füge eine sinnliche Ebene hinzu, die auf die Einbildungskraft wirke. In der Auswahl poetischer Bilder, die der Dichter trifft, vereinen sich also kognitive und affektive Aspekte. Dadurch werde ein ganzheitliches „Ergetzen" ermöglicht.152 Kriterium für die Auswahl der Bilder sei die Ähnlichkeit mit dem Urbild153, die der Geschmack bewerte. Wer also diese Orientierung am Urbild vinterlasse, besitze keinen Geschmack.154 Dabei spricht er nach der Einschätzung Siegrists der Kreativität des Dichters eine weit größere Rolle zu als etwa Gottsched: Der Wert der Dichtung werde bei Breitinger maßgeblich durch die Innovation bestimmt.155 Aus diesem Grund bewertet Breitinger, so Armand Nivelles Beurteilung156, den Geschmackswandel auch ähnlich wie Abbe Dubos: Dubos habe in seinen „Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture"157 (1719) ausgehend von einem Sensualismus Lockescher Prägung versucht, die Kunst von der Wirkung her zu bestimmen, und daher den Geschmack des Laienpublikums zur obersten Urteilsinstanz in ästhetischen Dingen erklärt.158 Geschmacksbildung habe er für
150 Breitinger, Johann Jakob: Critische Dichtkunst. 2 Bände. Zürich 1740. Ndr. Stuttgart 1966. 151 Vgl. zu diesen Bestimmungen Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 889. 152 Vgl. hierzu Breitinger, Critische Dichtkunst 1740/1966, Bd. I, S. 79 - 81 sowie Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 889/890. 153 Diese Ähnlichkeit wird in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts meist als „Wahrheit" bezeichnet. 154 So ζ. B. die Barockschriftsteller. Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 891. 155 Vgl. hierzu Breitinger, Critische Dichtkunst 1740/1966, Bd. I, S. 60 sowie Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 298. 156 Vgl. hierzu Nivelle, Armand: Literaturästhetik. In: Hinck, Walter et al.: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. XI. Europäische Aufklärung. Frankfurt am Main 1974, S. 47. 157 Dubos, Jean-Baptiste: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. 7. Aufl. 1770 (erste Auflage 1719), Neudruck Genf 1967. 158 Vgl. hierzu Cassirer, Philosophie der Aufklärung 1998, S. 405, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 447 und Freier, Kritische Poetik 1973, S. 91. Gabler widerspricht der im Historischen Wörterbuch der Philosophie vertretenen Auffassung, Dubos beziehe sich aufJohn Locke. Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. VIII.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
39
unmöglich gehalten, der Geschmack sei statt dessen abhängig vom Nationalcharakter, vom Klima, von Krieg oder Frieden, Wohlstand und Armut und nicht zuletzt vom Interesse der Fürsten an Kunst und Kultur sowie von Anzahl und Rang der Künstler einer Zeit.159 Breitinger schreibt daher in seinem Vorwort zu Bodmers „Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide Der Dichter..."160 (1741), die Fähigkeit zur Kritik sei unabhängig vom Stand oder vom Rang einer Person, sie komme dagegen, ähnlich wie beim physischen Geschmack, „einem jeden rechten Leser oder Kenner" zu.161 Das Recht zum ästhetischen Urteil, so Gabler, habe damit jeder. Legitime Richter seien aber nur die Kunstkenner.162 Dennoch sei der Geschmack keine Norm, anders als bei Gottsched bewähre er sich in jeder Situation neu. Gabler sieht Breitinger mit dieser Aussage auf der Höhe der zeitgenössischen Rhetorik.163 2. 8. Christian Fürchtegott Geliert und die Didaktik des Geschmacks Um die Mitte des Jahrhunderts manifestiert sich in den Schriften Christian Fürchtegott Gellerts, Friedrich Nicolais und Gotthold Ephraim Lessings eine Tendenz, die sich bereits in früheren Texten, etwa in der von Bodmer und Breitinger gemeinsam herausgegebenen moralischen Wochenschrift „Die Discourse der Mahlern" (1721 - 1723), mit deren Hilfe sie den „guten Geschmack in unseren Bergen" verbreiten helfen wollten164, abgezeichnet hatte: die Didaktik des guten Geschmacks. Den Autoren lag es am Herzen, den Geschmack ins breite Bürgertum
159 Vgl. hierzu Dubos, Reflexions 1770/1967, Bd. II, Sect. 22, Sect. 23 und S. 134 und 281 sowie Cassirer, Philosophie der Aufklärung 1998, S. 406/407, Nivelle, Armand: Literaturästhetik. In: Hinck, Walter et al.: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. XI. Europäische Aufklärung. Frankfurt am Main 1974, S. 43 - 47, Kondylis, Aufklärung 1981, S. 314, Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 243 und Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 797. 160 Bodmer, Johann Jakob: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemähide Der Dichter. Zürich 1741. Reprint, Frankfurt am Main 1971. 161 Breitinger, Vorrede. In: Bodmer, Critische Betrachtungen 1741/1971, Vorrede, B1 )( 3 vf.). Vgl. hierzu Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 235. 162 Vgl. hierzu Gabler, a. a. O., S. 236. 163 Gabler, a. a. O., S. 236. 164 Vgl. hierzu Bodmer, Johann Jakob/Johann Jakob Breitinger (Hrsg.): Die Discourse der Mahlern. 1721 - 1722. Mit Anmerkungen herausgegeben von Theodor Vetter. Erster Teil. (= Bibliothek Aelterer Schriftwerke der deutschen Schweiz. Herausgegeben von Jakob Bächtold und Ferdinand Vetter. 2. Serie, 2. Heft). Frauenfeld 1891. An den Erlauchten Zuschauer der Engeländischen Nation, S. 4. Vgl. hierzu auch Siegrist, Poetik und Ästhetik 1980, S. 295 - 298 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 266.
40
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
hineinzutragen, dessen Benehmen häufig noch grob und ungehobelt sei. Damit sollte das Selbstbewußtsein des Bürgers gegenüber dem Adel gestärkt werden.165 Das Bürgertum, so Amann, habe die neue Kategorie aufgegriffen und sie in ihrer spezifischen Form als Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Adel angewendet. Ist der Geschmack nicht mehr angeborenes Privileg einer adeligen Schicht, wie noch bei Gracian, sondern allen Menschen gleichermaßen angeboren oder zumindest für jeden erlernbar, so bietet er eine Urteilslegitimation, die nicht an Stand oder Herkunft gebunden ist.166 Diesem demokratischen Element, das letztlich auf den Irrationalismus eines Dubos oder eines Bouhours zurückzuführen ist, leisten Autoren wie Geliert durch ihre Geschmackslehren Vorschub. Geliert sieht, so Amann, im Brief das ideale Medium des Bürgertums, da diese Textsorte nah am Gespräch angesiedelt und somit besonders gut zur Einübung einer Umgangssprache (im Sinne einer Sprache des Umgangs) geeignet sei.167 Er veröffentlicht daher zwei epistolographische Schriften, die „Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F. H. v. W." (1742) und „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen" (1751), die er als Unterweisung im guten Geschmack versteht.168 Darin, so Kaiser, bricht er mit der Tradition der am trockenen Kanzleistil orientierten Regelbriefsteller und setzt diesem einen „ungezwungen-plaudernden" Stil entgegen.169 Der Briefstil solle am
165 Vgl. hierau Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 223/224. 166 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 311, ähnlich äußern sich auch Freier, Kritische Poetik 1973, S. 116/117 und Bormann, Vom Laienurteil zum Kunstgefuhl 1974, S. 2 - 4. 167 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 221. 168 Geliert schreibt in der Praktischen Abhandlung: „Den guten Geschmack in einem Lande überhaupt, und insonderheit den guten Geschmack in Briefen herzustellen, braucht nicht eine große Anzahl guter Köpfe auf einmal aufzustehen." „So werden durch wenig gute Beispiele, die in ihrer Art vortrefflich sind, die richtigen Empfindungen des Natürlichen und Feinen in andern erweckt und unterhalten, und der gute Geschmack geht vom Freund zum Freunde, vom Vater zum Sohne, von der vernünftigen Mutter zur Tochter fort, und wird der herrschende Geschmack." Geliert, Christian Fürchtegott: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Geliert, Christian Fürchtegott: Gesammelte Schriften Bd. IV. Roman, Briefsteller. Leben der Schwedischen Gräfin von G***. Gedanken von einem guten deutschen Briefe. Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Herausgegeben von Bernd Witte und Werner Jung, Elke Kasper, John F. Reynolds, Sibylle Späth. Berlin, New York 1989, S. 150/151. Vgl. hierzu Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 17/18. 169 Vgl. zu Gellerts stilistischen Erwägungen Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 26 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 37.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
41
Gespräch orientiert, d. h. möglichst natürlich sein.170 Was zunächst paradox klingt, die Unterweisung zur Natürlichkeit, ist für Geliert kein Widerspruch: er geht davon aus, daß der gute Geschmack durch beständige Übung und Gebrauch so natürlich werde, daß er nicht nur die Schreibart, sondern schließlich auch Gespräche, Handlungen, Denkart und Charakter präge.171 Suche man nach einer Bestimmung des Geschmacks, so werde man bei Geliert schwerlich fundig, wie Kaiser betont.172 Doch lasse sich feststellen, so Kaiser weiter, daß er das Wort vor allem in zwei Bedeutungen verwende: Im Sinne einer produktiven Kraft, daß heißt, als Stilprinzip173, und im Sinne einer rezeptiven Fähigkeit, als „eine zarte, geschwinde und treue Empfindung alles dessen, was in den Werken des Geistes so wohl in einzelnen Gedanken und Ausdrücken, als überhaupt in dem ganzen Baue des Werkes richtig, schön, edel, harmonisch; und auf der andern Seite alles dessen, was fehlerhaft, was matt, was kindisch, was abentheuerlich und mißhellig ist."174. Der Geschmack urteile dabei schnell und ohne Überlegung.175 In der Annahme einer produktiven und einer rezeptiven Seite des Geschmacks geht Geliert über Bodmer hinaus. Auch vom Rationalismus Bodmerscher oder gar Gottschedscher Prägung wendet sich Geliert ab. Die Forderung nach Natürlichkeit ebenso wie sein Konzept
170 Letzte Reste einer Verstellungstheorie Graciänscher Prägung werden damit endgültig ausgeräumt. Vgl. zum Briefstil Gellerts weiter: Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 27 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 37 und S. 221. 171 Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 887, Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 129 und Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 222. 172 Kaiser gibt dafür mehrere Gründe an: zunächst vermutet sie, Geliert definiere „Geschmack" nicht, weil er die Kategorie für eingeführt halte (Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 17), später fuhrt sie den Mangel an Definitionen auf sein Streben nach Originalität zurück und weist den eben genannten Grund explizit zurück (Kaiser, a. a. O., S. 19). Hier widerspricht sie auch ihrer früheren Äußerung, Geliert definiere „Geschmack" überhaupt nicht (Kaiser, a. a. O., S. 17). Ob die wenigen und zum Teil widersprüchlichen Stellen, an denen Geliert doch Bestimmungen des Geschmacks bietet, auf seine Unsicherheit über den Status der Kategorie zurückzufuhren sind, wie Kaiser meint (Kaiser, a. a. O., S. 22), soll hier nicht diskutiert werden. Wahrscheinlicher ist, daß Geliert in seinen poetologischen Texten die pädagogische Praxis über die theoretische Diskussion stellte und an definitorischen Fragen schlicht nicht interessiert war. 173 Vgl. hierzu Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 19 und S. 28. 174 Geliert, Praktische Abhandlung 1989, S. 111. Vgl. auch Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 19 und S. 28 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 222. 175 Vgl. zur Spontaneität des Geschmacks Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 19.
42
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
vom Geschmack als einer Instanz, die Verstand und Empfindung vereine m , lassen laut Kaiser seinen Hang zum subjektivistisch-irrationalistischen Lager erkennen177, wenn er auch nicht einen totalen Sensualismus vertrete wie etwa Dubos in Frankreich oder, in anderer Form, Shaftesbury und Hume in England. Eindeutig stehe Geliert auf der Seite der Relativisten: Das Publikum bestimme, was schön ist, damit sei der Geschmack prinzipiell wandelbar.178 Doch gemäß seinem didaktischen Ansatz könne Geliert nicht jede Publikumsmeinung akzeptieren. Erst müsse der Geschmack durch das Studium der guten Werke und das Nachdenken darüber, was an ihnen gut sei, gebildet werden.179 Die Geschmacksbildung beschränkt sich jedoch, wie bereits angedeutet, nicht nur auf das Gebiet der Ästhetik. Indem der Geschmack letztlich auch auf Denken und Charakter wirkt, wohnt ihm ein moralischer Aspekt inne, der auf der Vereinigung von Einbildungskraft und Verstand beruht. Die Einbeziehung des Verstandes wirkt mäßigend im Sinne eines angemessenen Verhaltens, die irrationalen Aspekte des Geschmacks bewirken sein Natürlich-Werden. Ziel sei Amann zufolge moralisches Handeln ohne vorherige Reflexion.180 Dabei dürfe der Geschmack keinesfalls mit der Tugend selbst verwechselt werden: er verleihe der Tugend zwar Anmut und Schönheit, könne aber allein niemanden tugendhaft machen.181 Anders als Shaftesbury, der einen irrationalistischen „moral sense" propagiert habe, der sich durch freie Entfaltung innerer Anlagen herausbilden solle, weil er eine religiös vermittelte rationale Moral für wirkungslos gehalten habe182,
176 Vgl. Geliert, Praktische Abhandlung, S. 111. 177 Vgl. hierzu Kaisers Anmerkungen in „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 27 und S. 33/34, wo sie auch Beispiele für Gellerts Wotverwendung zum „fühlen" und „schmecken" von Qualität anfuhrt. 178 Vgl. hierzu Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 108 - 110. 179 Vgl. zur Geschmacksbildung bei Geliert Kaiser, „Geschmack" als Basis der Verständigung 1996, S. 19 und S. 88/89 sowie Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 221/222. 180 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 222. 181 Vgl. hierzu Gellerts 1751 gehaltene und 1756 erchienene Leipziger Antrittsvorlesung „Von dem Einflüsse der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten. Eine Rede, bey dem Antritte der Profession. Aus dem Lateinischen übersetzt." In: Geliert, Christian Fürchtegott: Poetologische und Moralische Abhandlungen. Autobiographisches. Herausgegeben von Werner Jung, John F. Reynolds, Bernd Witte (= Christian Fürchtegott Geliert: Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe. Herausgegeben von Bernd Witte, Bd. V). Berlin, New York 1994, S. 175 - 193. 182 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 207 - 216.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
43
betone Geliert die Bedeutung des christlichen Glaubens für Gewissen und Tugend, die eine säkularisierte Geschmacksmoral nicht ersetzen könne.183 Ebenso wie Geliert sehen auch Nicolai und Lessing den Zweck einiger ihrer Werke in der Geschmacksdidaktik. Nicolai etwa weist in seiner „Vorläufigen Nachricht" zu seiner „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste" (1757ff) darauf hin, daß er mit dieser der Beförderung des Geschmacks dienen wolle184, Lessing, der „schmecken" mehrfach im Sinne von „ästhetisch genießen, proben, werten" verwendet185, tritt in seinen „Briefen, die neuste Litteratur betreffend" (1759 - 1765) für die Schulung des Geschmacks durch praktische Kritik ein, wie auch der Laokoon-Text, so die Vorrede, pädagogische Zwecke verfolgt. 186
2. 9. Johann Georg Sulzer Sulzer, ein Schüler Bodmers, der in den Jahren 1771 - 1774 seine „Allgemeine Theorie der schönen Künste" veröffentlicht187, verwendet das Wort „Geschmack" uneinheitlich, so Armand Nivelles Eindruck: In der Einleitung werde nicht ganz klar, ob der Geschmack ein eigenständiges Vermögen oder dem Verstand untergeordnet sei. Im Artikel „Geschmack" stelle er Vernunft, sittliches Gefühl und Geschmack dann auf eine Stufe.188 Markwardt liest Sulzer als Rationalisten, der
183 Vgl. hierzu Amann, a. a. O., S. 225. 184 Vgl. hierzu Nicolai, Friedrich: Vorläufige Nachricht. In: Nicolai, Friedrich/Moses Mendelssohn (Hrsg.): Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Bd. I, Leipzig 1757, S. 4. 185 Vgl. hierzu Markwardt, „Geschmack Literaturgeschichte 1958, S. 559.
(literarischer)".
In:
Reallexikon
der
deutschen
186 „Diesem falschen Geschmacke, und jenen unergründeten Urteilen entgegen zu arbeiten, ist die vornehmste Absicht folgender Aufsätze." Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. 1766 - 1769. Herausgegeben von Wilfried Barner (= Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner et al. Bd. 5/2) Frankfurt am Main 1990, S. 15. Vgl. auch Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 562. 187 Hier zitiert nach der zweiten Auflage: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Reprographischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792 (Bd. I/II): 1970 (Bd. I) und 1967 (Bd. II), 1793 (Bd. III): 1967, 1794 (Bd. IV): 1967 und 1799 (Bd. V (Register)): 1967. Artikel „Geschmak": Sulzer, Bd.III, S. 371 - 385. 188 Vgl. Nivelle, Armand: Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik. Berlin 1960, S. 49 und Nivelle, Literaturästhetik 1974, S. 44.
44
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
„Geschmack" im Sinne einer Fertigkeit des Verstandes verwende.189 Tatsächlich stellt Sulzer den Geschmack mit Vernunft und sittlichem Gefühl auf eine Ebene. So definiert er „Geschmack" eingangs des entsprechenden Artikels als „im Grunde nichts anders, als das Vermögen das Schöne zu empfinden, so wie die Vernunft das Vermögen ist, das Wahre, Vollkommene und Richtige zu erkennen; das sittliche Gefühl, die Fähigkeit das Gute zu fühlen." 1 ' 0 In diesem Sinne ist der Geschmack ein eigenständiges Vermögen, ebenso wie das Schöne eigenständig ist: Es vergnügt nicht deswegen, „weil der Verstand es vollkommen, oder das sittliche Gefühl es gut findet, sondern weil es der Einbildungskraft schmeichelt, weil es sich in einer gefälligen, angenehmen Gestalt zeiget." 191 Nivelles Einschätzung von der Gleichrangigkeit der Vermögen ist also korrekt. Sulzer definiert „Geschmack" im folgenden etwas differenzierter: Er sei ein „in der Seele würklich vorhandenes und von jedem andern unterschiedenes Vermögen, nämlich das Vermögen das Schöne anschauend zu erkennen, und vermittelst dieser Erkenntnis Vergnügen daran zu empfinden."192 Sulzer unterscheidet jedoch zwischen dem Geschmack beim „Künstler"193 und dem Geschmack „bey allen Menschen"194. Der Künsder müsse Genie, Geschmack und Verstand verbinden, um wahre Kunst hervorzubringen. In diesem Sinne interpretiert auch Schümmer Sulzers Artikel195: Der Geschmack sei dabei für die „sinnliche Vollkommenheit"196 zuständig. Er beschränke sich, so Schümmer weiter, auf die äußere Form.197 Inhalt und Wert kommen dem Werk durch die beiden anderen Instanzen zu. Damit betont Sulzer deutlich, was auch bei vielen anderen Geschmackstheoretikern immer wieder zur Sprache kommt: Der Geschmack ist für die äußere Form der Dinge zuständig.
189 Markwardt, „Geschmack (literarischer)". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte 1958, S. 559. 190 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 371. Vgl. zu Sulzers Definition auch Riedel, Wolfgang: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Schings, Hans-Jürgen (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar 1994, S. 427. 191 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 371. 192 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 371. 193 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 372 - 374. 194 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 374 - 377. 195 Süerle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 452. 196 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 373. 197 Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 452.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
45
Der rezeptive Geschmack, so Nivelles Lesart weiter, bestehe in einer schnellen und direkten Empfindung, die ohne Überlegung das Schöne wahrnimmt und als solches erkennt.198 Er fälle dabei dieselben Urteile, die der Verstand auch fällen würde, dies allerdings weit schneller als dieser.199 Auf die Moral übertragen ist der Geschmack „im Grunde nichts, als das innere Gefühl, wodurch man die Reizung des Wahren und Guten empfindet; also würket er natürlicher Weise Liebe für dasselbe. Zugleich erwekt er ein so richtiges Gefühl der Ordnung, Schönheit und Uebereinstimmung, daß Widerwillen und Verachtung gegen das Schlechte, Unordentliche und Häßliche von welcher Art es seyn möge, eine natürliche Würkung desselben ist."200 Die „Reizung des Wahren und Guten", die Schönheit also, ist, so Monika Ficks Lesart, die äußere Form des Guten.201 Nur deshalb könne der Geschmack in Sulzers Konzept auch in Fragen der Moral wirksam werden. Fehle einem Menschen die Moralität überhaupt, so könne auch der Geschmack nicht weiterhelfen.202 Der Geschmack, so Schümmer, könne lediglich das Schöne mit dem Wahren und Guten verbinden.203 Auf diese Synthese, so wiederum Fick, stütze Sulzer schließlich seine Forderung, die Geschmacksbildung müsse eine „große Nationalangelegenheit"204 werden.205
198 Nivelle, Literaturästhetik 1974, S. 44. 199 Vgl. hierzu Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 373/374. 200 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 375. 201 Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 892. 202 Vgl. hierzu Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 375/376. 203 Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 452. 204 Sulzer, Artikel „Geschmack", Bd. III, S. 376. 205 Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 892.
