Geschlossene Gesellschaften zwischen Abschottung und Durchlässigkeit [1 ed.] 9783666405624, 9783647405629, 9783525405628


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German Pages [269] Year 2016

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Geschlossene Gesellschaften zwischen Abschottung und Durchlässigkeit [1 ed.]
 9783666405624, 9783647405629, 9783525405628

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Beiträge zur Individualpsychologie

Band 42: Pit Wahl (Hg.) Geschlossene Gesellschaften zwischen Abschottung und Durchlässigkeit

Pit Wahl (Hg.)

Geschlossene Gesellschaften zwischen Abschottung und Durchlässigkeit

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 10 Abbildungen und 2 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h­ ttp://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40562-9 Umschlagabbildung: Oskar Schlemmer, Vier Figuren und Kubus © akg-images © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Albrecht Stadler Gemeinschaft und Individuum in flüchtigen Zeiten. Zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit des Menschen im Prozess der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Bärbel Husmann Schule, nichts als Schule! Lassen sich geschlossene Systeme entwickeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Holger Kirsch Armut oder Depression? Über die Zusammenhänge von sozialem Status und dem Risiko, psychisch zu erkranken . . . . . 45 Angelika Elisabeth Otto »GEHDOCHDAHINWOICHHERKOMME«. Leben und Werk von Babak Saed – ein Gespräch mit dem Künstler . . . . . . . . . . 64 Judith Steinbeck Von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft? – Homosexualität in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Heiner Sasse Vom Verharren im inneren Gefängnis oder warum Emanzipation ohne ermutigende Beziehung nicht gelingen kann . . . . . . . . . . 105

6Inhalt

Natalie Pampel Die magische 21. Analytische Kinder- und Jugendlichen­ psychotherapeuten zwischen »KiJus« und Anerkennung als Psychoanalytiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Mathias Hirsch Sexualisierter und narzisstischer Missbrauch von Macht in Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Petr Günsberg Willkommen im Land der Feinde. Der psychotherapeutische Umgang mit Ressentiments einer speziellen Gruppe von Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Elisabeth Rohrbach Institutionslogik in der Psychiatrie versus patientenorientierte Behandlung. Von der Innensicht zur Außensicht – und umgekehrt 196 Michael J. Froese Der Systemumbruch von 1989 und seine intergenerationellen Folgen für Ostdeutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Marion Werth Menschen in der DGIP. Interview mit Ulrich Seidel und Günter Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Vorwort

»Geschlossene Gesellschaften – zwischen Abschottung und Durchlässigkeit«, so lautet der Titel der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) 2015 in Köln. Gefühle von Zugehörigkeit und Einbezogensein auf der einen, Ausgeschlossensein oder Ausgeschlossenwerden auf der anderen Seite zählen über das gesamte Leben – beginnend mit Schwangerschaft und der Geburt über die verschiedenen Entwicklungsphasen hinweg bis hin zum Sterben und Tod – zu den wichtigsten Grunderfahrungen menschlicher Existenz. Was heißt es, dazuzugehören? Welche Bedeutung hat es, Teil zu sein einer Familie, von gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten, Kindertagesstätte und Schule, von Sprachen-, religiösen, weltanschaulichen und nationalen Gemeinschaften, von Leit- und Subkulturen? Andersherum gefragt: Was bedeutet es, nicht dazuzugehören, ausgegrenzt zu werden oder sich nicht zugehörig zu fühlen? Oder auch: Was heißt es, andere nicht in der »eigenen Gesellschaft« dabeihaben zu wollen, sie – absichtlich oder nicht – auszugrenzen? Wir wissen, dass die Fähigkeit, sich mit anderen zu verbinden, genauso wie sich zum richtigen Zeitpunkt und in angemessener Weise von anderen zu trennen, also die Fähigkeit zur Bindung und zur Abgrenzung, als wichtiger Bestandteil seelischer Gesundheit angesehen werden kann. Einbindungs- und Ausgrenzungserfahrungen spielen dabei eine bedeutende Rolle: nicht nur in der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Das sagt sich leicht. Aber: Was ist das richtige Maß, die angemessene Mischung zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung? Wann behindert das Verharren in einem geschlossenen System persönliches und gesellschaftliches Wachstum? Wo sind Abgrenzung, Zusammenhalt nach innen und vielleicht sogar Abschottung nach außen entwicklungs-

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förderlich, wann sind diese Haltungen kontraproduktiv und hemmend? Wann und wo ist Toleranz und integratives Handeln, wo ist Ausschluss angemessen? Unter der Überschrift »Geschlossene Gesellschaft(en)« gehen die Referenten der Jahrestagung der DGIP diesen Fragen nach und arbeiten heraus, welche Rolle Inklusions- und Exklusionserfahrungen vor allem in der praktischen klinischen und beraterischen Arbeit spielen, mit welchen Chancen und Risiken, mit welchen Vor- und Nachteilen (allzu) offene oder geschlossene Systeme bzw. Gemeinschaften verbunden sein können – nicht zuletzt auch in der Individualpsychologie und ihren Institutionen selbst. Die folgenden Beiträge entsprechen im Wesentlichen den Schriftfassungen und der Abfolge der Vorträge, so wie sie auf der Jahres­ tagung gehalten wurden. Albrecht Stadler beleuchtet das Tagungsthema in seinem Einführungsvortrag »Gemeinschaft und Individuum in flüchtigen Zeiten« unter aktuellen gesellschaftlichen und tiefenpsychologisch-psychoanalytischen Aspekten. Er schildert zunächst ganz persönliche Empfindungen und Gedanken, die ihn beim Lesen eines Artikels in der »Süddeutschen Zeitung« über den Umgang mit Flüchtlingen in Bayern beschäftigt und bewegt haben. Die konkret beschriebenen fremdenfreundlichen und fremdenfeindlichen Formen des Umgangs mit neu ankommenden Flüchtlingen reflektiert er auf dem Hintergrund der sozialpsychologischen Analysen von Zygmunt Bauman. Dieser polnische Soziologe und Philosoph, der in seinem eigenen Leben zahlreiche Flucht- und Ausgrenzungserfahrungen gemacht hat, kommt in seinen Analysen zu dem Schluss, dass Individuen in der »flüssigen«, »flüchtigen« Moderne und in globalisierten Zusammenhängen zwar Freiheit gewinnen, aber auch – selbst produziert – Sicherheiten verlieren können. Bereits der Titel »Schule, nichts als Schule!« des Beitrags von Bärbel Husmann macht seinen Fokus deutlich. Sie geht vor allem der Frage nach, wie geschlossen und wie offen, wie statisch oder entwicklungsfähig das System Schule im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und Aufträgen, ministeriellen Vorgaben und innerschu­ lischen Beharrungs- und Veränderungskräften ist. Sie legt zunächst dar, dass und warum Schule tatsächlich in vielerlei Hinsicht eher als ein geschlossenes denn als ein offenes System beschrieben werden muss,

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verweist dann aber auch darauf, dass »offen« nicht automatisch mit »gut« und »geschlossen« nicht mit »schlecht« gleichzusetzen ist. Auch wenn verschiedene schulische Subsysteme – zum Beispiel Schulverwaltung, Lehrerkollegium, Schülerschaft – gelegentlich zu abgrenzenden und ausgrenzenden Verfestigungen neigen, so können sie doch auch immer Impulse von außen aufnehmen, sodass durch Kommunikation, Austausch und Kooperation Abkapselungsgefahren entgegengewirkt werden kann. Holger Kirsch stellt sich in seinem Beitrag »Armut oder Depression? Über die Zusammenhänge von sozialem Status und dem Risiko, psychisch zu erkranken« ausdrücklich in die Tradition Alfred Adlers, der sich bereits vor mehr als hundert Jahren als gesellschaftlich engagierter Sozialmediziner mit der Situation der »einfachen Leute« und mit psychischen Erkrankungen als Folge belastender Arbeits- und Lebensbedingungen beschäftigt hat. Anhand von zahlreichen aktuellen Forschungsergebnissen belegt Kirsch, dass auch heute noch die Lebenserwartung und die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, vom sozialen Status abhängen – ebenso der Wille und die Fähigkeit, sich professionelle Hilfe zu verschaffen. Der Zusammenhang zwischen belastenden Erfahrungen in der Kindheit bzw. prekären Lebensumständen und einem erhöhten Risiko, an Anpassungsstörungen, psychosomatischen Beeinträchtigungen und Depressionen zu erkranken, besteht heute wie damals. Kirsch plädiert für eine Intensivierung der Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet, aber auch für die Wiederbelebung individualpsychologischer Traditionen im präventiven Bereich. Einen ganz anderen Akzent setzt der Beitrag von Angelika Elisabeth Otto. Sie geht der Frage nach, wie sich kulturelle Veränderungen und Brüche, die sich infolge einer Migrationsbewegung vollziehen, im Leben und Werk eines Künstlers nachvollziehen lassen, der, einer bildungsbürgerlichen Tradition folgend, als 14-Jähriger sein Heimatland verlassen hat, um sich mit einer im eigenen Herkunftsland zwar geschätzten, für ihn aber zunächst fremden Kultur auseinanderzusetzen. Babak Saed kam 1978 aus dem Iran nach Deutschland, ging hier  – obwohl er die deutsche Sprache zunächst nicht beherrschte – direkt zur Schule und arbeitete nach Abschluss seines Volkswirtschafts­studiums zunächst als Redenschreiber eines Krankenversicherungskonzerns, bevor er eine künstlerische Laufbahn ein-

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schlug. Als ein Mensch mit besonderer Affinität und Begabung für sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten und Sprachmuster wählte er – in der für ihn zunächst ja fremden Sprache – genau dieses Medium als Ausdrucksform für seine Kunst. Seine im Wortsinne »flüchtige« Arbeit »­GEHDOCHDAHINWOICHHERKOMME«, die neben weiteren Installationen im Beitrag analysiert wird, kann als Beispiel für eine Auseinandersetzung mit dem Thema der »Geschlossenen Gesellschaften« angesehen werden, die mit künstlerischen Mitteln Zusammenhänge bewusst macht, welche mit dem Verstand allein nicht angeregt und hinreichend tiefgründig erfasst werden können. Judith Steinbeck thematisiert in ihrem Beitrag »Von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft? – Homosexualität in der Psychoanalyse« die historische Entwicklung des Umgangs mit gleichgeschlechtlicher Orientierung innerhalb der psychoanalytischen Bewegung. Sie benennt die überwiegend pathologisierenden Positionen von Freud, Adler und vielen ihrer Nachfolger in dieser Frage, verweist auf Widersprüche und Ambivalenzen in den jeweiligen theoretischen Entwürfen und auch auf die Vermischung von fachlich-theoretischen Stellungnahmen und politischen Opportunitätsentscheidungen. Am Beispiel der Beziehung zwischen Anna Freud und Dorothy Burlingham zeigt Steinbeck beispielhaft den Widerspruch auf zwischen offiziellen Stellungnahmen und eigenen, nach außen verleugneten Lebensentwürfen. Sie zeichnet nach, wie sich parallel zur Bürgerrechtsbewegung der Lesben und Schwulen innerhalb der Psychoanalyse allmählich eine aufgeklärtere Haltung gegenüber Homosexualität durchsetzt. Ausdrücklich plädiert sie für eine weitere Öffnung im Verständnis von anderen Lebensformen als denen der bürgerlichen Kleinfamilie des Industriezeitalters und spricht sich dafür aus, die Begrifflichkeiten der Psychoanalyse in dieser Frage weiter zu überdenken und zu erneuern. So wie eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft in ganz unterschiedlichem Maße in sich abgeschlossen und nur auf sich bezogen oder aber flexibel und Fremdem gegenüber offen sein kann, so sind auch Individuen in ihrer Struktur innerlich mal mehr auf Vertrautes, Altes und Bekanntes fixiert, mal Neuem gegenüber aufgeschlossen. Heiner Sasse beschäftigt sich in seinem Beitrag »Vom Verharren im inneren Gefängnis oder warum Emanzipation ohne ermutigende Beziehung nicht gelingen kann« mit innerseelischen Prozessen, die persön-

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liche Abkapselung begünstigen und gesunde Entwicklungen behindern. Er legt dar, dass eine allzu verfestigte Über-Ich-Substruktur – ein unfreies, absolutes und rigides »Gewissen« – eine bedeutsame Rolle bei allen chronifizierten seelischen Erkrankungen spielt, und analysiert in diesem Zusammenhang vor allem bewusste und unbewusste (verinnerlichte) Machtverhältnisse, aus denen Patienten sich aufgrund bestehender existenzieller Ängste oft nicht lösen können. Er erläutert die verborgenen Entstehungsbedingungen von Machtbeziehungen und untersucht die Funktionen, die durch ihre Wirksamkeit eine Trennung aus Machtbeziehungen verunmöglichen. Dabei bezieht er Fragen der Macht, des Machtgefälles und des möglichen Machtmissbrauchs innerhalb therapeutischer Beziehungen ausdrücklich mit ein. Er zeigt aber auch auf, dass im Rahmen einer langfristigen, verlässlichen therapeutischen Beziehungsgestaltung Patienten ermutigt und befähigt werden können, selbst- und fremdschädigende Erlebnis- und Verhaltensbereitschaften abzuschwächen bzw. zu überwinden. Natalie Pampel beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit einem Problemfeld, das innerhalb der psychoanalytischen Bewegung schon lange, immer wieder und immer noch kontrovers diskutiert wird: das Verhältnis von Erwachsenen- und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Unter der Überschrift »Die magische 21. Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zwischen ›KiJus‹ und Anerkennung als Psychoanalytiker« beschreibt sie die Unterschiede sowie die Gemeinsamkeiten in der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Arbeit mit Patienten, die jünger oder älter sind als 21 Jahre. Und sie beklagt die historisch nachvollziehbaren, heute aber schon lange nicht mehr begründbaren Vorurteile sowie die Abgrenzungen, Ausgrenzungen und Entwertungen, die Kinderanalytiker auch aktuell immer wieder erfahren. Überzeugend legt sie dar, dass die Behandlungstechniken in der Arbeit mit jüngeren und älteren Menschen zwar unterschiedlich sind, dass sich diese aber in ihren Grundhaltungen wie auch in den theoretischen Bezügen denselben Prinzipien verpflichtet fühlen. Ihre Aussagen belegt Pampel u. a. durch drei behandlungspraktische Beispiele, in denen die Psychodynamik der Patienten wie auch Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse plastisch dargestellt werden. »Sexualisierter und narzisstischer Missbrauch von Macht in Institutionen« – mit diesem Thema untersucht Mathias Hirsch ein Phänomen,

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das lange Zeit in der Gesellschaft wie auch in der psychoanalytischen »Community« tabuisiert war und weitgehend totgeschwiegen wurde – inzwischen aber deutlich gelockert oder sogar aufgehoben und vielfach einer schmerzhaften Aufklärung gewichen ist. Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich bleibt es wichtig, höchst sensibel gegenüber möglichen institutionellen und gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten unterschiedlicher Missbrauchsarten und -formen zu sein, besonders dann, wenn die Gefahr einer Identifikation mit den – oft angesehenen und geschätzten – Tätern (statt mit den Opfern) nicht erkannt und überwunden wird. Als besonders wichtig erweist sich – auch für das »psychoanalytische Haus« selbst – in diesem Zusammenhang eine fortlaufende, umfassende Aufklärungsarbeit schon während der Ausbildung sowie die Entwicklung und Pflege einer offenen und kritischen Gesprächskultur in den psychoanalytischen Ausbildungsinstitutionen, die auch vor der Auseinandersetzung mit den etablierten Älteren und Mächtigen nicht zurückschreckt. Petr Günsberg beschäftigt sich in seinem Vortrag mit den ambivalenten Gefühlen von Personen, die bei der Integration in ein fremdes Land – das zudem ehemals Feindesland war – auftreten können. Der Autor, der sich sowohl auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen als auch in der psychotherapeutischen Arbeit mit Patienten immer wieder mit dem Phänomen vielfältiger Ambivalenzen konfrontiert sieht, stellt seinen Beitrag unter die Überschrift »Willkommen im Land der Feinde. Der psychotherapeutische Umgang mit Ressentiments einer speziellen Gruppe von Migranten«. Vorbehalte und Vorurteile gibt es nämlich keineswegs nur bei denjenigen, die in einer nach eigenen Gesetzmäßigkeiten gewachsenen, relativ geschlossenen Gemeinschaft bzw. Gesellschaft leben, auch die »Zuwanderer« haben natürlich ihre eigene sprachliche, politische und kulturelle Verwurzelung. Dass und unter welchen Bedingungen – trotz aller Schwierigkeiten – eine soziale und psychische Integration gelingen kann, wird an zwei Fallbeispielen veranschaulicht. Die psychiatrische Klinik ist in der Vergangenheit häufig als »totale Institution«, quasi als Prototyp einer in sich geschlossenen (und abgekapselten) Gesellschaft, bezeichnet worden, in der Erfahrungen von Macht und Ohnmacht oft hart aufeinandertreffen. Elisabeth Rohrbach, selbst Leiterin einer psychiatrischen Klinik, untersucht in ihrem Beitrag »Institutionslogik in der Psychiatrie versus patientenorientierte Behand-

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lung. Von der Innensicht zur Außensicht – und umgekehrt« die Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche einer Einrichtung, die den Interessen und Wünschen von Menschen nachzukommen versucht, die in unterschiedlichster Weise von schweren psychischen Störungen betroffen sind: Patienten, Angehörige, Klinikmitarbeiter, Gerichte und auch die Öffentlichkeit. »Die Psychiatrie« sieht sich dabei immer wieder vor widersprüchliche und manchmal kaum zu lösende Aufgaben gestellt: die Beachtung von Persönlichkeitsrechten, von Schutzbedürfnissen und nicht zuletzt auch von Linderungs- und Heilungswünschen. Die Frage, ob eine sinnvolle und wirksame Behandlung von psychisch kranken Menschen in einer psychiatrischen Klinik überhaupt realistisch und möglich ist, wird von der Autorin kritisch reflektiert, indem sie Einblicke in die vielfältigen Widersprüche und Konflikte in der Arbeit mit psychiatrisch Auffälligen gibt, aber doch auch auf das Potenzial verweist, das die im psychoanalytischen Denken verwurzelten Behandlungsformen eröffnen können. Wie eine Familie, so bildet auch ein Land, eine Sprachgemeinschaft oder eine Nation in der Regel eine mehr oder weniger in sich geschlossene Gesellschaft. Dennoch kann bekanntlich selbst eine staatliche Einheit durch historische Ereignisse zerfallen und sich in der Folge unterschiedlich entwickeln. Dann ist diese Gesellschaft nicht (mehr) weitgehend homogen, sondern zerfallen und in sich vielfach gespalten. In Deutschland begann eine solche Entwicklung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und spätestens seit Gründung der DDR 1949 war Deutschland politisch und gesellschaftlich in einen östlichen und einen westlichen Sektor aufgeteilt. Den psychischen Folgen, die diese Teilung bei der Wiedervereinigung vierzig Jahre später für die ostdeutsche Bevölkerung hatte, geht Michael J. Froese in seinem Beitrag »Der Systemumbruch von 1989 und seine intergenerationellen Folgen für Ostdeutsche« nach. Ausgehend von dem in einer psychohistorischen Arbeitsgruppe vielfach beobachteten Phänomen des Zusammenrückens der Generationen, einer zweiten, kulturell bedingten Adoleszenz der Älteren und hiermit verbundenen Identitätsirritationen ihrer Kinder stellt Froese anhand von zwei Fallbeispielen die Widerspiegelung dieser Verwerfungen in der psychotherapeutisch-psychoanalytischen Behandlung dar – insbesondere unter dem Aspekt von Übertragungsund Gegenübertragungsdynamiken. Die beschriebenen Phänomene

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können darüber hinaus auch als typisch für psychische Transformations­ prozesse angesehen werden, wie sie beim Übergang aus einer stark autoritär geprägten in eine westlich-demokratische Gesellschaft entstehen. Seit einigen Jahren beschäftigt sich ein Programmpunkt der Jahrestagungen mit der Erforschung, Darstellung und Reflexion der eigenen Verbandsgeschichte und dem Werdegang derjenigen, die diese Geschichte mitgestaltet und mitgeprägt haben. Das wie in den Vorjahren unter der Überschrift »Menschen in der DGIP« durchgeführte Interview mit Ulrich (Uli) Seidel und Günter Vogel beleuchtet in diesem Jahr vor allem die Rolle und die Bedeutung der Gruppenpsychotherapie innerhalb der Individualpsychologie. Die Arbeit in und mit Gruppen spielte im Werdegang und im Tätigkeitsbereich beider Psychoanalytiker eine große Rolle. Die Interviewerinnen, Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Marion Werth, befragen die beiden Kollegen nach ihrem persönlichen Lebensweg, ihrem beruflichen Werdegang, ihrer therapeutischen Sozialisation, ihrem Verhältnis zu Alfred Adler und der Individualpsychologie, ihren therapeutischen Grundhaltungen und ihrer psychotherapeutischen Identität. Da sowohl Günter Vogel als auch Uli Seidel sich über viele Jahre hinweg in der überregional organisierten Gruppentheorieausbildung der DGIP engagiert haben, erlauben ihre Antworten detaillierte Einblicke in die Hintergründe der wechselnden Bedeutung gruppenpsychotherapeutischer Arbeitsformen. Abschließend wagen sie aus ihrer Perspektive einen Blick in die Zukunft der DGIP und der Individualpsychologie. Den Teilnehmern der Kölner Jahrestagung der DGIP 2015 wünsche ich mit dieser Zusammenstellung der verschiedenen Beiträge eine gute »Nachlese« und all denen, die nicht dabei waren, vielfältige neue Anregungen und Impulse für die eigene pädagogische, psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit. Pit Wahl

Albrecht Stadler

Gemeinschaft und Individuum in flüchtigen Zeiten Zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit des Menschen im Prozess der Globalisierung

Zusammenfassung Der aktuelle, überwiegend syrische Flüchtlingsstrom in unser Land ist Anlass, sich das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in postmodernen Zeiten bewusst zu machen. Anhand der sozialpsychologischen Analysen von Zygmunt Bauman und auf dem Hintergrund eigener Flucht- und Ausgrenzungserfahrungen kommt der Autor zu dem Schluss, dass wir in der »flüssigen«, »flüchtigen« Moderne und in globalisierten Zusammenhängen zwar Freiheit gewinnen, aber auch selbst produzierte Sicherheiten verlieren und mit dementsprechenden Ängsten konfrontiert sind. Humane Lösungen sind nur möglich, indem wir uns dessen vergewissern.

Anders als zunächst geplant, möchte ich Sie auf einen Weg durch die Gedankenwelt mitnehmen, die mich seit der Anmeldung zu diesem Vortrag beschäftigt hat. Wie es so manchmal geschieht, bin ich von Themen weggetragen worden, denen ich mich nicht entziehen konnte. Lassen Sie mich Ihnen zunächst ein Bild beschreiben: Das Bild zeigt großformatig und beherrschend einen kleinen, offenbar niederbayerischen Ort, der sich auf einer leichten Anhöhe ausbreitet. Beherrscht wird er von einem sehr spitz in die, so vermute ich, Morgendämmerung ragenden Kirchturm. Der Ort wirkt wie eine geschlossene Einheit, eingerahmt von Buschwerk und Bäumen, idyllisch, aber noch leblos. Winzig auf einer kleinen Bank ist ein Menschenpaar auszumachen, einem der Ortseingänge zugewandt, den Rücken einer grünen landwirtschaftlichen Fläche zugewandt. In großem Abstand zum Ort führt am Feldrain ein Weg, eine für landwirtschaftliche Zwecke genutzte Straße entlang, auf der ein Polizeimannschaftswagen vor einer Gruppe von etwa dreißig bis vierzig Menschen herfährt, deren Gesichter unter Mützen und Kapuzenpullis kaum sichtbar sind. Es handelt sich nicht um einen Schulausflug, es handelt sich um eine Gruppe von Flüchtlingen.

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Albrecht Stadler

Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer verschiedenen Alters, einer geht gebeugt an einer behelfsmäßig aussehenden Krücke. Alle tragen Gepäckstücke und Plastiktüten und sie bewegen sich offenbar gemessenen Schrittes. Wohin der Weg führt, ist nicht sichtbar, er führt wohl an dem oben zu sehenden Ort vorbei. Wir wissen nicht wohin, und man kann sich denken, dass die Flüchtlinge das noch viel weniger wissen. Es handelt sich um ein Bild aus der Süddeutschen Zeitung vom Freitag, den 23. Oktober 2015, Seite 3 zu dem Artikel von Andreas Glas mit dem Titel »Geh weida«. »Geschlossene Gesellschaften«, unser Tagungsthema: Ist das Foto in der Zeitung ein Ausdruck für die Verschlossenheit unserer Gesellschaft? Das abgebildete Dorf liegt unverwandt und das Bild beherrschend da. Es sieht da gerade nicht so aus, als würde es sich öffnen können für die Fremden. Unter dem fast die halbe Zeitungsseite einnehmenden Foto berichtet der Artikel von Andreas Glas von den Flüchtlingen, die bei Passau über die deutsche Grenze kommen und zumeist zu Fuß zum Erstaufnahmezelt unterwegs sind. Der Artikel berichtet auch von einem Mann, der nicht mit Namen genannt sein will, vor dessen Haus sich Hunderte von Flüchtlingen sammelten, weil die nächste Erstaufnahmemöglichkeit, eine leere LKWHalle im nächsten Ort, schon überfüllt war. Die Flüchtlinge wussten offenbar nicht, was sie tun sollten. Es war früh am Morgen und sie standen im Regen. Der Mann hat sie in sein Haus geholt, nicht alle, aber Frauen und Kinder, sechzig bis siebzig Personen. Er wird zitiert: »Ich konnte nicht anders.« In seiner Stube, die vor langer Zeit mal eine Wirtshausstube war, hat er Dinge für die Flüchtlinge spontan bereitgestellt. Ein Kind fällt ihm auf, das Mädchen weint andauernd nach seinem Papa. Nach einiger Zeit holt er den ausfindig gemachten Vater von draußen aus dem Regen herein. Der Vater nimmt das Kind zu sich, es hört auf zu weinen. Mit brechender Stimme berichtet der Mann, der nicht genannt werden will, dass der Vater ihm irgendwie verständlich gemacht habe, dass die Mutter des Kindes auf der Flucht gestorben sei. Im Dorfwirtshaus sei er von den »Stammtischlern« gefragt worden, warum er das getan habe. Er erzählt, er habe zurückgefragt, was denn zu tun sei, wenn vor dem Haus die Kinder im Regen frieren würden. Die Antworten, die er bekommen habe, seien nicht geeignet, so sagt der Mann, abgedruckt zu werden.

Gemeinschaft und Individuum in flüchtigen Zeiten17

»Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, das könnte als Titel zu diesem Bild passen. Schuberts Winterreise zu Wilhelm Müllers Gedichten wird jetzt auch für kollektive Phänomene relevant. Die in großen Gruppen, in Mengen, in Massen auftretenden Flüchtlinge sind immer auch die Individuen der Winterreise, zwischen Liebe und Verlassensein, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Kälte und Wärme hin- und hergerissen. »So zieh ich meine Straße, Dahin mit trägem Fuß, Durch helles, frohes Leben, Einsam und ohne Gruß.«

So klingt es bei Schubert und Müller im Lied »Einsamkeit« im Zyklus der »Winterreise«. Und später im »Wegweiser«. »Weiser stehen auf den Straßen, Weisen auf die Städte zu, Und ich wandre sonder Maßen, Ohne Ruh, und suche Ruh. Einen Weiser seh’ ich stehen Unverrückt vor meinem Blick. Eine Straße muss ich gehen, Die noch keiner ging zurück.« (Franz Schubert/Wilhelm Müller: Winterreise, 1827, op. 89, D 911)

Was hat das alles mit dem mir vorschwebenden Thema zu tun? Das Bild und die Geschichte des helfenden Mannes in der Süddeutschen Zeitung haben damit zu tun, wie einerseits unser aller Sicherheits­ bedürfnis, das in der Geschlossenheit des Bildes von einer geschlossenen Ortschaft zum Ausdruck kommt, uns bestimmt. Auf der anderen Seite hören wir von einem Menschen, der sich aufgrund eines inneren Verpflichtungsdrucks die Freiheit nimmt, sich auf die Unsicherheit der Hilfestellung für die Flüchtlinge einzulassen, der in Kauf nimmt, sich als Individuum gegen seine Gemeinschaft zu stellen und dafür Anfeindungen erwartet und erträgt. Ursprünglich wollte ich über die verschiedenen Auswirkungen geschlossener Gesellschaften auf unser Leben, auf das Leben von Patienten, auf unsere Fachgesellschaften und Berufsverbände ­eingehen.

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Albrecht Stadler

Dazu gäbe es viel zu sagen. Die Ereignisse der letzten vier Wochen ließen mich aber zu der Überzeugung kommen, dass diese mir jetzt kleinteilig erscheinenden Themen gerade nicht »dran« sind. Ich war schon vor Weihnachten 2014 erschüttert von den fremdenfeindlichen Demonstrationen in Dresden und Leipzig. Auch in westdeutschen Städten, so auch in München, fanden sogenannte PEGIDA»Spaziergänge« statt – welch erschreckende Verniedlichung. Ich war damals auch bewegt und beeindruckt, als ich mit meiner Frau an der vorweihnachtlichen Großdemonstration teilgenommen habe, die unter dem Motto »München ist bunt« stand. Ich fühlte mich zurückversetzt in das Jahr 1992, als sich in München circa 400.000 Menschen zu einer Lichterkette gegen die damals sehr virulente Ausländerfeindlichkeit zusammenfanden. Es war mehrfach zu schweren Brandanschlägen auf Unterkünfte von Flüchtlingen und Asylbewerbern gekommen. Dagegen wurde ein Zeichen gesetzt und eine sonst schweigende Mehrheit hatte sich öffentlich gezeigt, hatte öffentlich gegen Fremdenfeindlichkeit Stellung genommen und die Münchener Lichterkette zu einem bewegenden Erlebnis und zu einer Erfahrung von Gemeinschaft gemacht. Die aktuellen Ereignisse, in unserem Land und um uns herum, haben meinem Thema eine andere Richtung gegeben. Ich kann nicht zur Eröffnung einer Tagung zum Thema »Geschlossene Gesellschaften«, bei der ich zum veränderten Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in postmodernen Bezügen sprechen wollte, ich kann also nicht an dem uns alle, oder zumindest die meisten von uns aktuell bewegenden Thema vorbeigehen. Es betrifft uns als Individuen und es betrifft unsere Gemeinschaften.

Verunsicherung und Angst in der »flüssigen« Moderne Ich möchte gerne über die Veränderungen sprechen, die sich in der Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft im Zusammenhang postmoderner Entwicklungen zugetragen haben und sich weiter zutragen. Dazu ziehe ich unter anderen die Schriften des Sozialwissenschaftlers Zygmunt Bauman heran, der als ein Protagonist der Analyse post­ moderner Entwicklungen gilt.

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Ich hatte Bauman 2008 zu einer Bonner Tagung der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), die unter dem Gesamtthema »Die Fähigkeit, allein zu sein« stand, eingeladen und ihn um einen Vortrag gebeten. Im Planungsvorfeld der Tagung hat sich zwischen Zygmunt Bauman und mir ein sehr schöner E-Mail-Austausch entwickelt, den ich nicht missen möchte. Bauman, damals 83 Jahre alt, wurde in dieser Korrespondenz sehr persönlich und sprach seine Lebensumstände mit seiner damals schon sehr kranken, 2009 dann verstorbenen Frau Janina an (»the companion of my life«). Die Teilnahme Baumans an der Tagung war dadurch gefährdet. Aber er konnte kommen. Sein Vortrag (»Anmerkungen zum Kulturbegriff Freuds. Oder: Was ist bloß aus dem Realitätsprinzip geworden?«: Bauman, 2009) ist in dem Tagungsband zur DGPT-Tagung 2008 (Münch, Munz u. Springer, 2009) nachzulesen, und das lohnt sich. Baumans Lebensgeschichte ist tief geprägt von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – dem Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus, dem Stalinismus, der Judenverfolgung, dem Antisemitismus hier und dort. Sein Leben stellt, wie nicht anders zu erwarten, eine Beziehung her zu den Themen, mit denen er sich intensiv beschäftigte. Geboren 1925 in Posen, Polen, Sohn einer armen jüdischen Familie, floh er mit seiner Familie 1939 vor der Nazi-Invasion nach Russland. Dort ging er zur Schule, schloss sich der polnischen Widerstandsarmee an und kämpfte an der russischen Front gegen die Deutsche Wehrmacht. Er wandte sich den kommunistischen Ideen zu und wurde auch für geheimdienstliche Tätigkeiten herangezogen, was ihm später von mancher Seite angekreidet wurde. Zurück in Warschau traf er seine Frau Janina, die das Warschauer Ghetto überlebt hatte und die zu den Erfahrungen im Ghetto selbst publiziert hat. Die akademische Karriere Baumans begann in den 1950er Jahren in Warschau. Als es dort 1968 zu antisemitischen Ausschreitungen und Hetzkampagnen kam, floh er nach Israel und lehrte für drei Jahre an der Universität in Tel Aviv. Konfrontiert mit und erschüttert von der Missachtung der Rechte der Palästinenser durch den Staat Israel folgte er einem Ruf an die nordenglische Universität Leeds, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Im Grunde begann erst danach seine sehr aktive Veröffentlichungstätigkeit.

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Albrecht Stadler

In einem seiner Hauptwerke, »Moderne und Ambivalenz« (1992a), befasst sich Bauman mit dem Übergang zur Postmoderne. Mit diesem Buch, das vom Ende der Eindeutigkeit handelt, wurde er auch zu einem der wesentlichen Vordenker der Postmoderne, einen Begriff, den Bauman später zu ersetzen versuchte. Er spricht jetzt von der »flüssigen Moderne« (»liquid Modernity«) im Gegensatz zur »festen Moderne« (»solid Modernity«). Die feste Moderne ist das, was wir in den Kulturwissenschaften »die Moderne« nennen. Die Moderne hat gerade Linien, feste Kanten und folgt strengen Regelwerken. Diese feste Moderne beginnt laut Bauman mit dem 20. Jahrhundert. Die moderne Zivilisation hat sich, so Bauman, entschieden, Freiheiten aufzugeben und gegen Sicherheiten einzutauschen. So ist die bürgerliche Familie, die Thomas Mann beschreibt und die Freud analysiert, ein Hort der Sicherheiten, alles ist geregelt und vorgedacht, die Freiheiten jedoch sind eingeschränkt. Die Sicherheit der bürgerlichen Welt wird mit dem Aufgeben von Freiheiten erkauft. In der Literatur dieser Zeit finden wir häufig die Berichte darüber, was mit Menschen passiert, die gegen die Regeln der bürgerlichen Gesellschaft verstoßen. Die psychischen Folgen der bürgerlichen Zivilisation finden wir bei Freud, Adler und Jung unterschiedlich beschrieben. Einen traurigen und skandalösen Höhepunkt der festen Moderne sieht Bauman im Holocaust, zu dem er das sehr lesenswerte Buch verfasst hat mit dem Titel, »Dialektik der Ordnung – Die Moderne und der Holocaust« (1992b). In diesem Buch legt er eine meines Erachtens sehr beeindruckende Analyse des Holocaust vor: Die Fähigkeit der Menschen in der Moderne, Destruktivität und Inhumanität effizient zu organisieren, wird zum Gegenstand seiner Überlegungen und Analysen. Die feste Moderne strebt danach, das Fremde auszurotten. Der Holocaust wird als Konsequenz dieser Moderne gesehen, die in dem Willen wurzelt, eine effiziente Ordnung zu schaffen. Bauman meint, der Holocaust sei eben nicht ein Rückfall und eine Regression in barbarische Zeiten gewesen. Der Jude wird in der festen Moderne als eine Metapher für das Unbekannte und Fremde gesehen, wodurch die Ordnung gestört wird. Das Unbekannte, das Fremde muss nach dieser »Logik« für immer ausgelöscht werden. Die feste Moderne versucht, die Natur unter Kontrolle zu bringen, sie sorgt für feste Bürokratien und Hierarchien, für Regeln und verfes-

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tigte Kategorien. Diesen Regeln zu folgen, ist konstituierend für eine gute und angepasste Moral. Die Agenten der Ordnung versprechen die Befreiung von individuellen Unsicherheiten und globalen Ungewissheiten. Chaotische Aspekte der menschlichen Existenz werden in eine Ordnung gezwungen, die Freiheiten beschneidet. Später beschreibt Bauman den Übergang von der Moderne in die Postmoderne. Dieser Begriff hat in seinen Augen viel Verwirrung gestiftet, deshalb spricht er jetzt, wie gesagt, lieber von der »flüssigen« bzw. »flüchtigen« Moderne, die Bauman in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorfindet. Im Gegensatz zur festen Moderne werden jetzt Sicherheiten zugunsten größerer Freiheiten aufgegeben. Die Freiheit von Bindung und Verbindlichkeit, die Freiheit, das Leben auf jede erdenkliche Weise zu konstruieren und zu genießen, die Freiheit zu unbegrenztem Konsum. Wir gewinnen und wir verlieren dabei. Wir gewinnen an Freiheit und der Verlust zeigt sich in der Angst, in der, »flüssigen Angst« – »Liquid Fear«, so der Titel eines seiner Bücher (Bauman, 2006). Wir leben in Zeiten und in einer Zivilisation der Angst und Panik. Alle möglichen Katastrophen scheinen uns jederzeit zu bedrohen, seien es Naturkatastrophen oder terroristische Bedrohungen, seien es Viren und Bakterien oder auch Flugasche. Wir können, und so wird es uns medial vermittelt, jederzeit »drankommen«, jederzeit können wir die Nächsten sein, die die Katastrophe ereilt. Wir nennen es die Angst und wir meinen die Unsicherheit unserer flüchtigen Gegenwart und unserer verflüssigten Kultur, derer wir nicht habhaft werden. Wir wissen nicht, woher die Bedrohung kommt, wir kennen die Inhalte der Bedrohungen nicht, wir können uns schwer entscheiden, ob wir etwas, und wenn ja, was und wann und gegen welche Bedrohung tun sollen. Sich auflösende Bindungen und Verbindlichkeiten in Beziehungen führen zu Bindungen an andere und verschiedene Dinge und Inhalte. Wir schaffen Ersatzbindungen, wir sprechen von Kundenbindung; wir binden uns an Marken von Waren, an Fußballvereine und suchen Leitkulturen. Diese Bindungen werden zuweilen mit fundamentalistischem Furor verteidigt. Der Konsumismus ist die Metapher für eine immerwährende Verfügbarkeit von allem. Dies scheint zunehmend menschliche Bindungen zu ersetzen. Auch die neuen Medien und das Internet stellen diese scheinbar unendliche Verfügbarkeit her, die verspricht, die Unsicherheit menschlicher Bindungen aufzuheben.