46
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
2. 10. Moses Mendelssohn, das Gute und das Schöne Moses Mendelssohn versucht in seinem auf die zweite Hälfte der 50er Jahre zu datierenden Text von der „Verwandtschaft des Schönen und Guten" 206 das Verhältnis von „bon sens" und Geschmack zu klären. „Bon sens" ist für ihn „Empfindung und Geschmack, vermittelst welcher wir ohne deutliche Schlüsse das Wahre, Gute und Schöne gleichsam fühlen."207 Der Geschmack ist damit wie bei vielen der früheren Autoren eine nicht auf Überlegung und Begriffe gestütze Erkenntnisinstanz, die schneller als der Verstand ihre Urteile fällt. Dennoch obliege es dem Verstand, die letztgültige Entscheidung zu treffen.208 Mendelssohn trennt auch, der eben zitierten Formulierung zum Trotz, die Verbindung von Gutem und Schönem. Er beobachtet, daß das ästhetische Vergnügen häufig durch unmoralische Gegenstände noch gesteigert werden kann. Somit muß er, so Amann, Moral und Geschmack, Ethik und Ästhetik voneinander trennen, um eine Verwässerung der Ethik zu verhindern und die Hierarchie der Erkenntnisvermögen zu erhalten.209 Dies habe zur Folge, daß ein moralischer Geschmack, wie er in der Geschmacksdiskussion häufig postuliert wurde, entfalle, während der ästhetische Geschmack eine stärkere Autonomie erhalte: Er sei nicht an den Wunsch gebunden, das Schöne zu besitzen. Lediglich der Wunsch nach Dauer des ästhetischen Erlebnisses, so ergänzt Nivelle, sei mit ihm verbunden.210
2. 11. Meier, Schlegel und der moralische Geschmack Auch Georg Friedrich Meier und Johann Adolf Schlegel beschäftigen sich mit der moralischen Seite des Geschmacks. Meier, der Baumgartenschüler, definiert „Geschmack" zunächst als das Vermögen, Schönheit und Häßlichkeit der Dinge zu
206 Mendelssohn, Moses: Verwandtschaft des Schönen und Guten In: Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bd. II. Bearbeitet von Fritz Bamberger. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile. (= Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. II). Stuttgart-Bad Cannstadt 1971, S. 179-185. Zur Datierung vgl. Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 235. 207 Mendelssohn, Verwandtschaft, S. 182. Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 235. 208 Vgl. Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 235. 209 Vgl. Amann, a. a. O., S. 235/236. 210 Vgl. hierzu Nivelle, Literaturästhetik 1974, S. 44.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
47
erkennen, geht jedoch darüber hinaus, wenn er ihm auch eine moralische Seite zuschreibt211. Schlegel geht einen Schritt weiter. In seinem Text „Von der Notwendigkeit, den Geschmack zu bilden"212 verweist er auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Gewissen und dem Geschmack: beide urteilen und vertreten dadurch den Verstand, beide seien schneller als dieser, denn weder prüfe das Gewissen moralische Vorschriften noch prüfe der Geschmack Vernunftbegriffe, und beide schließlich seien mit Gefühlen von Lust bzw. Unlust verknüpft. 213 Der Geschmack selbst beurteile nicht nur die „Schönheit der Kunstwerke nach ihrem Verhältnisse mit der Natur", sondern auch die „Wohlanständigkeit des Menschen nach dem Verhältnisse desselben zur Geselligkeit"214 Aber Geschmack allein reiche nicht aus, ebensowenig wie Gewissen, es werde vielmehr beides benötigt. Der Geschmack verleihe den abstrakten Geboten eine sinnliche Dimension, die es einfachen und wankelmütigen Menschen erleichtere, die Gebote zu befolgen.215 Die Kunst könne zwar moralische Lebensweisen fördern, aber auch das Gegenteil bewirken.
211 Meier, Georg Friedrich: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Nachdruck der Ausgabe Halle 1755. Hildesheim, New York 1976, S. 505. Vgl. hierzu Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 891. Die Definition von Geschmack als „diejenige Feinheit der Beurtheilungskraft, welche uns die Schönheiten empfindbar macht, daß wir sie nach allen ihren Graden in den verschiedenen Gegenständen richtig unterscheiden können", die Friedrich Vollhardt zitiert, ist an der bei Vollhardt angegebenen Stelle nicht nachzuweisen und war auch an anderer Stelle nicht aufzufinden. Auch Meiers Feststellung, durch den Geschmack könne „das Gemüth [...] zur Liebe der Tugend [...] vorbereitet, ja, ausnehmend vorbereitet [werden] [...]" konnte an der angegebenen Stelle nicht gefunden werden. Vgl. hierzu Vollhardt, Friedrich: Die Grundregel des Geschmacks. Zur Theorie der Naturnachahmung bei Charles Batteux und Georg Friedrich Meier. In: Verweyen, Theodor/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung Tübingen 1995, S. 33. 212 Schlegel, Johann Adolf: „Von der Notwendigkeit, den Geschmack zu bilden" In: Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger Abhandlungen versehen von Johann Adolf Schlegeln, ZweyterTheil 3. Aufl., Leipzig 1770, S. 55 - 78. 213 Schlegel, Notwendigkeit 1770, S. 56/57. Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 237/238. 214 Schlegel, Notwendigkeit 1770, S. 56/57. Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 237. 215 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 237/238.
48
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Geschmack und Gewissen müßten zwar zusammenwirken, seien aber keinesfalls ein und dasselbe.216 2. 12. Immanuel Kant und die Möglichkeit des ästhetischen Urteils Immanuel Kant und seine „Kritik der Urteilskraft" als Teil der Geschmacksdiskussion zu behandeln, ihn gar als ihren Endpunkt hervorzuheben, wie dies in der begriffsgeschichtlichen Literatur meist getan wird217, ist angesichts der Thematik seines Textes problematisch, wenn nicht sogar unmöglich. War es den Geschmackstheoretikern in ihrer Debatte primär darum gegangen, die Bedingungen einzelner Geschmacksurteile und ihre Relationen zueinander zu bestimmen, so geht es Kant um die prinzipielle Möglichkeit des Geschmacksurteils überhaupt. Der Versuch, die „Kritik der Urteilskraft" im Sinne einer Kunsttheorie oder einer Theorie der Rezeptionsästhetik zu lesen, ist denn auch zum Scheitern verurteilt. Dies wurde auch im 18. Jahrhundert nicht anders gesehen. Wilhelm Amann hat in seiner 1999 erschienenen und bereits mehrfach zitierten Arbeit „Die stille Arbeit des Geschmacks" eindrucksvoll gezeigt, wie Schiller Kants Überlegungen aufgreift und dann mit der Geschmacksdiskussion verknüpft. Dies ist allerdings kein Z#r«ivfegreifen auf wrkantische (geschmacksdidaktische) Traditionen — so beschreibt es Amann —, denn in diesem Fall müßte man die „Kritik der Urteilskraft", die eine solche Formulierung als eine Art Wasserscheide in der Geschmacksdiskussion charakterisiert, als Teil der Geschmacksdiskussion betrachten, sondern ein vollkommen selbstverständliches IPV/ferfuhren der auch durch Kant nie unter- oder abgebrochenen Diskussion, angeregt durch neue Überlegungen, die aber von außerhalb dieser Diskussion stammen: Kant nimmt eben nicht Bezug auf Geliert, Winckelmann, Gottsched, Bodmer oder König.2,8 Dies steht für Schiller auch außer Frage. Er weiß, daß Kants Überlegungen nicht wie die anderer Theoretiker praktisch anwendbar sind, es auch nicht sein sollen, und muß sie deshalb erst selbst in diesem Sinne umformen, um sie, nun als seine eigenen geschmacksdidaktischen
216 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 239/240. 217 Die Endstellung wird ihm in der Forschungsliteratur schon traditionell zugeschrieben. Diese Tradition läßt sich wohl durch die unumgängliche Bezugnahme auf Baeumlers Buch „Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft" erklären, dessen teleologische Ausrichtung auf Kant zwar oft kritisiert wurde, aber nie wirklich aus der begriffsgeschichtlichen Literatur zu „Geschmack" verschwunden ist. 218 Auch wenn er bisweilen in Fußnoten auf andere Texte Bezug nimmt, so bleibt die doch die Ausnahme.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
49
Beiträge einer zu diesem Zeitpunkt auch ohne das Zutun von Immanuel Kant schon etwas erschlafften Geschmackdisskussion zuzuführen. Wenn dennoch Kants „Kritik der Urteilskraft" hier als letztes Werk besprochen wird, so nur deshalb, weil dies, wie bereits angesprochen, eine Tradition in der begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion ist, und hier, wie eingangs erwähnt, die Darstellung dieser Aufarbeitung im Vordergrund steht und nicht die der Diskussion selbst. Wie bereits angedeutet, geht es Kant um die Bedingungen der Möglichkeit von Geschmacksurteilen überhaupt. Fest stehen fur ihn, so Gadamer, die empirische Verschiedenheit der Geschmacksurteile und die Tatsache, daß diese nicht durch rational begründbare Argumente gestützt werden können. 219 Fest stehe aber auch, daß es zum Wesen des Geschmacksurteils gehöre, daß es Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebe.220 Kant stellt diesen Widerspruch, die „Antinomie des Geschmacks", durch die Gegenüberstellung der beiden Sätze „über Geschmack kann man streiten" vs. „über Geschmack kann man nicht streiten" dar und versucht, diese Antinomie aufzulösen.221 Kant, so führen Scheible und Plumpe aus, scheidet zunächst das Angenehme vom Schönen. Das Angenehme sei im Gegensatz zum Schönen mit einem weitergehenden Interesse des Subjekts am Gegenstand verbunden, es sei daher rein individuell, und ein Urteil über das Angenehme mache keinen Anspruch auf Zustimmung anderer. 2 2 2 Kant, so führt Amann weiter, unterscheide dementsprechend Sinnengeschmack und Reflexionsgeschmack: Der Sinnengeschmack sei auf das Angenehme gerichtet, mit ihm sei ein Interesse am Gegenstand verbunden. Kant scheide diesen Geschmack aus dem Bereich der ästhetischen Wertung aus. Der Reflexionsgeschmack andererseits transzendiere die rein subjektive Ebene. An ihm sei zwar ein Gefühl der Lust oder Unlust beteiligt, aber dieses sei eine Lust an der Reflexion, nicht am Gegenstand.223 Durch die
219 Vgl. hierzu Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 48. 220 Vgl. hierzu Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 49. 221 Kant, Immanuel: Kritik der Urtheilskraft. In: Kant, Immanuel: Kant's gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Werke. Fünfter Band. Berlin 1908, §§ 56 und 57. 222 Vgl. hierzu Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 107 und Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Bd. I: Von Kant bis Hegel. Opladen 1993, S. 54. KU, § 12, S. 212/213. 223 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 32/33.
50
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Verwechslung von Sinnengeschmack und Reflexionsgeschmack sei der Streit um den Geschmack erst entstanden.224 Interesse ist nach Kant „jenes Wohlgefallen [...], das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden"225. Beim ästhetischen Urteil, so fuhrt Plumpe aus, müsse der Gegenstand selbst oder zumindest eine Vorstellung von ihm zwar präsent sein, darüber hinaus sei dem Betrachter dessen Existenz aber gleichgültig.226 Das reine Geschmacksurteil sei vom praktischen Interesse an der Existenz der Dinge frei, es ist weder an Begriffe noch an ein Begehren geknüpft.227 Daraus folgt zunächst, so Laermann und Gadamer, daß der Geschmack kein Erkenntnisvermögen ist: da er nicht an Begriffe gebunden sei, werde von den Gegenständen nichts erkannt.228 Ihnen enstspreche lediglich ein Gefühl der Lust oder Unlust. Damit steht Kant nach Laermanns Einschätzung zunächst auf der Seite eines radikalen Subjektivismus: so sei Schönheit auch keine Eigenschaft des Gegenstandes, „schön" beschreibe vielmehr die Reaktion des Betrachters.225 Doch anders als einige der Geschmackstheoretiker benötigt Kant die Beteiligung der Vernunft und ihrer Begriffe nicht, um den Anspruch des Geschmacksurteils auf Allgemeingültigkeit zu begründen. Das Geschmacksurteil ist zwar individuellsubjektiv, vor allem durch das mit ihm verbundene Gefühl der Lust oder Unlust, da dies jedoch keine mit dem Gegenstand verbundenen Gefühle sind, urteilt man gleichsam nicht-subjektiv. Das Geschmacksurteil drücke, so der ÄGB-Artikel,
224 Vgl. hierzu Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 32/33. 225 KU, §2. 226 Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 52. 227 Vgl. zur Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens Freier, Kritische Poetik 1973, S. 133, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 453, Laermann, Klaus: Kants Theorie des Geschmacks. In: Arntzen, Helmut/Bernd Balzer/Karl Pestalozzi/Rainer Wagner (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich. Berlin, New York 1975, S. 104, Kohler, Georg: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft". (= Kantstudien. Ergänzungshefte 111) Berlin, New York 1980, S. 208 - 218, Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 108/109, Kutschera, Franz von: Ästhetik. Berlin, New York 1988, S. 136 und S. 152, Fick, Monika: Art. „Geschmacksurteil". In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. III, Eup - Hör. Tübingen 1996, Sp. 904 und Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 805. Kant, KU § 2, S. 204/205. 228 Vgl. hierzu Laermann, Kants Theorie des Geschmacks 1975, S. 104, Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 49, sowie Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 805. 229 Vgl. hierzu Laermann, Kants Theorie des Geschmacks 1975, S. 105 sowie Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 52/53 und Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 804.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
51
„...nur solche Elemente der Person [aus], die überindividuellen Charakter haben" 230 . Doch welche Elemente sind dies? Kant spricht im Zusammenhang mit den unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtbaren und daher als schön zu bezeichnenden Gegenständen von einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck"231. Plumpe macht darauf aufmerksam, daß Zwecke bei Kant jedoch rational vermittelte Eigenschaften seien, die durch den Verstand erkannt würden.232 Werde also ein Gegenstand im Hinblick auf seinen Zweck betrachtet, so seien stets Begriffe im Spiel, die Erkenntnis sei somit auf die rationale Vorgehensweise festgelegt.233 Das widerspricht jedoch der Funktionsweise des Geschmacks. Das ästhetische Urteil könne daher kein Urteil über eine spezifische Zweckmäßigkeit sein, da dies dem Gebot der Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens widerspräche. Dennoch spricht Kant von einer Zweckmäßigkeit im ästhetischen Urteilsvorgang. Die Lösung, so führen Lüthe und Fontius im AGBArtikel aus, liege darin, daß das Geschmacksurteil kein Urteil über eine spezifische Zweckmäßigkeit sei, sondern über Zweckmäßigkeit überhaupt.234 Wiederum zeigt sich, daß wir durch die ästhetische Wahrnehmung nichts über den Gegenstand selbst erfahren. Den zur ästhetischen Wahrnehmung geeigneten Gegenständen wohnt also eine Zweckmäßigkeit inne. Doch worauf richtet sich diese Zweckmäßigkeit? Die Antwort auf diese Frage liegt in den bereits angesprochenen überindividuellen Elementen der Persönlichkeit. Kants These ist es, so auch Scheible und Plumpe, daß die vielfältigen Möglichkeiten und Instrumente der Erkenntnis in der ästhetischen Wahrnehmung derart angeordnet sind, daß keine Fesdegung auf eine bestimmte Art der Erkenntnis stattfindet.235 Kant nennt dies das „freie Spiel der Erkenntniskräfte"236. Obwohl kein Begriff im Spiel sei, der die Erkenntnis auf eine der möglichen Arten fesdegen würde, bringe das freie Spiel dennoch ein Urteil
230 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 805. 231 Vgl. hierzu UK, §§ 10 und 11, S. 219 - 221. 232 Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 60. Köhler stellt ein Schema der Bedeutungen von „Zweckmäßigkeit" bei Kant zusammen: Köhler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung 1980, S. 234 und weiter, S. 158 - 166 und S. 235 - 237. 233 Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 60 sowie Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: A G B 2001, S. 805. 234 Vgl. Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 805. 235 Vgl. hierzu Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 111 und Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 57 - 60. KU, § 9, S. 216 - 219 und § 35, S. 286/287. 236 KU, §9, S. 216 - 219. Kohler macht auf Bedeutungsschwankungen dieses Ausdrucks aufmerksam: Köhler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung 1980, S. 177 - 184.
52
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
hervor; das jedoch nicht auf tatsächlicher Erkenntnis beruhe, sondern lediglich erkenntnisanalog sei.237 Diese Analogie sei bedingt durch den harmonischen Ausgleich von Sinnlichkeit und Verstand, durch den die Sinne ihre Rohhheit verlören und dem Verstand gewissermaßen ankultiviert würden.238 Dies geschehe durch den Gleichklang der verschiedenen Erkenntniskräfte im freien Spiel. Die besondere Konstellation der Erkenntniskräfte, aus der allen Menschen ein Wohlgefallen erwachse, ermögliche einen Konsens in Geschmacksdingen: dieses Wohlgefallen sei mitteilbar.239 Wir lemen daher, so Lüthe/Fontius, aus dem Geschmacksurteil auch nichts über das Subjekt, jedenfalls nicht über das Subjekt als Individuum, sondern lediglich über das Subjekt „[...] als Teilhaber an der > Subjektivität überhauptC."240 Die Zweckmäßigkeit der für die ästhetische Wahrnehmung geeigneten Gegenstände liege denn auch darin, daß sie geeignet seien, das freie Spiel der Erkenntniskräfte im Subjekt auszulösen.241 Nun läßt sich auch die Gruppe derjenigen Gegenstände definieren, die zu einer ästhetischen Wahrnehmung überhaupt geeignet sind, denn, wie Freier betont, kann ja prinzipiell jeder Gegenstand zum Objekt interesseloser Anschauung werden.242 Kant verweise auf zwei Gruppen von Gegenständen: Die Gegenstände der Natur, die so eingerichtet seien, daß sie ein freies Spiel motivieren, ohne daß dieses tatsächlich zur Erkenntnis des ihnen innnewohnenden Zwecks führen würde und die eigens dafür
237 Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 57 - 60. 238 Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 57. 239 Vgl. hierzu und zum ganzen Komplex Laermann, Kants Theorie des Geschmacks 1975, S. 105/106, Kutschera, Ästhetik 1988, S. 136, Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 57/58, Fick, „Geschmacksurteil" In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 904, Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 804. 240 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: ÄGB 2001, S. 805. Lüthe und Fontius machen in diesem Zusammenhang auf die Parallelen zur „human nature" der Schottischen Aufklärung, insbesondere zu Shaftesbury und Hume aufmerksam. Diese hatten eine „common nature" postuliert, eine Gemeinsamkeit aller Menschen, die es nicht erlaube, daß die Geschmacksverschiedenheiten eine bestimmte Variationsbreite überschreiten. Vgl. zu Shaftesbury: Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 449, Kutschera, Ästhetik 1988, S. 131, Solms, Frühgeschichte 1990, S. 85, Amann, „Die stille Arbeit des Geschmacks" 1999, S. 206 - 216. Vgl. zu Hume: Cassirer, Philosophie der Aufklärung 1998, S. 410 - 412, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 450, Kondylis, Aufklärung 1981, S. 321 und Kutschera, Ästhetik 1988, S. 132, Solms, Frühgeschichte 1990, S. 86. 241 Vgl. hierzu auch Kohler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung 1980, S. 237 - 240. 242 Freier, Kritische Poetik 1973, S. 134.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
53
geschaffenen Werke der Kunst. In allen Bereichen außerhalb der Kunst sei das Schöne allenfalls Nebenprodukt.243 Die Lust, die im freien Spiel der Erkenntniskräfte entsteht, ist also mitteilbar, da sie auf allgemein menschlichen Dispositionen beruht. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils beruht also auf seiner Mitteilbarkeit: Weil es in dem gegründet sei, was allen gemein ist, könne man von anderen ein ähnliches Urteil erwarten, so wieder Lüthe/Fontius. Das Geschmacksurteil sei demnach nicht objektiv, aber intersubjektiv, der Geschmack wird zum sensus communis.244 Er sei ein sozialer Sinn: ohne die Gesellschaft sei Geschmack nicht möglich. Ein völlig einsamer Mensch, so referiert Schümmer Kant, käme nicht auf die Idee, sein Haus zu schmücken.245 Das Wohlgefallen am Schönen könne nur der genießen, der es auch mitteilen könne.246 Mit dieser Begründung des Anspruchs auf Allgemeingültigkeit kann Kant die reine Subjektivität des Geschmack überwinden, ohne sie jedoch ganz aufzugeben und dem Geschmack Autonomie zugestehen, so daß das Schöne nicht wieder auf ästhetische Regeln zurückgeführt werden muß. Kant macht dadurch eine dogmatische Ästhetik im Sinne Gottscheds unmöglich, hält aber gleichzeitig die Möglichkeit eines Konsenses offen, umso mehr als der Unterschied zwischen Laienurteil und Expertenurteil durch die Autonomie des Geschmacks, seine Loskoppelung vom Begriffssystem des Verstandes also, aufgehoben ist. Dies beschränkt sich jedoch auf den Bereich des reinen Geschmacksurteils. Das Feld der
243 Vgl. hierzu Freier, Kritische Poetik 1973, S. 134, Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 61 und Fick, „Geschmacksurteil" In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 904. KU, S. 229 - 231. Dementsprechend scheidet Kant auch zwischen freier und anhängender Schönheit (KU, §16): Mit einem Gegenstand, dem die Schönheit nur anhänge, sei immer ein Zweck, also auch ein Begriff verbunden. Jedes Geschmacksurteil, daß nicht auf freie Schönheit (also etwa auf ein Kunstwerk) gerichtet sei, sei daher notwendig eingeschränkt. Dennoch werde einem solchen Gegenstand - Kant dient der tätowierte Mensch als Beispiel (KU, S. 230) - die Schönheit nicht abgesprochen, auch das ästhetische Urteil bleibe möglich, denn wo das Ästhetische des Gegenstandes seinem Zweck nicht widerspreche, da könnten die Erkenntniskräfte im freien Spiel zusammentreffen und das Gefühl der Lust entstehen, aufgrund dessen der Geschmack urteile. Vgl. hierzu Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 50 - 52 und Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 62. 244 Vgl. hierzu auch Köhler, Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung 1980, S. 261 - 265 und weiter bis S. 268. 245 Vgl. hierzu Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 452. 246 Vgl. hierzu auch Laermann, Kants Theorie des Geschmacks 1975, S. 107, Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 131 - 133 und S. 161 - 163 sowie Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 805.