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Neuere Studien berichten von dramatisch ansteigenden Kaufsuchten. Jedoch, die gekauften Dinge werden nicht gebraucht. Wenn sie da sind, werden sie gelagert, aufgehoben oder wieder verkauft bzw. weggeworfen. Der Kick besteht in der unmittelbaren Befriedigung. Diese wiederum wird als fiktives Zeichen einer unendlichen Verfügbarkeit gesehen. Sven Hillenkamp (2009) befasst sich in seinem Buch »Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit« mit diesen Phänomenen. Bauman weist uns darauf hin, dass diese Entwicklungen weder gut noch schlecht sind. Sie sind seiner Ansicht nach immer von Natur aus ambivalent. Die Ambivalenz bringt Gewinne und Verluste mit sich. Metaphorisch vergleicht er kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen mit einem Pendel, das zwischen Unsicherheit und Freiheit, zwischen Sicherheit und Unfreiheit langsam hin- und herschwingt.

Wir leisten dem Flüchtlingsstrom Vorschub und fühlen uns zugleich von ihm bedroht Die wachsende Flüchtigkeit der sozialen Bezüge, die zunehmenden Brüche in den menschlichen Bindungen – daran können wir in Psychotherapie und Beratung nicht vorbeisehen –, das führt, so Bauman, zu Ressentiments gegenüber Fremden. Diese Fremden stellen lebendige und greifbare Verkörperungen der befürchteten Flüchtigkeit der Welt dar. Die Fremden bieten sich an als die Sündenböcke, anhand derer man sich des Schreckgespenstes einer aus den Fugen geratenen Welt in symbolisierter Weise entledigen kann. Die Fremden, die an erster Stelle Ablehnung und Hass hervorrufen, sind jetzt die Flüchtlinge, die Asylbewerber und die mittellosen Migranten aus den ärmsten und am meisten bedrohten Regionen dieser Welt. Sie sind uns ein Zeichen dafür, dass unsere Sicherheit und unser wohlhabender Lebensstil nicht gesichert, dass Ruhe und Frieden stets bedroht sind. Kriege, Massaker, neu entstehende Armeen, die sich aus Kindern und Jugendlichen ohne Lebensperspektive rekrutieren, sind die Folgen einer Globalisierung, der wir Vorschub geleistet haben, durch die zugleich unsere Lebensweisen bedroht sind. In erster Linie jedoch sind die Verlierer der Globalisierung betroffen, was sich in einer »Massenproduktion« von

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Flüchtlingen ausdrückt. Als Ausgestoßene und Rechtlose sind sie die Produkte einer Globalisierung, von der sie auf eine nie endend erscheinende Reise geschickt werden. Es gibt keinen Ort, wo sie sich endlich niederlassen können. Bauman lässt seine eigenen Lebenserfahrungen sprechen, wenn er von den Flüchtlingen, als dem »menschlichen Abfall des globalen Grenzlandes« spricht, von den »absoluten Außenseitern, die an jedem Ort der Welt fehl am Platz sind«. »Wer einmal draußen ist, bleibt dort auf unbestimmte Zeit; es bedarf lediglich eines Sicherheitszaunes und einiger Wachtürme, damit des Flüchtlings Ortlosigkeit ewig dauert« (Bauman, 2007, S. 16).

Sartres und unsere geschlossene Gesellschaft(en) Wenn ich zum Tagungsthema »Geschlossene Gesellschaften« assoziiere, fällt mir erst einmal Jean-Paul Sartre ein, der in seinem 1944 in Paris uraufgeführtem Einakter »Geschlossene Gesellschaft« den berühmt gewordenen Satz »Die Hölle, das sind die anderen« formuliert. 1949 wurde das Stück in Hamburg erstmals auf Deutsch gezeigt. Ich habe es leider nie gesehen, aber in meiner Gymnasialzeit bin ich der Schriftfassung begegnet. Es geht darin um zwei Frauen und einen Mann, die sich, nach ihrem Tod in der Hölle wiederfinden, wo sie von einem Diener bewacht werden. Alle drei Personen hatten sich im Leben auf die eine oder andere Weise schwerwiegend schuldig gemacht. Sie warten auf die Höllenstrafen, die Höllenqualen, die sich jedoch nicht wirklich einstellen; die Temperatur im Raum steigt nur mäßig. Jeder will vom anderen wissen, warum er hier sei, keiner will jedoch vor den anderen die eigene Schuld offenbaren. Im Lauf des Dramas wird jeder des anderen Folterknecht, jeder sucht abwechselnd die Hilfe und Solidarität des anderen, jedoch bis zum Schluss bleiben alle des jeweils anderen Hölle – der Ausweg, sich gegenseitig umzubringen, ist ihnen verwehrt, sie sind schon tot. Sie versuchen den Ausbruch aus ihrem Gefängnis, aber er gelingt nicht. Als sich dann die Tür zur Freiheit doch öffnet, klammern sie sich aneinander und keiner verlässt den Raum. Sie scheinen vor der Freiheit und den befürchteten Fallen zu erschrecken. Am Schluss kommt der resümierende und resignierte Satz: »Also – machen wir weiter.« Die anderen bleiben also die Hölle.

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Das Stück wird oft als existenzialphilosophisches Lehrstück betrachtet. Georg Hensel schreibt in seinem Schauspielführer »Der Spielplan«: »Sartre wolle uns drei Lehren vermitteln: 1. Der Mensch ist frei und für jede seiner Taten verantwortlich. 2. Der Mensch ist dauernd in Versuchung, sich ein falsches Bild von sich selbst zu machen. Er ist auf den Mitmenschen wie auf einen Spiegel angewiesen. Erst als die drei Protagonisten des Stückes sich in ihrem Raum, in dem es keinen Spiegel gibt, ineinander spiegeln, werden sie zur Wahrheit vor sich selbst gezwungen. 3. Angesichts des jederzeit möglichen Todes sei so zu handeln, dass man jederzeit vor dem Urteil der Gesellschaft und vor sich selbst im Augenblick der Wahrheit bestehen kann« (Hensel, 1992, S. 1052). Es gibt in der Welt Sartres keinen Gott mehr (man bedenke, dass das Stück gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden ist), die Hölle jedoch bleibt bestehen, sie besteht aus dem Mitmenschen, der Gesellschaft. Sartres Hölle, so Georg Hensel, liegt nicht im Jenseits; die Hölle ist ein Bild für die höllischen Möglichkeiten des Diesseits. Den engen Raum dieses Theaterstücks, in dem die Hölle sich auf dem Sofa zwischen drei Menschen ausbreitet, erlebe ich als noch überschaubaren Raum. Was sich heute in mir und um mich herum abspielt, was ich in meiner Praxis, was sich in unserem Beruf abspielt, ist erheblich unüberschaubarer geworden. Sind die anderen immer noch die Hölle? Angesichts der aktuellen Lage bekommt das Bild von den »Geschlossenen Gesellschaften« eine bedrohliche Aktualität. Am Münchener Hauptbahnhof ankommend, erleben wir die beklemmende Situation von Selektion, ein Begriff, der in unserem Land eine schreckliche und belastete Geschichte hat. Die Sicherheitsorgane, so berichtet jemand, weisen die ankommenden Zugpassagiere nach in Augenscheinnahme an den Flüchtlingen vorbei. Diese unzähligen und noch nicht gezählten, noch nicht registrierten und erschöpften Menschen, die Familien, die Kinder werden dagegen festgehalten. Sie hören auf die ihnen meist unverständlichen Anweisungen. Hier sind die Menschen nicht mehr gleich; die einen sind frei, zu gehen. Dort hinter den Absperrgittern sind die anderen, die festgehalten werden. Beklommenheit macht sich breit. Ein kleines Plakat wird hochgehalten und ich lese: »Kein Mensch ist illegal.« Bahnhöfe, Gleise, eine festgehaltene und zusammengedrängte Menge, die bekannten Bilder der NS-Verbrechen steigen in mir auf. Manche Gesichter zeigen Zuversicht und Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft, in anderen

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steht die Angst geschrieben und die Hoffnungslosigkeit. Die nach einer langen Wanderung, einer »Winterreise«, im Sommer hier angekommenen Menschen – was wird sie hier erwarten? Werden sie den Schrecken, denen sie entflohen sind, werden sie ihren inneren Bildern entkommen können? Es ist sehr bewegend zu sehen, wie viele Menschen in München bereit sind, Hilfe zu leisten, manch einer wird abgewiesen, weil es schon zu viele sind, die helfen wollen. Organisationstalente sind gefordert. Es herrscht eine große Freundlichkeit, erschöpft wirkende Polizisten sind, wie viele andere auch, ratlos. Geschlossene Gesellschaften – bei aller gezeigten Offenheit, und die haben wir am Hauptbahnhof in München auch erlebt – bleiben doch verschlossen. Die bayerische Psychotherapeutenkammer schickt Aufrufe heraus, man solle sich melden zur Behandlung der vielen traumatisierten Flüchtlinge. Hier ist der Bahnhof mit diesen Bildern, dort ist zur gleichen Zeit die Veranstaltung der Münchener Kammerspiele, dem Theater der Stadt, die sich in einem schon länger geplanten Kunstprojekt mit der Münchener Wohnungsnot auseinanderzusetzen versucht. In meiner reichen Stadt, auf den Luxusmeilen, vor der Oper und sonst wo finden sich grob zusammengezimmerte Unterkünfte, die als »shabbyshabby Apartments« für eine Nacht billig angemietet werden können. Im Angesicht der aktuellen Entwicklungen taucht die Frage auf, ob man diese jetzt nicht den Flüchtlingen öffnen müsste. Es gibt viele Begründungen, warum das nicht geht, aber es zeigt auch die Paradoxien, mit denen wir leben und denen wir ausgesetzt sind. Wir wissen, dass es viele Menschen in München gibt, die sich Wohnraum dort nicht mehr leisten können, die Stadt wird bereits zur geschlossenen Gesellschaft derjenigen, die es sich leisten können. Und jetzt die Flüchtlinge. Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, hat in seiner bewegenden Rede zum Friedenspreis am 18. Oktober 2015 gezeigt, auf welch abgrundtief schrecklichen Verhältnisse er in den Ländern getroffen ist, aus denen die Flüchtlinge unter ungeheuren Strapazen kommen. Angesichts dieses Schreckens werde das »Menschenrecht zur Menschenpflicht«. Diese Wendung – Menschenrecht wird zur Menschenpflicht – schreibt er dem Kapitän eines Frontex-Schiffes zu, das dafür zuständig ist, Menschen daran zu hindern, in Booten übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Dieser Kapitän trifft auf ein Holzboot, in dem sechzig bis siebzig eingepferchte Men-

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schen die gefährliche Überfahrt wagen. Der Kapitän hat auf die Erfüllung seiner Aufgabe verzichtet, ist seiner Menschenpflicht gefolgt und hat die Menschen aus dem Boot vor dem Untergang gerettet. In mir entstehen angesichts dieser Widersprüche Ohnmachtsgefühle, und ich suche nach Halt. Ich bin, wie viele Menschen in unserem Land, das Kind und der Bruder von Flüchtlingen. Die Eltern nahmen die beiden Brüder und verließen die DDR. Sie hatten, mit je einer Tasche bepackt, alles andere zurückgelassen und fanden sich in einer fremden Welt wieder, die 1952 offenbar nicht sehr »welcoming« war. Nach Unterkommen in einem Flüchtlingslager in Westberlin konnten sie mithilfe von Berliner Verwandten nach Westdeutschland, nach München, weiterreisen. Ich bin kurz darauf in München als Kind einer jüdischen Mutter geboren und in meiner Familie der Einzige, der München als seine Heimat bezeichnen kann, wenn auch – aus der Not geboren – zunächst in einem Säuglingsheim untergebracht. Ich wuchs auf als Fremder unter Fremden, als einer, der mit den Brüchen konfrontiert war, die die anderen Familienmitglieder erlebt hatten. Diese meine Geschichte konnte ich in meiner Lehranalyse betrachten und damit kann ich zurechtkommen. Wie harmlos klingt diese Situation meiner Familie, die sicher mit der Geschichte von einigen oder mehreren meiner Zuhörer vergleichbar ist. Im Vergleich zur Situation der Syrer, die sich aus zum großen Teil extremen Bedrohungslagen auf eine selbst wiederum lebensbedrohliche Flucht begeben, ausgeliefert den Schlepperbanden, die daraus ihren finanziellen Nutzen ziehen. Derartigen Umständen war meine Familie nicht ausgeliefert, und trotzdem habe ich besonders meine Eltern auch als irgendwie gebrochene Menschen erlebt. Ich selbst entwickelte eine Art Doppelexistenz: Wenn ich von der Straße, wo ich mit den benachbarten Freunden gespielt hatte, nach Hause kam, war ich mit meiner, von den Freunden angenommenen, bayerischen Sprachfärbung zu Hause der Außenseiter; dort wurde anders gesprochen. Zuweilen verstand ich wenig von dem, was da gesprochen wurde, ich war bei Weitem der Jüngste, und die anderen verstanden mich nicht mehr. Ich erinnere den Ausspruch meiner später nach München nachgereisten Großmutter: »Ik versteh’ den Jungen nich’«, berlinerte sie. In der Grundschule war ich wiederum der Außenseiter aus der protestantischen Flüchtlingsfamilie, der nicht wirklich zur damals noch sehr katholischen Umgebung gehörte.

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Home is, where one starts from Bei T. S. Eliot heißt es in »The four Quartetts«: »Home is, where one starts from.« Ob Eliot, der Heimatlose in seinem »Wasteland« damit das sehr deutsche Wort »Heimat« anspricht? Ich startete in einer Flüchtlingsfamilie, die zu meiner Heimat wurde. Die Heimat bezieht sich auf die Kindheit, und es geht um die Herkunft, das Herkommen: Home is, where one starts from. Wohin geht es denn von hier aus? Kann ich wissen, wohin ich will, wenn ich nicht weiß, woher ich komme? In dem wunderbaren, 2012 erschienenem Band »Die Deutsche Seele« von Thea Dorn und Richard Wagner (nicht der, an den Sie jetzt denken) wird die Seele anhand von sogenannten typisch deutschen Stichworten gesucht. Das reicht vom »Abendbrot« bis zur »Zerrissenheit«, trifft auf dem Weg das Stichwort »Gemütlichkeit« und die »Wanderlust« und macht unterwegs Halt bei der »Heimat«, einem Wort, das nicht übersetzbar ist, von dem die Autoren am Schluss des Essays sagen: »Heimat ist eines der schönsten Wörter deutscher Sprache. […] Heimat ist Ort und Zeit in einem, sie ist angehaltene Vergänglichkeit. Mit einem Mal ist die Landschaft wieder vertraut, und die Muttersprache wendet sich Wort für Wort zur Mundart, zum Dialekt.« Heimat ist […] »dort, wo man etwas zum ersten Mal erlebt hat, etwas, das sich so stark einprägt, dass alles andere, alles spätere einer Wiederholung gleichkommt. Das Gefühl aber, das man bei der Erinnerung an dieses erste Mal hat, nennt man Heimweh« (Dorn u. Wagner, 2012, S. 233–237).

Ausklang Ich spreche zum Auftakt einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie und habe Sie auf eine Reise durch meine mich derzeit bewegende Gedankenwelt mitgenommen. Ich habe darauf verzichtet, meine Rede mit Adlerzitaten zu versehen und hoffe doch, dass Sie spüren und bemerken konnten, dass ich auch aus einem Geist der Individualpsychologie Alfred Adlers gesprochen habe, dass mir die Fragen, wie und wo wir uns als Individuen in Gemeinschaften wiederfinden, bedeutsam und wesentlich sind. Und ich muss zugeben, dass wir auf diese Fragen doch nur vorläufige Antworten finden und bekommen.

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Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein Zitat zur vorsichtigen Ermutigung mitgeben. Ich habe es bei Zygmunt Bauman (2007, S. 285) gefunden, es stammt aber von Franz Kafka und findet sich in der kurzen Erzählung mit dem Titel »Fürsprecher«: »Findest du also nichts hier auf den Gängen, öffne die Türen, findest du nichts hinter diesen Türen, gibt es neue Stockwerke, findest du oben nichts, schwinge dich neue Treppen hinauf. Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.«

Literatur Bauman, Z. (1992a). Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius. Bauman, Z. (1992b). Dialektik der Ordnung – Die Moderne und der Holocaust. Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt. Bauman, Z. (2006). Liquid Fear. Cambridge: Polity Press. Bauman, Z. (2007). Leben in der flüchtigen Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bauman, Z. (2009). Anmerkungen zum Kulturbegriff Freuds. Oder: Was ist bloß aus dem Realitätsprinzip geworden? In K. Münch, D. Munz, A. Springer (Hrsg.), Die Fähigkeit, allein zu sein. Zwischen psychoanalytischem Ideal und gesellschaftlicher Realität (S. 15–34). Gießen: Psychosozial-Verlag. Dorn, T., Wagner, R. (2012). Die deutsche Seele. München: Knaus. Glas, A. (2015). Geh weida. Süddeutsche Zeitung, 23.10.2015, S. 3. Hillenkamp, S. (2009). Das Ende der Liebe – Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Stuttgart: Klett-Cotta. Hensel, G. (1992). Spielplan. München: List. Münch, K., Munz, D., Springer, A. (Hrsg.) (2009). Die Fähigkeit, allein zu sein. Zwischen psychoanalytischem Ideal und gesellschaftlicher Realität. Gießen: Psychosozial-Verlag. Schubert, F., Müller, W. (2008). Winterreise – zit. nach dem Beiheft zur CD: Winterreise. C. Gerhaher (Bariton), G. Huber (Piano). Sony/BMG.

Bärbel Husmann

Schule, nichts als Schule! Lassen sich geschlossene Systeme entwickeln?1

Zusammenfassung Nach dem PISA-Schock haben Instrumente der betrieblichen Organisationsund Personalentwicklung in Schulleiter-Fortbildungen und ministerielle Qualitätsbeschreibungen Eingang in die Schule gefunden. Zugleich wurde die Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule gestärkt. Inwieweit diese Maßnahmen geeignet sind, um Schulentwicklung zum Erfolg zu führen, soll reflektiert werden.

Eine Erfahrung Unser Hausmeister ist im letzten Jahr in Ruhestand gegangen. Er sprach einen breiten Pfälzer Dialekt, hatte mehrere Jahre seines Lebens im Süden verbracht und war ein humorvoller, gutherziger Mensch, der nicht viel Aufhebens von seiner Person machte: An einem seiner letzten Tage im Dienst trat ich aus meinem Büro und traf ihn mit einer Kollegin im Gespräch an. Sie sagte: »Na, wie fühlt es sich denn an, demnächst in Rente zu sein?« Er antwortete – und ich sah den Schalk in seinen Augen –: »Bestens, von 3.000 Euro Rente kann ich dann ja gut leben!« Sie erwiderte erfreut: »Ach, so viel Pension bekommen Sie? Dann können Sie sich’s ja gut gehen lassen!« Kurze Pause. Dann sagte sie: »Oder … Sie bekommen ja Rente. So heißt das.«2

1 Für wichtige Ideen und Hinweise danke ich Manfred Falke und Elisabeth Fuchs-Brüninghoff. 2 Das Bruttogehalt eines Hausmeisters beträgt circa 2.300 bis 2.500 Euro monatlich, die entsprechende Rente läge (bei angenommenen 70 %) bei circa 1.700 Euro monatlich.

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Was besagt diese kleine Szene vor meiner Bürotür? Doch wohl dies: Die Kollegin hat ganz offensichtlich wenig Bezug zum wirklichen Leben, in dem Menschen mit sehr viel weniger Geld auskommen müssen als sie selbst. Die kleine Pause zeigt ihre leichte Irritation, weil sie vielleicht ahnt, dass etwas in der Kommunikation nicht stimmt. Aber sie bemerkt nicht, dass der Hausmeister sich einen kleinen Spaß mit ihr erlaubt, indem er seine Rentenhöhe maßlos übertreibt. Auf ihr Wissen, dass der Hausmeister anders lebt als sie selbst, kann sie in der Situation nicht zugreifen. Der Hausmeister hingegen hatte einen erneuten Beweis seiner These, die er für den Großteil unseres Kollegiums für gültig hielt: »De hat net Ahnung von’s Läbe.« Das »Läbe« war für ihn die Welt außerhalb der Schule; die Schule begriff unser Hausmeister als einen Schonraum, in dem Menschen arbeiten und zurechtkommen können, die außerhalb gescheitert wären. Innen – außen. Schule und Welt. Ist Schule ein geschlossenes System? Eine geschlossene Gesellschaft? Der Untertitel des Beitrags setzt die Antwort Ja schon voraus, aber dieses Ja soll in den folgenden Abschnitten zumindest überprüft werden.

Kennzeichen eines geschlossenen Systems nach Sartre Die Jahrestagung hat ihren Titel nach einem Theaterstück von JeanPaul Sartre gewählt: »Geschlossene Gesellschaft«. Noch vor der Uraufführung 1944, im von den Deutschen besetzten Paris, erschien das Stück in der Druckfassung unter dem Titel »Les Autres«. Sartre hat es nicht als politisches Protest-Stück (dann hätte es auch nicht aufgeführt werden können) konzipiert, sondern fast im Brecht’schen Sinne als Erziehungsstück. Es führt den Zuschauenden vor, wie drei eingeschlossene Menschen einander zur Hölle werden. Sartre hat Protagonisten erschaffen, die völlig ohne Charakter und ohne Ideale sind. Sie schauen ihr Leben nicht ehrlich an, lügen sich selbst und den anderen etwas vor, treten nicht in Beziehung, zeigen sich als unverletzbar und verletzen die jeweils anderen. Als Theologin würde ich gerne hinzufügen: Sie kommen mit der Fragmentarität ihres Lebens nicht zurecht, mit ihrem Scheitern, mit ihrer Fehlbarkeit. Für Sartre als Vertreter eines atheistischen Existenzialismus besteht die Lösung des Dilemmas natürlich nicht darin, von

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einer höheren göttlichen Instanz Vergebung und Ganzheit zu erwarten und zu erlangen. Umso mehr muss er die Beziehungen der Menschen untereinander und die Freiheit jedes Einzelnen stark machen: Sie sind allein verantwortlich für ihr Handeln und müssen diese Verantwortlichkeit auch wahrnehmen, indem sie sich (zu Lebzeiten!) für die Allgemeinheit engagieren. Das ist zugleich die Botschaft für die Zuschauenden. Sie sehen sich diese »Hölle« von außen an und sollen erkennen: Nein, so will ich nicht sein. Und so will ich nicht gelebt haben. Sartre selbst sagte in einem Vorwort zur Schallplattenaufnahme der Deutschen Grammophongesellschaft: »In welchem Teufelskreis wir auch immer sind, ich denke, wir sind frei, ihn zu durchbrechen. Und wenn die Menschen ihn nicht durchbrechen, dann bleiben sie, wiederum aus freien Stücken, in diesem Teufelskreis. Also begeben sie sich aus freien Stücken in die Hölle. Sie sehen also, Beziehungen zu den andren, Verkrustung und Freiheit, Freiheit als die nur angedeutete andre Seite, das sind die drei Themen des Stücks« (Sartre, 2013, S. 62). Sartre hat immer wieder betont, sein Satz »Die Hölle, das sind die anderen« sei keine allgemeine Aussage über die Natur menschlicher Beziehungen. Er grenzt sich mit diesem Satz vielmehr von der traditionell katholischen Auffassung ab, die Hölle sei ein Ort, an dem man ewig und zur Strafe für besonders schlimme Sünden büßen müsse. Für Sartre hingegen ist die Hölle ein diesseitiger Zustand der zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Zustand entsteht dadurch, dass Menschen von ihrer Freiheit keinen Gebrauch machen. Als Objekte sind sie dem Urteil ihrer Mitmenschen vollkommen ausgeliefert. Der Zuschauer, der diese Hölle auf der Bühne sieht, ist aufgefordert, seinem Leben durch sein eigenes Handeln selbst einen Sinn zu geben. Was sind nun die Kennzeichen eines geschlossenen Systems nach Sartre? Ich versuche eine Antwort in drei Sätzen: 1. Ein geschlossenes System ist eines, in dem wir gnadenlos dem Urteil der anderen ausgeliefert sind. 2. Es gibt – von innen betrachtet – keinen Keim, der auf Entwicklung hoffen lässt, keine Hoffnung auf Veränderung, und genau das macht das System zur Hölle für die, die darin gefangen sind. 3. Die Beziehungen der Menschen in dem geschlossenen System sind zerstörerisch für sie selbst und für die jeweils anderen.

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Schule als geschlossenes System – die Perspektive der Organisationstheorie Das Begriffspaar »geschlossenes vs. offenes System« stammt aus der Organisationstheorie. Ein geschlossenes System wird dabei von Hans Merkens im Anschluss an Luhmann (Luhmann, 1984, S. 23) wie folgt definiert: »Als geschlossenes System werden Organisationen bezeichnet, wenn sie keine Beziehungen zur Umwelt unterhalten bzw. alle Prozesse intern organisieren und nicht versuchen, andere Organisationen in ihrer Umwelt ganz oder teilweise zu imitieren« (Merkens, 2006, S. 259). Sie arbeiten selbstreferenziell und sind an internen Abläufen interessiert, die sie auch zu optimieren trachten, aber es gibt kein System der Außenbeobachtung oder einer strukturell verankerten Konkurrenzbeobachtung mitsamt der daraus folgenden strukturellen Anpassung an die Umwelt. Hans Merkens, der Luhmanns Systemtheorie auf pädagogische Organisationen übertragen hat, nennt für den Bereich Schule einige Indikatoren, die darauf verweisen, dass Schule tatsächlich eher als geschlossenes System denn als offenes System beschrieben werden kann. Sie sind im Folgenden durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen ergänzt: –– Bei Übergängen von der Grundschule zur weiterführenden Schule vertrauen Lehrkräfte bei ihren Schullaufbahnempfehlungen vor allem den Daten, die sie selbst generiert haben: den Zeugnisnoten. Sie beziehen keine Informationen oder Forschungsergebnisse mit ein, die die Zensuren als Alleinsteuerungsmerkmal infrage stellen könnten, wie beispielsweise Zusammenhänge zwischen dem Geschlecht der Lehrkräfte und dem Geschlecht der Gymnasialempfohlenen. –– Auch bei der Versetzung oder Nichtversetzung in den nächsthöheren Jahrgang spielen die selbst generierten Noten die entscheidende Rolle. Selbst da, wo gemäß der Versetzungsordnung ein Spielraum besteht, wird selten in Anschlag gebracht, was empirisch klar erwiesen ist: dass Sitzenbleiben für die Leistungsentwicklung schädlich ist und nur in den ersten paar Wochen etwas »bringt«. Mit der Möglichkeit, ein Kind sitzen bleiben zu lassen, scheint einherzugehen, dass eine Förderung im Klassenverband nur unzureichend gelingt –

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auch, weil zu wenige Ressourcen zur Verfügung stehen, um stark unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten der Kinder auszugleichen. –– Bei der Beurteilung, ob die Ergebnisse einer Klassenarbeit »in Ordnung« sind, wird von Schulleitern oftmals die Gauß’sche Normalverteilung als Norm angesehen. Unberücksichtigt bleibt dabei die Frage, ob die Leistungen tatsächlich dieser Norm entsprechen oder ob die Norm die Leistungsverteilung steuert. Abhilfe sollen hier Vergleichsarbeiten schaffen – schulintern und bundeslandintern gibt es dafür bereits zahlreiche Ansätze. –– Anforderungen, die die Schulaufsicht oder/und die sich verändernde Gesellschaft an das System Schule stellt, werden als Bedrohung der sogenannten pädagogischen Freiheit erlebt und abzuwehren versucht. Hierzu einige Beispiele aus meinem Erfahrungsbereich der letzten Jahre: Ein »Tag der offenen Tür« ist als Werbemaßnahme bisher die Ausnahme; verbreiteter ist ein »Schnuppernachmittag«, der nicht für alle ausgeschrieben wird, sondern als spezielle Zielgruppe die Viertklässler im Blick hat. Wer Interesse hat, wer also hinein will, geht zu den Schnuppernachmittagen von Realschule und Gymnasium, meldet sein Kind an einer der beiden Schulen an und gehört anschließend dazu. Schuleinzugsbezirke sichern die Zugehörigkeit bestimmter Stadtoder Gemeindeteile zu bestimmten Schulen. Die Klientel wird also automatisch »geliefert«. »Konkurrenz belebt das Geschäft« – ein Slogan, mit dem die Gegner von Schuleinzugsbezirken größere Freiheit in der Schulwahl erreichen wollen, wird als Zumutung empfunden, weil man überlegen müsste: Was ist an unserer Schule attraktiv und was ist weniger attraktiv für Außenstehende? Außenbeobachtungen werden dementsprechend nicht systematisch erhoben – obgleich das bei neu ins Kollegium eintretenden Kollegen oder über die Eltern der neuen Fünftklässler gar nicht so schwierig wäre. Man muss allerdings auch sagen: Wenn man Unterricht als das Kerngeschäft von Schule begreift, gehört Werbung nicht zu den schulischen Kernaufgaben. Im Zuge von G8, also der verkürzten Gymnasialschulzeit, erhöhte sich für die Schülerinnen und Schüler die wöchentliche Stundenzahl von 30 auf 34. Manche Schulträger haben deshalb Schul­mensen

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gebaut, damit Kinder eine Mittagspause haben, wie sie auch werktätigen Erwachsenen zusteht. Man sollte denken, dies sei mit Freude begrüßt worden. Mitnichten! Eine Mehrheit meines Kollegiums und ein kleiner Teil der Eltern (die nicht berufstätigen Mütter) würde diese Mensa lieber heute als morgen abgeschafft wissen, weil die Mensa und damit die Möglichkeit, ein Mittagessen einzunehmen, die tägliche Gesamtverweildauer in der Schule verlängert. Ich hatte in den Diskussionen in Gesamtkonferenzen und Dienstbesprechungen oft das Gefühl: Die Schule wird wie ein Gefängnis betrachtet, dem man möglichst schnell entrinnen muss. Merkens verweist darauf  – und das ist ein großer Unterschied zu ­Sartre –, dass offen nicht automatisch gut und geschlossen nicht automatisch schlecht ist. Vielmehr benötigt die Schule ein gewisses Maß an Geschlossenheit, damit Kinder in einem geschützten Rahmen erzogen und gebildet werden können. Ein Beispiel für ein geschlossenes System, das mit seinen »Schonräumen« großen Schaden angerichtet hat, ist die Odenwaldschule. Sie hat, selbst als der Zusammenhang zwischen dem Familiensystem der Internatsunterbringung und dem massenhaften Missbrauch von Internatsschülern längst klar war, immer noch am Familiensystem festgehalten und geglaubt, der Missbrauch sei kein strukturelles Problem, sondern lediglich das einer einzelnen Lehrkraft. An dieser Argumentation wird die Selbstreferenzialität eines geschlossenen Systems besonders deutlich. Auf der anderen Seite bezeichnet Merkens nach Gesichtspunkten der Organisationstheorie die Polytechnische Oberschule in der DDR als ein offenes System: Sie verfügte über zahlreiche Außenbeziehungen, die jeweils strukturell mit dem System verbunden waren. Auch diese Offenheit ist im Nachhinein als nicht positiv zu bewerten, weil diese Schulen natürlich das (unfreie) System der DDR gestützt haben. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass Schulen als »soziale Tatbestände« (Luhmann) durchaus als geschlossene Systeme beschrieben werden können. Sie bestehen aus Subsystemen (Schulformen, Klassen, Fachgruppen) bis hin zum Subsystem der einzelnen Lehrkraft. Alle Subsysteme lassen sich mithilfe des Begriffspaares »offen – geschlossen« beschreiben, auch Personen. Dabei ist es nicht nur so, dass Menschen

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mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen sich bestimmte Arbeitsfelder suchen. Vielmehr bedingen und beeinflussen sich Personen und Systeme gegenseitig, wie das folgende Beispiel zeigt: Meine jetzige Stelle als Stellvertretende Schulleiterin habe ich 2008, vor siebeneinhalb Jahren, angetreten, nachdem ich vorher sieben Jahre lang an ein kirchliches Institut für Lehrerfortbildung und Ausbildung »ausgeliehen« war. Ich habe dort künftige Pfarrer ausgebildet, Lehrerinnen fortgebildet, wissenschaftlich gearbeitet, in Kommissionen an der konzeptionellen und didaktischen Entwicklung von Unterricht gearbeitet und die Konferenzen für niedersächsische Gesamtschulleiterinnen wie für die niedersächsische Gymnasialdirektoren geleitet. Kurz: Ich kam aus diesem Institut sozusagen vom »Mond« an die Schule. Meinen beruflichen Werdegang hatte ich dem Kollegium im Rahmen einer Vorstellung ausführlich erläutert. Ich hatte auch erläutert, was mir aus meiner Sicht die externe Zeit für den Blick auf Schule gebracht hat und was ich einzubringen gedachte. Am letzten Schultag vor den Sommerferien 2015 ging ich mit einer jungen Chemiekollegin, die etwa drei oder vier Jahre nach mir ins Kollegium eingetreten war, abends ein Glas Wein trinken. Zu meiner Überraschung erzählte sie mir, was man ihr damals über mich im Lehrerzimmer erzählt hatte: Ich sei eine Pastoren-Ehefrau, die man beruflich hätte unterbringen müssen.

Abgesehen davon, dass so etwas rechtlich überhaupt nicht möglich ist: Wie konnte es sein, dass im Gedächtnis des Kollegiums nicht meine Vorstellung hängen geblieben war? Ich erkläre mir das damit, dass mein Eintritt aus einer nicht schulischen Organisation heraus automatisch emotional mit Abwehrgefühlen gekoppelt war, die sich dann wiederum in jener abstrusen Vorstellung gegenüber der jungen Kollegin geäußert haben. Es lässt sich nicht ausmachen, ob das Schulsystem die in ihm arbeitenden Personen so prägt, dass sie Externe und Externes als bedrohlich empfinden, oder ob die Personen, weil sie in bestimmter Weise strukturiert sind und sich deshalb das Arbeitsfeld »Schule« suchen. An meinem persönlichen Beispiel sieht man aber deutlich, dass ein geschlossenes System, wo das Fremde fremd bleiben soll und nicht zum Gegenstand des Interesses werden kann, im Sartre’schen Sinne Beziehungen unlebendig sein bzw. werden lässt. Die Kultusministerien der Länder haben nach dem PISA-Schock vielfältige Versuche unternommen, diese Haltung aufzubrechen, indem Impulse aus der betrieblichen Organisationsentwicklung aufgenommen und auf die Schule übertragen wurden, um Veränderungen im System Schule besser und vor allem wirksamer verankern zu können.