54
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Bildung, das das Feld der Vernunft ist, auf dem der Kenner natürlich einen Vorsprung hat, bleibt davon unberührt. Die Darstellung des Geschmacks bei Kant wäre unvollständig, würde man nicht auf den moralischen Aspekt der Geschmackskategorie eingehen. Kant, so Plumpe, sehe zwar keinen Zusammenhang zwischen Geschmack und Moral, die Trennung zwischen beiden, die sich bereits in der Geschmacksdiskussion abgezeichnet hatte, sei bei ihm vollzogen247. Dennoch seien sich beide Bereiche nahe. So enthalte das Wohlgefallen am Naturschönen eine moralische Komponente, indem nur derjenige ein solches empfinden könne, der ein sittliches Gefühl entwickelt habe.248 Damit werde das Schöne zum Symbol des Sittlichen: wer moralisch denke, könne auch die Schönheit klar empfinden. 249 Scheible macht auf die strukturellen Ähnlichkeiten von Geschmacksurteil und moralischem Urteil aufmerksam250: 1. Das Schöne gefällt unmittelbar, das Sittliche ebenso, ist aber an Begriffe geknüpft. 2. Das Schöne gefällt ohne alles Interesse, das Sittliche zwar nicht, aber hier folgt das Interesse dem Wohlgefallen, nicht umgekehrt. 3. Die Freiheit der Einbildungskraft wird im ästhetischen Urteil als mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes einstimmig vorgestellt, „im moralischen Urteil wird die Freiheit des Willens als Zusammenstimmung des letzteren mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftgesetzen gedacht"251. 4. Das subjektive Prinzip des Geschmacksurteils ist allgemeingültig, stützt sich aber nicht auf Begriffe, das objektive Prinzip der Moralität erhebt, obzwar auf Begriffe gegründet, ebenfalls Anspruch auf Allgemeingültigkeit.252 Wo sich Geschmack und Moral nahe sind, da ist das geschmackvolle Äußere also Symbol des Sittlichen. Der Geschmack wird damit zur Moralität in der äußeren
247 So gesteht er zu, daß eine Sache gleichzeitig schön und moralisch verwerflich gefunden werden könne. Vgl. hierzu Plumpe, Ästhetische Kommunikation 1993, S. 53. 248 Auf diesen Aspekt macht Gadamer aufmerksam. Vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode 1990, S. 56. 249 Vgl. zu Kant Konzept des Schönen als Symbol des Sittlichen Freier, Kritische Poetik 1973, S. 145, Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 453 und Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 148 - 150. 250 Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 149. 251 Scheible, Wahrheit und Subjekt 1984, S. 149. 252 Hauptunterschiede sind das Fehlen des Interesses beim (reinen) Geschmacksurteil und die Gründung auf Begriffe des Urteils über das Gute. Vgl. hierzu Guyer, Paul: Kant and the claims of taste. Harvard 1979, S. 377/378.)
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
55
Erscheinung. Geschmacksbildung, das betont Schümmer, bedeute daher auch, den Menschen für seine gesellschaftliche Position gesittet zu machen. 253 2. 13. Das Ende des Geschmacksdiskurses Nach Kant nimmt der Umfang der Literatur zum Thema „Geschmack" spürbar ab. Im Jahre 1845 veröffentlicht Theodor Mündt eine Ästhetik, die vollkommen ohne das Wort auskommt.254 Obwohl dieses wortgeschichtlich sehr wichtige Faktum von der Begriffsgeschichte offensichtlich übersehen wurde, kommt auch sie zu gleichen Ergebnissen: Das Historische Wörterbuch der Philosophie konstatiert eine sinkende Relevanz der Geschmackskategorie vor allem bei Friedrich Schlegel, Schopenhauer und Hegel.255 Für Goethe und vor allem Schiller hat die Kategorie noch ihr volles Potential, danach jedoch wird der Geschmack „als Erkenntnisorgan aus der Kunstkritik verbannt."256 Mehrere Ursachen hierfür werden angegeben, so etwa die „neue Lehre von der künstlerischen Schöpfung und der Rolle der Einbildungskraft, wie sie namentlich von den Romantikern entwickelt wurde."257 Differenzierter äußert sich das AGB. Hier werden drei Ursachen für den Niedergang der Geschmackskategorie angegeben: - Kunst werde im 19. Jahrhundert endgültig als zeitbedingt aufgefaßt. Die Folge sei eine Relativierung des Geschmacks, die seine theoretische Fassung im Sinne der klassizistischen Kunsdehre unmöglich mache.258 - Der Aufstieg von Genie und Originalität (also Individualismus) lasse den Geschmack als veralteten Traditionalismus erscheinen.259
253 Vgl. hierzu Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 453. 254 Mündt, Theodor: Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit. Faksimiledruck nach der ersten Auflage von 1845. Mit einem Nachwort von Hans Düvel. Göttingen 1966. 255 Vgl. hierzu Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 454. 256 Fick, „Geschmacksurteil" In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 905. 257 Fick, „Geschmacksurteil" In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 905. 258 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 808/809. Hier finden sich auch zeitgenössische Belege für diese Aussage. 259 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 808 und 810. Hier findet sich auch Fichtes Aussage, jedes Werk, das entstehe, müsse sich sein Publikum erst erziehen, es könne daher gar nicht von Anfang an angemessen beurteilt werden.
56
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
- Die Verachtung der Künstler fur den bürgerlichen Geschmack stehe im Widerspruch zu den ästhetischen Vorstellungen des Publikums.260 Doch auch das Historische Wörterbuch der Rhetorik weist auf einen spezifischen Grund hin: der Gegensatz zwischen Genie und Geschmack, der dem frühen 18. Jahrhundert gänzlich unbekannt gewesen sei, breche im Sturm und Drang auf. Das Genie beginne, sich selbst als Gegenpol des Geschmacks zu sehen und begehre gegen diesen auf.261 Das Bürgertum, das sich eben noch der Geschmackskategorie bedient habe, um mit ihrer Hilfe Standeshierarchien aufzuweichen, und sich in ästhetischen Dingen dem Adel anzugleichen, sei zum Gegner geworden. Gegner ist es auch noch für Nietzsche, gemeinhin der jüngste Autor, auf den in der Begriffsgeschichte aufmerksam gemacht wird, bevor der Geschmack, so die einhellige Meinung, im 20. Jahrhundert vollends der totalen Subjektivierung anheim falle.262 Nietzsche, folgt man dem Historischen Wörterbuch der Philosophie, verknüpfe den Geschmack mit dem Charakter: Beide sollten der schlechten Massenkunst standhalten. Nur die Einzelnen, Mächtigen zählten, diejenigen, die ihre Geschmacksurteile offen und mutig aussprächen.263 Ahnlich äußert sich auch das ÄGB: Nietzsche beklage, daß das von der Kunstentwicklung überforderte Publikum
260 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: ÄGB 2001, S. 808. Diese These kann durch die Beobachtung gestützt werden, daß sich in der Textsammlung Friedmar Apels zur romantischen Kunsdehre kaum ein Beleg für „Geschmack" findet. Vgl. hierzu Apel, Friedmar (Hrsg.): Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik (= Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. IV). Frankfurt am Main 1992. 261 S. Fick, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1996, Sp. 893/894. Vgl. hierzu auch Gabler, Geschmack und Gesellschaft 1982, S. 169, sowie Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750 -1945. Bd. I Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 2. durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, S. 78 91. 262 Vgl. hierzu stellvertretend Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: ÄGB 2001, S. 811. Lüthe und Fontius machen jedoch darauf aufmerksam, daß das eigentliche Problem des ästhetischen Urteils auch im 20. Jahrhundert noch nicht gelöst sei, und nennen auf S. 812 - 817 weitere Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigten. Daß die Meinung, sich mit dem Geschmack über Nietzsche hinaus nicht mehr beschäftigen zu müssen, sehr weit verbreitet ist, läßt sich an zahlreichen Lexikoneinträgen ablesen, so etwa im Lexikon der Kunst. Neubearbeitung. Bd. II, Leipzig 1989. Nachdruck München 1996, S. 719, das sogar früher abbricht, oder im dtv-Lexikon in 20 Bänden. Bd. VI Fli - Gev, München 1999, 317. 263 Vgl. hierzu Stierle/Klein/Schümmer, Artikel „Geschmack". In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1974, Sp. 455.
C. I. Die Geschmacksdiskussion des achtzehnten Jahrhunderts im Spiegel der Begriffsgeschichte
57
das Mittelmäßige bevorzuge. Das Individuum solle daher gegen die starren Konventionen der Mittelmäßigkeit aufbegehren.264 Damit sind wir am Ende der Darstellung der Geschmacksdiskussion im Lichte der Begriffsgeschichte angekommen. Bereits jetzt, noch vor der Analyse der begriffsgeschichtlichen Methode, lassen sich erste Erkenntnisse formulieren. Es zeigt sich zunächst, daß die Forschung zum Geschmack sich über ihren Gegenstand offenbar sehr einig ist. Es scheint kaum größere Streitpunkte zu geben; wenn man in einigen Punkten uneins ist, so liegen diese meist am Rande des Themas, wie etwa die Diskussion Freiers, Gablers und Frackowiaks über die Herkunft der Geschmackskategorie. Über die von einzelnen Theoretikern vertretenen Positionen herrscht weitgehend Einigkeit. Meist werden deren Texte vor allem referiert, Einordnungen in größere Zusammenhänge bleiben leider, auch wenn sie nicht selten sind, oft knapp. Auch scheint man sich über die zu analysierenden Texte verständigt zu haben, kaum einmal durchbricht einer der Autoren den Reigen von Thomasius, König, Gottsched und den anderen. Dabei zeigen die bibliographischen Listen, die sich etwa bei den Zeitgenossen Walch und Sulzer finden265, daß der Umfang der Literatur zum Geschmack weit größer war, als dies die Arbeiten der Begriffsgeschichte ahnen lassen. Begründungen für eine solche Selbstbeschränkung finden sich jedoch nicht. Diese Probleme sind in erster Linie methodisch begründet. Deshalb ist es notwendig, vor einer Zusammenstellung kritischer Punkte die Vorgehensweise der Begriffsgeschichte genauer zu betrachten.
C. II. Kritik der begriffsgeschichtlichen Methode Der Geschmacksbegriff des 18. Jahrhunderts ist von der Begriffsgeschichte gerade in den letzten Jahren häufig untersucht worden. Hierbei ließ sich beobachten, daß es innerhalb der Forschung zum Geschmack kaum noch größere Streitpunkte gibt. Die jüngste Auseinandersetzung betraf die Kontinuität bestimmter, für den
264 Lüthe/Fontius, Artikel „Geschmack". In: AGB 2001, S. 811. 265 Vgl. hierzu Walch, Philosophisches Lexicon 1775/1968, S. 1652, Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Reprographischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792 (Bd. I/II): 1970 (Bd. I) und 1967 (Bd. II), 1793 (Bd. III): 1967,1794 (Bd. IV): 1967 und 1799 (Bd. V (Register)): 1967. Bd. III, S. 377 - 385.
58
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
Geschmacksbegriff relevanter Charakteristika seit der Antike und wurde vornehmlich von Gabler, Frackowiak und anderen ausgetragen, die der älteren Forschungsmeinung, der Geschmacksbegriff habe sich in der Auseinandersetzung französischer Literaturtheoretiker mit dem Gracianschen „gusto" gebildet, entgegentraten. Trotz des Eindrucks, auf dem Feld der Erforschung des Geschmacks herrsche Einmütigkeit, wirft die Begriffsgeschichte als Methode doch einige Probleme auf. Um zu klären, ob eine weitere Untersuchung zu „Geschmack" sich dieser Methode ebenfalls bedienen kann, müssen diese Probleme zunächst erörtert werden. Wir hatten eingangs von Kapitel C. festgehalten, daß seit dem Beginn der 80er Jahre die Begriffsgeschichte die herrschende Methode in der Geschmacksforschung darstellt. Zahlreiche Arbeiten zum Thema berufen sich mehr oder weniger explizit auf diese Methode oder kennzeichnen „Geschmack" als „Begriff. Dies wirft zunächst die Frage auf, was die Begriffsgeschichte unter „Begriff versteht266, spezifischer formuliert, mit welchem Begiiffsbegriff die Geschmacksforschung operiert. Sucht man jedoch nach Antworten auf diese Frage, so wird man nur schwer fündig. Selbst wenn eine Untersuchung ein Methodikkapitel aufweist — und das kann nicht von allen behauptet werden —, so sucht man meist vergeblich nach einer Bestimmung des verwendeten Begriffsbegriffes. Ute Frackowiak etwa, die ihrer ansonsten äußerst bereichernden Arbeit ein Kapitel zur „Begriffsgeschichte als Methode" voranstellt267, in dem sie auch auf einige Merkmale von Begriffen eingeht, bietet keine Definition oder Erläuterung von „Begriff. Frackowiaks Arbeit bildet damit jedoch keine Ausnahme. Deshalb scheint zunächst einiges dafür zu sprechen, daß in der begriffsgeschichtlichen Forschung zu „Geschmack" die Meinung vorherrscht, es sei nicht oder nicht mehr notwendig, „ B e g r i f f zu bestimmen, die reine Erwähnung der Begriffsgeschichte als methodischen Hintergrund reiche vielmehr aus, da diese einen Begriffsbegriff anbiete, der ausreichend definiert sei. Dem ist jedoch nicht so. Richard L. Schwartz versuchte 1983, dem „Begriff des Begriffes in der philosophischen Lexikographie" auf die Spur zu kommen.268 Zu diesem Zweck stellte er zunächst verschiedene Begriffslehren vor: die
266 Tatsächlich ist bereits allein die Benennung für das hier als „Begriff' Bezeichnete umstritten. Karin Böhe schildert die terminologischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung und Differenzierung der Ausdrücke „Schlagwort", „Leitvokabel", „Schlüsselwort", „Fahnenwort" etc. anhand einschlägiger Literatur. Böhe, Karin/Frank Liedtke/Martin Wengeler: Politische Leitvokabeln in der AdenauerÄra. Mit einem Beitrag von Dorothee Dengel. (= Sprache. Politik. Öffentlichkeit, Bd. VIII). Berlin, New York 1996., S. 32 - 35. 267 Vgl. hierzu Frackowiak, Der gute Geschmack 1994, S. 11 - 14. 268 Schwartz, Richard L.: Der Begriff des Begriffes in der philosophischen Lexikographie. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte. München 1983.
C. II. Kritik der begriffsgeschichdichen Methode
59
psychologistische, die formalistische und die historische. Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß der Begriff innerhalb der psychologistischen Begriffslehre durch seine „Konstanz", seine „durchgängige feste Bestimmtheit" sowie durch die „Sicherheit und Allgemeingültigkeit seiner Wortbezeichnung" gekennzeichnet sei.269 All dies sind Kennzeichen, die dem Geschmacksbegriff von der Begriffsgeschichte keineswegs zugesprochen werden. 270 Interessanter ist die Bestimmung der formalistischen Begriffslehre: Ihr zufolge, so Schwartz, könne alles Begriff sein, denn ein Begriff sei die „gedankliche Widerspiegelung einer Klasse von Individuen oder von Klassen auf der Grundlage ihrer invarianten Merkmale, d. h. Eigenschaften oder Beziehungen"271. Der Begriff, so Schwartz weiter, sei folglich die Grundlage des rationalen Denkens überhaupt. Die „sprachliche Existenzform des Begriffes ist das Wort, doch ist ist [sie] das Verhältnis von Wort und Begriff keineswegs eindeutig."272 Die historische Begriffslehre schließlich sehe im Begriff „das bei einem Wort Gedachte", eine Synthese „von Merkmalen, die in gewisser Beziehung zueinanderstehen [sie] und durch das Allgemeine oder 'Wesen' eines einzelnen Gegenstandes flndividualbegriff) oder einer Klasse von Gegenständen ('Allgemeinbegriff) bestimmt wird."273 Die Darstellung bei Schwartz — und es könnten weitere hier genannt werden — zeigt zunächst, daß verschiedene Disziplinen verschiedene Begriffsbegriffe hervorgebracht haben. Die Begriffsgeschichte hätte also einen dieser klassischen Begriffsbegriffe übernehmen können. Doch das ist aus zwei Gründen nicht möglich: All diese Theorien sehen in Begriffen entweder psychische Instanzen oder sie betonen, daß Begriffe das „Wesen eines Gegenstandes" repräsentieren. Sind Begriffe aber psychische Instanzen, so sind sie zum einen individuell, also für eine historische Betrachtung nur dann interessant, wenn ihr Interesse den Begriffen einer Einzelperson gilt274. Gravierender ist jedoch zum anderen, daß sie dann nicht mehr analysierbar sind, denn welche Analysemethode sollte es ermöglichen, einzelne psychische Instanzen einer historischen, also meist verstorbenen Person zu untersuchen? Wird aber jeder Gegenstand im Bewußtsein durch einen Begriff repräsentiert, so hat ein begriffsgeschichtliches Lexikon sämtliche Begriffe zu
269 Vgl. hierzu Schwartz, Der Begriff des Begriffes 1983, S. 83. 270 Vgl. hierzu S. 5. 271 Klaus, Georg/Manfred Buhr; Philosophisches Wörterbuch. Bd. I, A - Konditionalitätsprinzip. 7., berichtigte Auflage, Leipzig 1970, S. 178 - 180, v. a. S. 178. Vgl. hierzu Schwartz, Der Begriff des Begriffes 1983, S. 99. 272 Schwartz, Der Begriff des Begriffes 1983, S. 99. 273 Schwartz, Der Begriff des Begriffes 1983, S. 115. 274 Vgl. hierzu auch Busse, Dietrich: Historische Semantik. Analyse eines Programms (= Sprache und Geschichte 13). Stuttgart 1987, S. 80.
60
C. Die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Geschmacksdiskussion
verzeichnen, die in dem thematischen Feld, das das Lexikon aufarbeitet, eine Rolle spielen, unabhängig davon, ob man der Uberzeugung ist, daß alle Gegenstände durch ihre sprachlich-kognitive Erfassung erst konstituiert werden oder aber autonom existieren.275 Keines der vielen begriffsgeschichtlichen Lexika tut dies jedoch. Vielmehr wird in allen diesen Werken offensichtlich eine Auswahl getroffen. Die „Geschichtlichen Grundbegriffe"276 etwa versammeln nur ganz bestimmte Begriffe, andere werden weggelassen. So findet sich etwa „Revolution" oder „Arbeiter", nicht jedoch „Kutsche" oder „Automobil". Die meisten der in begriffsgeschichtlichen Lexika verzeichneten Begriffswörter sind Substantive, von denen wiederum die meisten Abstrakta sind. Warum ist das so? Die Auswahlkriterien müssen mit einem spezifischen Begriffsbegriff zusammenhängen, der, dies geht aus unseren Überlegungen deutlich hervor, von den klassischen
275 Die Möglichkeit einer Auswahl der Stichbegriffe nach anderen Kriterien bliebe dabei natürlich erhalten. 276 Brunner, Otto/Werner
Conze/Reinhart
Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche
Grundbegriffe.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1972ff.
C. II. Kritik der begriffsgeschichtlichen Methode
61
Begriffsbegriffen verschieden ist. 277 Betrachten wir also einige ausgewählte Beispiele v o n Definitionen. Reinhart Koselleck definiert „ B e g r i f f ' 1 9 7 2 folgendermaßen: „[...] die gesellschaftlich-politische Terminologie der Quellensprache kennt eine Reihe von Ausdrücken, die sich auf Grund quellenkritischer Exegese definitorisch als Begriffe herausheben lassen. Jeder Begriff hängt an einem Wort, aber nicht jedes Wort ist ein sozialer und politischer Begriff. Soziale und politische Begriffe enthalten einen
277 Die ausgewählten Begriffe als „Grundbegriffe" zu bestimmen, verschiebt das Problem lediglich. Der Terminus „Grundbegriffe" wird zwar - meist vage - definiert, etwa als „Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung" (Koselleck, Reinhart: Einführung. In: Brunner, Otto/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, A - D. Stuttgart 1972, S. XIII) oder als „besonders zentrale Ausdrücke [...], die soziale oder politische Inhalte haben" (Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1984, S. 114). Das Handbuch philosophischer Grundbegriffe definiert: „In der skizzierten Perspektive sind unter »philosophischen Grundbegriffen „sinnlich"). Diese Form der Morphemanalyse kann daher allenfalls einen Hinweis auf eine mögliche Bedeutung erbringen, b) „nach oben" Gemeint ist die Bedeutungserschließung aus dem Nest der zugehörigen Wortbildungen. Die vermutete Bedeutung wird im Wortbildungsnest256 gesucht. Existiert sie dort, so kann dies die eigene Bedeutungsansetzung stützen.257 (Bsp.: „Gelbsucht" - > „Sucht" mit der Bedeutung „Krankheit") Auch diese Form der Morphemanalyse kann aus den oben genannten Gründen lediglich einen Hinweis auf eine mögliche Bedeutung erbringen.
3. b. Etymologie Auch die Etymologie kann bei der semantischen Analyse hilfreich sein. Ist es möglich, ein Wort einer Wortfamilie zuordnen, aus der bereits eines oder mehrere Elemente bekannt und semantisch bestimmt sind, so läßt sich, davon ausgehend, eine Hypothese über die Bedeutung des zu bestimmenden Wortes aufstellen.258 Mögliche Fehlerquellen hierbei sind Polysemie und die Tatsache, daß die Methode bei Übertragungen versagt259. Allerdings muß hinzugefugt werden, daß die Methode dann zumindest das Ergebnis liefert, daß eine Bedeutungsübertragung vorliegt. 4. Kontextanalyse Wenngleich sowohl Tollenaere als auch Reichmann die Kontextanalyse als eine zentrale Methode zur Bedeutungsbestimmung nennen 260 , so geht doch nur
255 Vgl. hierzu Adelung, Bd. I, Sp. 816 und 839. 256 I. S. v. Fleischer/Barz/Schröder, Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache 1995, S. 72. 257 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 130 - 132. 258 Vgl. hierzu Tollenaere, Probleme der Lexikographie 1979, S. 122/123 und Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 123/124. 259 Tollenaere, Probleme der Lexikographie 1979, S. 122/123. 260 Für Dieter Herberg ist die Kontextanalyse lediglich eine Ergänzung der Semanalyse mit Hilfe bereits vorhandener Wörterbücher. Vgl. hierzu: Herberg, Neuere Erkenntnisse 1982, S. 157.
148
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
Reichmann differenziert auf einzelne Methoden ein. 261 Wir folgen seinen Ausführungen und werden, wo nötig, Ergänzungen oder Modifikationen vornehmen. 4. a. Bedeutungserschließung aus textinternen definitionsartigen Erläuterungen262 Dieser Typ ist zweifellos als erster zu nennen, da er bereits eine semantische Erläuterung ist bzw. enthält. Reichmann263 nennt eine Reihe möglicher Formen: als Antwort auf eine Frage in einem Dialog, als (verdeutlichende oder korrigierende) Apposition (ζ. B. „Geschmack, Geschmackssinn, das ist der Sinn, ...") oder mit expliziter explicandum-explicans-Struktur, d. h. in Form einer „ist"-Prädikation oder vergleichbarer Syntagmen mit Wörtern wie „heißen", „nennen", „bedeuten" etc. Häufig haben solche Sätze eine der sogenannten klassischen Definition ähnliche Form, wobei die differentia specifica dann als Relativ- oder Konditionalsatz oder als Attribut erscheinen kann, oft jedoch ganz fehlt („Der Geschmack? Das ist die ästhetische Urteilskraft!") und auf andere Weise erschlossen werden muß. Im Zusammenhang mit diesem Belegtyp ist darauf hinzuweisen, daß gerade im Bereich der „Begriffswörter" darauf zu achten ist, daß man die in solchen Belegen gebotenen Erklärungen nicht kritiklos übernimmt. Oft enthält eine solche Definition tendenziöse Elemente, die ihre Funktion im Zusammenhang des jeweiligen Diskurses haben, aber als aus ihm herausgelöste — absolute — Definition nicht funktionieren können. Keinesfalls darf eine gefundene definitionsartige Erläuterung die Stelle der Bedeutungsangabe im lexikographischen Text einnehmen, wie dies im Falle von Johann Ulrich Königs Definitionen von „Geschmack" im DWB geschehen ist.264 Ein solches Vorgehen ist innerhalb der Begriffsgeschichte legitim, die die Stationen einer Begriffsentwicklung nachzeichnen will, sie interessiert daher vor allem die wirkungsmächtige Definition an prominenter Stelle, der Lexikologe hat jedoch zu prüfen, ob der Autor das Wort auch an anderer Stelle in dieser Bedeutung gebraucht. Tut er dies nicht, und lassen sich auch keine
261 Vgl. hierzu Tollenaere, Probleme der Lexikographie 1979, S. 123 und zum folgenden Reichmann: Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 115 - 138. 262 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 120 - 122 und Beutin, Das Weiterleben alter Wortbedeutungen 1972, S. 34/35, der einige Beispiele aus dem 18. Jahrhundert bringt, sowie Henne, Helmut: Fortzuschreibende praktische Beleglehre. In: „Waltende Spur,,. Festschrift für Ludwig Denecke zum 85. Geburtstag (= Schriften der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel e. V. 25). Im Auftrag des Vorstands der Brüder Grimm-Gesellschaft Kassel e. V. herausgegeben von Heinz Rölleke, Kassel 1991, S. 1, der diesen Typ zu den „sprechenden Belegen" zählt. 263 Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 120 -122. Vgl. zu diesem Typ auch Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 425 und Henne, Fortzuschreibende praktische Beleglehre 1991, S. 1, der diesen Typ unter die „sprechenden Belege" rechnet. 264 Vgl. hierzu DWB Bd. V, Sp. 3931 sowie Abschnitt G. II. 2.1. 3.1.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
149
weiteren Belege für einen Wortgebrauch nachweisen, der der in Frage stehenden definitionsartigen Erläuterung entspricht, so liegt ein abweichender, randständiger Gebrauch vor, der im Wörterbuch unter Umständen gar nicht erscheint. 4. b. Bedeutungserschließung aus satzgliedinternen Erläuterungen265 Von Typ 4. a. unterscheiden sich einige Belege dadurch, daß explicans und explicandum nicht explizit (durch „sein", „meinen", „bedeuten" etc.) äquivalent gesetzt werden. Inhaltlich stehen solche „satzgliedinternen Erläuterungen" den „textintemen definitionsartigen Erläuterungen" jedoch sehr nahe. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sowohl explicandum als auch explicans Teil desselben Satzgliedes sind und somit direkt aufeinander folgen. Das explicandum kann dabei aus einem einzigen Lexem oder aus einem Syntagma bestehen, welches dann häufig eine genus-differentia-Struktur (ζ. B. in Form einer Kombination von Substantiv und Adjektiv) aufweist. 4. c. Bedeutungserschließung aus Charakterisierungen266 Häufig wird ein Gegenstand in seinem Aussehen oder in seiner Zusammensetzung beschrieben, werden einem Gegenstand gewisse Eigenschaften zugeschrieben, oder es werden Handlungen geschildert, in denen der Gegenstand eine Rolle spielt. Aus solchen detaillierten Beschreibungen267 wird häufig sehr deutlich, worum es sich bei dem in Frage stehenden Gegenstand handelt, aber auch knappe Formulierungen, etwa in Form eines Substantivs mit Attributen), können aufschlußreich sein. Ebenso können verschiedene Charakterisierungen, selbst von verschiedenen Autoren, die sich nicht widersprechen, einander gegenseitig erhellen. Dieser Typ ist bei Begriffswörtern wie „Geschmack" häufig zu erwarten.268 Solche Wörter bieten darüber hinaus den Vorteil, daß Charakterisierungen abstrakter Gegenstände meist einen hohen Beispielwert aufweisen, da die
265 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 122/123 und Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 426/427. 266 Dieser Typ faßt Reichmanns „Charakterisierungen" und seine „rahmenkennzeichnenden Belege" zusammen. Letztere werden von ihm explizit als zum ersteren Typ offen gekennzeichnet. Vgl. hierzu Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 428 - 439. 267 Den Ausdruck „detaillierte Beschreibungen" verwendet Dupuy-Engelhardt zur Kennzeichnung dieses Belegtyps. Vgl. hierzu Dupuy-Engelhardt, Zur Analyse von lexikalischer Bedeutung 1995, S. 333, wo sie das Beispiel bringt: „alle Geräusche waren da: das Lachen der Kinder, das Bellen der Hunde...". 268 Zu denken ist etwa an Formulierungen wie „Der Geschmack beurteilt das Schöne an einem Gegenstand".
150
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
Wahrscheinlichkeit okkasioneller Prädikationen bei diesen geringer zu sein scheint.269
4. d. Bedeutungserschließung aus der Nennung eines genus oder einer differentia (specifica)270 Solche Belege dienen eher der Einordnung des zu erklärenden Ausdrucks in ein semantisches Feld als einer Bedeutungsbestimmung, da über die Art des genus oder der differentia meist nichts ausgesagt wird. Zudem können solche Angaben okkasionell, also an die Kommunikationssituation gebunden sein, was Widersprüche unter Umständen noch an derselben Textstelle hervorrufen kann. Der Übergang zwischen einer Aufzählung von differentiae und einer Reihung von Beispielen ist, wie Reichmanns Beispiele zeigen, fließend. Dies zeigt, daß der Status der Elemente einer Aufzählung als differentiae bisweilen schwierig zu bestimmen ist.
4. e. Bedeutungserschließung aus dem Vorkommen eines onomasiologischen Feldes271 Reichmann beschreibt diesen Typ als „eine der leistungsfähigsten Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen"272. Dieser Typ erscheint im Text häufig in Form von Aufzählungen, Koppelungen mit „und" und textinternen Isotopien, etwa der Typen Synonym/Synonym, Kohyponym/Kohyponym, Inkonym/Inkonym, Antonym/Antonym, Art-/Gattungsbezeichnung etc.273 Reichmann geht auf zwei Formen ein, nämlich auf die „satzinterne Nennung mehrerer Hyponyme als Voraussetzung für die Feldzuweisung" und auf die „satzinterne Nennung eines Archilexems für den feldbildenden Oberbegriff'. 274 Erscheinen in einem Satz mehrere zum gesuchten Wort kohyponyme, als bekannt vorausgesetzte Ausdrücke, so läßt sich aus ihnen das onomasiologische Feld rekonstruieren, dem es angehört. Gleichzeitig lassen sich (aus Gründen der
269 Vgl. hierzu Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 432. 270 Vgl. hierzu Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 440/441. Zu denken wäre hierbei an Formulierungen wie „Alle fünf Sinne: Geruch, Geschmack, Gehör...". 271 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 135 - 138 sowie Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 442. 272 Reichmann: Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 135. 273 Vgl. hierzu Reichmann, a. a. O., S. 135. 274 Reichmann, a. a. O., S. 135.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
151
Polysemie mögliche) andere Felder ausschließen. Die Kohyponyme lassen sich dann zusammen mit dem gesuchten Wort einem genus subsumieren.275 Enthält die Textstelle ein Archilexem, und ist dieses das erklärungsbedürftige Wort, so läßt sich seine Bedeutung aus den Kohyponymen abstrahieren. Reichmann weist darauf hin, daß die Nennving eines Archilexems in der Textstelle die Menge der möglichen Oberbegriffe auf die historisch tatsächlich aktualisierten einschränkt und daher fur die historische Lexikologie von besonderer Bedeutung ist.276 Fehlerquellen können sich unserer Ansicht nach vor allem bei Aufzählungen ergeben. So zum Beispiel, wenn die Aufzählung zu kurz ist, d. h. zu wenige Elemente enthält, oder wenn die Aufzählung ursprünglich eine leichte Graduation beinhaltete, die heute nicht mehr verständlich ist. Für „Geschmack" sind solche Stellen meist nicht von hohem Erkenntniswert, da häufige Koppelungen wie „Sinn und Geschmack", „Vernunft und Geschmack" wegen der hochgradigen Polysemie der hinzutretenden Elemente semantisch kaum zu analysieren sind, es zudem womöglich schon früh nicht mehr waren, da solche Koppelungen oft formelhaft gebraucht wurden.277 4. f. Bedeutungserschließung aus der Kompatibilität von Wörtern278 Dieser Typ umfaßt im wesentlichen Kollokationen, geht aber noch über diese hinaus. Hier werden Kompatibilitäten ζ. B. zwischen Verb und verbabhängigen Satzgliedern oder zwischen Substantiv und Attributen betrachtet. Ziel ist es, solchen Bezügen der Wörter zueinander Informationen über die Bedeutung des zu erklärenden Wortes zu entnehmen, typischerweise Charakterisierungen, Wertungen, Bestandteile, räumliche und zeitliche Einordnung, Begleitumstände etc. Reichmann weist auf den offenen Ubergang zu einem weiteren Typ hin, den er „Bedeutungserschließung aus den Prädikationen des Textes"279 überschreibt. Dieser Typ280 unterscheidet sich vom erstgenannten lediglich durch einen nicht exakt bestimmbaren höheren Grad „an Bewußtheit der originalen Formulierung"281 und wird daher hier zum Kompatibilitätstyp hinzugerechnet. Zu den oben genannten Erscheinungsformen treten neben anderen Adjektiv- und Genitivattribute,
275 Zu Fragen der Polysemie bei diesem Typ vgl. Reichmann, a. a. O., S. 137. 276 Reichmann, a. a. O., S. 138. 277 Ein rezentes Beispiel für diese Erscheinung ist „klar und deutlich", das im 18. Jahrhundert zwei klar geschiedene Formen der Erkenntnis beschrieb (vgl. die notio clara und die notio distincta bei Leibniz und Wolff), heute jedoch zur reinen Formel geworden ist. 278 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen 1983, S. 115/116. 279 Reichmann, a. a. O., S. 117. 280 Der Typ, den Reichmann a. a. O. auf den Seiten 117 - 120 beschreibt. 281 Reichmann, a. a. O., S. 117.
152
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
adverbiale Präpositionalglieder, Relativsätze, Konjunktionalsätze, aber auch Vergleiche und Metaphern hinzu.282 Eine weitere wichtige Form, die es hier zu ergänzen gilt, ist die Prädikation mit Hilfe des Verbs „haben". Insbesondere für die Bedeutungsbestimmung von „Geschmack" spielt diese eine wichtige Rolle, da es für den Diskurs des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung war, über welchen Geschmack man sprach, über wessen Geschmack, und ob dieser oder jener überhaupt Geschmack habe. Zu denken ist hier beispielsweise an die dramentheoretische Auseinandersetzung um den Geschmack des Publikums bzw. der Kenner oder um den Geschmack des jeweiligen Werkes. Hier kann eine entsprechend formulierte „haben"-Prädikation entscheidend zur Klärung der Bedeutung beitragen. Formulierungen wie „Er baut im griechischen Stil. Er hat Geschmack!" sind im Korpus nicht selten.
4. g. Bedeutungserschließung aus explizit gekennzeichneten Gegensatzpaaren283 Dieser Typ ist durch Formulierungen wie „nicht aber" oder „im Gegensatz zu" charakterisiert und bietet somit eine Erklärung ex negativo. Zu beachten ist hierbei, daß es möglich ist, daß schon ein eng gefasster Begriff von Antonymität eine Reihe von unterschiedlichen Erscheinungen umfaßt, und daß darüber hinaus ein Autor auch ein okkasionelles Gegensatzpaar bilden kann. Dies ist besonders im Hinblick auf Diskurswortschatz zu beachten. 4. h. Bedeutungserschließung von Metaphern und phraseologischen Wendungen durch Ansetzen eines tertium comparationis284 Reichmann schlägt bei metaphorischen Verwendungen von etymologisch durchsichtigen Wörtern vor, die Verallgemeinerung einer als bekannt vorausgesetzten eigentlichen Bedeutung für die Analyse nutzbar zu machen. Eine Wendung wie „der Geschmack [ist] über die Art des Vortrage zum Richter gesetzt"285 wird dann sinnvoll, wenn man die von „Richter" abgeleitete Bedeutung 'beurteilende Instanz' für „Richter" ansetzt.286 Es spielen bei dieser Methode also drei Elemente eine Rolle: die eigentliche und die uneigentliche Bedeutung sowie
282 Vgl. zu dieser Zusammenstellung Reichmann, a. a. O., S. 118/119. 283 Dieser Typ heißt bei Reichmann der „kontrastierende" Typ. Vgl. dazu Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen im historischen Bedeutungswörterbuch 1988, S. 439/440. 284 Vgl. Reichmann, a. a. O., S. 125 -128. 285 Goethe, 136, Zu brüderlichem Andenken Wielands, S. 322. 286 Weitere Beispiele finden sich bei Reichmann (a. a. O., S. 125 -128).
Ε. V. Die Arbeitsschritte
153
„die von den Kommunikanten angesetzte Vergleichsbeziehung"287, die beileibe nicht immer mit dem durch den Linguisten angesetzten tertium comparationis identisch sein muß, es aber nach Möglichkeit sein sollte.288
4. i. Bedeutungserschließung durch Sachwissen bei der Metonymie und Synekdoche289 Metonymie und Synekdoche sind in ihren Relationalitäten weit stärker festgelegt als die eben beschriebene Metapher.290 Daher ist bei diesen die Interpretationsbreite sehr viel geringer als bei jener, das bedeutet, daß die semantische Analyse des Lexikologen damit wesentlich einfacher und viel eher durch die Dichotomie 'richtig - falsch' als durch die Dichtomie 'sinnvoll, wahrscheinlich — unwahrscheinlich' beschreibbar ist.
4. j. Monosemierung durch Erschließung ausgesparter Satzglieder291 In bestimmten Textsorten können bestimmte Satzglieder ausgespart sein, wenn der Autor eine Vorinformiertheit der Rezipienten erwartet. Ist ein Wort auf Grund einer solchen Aussparung unverständlich, so gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten der Satzergänzung bzw. zur Monosemierung: die satzinterne und die textinterne Suche nach Indikatoren für die Monosemierung sowie die „einzeltextübergreifende Einarbeitung in das pragmatische Feld des Textes"292. Ausgesparte Elemente sind oft vorerwähnt und können daher leicht in die Lücke eingesetzt werden. Die bislang referierten Reichmannschen Möglichkeiten der Bedeutungserschließung sollen im folgenden durch einige weitere Typen ergänzt werden, die sich aus unserer Korpusanalyse ergaben:
287 Reichmann, a. a. O., S. 126. Daß die Kommunikanten eine gemeinsame oder auch nur überhaupt eine Vorstellung von dem jeweils aktualisierten tertium comparationis hatten oder hätten gewinnen können, sei hier vorausgesetzt. 288 Zu selten sind Belegstellen, wo das tertium comparationis explizit angegeben ist. Ein Beispiel findet sich bei Reichmann (a. a. O., S. 126). 289 Vgl. Reichmann, a. a. O., S. 128/129. 290 Die Verwendung der Metonymie geht über die Quintilianschen Typen meist nicht hinaus, die Synekdoche ist gar auf die Teil-Ganzes-Beziehung (im weiteren Sinne) beschränkt. 291 Vgl. hierzu Reichmann, a. a. O., S. 116/117. 292 Reichmann, a. a. O., S. 117.