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Der PISA-Schock – Schulentwicklung nach 2000 Den Begriff der Schulentwicklung gibt es in der schulpädagogischen Literatur bereits seit den 1980er Jahren (Rolff, 2009). Populär wurde er durch die schulpädagogische Debatte, die sich nach der PISA-Studie im Jahr 2000 entwickelte. Diese von der OECD in Auftrag gegebene Studie hat erstmals gezeigt, dass deutsche Schülerinnen und Schüler bei Weitem nicht so erfolgreich lernen, wie »man« das »immer so« gedacht hatte. Empirische Daten traten in eine Maximalkonfrontation mit dem Selbstbild von Lehrerinnen und Lehrern sowie dem der deutschen Bildungspolitik insgesamt. Angestoßen wurden durch diesen PISA-Schock zwei wesentliche Elemente der Schulentwicklung: die Umstellung der curricularen Vorgaben von »Unterrichtsstoffen« auf »Kompetenzen« und die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit der Einzelschule. Nicht mehr (Lern-)Inhalte allein (Input) wurden von der KMK und den Kultusministerien vorgegeben, sondern Kompetenzen, also Inhalte, die an ihre Funktion für den Erwerb von Fähigkeiten gekoppelt sind, oder auch Fähigkeiten, die sich an unterschiedlichen Inhalten erwerben lassen (Outcome). Die zweite Umstellung betraf die Steuerung von Schulentwicklung: nicht mehr von oben über Schulreformen, sondern von unten über mehr Eigenständigkeit der Einzelschule. Warum wurde die Eigenverantwortlichkeit des Systems gestärkt? Warum hat man geglaubt, dies führe zu einer wirksameren Schulentwicklung? Hilbert Meyer, bis 2009 Professor für Schulpädagogik in Oldenburg, benennt bereits 1997, also noch vor dem PISA-Schock, vier Gründe: 1. Der zunehmenden Komplexität schulischen Lehrens und Lernens wollte man durch Deregulierung und Entbürokratisierung begegnen, um (hier übernehme ich Meyers Formulierungen) aus dem professionell ausgebildeten und kompetenten Personal vor Ort Gestaltende zu machen, statt sie als Befehlsempfänger nicht angemessen einzubeziehen. Meyer meint, hierüber bestehe»zwischen den meisten Schulaufsichtsbeamten, Schulpolitikern, Wissenschaftlern und Lehrerinnen ein Grundkonsens« (Meyer, 1997, S. 57). 2. Die Erfahrungen der (von oben gesteuerten) Schulreformen der 1970er und 1980er Jahre zeigen, dass Investitionen und Wirksamkeit in keinerlei vernünftigem Verhältnis standen.

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3. Von den Schulen selbst getragene Schulentwicklung ist kostengünstiger. 4. Eine von Schulen selbst getragene Schulentwicklung ist, so Meyer, »für die Schulaufsicht und die Bildungspolitik einfacher zu legitimieren« (Meyer, 1997, S. 57), weil auf diese Weise für Maßnahmen, die ihr Ziel verfehlen, die Schulaufsicht keine Verantwortung trägt. Die Punkte 2 bis 4 leuchten sofort ein. Ob aber hinter der Erweiterung der Handlungsspielräume bei den Einzelschulen wirklich der Wunsch steckte, aus Befehlsempfängern selbstständig Handelnde zu machen, kann bezweifelt werden. Denn in vielen Bundesländern sind die Bewerbungsverfahren für Schulleiterinnen und Schulleiter immer noch eher auf Laufbahnverordnungen im Beamtenrecht zugeschnitten als auf die Erfordernisse, die mit Führungs- und Leitungsaufgaben einhergehen. Hinzu kommt, dass die Spielräume, die geschaffen wurden, nicht ausreichend groß sind, um Schulentwicklung tatsächlich gestalten zu können. Verantwortlich sind die Schulleiterinnen und Schulleiter für die Schulentwicklung gleichwohl. Im Rahmen dieser Schulentwicklung wurde den Schulen (den Schulleiterinnen und -leitern) nun also aufgetragen, Leitbilder zu entwickeln, Schulprogramme zu erstellen und Steuergruppen zu installieren. Schulentwicklungsberater führten Fortbildungen zum Projektmanagement durch, Schulleiterfortbildungen befassten sich mit dem neuen Rollenverständnis von Leitung. Neues wurde implementiert und evaluiert, Netzwerke wurden gegründet, und viele, viele Menschen haben sich mit den Zusammenhängen zwischen Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung befasst (Rolff, 1998, S. 305). Man sollte meinen, hier sei nun endlich ein Durchbruch erzielt worden. In der Tat musste sich auch meine Schule vom Selbstbild der Gründergeneration verabschieden, die Schule und ihre Gründungsmitglieder seien die Speerspitze der Innovation, und sich der Tatsache stellen, dass viele Prozesse nicht geregelt und transparent waren, dass Unterrichtsentwicklung außer auf der Ebene einer Behauptungskultur nicht stattgefunden hatte. Der »Outcome« verblieb auf der gefühlten Ebene, und genau deshalb musste dieses Gefühl »Wir sind fraglos eine erfolgreiche Schule!« auch nicht infrage gestellt werden. Ohne den PISA-Schock, ohne die danach eingeführte Schulinspektion hätte sich nichts verändert:

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Nichts wäre verschriftlicht worden, nichts verabredet, nichts transparent, nichts an einem übergeordneten Regelwerk geprüft. Aber hat sich auch tatsächlich am Lernen der Schülerinnen und Schüler etwas verändert? Erhebliche Energien sind, nicht nur an meiner Schule, in Widerstand, Protest und andere Versuche zur Rettung des Selbstbildes geflossen. Das ist nicht nur aus psychologischen Gründen verständlich, sondern auch deshalb so, weil die Schulentwicklung nicht mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet wurde. Bis heute fehlen wirksame außerschulische Unterstützungssysteme. Die Lehrerfortbildung wurde, zumindest in Niedersachsen, in weiten Teilen so umstrukturiert, dass dies einer Abschaffung gleichkam. Ob das Erstellen und Evaluieren von Konzepten, auch von Unterrichtsentwicklungskonzepten, tatsächlich mehr ist als die Produktion von Papiertigern, kann bezweifelt werden. Und last, not least: Mit der Eigenständigkeit der Schule gingen auch Verwaltungsaufgaben auf die Schulen über, für die weder Schulleiterinnen noch Sekretärinnen ausgebildet waren. Jürgen Oelkers, einer derjenigen Schultheoretiker, der den bildungspolitischen Aufwind nicht für politische Aktivitäten zugunsten einer Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems genutzt hat, schrieb 2003: »›Entwicklung‹ heißt … zeitlich befristete Zielsteuerung mit Leistungsvereinbarungen, die die Analyse von Stärken und Schwächen berücksichtigen. Auf dieser Basis müssen Schulleitungen bei hoher Autonomie Personalentwicklung betreiben können. Die Lehrkräfte haben so erreichbare Ziele vor Augen und nicht einen endlosen Zermürbungsprozess, der auch hohes Engagement abzunutzen versteht. Es ist erstaunlich, wie die Vergeudung personaler Ressourcen zum heimlichen Leitbild der verwalteten Schule geworden ist, deren höchstes Ziel es ist, möglichst wenig zu bewegen. Aller Veränderungsrhetorik zum Trotz: Faktisch ist das deutsche Bildungssystem auf erfolgshemmende Weise konservativ. Es verharrt in Strukturen des 19. Jahrhunderts, und dies umso mehr, als die Bildungsreformen der Siebzigerjahre die Anstrengungen offensichtlich nicht gelohnt haben. Der entscheidende Faktor für die Leistungsfähigkeit des Systems ist das Personal, also die Qualität der Lehrkräfte, die nach einer überlangen und wenig effizienten Ausbildung als gegebene hingenommen wird, statt hier die entscheidende Größe für die Position im internationalen Wettbewerb zu vermuten (Oelkers, 2003, S. 11; Hervorhebung B. H.).«

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Die Hattie-Studie 2009 hat Oelkers recht gegeben: Die Lernergebnisse hängen sehr viel stärker von Faktoren aufseiten der Lehrpersonen und ihres Unterrichts ab als von schulstrukturellen Faktoren, auch nicht von Leitbildern, Konzepten, Schulprogrammen, Kompetenzvorgaben (Hattie, 2009; dt. 2013). Mein vorläufiges Fazit daraus ist: Es gab und gibt viele Versuche, die Entwicklung guter Schulen voranzutreiben und zu fördern. Diese Versuche nehmen durchaus Impulse von außen auf, indem sie Begriffe und Verfahren der betrieblichen Organisationsentwicklung auf die Schule anzupassen und zu übertragen versuchen. Der eigentliche Bereich des Lehrens und Lernens jedoch, der nach meinem Verständnis den Kern einer guten Schule ausmacht und der auch in entsprechenden ministeriellen Qualitätsbeschreibungen im Zentrum steht, wird durch diese Prozesse nicht wirklich erreicht. Das mag daran liegen, dass Ministerien und Schulbehörden einfacher Strukturen und organisatorische Abläufe regulieren können als Menschen. Es liegt sicher auch daran, dass zu wenige Ressourcen für Personalentwicklung zur Verfügung gestellt werden, wie beispielsweise Fortbildung in Bezug auf die Lehrfähigkeiten oder Supervision. Vor allem aber ist überhaupt nicht im Fokus des Interesses, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht zufällig in der Organisation Schule arbeiten, sondern dass es zwischen der Kultur, dem »Lebensstil« der Organisation und dem Lebensstil der in ihr arbeitenden Menschen eine Kopplung gibt (Fuchs-Brüninghoff u. Gröner, 1999, S. 142–148) und dass diese beiden Faktoren sich sowohl gegenseitig bedingen als auch gegenseitig stützen. Hinzu kommt: Die Bestrebungen, den Schulen mehr Autonomie und den Schulleitern mehr Entscheidungsgewalt zu geben und ihre Eigenverantwortlichkeit zu stärken, ist auch eine Maßnahme, die die Geschlossenheit des Systems stärkt. Das muss nicht schlecht sein, wie oben ausgeführt wurde. Es ist aber nur dann entwicklungsförderlich, wenn die Verantwortung vom Schulleiter in der Weise wahrgenommen wird, dass Impulse von außen freundlich begrüßt und geprüft statt abgewehrt werden. Wie kann das aber überhaupt passieren, wenn es zur systemimmanenten »Denke« gehört, dass »die da oben« »uns« nichts vorzuschreiben haben – auch keine Schulentwicklung? Die Arbeit mit Menschen erfordert mehr, als Leitbilder zu entwickeln und Konzepte

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zu schreiben. Die sehr holprigen Umsetzungen der »inklusiven Schule«, also der Beschulung aller Kinder, ob mit oder ohne Handicap, zeigen, dass die Arbeit mit Menschen vollkommen zu kurz kommt. Was ist zu tun?

Ermutigung zur Nutzung von Freiräumen Ein Vortragstitel Hartmut von Hentigs aus dem Jahr 1984 zum zehnjährigen Bestehen der Laborschule Bielefeld ist zu einem klassischen Aufruf in der Pädagogik geworden: »Die Menschen stärken, die Sachen klären« (Hentig, 1985). Für die Individualpsychologie ist von Alfred Adler schon sehr viel früher der Begriff der Ermutigung (Adler, 1933/2008, S. 172) geprägt worden, der später von individualpsychologisch inspirierten und geschulten Pädagogen zu einem Schlüsselbegriff für pädagogisches Handeln aufgewertet wurde (Frick, 2007). Es wäre vermessen, würden hier Vorschläge präsentiert, die die Veränderung der Schule von einem geschlossenen zu einem offenen System zum Ziel hätten. Es gibt aber doch den geschlossenen, verengten Blick auf die eigenen Möglichkeiten. Diesen gilt es zu weiten und dazu zu ermutigen die eigenen Möglichkeiten in ihrem Reichtum zu sehen und wahrzunehmen. Was kann eine Stellvertretende Schulleiterin tun und mit wem hat sie es zu tun? Sie hat es zu tun mit Hausmeister, Sekretärin und Schulassistent; mit Kolleginnen und Kollegen; mit Schülerinnen und Schülern – um nur drei Subsysteme zu benennen. Die erste Gruppe ist nicht in Gefahr, systemblind zu sein oder zu werden. Sie sind nicht verbeamtet, ihre Bezahlung regelt der Schulträger, nicht das Land. Sie haben ein Leben vor der Schule als Sekretärin in einem Industrieunternehmen, als Elektriker, als Mitarbeiter einer Softwarefirma gehabt. Sie stoßen sich an widersinnigen Abläufen, schlagen Verbesserungen vor, schütteln den Kopf über die Weltfremdheit mancher Kollegen – und manchmal nehmen sie sie auch auf den Arm. Ich kann ihre Wahrnehmungen hören wollen, sie bestärken, ihnen Zeit widmen. Ich kann ihre Arbeitsleistungen wertschätzen, ihnen mit Respekt begegnen, ihnen rückmelden, wie gut und wichtig ihre Arbeit für das Funktionieren der Schule und ihre Laune für das Schulklima ist.

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Die zweite Gruppe sind die Kolleginnen und Kollegen – also diejenigen, die ich einerseits für Vertretungsunterricht einteilen muss und für die ich als Projektionsfläche ihrer Autoritätsprobleme fungiere (Herrmann, 2010, S. 128), für die ich andererseits aber auch Ansprechpartnerin bin, wenn sie selbst krank sind. Deshalb gibt es oft einen besonderen Zugang zur Persönlichkeitsstruktur einzelner Kollegen (Husmann, 2011). Ich kann also meinerseits Kolleginnen oder Kollegen (nicht) ermuntern, sich auf Beförderungsstellen zu bewerben. Ich kann bei anstehenden Stellenbesetzungen mich für Außenbewerber einsetzen. Ich kann Initiativen unterstützen, manchmal sogar hervorlocken. Ich kann Arbeit mit externen Partnern sichtbar machen, indem ich für ihre Veröffentlichung sorge. Ausnahmslos leicht gelingt die Zusammenarbeit mit denjenigen aus dem Kollegium, die aus anderen Berufen in die Schule gekommen sind: die Mathematikerin aus der Versicherung; die Deutschlehrerinnen, die vorher bei einer Suchmaschine oder einer Werbeagentur gearbeitet haben; der Religionslehrer, der vorher Pfarrer war; die Chemielehrerin, die vorher Optikerin war; der Biologielehrer, der zwei Jahre in Tansania gearbeitet hat; der Sportlehrer, dessen Kindheit in den Zusammenbruch der DDR fiel und der eine enorme Flexibilität aufbringen musste, um Lehrer im Westen werden zu können. Auch umgekehrt gilt das: Meine Befragung unter Quereinsteigern an anderen Schulen hat gezeigt, dass diese Lehrkräfte in der Schule sehr zufrieden sind. Sie besetzen Nischen und nutzen Gestaltungsspielräume. Sie können auf ihrer individuellen beruflichen Ebene Fähigkeiten und Fertigkeiten nutzen, die sie anderswo erworben haben: Am häufigsten wurden hier übrigens Zeitmanagement, Organisationskompetenz, Gesprächsführungs-, Gruppenleitungs- und Arbeitseffizienz genannt. Alle diese Kollegen nehmen im Übrigen auch sehr wohl wahr, dass sie angemessen bezahlt werden und gut abgesichert sind! Innovatives Potenzial für die Schulen insgesamt sind sie dennoch nicht, jedenfalls nicht so, dass sie eine Systemänderung bewirken könnten. Und auch mein Agieren führt nicht zu einer Änderung der Schule von einem geschlossenen zu einem offenen System. Es sind dennoch kleine Schritte, die zu einer Öffnung von Schule beitragen. Den wohl gewichtigsten Beitrag können Lehrerinnen und Lehrer selbst leisten, wenn sie mit ihren Schülern arbeiten: Das Klassen-

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zimmer ist geschlossen, aber gerade in diesem geschlossenen Raum gibt es Spielräume, beispielsweise den zwischen pädagogischem und organisatorisch-sanktionierendem Handeln. Was die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern stärkt, kann marginalisiert werden oder aber viel Raum bekommen. Zur Beziehungsgestaltung gehören Humor, Verlässlichkeit, Strukturgebung, Trennen zwischen Person und Leistung, Sich-Interessieren für das Fehlen am Montag, für die Lebensumstände, für die kleinen und großen Kümmernisse und Freuden. Diese Beziehungsgestaltung ist deshalb ein Mittel zur Öffnung von Schule, weil durch sie Schülerinnen und Schüler als ganze Personen und nicht nur als zu Unterrichtende ernst genommen werden. Unterricht und Erziehung ohne Beziehung kann nicht gelingen. Gerade die gymnasiale Lehrerausbildung der ersten, universitären Phase legt auf diesen Bereich viel zu wenig Wert. Neben der Arbeit im Inneren der Schule gibt es auch Zuschreibungen von außen, die die Geschlossenheit des Systems immer wieder neu reproduzieren, statt die Vision von einem lebendigen Miteinander zu nähren. Zweimal jährlich höre ich auf der Sitzung des Schulelternrates, an der ich mit meinem Schulleiter teilnehme, von den Eltern unglaubliche Geschichten: Geschichten von Kollegen im Umgang mit ihren Schülern oder im Umgang mit den Vorgaben, die sie haben. Manchmal werden diese Geschichten höflich und als Frage verkleidet vorgetragen. Manchmal ist der Unterton sarkastisch oder aggressiv. Manchmal spüren wir die Fassungslosigkeit der Eltern, manchmal ihre Sorge.

Fast immer denken wir: »Ja, diese Geschichte passt zu unserer e­ igenen Wahrnehmung der Kollegin oder des Kollegen. Sie oder er würde keine drei Wochen einer Probezeit in einem Unternehmen überleben!« Ganz selten denken wir: »Das ist jetzt wieder typisch die ›Hubschrauber­ mutter‹ Frau H.!« Immer müssen wir dann eine Form finden, in der wir niemanden bloßstellen, zugleich aber die Eltern ernst nehmen. Und fast immer besteht die Intervention darin, die Eltern zu ermuntern, mit dem Kollegen oder der Kollegin selbst zu sprechen. Neben der direkten Kommunikation gibt es noch eine zweite Möglichkeit für Eltern, die Lebendigkeit der Schule zu fördern, nämlich den eigenen Kindern und den Lehrkräften ihrer Kinder mit Vorschuss­ vertrauen zu begegnen:

Schule, nichts als Schule!43 Morten sah sich im vorletzten Schuljahr mit der Situation konfrontiert, dass er zu Beginn seiner ersten Chemiestunde im neu zusammengesetzten Kurs im Jahrgang 11 nicht nur auf seine Mitschüler traf, sondern auch auf sechs Zwölftklässler: alle ein Jahr voraus, alle im oberen Leistungsspektrum, alle mit Chemie als Abiturfach. Der Schulleiter hatte aufgrund von Lehrermangel beide Kurse zusammengelegt. Die Eltern der Elft- und Zwölftklässler hätten jeden Grund gehabt, bei der Schulbehörde Beschwerde gegen diese Zusammenlegung einzulegen. Morten hatte sofort durchschaut, dass seine eigenen Lern- und Arbeitsbedingungen durch diese Maßnahme erheblich verschlechtert wurden. Er kündigte mir an, sich bei seinem Vater zu beschweren, damit der sich dann beim Schulleiter beschweren könne. »Na«, fragte ich ihn beim nächsten Mal, »was hat dein Vater gesagt?« Morten zuckte die Schultern, grinste mich an und sagte: »Er hat gesagt: ›Stell dich nicht so an!‹« Wir mussten beide lachen ob dieser »paradoxen Intervention«.

»Stell dich nicht so an!« klingt für sich genommen vielleicht nicht besonders ermutigend, an Mortens Gesichtsausdruck konnte ich aber klar erkennen, dass dieser Vater seinem Sohn das Umgehen mit einer schwierigen Situation zugetraut hat. Morten selbst hat sich tatsächlich ermutigt gefühlt, denn er hat sich schnell arrangiert und seine Power in die inhaltliche Arbeit gesteckt. Der Vater hat außerdem – ohne mich zu kennen – mit seiner Intervention mir gleichermaßen zugetraut wie vertraut, dass ich als Chemielehrerin mein Bestes geben würde. Solches blinde Vertrauen in eine Lehrkraft ist vielleicht nicht immer gerechtfertigt und auch nicht jedermanns Sache. Aber die Haltung von Mortens Vater hat mich als Lehrkraft ermutigt. Das ist nicht viel, aber auch nicht wenig!

Literatur Adler, A. (1933/2008). Der Sinn des Lebens. Hrsg. von R. Brunner. In K.-H Witte (Hrsg.), Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 6 (S. 25–176). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Frick, J. (2007). Die Kraft der Ermutigung. Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und Selbsthilfe. Bern: Hans Huber. Fuchs-Brüninghoff, E., Gröner, H. (1999). Zusammenarbeit erfolgreich gestalten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Hattie, J. A. C. (2009; dt. 2013). Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London u. New York: Routledge; dt.: Lernen sichtbar machen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

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Hentig, H. von (1985). Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung. Stuttgart: Reclam. Herrmann, P. (2010). Blockaden lösen. Systemische Interventionen in der Schule. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Husmann, B. (2011). »Meilenweit voraus« – Vom Humor oder von den Möglichkeiten und Grenzen von Personalentwicklung an Schulen. In P. Wahl, H. Sasse, U. Lehmkuhl (Hrsg.), Freude – Jenseits von »Ach und Weh«? Beiträge zur Individualpsychologie, Bd. 37 (S. 234–249). Göttingen: ­Vandenhoeck & Ruprecht. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Merkens, H. (2006). Pädagogische Institutionen. Pädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Individualisierung und Organisation. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Meyer, H. (1997). Schulpädagogik. Bd. 2: Für Fortgeschrittene. Berlin: Cornelsen. Oelkers, J. (2003). Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA. Weinheim u. a.: Beltz. Rolff, H.-G. (1998). Entwicklung von Einzelschulen. In H.-G. Rolff, K. O. Bauer, K. Klemm, H. Pfeifer (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung, Bd. 10. Weinheim u. München: Beltz Juventa. Rolff, H.-G. (2009). Schulentwicklung, Schulprogramm und Steuergruppe. In H. Buchen, H.-G. Rolff (Hrsg.), Professionswissen Schulleitung (2. Aufl., S. 296–364). Weinheim u. Basel: Beltz. Sartre, J.-P. (gesprochener Text o. J., fr. in Auszügen 1965, fr. vollständig 1973; dt. 2013). Über Geschlossene Gesellschaft. In J. P. Sartre, Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt. Neuübersetzung von Traugott König (51. Aufl., S. 60–63). Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

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Armut oder Depression? Über die Zusammenhänge von sozialem Status und dem Risiko, psychisch zu erkranken

Zusammenfassung Bereits Alfred Adler und Sigmund Freud behandelten Patienten aus unterschiedlichen sozialen Milieus, mit anderen Problemen, anderen Störungsbildern. Auch heute hängen die Lebenserwartung und die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, vom sozialen Status ab. Dies wird anhand aktueller Forschungsergebnisse verdeutlicht. Was bedeutet das für die individualpsychologische Perspektive und die psychotherapeutische Versorgung?

Drei Thesen Ausgehend von einer sozial verursachten gesundheitlichen Ungleichheit werden Bezüge der Individualpsychologie zu sozialen Ursachen psychischer Erkrankungen dargestellt. Drei Ausgangsthesen sollen helfen, den folgenden Diskussionsbeitrag zu strukturieren. 1. Die Anfänge der Individualpsychologie sowie der psychoanalytischen Pädagogik sind, sowohl theoretisch als auch handlungspraktisch, auf die Wechselwirkungen zwischen innerpsychischem Geschehen und sozialer Umwelt bezogen. Diese sozialpsychologischen Bezüge sind der Individualpsychologie jedoch abhandengekommen. Psychoanalyse und Psychotherapie insgesamt sind überwiegend mittelschichtorientiert und erreichen Menschen in prekären Lebenssituationen schwerer. 2. Gesundheitliche Ungleichheit in der Gesellschaft nimmt eher zu als ab. Psychische Erkrankungen sind ungleich in der Gesellschaft verteilt. Sie treten deutlich häufiger in Milieus mit niedrigem sozioökonomischem Status auf. 3. Es gibt bereits eine Fülle von Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen sozialen Lebensbedingungen und der Entstehung

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psychischer Erkrankungen. In Sozialmedizin, Public Health, Resilienzforschung, Bindungs- und Mentalisierungstheorie liegen (theoretische) Modelle und Forschungsergebnisse über die Einflüsse sozialer Bedingungen auf die psychische Gesundheit vor. Es fehlen jedoch innovative, neue Präventionskonzepte und Therapie­ansätze für die Behandlung von Patienten aus unteren sozialen Milieus (z. B. Hard-to-reach-Klienten, Menschen mit multiplen Problem­ lagen). Hier könnte die Individualpsychologie wieder Vorreiter werden, indem sie offensiver die Verbindungen zwischen gesellschaftlichen, sozialen und intrapsychischen Verhältnissen thematisiert, beforscht und in die Aus- und Weiterbildung einbringt.

Individualpsychologie und ihre sozialen Bezüge Bereits Alfred Adler hat auf die Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und sozialen Verhältnissen hingewiesen. Bruder-­Bezzel (2009, S. 9) beschreibt Adlers Haltung wie folgt: »Im Unterschied zu Freud hat Adler einen Ansatz, der grundsätzlich den Menschen als soziales Wesen, seine Entwicklungen im Zusammenhang mit dem sozialen Umfeld sieht […]. Für Adler sind daher alle psychischen Funktionen von sozialen Zusammenhängen und von gesellschaftlichen Bedingungen mitgeprägt.« Bereits vor der Zusammenarbeit mit Freud war Adler mit Fragen der Sozialmedizin, Hygiene und Prävention beschäftigt und von den Schriften des Sozialmediziners Rudolf Virchow beeinflusst: »Adler hat immer wieder soziologische und sozialpsychologische Sichtweisen in die psychoanalytische Diskussion eingebracht« (Handlbauer, 1990, S. 55). Jedoch sind die Zusammenhänge zwischen psychischem Leid und gesellschaftlichen Verhältnissen komplex, zumindest nicht in nur einer Disziplin zu erfassen (z. B. Psychologie oder Soziologie). In Adlers Texten lassen sich ebenso Abschnitte finden, die die Anpassung des Individuums an die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse fordern, z. B., wenn Adler die Nützlichkeit für die Gemeinschaft zum Kriterium seelischer Gesundheit erklärt (Handlbauer, 1984). Betrachtet man die klinische Praxis Alfred Adlers in einem Wiener Arbeiterviertel und vergleicht sie mit Freuds Praxis, so fällt auf,

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dass viele Patienten Adlers aus der Unter- oder Mittelschicht kamen, daher lagen soziale Probleme immer im Brennpunkt seines Interesses (Handlbauer, 1990).1 Schwere psychiatrische Krankheitsbilder, psychosomatische Erkrankungen, psychisches und soziales Elend spielten daher in den Behandlungen und der Theoriebildung der beiden Autoren eine unterschiedliche Rolle (Handlbauer, 2002). Alfred Adler engagierte sich in der Arbeiterbewegung (Bruder-­ Bezzel, 1999) und beschäftigte sich früh mit Kindererziehung und Heilpädagogik (Adler u. Furtmüller, 1914/1973). Er hielt z. B. ab 1918 regelmäßig Vorträge zu tiefenpsychologischer Erziehungsberatung an der Wiener Volkshochschule »Volksheim« und im »Volksbildungshaus« (Gstach u. Datler, 2001). Berlin war in den zwanziger Jahren, neben Wien, das wichtigste Zentrum individualpsychologischer Theorie und Praxis (Kölch, 2002). In Berlin leitete die Heilpädagogin Annemarie Wolff ab 1926 ein individualpsychologisches Kinderheim für »gefährdete« und »auffällige« Kinder. Sie wurde bereits 1933 von der Gestapo verhaftet, das Heim aufgelöst. 1937 flüchtete sie mit ihrer Tochter Ursula Wolff und jüdischen Kindern nach Jugoslawien. Nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht wurde Annemarie Wolff im Herbst 1944 erneut von der Gestapo verhaftet und im Frühjahr 1945 ermordet. Neben Alfred Adler und seinen Anhängern und Unterstützern der ersten Generation arbeiteten auch psychoanalytische Pädagogen wie August Aichhorn und Siegfried Bernfeld mit auffälligen Kindern und Jugendlichen in »Erziehungsheimen« oder in der Erziehungsberatung. Für Aichhorn (1925/1977) ist die Verwahrlosung eine aus unbewussten seelischen und sozialen Konflikten entstehende Verhaltensauffälligkeit von Kindern und Jugendlichen (Günter u. Bruns, 2010). Bernfeld betont das Verhältnis der jeweiligen sozialen Umwelt zu den inneren Entwürfen, die dem Handeln zugrunde liegen. Die Fragestellung nach der Milieuprägung eines seelischen Vorgangs umfasse nicht nur Lebensbedingungen (Klasse, Kultur, Generationszugehörigkeit etc.), sondern auch ihre Auswirkungen auf subjektive Verarbei1 Von 43 Patienten Adlers kamen 35 % aus der Unterschicht, 39 % aus der Mittelschicht und 25 % aus der Oberschicht. Von 67 Patienten Freuds kamen 74 % aus der Oberschicht, 23 % aus der Mittelschicht und nur 3 % aus der Unterschicht (Wassermann, 1958, zit. nach Handlbauer, 1990, S. 165 f.).

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tungsweisen. Der »soziale Ort« verweise auf gesellschaftliche Gegebenheiten, die den pädagogischen Absichten entgegenstehen (Müller u. Trescher, 1995). Bernfeld hebt den Unterschied zur psychoanalytischen Therapie hervor, die ihre Autonomie als »Neutralität« gegenüber den »sozialen Orten« ihrer Adressaten zu sichern vermöge, d. h., sie könne das Soziale zu einem gewissen Grad ausklammern. Sozialpädagogik hingegen wisse um ihre Eingebundenheit und Abhängigkeit ebenso wie die ihrer Adressaten in die gesellschaftlichen Verhältnisse (Müller u. Trescher, 1995). Adler und Wolff, Aichhorn und Bernfeld betonen die Bedeutung der Beziehung für Entwicklungs- und Veränderungsprozesse und haben wesentliche Beiträge zum Übertragungs-/Gegenübertragungsge­ schehen geleistet (Stemmer-Lück, 2004). Die Wichtigkeit der Beziehung, der sozialen Umwelt sowie der Gegenübertragung wurde in der (therapeutischen) Psychoanalyse erst deutlich später mit den Objektbeziehungstheorien und der Einführung des Gegenübertragungskonzeptes durch Heimann (1950) rezipiert. In diesem Sinne war die psychoanalytische Pädagogik mit ihrem Erfahrungsreichtum der Psychoanalyse voraus. Doch wo finden wir heute progressives Engagement, progressive Kreativität, wo Reflexion der Zusammenhänge sozialer Ursachen und innerpsychischer Repräsentanzen? In der psychoanalytischen und individualpsychologischen Diskussion eher weniger. Sind die sozialen Bezüge der Individualpsychologie abhandengekommen?

Zum Wandel seelischer Erkrankungen Seelische Erkrankungen stehen in einem bedeutsamen Zusammenhang mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Tenbrink (2000) plädiert in der Zeitschrift für Individualpsychologie dafür, nicht allein den Wandel oder die Häufigkeit psychischer Erkrankungen zu betrachten, sondern die Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen einzubeziehen. Die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts war geprägt durch autoritäre Charaktere, eine hierarchische Gesellschaft mit archaischer Idealisierung (Kaiser, Führer), massiven Spaltungen (Freund-Feind),

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Projektionen und Verleugnungen sowie Durchbrüchen von Rohheit und bestialischer Grausamkeit. Diese gesellschaftlichen Strukturen, die erzwungene Anpassung und soziale Kontrolle können auch als kompensatorische Strukturen verstanden werden. Sie ermöglichten, Gefühle von Unsicherheit, innerer Leere und Ohnmacht abzuwehren. Inzwischen haben sich die gesellschaftlichen Strukturen deutlich verändert. Alte Abwehrformationen und Kompensationsstrukturen treten in den Hintergrund und werden durch neue ersetzt. Größere Freiheiten, Forderungen nach Flexibilität, Intensivierung der beruflichen Anforderungen, Selbstausbeutung oder die Abkehr von solidarischen Bedürfnissen werden für eher egozentrische (narzisstische) und enttäuschte, resignierte Positionen (z. B. Depression) verantwortlich gemacht. »Die Depression kann als etwas gesehen werden, das die psychische Dimension der Probleme benennt, die durch die Gesellschaft hervorgebracht werden, die eine Person an ihrer persönlichen Initiative misst und die die Frage der persönlichen Entfaltung über die Frage von Verboten stellt, oder anders ausgedrückt, eine Gesellschaft, in der jeder sein eigener Herrscher ist und sich dadurch mit der Frage der unbegrenzten Möglichkeiten konfrontiert sieht« (Ehrenberg, 2006, S. 125). Die Chancen, sein »eigener Herrscher« zu sein, Gestaltungsmöglichkeiten, Ressourcen und Gesundheitsrisiken sind jedoch in der Gesellschaft ungleich verteilt, der soziale Status und das Geschlecht spielen dabei eine bedeutsame Rolle.2 Judith Baer und ihre Kollegen (Baer, King u. Wilkenfeld, 2012) fanden, dass die ärmsten Mütter in ihrer Langzeitstudie signifikant häufiger eine Angststörung diagnostiziert bekamen, da sie wesentlich öfter von entsprechenden Symptomen betroffen waren, etwa ausgeprägtem Sich-Sorgen, Schlafstörungen oder Ruhelosigkeit. Die Angstsymptome könnten durch die prekären Lebensverhältnisse bedingt sein, dann wäre es nicht angemessen, Frauen, die auf ein Leben in Armut mit Stress reagieren, zusätzlich mit dem Stigma einer psychiatrischen Diagnose zu belegen. Oder, andersherum betrachtet, ist die psychotherapeutische Behandlung der Angst2 Auch wenn seit Langem bekannt ist, dass Frauen häufiger seelisch erkranken als Männer, wird die sozialpsychologische und psychotherapeutische Forschung zu diesem Thema erst in den letzten Jahren intensiviert (z. B. Haubl, 2005; Neises, 2007; Brüggemann, 2007; Kolip, 2009).

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störung ausreichend? Wie sind intrapsychische Prozesse (z. B. Selbstund Objektrepräsentanzen, Abwehrmechanismen, Mentalisierung) zu gewichten im Vergleich zu (existenziellen) Lebensbedingungen? Ich konnte bisher am ehesten bei den Klassikern oder in den modernen Traumakonzepten Antworten auf die Frage nach den Wechselwirkungen finden. Existenziell schwierige Lebenslagen sind oft eine Kumulation von wirtschaftlichen, psychologischen und sozialen Konflikten, diese werden, abhängig vom historischen und gesellschaftlichen Kontext, unterschiedlich gedeutet.

Gesundheitliche Ungleichheit Arme Leute sterben früher – dies ist keine neue Erkenntnis, jedoch bestand spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Hoffnung, dass diese Unterschiede geringer werden würden. In einigen westeuropäischen Ländern wurde es zum politischen Ziel erklärt, durch Verbesserungen im Gesundheitssystem und der Gesundheitspolitik gesundheitliche Ungleichheit zu verringern.3 Gesundheitliche Ungleichheit bzw. die ungleichen Chancen auf Gesundheit und Lebenszeit werden weithin als »unfair« und als große Ungerechtigkeit erlebt. Jedoch sind sozial bedingte Unterschiede in der Gesundheitserwartung in den letzten 25 Jahren eher größer geworden (Siegrist u. Marmot, 2008; Hurrelmann, Bauer u. Bittlingmayer, 2009; Deck, 2008; Richter u. Hurrelmann, 2006). Aktuell haben Frauen und Männer mit niedrigem sozioökonomischem Status eine geringere Lebenserwartung von acht (Frauen) bis elf Jahren (Männer). Psychische Erkrankungen sind in unteren sozialen Milieus deutlich häufiger anzutreffen. Depressionen z. B. sind mit 16 % bei Frauen (11 % bei Männern) mit niedrigem sozioökonomischem Sta-

3 Es wurden z. B. Arbeitsgruppen aus Wissenschaft und Politik eingerichtet, wie die British Independent Inquiry Into Health Inequalities (1998) oder das Holländische Programmkomitee (2001), die Schwedische Nationale Kommission für Gesundheit (2000) oder der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2005/2007,­ www.svr-gesundheit) (Siegrist u. Marmot, 2008).