154
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
4. k. Bedeutungserschließung aus sprachreflexiven Äußerungen Zu diesem Typ gehören Textstellen, in denen der Autor die Gültigkeit seiner Aussagen oder der Aussagen anderer reflektiert, d. h. sie kommentiert, variiert, einschränkt, ausweitet, spezifiziert oder ablehnt bzw. verwirft. 293 Aus solchen Belegen können häufig Hyperonyme oder Hyponyme, Synonyme oder Antonyme entnommen werden. Dieser Typ berührt damit einige der vorgenannten (v. a. 4. d., 4. e. und 4. f.).
4.1. Bedeutungserschließung aus sprachkritischen Äußerungen 294 Auch aus Stellen wie der folgenden lassen sich Informationen über eine Wortbedeutung entnehmen. Johann Adolph Scheibe zitiert in seinem „Critischen Musikus" aus einem Brief, den er von Erath erhalten habe. Darin heißt es: „Die Ohren, als Sinn, oder vielmehr das Urtheil von dem, was in die Sinne fällt, welches wir Geschmack nennen, ist nicht bey allen einerley, und kann keine allgemeine Wahrheiten, womit andere nothwendig eins seyn müssen, machen.,a'5 Scheibe kommentiert diesen Satz in der Anmerkung 3) zu dieser Seite: „Der Begriff, den allhier Herr Erath vom Geschmacke ψ bemerken scheint, döifte wohl ein gan% falscher Begriff seyn; [...] " Der dem mit „welches" eingeleiteten Relativsatz übergeordnete Satz kennzeichnet die in der Briefstelle vorausgesetzte Bedeutung. Scheibes Antwort dagegen qualifiziert diese Bedeutung als falsch. Für den heutigen Leser ist daraus zumindest zu entnehmen, daß Scheibe diese Bedeutung nicht kannte, oder daß sie seinem Verständnis widersprach. Im schlechtesten Fall läßt sich an solchen Beispielen also zumindest Polysemie belegen. Es sind aufschlußreichere Belegstellen für diesen Typ denkbar296, etwa solche, in denen auf die Kritik eine Korrektur oder ein Gegenvorschlag folgt. Solche Stellen berühren sich natürlich mit anderen Typen, v. a. mit Typ 4. a.
293 Vgl. hierzu auch Henne, Fortzuschreibende praktische Beleglehre 1991, S. 1, sowie DupuyEngelhardt, Zur Analyse von lexikalischer Bedeutung 1995, S. 333. 294 Vgl. hierzu auch Henne, Fortzuschreibende praktische Beleglehre 1991, S. 2. Dort wird dieser Typ unter dem Namen „sprachreflexiver Beleg" geführt. 295 Scheibe, Johann Adolph: Critischer Musikus. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1745. Reprographischer Nachdruck Hildesheim, New York 1970, S. 200. 296 Ein Beispiel bringt Beutin, (In: Das Weiterleben alter Wortbedeutungen 1972), S. 36.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
155
4. m. Bedeutungserschließung aus Sprachwitzen297 Diese Methode funktioniert vor allem dann, wenn die Pointe des Witzes auf einer Polysemie beruht. Ein bereits bekanntes Beispiel mag dies erläutern: ,Xjeopoli Heißenstein mar der reichste und einer dergeachtetsten Bürger des mährischen Landstädtchens Weinberg. Ob auch einer der beliebtesten, das stand dahin und machte die geringste seiner Sorgen aus. Witzbolde unter den Eingeborenen meinten, ein Mann von Geist und Geschmack sei er jedenfalls, das bringe schon sein Geschäft mit sich — das ansehnäche Weingeschäft nämlich, das sich seit Generationen in seinerFamilie forterbte und das er unerhörter Blüte gebracht hatte.,e9i Aus diesem Beispiel läßt sich erschließen, daß „Geschmack" polysem war, und zwar wohl in ähnlicher Weise wie „Geist". Das Wort „Witzbolde" weist auf das Wortspiel hin, während der Hinweis auf die Weinhandlung die Richtung vorgibt, in der nach zumindest einer der hier gemeinten Bedeutungen zu suchen ist.
4. n. Bedeutungserschließung durch die Auflösung von figurae etymologicae Durch ihren Aufbau sind figurae etymologicae gut geeignet, Wortbedeutungen zu erschließen, da die beiden etymologisch verwandten Bestandteile sich gegenseitig erklären können. Ist eines der Wörter nicht mehr gebräuchlich oder semantisch verschoben, so kann das andere den entscheidenden Hinweis auf dessen Bedeutung liefern (ζ. B. „geben" — „Gift", „graben" - „Gruft"). Voraussetzung dafür ist allerdings zumindest der Verdacht, daß an der fraglichen Stelle eine figura etymologica vorliegen könnte. Die Fähigkeit, solche Figuren zu entdecken, wird daher maßgeblich von der Erfahrung des Lexikographen abhängen. Schrift- bzw. Lautbild, aber auch eine dem Lexikographen bekannte Vorliebe eines Autors für diese Art Wortspiel kann einen solchen Verdacht wecken.
4. o. Bedeutungserschließung aus rezenten festen Wendungen In festen Wendungen erhalten sich häufig neben alten Wörtern auch alte Wortbedeutungen. So bleibt ζ. B. in „die Zelte abbrechen" die alte Bedeutung 'niederlegen' erhalten, für die das Moment des Zerstörens noch keine Rolle spielt. Phraseologismen im engeren Sinne, die das Wort „Geschmack" enthalten, konnten im Korpus nicht gefunden werden, allerdings gibt es eine Reihe fester Wendungen,
297 Vgl. hiereu Beutin, Das Weiterleben alter Wortbedeutungen 1972, S. 35/36 und Henne, Fortzuschreibende praktische Beleglehre 1991, S. 2. 298 Ebner-Eschenbach, Marie von: Boiena. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Kurt Binneberg (= Ebner-Eschenbach, Marie von: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Bd. II). Bonn 1980, S. 5.
156
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
der einige Aufmerksamkeit zu widmen ist. Zum Umgang mit diesen siehe Abschnitt Ε. VI. 1. 8. 4. p. Bedeutungserschließung von Titelwörtern aus dem Verständnis des Gesamttextes Wird ein wahrscheinlich bedeutungsverschobenes Wort in einer Überschrift verwendet, so hilft häufig das Textverständnis bei der semantischen Analyse. Diese Methode bietet sich vor allem bei Lyrik und Kurzprosa an, die der Lexikologe in kurzer Zeit rezipieren kann. Bei längeren Texten hilft meist schon die Lektüre einer eventuell vorhandenen Einleitung. Als Beipiel mag hier der Titel des Adelungschen Wörterbuchs dienen, das trotz seiner Bezeichnung als „Wörterbuch der hochdeutschen Mundarten" kein Dialektwörterbuch ist, wie man aus der Einleitung leicht entnehmen kann. Problematisch kann diese Methode bei lyrischen Texten sein, die wegen ihrer starken Konzentration meist ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten bieten.299
5. Gebrauchsanalyse 5. a. Erschließung von Bedeutungsnuancen aus der Bindung von Wörtern an Gebrauchsdimensionen Dieses von Oskar Reichmann vorgeschlagene Kriterium besagt, daß für Wörter, für die man zu einem bestimmten Zeitpunkt ζ. B. eine pejorative Verwendung eindeutig nachweisen kann, auch in jüngeren Belegen eine entsprechende Verwendung nicht von vorneherein ausgeschlossen werden darf. Das Kriterium ist von uns in zweierlei Hinsicht zu spezifizieren. Zum einen ist es möglich, daß die Pejorisierung — oder eine entsprechende Erscheinung — in einem bestimmten Zeitraum auf eine Gruppe von Sprechern beschränkt bleibt, bzw. auf eine oder mehrere Textsorten oder Kommunikations Situationen. Wird wie hier — ein längerer Zeitraum betrachtet, kann sich dieses Bild zudem mehr oder weniger schnell ändern, was der Lexikograph zu berücksichtigen hat. Zum zweiten ist zu bedenken, daß Erscheinungen wie die von Reichmann beispielhaft gewählte Pejorisierung äußerst schwierig zu erkennen sind, wenn etwa Ironie ins Spiel kommt. Eine endgültige Klärung mag nicht in allen Fällen möglich sein.
299 Es genügt, hier auf den Streit um Goethes „Zueignung" aufmerksam zu machen. Die Anmerkungen Albrecht Schönes hierzu mögen genügen, um sich davon ein Bild zu machen: Schöne, Albrecht: Zueignung. In: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne (= Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke. Bd. 7/2). Frankfurt am Main 1994, S. 149 - 154.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
157
6. Bedeutungserschließung durch den Vergleich von Kontexten Diese Methode ist unter den genannten eine der wichtigsten und eng mit der eingangs erwähnten Intuition des Lexikologen verknüpft. Wie bereits erwähnt, sieht es Reichmann als seine Aufgabe an, die Intuition durch die Beigabe einer Methodik der Bedeutungsanalyse zu stützen. Wir können nun versuchen, die Intuition über die Reichmannsche Methodik hinaus abzusichern, indem wir zu bestimmen versuchen, worauf diese Intuition beruht. Wolfgang Beutin hat in der Einleitung zu seiner Abhandlung „Das Weiterleben alter Wortbedeutungen in der neueren deutschen Literatur bis gegen 1800" einige mehr oder weniger prominente Fehllesungen von bedeutungsverschobenen Wörtern in „Klassikertexten" vorgeführt, um die Notwendigkeit seiner Arbeit zu begründen.300 Er konnte zeigen, wie sich die Literaturwissenschaft bisweilen intuitiv dem „mystischen Helldunkel des [dichterischen, D. B.] Bildes"301 hingibt und dadurch solche Fehllesungen produziert. In diesem Zusammenhang präsentiert Beutin eine Fülle von Parallelstellen zu seinem Eingangsbeispiel „ängstlich", die seine Beispielstelle, eine Zeile aus Goethes „Glückliche Fahrt", in der von einem „ängstlichen Band" die Rede ist, sofort und einleuchtend erhellen. Damit ist das Entscheidende gesagt: Es ist der Grad der Kenntnis von Parallelstellen, der das intuitive Verstehen eines Textes leitet. Weiß man um die Verwendung von „ängstlich" im Sinne von „beklemmend", „beengend" (das Wort ist etymologisch mit „eng" verwandt302), weil man eine Reihe von Stellen kennt, an denen das Wort in dieser Bedeutung verwendet wurde, so ist auch eine weniger eindeutige Stelle intuitiv, d. h. ohne daß man die anderen Stellen bewußt vergleichend heranziehen müßte, erschließbar. Aus diesem Grund ist es unerläßlich, Belegstellen immer wieder zu vergleichen. Auf diese Weise können nicht nur okkasionelle Verwendungen oder feste Wendungen entdeckt werden, es ist darüber hinaus möglich, eine Stelle durch eine andere zu klären, indem man die Bedeutung des Wortes von der einen in die andere Stelle einsetzt. Solche Ersatzproben können häufig einen Hinweis auf das Gemeinte geben. Reichmann übersieht diese Möglichkeit der Analyse in seinem ansonsten äußerst hilfreichen Artikel leider. Textstellen können sich also gegenseitig erhellen, es ist jedoch Vorsicht geboten, da insbesondere bei Autoren, die sich einer sehr langen Schaffensperiode erfreuen dürfen, auch Bedeutungswandel stattfinden kann.
300 S. Beutin, Das Weiterleben alter Wortbedeutungen 1972, Einleitung, S. 1 - 50. 301 Dieser von Beutin a. a. O. mehrfach (zuerst S. 1) zitierte Ausdruck stammt von Johannes Pfeiffer (Umgang mit Dichtung. Eine Einführung in das Verständnis des Dichterischen, 5. Aufl., Leipzig 1947, S. 78). 302 Vgl. hierzu Beutin, a. a. O., Einleitung, S. 2/3 und Pfeifer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 5. Aufl., München 2000, S. 41/42.
158
Ε . Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
Die Überprüfung der Bedeutungsansetzung und damit die Begründung jeder einzelnen Ansetzung und der Unterscheidung als verschieden aufgefaßter Bedeutungen wird mit den Mitteln der von Oskar Reichmann vorgeschlagenen Verifikationsprozedur vorgenommen. 303 Danach gilt eine Bedeutungsansetzung immer dann als begründet, „- wenn sich für die in Frage stehende semantische Einheit ein zumindest partielleigenes onomasiologisches Feld nachweisen läßt (= Feldprobe), - wenn sich für die Einheit zumindest partiell eigene Gegensatzwörter nachweisen lassen (= Gegensatzprobe), - wenn sich für sie zumindest partiell eigene syntagmatische Verbindungen nachweisen lassen (= Syntagmenprobe), - wenn sich im Signifikat von zugehörigen Wortbildungen ähnliche Ansätze nahelegen (= Wortbildungsprobe), - wenn sich im Signifikat anderer Wörter entsprechende Unterscheidungen nahelegen (= Signifikatvergleich), - wenn eine spezifische Raum-, Zeit-, Schichten-, oder Gruppenbindung der als Bedeutung zu verifizierenden Einheit nachweisbar ist."304 Aus Platzgründen soll hier keine umfangreiche Darstellung des Verfahrens an Hand eines Beispiels vorgenommen werden. Reichmann hat die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen seines Verfahrens selbst deutlich gemacht. Nur soviel soll zum Verständnis der Methode hinzugefugt werden: Keine dieser Proben kann allein eine Bedeutungsansetzung stützen, allerdings ist es auch nicht erforderlich, daß sämtliche Proben dasselbe Ergebnis zeitigen. Dies zeigt Reichmann an Hand seines Beispiels „arm" 305 . So können sich die Felder zu den jeweiligen Einzelbedeutungen durchaus partiell decken, Reichmann gesteht sogar zu, daß dies eher der Normalfall ist. Konsequenterweise hütet er sich daher, eine Definition von „partiell eigenes..." zu liefern. 306 Dies alles entspricht in jeder Weise der hier vertretenen Ansicht von der Diffusität von Bedeutungen, weshalb die Reichmannsche Methode für die Analyse von „Geschmack" geeignet erscheint.307 Die Proben stützen sich gegenseitig, letztlich bleibt die Entscheidung über die Bedeutungsansetzung aber „dem sprachlichen Urteil des jeweiligen Lexikographen" 308 überlassen.
303 Vgl. hierzu Reichmann, Möglichkeiten der Bedeutungsdifferenzierung Bedeutungswörterbuch 1993, S. 167/168 und passim.
im
historischen
304 Reichmann, a. a. O., S. 168. 305 Vgl. hierzu Reichmann, a. a. O., S. 168 - 174. 306 Vgl. Reichmann, Reichmann, a. a. O., S. 171. 307 Ahnlich funktioniert auch eine von Ilse Karl vorgeschlagene Methode, diese geht allerdings vom merkmalssemantischen Ansatz aus. Vgl. hierzu Karl, Ermitdung und Darstellung semantischer Mikro- und Mediostrukturen 1987, S. 5 - 109. 308 Reichmann, Möglichkeiten der Bedeutungsdifferenzierung im historischen Bedeutungswörterbuch 1993, S. 171 sowie S. 174. Vgl. hierzu weiterführend: Reichmann, Philologische Entscheidungen bei der Formulierung von Artikeln historischer Sprachstadienwörterbücher 1990, S. 231 - 276.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
159
1. 2. 1. 2. Auswahl der Belegbeispiele Es stellt sich nun die Frage, welche Belege in welcher Form aus welchen Gründen in diese Arbeit aufgenommen werden sollen. Vorab muß jedoch zunächst geklärt werden, welche Funktion ein Belegbeispiel haben soll. Henrik Nikula, der sich in erster Linie mit Verben beschäftigt hat, schreibt 1986, am Belegbeispiel sollten die Gebrauchsregeln verdeutlicht werden, daher müsse es prototypischen Charakter haben.309 Aus dieser Forderung leitet er ab, daß die Beipiele vom Lexikographen selbst gebildet sein müßten. Authentische Beispiele, die nicht prototypisch seien, sondern eher „die Möglichkeiten der Variation" repräsentierten, sollten allenfalls ergänzend auftreten.310 Ob in einer Reihe von Belegbeispielen allerdings wirklich kein prototypisches zu finden ist, darf bezweifelt werden, ebenso wie die Behauptung, ein vom Lexikographen konstruiertes Beispiel sei im Hinblick auf die Verdeutlichung von Gebrauchsregeln besser als ein vorgefundener Text. Diese Überlegungen mögen für ein Valenzwörterbuch, also ein Wörterbuch mit gegenwartssprachlicher Ausrichtung — auf diesen Typ richtet sich Nikulas Augenmerk in erster Linie —, praktikabel sein, für eine historiolexikologische Untersuchung sind sie es jedoch nicht.311 Wichtig ist allerdings das Moment der Prototypikalität, das Nikula ins Spiel bringt. Worin besteht aber die Prototypikalität eines prototypischen Belegbeispiels?312 Oskar Reichmann bestimmt die Funktion von Belegbeispielen313 als eine zweifache: Sie hätten (1.) eine wissenschaftskommunikative Beweisfunktion und (2.) eine normalkommunikative Funktion für den Lernprozeß des Benutzers.314 Die wissenschaftskommunikative Beweisfunktion der Belegbeispiele — und auf diese kommt es uns im folgenden an — bestehe zum einen darin, daß diese die Entscheidungen des Lexikographen bezüglich der Lemmaform, aller Arten von Angaben und natürlich der Bedeutungsansetzung begründen helfen sowie zum anderen darin, dem Wörterbuchforscher zu ermöglichen, die Entscheidungen des
309 Vgl. hierzu: Nikula, Wörterbuch und Kontext 1986, S. 189. 310 Nikula, Wörterbuch und Kontext 1986, S. 190. 311 Der Lexikograph, der sich einer historischen Sprachstufe zuwendet ist ausschließlich auf Kontexte angewiesen (vgl. hierzu Oksaar, Eis: Semantische Studien im Sinnbereich der Schnelligkeit. Plötzlich, schnell und ihre Synonymik im Deutschen der Gegenwart und des Früh-, Hoch- und Spätmittelalters (= Stockholmer Germanistische Forschungen, Bd. II). Stockholm 1958, S. 7 - 9). Darin besteht der Zirkel der Lexikographie: der Lexikograph stützt sich in der Begründung seines Bedeutungsansatzes auf ebendieselben Textstellen, aus denen er die gesuchte Bedeutung entnommen hat. 312 Diese Frage stellt sich auch bei der Lektüre von Henne, Fortzuschreibende praktische Beleglehre 1991, wo auf S. 2 die prototypischen Belege gewissermaßen als eigene Belegklasse geführt werden. 313 Reichmann verwendet den Ausdruck „Beispielbelege". Vgl. seine Definition in: Reichmann, Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Beispielbelegen 1988, S. 413. 314 Vgl. hierzu Reichmann, a. a. O., S. 417/418.