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tus ungefähr dreimal so häufig wie bei Frauen mit hohem Status (5 % bzw. 4 % bei Männern) (Robert-Koch-Institut, 2015). Bei psychischen Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter fallen ebenfalls deutliche soziale Unterschiede auf. »Psychische Auffälligkeiten« sind mit 33,5 % bei Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status besonders häufig, im Vergleich zu 9,8 % bei Familien mit hohem Sozialstatus (Hölling u. Schlack, 2008). Die erste größere epidemiologische Studie zur Häufigkeit seelischer Erkrankungen in Deutschland war die Mannheimer Kohortenstudie, die zwischen 1979 und 1996 circa 600 zufällig ausgewählte Einwohner Mannheims untersuchte (Schepank, 1987; Franz, Kuns u. Schmitz, 2000). Dabei fand sich eine Ein-Jahres-Prävalenz seelischer Erkrankungen von 26 %. Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen zeigte einen deutlichen Zusammenhang mit der Anzahl von Kindheitsbelastungen. Während 90 % der nicht Belasteten psychisch gesund waren, wurden 70–80 % der mehrfach Belasteten als psychisch krank eingeschätzt. Angehörige der Unterschicht waren signifikant stärker psychisch beeinträchtigt als Probanden der Mittel- und Oberschicht. Insbesondere Männer der unteren Schicht wiesen am häufigsten psychiatrische Krankheiten auf und zeigten die geringsten Coping-Fähigkeiten (Franz, Häffner, Lieberz, Reister u. Tress, 2000). Eine Teilgruppe erwachsener Probanden der Mannheimer Kohorten­ studie wurde über elf Jahre wiederholt untersucht. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass seelische Erkrankungen häufig chronisch verlaufen. Probanden, die einen sozialen Abstieg durchmachten, waren bereits vor dem Abstieg stärker psychisch beeinträchtigt als diejenigen, die konstant in ihrer Schicht blieben (Häffner et al., 2000). Die Autoren verstehen dies als Unterstützung der sogenannten »Drift-Hypothese«. Diese postuliert, dass nach Beginn oder Chronifizierung einer psychischen Erkrankung in Abhängigkeit von Moderatorvariablen (z. B. Schwere der Störung, soziale Unterstützung) häufig ein sozialer Abstieg erfolgt, da das schichtspezifische Leistungsniveau nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Arbeitslose Menschen, insbesondere Langzeitarbeitslose und alleinerziehende Mütter, haben das höchste Armutsrisiko und ein deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko. Alleinerziehende Frauen leiden doppelt so häufig unter seelischen Erkrankungen als solche, die die Erziehung

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mit einem Partner bestreiten. Gesundheitsberichte der Krankenkassen bestätigen die hohen Prävalenzraten und die ungleiche Verteilung von Risiken. Arbeitslose sind häufiger von Depressionen, Anpassungsstörungen und somatoformen Störungen betroffen als Erwerbstätige. Depression wird bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern (mit 15 %) deutlich häufiger als bei Berufstätigen (7 %) angegeben (Albani, Blaser u. Brähler, 2008). Wie lassen sich diese Zusammenhänge verstehen? Wie machen Armut oder Arbeitslosigkeit krank? Die Studien zu gesundheitlicher Ungleichheit waren bislang eher deskriptiv (z. B. Gesundheitsberichterstattung des Bundes: www.rki.de) und wenig theoriegeleitet. In den letzten Jahren erfolgte jedoch eine stärkere Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Theorien (z. B. Bourdieu) einerseits und Fokussierung auf Stress-Vulnerabilitätsmodelle andererseits (Mackenbach, 2008; Hurrelmann et  al., 2009). Gesundheitsverhalten und Umgang mit dem Körper werden durch Kultur, das schichtspezifische Milieu und das Geschlecht bestimmt. Grundlage sind unbewusste generative Schemata früher Erfahrungen. Eine vermeintlich freie Wahl ist immer schon durch die nicht reflektierten Schemata vorbestimmt. Körperpraktiken und Gesundheitsverhalten als Teil der (Geschlechts-, Klassen- und kulturellen) Identität sind deshalb nur bedingt beeinflussbar. Nach dem Health-Belief-Modell ist Gesundheitsverhalten meist ein Abwägen verschiedener Motive. Damit einhergehend veränderte sich die Perspektive von einem individuumnahen Ansatz (Verhaltensprävention) zu strukturellen Ansätzen: »Health in all Policies« (­Siegrist u. Marmot, 2008). Im Stressmodell werden aktuelle Lebensbedingungen wie Armut oder Arbeitslosigkeit als soziale Stressoren verstanden. Depression, Angststörungen oder Herzkreislauferkrankungen werden als »Endstrecke« chronischer psychosozialer Stresseinwirkung gesehen. Einige Moderatorvariablen beeinflussen die Erkrankungshäufigkeit, als solche gelten z. B. die Dauer der Arbeitslosigkeit, Alter, Geschlecht, Bildung und berufliche Qualifikation, Persönlichkeitsstruktur, Kausalattributionsstil, soziale Unterstützung sowie vorbestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen (Weber, Hörmann u. Heipertz, 2007). Individuelle Stressbewältigung und Copingmechanismen sind jedoch weniger von der jeweiligen Situation (z. B. Arbeitslosigkeit, Trennung oder Schei-

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dung) abhängig, sondern sind lebensgeschichtlich erworben. Copingmechanismen sind stärker von Persönlichkeitsfaktoren abhängig als von der auslösenden Situation (Herschbach, 2002). Dies weist auf die notwendige biografische oder Lebenszeitperspektive hin, eine Querschnittsbetrachtung reicht hier meist nicht aus. Eine Betrachtung von (aktuell wirksamen) sozialen Stressoren, einschließlich einer Lebenszeitperspektive auf die individuellen Bewertungs- und Copingmechanismen, sollte außerdem erweitert werden um aktuelle gesellschaftliche Diskurse, also z. B. Zuschreibungsprozesse, Diskriminierung oder Stigmatisierung.

Mittelschichtorientierung im Gesundheitssystem Das deutsche Gesundheitswesen hält einerseits ein breites Spektrum von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie Kliniken mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Qualifikationen vor, andererseits gilt die psychotherapeutische Versorgung als ungenügend. Im Vergleich mit fünf anderen europäischen Ländern ist das Risiko einer Unterversorgung in Deutschland besonders hoch, fast die Hälfte der Behandlungsbedürftigen bleibt unbehandelt (Kordy, 2008; Gerst u. Gieseke, 2009). Das Bundesgesundheitsministerium (2006) stellte eine gravierende Unterversorgung wie in keinem anderen Bereich der Medizin fest. Soziale Ungleichheit wird über die Unterversorgung noch verschärft: Mit höherem Sozialstatus steigt die Wahrscheinlichkeit, einen ambulanten Psychotherapieplatz zu erhalten. Angesichts der Unterversorgung können leichter zu behandelnde Krankheitsbilder bevorzugt werden, sogenannte »Multiproblempatienten«, somatoforme Erkrankungen, Suchterkrankungen, Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen und anderem mehr finden schwerer einen Behandlungsplatz (Dornes, 2015; Blech, 2014). Dies gilt ebenso für den Bereich der psychosomatischen Rehabilitation. Auch hier spielt soziale Ungleichheit eine Rolle. Patienten der unteren Schicht nehmen medizinische Rehabilitation erst in Anspruch, wenn bereits größere Beeinträchtigungen der Teilhabe vorliegen: »Patienten der Unterschicht kommen mit schlech-

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terem Gesundheitszustand in die Rehabilitation und verlassen diese auch mit ungünstigeren Befunden als Patienten höherer Sozialschichten« (Deck, 2008, S. 282). Niederschwellige Unterstützungsangebote und auf die Konfliktlagen der besonderen Risikogruppen abgestimmte Behandlungsmodelle fehlen. Eine Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung kann jedoch nicht allein zur Verringerung der schichtabhängigen Morbiditätscharakteristika führen. Wesentliche Kritik am Versorgungssystem bezieht sich daher auf die geringe Problematisierung von seelischer Krankheit als gesellschaftspolitischem Thema sowie den wenig systematischen Ausbau von Prävention und Maßnahmen, die den Sozialraum einbeziehen. Psychotherapie folge zu sehr dem kurativen Modell ohne Einbeziehung des sozialen Umfeldes. Keupp (2005) sieht die Gefahr, durch einseitige Psychologisierung, Individualisierung und Entpolitisierung gesellschaftliche Zusammenhänge auszublenden. Ethnopsychoanalytiker wie Paul Parin und Mario Erdheim sprechen hier von gesellschaftlicher Produktion von Unbewusstheit (Erdheim, 1984). Der enge Zusammenhang von gesellschaftlichen, sozialen und psychologischen Bedingungen in der Entstehung seelischer Erkrankungen wird in den bisherigen Versorgungsstrukturen zu wenig berücksichtigt. Die potenzielle Gleichrangigkeit der drei Systemebenen bio-psycho-sozial findet im Umgang mit (seelischen) Erkrankungen keine Entsprechung in der Prävention und Versorgung (Ortmann u. Kleve, 1992).

Stressbewältigung Die Bedeutung der frühen Kindheit für die Entwicklung des Lebensstils, für Bindungsfähigkeit, Mentalisierung und Resilienz ist unbestritten. Einflüsse des sozialen Hintergrundes in der Kindheit beeinflussen das Mortalitätsrisiko in der Kindheit und im Erwachsenenalter. Kombinieren wir die Angaben zur Schichtzugehörigkeit in beiden Lebensphasen, vergrößern sich die Unterschiede der Risiken drei- bis fünffach (Felitti, 2002; Power u. Kuh, 2008). Eine chronisch stressvolle Umgebung stört die Entwicklung erfolgreicher Anpassung nachhaltig. Eine erfolgreiche Anpassung wird

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durch die jeweiligen Ressourcen bestimmt, die das Individuum in die neue Situation hineinbringt (Schoon, 2002). Schwere psychosoziale Belastungen während der Kindheit verringern die spätere Stressreaktivität und erhöhen das Risiko für Depression (Power u. Kuh, 2008; Egle, 2015). So finden wir bei (sozialen und familiären) Kindheitsbelastungen frühe direkte Effekte (Gesundheit im Kindesalter) sowie (späte) indirekte Effekte (z. B. Schule, Bildung, Kontrollüberzeugungen, Bewältigungsstrategien, Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko im Erwachsenenalter). »Ein niedriger sozialer Status in der Kindheit und im späteren Lebenslauf begünstigt ein Heranwachsen mit fatalistischer Wahrnehmung von Ursache-Wirkungsbeziehungen« (Bosma, 2008, S. 197). Eine Konsequenz betrifft wenig wirksame Strategien der Belastungsbewältigung. Schwache Kontrollüberzeugungen erklären den Zusammenhang zwischen niedriger sozialer Stellung und schlechter Gesundheit am besten. Sie sind als kritische Komponenten einer hohen Stressbelastung zu betrachten (S. 197). Am Beispiel einer groß angelegten Studie konnten Langzeitfolgen kindlicher Belastungssituationen dargestellt werden (Felitti, 2002). Erwachsene niedriger amerikanischer Schichten wurden zu Kindheitsbelastungsfaktoren befragt und ihr Gesundheitszustand prospektiv über fünf Jahre verfolgt. Der Gesundheitszustand wurde definiert über die Häufigkeit von Notfallaufnahmen, die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen, Medikamentenkosten, Krankenhausaufnahmen und Sterblichkeit. Kindheitsbelastungen lagen bei mehr als 50 % der Probanden vor4. Diese Belastungsfaktoren waren wesentliche Determinanten für 4 Die Kindheitsbelastungsfaktoren sind hier eng definiert (Felitti, 2002): körperlicher, emotionaler und sexueller Missbrauch, ein Haushaltsmitglied war im Gefängnis, die Mutter erfuhr körperliche Gewalt, ein Familienmitglied war alkohol- oder drogenkrank, seelisch krank oder suizidal, mindestens ein biologisches Elternteil wurde in der Kindheit verloren. Weitere (empirisch) nachgewiesene Risiken für die seelische Gesundheit eines Kindes stellen z. B. die folgenden Umweltfaktoren dar: niedrige soziale Schicht, große Familien mit wenig Wohnraum, Kriminalität eines Elternteils, Kontakte mit Einrichtungen der sozialen Kontrolle, alleinerziehende Mutter, Arbeitslosigkeit eines Elternteiles, schwere Erkrankung oder psychische Störungen eines Elternteiles (Sturzbecher u. Dietrich, 2007). Insbesondere die Kumulation mehrerer Risikofaktoren und das Fehlen von protektiven Faktoren führen häufiger zu psychischen Erkrankungen.

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psychische und körperliche Erkrankungen im Erwachsenenalter. Zum Beispiel für Depression, Suizidversuche und Adipositas per magna war die Prävalenz bei Vorliegen eines oder mehrerer der Belastungsfaktoren signifikant erhöht. Die Langzeitfolgen fünfzig Jahre später (das Durchschnittsalter der Untersuchten war 57 Jahre) werden bei den körperlichen Erkrankungen im Wesentlichen vermittelt über Rauchen, schlechte Ernährung, Alkohol, gesundheitliches Risikoverhalten und Drogenkonsum. Diese gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen sind oft verzweifelte Versuche der Selbstheilung, Stressbewältigung oder Selbstberuhigung. Eine weitere Schlussfolgerung dieser Untersuchung ist, dass unser Gesundheitswesen nur ungenügend die soziale und biografische Verursachung häufiger Erkrankungen einbezieht und adäquate Therapiekonzepte entwickelt hat. Die Gesundheit der Bevölkerung, insbesondere die Verteilung von Gesundheits- und Lebenschancen, wird primär von Faktoren bestimmt, die nicht im Gestaltungsbereich der Medizin und Gesundheitspolitik liegen (Rosenbrock u. Kümpers, 2006). Soziale Benachteiligung in der frühen Kindheit bestimmt die psychische Gesundheit und Verhaltensanpassung späterer Lebensphasen. Sozialwissenschaftlich spricht man von einer Akkumulation von benachteiligenden Lebensbedingungen. Die Ergebnisse der Risikofaktorenforschung (Egle, 2015) zeigen deutlich, dass gesellschaftliche und soziale Faktoren wesentlicher die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen beeinflussen, als Medizin und Psychologie, psychodynamische oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapieansätze dies konzeptualisierten. Durch die Individualisierung von gesellschaftlichen Formationen und Strukturen ist die Anforderung an jedes Individuum gewachsen, für sich selbst zu sorgen, eine Art Selbstmanagement zu betreiben (Hurrelmann et al., 2009). Dies betrifft ebenso die Problemlösekompetenz, das Selbstwirksamkeitserleben und den Umgang mit Stressoren. Höhere Stress-Expositionen und häufigere kritische Lebensereignisse sind aber mit niedrigerem Einkommen assoziiert (Kristenson, 2008). Neuere Ansätze in der Gesundheitsforschung (z. B. Hurrelmann et al., 2009) sehen daher die Stressbewältigungskompetenzen als zentralen Moderator zwischen Armut, Deprivation, Kindheitsbelastungen und psychischer Gesundheit. Menschen mit belasteter Kindheit verwenden im Alltag häufiger unreife bzw. weniger erfolgreiche Anpas-

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sungs- und Konfliktbewältigungsstrategien, die das Stresserleben eher verstärken (Nickel u. Egle, 2006). Die Harvard Grant-Studie, eine prospektive Langzeitstudie über siebzig Jahre an Harvard-Absolventen (Vaillant, 2012), unterstreicht, wie Morbidität, frühe Sterblichkeit und Lebenszufriedenheit bis ins hohe Alter mit reifen bzw. unreifen Konfliktbewältigungsstrategien zusammenhängen. Eine an Anna Freud (1936/1984) angelehnte Reife­ hierarchie der Abwehrmechanismen differenziert zwischen reifen Strategien – einschließlich Selbstreflexion, Einfühlung in den anderen, Perspektivenübernahme (Mentalisierung) – und weniger erfolgreichen, unreifen Strategien wie Projektion, mangelnde Empathie und Perspektivenübernahme, selbst- und fremdaggressives ­Verhalten (Egle, 2015).

Soziale Integration und Gemeinschaftsgefühl Groß angelegte Studien aus Frankreich und den USA konnten zeigen, dass Frauen in sozialer Isolation ein 3,6-fach erhöhtes Risiko früher Sterblichkeit haben (Männer 2,7-fach). Soziale Integration wurde gemessen als Vertrauen in die Nachbarschaft, Reziprozität von Beziehungen und Mitgliedschaft in Organisationen der Zivilgesellschaft. Je zahlreicher die sozialen Bindungen, desto geringer das frühe Sterberisiko, selbst dann, wenn Tabak-, Alkoholkonsum und Übergewicht statistisch kontrolliert werden (Berkmann u. Melchior, 2008). In der finnischen Kuopio-Studie erklärten Depression, Familienstand und Qualität des sozialen Rückhalts den Zusammenhang zwischen Einkommen und Sterblichkeit in gleichem Umfang wie das Gesundheitsverhalten (Kristenson, 2008). Hieran kann einerseits gezeigt werden, dass die Konzentration auf die klassischen Risikofaktoren (Übergewicht, Rauchen, Alkohol, Cholesterin, Bluthochdruck etc.) unterkomplex gefasst ist, da psychosoziale Risikofaktoren ausgeschlossen sind. Andererseits erinnern die Untersuchungen deutlich an Adlers Konzeption des Gemeinschaftsgefühls (Ansbacher u. Ansbacher, 2004).

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Fazit und Ausblick Existenziell schwierige Lebenslagen sind oft eine Kumulation von wirtschaftlichen, psychischen, sozialen Konflikten und werden abhängig vom gesellschaftlichen Kontext unterschiedlich gedeutet. Die Grenze zwischen sozialen Notlagen und psychischen Problemen ist fließend (Baer et al., 2012). Die aktuelle Gesundheitsforschung fordert daher, das Thema Gesundheit in allen Politikfeldern aufzugreifen. Der »Health in all Policies«-Ansatz formuliert das Ziel, Gesundheit und Lebensqualität der Bevölkerung auf einer breiten Basis wirksam und nachhaltig zu fördern. »Mit rein gesundheitsbezogenen Interventionsstrategien kann man kaum gegen Health Inequalities ankommen« (Hurrelmann et al., 2009, S. 22). Gesundheit kann nur partiell individuell gestaltet werden, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen den individuellen Gestaltungsspielraum deutlich begrenzen (Kolip, 2009). Diese Rahmenbedingungen erzeugen Muster sozialer Benachteiligung durch Chancenstrukturen (beruflich, Familie, soziale Bindungen). Daher wird einerseits eine Verminderung gesellschaftlicher Polarisierung, materieller Not und psychosozialer Belastungen angestrebt, anderseits eine Stärkung von Ressourcen und Selbstkompetenzen gefordert (Hurrelmann et al., 2009). Adler gründete im »roten Wien« der 1920er Jahre ein Netz von Erziehungsberatungsstellen und engagierte sich in Pädagogik und Aufklärung. »Beratung und Psychotherapie können nicht grundsätzlich voneinander getrennt gesehen werden. Auf der Ebene des praktischen Handelns bestehen zahlreiche Übereinstimmungen« (Schnelzer, 2015, S. 45). In der Arbeit mit schwer erreichbaren Jugendlichen (Bevington, Fuggle u. Fonagy, 2015) und in der mentalisierungsorientierten Erziehungsberatung (Sadler, Slade u. Mayes, 2009; Kaufmann u. Zimmer, 2014) werden psychotherapeutische Ansätze (hier Bindungsorientierung und Mentalisierungsförderung) nicht als Heilkunde angewandt, sondern zur Förderung der seelischen und sozialen Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Eine Reihe aktueller Präventionsprojekte stellt das »Nationale Zentrum Frühe Hilfen« vor (www.fruehehilfen.de). Ebenso steht eine Reihe von resilienz- und entwicklungsfördernden Ansätzen zur Verfügung.

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Neben der Bereitstellung konkreter Dienstleistungen und Informationen (Anträge, Umgang mit Behörden, Informationen zu Impfungen, zum Stillen etc.) sowie dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung werden Interventionen wirksam, die theoretisch und klinisch auf der Bindungstheorie oder dem Mentalisierungskonzept basieren und die Stressverarbeitung unterstützen. Mütter in schwierigen Lebenslagen lernen die psychischen Zustände ihres Babys sensibler wahrzunehmen und effektiver zu regulieren (­Sadler et al., 2009). Fonagy (2003) betont, dass entwicklungsbezogene Anleitung, kurze Kriseninterventionen und unterstützende Behandlung, z. B. konkrete Hilfen bei alltäglichen Lebensproblemen in Verbindung mit einsichtsorientierten Interventionen, gut in den bindungstheoretischen Bezugsrahmen passen. Das innere Arbeitsmodell für die Versorgung des Säuglings verändert sich bei vielen Eltern durch Wertschätzung, Aufmerksamkeit und empathische Empfänglichkeit der Sozialarbeiterin oder Therapeutin. Das Adolescent Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) ist ein teambasierter Zugang in der Arbeit mit jungen Menschen, die durch die üblichen Angebote nicht erreicht werden. Das Behandlungsteam soll dazu beitragen, dass eine sichere, fördernde Beziehung zwischen dem Jugendlichen und dem Sozialarbeiter entstehen kann. Die Konzeption ist dadurch flexibel an die Bedürfnisse und Möglichkeiten des Einzelnen angepasst. Die Förderung von Mentalisierung bei den Jugendlichen und ihrer Familie ist dabei das Kernkonzept. Die einzelnen Bausteine des Programms sind internetunterstützt unter ­http://­tiddlymanuals.tiddlyspace.com einsehbar. Das Programm hat in England 2012 einen Innovationspreis gewonnen (Bevington et al., 2015; Rossouw u. Fonagy, 2012). Aus diesem Blickwinkel ist eine Erweiterung psychotherapeutischer Settings um Prävention und Rehabilitation zu fordern sowie eine engere Kooperation mit anderen sozialen Diensten (z. B. am Sozialraum orientiert). Für diese Ansätze hat Alfred Adler uns wertvolle theoretische und handlungspraktische Vorlagen bereits geliefert.

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Angelika Elisabeth Otto

»GEHDOCHDAHINWOICHHERKOMME« Leben und Werk von Babak Saed – ein Gespräch1 mit dem Künstler

Der Künstler Der Bonner Künstler Babak Saed wurde 1965 im Iran geboren. Mit 14 Jahren kam er nach Deutschland, in einen für ihn bis dahin völlig fremden Sprach- und Kulturraum. Er lernte Deutsch, studierte nach dem Abitur Volkswirtschaft und arbeitete zunächst als Redenschreiber beim Verband der privaten Krankenversicherung. Heute ist er einer der wenigen zeitgenössischen Künstler, die (fast) ausschließlich mit Sprache arbeiten. Seine Kunst basiert vor allem auf dem Wissen, dass unterschiedliche Menschen ein und dieselbe Welt unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren, je nachdem, welchen kulturellen Hintergrund sie haben.

Die Vortragende und Interviewerin Angelika Elisabeth Otto ist als Kind von Flüchtlingen aus den Ost­gebieten im Rheinland geboren. Nach dem Abitur machte sie zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin, dann wurde sie Wirtschafts­dolmetscherin, arbeitete anschließend bei einer großen internationalen Firma und lebte unter anderem zwei Jahre in Südkorea. Von 2006 bis 2011 studierte sie in Köln Psychologie. Seit einigen Jahren bietet sie Kunstführungen in Kölner Museen an, bei denen sie Interessierte in die Kunst psychologischer Bildbetrachtungen einführt. Derzeit befindet sie sich in Ausbildung zur Psychoanalytikerin am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln. 1 Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags und Gesprächs vom 30.10.2015.

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Das (publikumsöffentliche) Interview Angelika Elisabeth Otto: Die Arbeiten eines Künstlers sind im Kontext seiner Lebensgeschichte zu verstehen. Deshalb möchte ich Ihnen zunächst Babak Saed mit einem kurzen Abriss seiner Biografie vorstellen, bevor wir uns einzelnen Werken nähern. In Anlehnung an meine Arbeit als angehende Psychoanalytikerin stelle ich eine Schlüsselszene von der ersten Begegnung mit Herrn Saed voran. Herr Saed, wir trafen uns an einem trüben Oktobermorgen ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit zufällig vor Ihrem Atelier in Bad Godesberg. Sie waren grade im Begriff, schnell noch etwas Milch für unseren Morgenkaffee aus dem nahegelegenen Supermarkt zu holen. Wie selbstverständlich es für Sie war, mir Ihren Atelierschlüssel in die Hand zu drücken mit den Worten »Schauen Sie sich um, ich bin gleich zurück!«, das hat mich sehr berührt. Das war offen und einladend und ist auch ein sehr schöner Übergang zum Thema dieser Tagung. Sie leben und arbeiten in Bonn, wurden aber 1965 in der Stadt Maschad im Iran geboren und lebten dort bis zu Ihrem 14. Lebensjahr. Maschad ist eine Stadt mit etwa 2,5 Millionen Einwohnern, die zweitgrößte Stadt des Iran. Sie ist eine der sieben heiligen Stätten des schiitischen Islam und wird jedes Jahr von mehr als einhunderttausend Pilgern besucht. Ihre Ausreise nach Deutschland erfolgte in der Zeit des Schah-­ Regimes, 1978/1979, kurz bevor Ajatollah Chomeini die Macht übernahm. Der iranischen Tradition gebildeter Kreise folgend, dass ihren Kindern eine sehr gute Ausbildung im Ausland ermöglicht werden sollte, kamen Sie nach Deutschland, begleitet von Ihrer Mutter und Ihren Schwestern. Ihre Muttersprache ist Persisch, Deutsch lernten Sie zunächst in Düsseldorf an einer Sprachenschule. Sie lebten dann im Internat des »Pädagogiums« in Bad Godesberg – eine Schule mit namhaften Absolventen und insbesondere dem künstlerisch-musischen Bereich verpflichtet. Nach dem Abitur folgte das Studium der Volkswirtschaft mit Diplom im Jahre 1994. Als Referent des Vorstands eines bekannten Krankenversicherungskonzerns arbeiteten Sie als Redenschreiber. Diese Arbeit füllte Sie, wie Sie mir erzählten, auf Dauer nicht aus. Sie gaben diese Stelle auf und gründeten 1998 das »Büro für Video und Installation im öffentlichen Raum«. Trotz vieler kriti-

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scher Anmerkungen von Freunden, ob ein Künstler nur mit Worten Kunst machen und auch noch davon leben könne, wurden Sie bald bekannt, unter anderem mit Ihrer Arbeit »Eine Liebe in zwanzig Sätzen« (siehe Abbildung 1) im Hofgarten und Arkadenhof der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

Abbildung 1: Babak Saed: »Eine Liebe in zwanzig Sätzen« – eine ­Station der Installation und Performance im Hofgarten und Arkadenhof der Universität Bonn 1998 (Saed, 2008, S. 62; Abdruck des Fotos mit f­ reundlicher Genehmigung des Künstlers).

1998 waren Sie »Budapest-Stipendiat« und im Jahr 2000 erhielten Sie den Kunstpreis der Stadt Bonn. Es folgten zahlreiche Einladungen zur Teilnahme an Wettbewerben zur »Kunst am Bau« und Preisvergaben sowie Einzelausstellungen. Eine vollständige Auflistung aller Installationen und Projekte würde hier den Rahmen sprengen.2 Herr Saed, die Arbeit, die wir für die Ankündigung dieser Veranstaltung ausgewählt haben, trägt den Titel »Im Dialog mit meinem Gastland« (siehe Abbildung 2).

2 Siehe www.babaksaed.de und die Literaturhinweise am Ende des Beitrags.

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Abbildung 2: Babak Saed: »Im Dialog mit meinem Gastland«, Selbstporträt, Foto aus »AUCHWORTEHALTENWASSIEVERSPRECHEN« (Saed, 2011, S. 66; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers).

Sie schockiert, rüttelt auf und zeigt verdichtet, wie manchmal in einer geschlossenen Gesellschaft mit dem Fremden umgegangen wird. Es ist eine Arbeit, die polarisiert und die ich mit einem Fragezeichen versehen möchte. Zeigen Sie mit dieser Arbeit Ihre persönlichen Erfahrungen, die Sie gemacht haben als Mensch und als Künstler mit Migrationshintergrund in Deutschland? Babak Saed: Zu dieser Arbeit gibt es Einiges zu sagen. Sie stammt aus einem Katalog. Ich pflege auf der letzten Seite meiner Kataloge immer eine Abbildung von mir zu integrieren. Bei diesen Abbildungen bin ich immer bemüht, meine Arbeit auf eine bestimmte Art und Weise zu

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interpretieren, so wie ich sie grade sehe. Die Arbeit ist vor drei bis vier Jahren entstanden und programmatisch für mein Empfinden und meine Arbeit als Künstler. Ich bin hier aufgewachsen und habe meine eigenen Erfahrungen in dieser Gesellschaft gemacht. Dieses Foto gibt auf meine Art und Weise meine Auseinandersetzung mit meinem Gastland wieder. Angelika Elisabeth Otto: Wir haben, als wir uns in Ihrem Atelier getroffen haben, zunächst gezögert, ob wir diese Arbeit zeigen möchten, ob wir sie uns heute hier zumuten wollen, weil sie ja eine sehr hässliche Seite von Deutschland zeigt – jenseits aller Blümchenwillkommenskultur, wie sie gegenwärtig den Flüchtlingen, die zur Zeit in großer Zahl in Deutschland ankommen, auch begegnet. Diese Willkommenskultur verändert sich ja gerade rasant, und neben der Freundlichkeit spürt man auch eine zunehmende Radikalisierung und auch einen aufkommenden Hass auf das Fremde in der Gesellschaft. Die Flüchtlinge kommen hierher in der Hoffnung, bleiben zu können, um hier Schutz zu finden vor Krieg, Verfolgung und Elend. Was befürchten Sie angesichts der zunehmenden Radikalisierung der rechten Szene, wie die Entwicklung hier weitergehen könnte? Babak Saed: Das ist eine schwierige Frage. Ich kann das vielleicht so zusammenfassen, dass ich der festen Überzeugung bin, dass die Entwicklung in einer Gesellschaft sehr stark davon geprägt wird, wie das politische System agiert und auch Zeichen setzt. Ich bin sehr froh, dass zurzeit viele Zeichen in eine positive Richtung gehen, und so hoffe ich, dass sich, so wie die Linie von Berlin vorgegeben wird, die Situation positiv entwickeln wird. Angelika Elisabeth Otto: In vielen Ihrer Arbeiten, die wir für diese Veranstaltung ausgewählt haben und die wir heute zeigen wollen, haben wir spannende Aspekte gefunden, die sich vielfältig auf das Tagesthema »Geschlossene Gesellschaften« beziehen lassen und die darüber hinaus einen breiten Raum für psychoanalytische Betrachtungen und Deutungsmöglichkeiten bieten. Die Arbeit, die ich jetzt vorstellen möchte, stammt aus dem Jahr 2014 und ist als permanente Installation im Stadtmuseum Siegburg zu sehen (siehe Abbildung 3).

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Abbildung 3: Babak Saed: »ICHERINNEREMICHNICHT«, Installation im Stadtmuseum Siegburg (Saed, 2014/2015, S. 22; Abdruck des Fotos mit freundlicher Genehmigung des Künstlers).

Ein Zeitrelais verändert den (beleuchteten) Schriftzug wechselweise in die Aussage »ICHERINNEREMICH« in die Aussage »ICHERINNEREMICHNICHT«. Das letzte Wort der Lichtinstallation (das Wort NICHT) wird also an- und wieder abgeschaltet. Es entsteht zunächst der kurze Eindruck, es liege ein technischer Defekt vor, dann wird der Schriftzug wieder vollständig erleuchtet usw. Diese Arbeit ist ein Beispiel, wie Sie, Herr Saed, Bezug nehmen auf das Anliegen der jeweiligen Institution und auch die Architektur in den Dialog mit einbeziehen. Es ist das Anliegen eines Museums, zu sammeln und zu bewahren. Erinnern und Vergessen, das eine ist eine Entscheidung gegen das andere, beides bedingt einander. Das, was gesammelt wird, wird bewahrt, erinnert, das andere wird vergessen. Diese Arbeit habe ich ausgewählt, um sie als Beispiel für eine kurze analytische Betrachtung und Deutung heranzuziehen: In der Transparenz einer modernen Typografie stehen Worte in Großbuchstaben ohne Leerzeichen aneinandergereiht. Dabei treffen die Buchstaben auf vertraute Wahrnehmungsmuster und lösen doch während des Lesens Irritationen aus. Noch einmal lesen, jetzt – nicht. Der Betrachter lässt sich verwickeln, geht in Beziehung zu dem, was er liest und versucht, wieder Distanz einzunehmen. Es entsteht ein inneres Spannungsfeld in dem Versuch, diese unterschiedlichen Aussagen miteinander zu verbinden. Eine Drehbühnenmetapher drängt sich auf: Dabei fällt das Scheinwerferlicht auf das »Erinnern« oder das »Nichterinnern«. Das jeweils andere bleibt im Dunkeln. Nicht zu erinnern heißt nicht, es zu vergessen, sondern die Aufmerksamkeit auf das »Erinnern« zu legen und damit das »Nichterinnern« als Denkprozess mit seinen eigenen Bildern zu verdrängen. Solange, bis der Betrachter anders entscheidet. Er wechselt zwischen den Modi des Erinnerns und Nichterinnerns, nicht in der Taktung der Zeitrelaisschaltung, sondern in seinem eigenen Rhythmus des Wechsels.

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Fast scheint es zu stören, dass die Reize von außen Impulse geben, das gerade Entstandene wieder zu verlassen. Die Bilder, die in freier Assoziation auftauchen, möchten sich ausbreiten. Kaum dass sie sich zeigen, werden sie schon wieder abgewehrt. Es scheint sich ein Konflikt zwischen widerstrebenden Wünschen in der Form des Verarbeitens zu zeigen. Was möchte der Betrachter zulassen, um dann bei einem erneuten Sehen, etwas ganz anderes zu erkennen? Psychoanalytische Arbeit wäre ohne Assoziation, Metaphern und Verwendung von inneren Bildern nicht vorstellbar. Im therapeutischen Prozess entstehen durch die Erinnerungsarbeit zunächst Bilder, deren emotionale Bedeutung erst durch die Versprachlichung auf der symbolischen Ebene codiert werden können. Damit werden sie abrufbar in ihrer emotionalen Qualität, verlieren so das Bedrohliche, das Angstauslösende, das nicht erinnert werden durfte, und können integriert werden, um so einen neuen Zugang im psychischen Erleben zu finden. Dass sich bei diesen Installationen zuerst die Sprache zeigt, sich fast aufdrängt, der Betrachter sich dann entziehen kann und die Bilder dazu erst auftauchen müssen aus dem Unbewussten, ist in dieser Umkehrung ein Teil der erlebten Irritationen. So kennen wir es in der Arbeit mit Patienten. Was können sie erinnern, was wollen sie erinnern, was soll im Dunkeln bleiben – aus Angst, jetzt oder möglichst für immer? So können wir auch einen Bezug zum Tagungsthema »Geschlossene Gesellschaften« herstellen. An was wollen sich Menschen aus ihrer Heimat erinnern? Was möchten sie bewahren, was dürfen sie zeigen von ihrer kulturellen Identität – in einer Gesellschaft, die ihnen teils offen, teils abweisend gegenübersteht, in die sie sich integrieren wollen und sollen?

Herr Saed, Sie sind Konzeptkünstler und realisieren Ihre Installationen mit Vorliebe im öffentlichen Raum. Es sind kurze, sehr verdichtete Sätze, die Sie verwenden. Wie verstehen Sie Sprache als Medium bei Ihrer Arbeit? Babak Saed: Sprache ist für mich das Medium, mit dem ich meine Gedanken und Gefühle so zum Ausdruck bringen kann, wie ich es möchte. In der Regel geht ein Künstler auf eine Akademie und lernt da, wie er ein Maler wird oder ein Bildhauer. Er kann z. B. die Ideen seines Professors aufgreifen, diese revolutionieren oder dagegen arbeiten. Da ich nicht von einer Akademie komme, sondern andere Ausbildungen habe, kam für mich Malerei nicht infrage. Ich bin in einem Land, dem Iran, aufgewachsen, in dem gewissermaßen Bilderverbot herrscht. Insofern ist für mich die Sprache das Medium, mit dem ich meine Vorstellungen am besten zum Ausdruck bringen kann und möchte.

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Angelika Elisabeth Otto: Also Sprache ist etwas, das Ihnen vertraut ist aus Ihrem Heimatland, aus dem Kulturraum des Islam, und Sie haben sie auch hier für sich als Ausdrucksform in Ihrer Kunst gewählt. Babak Saed: Es ist wirklich so gewesen, dass Sprache immer stärker wurde in meinen Arbeiten. Ich habe zunächst gemalt, und der Titel einer Arbeit war für mich immer extrem wichtig. Mit der Zeit wanderte dieser Titel dann auf das Bild drauf. Nach einiger Zeit merkte ich, wie dieser Titel noch wichtiger wurde, sodass teilweise die Arbeiten nur noch aus den Titeln bestanden. Dann war es für mich eine konsequente Fortführung der Arbeit, mich komplett von der Malerei zu befreien und ausschließlich mit Sprache zu arbeiten. Ich arbeite sehr viel und sehr gerne im öffentlichen Raum. Es ist mir ein Bedürfnis, im öffentlichen Raum zu arbeiten, weil ich der Meinung bin, dass eine Arbeit dort eine eigene Ausstrahlung hat und viele Leute erreicht. Es ist wunderschön, in einem Museum seine Arbeiten zu zeigen oder sie in einer Galerie auszustellen und zu verkaufen. Für mich ist es eines der schönsten Gefühle, im öffentlichen Raum über meine Arbeit mit Menschen in Kontakt zu kommen und mit ihnen zu kommunizieren. Ich glaube, dass Sprache das Medium schlechthin ist, um dort andere Menschen anzusprechen und zu erreichen. Angelika Elisabeth Otto: Ihre Muttersprache ist Persisch, und im Atelier, als wir miteinander sprachen, haben Sie gesagt, bis heute träumen, fühlen und weinen Sie in Ihrer Muttersprache. Wie sehr prägt Sie in Ihrer Identität die Erinnerung an das Land, in dem Sie geboren wurden und aufgewachsen sind? Babak Saed: Sie bestimmt meine Arbeit als Künstler elementar. Für mich ist die Arbeit mit Sprache meine persönliche Wiedergabe einer Erinnerung an die Kalligrafie und Kunst im Iran, in Maschad. Die Stadt ist sehr religiös geprägt und überall ist Kalligrafie und Ornament­ malerei präsent, an und in allen Moscheen. Wir haben in Maschad, ich würde sagen, Hunderte Moscheen – also, da kann, glaube ich, kaum eine Stadt mithalten – und wir wurden damals im Iran auch sprachlich sehr stark gefordert und gefördert. So war und ist Sprache für mich eigentlich immer präsent. Dann erlernte ich hier die deutsche Sprache,

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begegnete einer ganz anderen Kultur. Dazu kam dann meine Arbeit als Redenschreiber. Ich glaube, dass die Entwicklung zur Arbeit als Künstler mit Sprache in meinem Leben nicht anders hätte kommen können. Angelika Elisabeth Otto: Zu Ihrer nächsten Arbeit: Es handelt sich um eine Videoinstallation aus dem Jahr 2000, die den Titel trägt: »Innerer Monolog eines Stotterers« (siehe Abbildung 4). Der Film ist bedrückend und sehr eindrucksvoll. Er zeigt die Qual eines Menschen, der sich verständlich machen möchte und doch in sich gefangen bleibt. Der Protagonist ist kein Schauspieler, sondern ein Mann, der Stotterer ist und sich bereit erklärt hat, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Der Film dauert fünf Minuten. Es ist auch die tief in den Augen liegende Angst eines hilflosen Menschen, die den Film kaum länger aushaltbar macht.