160
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
Lexikographen zu überprüfen. Ein zur Aufnahme ins Wörterbuch geeignetes Beispiel sei, so Reichmann, ein Beispiel, das diese beiden Funktionen erfülle.315 Später spezifiziert Reichmann dies noch einmal: Für die Aufnahme in den Wörterbuchartikel seien besonders solche Beispiele geeignet, die allgemein verbreitetes und akzeptiertes Wissen oder das Wissen einer bestimmten Sprechergruppe (solche Stellen können die soziale Differenzierung verdeutlichen) enthalten, oder solche, die das Wissen eines Einzelnen enthalten, das früherem oder späterem, d. h. nicht zeitgenössischem kollektiven Wissen entspricht.316 Doch damit ist immer noch nicht geklärt, aus welchen Belegen der Benutzer diese Informationen am besten, d. h. mit geringem eigenen Interpretationsaufwand entnehmen kann. Hierfür ist auf die unter 4. („Kontextanalyse") aufgeführten Belegtypen zu verweisen. Es liegt auf der Hand, daß diejenigen Belege, die dem Lexikographen den größten Aufschluß über eine gesuchte Wortbedeutung geben konnten, auch für die Benutzer von hohem Informationswert sind. Es sind dies die häufig so genannten „sprechenden Belege", also solche, in denen sich die gesuchte Wortbedeutung leicht aus dem Zusammenhang ergibt. Auf welche Weise das geschehen kann, ist oben ausführlich beschrieben worden. Hier ist lediglich auf zwei in unserem Zusammenhang besonders zu beachtende Belegtypen hinzuweisen: Es sind dies die textinterne definitionsartige Erläuterung und die Aufzählung. Erstere birgt die Gefahr, daß der Lexikograph die definierte Bedeutung unbesehen übernimmt und sie als Bedeutung in seinen Artikel aufnimmt. Daß dieses Verfahren unzulässig ist, ist oben ausführlich begründet worden. Gerade bei „Begriffswörtern" wie „Geschmack" läuft dies darauf hinaus, daß das Nachvollziehen eines historischen Diskurses an die Stelle der Bedeutungsbeschreibung tritt. Aufzählungen sind deshalb nicht — oder nur äußerst selten — zur Illustrierung der Bedeutungsbeschreibung geeignet, da sie meist über das explicandum nichts weiter aussagen, als daß es existiert, und aus irgendwelchen Gründen mit den anderen Elementen der Aufzählung zusammengestellt werden kann. Ob eine solche Zusammenstellung klimaktisch oder antiklimaktisch, ob die Elemente einander ergänzend oder ausschließend kombiniert wurden, ist in den allermeisten Fällen unklar. Solche Belege sind aus den genannten Gründen nicht zur Aufnahme geeignet. Die Frage der Kürzung soll hier nur gestreift werden, da die Beschränkung aus Platzgründen für diese Arbeit keine Rolle spielt317. Belegbeispiele werden daher grundsätzlich vollständig, d. h. mit allen für das Textverständnis notwendigen Bestandteilen aufgeführt. Lediglich einige Ergänzungen sollen vorgenommen werden, etwa dann, wenn ein Personalpronomen auf eine in einem für das
315 Vgl. hierzu Reichmann, a. a. O., S. 420. 316 Reichmann, a. a. O., S. 425. 317 Jedenfalls nicht in bezug auf die Belegbeispiele.
Ε. V. Die Arbeitsschritte
161
Verständnis der Textstelle nicht notwendigen Zusammenhang vorerwähnte Person Bezug nimmt.318 Grundsätzlich ist zum Problem der Kürzung von Belegbeispielen zu sagen, daß es nicht in erster Linie ein lexikographisches, sondern vielmehr ein verlegerisches Problem darstellt. Zu beschreiben, in welcher Weise auf diesem Feld lexikographische und editorische bzw. buchtechnische Interessen einander widersprechen oder gar ergänzen können, ist hier jedoch nicht der Ort. Am Ende des zweiten Durchgangs waren die im ersten Durchgang fehlerhaft vorgenommenen Bestimmungen korrigiert und die betreffenden Textausschnitte neu eingeordnet worden. Notizen zur Ausformulierung der Bedeutungserklärungen wurden in die Karteien bzw. Dateien eingetragen. Zusätzlich waren nun als Belegbeispiele geeignete Textstellen ausgewählt worden. Diese wurden schließlich an geeigneten Textausgaben rückgeprüft und, wo nötig, korrigiert.
Ε. VI. Die Artikelstruktur Wie muß eine Artikelstruktur aussehen, die auf den Errungenschaften der Lexikographie beruht und die oben entwickelten Überlegungen einbindet? Im Lichte des bisher Gesagten erscheint es zunächst notwendig, Bereiche des Artikels zu bestimmen, die stark formalisiert sind, und sie von solchen Bereichen zu unterscheiden, die weniger stark formalisiert sind. Gemäß der bisherigen Überlegungen scheint es wichtig, den Gliederungstyp nicht im voraus festzulegen. Der Artikel mag also zum Teil hierarchisch, zum Teil linear geordnet sein, mit Rücksicht auf die semantischen und sachlogischen Beziehungen, die das Wort „Geschmack" mit sich bringt. Dennoch ist es möglich, Art, Anzahl und Position der Angaben sowie die entsprechende typographische Kennzeichnung festzulegen, damit der Artikel übersichtlich und damit zugänglich bleibt.319 Doch sollen diese Angaben, um die nötige Offenheit in der Beschreibung zu gewährleisten, einerseits jeweils durch Kommentare des Lexikographen ergänzt werden, andererseits soll bestimmt werden, in welchem Maße der lexikographische Inhalt der Angaben organisiert sein muß.
318 Vgl. hierzu Abschnitt Ε. VI. 1. 6. 319 Vgl. zu diesen Festlegungen Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur: Geschichte, Probleme, Perspektiven 1989, S. 424. Dieser Abschnitt schließt sich terminologisch an Herbert Ernst Wiegand an. Vgl. hierzu stellvertretend: Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur: Geschichte, Probleme, Perspektiven 1989, S. 409 - 462, sowie Wiegand, Arten von Mikrostrukturen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch 1989, S. 462 - 501.
162
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
1. Die Artikelpositionen 1.1. Die Lemmazeichengestaltangabe (LZGA) Die LZGA gibt das Lemma in der heute üblichen orthographischen Form an. Diese entspricht, so ist aus den Belegstellen zu entnehmen, der im Untersuchungszeitraum mengenmäßig vorherrschenden orthographischen Form. Die LZGA wird fett gedruckt. 1. 2. Die Formvariantenangabe (FVA) Eine FVA folgt, durch ein Komma getrennt, der LZGA oder einer weiteren FVA. Die FVA listen sämtliche in den Quellentexten vorkommende orthographische Varianten auf. Ihnen ist ein Kommentar, die Häufigkeit der orthographischen Variante betreffend, unmittelbar vorangestellt. Die FVA werden fett wiedergegeben. 1.3. Die Genusangabe (GenA) Die GenA in Form des bestimmten Artikels folgt der letzten FVA nach einem Komma. Sie wird selbst durch ein Semikolon vom folgenden abgetrennt. 1. 4. Die Flexionsangabe (FlexA) Die FlexA enthält gemäß der lexikographischen Praxis die Formen des Genitiv Singular und des Nominativ Plural. Formvarianten werden in Klammem gesetzt. Rein orthographische Varianten werden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht mehr angegeben, die FVA wird als auch für die FlexA gültig verstanden. Die Pluralformen werden durch den lexikographischen Hinweis „PI. selten" charakterisiert. Die Flexionsangaben werden kursiv gedruckt.
1. 5. Die Bedeutungsangaben (BA) Diese wichtigste Artikelposition soll im folgenden eingehend methodischtheoretisch betrachtet werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den verschiedenen Arten der Bedeutungsbeschreibung, die bei der Erläuterung von „Geschmack" Anwendung finden, bzw. Anwendung finden können. Eine grundsätzliche und ausführliche Diskussion sämtlicher praktizierter oder vorgeschlagener Formen und Methoden kann hier verständlicherweise nicht vorgenommen werden, wenn auch die grundsätzliche Notwendigkeit einer solchen Aufarbeitung außer Frage steht.
Ε. VI. Die Artikelstruktur
163
1. 5.1. Zu terminologischen Fragen Es existieren für den Bereich der Bedeutungsbeschreibung zahlreiche Termini, mit denen in Wörterbüchern, in der Fachliteratur etc. auf diese Artikelposition Bezug genommen wird.320 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier zunächst eine terminologische Klärung vorgenommen. Reichmann schlägt in der lexikographischen Einleitung zum Frühneuhochdeutschen Wörterbuch den Terminus „Bedeutungserläuterung" vor, mit der Begründung, das dreiwertige Verb „erläutern" impliziere immer schon den Wörterbuchbenutzer als Dativergänzung, im Gegensatz zu den ebenfalls häufig verwendeten Ausdrücken „definieren", „analysieren" etc. 321 Wir schließen uns dem an, bezeichnen aber mit „Bedeutungserläuterung" denjenigen Teil des Artikels, der der Formbeschreibung folgt, da der Benutzer die Bedeutung eines W o r t e s nicht allein der Bedeutungsangabe entnimmt, sondern weitere, zusätzliche Informationen über die Wortbedeutung auch aus den Kommentaren des Lexikographen oder aus den Belegbeispielen entnehmen kann.322 Nur ein Teil dieser Bedeutungserläuterung ist die Bedeutungsangabe, um die es im folgenden gehen soll. Dieser Ausdruck wird im Sinne Wiegands verwendet323, der den Terminus „ A n g a b e " • w i e folgt definiert: „Angaben sind funktionale lexikographische Textsegmente, die entweder zum Lemmazeichen oder zu artikelinternen Angaben oder zu Angaben in anderen Artikeln oder zu Textteilen in den Außentexten des Wörterbuches in einer Angabebeziehung stehen, und deren genuiner Zweck darin besteht, daß der potentielle Benutzer aus ihnen entweder lexikographische Informationen über den Wörterbuchgegenstand oder solche über diesen und die Wörterbuchform erschließen kann."524
In diesem Sinne ist die Bedeutungsangabe dasjenige an das Lemmazeichen adressierte funktionale Textsegment, dessen genuiner Zweck darin besteht, daß der Benutzer aus ihm die Bedeutung des Lemmazeichens entnehmen kann. Inhalt einer Bedeutungsangabe ist eine Erklärung. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen die Art der Erklärung oder der Erklärungstyp, also inhaltlich bestimmte Formen wie die klassische Definition, die Synonymerklärung etc., wobei „Explikation" synonym zu „Erklärung" verwendet werden wird, und zum anderen
320 Eine Liste häufig verwendeter Termini findet sich bei Agricola, Erhard/Ursula Brauße/Dieter Herberg/Günther Kempcke/Klaus-Dieter Ludwig/Doris Steffens/Elke Tellenbach/Karl Wunsch: Deutschsprachige Bedeutungswörterbücher- theoretische Probleme und praktische Ergebnisse. Ein Literaturbericht. In: Sprachwissenschaftliche Informationen 6, 1983, S. 61. 321 FWB, Einleitung, S. 86/87. 322 Ahnlich auch Wiegand, Die lexikographische Definition 1989, S. 552/553 sowie Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur 1989, S. 427. 323 Vgl. hierzu Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur 1989, S. 409 - 462, passim, sowie Wiegand, Arten von Mikrostrukturen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch 1989, S. 462 - 501, passim. 324 Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur 1989, S. 427.
164
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
die Form der Erklärung, also die konkrete sprachliche Formulierung. Die Bedeutungsangabe kann aus mehreren Erklärungen, die zudem mehreren Erklärungstypen angehören, zusammengesetzt sein. 325 So kann etwa eine Zweckexplikation zur Verdeutlichung mit einer Synonymexplikation kombiniert werden. Auf beide Ebenen ist im folgenden einzugehen, vorher müssen jedoch die Aufgaben von Bedeutungsangaben bestimmt werden.326 1. 5. 2. Aufgaben der Bedeutungsangabe im Spannungsfeld zwischen adäquater Deskription und verständlicher Explikation Bevor jedoch Typ und Formulierung der Bedeutungsangabe betrachtet werden können, muß festgelegt werden, was die Bedeutungserklärung im einzelnen leisten soll, da Typ und Formulierung von diesen Aufgaben abhängen. Hierbei ist grundsätzlich zu beachten, daß die Aufgaben der Bedeutungsangabe im Spannungsfeld zweier Pole definiert werden: Zum einen muß ihre Leistung daran gemessen werden, ob sie eine adäquate Beschreibung der vorgefundenen Situation liefert, das kann im Einzelfall bedeuten, daß Komplexes komplex beschrieben werden muß, was der Benutzerfreundlichkeit abträglich sein könnte, zum anderen muß ihre Leistung daran gemessen werden, ob und wenn ja, in welchem Maße sie ihr eigentliches Ziel, nämlich den Lerneffekt beim Benutzer erreicht. Wie in dieser Arbeit beides übereingebracht werden soll, wird im folgenden beschrieben. Anders als die Explikation im gegenwartssprachlichen Wörterbuch will die Explikation in einem historischen Wörterbuch ebenso wie hier nicht zum „regelgerechten Gebrauch der durch sie beschriebenen Lexik anleiten"327, sondern den früheren Gebrauch eines Wortes, in diesem Fall „Geschmack", erläutern und eventuell vorhandene Unterschiede zum rezenten Gebrauch deutlich machen. Der Zweck einer Bedeutungsangabe in dieser Arbeit ist daher, wie ihr Name schon sagt, die Erklärung der Bedeutung des explicandums, nicht eine Anleitung zu seinem korrekten Gebrauch. Daraus ergibt sich in verallgemeinerter Darstellung die bekannte Form
325 Vgl. hierzu Wiegands Unterscheidung zwischen „lexikalischen Paraphrasen", „lexikalischen Bedeutungserläuterungen" und „Bedeutungsangaben" in: Wiegand, Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition 1985, S. 60/61 sowie die Zusammenstellung einiger lexikographischer Angaben in Wiegand, Der Begriff der Mikrostruktur 1989, S. 433. 326 Der Terminus „Definition" findet hier keine Verwendung, da er eine Festlegung auf einen bestimmten Sprachgebrauch impliziert, etwas, das bei der Betrachtung einer historischen Sprachstufe oder bei einem diachronen Ansatz, wie er hier vertreten wird, keinen Sinn ergibt. Vgl. hierzu auch: Henne, Semantik und Lexikographie 1972, S. 114/115. 327 Schaeder, Germanistische Lexikographie 1987, S. 105. Ahnlich bei Püschel, Bedeutungserklärungen als Regel- und Sachbeschreibungen 1979, S. 1 2 3 - 138 und bei Wiegand, Eine neue Auffassung der sog. lexikographischen Definition. 1985, S. 61.
Ε. VI. Die Aitikelstruktur
165
explicandum = explicans.328 Hierin liegt die erste Aufgabe der Bedeutungserklärung: Das explicans muß mit dem explicandum semantisch äquivalent sein.329 Die semantische Äquivalenz kann durch die Auswahl eines geeigneten Erklärungstyps, vor allem aber durch die Art der Formulierung gewährleistet werden. Das explicans soll dabei jedoch nicht jede mögliche Verwendungsweise des explicandums erklären. Insbesondere okkasionelle Verwendungen sollten ausgespart werden. Deshalb wird „Geschmack" hier nur in usuellen Kontexten erläutert.330 Es stellt sich jedoch sogleich die Frage, wie usuelle Kontexte zu erkennen sind. Da der Lexikologe, der sich mit einer früheren Sprachstufe befaßt, keine entsprechende Kompetenz besitzt, um diese Entscheidung zu treffen, muß er auf Hilfsmittel zurückgreifen, die häufig nicht sehr gut geeignet sind, usuelle Kontexte aus der Gesamtmenge der Belege herauszufiltem. So sind etwa Frequenzanalysen wegen der oben beschriebenen Bedeutungsunschärfen unmöglich. Siegfried Blum nennt zwei Indizien für das Vorliegen usueller Verwendungen: - Vorkommen der vermuteten Verwendung in mehreren Belegen - Vorkommen der vermuteten Verwendung in mehreren Texten331 Diese Indizien sind durch das folgende zu ergänzen: - Vorkommen der vermuteten Verwendung bei mehreren Autoren (dies schließt idiolektal-usuelle Verwendungen aus.) Schwierig zu erkennen, aber wenn möglich auszuschließen sind Verwendungen, die okkasionell erscheinen (sollen), es aber nicht sind, weil etwa der identische oder zumindest ähnliche Text zugleich in Briefen und in anderen Texten desselben Autors zu finden ist. Joachim Bahr weist allerdings darauf hin, daß erst die syntaktische Variation zeigt, daß eine Bedeutung sich etabliert hat.332 Siegfried Blum betont, daß die Entscheidung äußerst schwer zu treffen sei und fügt hinzu, daß sie daher im Althochdeutschen Wörterbuch meist offengelassen werde.333 In dieser Arbeit sollen daher okkasionelle Verwendungen, soweit die eindeutig zu erkennen sind, keinen Platz finden. In Zweifels fällen kann der Lexikograph in Form eines Kommentars auf seinen Verdacht aufmerksam machen. Neben der Beschreibung einer Bedeutung muß die Bedeutungsangabe auch die Unterschiede zu den anderen Bedeutungen verdeutlichen. Dies zielt nicht allein auf
328 Ahnlich auch Viehweger, Probleme der semantischen Analyse 1977, S. 268 - 278. 329 Die Auffassung, daß explicandum und explicans auch syntaktisch äquivalent sein müssen, wird hier nicht vertreten, vgl. hierzu Kapitel Ε. VI. 1. 5. 4. 330 Siehe auch Wiegand, Die lexikographische Definition 1989, S. 560. 331 S. Blum, Althochdeutsches Wörterbuch 1990, S. 29. 332 Bahr, Joachim: Regeln zur Praxis der historischen Lexikographie. In: Henne, Helmut (Hrsg.): Praxis der Lexikographie. Berichte aus der Werkstatt (= Reihe Germanistische Linguistik 22). Tübingen 1979, S. 55 333 Blum, Althochdeutsches Wörterbuch 1990, S. 29.
166
Ε. Methoden der lexikologischen Analyse und der lexikographischen Darstellung
die Abgrenzung der Einzelbedeutungen voneinander, wie dies Hartmut Schmidt beschrieben hat, 334 vielmehr sollen schon aus der Formulierung der Bedeutungsangabe Bezüge und Verwandtschaften von Einzelbedeutungen angedeutet werden. Die explizite Beschreibung solcher Verwandtschaften ist allerdings dem semantischen Kommentar vorbehalten.335 Die Bedeutungsangabe muß darüber hinaus zusätzliche Informationen enthalten, die über die reine Bedeutungsbeschreibung hinausgehen. So können durchaus, wo nötig, enzyklopädische Informationen aufgenommen werden.336 Warnungen, wie die von Viehweger, „Bedeutungsdefinition" und „Sachdefinition" nicht zu verwechseln337, bleiben, gestützt auf Wiegand, unbeachtet. Auch können Konnotationen, Hinweise auf gruppenspezifische Verwendungen und ähnliches mehr hinzutreten, auch in Form von Kommentaren.338
1. 5. 3. Probleme der Bedeutungsbeschreibung im diachron angelegten Wortartikel Bevor die Fragen nach den Erklärungstypen und den Formulierungsweisen beantwortet werden können, muß noch auf einige spezifische Probleme von Bedeutungsangaben in historischen bzw. diachronischen Wörterbüchern eingegangen werden. Der gravierendste Unterschied zum gegenwartssprachlichen Wörterbuch ist der, daß der Lexikograph keine eigene Kompetenz in der jeweils betrachteten Sprachkenntnis besitzen kann. Er muß daher die gesuchten Wortbedeutungen aus gegebenen Kontexten mit den oben beschriebenen Mitteln der Kontextanalyse und des Kontextvergleichs rekonstruieren. Da, wie bereits ausgeführt, nur ein Bruchteil der historischen Kommunikation heute zugänglich ist, ist das Analyseergebnis und damit die Formulierung der Bedeutungsangabe339 in hohem Maße als empirische Hypothese über den historischen usuellen Gebrauch
334 In: Schmidt, Wörterbuchprobleme 1986, S. 82. 335 S. hierzu unten, Abschnitt Ε. VI. 2. 336 Diese Ansicht vertreten unter anderem auch Erhard Agricola, ζ. B. in: Ein Modellwörterbuch lexikalisch-semantischer Strukturen. In: Agricola, Erhard/Jürgen Schildt/Dieter Viehweger (Hrsg.): Wortschatzforschung heute. Aktuelle Probleme der Lexikologie und Lexikographie (= Linguistische Studien). Leipzig 1982, S. 14/15 sowie in: Mikro-, Medio- und Makrostrukturen als Information im Wörterbuch. In: Schildt, Jürgen/Dieter Viehweger (Hrsg.): Die Lexikographie von heute und das Wörterbuch von morgen. Analysen - Probleme - Vorschläge ( - Linguistische Studien. Reihe A. Arbeitsberichte, 109). Berlin 1983, S. 8 und Herbert Emst Wiegand, in: Die lexikographische Definition 1989, S. 551. 337 Viehweger, Semantiktheorie und praktische Lexikographie 1982. S. 150. 338 Vgl. hierzu Schmidt, Wörterbuchprobleme 1986, S. 82. 339 Auf die Tatsache, daß das jeweilige Analyseergebnis nicht vollständig in den Erläuterungstext übersetzbar ist, hat Hartmut Schmidt aufmerksam gemacht. Vgl. hierzu: Schmidt, Wörterbuchprobleme 1986, S. 86. Er verweist zur Lösung dieses Problems allerdings auf die Analysemethode der Merkmalssemantik (a. a. O., S. 87).
Ε. VI. Die Artikelstruktur
167
eines Wortes zu lesen.340 Hiermit hängt es auch zusammen, daß der Benutzer eines historischen Wörterbuches an dieses allenfalls die Frage stellen kann: „wie wurde das Lemmazeichen X verwendet", nicht jedoch „was bedeutete Lemmazeichen
x? . (Oupnek'hat, Bd 1, S. 249 ff.) - wie auch dadurch, daß, in einer besondern Förmlichkeit, der Sterbende seine Sinne undgesammten Fähigkeiten einzeln seinem Sohne übergebt, als in welchem sie nunfortleben sollen. (Ebendas., Bd 2, S. 82 ff.) '*5 Bei. 15: ,Meine Lage war hoffnungslos. Der Schlag mit dem Kolben hatte meinen Hinterkopf getroffen.Das wirkte sich lähmend aus. Ich bin kein Arzt und weiß die möglichen Folgeerscheinungen eines solchen Krefthiebes nicht aufzuzählen. Ich besaß Gehör und Geruch, vielleicht auch Gesicht und Geschmack, aber daß die Bewegungsnerven versagten. Würden de ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, und Zwar so schnell, wie es in meiner Lage notwendig war?'1'' 1. 4. Fertigkeit, den Geschmack (Bed. 1) eines Stoffes, einer Substanz oder eines Objekts mit Hilfe der Zunge wahrzunehmen und zu beurteilen. Bei. 16: ,Jn Prälaturen und Klöstern muß man den Ton der Herrn Patrum anzunehmen verstehn, wenn man ihnen willkommen seyn will. Ein guter, gesunder Appetit; nach Verhältnis ebensoviel Durst und die Gabe, ein Gläschen mit Geschmack und oft genug ausleeren zu können; ein jovialischer Humor; ein WitZj der nicht zufein, sondern ein wenig materiell seyn muß; zuweilen ein Wortspielchen; ein lateinisches Räthsel, eine Anspielung auf eine scholastische Spitzfindigkeit; einige Bekanntschaft mit Legenden und Kirchenvätern; [...] "7 Bei. 17: „Die Königin, wenn sie ohne große Suite war, schickte gleichfalls an Hackert verschiedene Sachen von ihrer Tafel, sogar Sauerkraut, und sage: "Bringt es dem Hackert, der versteht es. Es ist auf deutsche Art mit einem Fasan zubereitet. Die Italiäner essen es aus Höflichkeit, aber nicht mit Geschmack.",™
Paul-Gesellschaft. Zweite Abteilung. Fünfter Band. Bemerkungen über den Menschen). Weimar 1936, S. 45. 15 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I (= Schopenhauer, Arthur: Werke in 5 Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von Ludger Lütkehaus, Bd. I). Zürich 1991, S. 371. Der Ausdruck „Sehkraft" läßt darauf schließen, daß auch mit den folgenden Bezeichnungen Sinnesfähigkeiten gemeint sind. 16 May, Karl: In den Schluchten des Balkan. Reiseerzählung (= May, Karl: Karl May's Gesammelte Werke. Bd. IV). Bamberg 1949, S. 159. Auch hier scheint es sich eher um Sinnesfähigkeiten als um Sinne zu handeln, letztere sind schwerlich zu einen Schlag auf den Kopf zu verlieren, erstere schon eher. 17 Knigge, Adolph Frhr. von: Uber den Umgang mit Menschen. In: Knigge, Adolph Frhr. von: Ausgewählte Werke: in zehn Bänden. Im Auftr. der Adolph-Freiherr-von-Knigge-Gesellschaft zu Hannover hrsg. von Wolfgang Fenner. Bd. VI. Philosophie 1. Hannover 1993, S. 329-330. Daß der Geschmackssinn beim Leeren eines Gläschens beteiligt ist, liegt auf der Hand, das hier gemeinte muß also etwas anderes sein. Da es um eine Fähigkeit geht („können"), liegt die hier angesetzte Bedeutung nahe. 18 Goethe, 146, Philipp Hackert, S. 251. Es heißt, „der [Hackert] versteht es", eine Wendung, die in etwa bedeutet: er kann es, ist fähig dazu. Da es sich um ein deutsches Gericht handelt („Sauerkraut"), ist davon auszugehen, daß es sich bei der Fähigkeit, die den Italienern abgesprochen wird, um die Fähigkeit handelt, den Geschmack des
F. Wortartikel „Geschmack"
195
Als Wortspiel: Bei. 18: ,JLeopold Heißenstein war der reichste und einer der geachtetsten Bürger des mährischen Landstädtchens Weinberg. Ob auch einer der beüebtesten, das stand dahin und machte die geringste seiner Sorgen aus. Witzbolde unter den Eingeborenen meinten, ein Mann von Geist und Geschmack sei er jedenfalls, das bringe schon sein Geschäft mit sich - das ansehnliche Weingeschäß nämlich, das rieh seit Generationen in seiner Familieforterbte und das er unerhörter Blüte gebracht hatte. 1.4.1. Produktive Fertigkeit des Kochenden, schmackhafte Speisen zuzubereiten. Für diese Bedeutung fand sich zwar nun ein einziger Beleg, der durch seine Qualität jedoch die Aufnahme dieser Bedeutung rechtfertigt. Bei. 19: „Gleich darauf aber rief sie ihr ganzes Hausgesinde zusammen. Sie mußten schnell herbeischaffen, was die Vorräte vermochten, Wild, Früchte, Wein und Geflügel. Einer derJäger, dessen Vater einst Küchenmeister gewesen, verstand ach noch am besten unter ihnen aufden guten Geschmack und mußte, sp allgemeinem Gelächter, eine weiße Schürfe vorbinden und den Kochlöffel statt des Hirschfingers föhren. Bald loderte ein helles Feuer im Kelletgeschoß, die halbvemsteten Bratspieße drehten ach knarrend in der alten verödeten Küche, überall war ein lustiges Plaudern und Getümmel.,co 1. 5. Sinn, der mit Hilfe seines Werkzeugs, der Zunge, den Geschmack (im Sinne von Bed. 1) eines Stoffes, einer Substanz oder eines Objekts wahrnimmt. Die Belege für diese Bedeutung machten ca. 1/9 aller Belege aus dem gustativen Bereich aus. Bei. 20: „ Weil diese Küchlein nichtgekaut, sondern geschluckt werden müssen, gleich denjenigen, so die Cosmische Familie Florenζ in ihr Wapen atfnahm; so sind sie nichtfur den Geschmack gemacht.,el Bei. 21: ,J?rey!ich könnte es etwas bedenklich scheinen, daß meine Freundin mir abgemerkt, wie gut mir in derfreyen Rhein- und Maynlufi der echte deutsche Wein geschmeckt; indessen muß ich aufs dankbarüchste erkennen, daß Sie mir Gelegenheitgeben versuchen, ober hinter dem Thüringerwalde die gleiche Wirkung thue? Ich zweifle daran; denn ob es gleich an freundlichen und heben Mitgenießern nichtfehlen wird, so war es doch dort eine ganz eigene Sache: der günstigste Empfang in einer von mir so lang entbehrten Umgebung, und so vieles zugleich auf mich eindringende Gute, versetzten mich in eine Stimmung welche
Krauts zu schätzen zu wissen. 19
Ebner-Eschenbach, Marie von: Boiena. Kritisch herausgegeben und gedeutet von Kurt Binneberg (= Ebner-Eschenbach, Marie von: Kritische Texte und Deutungen. Hrsg. von Karl Konrad Polheim. Bd. II). Bonn 1980. S. 5.
20
Eichendorff j o s e p h von: Die Entfuhrung. In: Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Erzählungen II. Hrsg. von Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz (= Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Hartwig Schutz. Bd. III). Frankfurt am Main 1993, S. 489/490. Auch hier geht es um eine Fähigkeit („verstand sich [...] auf"), allerdings beschränkt sich diese nicht auf die Rezeption.
21
Hamann, Johann Georg: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe hrsg. von Josef Nadler. Zweiter Band. Schriften über die Philosophie / Philologie / Kritik 1758-1763. Wien 1950, S. 60. Die Stelle legt nahe, daß nur dasjenige, welches gekaut wird, für den Geschmack gemacht ist. Der Geschmack braucht also Zeit, wohl für die Wahrnehmung. Daher muß hier die Bedeutung 'Geschmackssinn' vorliegen.
196
F. Wortartikel „Geschmack"
jeden Sinn gleichmäßig erhöhte, und so mag denn der Geschmack dabey auch gewonnen haben.,B2 Bei. 22: „"Du brachtest nicht %ehn richtige Wortefertig und behauptetest, daß ich der Betrunkene sei. Dann rutschtest Du wieder den Hunden nieder und schliefst ein, ohne %u erwachen." "Gräßlich, gräßäch! Sihdi, ich schäme mich! Dieser Simmsemm ist an allem schuld/" "Ja, dieser Simmsemmi Die beiden andern aber sind unschuldig, völlig unschuldig f "Welche beiden?" "Der eine, der das liebe, ehrliche, nahrhaße Getreidekorn gezwungen hat, Gifl werden, und der andere, der dieses Gift förmlich in seinen Korper hinunterbringt, obgleich Ach alle Nerven des Geschmacks und Geruches dagegen sträuben!" "Du hast recht. Verleih! Auch ich hatte mich erst springen; dann aber wurde mir der Trank vertrauter. [...]"'" 1. 6. Sinn für gutes Essen. Bei. 23:Meister Wacht beobachtete sehr scharf und wußte seine Beobachtungen schlau und verständig ψ nutzen. So hatte er wahrgenommen, daß der Herr Kastner sich nicht viel aus gut bereiteten Speisen machte, sondern alles ohne sonderlichen Geschmack und noch da%u auf etwas widerwärtige Weise herunterschluckte. Eines Sonntags, als, wie es gewöhnlich 3» geschehen pflege, der Herr Kastner bei dem Meister Wacht Mittag aß, begann dieserjede Speise, die äe geschäftige Rettel auftragen ließ, gar sehr loben und 3» preisen und forderte den Herrn Kastner nicht allein auf, in dieses Lob einzustimmen, sondern fragte auch besonders, was er von dieser oderjener Bereitung der Speisen halte. Der Herr Kastner verächerte aber ziemlich trocken, er sei ein mäßiger nüchterner Mann und seit Jugend auf an die äußerste Frugalität gewöhnt. Mittags genüge ihm ein Löffelchen Suppe und ein Stücklein Ochsenfleisch, nur müsse dieses hartgekocht sein, da es so, in geringer Quantität genossen, mehr sättige und man ach den Magen mit großen Bissen nicht %» überladen brauche; spr Nacht sei er gewöhnlich mit einer Untertasse guten Eierschmal^es und einem geringen Schnäpschen abgefunden, übrigens ein Glas extra Bier um sechs Uhr abends, wo möglich in der schönen Natur genossen, sein ganzes Labsal.,e* Als Wortspiel: Bei. 24: „Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wirgeheime Zugänge überallhin, wie
22
Goethe, IV25, Brief an Brentano, J.A.J., 28. Dez. 1814, S. 120/121. Daß es sich hierbei um die Bedeutung 'Geschmackssinn' handelt und nicht um 'Fähigkeit zu schmecken' oder gar 'Stoffeigenschaft', zeigt der vorletzte Teilsatz, in dem es heißt: „[...] eine Stimmung, welche jeden Sinn gleichmäßig erhöhte". Einer dieser Sinne ist eben der Geschmack. Dieser sei also „erhöht", d.h. verbessert (GWb Bd. III, Einwenden - Gesäusel 1998, Sp. 316: „4 (sich) steigern, verbessern a (sich) kultivieren, verfeinern" mit ähnlichem Beleg) worden. Dies geschah durch unterschiedliche äußere Einwirkungen, nämlich „den günstigsten Empfang", die „so lang entbehrte Umgebung" und „so vieles zugleich auf mich eindringende Gute", Faktoren also, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Geschmackssinn stehen. Diese bewirkten bei Goethe eine allgemeine gute Stimmung, die sich dahingehend auswirkte, daß sein ,,Geschmack"(-ssinn) dabei gewann, der Wein ihm also besser schmeckte, als er es nun, heimgekehrt, vom gleichen Wein erwartet.
23
May, Karl: Der Mir von Dschinnistan. 2. Auflage. Reprint der Karl-May-Gesellschaft Hamburg. Hamburg 1997, S. 97B.
24
Hoffmann, Ε. Τ. Α.: Meister Johannes Wacht. In: Hoffmann, Ε. Τ. Α.: Späte Werke. Mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel und Anmerkungen von Wulf Segebrecht. München 1965, S. 560/561.
F. Wortartikel „Geschmack"
197
sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge Labyrinthe der unvollendeten Cultunn und jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet »historischer Sinn« beinahe den Sinn und Instinktfür Alks, den Geschmack und die Zungeßr Alles: womit er sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir gemessen spm Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücküchster Vorsprung, dass wir Homer ψ schmecken verstehn, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie SaintEvremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht ach anzueignen wissen und wussten - welchen zugemessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehn: alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden k ö n n t e n , - und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer Neugierde.,es 1. 7. Urteilsvermögen in bezug auf Speisen und Getränke. Als Wortspiel: Bei. 25: ,ßey aller dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, Toleranz, Apathie, Hedypathie, oder wie mans nennen will, müssen wir uns die A b d e r i t e n gleichwohl nicht als Leute ο h η e a l l e n Geschmack vorstellen. Denn ihreßnf Sinne hatten sie richtig und vollgezählt: und wiewohl ihnen unter den angegebnen Umständen A l i e s gut g e n u g schmeckte; so däuchte sie doch, dieses oder jenes schmecke ihnen besser als ein andres; und so hatten sie denn ihre L i e b l i n g s s t ü c k e undL i e b l i n g s dichter so gut als andre Leute.'16 Bei. 26: „Wehmeier aß eigentlich mit dem größten Widerwillen bei einem Edelmanne, bloß weil er wie ein speisender Aktor des Tisches mit Reden, savoir vivre, Aufpassen, Halten aller Gliedmaßen und Spedieren aller Eßwaren so viel zu thun hatte, daß er aus Mangel an Muße kleine Dinge - ζ· B. Essiggurken, Kastanien, Krebsschwänze - bloß im Ganzen und ohne Geschmack verschluckte, so daß er nachher das Hartfutter wie einen verschlungenen Jonas oft drei Tage in der Weidtasche seines Magens
25
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887) (= Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Sechste Abteilung, Zweiter Band) Berlin 1968, S. 164/165. „Geschmack" muß hier über den reinen Schmecksinn hinausgehen, da der Gesichtspunkt der Qualität eine wichtige Rolle spielt.
26 Wieland, Christoph Martin: Geschichte der Abderiten. Erster Theil. In: Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke. Herausgegeben von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" in Zusammenarbeit mit dem „Wieland-Archiv", Biberach/Riß und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. Bd. VI (Bd. IXX), Hamburg 1984, S. 262. Trotz der Formulierung „ihre fünf Sinne" kann mit „Geschmack" hier nicht einfach der Geschmackssinn gemeint sein. Ausdrücke wie „gut genug", „besser" und „Lieblingsdichter" lassen vielmehr auf eine Beurteilung schließen, weswegen für diese Stelle nur die Bedeutungserläuterung 'Urteilsvermögen' in Frage kommt.
198
F. Wortartikel „Geschmack"
herumtragen mußte.,e7 Bei. 27: ,^4ber im stillen hing seine Seek an diesen Sendungen. Es waren nicht die Pfunde Raffinade und Kuba, es war die Poesie diesergemütlichen Begehung χμ einem ganvjremden Menschenleben, was ihn so glücklich machte. Er hob alle Briefe der Firma sorgfältig auf, wie die drei Liebesbriefe seiner Frau,ja er heftete sie mit dem Ehrwürdigsten, was er kannte, mit schwang und weißem Seidenfaden in ein kleines Aktenbündel; er wurde ein Kenner von Kolonialwaren, ein Kritiker, dessen Geschmack von den Kaufleuten in Ostrau höchlich respektiert wurde; er konnte sich nicht enthalten, den billigen MeUsqucker und den Brasilkaffee als untergeordnete Erzeugnisse der Schöpfung mit einer entschiedenen Verachtung behandeln;'a 1. 8. Wohlgefallen an einer Speise oder einem Getränk. Diese Bedeutung löst sich bereits wie auch die nächste aus dem Bereich der gustativen Wahrnehmung und bildet zusammen mit 1. 9. einen Übergang zu den unter 2. 7. verzeichneten Bedeutungen aus dem Bereich des subjektiven Wohlgefallens. Dennoch werden sie noch zum gustativen Bereich gerechnet. Die Belege für die Bedeutung 1. 8. machten ca. 1/9 aller Belege aus diesem Bereich aus. Bei. 28: „Der Notarius trank mit Geschmack den Krätzer und sagte, zweifelnd vor Freude: wenn würklicb etwas Poetisches an ihm wäre, auch nur der Flaum einer Dichterschwinge, so käme es freilich von seinem ewigen Bestreben in Leipzig her, in allen vom Jus freigelassenen Stunden an gar nichts hangen, an gar nichts aufzuklettern als am hohen Olymp der Musen, dem Göttersitze des Herfens, wiewohl ihm noch niemand recht gegeben als Goldine und der Kandidat;"3 Bei. 29: „Den größten Theil des Tages brachten wir bei ihm zu, und Abends bewirthete er uns auf chinesischem Porzellan und Silber mitfetter Schafmilch, die er als höchst gesunde Nahrung pries und aufnöthigte. Hatte man dieser ungewohnten Speise erst einigen Geschmack abgewonnen, so ist nicht täugnen, daß man sie gern genoß, und He auch wohl als gesund ansprechen durfte.,t0 Bei. 30: ,Allerdings hätte er sich wohl - Frau Katinka würde es gestattet haben - das fehlende Quantum nach Hause bringen lassen können. Aber Pilsener über die Gasse tragen! In einem Kruge oder einer Flasche! Ging da nicht schon durch das mehrmalige Umgießen die beste Kraft, das feinste Arom verloren! Nein: nur in der richtigen Faßnähe konnte es wirklich genossen werden. Und gerade dann, wenn man so recht eigentlich anfing auf den Geschmack kommen - einer Zeit, wo sich die Thür öffnete, diefreizügigen Gäste einer nach dem anderen eintraten, um sich mit vertrauächem Gruße hinter die Gläser %u setzen: aufbrechen und der Gesellschaft Valet sagen! Es war, wie gesagt, ein
27 Jean Paul: Titan. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums. Deutsche Akademie und Jean-Paul-Gesellschaft. Erste Abteilung. Achter Band: Titan 1. und 2. Band. Hrsg. von Eduard Berend. Weimar 1933, S. 81. 28 Freytag, Gustav: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Erstes Buch (= Freytag, Gustav: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe. Zweite Serie. Bd. I). Berlin o. J., S. 10. 29 Jean Paul: Flegeljahre. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums. Deutsche Akademie und Jean-Paul-Gesellschaft. Erste Abteilung. Zehnter Band. Weimar 1934, S. 82. Diese Stelle ähnelt in der Wortverwendung Beleg 16, die Wendung „mit Geschmack" legt hier jedoch eher die Bedeutung "Wohlgefallen' nahe. 30 Goethe, 135, Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, S. 221.