Abbildung 4: Babak Saed: »Innerer Monolog eines Stotterers«, Videoinstallation aus dem Jahr 2000, hier Szenenbilder/Fotomontage (Saed, 2008, S. 53; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers). Der Stotterer: »Ich bin jenseits von nah und fern … Seit einiger Zeit … bin ich nicht mehr in mir … Ich bin ein anderer geworden … Ich habe so wirre Gedanken … Meine … Gedanken in Worte fassen … ich weiß genau, was ich sagen will … Mir geht so viel durch den Kopf … Ehe ich den Mut gefasst hab, etwas zu sagen, ist schon alles vorbei … Manchmal spüre ich eine Hand auf meiner Brust und entdecke dann, dass es meine eigene Hand ist … Ich bin dem ausgeliefert, was da mit mir geschieht … Ich zucke und schneide Grimassen, jede Silbe eine unüberwindbare Hürde … Ich bin außer Kontrolle geraten … Meine Hände machen unkontrollierte Bewegungen … Die Blicke der Zuhörer … Ich bin froh, wenn alles vorbei ist … Manchmal träum’ ich davon, dass ich vor einer großen Menschenmenge gesprochen habe … Alle haben applaudiert … Manchmal bin ich so verwirrt … Ich versuche klar zu denken, kann mich aber nicht konzentrieren … Auch wenn ich das Gefühl habe, nicht ich selbst zu sein, sage ich mir immer, das ist doch Quatsch … Aber je mehr ich darüber nachdenke, umso schlimmer wird es … Weil ich auch nicht immer weiß: Sind das meine Gedanken oder nicht? … Und was, wenn das alles nicht stimmte? … Und was, wenn das alles nicht stimmte? … Und was, wenn das alles nicht stimmte? … Und was, wenn das alles nicht stimmte?«

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Angelika Elisabeth Otto: Ich glaube, wir brauchen einen Moment, um zurückzukommen. Wir haben Bilder gesehen, in denen durch die Wahl des Schnittes die Wirkung noch einmal verstärkt wird. Die weichen Schnitte entsprechen den Kommata der gesprochenen Sprache und die harten Schnitte den Punkten. Ist es doch das Bild, das vor der Sprache steht? Und wirft das nicht die weitere Frage auf: Gibt es Sprache ohne Bild? Babak Saed: Ich glaube, diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Für mich hat die Sprache in dieser Arbeit auch eine gewisse Musikalität. Wenn man dem Stotterer zuhört, merkt man sehr schnell, dass auch eine Melodie in seiner Sprache liegt. Es war sehr interessant, mit ihm zusammenzuarbeiten. Als wir den Film gedreht haben – wir mussten das mehrere Male drehen, ich glaube sechs, sieben, acht Mal – hat der Mann bei den ersten Drehproben überhaupt nicht gestottert. Dann hab ich ihn noch einmal zu mir gerufen und gesagt: »Der Film heißt ›Innerer Monolog eines Stotterers‹, und deine Aufgabe hier ist es zu stottern. Bei den Vorgesprächen hast du andauernd nur gestottert!« Da hat er mir versichert, dass er den Text, den ich geschrieben hatte, so oft unter sein Kopfkissen gelegt hätte, dass er auf diese Weise eins geworden sei mit sich. Er sagte: »Wenn ein Stotterer mit sich im Reinen ist, mit dem, was er gerade sagt, dann stottert er auch nicht.« Er erzählte mir auch von einer schönen Sache: Wenn sie ihre Jahrestagung haben, die Stotterer-Jahrestagung, dann gehen die Teilnehmer sehr gerne gemeinsam aus und jeder hat seine Probleme mit bestimmten Vokalen. Die Aufgabe besteht dann darin, dass jeder im Lokal das bestellt, das er am wenigsten aussprechen kann. Die Kellnerin steht dann da, versucht die Bestellung aufzunehmen und fühlt sich auf den Arm genommen. Das ist der Spaß, den sich die Stotterer leisten. Zurück zu Ihrer Frage. Ich glaube, dass die Bilder in dieser Arbeit stark sind, aber ich glaube auch, dass die Musikalität des Stotterers wesentlich zum Charakter dieses Films beiträgt. Angelika Elisabeth Otto: Ja, Ihr Humor, jetzt an der Stelle, der tut uns gut und entlastet auch ein Stück. Vielen Dank!

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Wir kommen jetzt zur nächsten Arbeit mit dem Titel »After Babel«. Das ist eine Installation, die 2007 an der Außenfassade (siehe Abbildung 5) und im Inneren der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, direkt am Brandenburger Tor, gezeigt wurde.

Abbildung 5: Babak Saed: »ICHDEUTSCHSPRECHENPERFEKT«, Teil der Installation »After Babel«, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin, 2007 (Saed, 2008, S. 9; Abdruck des Fotos mit freundlicher Genehmigung des Künstlers).

Es ist eine Arbeit zum Abschlussfestival »Die Macht der Sprache«, organisiert von den Goethe-Instituten und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Anlass für diese Arbeit war, dass im »Jahr der Geisteswissenschaften«, 2007, die Sprache zum Schwerpunkt gewählt wurde. Es ging um die Wirkung von Sprache mit ihrem Identitätsbildungspotenzial und auch darum, die Frage nach der Macht der Sprache zu stellen. Ich zitiere eine Analyse zu Ihrer Arbeit: »Das Konzept [von Babak Saed] hat lediglich einen Satz zum Inhalt, der in jeder der benutzten Sprachen leicht variiert wird. Jeder Satz bringt zum Ausdruck, dass der Sprecher die jeweilige Sprache perfekt beherrscht. Allerdings enthalten die Sätze grammatikalische Fehler, so dass unmittelbar ein Widerspruch erkennbar wird. Ausschließlich Muttersprachler wurden zur Bildung der Sätze gebeten. Dabei sollten sie solche Fehler in die Sätze einbetten, die sie als typische Fehler von Nicht-Einheimischen empfinden. Die Installation bedient sich der über 40 Sprachen jener Länder, in denen Goethe-Institute vertreten sind« (Ronte, 2008, S. 8).

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Die Installation besteht aus der deutschen Version »ICHDEUTSCHSPRECHENPERFEKT« an der Außenfassade und aus den weiteren Sprachen im Inneren auf den Glassegmenten des Skulpturengartens der Akademie. Also haben wir hier eine Weltkarte der Sprache, eine babylonische Sprachenvielfalt. Das Thema ist die Sprache, die einerseits als Mittel der Ausgrenzung der Fremden dient oder auch als Annäherung an die Einheimischen. Was passiert, wenn der Fremde zu sprechen beginnt und sich damit als Fremder zu erkennen gibt? Dann wird er verwundbar. Es kann sogar lebensbedrohlich sein, eine Sprache zu sprechen. Es kann sich aber auch die Verzweiflung zeigen, sich nicht verständlich machen zu können. Herr Saed, als Sie als Jugendlicher nach Deutschland kamen, wie haben Sie das erlebt, sich zunächst kaum verständlich machen zu können? Babak Saed: Ja, ich konnte ja gar kein Deutsch. Es war mir zunächst fast unmöglich, mich differenzierter mitzuteilen. Es ist natürlich sehr schwierig, wenn man die Sprache eines Landes nicht spricht und dort dann sofort die Schule besuchen muss. Sprache bzw. das Unvermögen, eine Sprache zu sprechen, kann enorm ausgrenzen. Angelika Elisabeth Otto: Also kennen Sie das aus eigenem Erleben, dass das einsam macht. Babak Saed: Hautnah habe ich das erfahren. Angelika Elisabeth Otto: Bevor wir zum Abschluss noch eine weitere Videoinstallation zeigen, haben wir noch etwas Zeit für Fragen oder Kommentare der Zuhörer. Frage aus dem Publikum: Herr Saed, ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob Sie sich vorstellen könnten, diese Form der Sprachkunst, die Sie hier darstellen, auch in Ihrer Sprache und in Ihrem Land zu machen? Babak Saed: Wie hart es auch klingt, ich glaube, dass das, was ich hier tue, im Iran keine Chance hätte. Ich glaube, es gehört zur jeweils gegebenen Entwicklung eines Landes, Arbeiten zuzulassen oder auch

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nicht. Ich denke, dass es breiten Teilen der Bevölkerung im Iran kaum möglich wäre, solche Arbeiten als Kunst anzunehmen. Nachfrage: Also kommen Sie aus einem Land, in dem man nicht irritieren darf? Babak Saed: Das glaube ich. Aber auch mit dem Medium, das ich gewählt habe, könnte ich im Iran wohl kaum mein Brot verdienen. Im Iran gelten Malerei und Kalligrafie – die mit der Hand zu erfolgen hat – als die wahre Kunst. Andere Kunstformen haben, glaube ich, wenig Chancen. Nachfrage: Hätten Sie auch Angst, dass das, was Sie machen, die Menschen dort nicht anspricht, nicht erreichen würde? Babak Saed: Also, zum einen könnte ich die Arbeiten, die ich hier in Deutschland realisiere, gar nicht in meiner Muttersprache realisieren. Ich bin ja, seit ich vierzehn bin, hier aufgewachsen und hier sozialisiert worden und habe mir hier auch alle Feinheiten der Sprache zu eigen gemacht. Diese Feinheiten fehlen mir in der Muttersprache, sodass ich heute nur wenige Dinge in meiner Muttersprache zum Ausdruck bringen könnte. Aber selbst wenn ich es könnte, glaube ich nicht, dass mein Land in der Lage wäre, solche Arbeiten als Kunst zuzulassen oder zu akzeptieren. Die Gesellschaft würde es einfach nicht annehmen. Frage aus dem Publikum: Persisch ist, wie sie sagen, kalligrafisch. Die kalligrafische Schrift haben Sie in Ihren Arbeiten im Deutschen überhaupt nicht verwendet, sondern nur diese starren, mächtigen Großbuchstaben. Spiegelt das mehr Ihr Verhältnis zur deutschen Sprache wider oder sagt es mehr darüber aus, wie Deutschland Ihnen vorgekommen ist und vorkommt? Babak Saed: Für mich war es sehr wichtig, meine Handschrift – im wörtlichen Sinne – einerseits nicht in meinen Arbeiten abzubilden, andererseits sollte die »Handschrift« auf der Bedeutungsebene sehr präsent sein. Deshalb habe ich mich auch für eine Schrift entschieden,

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Arial oder Futura, die sehr nüchtern daherkommt, ohne die Schnörkel, die etwa eine Times-Schrift hat. Ich will auf keinen Fall mit der Form vom Inhalt ablenken. Im Gegenteil, die Form soll dazu dienen, den Inhalt zu unterstützen. Der Betrachter soll sich keine Gedanken machen, warum ich diese oder jene Schriftform gewählt habe. Er soll über diese schlichte Form in den Inhalt der Arbeit einsteigen. Also: Die Auseinandersetzung soll inhaltlicher Art sein. Dazu bediene ich mich eines »Spiels«, so wie ich das bezeichne, indem ich auf die Interpunktion verzichte und die Worte alle in Großbuchstaben wiedergebe, um eine gewisse Verfremdung in die Arbeit hineinzubringen. So steht ein Muttersprachler vor der eigenen Sprache und liest sie wie ein Fremder, der diese Sprache neu erlernt. Häufig ist das so: Wenn Sie einen langen Satz von mir irgendwo sehen, dann beginnen Sie zu lesen und in der Mitte merken Sie vielleicht, das funktioniert so nicht. Sie beginnen zu stottern wie in diesem »Stotterer-Film«. Sie kommen dann wieder zurück zum Anfang und setzen wieder von vorne an. Das heißt, mit diesem »Spiel« versuche ich, die Betrachter etwas festzuhalten im öffentlichen Raum oder bei den Wandarbeiten, um sie zu einer Auseinandersetzung mit dem Inhalt anzuregen – sie also dazu einzuladen, sich in diese Auseinandersetzung zu begeben. Ich würde niemals auf die Idee kommen, so etwas in kalligrafischer Art und Weise mit der Hand wiederzugeben. Das wäre mir auch viel zu persönlich. Frage aus dem Publikum: Ich greife noch einmal die Arbeit auf, die zu Beginn vorgestellt wurde: »ICHERINNEREMICHNICHT«. Dieser Satz ist ja etwas, was uns Psychoanalytiker in vielfacher Hinsicht unmittelbar betrifft. Im Gegensatz zu der Erinnerungskultur z. B. in der historischen Dimension haben wir Psychoanalytiker ja zur Erinnerung eine andere Einstellung. Der Historiker geht davon aus: Das, was ich erinnere, ist das Relevante. Das ist das, was wichtig ist. Wir Psychoanalytiker sagen: Das, was ich nicht erinnere, ist das Relevante. Also: Das, was ich nicht erinnere, kann viel bedeutsamer sein als das, woran ich mich erinnere. Ich finde, da ist auch so eine Art von Changieren. Stehen Sie, Herr Saed, mehr der Betrachtungsweise der Historiker nahe oder war bzw. ist die der Psychoanalyse für Sie auch von Bedeutung?

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Babak Saed: Für mich als Künstler ist das elementar, wenn ich eine Arbeit gemacht habe, mich nachher zu fragen: Lässt diese Arbeit viele Räume offen? Gibt es viele Eingänge oder Zugänge zu dieser Arbeit? Ich bin dankbar, dass Sie mich nach dieser Arbeit fragen. Weil sie wirklich sehr, sehr viele Eingänge zulässt. Es gibt einmal die persönliche Ebene: An was will ich mich erinnern? Was will ich vergessen? Es gibt aber auch Dinge, die sollte man einfach mal vergessen. Das tut vielleicht sogar sehr gut! Dann gibt es die gesellschaftliche Ebene: An was will eine Gesellschaft sich erinnern und was soll sie vergessen oder was darf sie auf gar keinen Fall vergessen? Da diese Arbeit im Museum zu sehen ist, kann man auch fragen: Woran sollte ein Museum erinnern bzw. was will es sammeln? Ein Museum muss sich aufgrund seines begrenzten Budgets immer für oder gegen etwas entscheiden: zum Beispiel für eine bestimmte Stilrichtung oder eben eine andere. Also bestimmt auch das Museum – und ein städtisches, wie das in Siegburg, hat ja auch die Aufgabe, die kulturelle Identität der Stadt zu entwickeln und abzubilden –, was gesammelt und bewahrt wird und eben auch erinnert werden soll und wird. So lässt diese Arbeit eben wirklich sehr viele Ebenen offen, und jeder ist eingeladen, aufgrund seiner eigenen Erfahrung einen persönlichen Eingang oder Zugang dazu zu finden. Bemerkung aus dem Publikum: Diese Installation würde sich gut eignen, über der Eingangstür einer psychoanalytischen Praxis zu hängen. Babak Saed: Das freut mich. Frage aus dem Publikum: Wie ist das Verhältnis von gelesener Schrift zu gesprochener Sprache? Man kann die Schrift ja lesen und nur für sich leise aufnehmen. Es hat aber sicher eine andere Wirkung, wenn man den Satz laut ausspricht. Spielt das eine Rolle in Ihren Arbeiten? Babak Saed: Ich bin immer bemüht, die Sätze nicht vorzulesen. Ich glaube, jeder sollte für sich selbst die jeweilige Aussage lesen. Viel wichtiger als das Lesen ist das, was man mitnimmt – also die Bedeutung, die jeder Einzelne der Aussage selber gibt. Über dieses »Spiel«, das ich auf diese Weise initiiere, versuche ich ja zu erreichen, dass die

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Betrachter sich von der Form lösen und die Sätze in ihrer ganz persönlichen Weise begreifen und verstehen. Es macht auch kein Vergnügen und keinen Sinn, sie immer und immer wieder zu lesen, denn dann fängt nur diese Kopfarbeit an. Der eigentliche Prozess beginnt doch, glaube ich, wenn man sich von der Installation entfernt hat, nach Hause geht und sich überlegt: Welche Erinnerung habe ich nun mitgenommen? Ich sehe also wenig Sinn darin, die Sätze – womöglich wiederholt – vorzulesen. Frage aus dem Publikum: Ich verstehe nicht ganz bzw. bin nicht einverstanden damit, wie Sie Form und Inhalt Ihrer Arbeiten mit- bzw. zueinander in Beziehung setzen. In »ICHERINNEREMICHNICHT« schreiben Sie die Buchstaben doch alle hintereinander. Dadurch kommt bei mir schon auf den ersten Blick ein Eindruck von Homogenität auf. Aber diese Homogenität hebt sich dann ganz schnell dadurch wieder auf, dass Sie keine Leerzeilen verwenden. Dadurch kommt doch eigentlich über die Form an sich schon eine Irritation auf. Also denke ich, die Form unterstützt in hohem Maße den Inhalt! Heißt das nicht auch, die Form ist eigentlich auch schon Inhalt? Mich sprechen diese Bilder oder diese Wortschöpfungen stark über die Form an. Babak Saed: Ich habe mich ja tatsächlich für eine bestimmte Form entschieden. Diese Form wird konsequent in allen Arbeiten beibehalten. Das heißt, diese Form ist einmal festgelegt – wie eine Art Korsett – und darin bewegen sich dann die Arbeiten. Also sage ich: Wenn man sich mit meinen Arbeiten ein wenig auseinandergesetzt hat, merkt man, dass diese Form immer wieder auftaucht, sodass sie eben doch nicht so relevant ist. Optisch natürlich schon, da haben Sie recht, aber die Inhaltsebene wird nach meiner Auffassung in erster Linie stark durch die Verfremdung der Form unterstützt. Angelika Elisabeth Otto: Zum Abschluss sehen wir jetzt das Video »Zwischen Himmel und unten« von Herrn Saed (unter Mitwirkung zahlreicher anderer Künstler), das im Jahr 2000 entstanden ist (Saed, 2000). Von der Rückseite des Bonner Universitäts-Hauptgebäudes sieht man jenseits der Hofgartenwiese das Akademische Kunstmuseum. In diesem Gebäude, in dem sich auch ein Hörsaal befindet, in dem früher Physiologie gelehrt wurde, ist eine Sammlung antiker Statuen unter-

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gebracht, die viel über das kulturelle Selbstverständnis des westeuropäischen Bildungsbürgertums aussagt. Hier hat Babak Saed im Rahmen des bundesweiten Projektes »Heimat Kunst« (nach einer Idee des Hauses der Kulturen der Welt, Berlin) sein Projekt »Zwischen Himmel und unten« und als Teil dessen eine feste Installation3 realisiert (siehe Abbildung 6), die seine Grundhaltung und seine Auffassung von Kunst – dass diese nämlich immer Kommunikation zum Thema hat – zum Ausdruck bringt. Der Kunsthistoriker und Direktor des Kunstmuseums Bonn, Dieter Ronte, hierzu: »Babak Saed realisiert seine Installationen mit Vorliebe im öffentlichen Raum. Die Arbeiten sind dabei temporäre, oder – im Sinne von Kunst am Bau – permanente Installationen. Kunst im wirklichen Raum. Er ist ein Konzeptkünstler, der mit dem Medium der Sprache arbeitet« (Ronte, 2008, S. 4).

Abbildung 6: Babak Saed: »KENNENSIEMICHGENAUVERSTEHEN«, Installation, Akademisches Kunstmuseum Bonn, 2000 (Saed, 2008, S. 54; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Künstlers).

3 Der andere Teil war eine Flugzeugaktion am Tag der Eröffnung (im Akademischen Kunstmuseum war das auf Monitor nachzuverfolgen), und aus dem Ganzen ist mit zusätzlichen künstlerischen Elementen das Video »Zwischen Himmel und unten« (Saed, 2000) produziert worden.

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Auch die Installation im Akademischen Kunstmuseum arbeitet mit Sprache, aber ebenso auf vielfältige Weise mit Dissonanzen. Auffällig ist hier zunächst der auf einer geschwungenen Wand in roter Schrift zu lesende Satz »KENNENSIEMICHGENAUVERSTEHEN«. Diese Buchstaben irritieren, weil sie zwei unterschiedliche Aussagen, eigentlich Fragen, enthalten: Kennen Sie mich? und: Können Sie mich genau verstehen? Da steht aber nicht KÖNNEN, sondern KENNEN, sodass der zweite in der Buchstabenfolge enthaltene Satz »Kennen Sie mich genau verstehen?« lautet. Sprachlich ist das nicht ganz korrekt. Aber eine solche Feinheit würde wahrscheinlich manchem Ausländer, der die deutsche Sprache nicht ganz perfekt beherrscht, kaum auffallen. Der einheimische Betrachter aber bemerkt es wohl und stutzt, ist vielleicht einen Augenblick irritiert. Es ist anzunehmen, dass die Form der Präsentation kein Zufall ist, sondern dass der Künstler Aufmerksamkeit hervorrufen oder eventuell auf diese Weise auch eine verdeckte Aussage machen will. Aber welche? Trotz der (kleinen) Vokalveränderung (ö zu e) werden die meisten Leser den Satz (die Sätze) und die darin enthaltenen Fragen aber intuitiv wahrscheinlich sofort verstehen. Eine weitere Verfremdung entsteht dadurch, dass auf die im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Satz- bzw. Fragezeichen (die zu beiden unterschiedlichen Aussagen bzw. Sätzen gehören würden) verzichtet wird. Die Irritation, die durch die Nichtverwendung von Satz- und Leerzeichen entsteht, wird dadurch gesteigert, dass die Aussage(n) bzw. Frage(n) in einem Raum quasi plakatiert ist (sind), der in gediegener Form der Huldigung der Antike dient. Dabei ist das makellose Weiß des Hintergrundes der Schrift, das gut zum Material der hier ausgestellten hellen Gipsstatuen passt, durch einen schwarzen Farbklecks – offensichtlich verursacht durch einen Farbbeutel, dessen heruntergelaufene schwarze Farbe den Schriftzug genau zwischen den Worten SIE und MICH trennt – »verunstaltet«: Wir erinnern uns, dass die Installation des Künstlers im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel »HEIMAT KUNST« geschaffen wurde. Zusätzlich hat Saed einem Teil der etwa lebensgroßen antiken Statuen rote Clownsnasen aufgesetzt. Auch das fällt natürlich ins Auge und weckt Aufmerksamkeit.

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Während der Betrachter des Videos mit den auf unterschiedliche Weise zu lesenden Buchstaben und Worten konfrontiert ist, wird von einer Stimme im Off das Gedicht »BORN, NEVER ASKED4 der US-amerikanischen Performancekünstlerin, Musikerin und Filmregisseurin Laurie Anderson vorgetragen. Der rhythmische Sprechgesang – unterlegt von einer aufreizenden und mitreißenden Tonfolge, einem Rap nicht unähnlich – baut im Zuhörer und Zuschauer eine eigentümliche Spannung auf. Auch dieser Songtext eröffnet weitere phantastisch-assoziative Räume: »BORN, NEVER ASKED It was a large room./Full of people./All kinds./And they had all arrived at the same building at more or less the same time./And they were all free./And they were all asking themselves the same question:/What is behind that curtain?«5

Die Bilder aus dem Ausstellungsraum, die Musik und die Texte werden im Video nun verbunden mit der Dokumentation einer Kunstaktion (siehe Abbildung 7): Der Betrachter des Films wird Zeuge, wie ein kleines Flugzeug ein Transparent, auf dem ebendiese Buchstabenfolge gedruckt ist, vom Boden aufnimmt und es in die Weite des Himmels über Bonn und Köln zieht. Auf diese Weise wird in der flüchtigen Installation eine Botschaft formuliert, transportiert und quasi plakatiert. Niemand kann genau wissen, was die Menschen, die mit dieser Aufforderung an dem einen Tag, an dem sie für kurze Zeit in luftiger Höhe zu sehen war, konfrontiert waren, gedacht oder gefühlt haben. Wahrscheinlich aber ist, dass in denen, die damals den Blick zum Himmel richteten und das Transparent lasen, Empfindungen und Fragen wie diese aufgeworfen wurden: Warum sollte ich weggehen? Was könnte mich veranlassen, wegzugehen? Wohin soll ich gehen? Wo kommt die Person, die mich da auffordert, mich in ihre Heimat zu begeben, denn überhaupt her? Und was mag das für ein Mensch sein, der mich zu einer solchen Handlung imperativ zu bewegen sucht? Wer ist dieses ICH, das diesen 4 Vgl. www.youtube.com/watch?v=KsMFwnxFv1E 5 »GEBOREN, UNGEFRAGT Es war ein großer Raum./Voller Leute./Jeder Art./Und alle waren im selben Gebäude mehr oder weniger zur selben Zeit angekommen./Und sie waren alle frei. Und sie alle stellten sich die gleiche Frage:/Was ist hinter diesem Vorhang?« (Übersetzung A. E. O.).

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Abbildung 7: Babak Saed. »GEHDOCHDAHINWOICHHERKOMME«, Stand-still aus der videografisch dokumentierten Aktion am Himmel über Köln und Bonn, 2000 (Saed, 2008, S. 55; Abdruck mit freundlicher ­Genehmigung des Künstlers).

Satz ins Blaue des Himmels hineinschreibt? Ein Neugieriger, Reiselustiger, Flüchtling, Vertriebener oder (Wirtschafts-)Emigrant? Und was hat wohl den, der da so zu mir »spricht«, dazu veranlasst, sein Land (welches Land?) zu verlassen und mich jetzt aufzufordern, dasselbe zu tun? Der Satz ist aber nicht nur Aufforderung, er wirft implizit auch viele Fragen auf. Fragen nach Motiven: etwa dem Bedürfnis zu verharren oder sich zu bewegen, nach Veränderungswünschen oder dem Bedürfnis, im Vertrauten zu bleiben. Es bleibt auch offen, ob die »Reise« freiwillig erfolgte (bzw. zu erfolgen hat) und ob sie eher lustvoll oder aus Not und Verzweiflung angetreten wurde oder werden soll. Angesprochen sind jedenfalls auf diese Weise die Themen Heimat und Fremde, Zugehörigkeit und Ausschluss, Inklusion und Exklusion, Migration und Beharrung. Dies waren aktuelle Themen im Jahr 2000, sie sind noch aktueller im Jahr 2015, in dem etwa eine Millionen Menschen, überwiegend Kriegsflüchtlinge, nach Deutschland kamen, immer noch in Scharen kommen und nicht einfach in ihre Heimat zurückkönnen. Das gibt diesem Werk von Babak Saed im aktuellen zeitgeschichtlichen Kontext noch einmal eine besondere Bedeutung.

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Literatur Ronte, D. (2008). Babak Saed. Seine Installationen. In Ausstellungskatalog ENTSCHULDIGENSIE, Installationen + Wandarbeiten 1998–2008 (S. 4–8). Köln: Galerie Kunstraum 21. Saed, B. (2000). Zwischen Himmel und unten, Video. Konzept: Babak Saed; Piloten: Paul Mousson, Jürgen Unterberg; Kameras: Oliver Beckert, Jens Schröder; Schnitt: Badri Shahlawandian; beteiligte Künstler: Babak Saed, Laurie Anderson u. a.; Laufzeit: 00:05:20/Farbe (Digi BetaSP/DVD). Saed, B. (2008). ENTSCHULDIGENSIE, Installationen + Wandarbeiten 1998– 2008, Ausstellungskatalog. Köln: Galerie Kunstraum 21. Saed, B. (2011). AUCHWORTEHALTENWASSIEVERSPRECHEN, Ausstellungskatalog. Hrsg. W. Renn, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen. Saed, B. (2014/2015). GEHORCHEKEINEM, Ausstellungskatalog. Stadtmuseum Siegburg, 2014; Galerie Kunstraum 21, Köln 2014; Galerie Robert Drees, Hannover 2015.

Judith Steinbeck

Von der geschlossenen Gesellschaft zur offenen Gesellschaft? – Homosexualität in der Psychoanalyse

Zusammenfassung Der Beitrag beleuchtet die über einen langen Zeitraum pathologisierende Haltung der Psychoanalyse der Homosexualität gegenüber und die Hand in Hand mit der Bürgerrechtsbewegung der Lesben und Schwulen einhergehende allmähliche Entwicklung der Psychoanalyse hin zu einer aufgeklärteren Haltung. Im Ausblick wird verdeutlicht, dass eine ernsthafte Öffnung hin zu anderen Lebensformen als der bürgerlichen Kleinfamilie des Industriezeitalters eine ungeheure Chance in sich birgt, die kompletten Begrifflichkeiten der Psychoanalyse zu überdenken und zu erneuern.

Prolog Wir haben das Jahr 1989, in einer bundesdeutschen Großstadt steht eine 34-jährige Frau vor ihrem Spiegel und diskutiert mit sich, was sie anziehen soll. Sie entscheidet sich gegen ein Hemd, will nicht provozieren oder brüskieren mit ihren kurzen Haaren und ihrem ausrasierten Nacken, sie entscheidet sich für einen Pullover mit Schalkragen, der ihr einen weichen, femininen Touch gibt. Bei ihrem Bewerbungsgespräch sitzen ihr zwei freundlich zugewandte Männer gegenüber, die wertschätzend auf ihre bisherige Arbeit als Psychologin reagieren. Dann kommt das Gespräch auf ihre Partnerwahl, ein Abschnitt, den sie in ihrem schriftlichen Lebenslauf umschifft hatte. Sie spricht sich Mut zu, erinnert sich, dass sie nicht mehr Pronomen vertauschen will, nicht mehr vernebeln will, und sagt, dass sie in einer Frauenbeziehung lebt. Die Atmosphäre im Raum kühlt deutlich ab, und nach kurzem Schweigen sagt einer der Lehranalytiker: »Wenn wir Sie in die Ausbildung aufnehmen würden, wäre das, als ob wir einem Einbeinigen den Hürdenlauf beibringen wollten!« Nein, das ist nicht autobiografisch, und meine gute Freundin, der das passiert ist, belächelt mich ob meines schlechten KV-Gehalts als

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Analytikerin. Sie ist in die Wirtschaft gegangen, da hat man sie gerne genommen. Aber was war das, dass eine fähige junge Psychologin nicht zur Ausbildung zur Psychoanalytikerin zugelassen wurde? Und ich werde Ihnen auch nicht von Moses mit den Israeliten in der Wüste erzählen, obwohl ich persönlich denke, dass da die Homophobie ihren Anfang genommen hat. Die Erhaltung des Stammes war wichtiger als Individualität und persönliche Autonomie, und das Belegen der Homosexualität mit einem religiösen Tabu schuf Gefühle, die – wie wir alle wissen – sehr viel schwieriger zu verändern sind als Gedanken. Zeitgleich mit dem oben geschilderten Vorstellungsgespräch führte Dänemark im Juni 1989 die Eingetragene Partnerschaft für Lesben und Schwule ein, also ein eheähnliches Rechtsinstitut. Zusammengenommen zeigen die beiden Fakten aus dem gleichen Jahr: Gesellschaftliche Realität und psychoanalytische Haltung klaffen hier weit auseinander.

Die Anfänge Sigmund Freud: Ambivalenzen 1896 beschäftigten sich zwei Ärzte mit der Homosexualität, beide schufen die Anfänge einer Bewegung und beide waren der Homosexualität gegenüber ambivalent. Der eine war Sigmund Freud, der andere Magnus Hirschfeld. Freud arbeitete an der »psychoanalytischen Bewegung« (Freud, 1914), Hirschfeld an der Bürgerrechtsbewegung für Lesben und Schwule. Hirschfelds Bewegung sollte erst hundert Jahre später erfolgreich sein. Freud schrieb am 6.12.1896 an Fließ: »Für die Entscheidung, ob Perversion oder Neurose, helfe ich mir mit der Bisexualität aller Menschen« (Freud, 1986, S. 222 u. 263). Magnus Hirschfeld legte im selben Jahr »Sappho und Sokrates« vor, seine erste Veröffentlichung über Homosexualität. Er gründete das »Wissenschaftlich-humanitäre Komitee«, das sich für die Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung von homosexuellen Männern einsetzte. (Das war damals der § 296, der aus dem preußischen Gesetzbuch übernommen worden war.) Beide Autoren, Freud genauso wie Hirschfeld, beschrieben Homosexualität auf eine merkwürdig ambivalente Art:

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Hirschfeld entwickelt eine »rein biologische, nicht pathologische Auffassung der Liebe zum eigenen Geschlecht« (Hirschfeld, 1896, S. 14), spricht aber im gleichen Atemzug von einer »Hemmung der Evolution«, einer »angeborenen Missbildung« und vom »Fluch der Natur« (S. 14). Freud schrieb 1905 in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (Freud, 1905/1999, S. 44): »Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuch, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen […]. [Sie] erfährt, daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben.« 1935 schrieb er in einem Brief an die Mutter eines homosexuellen Sohnes, die sich um Hilfe an ihn gewandt hatte, Homosexualität sei eine »variation of the sexual function«, nichts, wofür man sich schämen müsse, und: »it can not be classified as an illness«. Im gleichen Brief jedoch bezeichnete Freud Homosexualität als »produced by a certain arrest of sexual development« (Freud, 1935/1951, S. 786 f.). In den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« bezeichnet er die Homosexualität als »Inversion«, und kommt zu dem Fazit: »Zwei Gedanken bleiben nach diesen Erörterungen immerhin bestehen: daß auch für die Inversion eine bisexuelle Veranlagung in Betracht kommt, nur daß wir nicht wissen, worin diese Anlage über die anatomische Gestaltung hinaus besteht, und daß es sich um Störungen handelt, welche den Geschlechtstrieb in seiner Entwicklung betreffen« (Freud, 1905/1999, S. 42). Und auch hier wieder seine Ambivalenz. Seine Betrachtung ist nicht wertend, aber im zweiten Teil spricht er doch wieder von Störung. Fazit: »Für Freud wie für Hirschfeld war es offenbar unmöglich, sich der geradezu totalitären Macht des herrschenden patriarchalischfamiliären Sexualitätsideals zu entziehen«, wie Herzer (2001, S. 163) in seinem Buch über Hirschfeld schreibt. Die beiden Bewegungen waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Kontakt. So kann man im Protokoll der Mittwochsgesellschaft 1906 lesen, »dass auf Anregung Hirschfelds auch in Wien die Gründung des ›wissenschaftlich humanitäres Komitees‹« (Nunberg u. Federn, 1976, S. 14) geplant war.

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Und doch führten diese Beziehungen der Bewegungen nicht zu einer entpathologisierenden Haltung der Psychoanalyse gegenüber der Homosexualität, was sehr deutlich wurde, als sich 1920 ein schwuler Arzt bei der Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung um eine Mitgliedschaft bewarb. Da man dort unsicher war, wie man mit dieser Bewerbung umgehen sollte, wandte man sich an Ernest Jones als einen aus dem engeren Kreise um Freud. Hier entwickelte sich ein sehr spannender Briefwechsel zwischen Jones und Ferenczi auf der einen Seite und Freud und Rank auf der anderen Seite. Jones und Ferenczi sprachen sich absolut dagegen aus, einen Homosexuellen in die Psychoanalytische Vereinigung aufzunehmen. Ferenczi schreibt: »Manifeste Homosexuelle wären – einstweilen – grundsätzlich auszuschließen, sie sind ja meist zu abnorm« (zitiert nach Rauchfleisch, 2011, S. 146), und Jones meint, dass »für die Welt Homosexualität ein abscheuliches Verbrechen ist, wenn es aus diesem Grund zu einer gerichtlichen Voruntersuchung bei einem unserer Mitglieder käme, würde uns dies ernsthaft diskreditieren« (zitiert nach Rauchfleisch, 2011, S. 146; Übersetzung J. S.). Freud und Rank schreiben hingegen: »Wir meinen, die Entscheidung in solchen Fällen sollte einer individuellen Prüfung der sonstigen Qualitäten vorbehalten bleiben« (zitiert nach Moor, 1990, S. 555). Letztendlich hat Freud sich mit seiner liberalen Einstellung nicht durchgesetzt. So richtete sich eine Haltung in der Psychoanalyse ein, welche die nächsten siebzig Jahre nicht verändert werden sollte: Zum Schutz der eigenen Sache wurden Aussagen zur Homosexualität lieber unkritisch gesellschaftskonform belassen, als durch eine deutliche Positionierung für Aufklärung Stärke zu zeigen und so letztlich auch eine verfolgte Minderheit zu schützen.