F. Wortartikel „Geschmack"
199
furchtbares, grausames Gebot - aber er mußte sieb ihmßgen.,el Häufig sind die Belege zu dieser Bedeutung aber ähnlich undeutlich wie der folgende Bei. 31: ,Kommt von allerreifsten Früchten Mit Geschmack und Lust 3» speisen! Über Rosen läßt sich Sehten, In die Apfel muß man beißen. "2 1. 9. Dauerhafte Neigung zu einer Speise, einem Getränk. Bei. 32: „»Herr Ritter, hören Sie nur erst meine Geschichte an, Sie werden, ich bin esgewiß, mir Ihren Beyfallgeben; In einem Stündchen ist alles abgethan! Doch lassen Sie uns vorher mit Saß von cyprischen Reben Und einem leichten Mahl, so gut der Mantelsack Von meinem Zwerg es giebt, die Lebensgeister erfrischen. Für unsers gleichen taugt kein leckerhcfier Geschmack; Oer Zufallpflegt in Bergen und öden Gebüschen Uns irrenden Rittern gar oft noch schlechter aufzutischen.«'''3 Bei. 33: „Die Traktament könnt' ich nach meinem Geschmack wählen, und Mariane ließ mil'sper se an guten Bissen niefehlen. Tam^ undJagd befiderten die Dauung; denn ohne das hätt's mirfreylich an Bewegung gefehlt. ιΰΑ
Bei. 72: „Und wie in jedem Menschen, auch selbst dem gemeinen, sonderbare Spuren übrig bleiben, wenn er bei großen ungewöhnlichen Handlungen etwa einmal gegenwärtig gewesen ist; wie er sich von diesem einen Flecke gleichsam größer fühlt, unermüdlich eben dasselbe erzählend wiederholt, und so, auf jene Weise, einen Schat^ßir sein ganzes heben gewonnen hat: so ist es auch dem Menschen, der solche große Gegenstände der Natur gesehen und mit ihnen vertraut geworden ist. Er hat, wenn er diese Eindrücke ap bewahren, sie mit andern Empfindungen und Gedanken, die in ihm entstehen, verbinden weiß, gewiß einen Vorrath von Gewür% womit er den unschmackhafien Theil des Lebens verbessern und seinem ganten Wesen einen durchgehenden guten Geschmack geben kann. '®5 2. 6. Art und Weise, Methode, Gewohnheit76. Löst sich die Wortverwendung von der Person des Künsders, so kann man nur selten noch von der Bedeutung 'Stil' sprechen. „Geschmack" wird übertragen auf die Art und
Weise von Handlungen aller Art und nähert sich somit der Bedeutung 'Art und Weise' an. Diesem Abschnitt sei zum besseren Verständnis eine sprachkritische Äußerung Scheibes vorangestellt:
Bei. 73: „Die Wörter: Methode, Goüt, oder Gusto, werden insgemein verwechselt, oder wohl gar
74 Goethe, V5, Gespräch mit Eckermann, J.P. (et al), 18. Mai 1824, S. 84/85. In diesem Beispiel geht es um das Wahrnehmen von „Objecten". Das Wort ist hier wohl in einem recht weiten Sinn verstanden, da Goethe abstrakt von „Weltanschauung" spricht, also der Wahrnehmung aller Dinge. Diese Wahrnehmung wird mit dem Schmecken verglichen. Der theoretische Hintergrund, das Wissen des Wissenschaftlers verhindert ein unverfälschtes „Schmecken". Gibt er seine Erkenntnisse an andere weiter, so bewirkt dies, daß die Dinge nicht mehr so aussehen, wie sie sind, sondern durch einen subjektiven Filter verändert erscheinen. Eine solche Veränderung macht sich dann in diesem Bild als veränderter „Geschmack" bemerkbar. Die Bedeutung ist hier schwer zu bestimmen. Es geht aber sehr wahrscheinlich in die Richtung von 'Gepräge'. Deutlicher wird diese Bedeutung im folgenden Bei. 72. 75 Goethe, 119, Briefe aus der Schweiz, S. 272. In diesem Beispiel wird eine Bildlichkeit des Geschmacks dazu verwendet, langweilige und interessante Phasen eines Lebens zu charakterisieren. Das Wort „Geschmack" ist dabei nur ein Teil dieser Metaphorik: Ungewöhnliche Erlebnisse verleihen dem Leben „Gewürz" und machen dadurch nicht nur die gewöhnlichen und langweiligen Phasen im Leben interessant, sie verleihen darüber hinaus auch dem Charakter des Menschen einen interessanten Zug (der in dieser Metaphorik „Geschmack" heißt). Somit könnte man als Bedeutung 'Zug' oder 'Gepräge' angeben. 76 Campe und Adelung verzeichnen die Bedeutung „die auf die Empfindung des Schönen gegründete Art zu denken und zu handeln.". Da diese sich am weitesten von der eigentlichen Bedeutung entfernt und im DWB nicht verzeichnet ist, soll sie hier besondere Aufmerksamkeit finden. Vgl. hierzu Campe, Bd. II, S. 333, Adelung, Bd. II, S. 613.
F. Wortartikel „Geschmack"
213
einer Sache gebrauchet, worauf sie gar nicht fielen.,rl Hier zunächst einige Belege für den Übergang von 'Stil' zu dieser Bedeutung: Bei. 74: „Was sagst du zu diesem Ammenmährchen, Eurybates? Sollte der göttliche Plato wohl eine so verächtliche Meinung von seinen Lesern hegen, daß erfür näthig hält, uns von Zeit Zeit wie kleine Knaben mit einem Fabelchen in diesem kindischen Geschmack zufrieden ψ stellen, weil er ms nicht Menschenverstand genug zutraut, eine männlichere Unterhaltung, wie die unmittelbar vorhergehende, in die Länge ausschalten? Wenn er esja für dienlich hielt, ψ mehrerer» Vergnügen der Leser den Ton zuweilen abzuändern, wie könnt1 ersieh selbst verbergen, daß nur Kinder, die noch unter den Händen der Wärterin sind, an einem so platten Mährchen Gefallen haben konnten?'™ Bei. 75: „Drei Seiten des Zimmers waren von einerprachtvollen seidenen Tapete bedeckt, aber nur an wenigen Stellen ließen ach die glühenden Farben ihrer silber- und azurdurchwirkten Arabesken erkennen; mächtige Spiegel, prachtvolle Ölgemälde, Bronze- und Elfenbein-Figuren, schwere alberne Leuchter und kostbare Waffen bedeckten fast ihre ganze Fläche. Ebenso eigentümlich, ebenso mit Zieraten überladen geigte sich die vierte, rechte Wand, die, nach alledem, was man von ihr sehen konnte, in dem Geschmacke einer Schiffskqjüte hergerichtet sein mußte; die kleinen viereckigen, mit Messingplatten eingefaßten Fenster, mit schmalen Mahagonistreifen dazwischen, verrieten wenigstens etwas Oerartiges.,K
77 Scheibe, Critischer Musikus, S. 121. Scheibes Bemerkung bekräftigt nicht nur die Beobachtung, daß „Geschmack" die Bedeutung 'Art und Weise' annehmen kann, sie geht sogar noch darüber hinaus. Offenbar verwendete man das Wort in den Bedeutungen "Verfahrungsart' (Campe für „Methode" in seinem Fremdwörterbuch. Das vollständige Zitat lautet: „die Art und Weise, die Lehrart, die Lehr- oder Vortragsweise, die Verfahrungsart oder Verfahrungsweise." (Campe, a. a. O., S. 420).), Ordnung' oder 'System' (Adelung, Bd. III, Sp. 193: „die Ordnung im Vortrage der Regeln; die Lehrart, bey altern Schriftsteilem die Lehrordnung, Lehrkunst. In weiterer Bedeutung auch überhaupt, die Ordnung und Eintheilung einzelner Dinge, welche auch System genannt wird." Da „Lehrart" von Adelung als veraltet gekennzeichnet wird, liegt es nahe, die Bedeutung 'Art und Weise' für „Methode" und damit auch für „Geschmack" anzusetzen. Versteht man unter „Lehrart" allerdings allgemein eine 'Art, Erkenntnisse zu vermitteln' (vgl. hierzu S. 67, wo aus Schillers „Ober die notwendigen Grenzen" (In: Theoretische Schriften, S. 693) zitiert wird: „Dem Geschmack ist also, unter den Einschränkungen, deren ich bisher erwähnte, bei Mitteilung der Erkenntnis zwar die Form anvertraut, [...]"), so ergibt sich, daß der Geschmack als 'Methode'/'Art und Weise der Wissensvermittlung' für die Form der Mitteilung einer Erkenntnis verantwortlich ist.). Die „Art und Weise" wird somit auf eine Handlung spezifiziert. Weiter jedoch kann man wohl in dieser Richtung nicht gehen. Darüber hinaus nähert sich der „Geschmack" als 'Art und Weise künstlerischen Schaffens' wiederum dem „Stil" an. Deutlich hier tritt also der formale Charakter des Geschmacks zutage, der nur fur die „Methode", also die Art und Weise, nicht aber für den Inhalt einer Sache verantwortlich zeichnet. 78 Wieland, Christoph Martin: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Viertes Buch. In: Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke. Herausgegeben von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" in Zusammenarbeit mit dem „Wieland-Archiv", Biberach/Riß und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. Bd. XI. (Bd. XXV), Hamburg 1984, S. 119. 79 Gerstäcker, Friedrich: Die Flusspiraten des Mississippi. Roman. Mit einem Nachwort von Harald Eggebrecht. Frankfurt am Main 1980, S. 103. Die Bedeutung 'Stil' wird für diese Arbeit an der Art des Gegenstands festgemacht, um eine zureichende Unterscheidung des künstlerischen Bereichs vom nichtkünstlerischen Bereich zu ermöglichen. Der Geschmack ist in diesem textbeispiel der eine „Schiffskajüte", und somit kann die Lesart 'Stil' für diese Verwendung nicht in Frage kommen. Darum wird dieser Beleg unter der
F. Wortartikel „Geschmack"
214
Bei. 76: „Alit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allem solchen Präsentinn seiner Gründe. Honette Dinge tragen, wie honette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand Es ist unanständig, allefünfFinger geigen. Was mh erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zurguten Sitte gehört, wo man nicht »begründet«, sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst.,i0 Auch zur Bedeutung 'Mode' gibt es keine klare Grenze: Bei. 77: „Er war nicht ein Blumenstrauß, aufdiese Art oder auf jene Art an einen Busen gesteckt: es war ein Blumenstrauß von der Hand einer G r α £ > e an den Busen einer G r a e gesteckt. Es war das Zauberische - das niemand nennen kann, wozu die empfindsamen Seelen einen eigenen Sinn haben; was sich von diesen Günstlingen der Natur fühlen, denken, aber nicht beschreiben läßt. Ich weiß nicht, ob die Grasjen, welche Sokrates, der Weise, in seiner fugend aus Marmor gebildet haben soll, in diesem Geschmacke gekleidet waren. Aber dieß weiß ich, daß ich einemjeden Maler, der nur ein Κ u b e η s , oder nur ein Boucher wäre, mochte verbieten können, die Grazien mit aufgelöstem Gürtel φ malen. 'β1 Bei. 78: „An schwillt das Gelärm, und als näher es kam, Auf die Straße hinaus tritt Cunningham, Engländer der Alte, von Kopf Zeh, Glatt, rosig, sein spärliches Haar wie Schnee, Dazu, nach britischem Brauch und Geschmack, In weißem Gilet und schwarzem Frack.,t2 2. 6.1. Art und Weise. Bei. 79: „Das Frauenzimmergiebt in Frankreich allen Gesellschaften und allem Umgange den Ton. Nun ist wohl nicht zu läugnen, daß die Gesellschaften ohne das schöne Geschlecht ziemlich schmacklos und langweilig sind; allein wenn die Dame darin den schönen Ton angebt, so sollte der Mann seinerseits den edlen angeben. Widrigenfalls wird der Umgang eben so wohl langweilige aber aus einem entgegengesetzten Grunde: weil nichts so sehr verekelt als lauter Süßigkeit. Nach dem französischen Geschmacks heißt es nicht: Ist der Herr ψ Hause?, sondern: 1st Madame %u Hause? Madame ist vor der Toilette, Madame hat Vapeurs (eine Art schöner Grillen); kurz Madame und von Madame
Bedeutungsangabe 'Art und Weise' eingeordnet. 80 Nietzsche, Götzen-Dämmerung 1969, S. 63/64. 81 Wieland, Christoph Martin: Die Grazien. Ein Gedicht in sechs Büchern. In: Wieland, Christoph Martin: Sämmdiche Werke. Herausgegeben von der „Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" in Zusammenarbeit mit dem „Wieland-Archiv", Biberach/Riß und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm. Bd. III. (Bd. X), Hamburg 1984, S. 42/43. Da hier von Kleidung die Rede ist, könnte neben 'Art und Weise' auch die Bedeutung 'Mode' in Frage kommen. Die ist wohl nicht letztgültig zu klären. 82 Fontane, Theodor: „Fire, but don't hurt the flag" In: Theodor Fontane: Balladen und Gedichte. Hrsg. von Edgar Gross und Kurt Schreinert (= Theodor Fontane: Sämtliche Werke, Bd. XX). München 1962, S. 63.
F. Wortartikel „Geschmack"
215
beschäftigen sich alle Unterredungen und alle Lustbarkeiten.tgar possierlich; sie gingen und sprachen noch viel zusammen und es fand sich am Ende, daß er ein abgedankterUebhaber der Schmachtenden in der Residentj; sei, den erfrüher manchmal bei ihr gesehen. Der Einklang der Seelen hatte sie zusammen, und ich weiß nicht was wieder auseinander geführt. Er rühmte viel, wie dieses Seelenvolle Weib mit Geschmack, treu und tugendhaß Bebe. Treu? - sie ist ja verheiratet, sagte Friedrich unschuldig. Ei, was! fiel ihm Leontin ins Wort, diese Alwina 's, diese neuen Heloisen, diese Erbschleicherinnen der Tugend sind p f i f f i g e r als Gottes Wort. Nicht wahr, der Teufel stinkt nicht und hat keine Hörner, und Ehebrechen und Ehrbrechen ist zweierlei? - Der Fremde war verlegen wie ein Schulknabe.,e05 Als Wortspiel: Bei. 193: „Würde der T h o r h e i t . - EinigeJahrtausende weiter aufderBahn des letzten Jahrhunderts! - und in Allem, was der Mensch thut, wird die höchste Klugheit achtbar sein; aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren haben. Es ist dann zwar nothwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und so gemein, dass ein eklerer Geschmack diese Notwendigkeit als eine Gemeinheit empfinden wird Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft im Stande wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu machen, so könnte eine Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein - dass hiesse dann vielleicht: Thorhnten im Kopfe haben.""*· 3. Feste Wendlingen. „Geschmack" ist häufiger Bestandteil fester Wendungen. Diese sind meist über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg zu finden, einige sind sogar älter. Daher wird im folgenden jeweils nur ein Beleg zitiert, mit Ausnahme einerseits solcher Wendungen, die sowohl in physiologischem, als auch in übertragenem Sinne gebraucht wurden oder die in verschiedenen Varianten vorkommen, andererseits solcher Wendungen, für die ein Erstbeleg erst nach 1800 nachzuweisen war. Alle der im folgenden beschriebenen festen Wendungen beziehen sich auf das persönliche Wohlgefallen. Dieses wird entweder spezifiziert (Geschmack an, in, von, für etw., (nach) jmds. Geschmack sein), oder in seinem Verlauf beschrieben (in den Geschmack kommen, den Geschmack an etw. bekommen, finden, gewinnen, haben, verlieren, einer Sache Geschmack abgewinnen). 3.1. In den Geschmack kommen. Mit dieser Wendung wird der Beginn eines Wohlgefallens oder eines Interesses
204 Wieland, Christoph Martin: Himmelblau und Lupine. In: Wieland, Christoph Martin: Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen. Bericht des Herausgebers und Register. Hrsg. von Siegfried Mauermann (= Wieland, Christoph Martin: Gesammelte Schriften. 1. Abteilung. Werke. Herausgegeben von der Deutschen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. XI (18,20), Hildesheim 1987, S. 163. 205 Eichendorff j o s e p h von: Ahnung und Gegenwart. Ein Roman. Mit einem Vorwort von de la Motte Fouque. In: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen. Hrsg. von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach (= Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Hartwig Schutz. Bd. II). Frankfurt am Main 1985, S. 247/248. 206 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 1973, S. 64.
F. Wortartikel „Geschmack"
255
beschrieben. Eine Spezifizierung findet statt, wenn das, woran man Gefallen findet, als erweiterter Infinitiv oder mit „an" angeschlossen wird. Hier kann die Objektstelle nur von einem Menschen besetzt werden. Die Besetzung durch ein Tier wäre denkbar, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Bei. 194: „Zu gleicher Zeit las ich, theils aus eignem Antrieb, theils auf Veranlassung meiner guten Freunde, welche in den Geschmack gekommen waren, Schauspiele aufzuführen, einen ganzen Wust theatralischer Produktionen durch, wie sie der Zufall mir in die Hände führte. Ich war in den glücklichen Jahren, wo uns noch alles gefallt, wo wir in der Menge und Abwechslung unsre Befriedigung finden."1'1 3. 2. Geschmack an etw. (bekommen, finden, gewinnen, haben, verlieren). Die obligatorische Leerstelle gibt an, woran man Gefallen findet, die daran anschließbaren Verben spezifizieren Phasen des Verlaufs des Wohlgefallens. Auch hier kann die Objektstelle nur von einem Menschen besetzt werden. Die Besetzung durch ein Tier wäre erneut denkbar, konnte aber nicht nachgewiesen werden. Bei. 195: „Die Liebe verursachtejet%t eine gan% besondre Aenderung meines Charakters. Ich war sonst nie sehr firs Empfindsame gewesen, ob ich gleich deswegen nicht gleichgültig war. Empfindsame Schriften waren mir immer in gewisser Absicht eckelhaft. Denn ichfands in der wirkächen Welt nicht so. Allein, sobald ich verliebt war, bekam ich Geschmack daran, und meine Einbildungskraft wußte bald das Unwahrscheinäche hinwegzuzaubern.,eot Bei. 196: „Es erschien, was man auf deutsch so eine Art von Eierkuchen nennen möchte, woran ich weit mehr Geschmack fand als an dem hochberühmten esthnischen Bierkäse, den ich nie sehe, ohne an Käsebier zu denken, wie es auch wohl richtiger heißen sollte. Bei. 197: , Nathanaelfolgte ihr, sie standen vor dem Professor.»Sie haben sich außerordentlich lebhaft mit meiner Tochter unterhalten«, sprach dieser lächelnd: »Nun, nun, Heber Herr Nathanael, finden Sie Geschmack daran, mit dem blöden Mädchen zjt konversieren, so sollen mir Ihre Besuche willkommen sein.«- Einen ganzen hellen strahlenden Himmel in der Brust schied Nathanael von dannen. Spalanzams Fest war der Gegenstand des Gesprächs in den folgenden Tagen. ,el° Bei. 198: ,^Αάη Mauleseltreiber trug ^örtliche Sorge fir mich und gab mir seine Kapuze; und man begriff überhaupt nicht, wie ich es habe wagen können, ohne Kapuze zu reisen. Diese sonderbare Art von schwarzbraunem Mantel mit der spitzigen Kopfdecke ist in gan\ Italien und vorzüglich in Sizilien ein Hauptkleidungsstück. Ich hatte ganz Geschmack daran gewonnen; und wenn ich von dieser Nacht
207 Goethe, 121, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Erstes Buch), S. 39. 208 Moritz, Carl Philipp: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz, Professor am Berlinischen Gymnasium. Zweiter Band. Berlin, bei August Mylius 1784, S. 65. 209 Seume, Johann Gottfried: Mein Sommer 1805. In: Seume, Johann Gottfried: Mein Leben. Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Mein Sommer 1805. Hrsg. von Jörg Drews unter Mitarbeit von Sabine Kyora (= Seume, Johann Gottfried: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Jörg Drews. Bd. I). Frankfurt am Main 1993, S. 589. 210 Hoffmann, Ε. Τ. Α.: Der Sandmann. In: Hoffmann, Ε. Τ. Α.: Fantasie- und Nachtstücke. Fantasiestücke in Callots Manier. Nachtstücke. Seltsame Leiden eines Theater-Direktors. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Walter Müller-Seidel. Darmstadt 1962, S. 355.
F. Wortartikel „Geschmack"
256
urteilen soll, so habe ich Talent Kapuziner, denn ich schlief sehr gut.,eu Bei. 199: „Der 'Engländer über Berlin: "in Berlin, wer nicht Geschmack hat an Bierstuben und Weinstuben, er sei arm oder reich, er lebt und stirbt armselig. ",el2 Bei. 200: „Ruhig über den Besitz seines Hertens, empfahl sie ihm, sich, während ihrer Abwesenheit, kein Vergnügen, so ihm das reiche und wollüstige Smyrna verschaffen konnte, versagen; und empfahl es ihm desto eifriger,je gewisser sie war, daß sie von dergleichen Zerstreuungen nichts ψ besorgen habe. Alkin Agathon hatte bereits angefangen den Geschmack an diesen Lustbarkeiten %u verlieren. So lebhaft, so mannigfaltig, so berauschend sie seyn mögen, so sind sie doch nichtfähig, einen edlern Geist, lange einzunehmen. Als eine Beschäftigung betrachtet, können sie es nur fur Leute seyn, die sonst nichts taugen; und Vergnügungen bleiben sie nur, so lange als sie neu sind. Je lebhafter sie sind, desto eher folgen Sättigung und Ermüdung; alle ihre anscheinende Mannigfaltigkeit kann bey einem fortgesetzten Gebrauch das Einförmige nicht verbergen, wodurch sie endlich selbst der verdienstlosesten Klasse der Weltmenschen ekelhaft werden. ' t n 3. 3. Geschmack in etw. Die obligatorische Leerstelle ermöglicht den spezifizierenden Anschluß eines Wohlgefallens. Auch hier scheint die Objektstelle nur von einem Menschen besetzt zu werden. Bei. 201: „Er hat viel spr Bildung meines Verstandes beigetragen, doch habe ich ihm auch einige Zweifel in Absicht der Religion danken. - Er hatte in allen nur fünfviertelJahr Collegia besucht; die mehresten hab' ich ihm abgeschrieben und nachgeschickt. Jet%t ist er schon examinirt, und auf ihn wartet eine der besten Pfarren, sobald seine Reisen geendiget sind. Durch ihn bekam mein Geschmack in der Wahl der Bücher eine andre Wendung. Vorher hatte ich nur Romane gelesen, und Reflexion und Moral immer überschlagen, weil mich nur das Historische vergnügte.