Alfred Adler: Pathologisierung bis zur Zwangsheilung Auch Adler hat sich zur Homosexualität (nur zur männlichen) geäußert, auch er hatte Kontakte zu Hirschfeld, lehnte aber dessen Haltung, Homosexualität sei angeboren, entschieden ab. 1917 veröffentlichte er einen umfangreichen Aufsatz mit dem Titel »Das Problem der Homosexualität«. Er beginnt seine Ausführungen wie folgt: »Wie ein Gespenst, ein Schreckpopanz erhebt sich die Frage der Homosexualität in der Gesellschaft. Aller Verdammnis zum Trotz scheint die Zahl der Perversen in Zunahme begriffen zu sein. Der religiöse, der richterliche

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Bannfluch zeigen sich von geringem Einfluss. Die Homosexualität greift in den ländlichen Bezirken und in den Städten in gleicher Weise um sich. Kinder, Erwachsene, Greise, Männer wie Frauen sind des Übels gleichermaßen teilhaftig. Es beschäftigt den Pädagogen, den Soziologen, den Nervenarzt und den Juristen. Alle Kampfmittel sind ununterbrochen in Anwendung, ohne ein nennenswertes Resultat zu ergeben. Die härtesten Strafen, die mildeste Beurteilung, versöhnliche Haltung, Verschweigung zuletzt – alle Versuche bleiben ohne Einfluss auf die Verbreitung dieser Anomalie« (Adler, 1917/2009, S. 89). Leider hat Adlers richtige Feststellung, dass homosexuelles Begehren – wenn es denn vorhanden ist – auch gelebt wird, egal wie sehr man dagegen vorgeht, ihn nicht zu der Einsicht gebracht, dass es sich hier um Normalität handelt, auch wenn es nur eine Minderheit betrifft. Als Schlusssatz versteigt Adler sich in die Forderung: »Wie für manches andere Leiden wäre auch bei der Neurose der Homosexualität der staatliche Zwang zur Heilung zu fordern […]« (Adler, 1917/2009, S. 100). Natürlich sind Adlers Ausführungen vor dem Hintergrund seiner Zeit zu betrachten oder, wie Almuth Bruder-Bezzel schreibt: »Adlers pathologisierende und normative Sichtweise von Homosexualität spiegelt Positionen wider, die damals mehrheitlich in den Wissenschaften und in der Öffentlichkeit vertreten wurden und heute kaum mehr so gesehen werden« (Bruder-Bezzel, 2009, S. 88). Und doch vermisse ich bei Adler, den ich sonst Menschlichem immer sehr zugewandt empfinde, wenigstens einen leisen Zweifel.

Die folgenden siebzig Jahre Über die nächsten etwa siebzig Jahre hinweg gab es immer wieder Forschungen, in denen die Annahme vertreten wurde, dass Homosexualität eine zu behandelnde Krankheit sei. Dafür stehen viele Autorinnen und Autoren. Beispiele: –– Rado (1940), der Freuds Annahme der Bisexualität anzweifelte und »die zur Homosexualität führenden frühkindlichen Sozialisationsbedingungen« (zitiert nach Rauchfleisch, 2011, S. 141) postulierte; –– Bergler (1956), der postulierte, dass sich hinter der weiblichen Homosexualität »ein wilder, defensiver Hass gegen die Mutter«

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(zitiert nach Socarides, 1971, S. 35) verbirgt und der homosexuelle Mann »eine ödipale und inzestuöse Bindung an seine Mutter wiederholt, […] die Brust der Mutter durch den Penis seines Partners ersetzt« (zitiert nach Socarides, 1971, S. 36); –– Bieber (1962), der »106 Homosexuelle« einer Psychoanalyse unterzog und für den 27 % danach »ausschließlich heterosexuell« (zitiert nach Socarides, 1971, S. 319) waren und damit nach seinem Verständnis geheilt; –– Siegel, die noch 1988 behauptete, dass lesbische Frauen ihr »mangelhaft ausgebildetes Körperbild dadurch in Ordnung […] bringen, indem sie andere, die wie sie selbst sind, begehren« (Siegel, 1992, S. 15). Aus der Vielzahl von Veröffentlichungen habe ich hier meines Erachtens vier wichtige, meinungsbildende Autorinnen und Autoren herausgegriffen:

Anna Freud: »Saubere« Außenwirkung und persönliche Tragik Anna Freud beschäftigte sich mit dem Thema Homosexualität in den Nachkriegsjahren, in London hatte sie vier Patienten, die homosexuell waren. »Solche Männer fassen die Beziehung zu einem Liebesobjekt ausschließlich im passiven Sinne auf«, sagte sie (zitiert nach YoungBruehl, 1988b, S. 199). Auf einem internationalen Kongress in Amsterdam 1951 hielt sie einen Vortrag, in dem sie Bezug auf diese vier Patienten nahm, und konstatierte, dass »Störungen in der Fähigkeit zur Objektliebe […] häufig auf Mängel in der Beziehung des Kindes zu seiner Mutter oder auf die Ablehnung durch die Mutter zurückgeführt werden« können (S. 149). Sie versuchte 1956, die Veröffentlichung des erwähnten freudschen Briefes an eine amerikanische Mutter mit schwulem Sohn zu verhindern. Sie schrieb der Journalistin des »Observer«: »Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, deren einer die Tatsache ist, daß wir heute viel mehr Homosexuelle heilen können, als anfangs möglich schien. Der andere Grund ist, daß der Leser dies als Bestätigung dafür auffassen könnte, daß das einzige, was die Analyse machen kann, ist, die Patienten davon zu überzeugen, daß ihre Defekte oder ›Unmoral‹ keine Rolle spielen und daß sie mit ihnen glücklich sein sollten« (S. 151).

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Hier finden wir wieder eine ähnliche Argumentation vor, wie wir sie schon von Jones kennen: Der Außenwirkung wird eine mögliche inhaltliche Auseinandersetzung untergeordnet. Diese Haltung finde ich besonders vor dem Hintergrund von Anna Freuds Biografie bemerkenswert. 1925, Anna Freud war 30 Jahre alt, lernte sie Dorothy Tiffany Burlingham kennen. Soweit bekannt ist, war Anna Freud bis dahin keine Liebesbeziehungen eingegangen. Sie schrieb über die Kinder von Dorothy: »ich will sie gar nicht gesundmachen, ich will sie gleichzeitig auch haben […] auch der Mutter der Kinder gegenüber geht es mir nicht viel anders« (S. 191). Zwei Jahre später fuhren beide Frauen zusammen in Urlaub, ließen sogar ­Dorothys Kinder zurück, von denen Sigmund Freud sagte: »deren Kinder meine Tochter mit fester Hand analytisch großzieht« (zitiert nach Young-Bruehl, 1988a, S. 196). Anna und Dorothy kauften erst in der Nähe von Wien, nach Emigration und Krieg in der Nähe von London zusammen ein Haus. Berthelsen, der Paula Fichtls Erinnerungen an 37 Jahre Haushaltsführung bei der Familie Freud niederschrieb, macht sich ein wenig lustig über die Verhältnisse im freudschen Haushalt der 1920er Jahre in Wien: »[…] wenn die Kinder Dorothy Burlinghams von Anna Freud analysiert werden, die schließlich die Geliebte ihrer Mutter ist, die wiederum von Annas Vater analysiert wird, der seinerseits die eigene Tochter behandelt hatte« (Berthelsen, 1987, S. 66). 54 Jahre lang verbrachte das Paar Alltag und Urlaube zusammen, bis Dorothy 1979 starb. Anna Freuds Biografin schreibt, Anna habe dann ­Dorothys Pullover getragen und diesen gestreichelt anstelle der Freundin (Young-Bruehl, 1988b, S. 333). Ich neige dazu, Anna fast schon als tragische Figur zu sehen. Keine Frage, dass beide Frauen Liebe verband, das schreibt auch Anna Freuds Biografin, die aber ansonsten nicht müde wird, zu beteuern, dass dies keine lesbische Beziehung war. Entweder hat Anna Freud sich verboten, dieser Liebe auch einen körperlichen Ausdruck zu geben, oder aber sie hat dies nur im Geheimen getan, mutmaßlich, um Psychoanalytikerin sein zu können und der Psychoanalyse in ihrer Außenwirkung nicht zu schaden. Paul Moor veröffentlichte in der »Psyche« 1990 einen Artikel, den er »Homosexualität und psychoanalytische Heuchelei« betitelte. Darin beschreibt er Analytiker und Analytikerinnen, die in einer »erzwungenen

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Geheimhaltung« und damit in einer »Grauzone« (Moor, 1990, S. 547) praktizieren müssen, da sie lesbisch bzw. schwul sind. Oder wie Künzler es sagt: »Analytiker-innen, die trotz und nach ihrer Lehranalyse […] zu einer homosexuellen Identität fanden oder finden, lebten […] in einer Atmosphäre von Heuchelei, in einer unwürdigen Camouflage, nicht ohne Grund Repressionen fürchtend« (Künzler, 1992, S. 21). Eine so beschriebene zerreißende und entwürdigende Situation phantasiere ich auch für Anna Freud und Dorothy Burlingham.

Helene Deutsch: Lesbianismus als Hassumleitung, Reparationsversuch, Penisneid Helene Deutsch praktizierte in Wien gleichzeitig mit Anna Freud, bevor sie 1935 in die USA emigrierte. Sie hat 1932 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse einen Aufsatz über die weibliche Homosexualität veröffentlicht. Sie beschreibt dort zwei Behandlungen lesbischer Patientinnen ausführlich. Hier ins Detail zu gehen, führte zu weit, es wäre sicher interessant, die geschilderten Träume aus heutiger Sicht zu deuten. Sie interpretiert Lesbianismus als Umleitung des eigentlich abgrundtiefen Hasses auf die Mutter oder, in einer milderen Variante, als Reparationsversuch einer katastrophalen Tochter-Mutter-Beziehung, also als infantile Wünsche an ein mütterliches Objekt. Deutsch versteigt sich in die Annahme einer Identifizierung der lesbischen Frau mit dem Mann und postuliert dies als Ergebnis des Penisneids. »Ich glaube […] bei einigen Fällen […] beobachtet zu haben […], [dass] der Ödipuskomplex eine geringe oder fast keine Rolle gespielt [hat], als ob die Libido immer nur ein Objekt gekannt hätte, die Mutter« (Deutsch, 1932).

Joyce McDougall: Empörung über mangelnde Schuldgefühle Im gleichen Fahrwasser blieb Joyce McDougall 1964 mit ihrer Veröffentlichung »Über die weibliche Homosexualität«. Ebenso wie Deutsch beschreibt auch sie die »böse Mutter«, die dem Mädchen »den Zugang zum Vater versperrt« (McDougall, 1989, S. 288). Sie gibt anders als die meisten Autorinnen und Autoren Einblick in ihre Probandinnenzahlen: Es sind vier Analysen lesbischer Frauen. McDougall äußert selbst Zweifel, »aus diesem beschränkten Material eine Struktur abzuleiten« (S. 235), verwirft diese Zweifel aber

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schnell: »Trotzdem glaube ich, dass solche klinische Erfahrung über die sexuellen Symptome hinaus eine eigentümliche Struktur erkennen lassen.« »Die manifest Homosexuelle ignoriert in aller Regel Schuldgefühle; ohne die soziale Zensur zu verkennen, empfindet sie ihr homosexuelles Verhalten als vitales Bedürfnis« (S. 235). Ähnlich wie wir es bereits bei Alfred Adler gesehen haben, äußert auch McDougall ihre Empörung, dass die »manifest Homosexuelle« trotz des sozialen Drucks keine Schuldgefühle entwickelt, sondern sich in ihrer Sexualität vital fühlt. McDougall führt aus, dass die mangelnde Integration des »Penisneids« »eine wichtige Rolle im psychischen Leben und Körperempfinden einer homosexuellen Frau« (S. 288) spielt. Sie attestiert der Homosexuellen »eine Störung der sexuellen Identifikation«, was mit dem »Verlust des Identitätsgefühls« und einer »Störung des körperlichen Erlebens« einhergeht. Dies führe zu »archaischen Abwehrmechanismen« wie »Wahn« und »Verleugnung« (S. 289).

Charles W. Socarides: Offene Homosexualität als masochistische Selbstbestrafung Socarides veröffentlichte 1968 als Erstausgabe in New York, 1971 als deutsche Ausgabe in Alexander Mitscherlichs renommierter Reihe »Literatur der Psychoanalyse« sein Buch »Der offen Homosexuelle«. Wegen seiner Sachkenntnis wurde dieses Buch im Vorwort Erziehern, Ärzten, Richtern und allen, die für die Erziehung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen verantwortlich sind, empfohlen. Es scheint also ein Buch zu sein, das nicht nur von Fachleuten gelesen wurde, sondern darüber hinaus mittelbar weite Kreise erreichte. Socarides hat akribisch Äußerungen, Forschungen, Aufsätze etc. zum Thema Homosexualität über einen Zeitraum von siebzig Jahren zusammengetragen. In diesen wird einhellig die Meinung vertreten, Homosexualität sei krankheitswertig. Zusammenfassend schreibt er – und gerade in seiner geballten Masse wird die Gewalt und Aggression dieses sogenannten wissenschaftlichen Textes deutlich –: »Die Homosexualität beruht auf der Furcht vor der Mutter und auf dem aggressiven Angriff gegen den Vater; sie ist voll von Aggression, Destruktion und Selbstbetrug. Es ist eine Maskerade des Lebens, bei der bestimmte psychische Energien neutralisiert und in einigermaßen ruhiger Lage

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gehalten werden. Dennoch droht stets der Durchbruch unbewusster Manifestationen von Destruktivität, Hass-, Inzest-, und Angstgefühlen. An Stelle von Einigkeit, Kooperation, Trost, Anregung, Bereicherung, gesunder Herausforderung und Erfolg finden wir nur Destruktion, wechselseitige Niederlagen, Ausbeutung des Partners wie der eigenen Person, oralsadistische Inkorporation, aggressive Attacken, Versuche, die Angst zu beschwichtigen, sowie eine Scheinlösung für die aggressiven und libidinösen Impulse, die das Individuum beherrschen und quälen« (Socarides, 1971, S. 21). Dies ist eine schier endlose Aneinanderreihung von Symptomen, als deren einzige Ursache die Homosexualität genannt wird. Das Gesunde, Normale, also Heterosexuelle, wird beschrieben und dem kranken, abnormen Homosexuellen gegenübergestellt. Sich als Homosexueller zu outen, bezeichnet Socarides als »masochistische Zurschaustellung seiner Homosexualität«, also als eine »Selbstbestrafung« (S. 104 f.). Auch hier finden wir McDougalls Empörung wieder, dass ihre Patientinnen ihr Lesbischsein als vital bewerten. Socarides pathologisiert dieses positive Selbstempfinden, indem er es als masochistische Selbstbestrafung deutet. Und so findet er es vollkommen absurd, dass es die Absicht des homosexuellen Patienten ist, »zu beweisen, daß Homosexualität genauso ›vernünftig‹ ist wie Hetero­sexualität« (S.  328). Socarides reagierte, vermutlich unbewusst, auf eine gesellschaft­ liche Unterströmung, die ein Jahr nach Erscheinen seines Buches in den USA eine erste breite öffentliche Aufmerksamkeit erlangte. Die Bürgerrechtsbewegung der Lesben und Schwulen gelangte am 28.6.1969 mit heftigen Ausschreitungen in der Christopher Street New Yorks wie mit einem Paukenschlag in das Bewusstsein der Gesellschaft. Im »Stonewall-Aufstand«, benannt nach der Bar »The Stonewall Inn«, lehnten sich Lesben, Schwule und Transgender blutig und medienwirksam gegen fortwährende Brutalitäten und Schikanen der sogenannten Ordnungshüter auf. Die Bewegung gegen den Vietnamkrieg und die Black-Power-Bewegung hatten einer vorsichtigen Liberalisierung der Gesellschaft den Weg gebahnt und sie aktivierten so auch bei Lesben und Schwulen das Selbstvertrauen, sich zur Wehr zu setzen und Homosexualität als genauso »vernünftig« zu postulieren wie Heterosexualität.

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Otto Kernberg: Homosexualität ist frauenzentrierte Perversion 1985 veröffentlichte Otto F. Kernberg im Forum der Psychoanalyse einen Aufsatz mit dem Titel: »Ein konzeptuelles Modell zur männlichen Perversion«. Zu dieser Zeit zeigten sich bereits erste gesellschaftliche Veränderungen – die großen Krawalle 1969 in der Christopher Street waren inzwischen zu Flächenbränden geworden. In vielen Großstädten der USA und Westeuropas fanden Demonstrationen statt, »CSDs« (Christopher-Street-Demonstrationen), die häufig zu bunten Festen wurden. Immer lauter wurden die Forderungen nach einer Gleichstellung von homosexuellen mit heterosexuellen Paaren. Die Einführung der sogenannten Homo-Ehe wurde gefordert. Kernberg erstellte eine Klassifizierung männlicher Homosexualität als Perversion auf der Grundlage eines australischen Films (»The man of flowers«), in dem laut Kernberg »die Psychodynamik eines Mannes mit einer neurotischen Perversion illustriert« wird (Kernberg, 1985, S. 167), und unter Zuhilfenahme der italienisch-französischen Film­komödie, »Ein Käfig voller Narren« von 1978, die sehr witzig stereotype heterosexuelle Vorstellungen über schwules Leben abbildet. In zwei seiner Kategorien geht er auf die Feminisierung mancher homosexueller Männer ein. So führt er aus: »Die Idealisierung entsexualisierter Frauen kann […] zu rachsüchtigen Identifikationen mit Frauen führen, und zwar in Form von karikiertem, pseudo-femininem Verhalten« (S. 177). Er bezeichnet die Feminisierung als »aggressiven Typus des männlichen Transvestismus (den ›Tunten‹)« (S. 178). Kernbergs pathologischem Blick auf die Feminisierung mancher homosexueller Männer möchte ich gerne eine andere Psychodynamik gegenüberstellen, auch wenn diese erst 2001 von Martin Dannecker veröffentlicht wurde. Dannecker beschreibt eine gesunde Entwicklung zur männlichen Homosexualität. Er sieht »das primäre Liebesobjekt des homosexuellen Jungen […] [im] Vater« (zitiert nach Quindeau, 2008, S. 252; Kernberg und auch Socarides sehen das primäre Liebesobjekt in der Mutter). Homoerotische Phantasien seien etwa ab einem Alter von vier bis fünf Jahren präsent. Dannecker erklärt den Feminitätsschub bei einem ödipalen Jungen als dessen Versuch, »die Liebe des Vaters zu erringen, indem er sich in manchen Aspekten an die Mutter angleiche. […] Auch

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das Tragen weiblicher Kleidungsstücke […] [sieht er] nicht als Ausdruck der Phantasie des Jungen, eine Frau zu sein; vielmehr versucht der Junge, mit dieser weiblichen Aufmachung den Vater zu verführen« (S. 253). In den pathologisierenden Betrachtungsweisen der Homosexualität wird stets die Beziehung des schwulen Jungen zu seiner Mutter in den Mittelpunkt gerückt. Dannecker hingegen betrachtet vor allem die Vaterbeziehung und weist darauf hin, dass der Sohn auch »phallische Strebungen gegenüber dem Vater hat« (S. 253). So macht Danneckers Blickwinkel die Feminisierung mancher Homosexueller nachvollziehbar und so kann sie als normal bzw. gesund betrachtet werden. Einen weiteren wichtigen Aspekt von siebzig Jahren Pathologisierung beleuchtet der Aufsatz von Kernberg, nämlich die Frage, anhand welchen »Materials« die psychoanalytische Forschung über Homosexualität betrieben wurde. Bei Kernberg erfahren wir, dass zwei Filme seine Grundlage waren. Wie erwähnt, stützte auch Deutsch sich auf zwei Fälle, bei McDougall und Anna Freud waren es jeweils vier Behandlungen. Künzler beantwortete diese Frage recht aggressiv und rückte damit »wertfreie« und »neutrale« Wissenschaftlichkeit ein Stück an den richtigen Platz: »Psychoanalytiker griffen sich Homosexuelle, wo sie ihrer habhaft werden konnten, ob sie nun mit neurotischen, borderlinebestimmten oder psychotischen Symptomen in ihre Sprechstunden kamen, ob sie Patienten psychiatrischer Anstalten oder Insassen von Zuchthäusern waren. […] Es wurde häufig von einem Fall auf alle Homosexuelle rückgeschlossen! […] Auf dieser Grundlage wurde als Ergebnis der Forschung festgehalten, daß bei dem Homosexuellen grundsätzlich das ganze Arsenal der Psychopathologie zu finden ist« (Künzler, 1992, S. 28).

Die Kehrtwende Robert Stoller: Diagnose als Hass- und Machtinstrument Die gesellschaftlich veränderten Strömungen nach 1969 brauchten 14  Jahre, um in die Psychoanalyse vorzudringen. Stoller hielt am 18.12.1983 einen mutigen Vortrag vor der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung und sagte: »Wir [haben] Satzungsvorschriften gegen die Zulassung von Homosexuellen als Kandidaten, als Mitglie-

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der des Lehrkörpers, als Supervisoren oder als Ausbildungsanalytiker […]. Zur Rechtfertigung dieser Regelung dient unser ›Wissen‹, dass diese Menschen per definitionem angeblich völlig ruinierte, quasipsychotische Geschöpfe im Zustand fast völliger Selbstauflösung sein sollen (was natürlich durch normal erscheinendes Verhalten verdeckt wird). […] Wir haben aus Diagnosen Anklagen gemacht und dabei unser Verhalten mit Fachjargon kaschiert. Aber obwohl dieser den Hass verdeckt, verstärkt er die Grausamkeit; der Jargon ist das Urteil« (zitiert nach Moor, 1990, S. 553). In seinem Buch »Perversion, die erotische Form von Haß« hat Stoller bereits 1979 (S. 244) ausgeführt: »Wir müssen diese beiden Gedankengänge – Diagnose als Mittel zu präziser Bestimmung und Diagnose als soziales Machtinstrument – aber unbedingt voneinander trennen.« Und so tritt er dafür ein, dass die Diagnose »Homosexualität« aufgegeben wird. Es dauerte noch einmal bis 1992, ehe in der Neuausgabe des ­ICD-10 diese Diagnose nicht mehr auftauchte.

Johannes Cremerius: Intimität der Analytiker untereinander als Ursache der Abwehr Mit Cremerius wird 1992, bemerkenswerterweise erst acht Jahre nach Stollers Rede, auch in Deutschland eine Stimme laut, die die Pathologisierung der Homosexualität kritisiert. Cremerius (1992, S. 16) stellt die bedeutsame Frage, »Warum sich die psychoanalytische Gemeinschaft so ablehnend Homosexuellen gegenüber verhält? […] Hier nimmt sie ihre emanzipatorische aufklärerische Aufgabe nicht wahr.« Und er hat eine psychoanalytische Antwort: »Freuds Beziehungen zu seinen Lehrern und Schülern tragen ausgesprochen intime Züge intensiver Nähe und Dichte« (S. 16). Ähnliches beobachtet er auch in den Ausbildungsinstituten und nationalen und internationalen psychoanalytischen Vereinigungen: »Meine Vermutung geht dahin, dass die intimen, unbewussten homosexuellen Beziehungen durch Entwertung als Pathologie abgewehrt werden« (S. 17). Ermann kommt 2010 (S. 4) zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Psychoanalyse »vergab die Chance, die eigene Struktur zum Gegenstand der gemeinsamen Reflektion zu machen und damit eine reflexive Autorität, d. h. demokratische Strukturen, zu etablieren. Hier liegt auch eine

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Wurzel des Homozentrismus (zu Deutsch: der Männerlastigkeit) und der Homophobie (zu Deutsch: der Schwulenfeindlichkeit), welche die Psychoanalyse in Theorie und Praxis über Jahrzehnte beherrschten und der Emanzipation von Frauen und Homosexuellen kaum eine Chance ließen.«

Aufbruch zu neuen Ufern In den 1990er Jahren kam es zu ersten Veröffentlichungen, die von der Grundannahme ausgehen, dass es die gesunde Homosexuelle, den gesunden Homosexuellen gibt. So kommen Gissrau (1993, S. 11; 2005, S. 94) und Morgenthaler (1994, S. 202) zu der klaren Haltung, dass es eine gesunde lesbische und schwule Entwicklung gibt. Diese Autoren stellen die offene Frage: Wie kann sich die psychosexuelle Entwicklung sowohl zur Hetero- wie zur Homosexualität gestalten? Es kommen auch Autoren und Autorinnen hinzu, die dafür plädierten, »die Homosexualität nicht als monolithische Einheit darzustellen, die zu einer bestimmten psychischen Struktur führt oder auf ihr beruht« (Quindeau, 2008, S. 260). Und es wird nun häufiger von »Heterosexualitäten« und »Homosexualitäten« gesprochen.

Wolfgang Mertens: Variable Komponenten der Geschlechtsidentität Mertens entwickelte 1992 ein Drei-Komponenten-Modell zur Geschlechtsidentität mit der Kerngeschlechtsidentität (Begriff von Stoller, 1968), der Geschlechtsrolle und der Geschlechtspartner-Orientierung: Demnach ist die Kerngeschlechtsidentität, die libidinöse Besetzung des eigenen Körpers, sehr früh und unwiderruflich angelegt, eine »irreversible Struktur«, »d. h. dass keine lesbische […] Frau an ihrer Weiblichkeit und kein schwuler […] Mann an seiner Männlichkeit zweifelt« (zitiert nach Rauchfleisch, 2011, S. 47). Anders ist es mit den Geschlechtsrollen, »die zwar in Kindheit und Jugend ausgebildet werden. Als ein stark von sozialen Einflüssen bestimmter Vorstellungskomplex […] [aber] lebenslang einem Wandlungsprozess« (S. 48) unterliegen kann. Bei der Geschlechtspartner-Orientierung ist die Libido objektbezogen. Die Geschlechtspartner-Orientierung hat eine »große Variabilität

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und führt zu einer Fülle von verschiedenartigen Erlebens- und Beziehungsformen. Homosexualität, Heterosexualität und Bisexualität sind dabei nur die markantesten Punkte« (S. 51).

Eva Poluda-Korte: Jedes Mädchen begehrt seine Mutter 1993 veröffentlichte Poluda-Korte ihre Theorie des »Lesbischen Komplexes«, womit sie den »negativen, weiblichen Ödipuskomplex« (S. 74), also das sexuelle Begehren der Tochter der Mutter gegenüber benennt. Laut Poluda-Korte durchläuft jedes Mädchen diesen Entwicklungsschritt. »Da das Mädchen aber, im Gegensatz zum Jungen, den frühen Ödipuskomplex in der negativen (d. h. gleichgeschlechtlichen) Position betritt, kommt für sie das homosexuelle Tabu noch hinzu«. [Das] »bedeutet für das Mädchen, daß sie nicht nur auf die Mutter verzichten soll, sondern generell auf weibliche Liebesobjekte« (S. 78). Das Mädchen erfährt, dass die Mutter nicht nur die Tochter liebt, sondern auch den Vater, und dies verarbeitet das Mädchen als eine »entwertende Zurückweisung« bzw. erlebt dies als »die lesbische Enttäuschung an der Mutter« (S. 78). Diese Enttäuschung führt dazu, dass das Mädchen sich dem Vater zuwendet. Dann »kann das Schicksal der primären leidenschaftlichen Liebe zur Mutter in eine intensive Besetzung von Mütterlichkeit bei der Tochter münden […]. Und die Identifizierung mit der heißgeliebten Mutter kann […] zur Basis eines weiblichen Selbstgefühls werden« (Poluda-Korte, Vortrag 2004). Bei einer lesbischen Entwicklung hingegen akzeptieren die Mädchen »das homosexuelle Tabu nicht […], sie bestehen auf ihrem primären Wunsch nach Frauenliebe und verweigern oder revidieren den Objektwechsel. Die Wut über die homosexuelle Zurückweisung der Mutter binden sie nicht ins Über-Ich, sondern halten sie zur Behauptung ihres Begehrens im Ich aufrecht und wetteifern mit dem Vater« (Poluda-Korte, 1993, S. 95). Mir erscheint an Poluda-Kortes Theorie der Aspekt des Begehrens der Mutter ganz besonders wichtig, und hierin unterscheidet sie sich entscheidend von Deutsch, McDougall, Siegel und Chasseguet-­Smirgel, die einen Hass auf die Mutter postulieren. Ich teile die Sichtweise von Quindeau, »dass die Integration der Vagina ins Körperschema der Tochter eine Mutter-Tochter-Beziehung erfordert, die auf Begehren und nicht Abwehr beruht« (Quindeau, 2008, S. 264).

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Michael Ermann: Normales Begehren des Sohnes gegenüber dem Vater Ermann beschäftigt sich mit der Entwicklung der normalen männlichen Homosexualität, so wie der bereits erwähnte Dannecker. Ermann (2009, S. 357 f.) schreibt: »Der homosexuelle Knabe begehrt die Mutter nicht als infantiles Sexualobjekt und erlebt ihr Begehren als Zurückweisung seines Verlangens nach einem Mann. Dieser Mann ist […] der trianguläre Vater. An ihm entwickelt der homosexuelle Knabe auch sein sexuelles Begehren. Er sehnt sich danach, von ihm erotisch begehrt und verführt zu werden oder ihn zu verführen. […] Die Mutter ist dabei Rivalin […]. Doch der homosexuelle Junge begegnet im Vater einem Mann, der ihn zurückweist, indem dieser Frauen liebt.« Hier begegnen wir der gleichen Konstellation, die Poluda-Korte für Mädchen den lesbischen Komplex nannte. Entsprechend könnten wir hier von einem schwulen Komplex sprechen: Der Sohn, der den triangulierenden Vater begehrt und entdecken muss, dass dieser nicht nur ihn als Sohn liebt, sondern auch die Mutter. Auch er muss das homosexuelle Begehren nach dem Vater in seiner Beziehung zu ihm verdrängen, so wie das lesbische Mädchen ihr homosexuelles Begehren nach der Mutter verdrängen muss. »Diese Verdrängung beruht auf einer Desidentifikation und nicht auf Identifikation« (Ermann, 2009, S. 361). Anders als Dannecker spricht Ermann nicht von einem Feminisierungsschub, sondern meint: »Je nachdem, ob der Knabe sich dabei mehr als Objekt der Sexualität versteht oder als Subjekt, entwickelt sich aus der Veränderung die homosexuelle Geschlechtsrollenpräferenz im Sinne einer passiv-rezeptiven oder einer mehr aktiv-intrusiven Homosexualität« (Ermann, 2009, S. 361).

Ausblick Ich habe einen weiten Bogen geschlagen und versucht, die Betrachtung der Homosexualität von den Anfängen der Psychoanalyse bis heute zu skizzieren. Nach siebzig Jahren Pathologisierung, Diffamierung und Ausgrenzung können wir über die Erklärungsansätze der letzten zwanzig Jahre sagen: Im ungünstigsten Falle wollen sie die früheren Betrachtungswei-

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sen ungeschehen machen und verleugnen, im günstigsten Falle bringen sie die Erarbeitung neuer theoretischer Modelle, die eine psychosexuelle Entwicklung hin zu Hetero- oder Homosexualität offen erklären. Für mich stellt sich die Frage, wie sich diese Entwicklung fortsetzt, genauer – wie wir als Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen die zukünftige Entwicklung vorantreiben wollen. Wird die Psychoanalyse die Erweiterung um die Homosexualität als Chance verstehen, tiefgreifenden Wandel zu vollziehen? Ausgrenzung wird gesellschaftlich wieder zunehmend salonfähiger, die Angst, von Flüchtlingswellen überrannt zu werden, lässt Europa wieder konservativer denken. Folgt auch jetzt die Psychoanalyse dem Zeitgeist? Wird in zehn Jahren vielleicht jemand hier stehen und einen Vortrag halten über die Sinnhaftigkeit der Exklusion Homosexueller und wird die psychoanalytische Gesellschaft erneut eine geschlossene sein? Die Behauptung, dass Homosexualität pervers sei, ist – wie Elisabeth Imhorst erst kürzlich bei einem Vortrag erwähnte – gesunkenes Kulturgut, welches unbewusst weiterwirkt und mir persönlich auch immer und immer wieder begegnet: Als z. B. das Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln 2012 eine Fachtagung zu Regenbogenfamilien – also Familien mit einem gleichgeschlechtlichen Elternpaar  – veranstaltete, beantwortete ich Dutzende Anfragen, in denen die Angst zum Ausdruck gebracht wurde, dass der Inhalt unserer Tagung die Perversion der Lesben und Schwulen sei. Aber auch bei mir selber stolpere ich manchmal noch über internalisierte Homophobie, auch in mir ist »gesunkenes Kulturgut«. Bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises an Christina von Braun am 21.11.2013 setzte diese sich in ihrem anschließenden Vortrag mit gleichgeschlechtlicher Elternschaft und »Homoehe« in Gesellschaft und Psychoanalyse auseinander. In Anlehnung an einen Artikel von Glevarec (2012) in »Le Monde« stellte sie die Frage, »ob die Modelle, mit denen die Psychoanalyse bisher gearbeitet hat, nicht einer grundlegenden Revision bedürfen. […] [Freuds] traditionelles psychoanalytisches Dreieck – Vater, Mutter, Kind – basierte auf der Basis der bürgerlichen Kleinfamilie, es war ein Phänomen des Industriezeitalters. Wenn aber der Ödipuskomplex sowohl in seinem Ursprung als auch in seiner Weiterentwicklung historisch bedingt ist, welchen Anspruch auf Allgemeingültigkeit kann das Modell dann erheben?« (Braun, 2013, S. 44).

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Der Weg könnte also sein, nicht die Lesben und Schwulen und ihre vielfältigen Familienformen in das bürgerliche Bild der Psychoanalyse zu drängen, sondern das bürgerliche Bild der Psychoanalyse zu erweitern und andere Formen des Zusammenlebens, die in unserer Gesellschaft ja bereits real gelebt werden, in einer neu zu findenden Sprache abzubilden. Glevarec stellt zu Recht fest, dass wir mit einer Realität konfrontiert sind, die weit über homosexuelle Lebensformen hinausgeht und so aussehen kann, »dass ein Subjekt drei verschiedene Mütter (die genetische Mutter, die Leihmutter und die soziale Mutter) und zwei Väter (den genetischen Vater und den sozialen Vater) haben kann. […] Das muss Folgen für die Analyse haben, gerade dann, wenn sie Elternschaft als Struktur denkt« (Glevarec, 2012; Übersetzung J. S.). In meiner Praxis sind andere Lebensentwürfe als die heterosexuelle, kleinbürgerliche Familie nicht selten, und ich mache gerne und häufig Beratungen für sogenannte und zu sogenannten Regenbogenfamilien, das heißt, Familien mit einem gleichgeschlechtlichen Elternpaar. Hier gibt es beinahe unendliche Variationen von Elternschaft, so z. B. die »Queer Family«: Ein lesbisches und ein schwules Paar tun sich zusammen und haben gemeinsam Kinder. Oder: Lesbische Paare erhalten von einer Samenbank Sperma und erziehen als zwei Frauen in väterlicher bzw. mütterlicher Position Kinder. Oder: Ein schwules Paar erhält über eine In-vitro-Zeugung mit der Eizelle der Schwester des einen und dem Sperma des anderen sowie einer Leihmutter in den USA ein Kind. Für psychoanalytisches Denken scheinen mir deshalb Kategorisierungen immer weniger angemessen und hilfreich. Oder wie Böllinger (2013, S. 269) schreibt: »Angesichts der diversifizierten Lebensform-, Sexualform- und Beziehungsrealität kann die Psychoanalyse kaum mehr nur das Ideal einer lebenslangen ›reifen, genitalen, monogamen und heterosexuellen Zweierbeziehung‹ hochhalten.«

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Vom Verharren im inneren Gefängnis oder warum Emanzipation ohne ermutigende Beziehung nicht gelingen kann

Zusammenfassung In einer komplexen Selbststruktur spielt die Über-Ich-Substruktur eine bedeutsame Rolle bei allen chronifizierten seelischen Erkrankungen. Die verschiedenen unbewussten Machtprozesse aus unterschiedlichen Machtverhältnissen führen durch Verinnerlichung zur Bildung einer inneren Über-Ich-Struktur. Dieses unfreie, oft absolute und rigide Gewissen kann als unbewusste Anpassungs- wie Unterwerfungsleistung gesehen werden, die aus unerträglichen realen Machtbeziehungen eine zwar sich selbst- wie fremdschädigende, aber auch weniger bedrohliche oder sogar kontrollierbar erscheinende Beziehungswelt konstruiert. Die verborgenen Entstehungsbedingungen von Machtbeziehungen werden erläutert, dazu auch diejenigen Funktionen, die durch ihre Wirksamkeit eine Trennung aus Machtbeziehungen verunmöglichen. Zur Durcharbeitung ist eine spezifische wie langfristige, verlässliche Beziehungsgestaltung unverzichtbar. Nur eine derartige Beziehung kann nach der Auflockerung der erheblichen Widerstände zur Emanzipation und damit zur Trennung aus Machtbeziehungen führen. Gravierende Risikofaktoren für diesen Behandlungsverlauf, die auf den Therapeuten zurückzuführen sein können, werden vorgestellt.

Gesetzliche Grundlagen, Verfahrensforschung und Versorgungsrealität Gemäß § 27 SGB V (1) haben Versicherte Anspruch auf Kranken­ behandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. § 28 regelt die ärztliche Behandlung, die ausreichend und zweckmäßig sein muss. Der § 70 SGB V fordert die Erfüllung von drei Kriterien: Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit. In der aktuellen psychotherapeutischen Versorgung gibt es ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass diese Kriterien vielfach nicht erfüllt werden. Die zunehmende Bedarfslage für Psychotherapie ist hingegen vielfach nachgewiesen:

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–– Kliner, Rennert und Richter (2015) zeigen im »BKK Gesundheitsatlas« den erheblichen Umfang an Arbeitsunfähigkeitstagen (AU) infolge von seelischen Erkrankungen: Die Fehlzeiten wegen Krankheiten haben sich von 1976 bis 2013 verfünffacht, 15 % aller ­AU-Tage sind bedingt durch psychische Erkrankungen, psychische Störungen erfordern die längste Anzahl von AU-Tagen – im Durchschnitt 39,9 Tage, 58,2 AU-Tage bei depressiver Episode, 72 AUTage bei rezidivierender Depression. –– Im »Faktencheck Depression« der Bertelsmann Stiftung (2014) wird belegt, dass eine Unterversorgung bei schwer depressiven Kranken vorliegt. –– 2015 veröffentlichen Tossmann, Eiling und Brehm eine Studie zur Frage: »Kurzzeittherapie – ein Instrument zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung?« und kommen zu einem negativen Ergebnis. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz gibt 2015 bekannt: 100.000 Suizidversuche in der BRD jährlich, davon 10.000 Tote durch Suizid. Die Suizidrate der über 60-Jährigen steigt an. Wirksame Psychotherapien, ich beziehe mich hier vor allem auf die tiefenpsychologisch fundierte (TP) und analytische Psychotherapie (AP), wurden durch unzählige Wirksamkeitsstudien belegt. Die Wirksamkeit ist auch von der notwendigen Behandlungsdauer der Therapien abhängig. Dieser Zusammenhang lässt sich als gut gesichert belegen (Brockmann, Schlüter u. Eckert, 2006; Puschner, Kordy, Kraft u. Kächele, 2004; Leichsenring u. Rabung, 2008; Leichsenring, Abbas, Luyten, Hilsenroth u. Rabung, 2013; Grande, Rudolf, Oberbracht, Jakobsen u. Keller, 2004; Shedler, 2010; Sandell et al., 2001; Hartmann u. Zepf, 2002). In diesen Studien sind die Behandlungsstunden mindestens 50 Sitzungen bei tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und 160 bis 240 Sitzungen in der analytischen Psychotherapie. Zwei- bis dreijährige Behandlungen sind belegter Stand der Wirksamkeitsforschung. Der GKV-Spitzenverband fordert dagegen seit 2013, Anreize für eine Absenkung der Therapiedauer zu erstellen. Huber, Gastner, Henrich und Klug (2013) weisen anhand der Münchner Psychotherapiestudie (MPS) auf die unterschiedliche Dauer von Psychotherapie hin: Analytische Psychotherapie (AP) mit

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durchschnittlich 234 Sitzungen, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) mit durchschnittlich 88 Sitzungen und Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit durchschnittlich 44 Sitzungen. Bei chronisch depressiven Erkrankungen zeigt sich eine enge Korrelation der Behandlungsdauer mit der Wirksamkeit: Nur ein Jahr nach Behandlungsende zeigten nach ICD 10 wieder eine depressive Störung wie vor Behandlungsbeginn: Bei AP 11 %, bei TP 32 %, bei KVT 58 % der Patienten. Diese Unterschiede sind gravierend, und es muss diskutiert werden, ob hier die Behandlungen für die Patienten ausreichend wie nachhaltig genug sind und ob die üblicherweise durch­geführten Behandlungen dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse genügen. Wenn im Gegensatz zu den genannten empirischen Studien zur Wirksamkeit von Verfahren und den darin vorgelegten Behandlungszeiträumen die empirischen Studien der realen Versorgung vorgelegt werden (TK, 2015 u. KBV-Statistik, 2014), wird das Bild über die Behandlungsqualität noch bedenklicher: –– Im Juni 2015 veröffentlicht die TK: 50 % aller TK-Therapien werden nach maximal 12 (!) Stunden beendet: Jede zweite Therapie endet also nach der 1. bis 12. Therapiestunde. 34 % aller Behandlungen dauern zwischen 13 und 25 Stunden. Nur 16 % aller Psychotherapien bei TK-Versicherten dauern mehr als 25 Stunden, nur da wird eine Langzeittherapie (LZT) beantragt. –– In der Studie zur Versorgungsrealität und Behandlungsdauer veröffentlicht die Kassenärztliche Bundesvereinigung 2014 ähnliche Ergebnisse: Von 385.885 Patienten insgesamt erhielten in der VT 71 % eine reine Kurzzeittherapie (KZT), bei der TP 70 %. Innerhalb der »reinen« KZT wurden etwa 65 % der Patienten zudem noch in weniger als 25 Sitzungen behandelt. In AP wurden im Durchschnitt 75 % der Therapien vor der 160. Std beendet. Im Durchschnitt wurden unter 20 % Verlängerungen von 160 auf 240 Std. beantragt. Bei unter 1 % liegt die Verlängerungsquote von 240 auf 300 Stunden. Die Fähigkeit oder die Bereitschaft zu längerfristiger Behandlungen scheint extrem gering, obwohl die umfangreiche Verfahrensforschung sicher belegt hat, dass bei chronifizierten Erkrankungen nur längerfris-

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Heiner Sasse

tige Behandlungen nachhaltige Erfolge aufweisen. Die Bemühungen der Krankenkassen und einiger Berufsinteressenvertreter zur Verkürzung und Beschleunigung der psychotherapeutischen Behandlungen durch verführerische Bezahlungsvorteile für Kurzzeitbehandlungen stellen damit ein nicht zu unterschätzendes Behandlungsrisiko dar.

Ein individualpsychologisches Modell der lebendigen Selbststruktur Um den Rahmen für das Thema aufzuzeigen, möchte ich ein Selbstmodell vorstellen, das der Darstellung des komplexen Zusammenhanges dient. Die individuelle Selbststruktur entsteht aus dem Erfahrungsfeld zwischen dem Innen und Außen, also aus, durch und in Beziehungserfahrungen. Dazu beinhalten die als Anlage angeborenen Struktur­ anteile soziale Beziehungsaspekte, deren Ausgestaltung, Stabilität oder Instabilität von den Beziehungserfahrungen und deren tendenziöser Verarbeitung abhängt. Diese hier modellhaft skizzierte Struktur legt den Schwerpunkt auf die Unteilbarkeit der Struktur, die unauflösbare Verbindung zwischen den Substrukturen, die Komplexität, die Unsichtbarkeit sowie die Bedeutung der Macht bei der Beziehungsgestaltung. Ich betone acht Dimensionen des Unbewussten zur Bildung der lebendigen wie komplexen Struktur des Selbst: –– die unbewusst als Anlage vorhandenen Affekte; –– die unbewusst als Anlage vorhandenen sozialen Motive des Überlebens; –– das unbewusst angelegte Bewegungsmuster; –– die unbewussten Beziehungs-, Grenz- und Entwicklungskonflikte; –– der unbewusste Not-Abwehr-Überkompensationskomplex; –– die unbewusste Speicherung in verschiedenen Gedächtnissystemen; –– die unbewusste Über-Ich-Entwicklung; –– der unbewusste Aufbau und die unbewusste Regulation der Selbststruktur.

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In der folgenden Modellskizze (siehe Abbildung 1: Selbsttruktur) postuliere ich die Bedeutung von Beziehungserfahrungen gerade auch für die mentale Entwicklung wie für das Denken. Aktuell haben u. a. Hobson (2014), Denecke (2013), Hofstadter und Sander (2014), Buchholz (2014), ­Gallese (2015), Schramm und Wüstenhagen (2015) sowie Ferro (2015) in Anlehnung an viele analytische und akademische Entwicklungsforschungen (u. a. Stern, 1992) aufgezeigt, dass die Fähigkeit und die Variabilität des Denkens und der anderen mentalen Prozesse in sehr erheblichem Umfang von der Qualität und der Vielschichtigkeit in der Beziehungsgestaltung zwischen dem Kind und seinen Fürsorgepersonen unmittelbar abhängen. Das Denken dient sowohl dem Zusammenführen wie auch der Regulation von aktuellen Reizen, Erinnerungen und Antizipationen. Es verbindet die im Modell aufgezeigten Substrukturen und Prozesse. Dabei sind die Denkfähigkeit, ihre Flexibilität, aber auch die Rigidität und Starre des Denkens von den entsprechenden Erfahrungen mit den genannten Substrukturen im Beziehungsgeschehen von grundlegender Bedeutung. Wissenschaftlich gesichert sind mehrere Gedächtnissysteme nachgewiesen. Ich beschreibe modellhaft den Einfluss von verschiedenen Gedächtnissystemen bei der Über-IchEntwicklung. Therapieerfahrungen führen nur dann zu nachhaltigen Besserungen, wenn sie nicht nur im bewussten, expliziten Gedächtnis gespeichert werden, sondern wenn auch emotionale, motivationale und körper­ gebundene Erfahrungen zu neuen Umstrukturierungen innerhalb dieser Substrukturen erfolgen, also dann, wenn sich die unbewussten Anteile verändern. Die unbewussten Anteile verändern sich jedoch nur unter beschreibbaren Beziehungsprozessen. Ein angelegtes Bewegungsmuster ermöglicht es dem Neugeborenen, durch ausgreifend wie trennend aggressive Selbststabilisierung und aktiver wie passiver Selbsthingabe die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen mit zu beeinflussen (siehe Tabelle 1: Selbststabilisierung – Selbsthingabe). Die aggressive Trennungsfähigkeit bildet den zentralen Hintergrund für eine spätere Trennungsfähigkeit aus Machtbeziehungen.

Das ubw implizite und prozedurale Gedächtnis

Abbildung 1: Selbststruktur

Ubw primäre Affekte

Sieben ubw Motive des sozialen Überlebens

Der ubw Not-AbwehrÜberkompensationskomplex

Nicht nur Angeboren auch »Reingeboren«: Kultur, Familie, Gesellschaft, Gruppe, Machtverhältnisse Institutionen

Denken, Sprache, Vernunft, Wissen, Verstehen, Erkennen, Rechnen, Lernen, Antizipieren, Suchen, Phantasie, Träume, Erwartungen, Gewohnheiten, »freies« Gewissen

Intuitiv-schöpferisch-kreativkonstruierende mentale Dynamik

Explizite, bewusste, abrufbare Erinnerungen

Über-Ich: Implizites und prozedurales Gedächtnis allgemeiner Machterfahrungen, konkreter Beziehungserfahrungen und Erfahrungen aus dem Not-AbwehrÜberkompensationskomplex

Sinnliche Wahrnehmung

Aktuelle Motivation

Ubw Bewegungsmuster zwischen Hingabe und Stabilisierung

Gefühle

Körperspüren

Außen Welt

Modellvorstellung: Die unteilbare Selbststruktur in Beziehung und fortlaufeder, unbewusst-zielgerichteter Veränderung

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Tabelle 1: Selbststabilisierung – Selbsthingabe Frühe Beziehungsgestaltung durch ein körpernahes, dichotomes Bewegungs­ muster zum Aufbau oder zur Überwindung der Grenze zwischen »Ich« und »Du«. Beide Bewegungen bedürfen der Spiegelung durch die Fürsorgeperson. Bezogene Selbst-Hingabe

Aggressive Selbst-Stabilisierung

»Tanken«, Aufnahme, Sicherheit

Allein können, Wirksamkeit, Anspannung

Freude, Geborgenheit durch Selbst­ entgrenzung und Hingabe

Freude durch Gestaltung, Veränderung, Entgrenzung, Triumph, Stärke

Basales Vertrauen in Bindung

Basales Vertrauen in Trennung, Freiheit, Selbstvertrauen, Leichtigkeit

»Du« ist Vordergrund

»Ich« ist Vordergrund

Passivität in Intensität

Ausgreifende Aggression: sich etwas holen, nutzen, gebrauchen, ausgreifen Außengrenzen verändern, zerlegen.

Sich zeigen, Ausdrücken des ­Eigenen

Trennende Aggression: wegmachen, sich schützen, abgrenzen, befreien

Schutzlos, verletzbar, abhängig Loslassen, sich gehen lassen Entspannen

Mit zunehmender Lebenserfahrung wird erfahrungsgebunden der NotAbwehr-Überkompensationskomplex (siehe Abbildung 1: Selbsttruktur, 2: Not-Abwehr-Überkompensation) aufgebaut. Hiermit werden einerseits erlebte und antizipierte Notlagen dadurch zu mildern gesucht, dass durch die Abwehr diejenigen inneren Impulse, die zur Not führen könnten, verdrängt, verleugnet oder abgespalten werden. Andererseits werden durch die unbewussten Überkompensationsbemühungen Ziele angestrebt, deren phantasiertes Erreichen eine Sicherung gegen die gefürchteten Notlagen zu garantieren scheinen. Die Überkompensationsbemühungen führen als Besonderungsversuche wie das Machtstreben zusätzlich oder ergänzend zum angelegten Status- und Machtstreben zu individuell sehr unterschiedlich ausgeprägten wie überhöhten Zielvorstellungen, die, da Fiktionen, als dauerhafte Realität natürlich unerreichbar bleiben.

Interpersoneller Rückzug, Isolation Gegenwart

Abbildung 2: Not-Abwehr-Überkompensation

Fiktion: Schutz durch Distanz Zukunft

Ubw. Not-Abwehr-Über­ kompensationskomplex mit intrapsychischen wie interpersonellen Funktionen in drei Zeitdimensionen

Fiktion der Sicherung Zukunft

Intrapsychische Abwehr Gegenwart

Überwältigende Notlagen Vergangenheit Macht/Ohnmacht Traumata

Intrapsychische Überkompensation Gegenwart

Fiktion der Überlegenheit Zukunft

Interpersonelle Spannungsbögen Gegenwart

Fiktion: Manipulation des Anderen Zukunft

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Um unser Thema zu fokussieren, soll nun auf die Motive und dabei insbesondere auf das Status- und Machtstreben näher eingegangen werden.

Die unbewussten, angeborenen sozialen Motive des Überlebens Als grundlegendes, lebenslang wirksames Motiv kann der Überlebenstrieb des Menschen gesehen werden. Eingrenzungsversuche der vieltausendfachen Instinkt- und Motivvorstellungen durch statistische Verfahren bleiben als valide wie reliable Aussagen unbefriedigend. Da der Mensch nur sozial überleben kann, stelle ich (in Abgrenzung wie Anlehnung an eine unüberschaubare Vielfalt von Motiv-; Trieb- und Motivationskonzepten von Freud über Adler und McDougall über McClelland bis Lichtenberg, Lachmann und Fosshage (2000) sowie dem umstrittenen Reiss-Profil (2000) ein Modell vor, das sieben soziale Motive differenziert. Diese der Transparenz dienenden, gemäß ihrer Bedeutsamkeit für die Selbststrukturbildung und zur diskursiven Kommunikation konzipierten sieben Motive (ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder wissenschaftlich ernst zu nehmende Begründung) entfalten sich unter den jeweils gegebenen sozialen Beziehungen. Diese sieben sozialen Motive entwickeln die für jeden Menschen individuellen wie sozialen Dimensionen: Angeborene Motive müssen daher soziale Bezüge initiieren wie stabilisieren, um a) die individuellen Entwicklungsvorgänge zur Identitätsbildung und Selbstregulationsfähigkeit zu fördern, genauso wie b) die dualen Beziehungsgefüge und c) die Mehrpersonenbezüge zu fördern. So bilden soziale Motive die Grundlage für die Entwicklung des Einzelnen in seinen sozialen Bezügen, die zum Leben unverzichtbar scheinen. Fokussierend möchte ich auf das Status- und Machtstreben näher eingehen, weil dieses entwicklungspsychologisch wohl bedeutsame soziale Motiv einer näheren Betrachtung bedarf. Adler (1997), Bruder und Bruder-Bezzel (2001), Bruder (2005), Erdheim (2005), Han (2005), Quindeau (2005), Holmes (2009), Sasse (2009) und Dornes (2015) haben vielschichtige Facetten der Macht zusammengestellt. Insbesondere Wurmser (2014) hat in seinem Lebenswerk die Zusammen-

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Heiner Sasse

hänge zwischen Machtbeziehungen, Über-Ich Erkrankungen und deren Behandlung aufzeigen können. Das Streben nach einem hohen sozialen Status in den konkreten sozialen Bezügen wird als unverzichtbarer Prozess in der sozialen Entwicklung des Individuums und zur Ausgestaltung des Gruppengefüges gesehen. Unterschiedliche Statusebenen führen zu differenzierbaren Aufgabenverteilungen, Risikobereitschaften und Verantwortungsverhältnissen. Statusverhältnisse werden meist unbewusst »ausgehandelt«, wie die unspezifischen Machtbeziehungen auch am effektivsten dann aufgebaut werden, wenn sie unbewusst, intransparent ablaufen und wenn das Bewusstsein über ihre soziale Konstruktion im Verborgenen bleibt. Status- wie Machtbeziehungen sind soziale Konstruktionen, die immer beide Seiten der Macht-Ohnmacht-Dichotomie beinhalten: Es gibt keinen Herrn ohne Knecht, keinen Machthaber ohne Unter­gebene, keine »Unten«-Position ohne »Oben«-Position. Die jeweiligen Statusoder Machtrealisierungen haben erhebliche positive wie negative Auswirkungen auf beide Seiten der sozialen Konstruktion, auf die noch eingegangen wird. Abschließend soll auf eine Besonderheit dieses sozialen Motivs hingewiesen werden: Sowohl für das konkrete Statusstreben wie für das allgemeinere Machtstreben gibt es keine natürliche, körpernah spürbare Grenze oder eine anhaltend erlebbare Sättigung. Weil es kein anhaltendes »Genug« gibt, liegt hier eine schwere individuelle Hürde für die Selbstbestimmung, die bestenfalls aus einer Beziehungsklärung entsteht: Wann entscheide ich für mich, in welchem Umfang, mit welchen inneren wie äußeren Konsequenzen für eine selbstkritische Hinter­fragung und Eingrenzung des eigenen Status- wie Machtstrebens? Beide Seiten dieses Strebens sind als lebenslanger wie prinzipiell unauflösbarer Vordergrund-Hintergrund-Konflikt zu betrachten.

Unlust, Leid, Mangel

Unwohlsein, unbelebt

auf die Fürsorgeperson bezogen, abhängig, ausgesetzt

Begehren

allein, ­verloren, bedürftig abhängig

seelisch-körpernah, widersprüchlich, unterversorgt

Status, Macht

ethisch-mora­ lische Werte

niedrige Position, unten, arm, ausgeliefert, entwertet, Opfer

wert-, hilf-, bedeutungslos

Statusstreben, Macht

Wirksamkeit

aus Eigen­ motivation Reales bewirken, Effektivität, ­Grenzen gestalten, ­verändern

Wirksamsein

Angst vor Schuld, Scham, Ungerechtigkeit

Wirkungslosigkeit: materiell und ideell

Willkür, Sinn­ Überlebens-, losigkeit, Unge­ Abhängigkeitsrechtigkeit angst

Gerechtigkeit, Werte

Genuss, ErreÜberlegenheit, Differenzierung gung, Intensität, Geltung, Domi- von Gut und Vitalität nanz, BegehrtBöse, Wahrhafwerden-Wollen, tigkeit, Treue, Vormacht zur ZuverlässigUmsetzung keit, das Gute, eigener PrioriWahre, Schöne täten

Mangel

Bedürfnisse

Sättigung, Wärme, Anregung, Bewegung, Ruhe, Erholung

Geborgenheit, Vertrautheit, Trennungs­ fähigkeit

Lust

Beziehung: Bindung/­ Trennung

Befriedigung

Sicherheit

Motive

Wunsch, Ziel, Befriedigung

Modellvorstellung: Sieben soziale Motive des Über- und Zusammenlebens

Tabelle 2: Sieben soziale Motive des Über- und Zusammenlebens

nicht verstehen, nicht erkennen, nicht wissen

Unkenntnis, Unsicherheit

Neugier, I­ nteresse

Soziale, ­materielle und ideelle Welt kennen, überleben, entfalten, absichern

Wissen, Glauben, Können

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Heiner Sasse

Nun ist ein kurzer Exkurs in die Diskussion um die Frage der verschiedenen Machtebenen oder Machtdimensionen notwendig, auch diese Diskussion wird seit Jahrhunderten geführt und hat zu einer nicht überschaubaren Vielfalt von Konzepten geführt. Aus einer individualpsychologischen Perspektive ist es unverzichtbar, verschiedene bewusste wie unbewusste Machtebenen mit je eigenen Machtprozessen zu differenzieren. Diese Unterscheidung zwischen unterschiedlichen, voneinander unabhängigen wie auch verbundenen Machtprozessen ist wichtig, um Fehlanalysen bei der Aufarbeitung der unterschiedlichen Machtdynamiken zu vermeiden, indem Ursachen für Probleme einseitig oder auch falsch zugeschrieben werden. Auch hier unterscheide ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): –– individuelle, innere, intrapsychische Machtverhältnisse (Über-Ich versus Ich); –– reale, duale, interpersonelle Machtverhältnissen im Zweierkontakt; –– reale Mehrpersonen-Machtverhältnisse in persönlichen Gruppen; –– institutionalisierte (unpersönliche/finanzorientierte) Machtverhältnissen in Firmen und Konzernen (national wie multinational); –– Medien und digitale Informationssysteme als Träger und Verbreiter der impliziten Machtnormen und Rollenklischees: z. B. Verdinglichung, Verzahlung, Entsubjektivierung, Verobjektivierung des Menschen, Dehumanisierung durch Beschleunigung, Effektivitäts- wie Effizienzkonzentration unter Benutzung der menschlichen Potenziale, der Umwelt und Natur – auch zur Steigerung von technischen Entwicklungen; –– gesellschaftlich legitimierte oder »staatlich anerkannte« Machtinstitutionen wie Kirchen, Vereine, Großvereine, Verbände, Kammern und Gesellschaften; –– politische Macht wie demokratische Parteien, undemokratische kollektive oder diktatorische, monarchische Machtstrukturen und Regierungen, aus denen legislative Macht entsteht; –– davon abhängige politisch-exekutive Macht wie Finanzamt, Polizei, Armee, Behörden; –– davon abhängige oder unabhängige judikative Macht: Gerichtsinstanzen, Richter; –– internationale Machtverhältnisse zwischen Staaten, Bündnissen oder Gemeinschaften.

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Ich stelle hier eine naive wie bedeutsame Unterscheidung von Machtanwendung in Abhängigkeit von der Zielsetzung vor. Entscheidend ist die Frage: Wozu wird Macht genutzt? –– Es gibt die notwendige, selbststabilisierende Macht: Selbsterhalt, Befriedigung auch gegen die Interessen anderer/Rivalität/Konkurrenz. –– Es gibt die notwendige, den/die anderen/die Umwelt/Natur stabilisierende Macht: »Gutes« für den/die anderen, die Umgebung, Sinn der »Alpha«-Position. –– Es gibt die sich selbstschädigende Macht, die als Ziel die dauerhafte, vom Inhalt abgetrennte eigene Machtposition anstrebt: Egozentrik, Grenzenlosigkeit, Sucht, Isolation. –– Es gibt die fremdschädigende Macht durch Aufrechterhaltung des Machterhalts: Machtsicherung ohne Legitimation/Ungerechtigkeit/ Ausbeutung/Missbrauch. Diese einfache Machtunterscheidung ist mehrfach naiv: –– Die Grenze zwischen notwendiger Macht, zwischen produktiver Macht und selbst- wie fremdschädigender Macht ist für das Individuum immer unteilbar verwoben und mehrdeutig. In der Realität ist das Machtstreben mehr oder weniger mehrfach motiviert. –– Jeder Machtausüber wird die Produktivität und die ausschließlich gute Nützlichkeit seiner Machtansprüche betonen. –– Macht wirkt am besten im Unbewussten, im Unklaren und in der Verheimlichung, insofern gehört das Leugnen und Verbergen zum Machterhalt. Aber auch unter Berücksichtigung dieser potenziell erheblichen Schwierigkeiten ist das Status- und Machtstreben ein unverzichtbares wie unaufhebbares Motiv des Menschen und der genannten Gruppierungen und Institutionen. Diese Perspektive führt mich zu folgenden Schlüssen: –– Status- und Machtstreben sind in unterschiedlichen Lebensphasen von erheblicher, notwendiger wie unverzichtbarer Bedeutung. –– Machtdynamiken sind soziale Beziehungskonstruktionen, die auf Wechselseitigkeit (Anerkennung des Oben-Unten-Unterschiedes) beruhen. Macht ist eine mentale wie soziale Konstruktion mit erheblichen realen Auswirkungen (nicht nur Fiktion).

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Heiner Sasse

–– Die prinzipiell unaufhebbare Konflikthaftigkeit des Status- und Machtmotivs und des Not-Abwehr-Überkompensationskomplexes sowie der Bewegungsmuster des Einzelnen trägt zur Machtaus­ prägung ebenso bei wie der Einfluss der sozialen Umwelt. –– Die positiven wie negativen Folgen von Macht müssen kontinuierlich neu gefühlt wie reflektiert werden, es gibt keine festen Abläufe, kein Ende der Konfliktspannungen: Macht ist als Vordergrund-Hintergrund-Phänomen zu verstehen, völlig aufgelöst oder prinzipiell überwindbar ist es nie. –– Jedwede Absolutheit einer dauerhaften/fixen/politischen Perspektive oder Ideologie in diesem Feld ist suspekt, Konflikte mit und aus Machtbeziehungen sind prinzipiell nicht auflösbar oder überwindbar, aktuell jedoch veränderbar. Eine wesentliche Fragestellung lautet dann, ob Macht und Gewalt dem eigenen Streben nach Bedeutsamkeit, Status und Macht entspringt oder der eigenen Überkompensation im Not-Abwehr-Überwindungskomplex dient und damit egozentrische Interessen (losgelöst von der Umwelt, ohne Beziehung, ohne Werte, ohne Empathie, ohne Verantwortung) erfüllt oder ob dieses angeborene Motiv mit den Motiven nach Beziehung und Werten ausbalanciert wird: ob die Macht auch im Sinne des anderen, der Gemeinschaft sinnvoll und legitim angewendet wird. Hier ist Diskurs mit dem bzw. den anderen zwingend notwendig, um diese Fragen angemessen zu beantworten. Macht erfordert die Untersuchung ihrer Grenzen, ihrer Ziele, ihrer Dauerhaftigkeit wie ihrer Legitimation und dabei ist die Untersuchung des Ausmaßes der Selbst- wie Fremdschädigung, der vorhersehbaren Folgen der Machtanwendung von zentraler Bedeutung. Diese Aufgabe gilt insbesondere in Therapiezusammenhängen.

Aufbau des unbewussten Über-Ichs als Verinnerlichung von Machtverhältnissen Zur Entwicklung des Gewissens in seinen bewussten und unbewussten Anteilen gibt es, wie sollte es auch anders sein, eine jahrhundertealte Auseinandersetzung. Es geht um das Verständnis einer Instanz,

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die bestimmt, wie beurteilt wird; einer Instanz, die selbst beurteilt und die auch sich selbst beurteilt. Kant, Luther, Freud (1923/1940), Kohlberg, Wurmser (1993), Luhmann, Klein (1935/1962), Spitz (1965), Nunberg (1931), Kernberg (2012), Klußmann (1988) und viele andere haben sich mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. Die unbewusste Normierungsinstanz im Sinne der äußeren Mächtigen wird nach entsprechenden Erfahrungen durch implizite (unpersönliche, gesellschaftliche Realitäten wie Leistungs-, Konkurrenz- und Warengesellschaft, der Mensch als Ding, als Kapital, die Verzahlung der Humanität, das Nutzen-, Effektivitäts- und Effizienzstreben usw.) und prozedurale Gedächtnisinhalte (personengebundene Beziehungserfahrungen) gebildet. Zudem wirkt das psychodynamische, unbewusste Gedächtnis durch den Not-Abwehr-Überwindungskomplex mit. Im Über-Ich finden sich also Elemente aus allen drei Gedächtnisinhalten. Auch das Über-Ich drängt nicht selbstständig von innen nach außen, sondern wird im jeweils aktuellen Kontakt jeweils neu konstruktiv aktiviert, unbewusst tendenziös wirkend. Daher ist die Funktionsanalyse im aktuellen Geschehen bedeutsam. Das Über-Ich ist auch körpernah gebunden, alle Gefühle, Spür- wie Fühlerfahrungen sind als Realitätskonzept verinnerlicht. Das bedeutet also: Ich denke nicht, ich bin schlecht, böse, schuld, sondern ich fühle, dass ich schlecht, böse, schuld bin! Psychoanalytisch wird das unbewusste Über-Ich als Verinnerlichung der frühen Machtbeziehungen beschrieben. Der Grundmechanismus besteht in der Verinnerlichung eines zunächst äußeren machtvollen Gegenübers in eine innere Machtinstanz, aus der heraus dann von innen das Eigene als Fremdes bewertet, entwertet, geängstigt oder bedroht wird (implizites und prozedurales Gedächtnis). Diese bedrohende, entwertende innere Machtinstanz entfaltet eine eigene (vom ursprünglich machtvollen Äußeren unabhängige) innere Dynamik. Sie wendet sich insbesondere gegen die eigenen Motive, Gefühle, das Körperspürerleben und gegen das Ich mit seinen Identitätskonzepten, kann aber auch nach außen gewendet werden. Das Über-Ich als Substruktur aus verinnerlichten Machterfahrungen ist bei strukturellen Erkrankungen prägend ebenso wie bei neurotischen Erkrankungen: als innere Stimme, als in Sprache gefasste Bewertung. So bei Angst: »Du gehst kaputt«, »Dein Herz bleibt stehen«, »Du wirst verrückt« usw. Bei Zwang: »Du musst

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kontrollieren, waschen, zählen« usw.; bei Depression: »Du bist schuld, schlecht, böse, gemein, hinterlistig«, »Schäme dich«; bei Abhängigkeitserkrankungen: »Aggression und Trennung von den Mächtigen ist ganz schlecht und böse«; beim Narzissmus: »Wenn du so ideal bist, wie ich will, dann gibt es Sicherheit«. Bei Borderline-Erkrankungen wechseln die Über-Ich-Gegensätze zwischen bedrohlichsten Absolutheiten: Leben oder Tod. Trotz des Leidens, trotz der Selbst- wie Fremdschädigung wird die Über-Ich-Rigidität nicht aufgegeben. Suggestion, kognitive Umstrukturierungen, positives Denken usw. scheitern daran. Veränderungen basieren nicht auf Kognitionsänderung, sondern gelingen – wenn überhaupt – nur aufgrund von Änderungen (Motive, Affekte, Not-AbwehrÜberkompensationskomplex, Bewegungsmuster), die durch ein spezifisches Beziehungsgeschehen ermöglicht werden. Dazu müssen die unten aufgeführten unbewussten Funktionen in einer stabilen therapeutischen Beziehung aufgedeckt werden. Ich habe deshalb in einer Arbeit (Sasse, 2011) zur humanen, patientenbezogenen Qualitätssicherung neben den Qualitätsmerkmalen der psychoanalytisch begründeten Verfahren die Kompetenzfaktoren der Therapeuten für die Beziehungsgestaltung besonders betont.

Aufbau des inneren Gefängnisses und Unmöglichkeit der Selbstbefreiung ohne Beziehung Der Aufbau des inneren Gefängnisses entsteht durch die mehr oder weniger intensive Verinnerlichung von Machtverhältnissen, abhängig von der Flexibilität des Beziehungsgeschehens in der frühen Kindheit. Deren Speicherung erfolgt sowohl im impliziten und prozeduralen wie auch im psychodynamischen Gedächtnis. Abhängig von den Machtbeziehungserfahrungen werden die Substrukturen – Gefühle, Motive und das Bewegungsmuster – entsprechend den Abwehrvorgängen gehemmt oder durch Überkompensationsbemühungen geformt. Ich möchte im Folgenden zunächst auf das Erkennen von Machtbeziehungen hinweisen, um dann auf die Funktionen des Verharrens und Wiederholens in der Übertragung hinzuweisen und die Intensität des Widerstandes gegen die Emanzipation zu erläutern. Gerade die Macht-

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analyse wird in aller Regel in den Psychotherapien vernachlässigt, es wird auf Konflikte, Strukturen, Gefühle, Motive, Ängste usw. geachtet, aber der eigentliche Machtaspekt und das unbewusste Festhalten an den Machtverhältnissen wird gemäß meiner Analyse von über 18.000 gelesenen Berichten und erstellten Gutachten nicht berücksichtigt. Die implizite Speicherung von Machtverhältnissen geschieht ohne prozedurale Beziehungserfahrungen durch das Erleben der sozialen Außenwelt (z. B. Arbeitslosigkeit der Eltern oder gutsituierte Eltern, Bildungsniveau) mittels Sinneswahrnehmung (z. B. Sehen, Beobachten) und der entsprechenden Gefühle auch ohne unmittelbaren, persönlichen Kontakt, allein durch Beobachtung der äußeren Verhältnisse (z. B. Männer sind …, Frauen sind …). Ich unterscheide beim prozeduralen Beziehungsgeschehen verschiedene konkretisierbare Beziehungsvorgänge zum frühen Machtaufbau. Das Wie der Machtherstellung (des Oben) und das Wie der Machtabgabe (des Unten) soll beispielhaft aufgezeigt werden, um die Entstehung von Machtverhältnissen zu verdeutlichen: Interpersonelle Machtausübung ist personengebunden, konkret und bedarf unbewusst der gemeinsamen, fiktionalen Perspektivübernahme durch beide Seiten; die Macht des »Oberen« knüpft häufig an die Motive, Gefühle und Bewegungsmuster des »Unteren« an. Beide Seiten werden im Individuum unbewusst im Über-Ich Gedächtnis gespeichert. Folgende zwischenmenschliche Beziehungsprozesse (ohne An­ spruch auf Vollständigkeit) sollten als Machtphänomene und deren Verinnerlichung im Über-Ich aufmerksam vom Behandler wahrgenommen und als Machtphänomene erkannt werden: –– Gewaltanwendung mit Lust des »Oberen«, körperlich und seelisch: Blicke, Gesten, Mimik, Schreien, Schlagen, Verletzen, Traumatisieren, Missbrauch. –– Die »Oben«-Position wird durch Abhängigkeitsherstellung aufgebaut: Motive des »Unteren« werden befriedigt, »Unten« wird verführt, Verlangen geweckt, die Befriedigung aber auf »Oben« konzentriert und reduziert, andere werden ausgeschlossen. –– Aktive Machtanwendung wirkt durch Lob und Tadel, Demütigung oder Verletzung, Beschuldigung, Verurteilung: Ungerechtigkeit anklagend vorwerfen, Bedrohung, Entwertung, Überbewertung oder Idealisierung, Beschämung, Ängstigung, Schmerz zufügen, Verlust

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zufügen, Bedeutsamkeit entziehen, den »Unteren« nicht brauchen, nicht begehren, Ablehnung, Ekel, Abscheu ausdrücken, verstoßen, ab- oder ausstoßen. Der Aufbau der seelischen Grenze des »Unteren« wird durch Grenzüberschreitung, Eindringen, Grenzverletzung, Grenzzerstörung verhindert. Kein Übergangsraum besteht, keine Trennung ist möglich. Aus der Position des »Unteren« geschieht die Verinnerlichung durch passives, implizites wie prozedurales Speichern oder unbewusste aktive Inkorporation, Introjektion, Identifikation, Imitation. Schneider und Seidler (2013) haben zusammen mit anderen Autoren viele Arten der Verinnerlichung genauer untersucht und dargestellt. Die Grenze zwischen Innen und Außen wird dazu verwischt und aufgelöst. Macht durch Nutzung der Ungleichheit in Richtung von Ungleichwertigkeit. Den höheren Status des »Oberen« ohne Legitimation und allein durch Überlegenheit auf allen denkbaren Ebenen (Stärke, Größe, Kompetenz, Intelligenz, Denkvermögen, Fähigkeiten, Besitz, Ressourcenzugriff usw.) beanspruchen, anstreben, nutzen, haben, verteidigen: aus unterschiedlichen Vermögen vertikale Unterschiede ableiten. Trennungsfähigkeit des »Unteren« generell ablehnen, verhindern, verunmöglichen, bedrohen, zerstören. Das Anderssein negieren, entwerten, bedrohen, das Leiden des »Unteren« negieren oder bagatellisieren. Fiktionale Machtanwendung durch Forderungen/Bedingungen: Du musst, du sollst. Verbietende Macht durch Strafandrohung: Du darfst nie, du wirst leiden. Verführende Macht durch Belohnung: Du kriegst Sicherheit/das Paradies. Hohe Intensität, Totalität, Absolutheit, Rigidität wird vorgegeben: Macht ist schnell, effektiv, sofort, es gibt keine Zweifel, keine Ambivalenz, keine Unterschiede und keine Differenzen. Die Allmacht ist eindimensional, einseitig, dominant. Absolutheit führt zum Erleben von Stärke – gerade auch im Negativen. Subjekt-Objekt-Spaltung und -Fiktion: Der »Obere« ist für sich selbst Subjekt, nie nur objekthaft. Der »Untere« ist nicht Subjekt,

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nur Objekt. Gut-Böse-Spaltung, der andere ist nur Sache, Ding, kein leidensfähiges Wesen. –– Der »Obere« strahlt seine Ideale aus und regt den »Unteren« an; verführt, diese Ideale anzustreben und/oder zu erfüllen; verspricht Sicherheit und Gemeinschaft bei der Erfüllung »seiner« Ideale. –– Die eigene Macht wird ideologisch/intellektuell pseudolegitimiert, Dritte zur Bestätigung herangezogen (Triangulierungsmacht). Diese Machtbeziehungsanteile werden entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand verinnerlicht und gespeichert. Die Reaktionen des Kindes und deren Beantwortung durch die Bezugspersonen sind für die Über-Ich-Ausprägung wichtig, hier insbesondere bei den trennenden wie abweisenden Reaktionen des Kindes, die der Unterstützung durch die Eltern bedürfen, um die Entwicklung der Trennungsfähigkeit zu stabilisieren. Je machtvoller die Fürsorgepersonen agieren, umso mehr wird die Über-Ich-Bildung gefestigt, weil nur durch die mehr oder weniger sofortige Verinnerlichung, Identifikation oder andere Verinnerlichungsvorgänge die Not in der bestehenden Machtbeziehung gemildert werden kann. Anders ausgedrückt: Das Kind muss sich den Machtverhältnissen anpassen und nun unter diesen Machtverhältnissen versuchen, seine eigenen Motivlagen aus der »Unten«-Position heraus umzusetzen. Das betrifft natürlich auch das Status- und Machtstreben. Die Über-Ich-Bildung bekommt dadurch eine funktionale Qualität, die auf verschiedenen Ebenen abgesichert ist. Das Leiden ist bewusst, die aufrechterhaltenden Funktionen sind unbewusst, deshalb wird trotz des Leidens kein Ausweg aus dem Gefängnis erkennbar. Es gibt sogar nachvollziehbaren Widerstand dagegen, das eigene Gefängnis zu verlassen. Folgende Sicherungsfunktionen des Über-Ichs können beschrieben werden: –– Den Mächtigen durch Unterwerfung, Selbstanklage, Selbstaufgabe, Selbstentwertung beruhigen. Funktion: Gefährdungen abwenden. –– Das Getrenntsein, die Individuation wird vermieden, weil sie als Vernichtung erlebt wird. Funktion: Überleben ist nur in abhängigen Machtbeziehungen als »Unterer« denk- und lebbar, Abhängigkeit wird gesucht.

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–– Die Antizipation von Katastrophen ist als Kontrollversuch und Vorsorge gegen Überraschung wirksam und wirkt zudem gegen zukünftige Emanzipationsbemühungen. Funktion: Individuation aus Angst (begründet) vermeiden, diese Angst festigt die Abhängigkeit. –– Der Verzicht auf Individuation wird als Mittel zur Stabilisierung der Mächtigen eingesetzt. Funktion: Den Mächtigen als Unterstützer, Retter mobilisieren und erhalten. –– Erspüren der Idealvorstellungen des Mächtigen und Identifikation mit dessen vermuteten Idealvorstellungen. Funktion: Den Mächtigen als Retter (Alpha)/zu meiner Rettung zur Verfügung zu haben, Hoffnung auf Bindung durch »Gefallen und Unterwerfen« im Ideal. –– Unbewusste Rache durch Selbstaufgabe und »Untenbleiben«-Funktion: Ausdruck der Aggression ohne offene Wendung der Aggression gegen den Mächtigen. Unbewusste Lust an der Grenzverfestigung gegen die Wünsche der anderen. Subtile Anklage als moralische Übermacht des oder der »Unteren«. –– Selbstreduktion auf die Objektseite (das Gleiche, Vergleichbare betonen), Selbstabwehr des Subjekthaften (das Anderssein, das Unvergleichbare auf verschiedenen Abwehrebenen verdrängen). Funktion: Sicherung und Schutz des Subjekthaften vor Schädigung oder Vernichtung. –– Sicherung durch Selbstentwertung. Funktion: Abhängigbleiben von guter Bewertung, Schutz vor negativer Überwältigung, Verdeckung eigener Potenziale, Trennungsunfähigkeit stabilisieren. –– Sicherung durch Selbstbeschämung. Funktion: Die Maske der vorweggenommenen Scham (Wurmser) als Schutz vor öffentlicher Scham. –– Sicherung durch Selbstbeschuldigung. Funktion: Beruhigung des mächtigen Richters, Schutz vor Trennungsnotwendigkeit. –– Demonstrierte Hilflosigkeit und Ohnmacht. Funktion: Mobilisierung des Mächtigen zur Sicherung des Eigenen, Schutz vor selbst zu verantwortendem Scheitern. –– Das eigene Leiden als Mittel des Wandelwunsches zur Veränderung des Mächtigen einsetzen (Wurmser), oft auch in Form von Selbstverletzungen. –– Sado-Masochismus ist wechselseitige Bindung und wechselseitiges Quälen und führt zur leidvollen Gegenübertragung: Patient quält

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z. B. den Partner, die Familie durch die Macht des Nicht-Aufgebens des Selbstentwertens, Selbstverletzens, Trinkens, Rückzuges usw. Besonderungsposition, die Macht der Machtlosen, die Veränderungsresistenz als besondere Stärke und Aufmerksamkeitsstreben. Das eigene Leiden und die Hoffnungslosigkeit ist Hintergrund wie Voraussetzung für Rache am/Anklage und Bestrafung des vermutet einfühlsam (oder verletzbaren) Mächtigen durch unaufhaltsame Selbstverletzungen bis hin zur Selbsttötung. Selbstschädigung als Ersatzbefriedigung und Rache in einem Vorgang sowie Triumph über Heilungsansätze. Überhöhte neurotische Ziele und Ideale bleiben durch die »Unten«Position fiktiv realisierbar. Aber auch Aggression gegen sich entlastet, entspannt, beruhigt. Funktion: Die Aggression führt zur Verzweiflung, braucht nicht nach außen gewendet zu werden. Teilhabe an der mentalen Absolutheit, Rigidität, Totalität als starkes Gefühl (»die uneinnehmbare Festung« nach Wurmser). Unterwerfung statt Hingabe, unbewusster Verzicht auf Befriedigung, Sättigung aus unbewussten Schutz- und Sicherungsversuchen gegen Vorwürfe, Anklagen, Beschuldigungen. Initiativlosigkeit nimmt ängstigende Spannung aus Beziehungsunterschieden, führt zu weniger Aufregung, weniger Erregung wegen fehlender Kontroverse, Differenzierung, Trennung. Nur der Verzicht auf offene Konkurrenz schlägt jeden phantasierten Konkurrenzgewinn, der nur so überdauert.

Diese Machtfunktionen sollen unbenannt bleiben, Trennung aus Machtbeziehungen vermieden werden und die unbewussten Funktionen sollen beibehalten werden: Widerstand gegen das Verändern der Über-IchStruktur ist dann »Pflicht« oder sinnvoll, auch wenn dies das leidende Verbleiben im Gefängnis der »Unten«-Position garantiert.

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Die Sicherungsfunktion des Widerstands und ihre therapeutische Bearbeitung Der Widerstand gegen das eigene Unbewusste, gegen die Therapie und das therapeutische Beziehungsgeschehen – »Ich hab so viel verstanden, aber es ändert sich nichts« – sichert das Über-Ich und dessen Funktionen vor der Emanzipation im realen sozialen Alltag. Die kognitive Einsicht in das biografische psychodynamische Verständnis ist, auch unter Nutzung von Übertragung und Gegenübertragung, nicht selten relativ leicht aufzubauen. Anders ist es mit der Umstellung oder der Veränderung in Machtbeziehungen und insbesondere bei der Emanzipation innerhalb des therapeutischen Arbeitsbündnisses. Widerstand tritt beim Patienten dann auf, wenn trotz Mitgefühl, Verständnis und Intervention des Therapeuten als Anregung zu gedanklicher/emotionaler/motivationaler Änderung beim Patienten die inneren Grundlagen für die Änderung der Trennungsfähigkeit noch nicht aufgebaut oder nicht hinreichend stabilisiert wurden. Im Widerstand wird die strukturelle Schwäche, oft auch ohne Dynamik, erkennbar. Widerstand zwingt zur erneuten Rückkehr vom bereits Erarbeiteten zur weiteren, notwendigen Beziehungsarbeit. Die Widerstandsarbeit besteht dann in der Funktionsanalyse des Festhaltens an Machtbeziehungen. Widerstand ist Not, Verzweiflung und keinesfalls bewusstes NichtWollen – eher ein »Trotzdem«-Nicht-Können. Qualität und Humanität (§ 70 SGB V) der therapeutischen Beziehung bedarf der Zeit und der leidvollen, schwierigen Beziehungsarbeit für beide daran Beteiligten. Folgende Widerstandsformen lassen sich beschreiben: Widerstand gegen intrapsychische Bewusstheit und Veränderung bei den Motiven, gegen Affekte und Gefühle, gegen das Wiederbeleben der »alten« Notlagen, gegen die Lockerung der Abwehr, gegen die Milderung der Überkompensation, gegen Veränderungen im Über-Ich, gegen die Verlebendigung des eingefahrenen Bewegungsmusters. Aber ebenso heftig ist der interpersonelle Widerstand im therapeutischen Arbeitsbündnis. Grundlegend ist dabei häufig das Festhalten an der Überzeugung der seelischen Nicht-Existenz, der Undenkbarkeit und Unvorstellbarkeit von Nicht-Machtbeziehungen, die Flucht vor der Aufgabe der »Unten«Position, insbesondere dann, wenn infolge des Widerstandes die sozialen Kontakte mit anderen Menschen real eingestellt wurden und die

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Beziehung zum Therapeuten dadurch eine besondere, überhöhte Bedeutung gewonnen hat. Es gibt dann scheinbar oder zeitweise auch real kein soziales Leben, außer von der Unten-Position her; dadurch erhält das therapeutische Arbeitsbündnis eine überhöhte Bedeutsamkeit. Es wird dadurch einerseits erheblich belastet, andererseits wird diese Funktion ansprechbar und so im günstigen Fall einer Bearbeitung zugänglich. Zentral wirkt ein weiterer Widerstand gegen die Besserung, gegen die Umsetzung des Neuen in Realität, Alltag, Realbeziehungen und Handlungen, und Widerstand kann dann als interpersonales Beziehungsgeschehen im therapeutischen Arbeitsbündnis gesehen werden: Das unbewusste Verbleiben in der eigenen uneinnehmbaren Festung der »Unten«-Position und das wirkungslose Konfrontieren des Behandlers führt zur »Zwangseinfühlung« (projektive Identifikation). Die Ohnmacht des Mächtigen (Therapeuten) und die Macht des Ohnmächtigen (Patienten) wird gerade im Widerstand innerhalb der therapeutischen Beziehung und besonders bei der Umsetzung in den Alltag erlebbar durchlitten, wenn der Heilungswunsch des Therapeuten durch den Patienten frustriert wird. Widerstand sollte aus folgenden Gründen als wichtiges Leidensphänomen innerhalb der therapeutischen Beziehung gesehen werden: –– Im Widerstand wird die Macht des Patienten wie die Ohnmacht des Behandlers unübersehbar, es wird unbewusst sowohl triumphal Macht ausagiert wie ohnmächtig »erlitten«. –– Im Widerstand wird das Festhalten an der Aggression aus der Übertragung auf den Therapeuten (gegen die frühen Objekte) lebendig: Der Patient »muss« binden und quälen, anklagen, hassen, verurteilen, dämonisieren, bevor die dadurch anerkannte Aggression und Kraft in die innere Trennungsfähigkeit umgewandelt/genutzt werden kann. –– Der Patient kann unter Umständen in Kontakt mit den Machtanteilen seiner frühen Versorgungspersonen in sich treten und der Behandler mit den abgewehrten, überwältigenden Notlagen des Patienten. Beide Personen sind dann belastet, hier liegt der Kern für die Probleme von zu kurzen Behandlungsangeboten der Therapeuten. –– In der notwendigen Anerkennung der Ohnmacht und Wirkungslosigkeit des Therapeuten verbirgt sich neben seiner ebenso notwendigen Trennungsfähigkeit die Basis für liebevolle wie frustrierende Konfrontationsangebote an den Patienten zu dessen Selbstmotivation zur Trennung aus Machtbeziehungen.

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–– Oft ist das seelische »Überleben« innerhalb der therapeutischen Beziehung (ohne Abbruch, Hass, unguter Trennung für längere Zeiträume) notwendig. Meist reicht dafür primär das Aufrechterhalten des Dialoges, die durchhaltende Beziehungsfähigkeit des Therapeuten durch innere Verarbeitung, Hoffnung und Liebesfähigkeit aus, eine Beziehungsfähigkeit, die sekundär auch aus der Abstinenz, Neutralität und begrenzten Anonymität als »Grenzpfeiler« des therapeutischen Rahmens besteht.

Behandlungsansätze: Haltung, Rahmen und die »gute Macht« des Therapeuten Basis der nachhaltigen Behandlungsansätze ist einfühlsame, feinfühlige Abstimmung, das sichere Bindungsangebot. Erst auf dieser Basis wird die notwendig frustrierende Konfrontation mit den unbewussten Eigenanteilen möglich. Das Hilfreiche ist das Angebot zum gemeinsamen Aufbau eines komplexen Beziehungsraumes mit aufzubauendem Übergangsraum, in dem der Patient sich selbst weiter entfalten kann. Die Vielfalt, Flexibilität wie Einmaligkeit und auch Intimität von Beziehungserfahrungen in diesem Beziehungsraum ermöglicht ein Freiheiten eröffnendes wie Grenzen ziehendes Beziehungsgefüge (siehe Abbildung 3: Therapeutischer Beziehungsraum). Die Anerkennung der Ohnmacht des Therapeuten ist dafür Voraussetzung, ohne selbst in der Ohnmacht zu versinken. Hohe Gefühlsintensität im direkten Übertragungs- wie Gegenübertragungsgeschehen verstärken genauso wie in der Realbeziehung die Einsicht und das Verständnis sowie das Veränderungspotenzial in Richtung von Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Die Kompetenzen des Behandlers lassen sich u. a. an seiner feinen, eben auch leidvollen Einfühlung, seinem Mitgefühl, seiner Bindungswie Trennungsfähigkeit, an seinen eben auch leidvollen Mitbewegungen, aber auch an seinen Passungsangeboten (Hingabe-Begegnungen bei Motiven, Gefühlen, Körpererleben) erkennen. Darauf folgt in der Regel beim Patienten erneuter Widerstand und die Trennungsunfähigkeit/-unwilligkeit/-angst. Die Zunahme der Symptomatik schließt sich an, es beginnt der Aufbau von Trennungsfähigkeit,

Abbildung 3: Therapeutischer Beziehungsraum

Belebung der ubw. Selbst- und Fremdschädigung

Motive, Gefühle, Not-Abw.-ÜK, Bewegungsmuster, Gedächtnisse, Über-Ich, Mentale Struktur:

Patient

Beispiele: Aufbau, Nutzung, Prüfung, Belastung der therapeutischen Beziehung. Regression auf Notlagen, Belebung der Abwehr und Überkompensation. Übertragung und Gegenübertragung. Machtdynamiken erfahren. Trennungs- und Bindungsfähigkeit. Wechselseitige Bedeutsamkeit und Leidverarbeitung. Anerkennung und Bearbeitung des Widerstandes gegen die Umsetzung in reale soziale Umwelt. Entfaltung von Individuation, subjekthafter Identität und Selbstverantwortung. Beendigung der therapeutischen Beziehung.

Der therapeutische Beziehungsraum

Unverwechselbarer Beziehungsraum zwischen Patient und Therapeut

Therapeut

Nutzung und Anwendung der Verfahrensmerkmale und Behandlerkompetenzen

Motive, Gefühle, Not-Abw.-ÜK, Bewegungsmuster, Gedächtnisse, Über-Ich, Mentale Struktur:

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von Dialog. Eine nicht lineare, sprunghafte, unvorhersehbare Entwicklung mit vielen unbewussten Prüfungen und Zweifeln ist zu erwarten: Positives »Herumeiern« als Kennzeichen des Humanen. Zeitgleiche gute Bindung mit frustrierender Konfrontation führen zu innerer Inkongruenz, innerem Konflikt im Patienten. Diese beiden inneren Spannungszustände sind notwendig, weil nur aus ihnen die subjekthafte Trennungsaggression (ich ändere mich wirklich, für mich) entstehen kann. Ein sicherer Rahmen ist Voraussetzung für die gute Machtbearbeitung. Jeremy Holmes (2009) schreibt, dass Psychoanalyse eine Machtbeziehung ist, die auf den Abbau von Machtverhältnissen hinwirkt. Dazu dienen meines Erachtens folgende Vorgehensweisen: –– Sicherheit aufbauen, sodass das Subjekthafte zugelassen werden darf; –– Grenzen und Rahmen der Behandlung schaffen Freiheit; –– Verzicht auf bzw. reflektierte Machtanwendung im unmittelbaren Prozess; –– Deutung, Ansprechen, »Mentalisieren« der Machtphänomene; –– Emanzipation als Eigenbewegung fördern versus Pseudo-Emanzipation als Unterwerfung unter Behandler, Unterwerfungsagieren aufspüren; –– Ziel ist nicht positives Denken, sondern z. B. Abschied von Bewertungen, auch von positiven: Jede Bewertung stammt aus dem unbewussten Streben des anderen mit je eigenen Interessen. Metapher: »Etikettenlösungsmittel« gegen äußere Bewertungsversuche; –– Aufbau von neuen inneren Repräsentationsmöglichkeiten, besonders von Trennungsfähigkeit, gerade auch im therapeutischen Arbeitsbündnis; –– weitere methodische wie inhaltliche Anregungen finden sich bei Wurmser (2014) und Holmes (2009). Die therapeutische Zielsetzung kann so benannt werden: Aus einer verinnerlichten, machtabhängigen, unterwürfigen, absoluten und eher beziehungsunabhängigen rigiden Gewissensfixierung soll ein verantwortungsfähiges, flexibles, bezogenes, aber auch freies Gewissen herausentwickelt werden, indem Folgendes angestrebt wird: –– Eine eigene gute Angst-, Scham- und Schuldfähigkeit soll zur Selbstregulation, zur Trennungs- wie Bindungsfähigkeit und zur Selbstverantwortung beitragen.

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–– Bei ständiger Berücksichtigung des anderen gerade auch unter der eigenen Selbst- und Fremdschädigungsbereitschaft wird die therapeutische Beziehung im Konflikt gestaltet. –– Neben der Scham- und Schuldfähigkeit ist auch die Einfühlung in die Angst, Schuld, Schamdynamik des anderen unverzichtbar, weil insbesondere dadurch das freiere Gewissen seine Grenzen fühlt, erkennt und selbst aufrechterhalten will. Das eigene »therapeutische« Ringen um den Patienten und um die Aufrechterhaltung der Beziehung steht in lebendiger Verknüpfung mit der jederzeitigen Berechtigung und Fähigkeit zur Trennung. Das »Schwere« stammt untrennbar aus dem Erleben beider Personen: Es gibt oft keine klare Trennung zwischen Übertragung und Gegenübertragung. Nur was ins Leben kommen darf, kann erfahren, erkannt und verstanden werden – Abwehr und Widerstand gibt es immer von beiden Seiten aus. Aber der Therapeut ist nicht an das passive Erleiden gebunden und kann hoffen, dass es durch die Beziehungsarbeit langsam ansprechbar wird und vorübergehen kann, auch wenn es sich nicht von allein auflösen wird. Psychotherapeutinnen/-therapeuten sind keine Container, keine Nur-Objekte, sondern mitfühlende, lebendige Gegenüber, die begrenzt sind, von denen jede/jeder anders ist und die ihre eigenen Grenzen wie die des Patienten und der eigenen Arbeit anerkennen können: Jede Psychotherapie ist anders, jede Psychotherapie ist begrenzt und jeder Mensch, jedes Menschenleben bleibt begrenzt und auch fragmentiert. Diese Beziehungsform kann verbinden, sie kann unter Umständen heilen.

Hypothesen zu den Psychotherapeutenrisiken Abschließend sollen wichtige Risiken aufgezeigt werden, die nicht nur potenziell in Behandlungen auftreten können, sondern die regelhaft zu reflektieren sind: –– Psychotherapeuten suchen Machtverhältnisse in der Behandlung aufzubauen; sie suchen in der therapeutischen Beziehung unbewusste Lösungen ihrer eigenen biografischen Notlagen.

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–– Nicht nur die biografischen Notlagen, sondern auch das eigene Status- wie Machtstreben der Therapeuten wird im therapeutischen Arbeitsbündnis aktiviert. –– Prinzipiell werden daher machterhaltende Methoden (Macht ausübend wie sich der Macht unterwerfend) entwickelt und fasziniert angewendet: Manuale, starre Regeln (Hausaufgaben, Übungen) für Patienten, rigide Therapieregeln für die Therapeuten, Abgabe der therapeutischen Verantwortung an »mächtige« Autoritäten (Wissenschaft, Kammern, Krankenversicherungen), Aufgabe des eigenen freien wie verantwortungsbewussten und konfliktfähigen Gewissens. –– Fehlende Kenntnis des Verfahrens, der Psychodynamik und ihrer Funktionen, der Komplexität und des Widerstandes beinhaltet erhebliche Risiken, weil dadurch die unbewusst aufrechterhaltenden Funktionen nicht verstanden werden können. –– Hoffnung auf einfache wie sichere Methoden: z. B. Positives Denken, Kognitive Umstrukturierung und andere unreflektierte Machtanwendungen. –– Nicht-Erkennen, Nicht-Verstehen der notwendigen Behandlungsdauer: zu kurze Behandlungen. –– Gegenagieren aus leidvoller Übertragung und Gegenübertragung. –– Selbstidealisierung und narzisstische Selbstüberhöhung als leitende Therapiefiktion: Ich gebe dem Patienten endlich das, was ihm seine Mutter, sein Vater nicht gegeben haben. –– Machtanwendung ohne Reflexion des Wozu. –– Patientenbeschuldigende Therapieabbrüche: »Sie machen mich krank!« –– Angst vor tiefer gehender, intimer Beziehung und vor ihrer Verwicklung in der Machtdynamik. –– Angst vor der Komplexität kann bedeuten, weder die Not noch die unbewusste Dynamik des Patienten zu erkennen und mitzufühlen, und erhöht damit das Risiko einer nicht ausreichenden Behandlungsplanung. –– Effektivität und Effizienz als Zeichen für ungute Machtanwendung statt Zeit, Beziehung, nicht linearem Geschehen: positives, humanes »Herumeiern«.

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–– Angst vor Einsicht in eigene Grenzen: unanalysiertes eigenes ÜberIch, eigene Trennungsproblematik, eigener Narzissmus. Widerstand gegen die Emanzipation des Patienten. –– Therapeutenidealisierungen durch Psychotherapeuten-Kammern und Krankenversicherungen: unfachliche, verzahlte Qualitätssicherung. –– Ausdauergrenzen, Scham, Schuld der Behandler über längere Therapiedauer und höhere Frequenzen. Unseriöse Angriffe von Verfahrensunkundigen gegen psychotherapeutische Behandlungen, die länger als vierzig Sitzungen dauern. –– Frühzeitige Aufgabe, Verlust von Hoffnung. –– Fehlende kontinuierliche Abstimmung mit Kollegen, Patienten und Wissenschaft. Risiko: Vereinzelung, Kommunikationsangst, Diskursverweigerung. –– Die Übernahme interessengeleiteter Psychotherapieforschung unter Legitimationsdruck ist das gesellschaftliche Risiko: Nur Macht macht effektiv und effizient. Gegen den Wirksamkeitsfetischismus (Betonung der Wirksamkeit ohne Berücksichtigung dessen, was Wirksamkeit bewirkt) hilft insbesondere folgende Erkenntnis: Alles was unter nicht reflektierten Machtbedingungen angewendet wird, wirkt im Sinne des Mächtigen. Betroffen sind dann diejenigen ängstlichen wie depressiven Patienten mit Trennungsunfähigkeit. Unaufgelöste Machtbeziehungen verhindern subjekthafte Emanzipation und damit das Identitätserleben des Patienten.

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Natalie Pampel

Die magische 21 Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zwischen »KiJus« und Anerkennung als Psychoanalytiker

Zusammenfassung Auch wenn die Methodik unterschiedlich ist, so folgt doch die Behandlung von Kindern oder Jugendlichen und jungen Erwachsenen den gleichen Theorien und Gesetzmäßigkeiten, die auch in der Psychotherapie mit Erwachsenen ab 21 Jahren gelten. Anhand von Behandlungssequenzen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Kinderanalyse und psychoanalytischen Psychotherapie junger Erwachsener dargestellt, um anschließend der Frage nachzugehen, worin die Spezifik einer Behandlung der unter 21-Jährigen (U 21) liegen könnte und welche Auswirkung diese Altersbeschränkung auf die Identität einer Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche haben kann.

Was macht eine Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse aus und was unterscheidet sie von einer Analyse mit Erwachsenen? Diese Frage zu beantworten, scheint auf den ersten Blick erst einmal so einfach wie schwierig zu sein. Einfach, weil sich alle darin einig sein werden, dass für Kinder eigene Formen des psychotherapeutischen Umgangs gelten: Kinder sprechen nicht über …, sondern zeigen sich im Handeln: im Toben, Springen, Spielen, Malen oder Gestalten. Sie inszenieren – sowohl ihre innere wie auch ihre äußere Welt. Schwierig, weil die analytische Arbeit mit Kindern und Jugend­ lichen dennoch den gleichen Theorien und Gesetzmäßigkeiten folgt, die auch in der Psychotherapie/Psychoanalyse mit Erwachsenen ab 21 Jahren gelten. Mit Jochen Raue möchte ich dies wie folgt ausdrücken: »Der Kindertherapeut bzw. Kinderanalytiker hat ja, wie jeder Analytiker, das Ziel, den unbewussten inneren Motiven und Gründen im Patienten auf die Spur zu kommen, die diesen dazu veranlasst haben, Symptome zu entwickeln, die seine Einschränkungen und Leiden verursachen und ihn haben seelisch erkranken lassen« (Raue, 1998, S. 115).

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Was ist nun also das Spezifische an der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie oder – anders ausgedrückt – was macht der Kinder­ therapeut mit seinen jungen Patienten? Es ist jedenfalls leichter zu beschreiben, was ein Kindertherapeut nicht macht, als zu sagen, was er macht. »Weder erzieht er im Sinne eines Erziehers, noch werden die Patienten unterwiesen wie in der Schule … auch spielt er nicht zum Spaß mit den Kindern« (Raue, 1998, S. 113). Das Wort »machen« in der Frage vermittelt dabei einen falschen Eindruck, denn es suggeriert äußeres Handeln – das in der Arbeit mit Kindern sicher nötig ist –, aber es vernachlässigt die innerpsychische Arbeit des Therapeuten, und die ist beileibe nichts Passives, wie es häufig den Anschein haben kann, sondern etwas durchaus Aktives. So wie sich die therapeutische Konversation vom Alltagsgespräch, dem Small Talk, dem Klatsch, der Vortragssprache u. ä. unterscheidet, so unterscheidet sich das therapeutische bzw. psychoanalytische Handeln mit Kindern, das Mitspielen und Basteln in der Kindertherapie vom Spiel auf dem Spielplatz, dem Schulhof, dem Spielen im Kinderzimmer, der Theater AG oder der Kunststunde. Bei der therapeutischen Konversation sowie dem therapeutischen Spiel mit dem Kind wird vor allem das Klima, die Atmosphäre, verändert (Tibud, 2015b). Die spielerisch-kreativen Mittel in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen sind bekanntlich geeignet, um in den potenziellen Raum der Illusion eintreten zu können, in dem nicht nur Übertragung im Sinne der Wiederholung stattfindet, sondern auch ein Neu-Anfang und veränderte/korrigierende Beziehung gestaltet werden kann. Michael B. Buchholz (nach Tibud, 2015b) spricht in dem Zusammenhang von der »Emergenz des Neuen«. Spielhandlungen und kreative Gestaltungen werden bei dieser Auffassung nicht als ein Gegensatz zum Sprechen gesehen, sondern, wie auch Buchholz (nach Tibud, 2015a) meint, als eine frühe Form des seelischen Ausdrucks, d. h. der inneren Bewegtheit, verstanden, die später im Sprechen aufgenommen wird. So kann die Beschäftigung mit dem Spiel und der ihm innewohnenden bildhaft-ästhetischen und szenischen Darstellungsweise für jeden Psychoanalytiker eine Sensibilisierung und Hinwendung zum Metaphorischen innerhalb einer Kommunikation ermöglichen, die sich in den Sprachäußerungen der Patienten sowie in deren Traumbildern zeigen. Ein Erkennen und Ana-

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lysieren auch der paraverbalen Bildersprache eröffnet dabei bekanntermaßen einen tiefer gehenden Zugang zu seelischem Geschehen (Buchholz, 2003). Spielerisches umfasst somit – wie das Träumen oder Sprechen – die Erzeugung unbewusster, vorbewusster und bewusster Narrative (Tibud, 2015a). Worin besteht also der Unterschied? Ein Hauptunterschied zwischen der Kindertherapie und der Therapie Erwachsener ist sicherlich die Tatsache, dass man als Kinder­therapeut nicht nur dem Kind oder Jugendlichen begegnet, sondern auch dessen Eltern, darüber hinaus oftmals auch noch anderen Bezugspersonen wie Lehrern, Sozialarbeitern, Großeltern oder den neuen Partnern von getrennt lebenden Eltern. Damit findet die Arbeit im Rahmen von verschiedenen, ineinander verflochtenen Dreiecken statt: Es gibt das Kind, seine Eltern und den Therapeuten. Ein weiteres Dreieck bildet die Situation zwischen den beiden Eltern und ihrem Kind und wieder ein weiteres die Situation, dass mit dem Kind gearbeitet wird, mit den Eltern ebenso und dass da eine Dritte im Bunde ist – die Therapeutin als Repräsentantin der Welt außerhalb der Familie (Grieser, 2007). Ist es manchmal schon schwierig genug, sich in einer Zweierbeziehung mit einem Patienten und seinen Problemen auseinanderzusetzen, so ist die Konstellation »zu dritt« oftmals mit weiteren Tücken und Fallstricken verbunden: Manche Eltern entwickeln – sei es aus Neid, Eifersucht, eigener Verlustangst oder geringem Selbstwert­gefühl – Widerstände gegen die Behandlung. Diese kommen auch zum Vorschein, wenn Eltern Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Anteile an der Störung ihres Kindes einzusehen oder anzuerkennen und entsprechende Entwicklungen, wie die Bereitschaft zu einer eigenen Therapie, einzuleiten. Der verfrühte Abbruch einer Kindertherapie ist dann häufig die Folge. Einen weiteren Unterschied in der Behandlung von Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen stellt zudem die Behandlungsmotivation dar. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut hat immer wieder mit Patienten zu tun, denen zu Beginn der Behandlung in der Regel eine Krankheitseinsicht weitgehend fehlt und die sich – anders als dies bei erwachsenen Patienten der Fall ist – mit dem Thema »Psychotherapie« (noch) nicht auseinandergesetzt und eine bewusste Entscheidung

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für sie getroffen haben –, die also erst einmal geschickt wurden und sich unter Umständen sogar bestraft fühlen. So stellt sich am Anfang zunächst häufig die Aufgabe, Widerstände zu bearbeiten, die Angst vor dem fremden Erwachsenen zu mildern, Schuld- und Schlechtigkeitsgefühle des kleinen Patienten abzumildern und in Interesse an der therapeutischen Begegnung umzuwandeln. Kindliches Erleben ist nicht mit der Erlebnis- und Erfahrungswelt von Erwachsenen gleichzusetzen. Um mit Kindern und Jugendlichen überhaupt in einen »fruchtbaren Dialog« treten zu können, ist es wichtig, ihnen »auf Augenhöhe« zu begegnen, sie so anzusprechen, dass sie sich verstanden fühlen können, in ihre Bedeutungswelt einzutauchen, um aus ihrem Blickwinkel die Welt, ihre Problembeschreibungen und Interpretationen zu verstehen. Kindertherapie erfordert vom Therapeuten daher nicht nur ein analytisches, sondern auch ein umfangreiches pädagogisches Geschick und Wissen, denn der Kindertherapeut muss zeitgleich einen kompetenten Umgang mit Kleinstkindern und ihren Bezugspersonen, mit Vorschulkindern, Latenzkindern und Jugend­ lichen in der frühen, mittleren und späten Adoleszenz sowie mit den erwachsenen Erziehungsberechtigten unter Beweis stellen. Dies macht eine umfassende Ausbildung in profunde entwicklungspsychologische und familiendynamische (Gruppen-)Aspekte erforderlich – neben allen theoretischen Grundlagen der Psychologie und psychodynamischen Psychotherapie, die auch für die Ausbildung von Erwachsenenanalytikern gelten.

Exkurs: Zur Geschichte der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Betrachtet man die Anfangszeit der Psychoanalyse, so stellt man fest, dass fast alle Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen der ersten Generation sich neben der psychotherapeutischen Behandlung Erwachsener auch mit der Therapie von Kindern und Jugendlichen befassten. Wesentliche Fragen der Psychotherapie, z. B. der Indikation, des fehlenden Leidensdrucks bei Kindern, der Beziehung des Therapeuten zu den Eltern, Übertragung oder Widerstand beschäftigten sie schon damals. Geprägt wurde die Kinderanalyse vor dem Zweiten Weltkrieg

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vor allem durch Pädagoginnen und Pädagogen – meist Lehrern – wie Anna Freud, Hans Zulliger oder August Aichhorn, die sich selbstverständlich auch als Psychoanalytiker für Erwachsene verstanden. Die erzwungene Emigration vieler Analytiker während der Zeit des Nationalsozialismus hatte eine deutliche Verarmung der Psychoanalyse in Deutschland zur Folge, und die Kinderanalyse wurde auf »Kinderpsychotherapie« reduziert. Auch wenn vereinzelt noch über neurotische Störungen im Kindesalter diskutiert und geforscht wurde, war die Geschichte der Kinderanalyse in Deutschland im Grunde vorerst beendet. Bereits kurze Zeit nach dem Krieg wurde im DPG1-Institut in Berlin ein Ausbildungsgang für »Psychagogen« konzipiert. Dabei wurde jedoch nicht an die psychoanalytische Tradition des alten Berliner Instituts aus den 1920er Jahren angeknüpft, sondern es wurde ein eher praxisorientierter, an der Sozialtherapie ausgerichteter Beruf geschaffen. Es galt, auf die »katastrophale Situation der Jugend, welche unter den besonders erschwerenden Bedingungen des Hitlerregimes, des Krieges und der Nachkriegszeit gelitten hatten« (Böhm, 1952) zu reagieren. Der Beruf des Psychagogen wurde geschaffen. Die Absolventen des Ausbildungsgangs hatten jedoch mit einer entscheidenden Schwierigkeit zu kämpfen: Obwohl die Ausbildung in den Theorieseminaren und Vorlesungen parallel zur Ausbildung der Erwachsenenanalytiker stattfand und ebenso eine Lehranalyse, ein Anamnesepraktikum und Kontrollanalysen für die Behandlungen verlangt wurden, durften die Absolventen ihren Beruf nicht im eigentlichen Sinne ausüben, sprich: Sie durften nicht behandeln, sondern lediglich – mit einem Stundenlimit von 35 Stunden – leichtere Störungen betreuen. Die psychoanalytische Behandlung schwerer Fälle war den ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten vorbehalten. Psychagogen wurden also für etwas ausgebildet, was sie letztlich nicht anwenden durften, trotz der hohen Ansprüche der Ausbildung. Diese Diskrepanz lag vermutlich an den sehr niedrig gewählten Eingangsvoraussetzungen für den Beruf, in dem u. a. auch Nicht-Akademiker wie Kindergärtnerinnen, Erzieher oder Heimleiter zugelassen wurden.

1 Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft

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Da Psychagogen durch das fehlende Hochschulstudium nicht darin ausgebildet waren, wissenschaftlich zu arbeiten, konnte 1953 keine Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie des Kindes- und Jugendalters gegründet werden, sondern die Vereinigung deutscher Psychagogen, aus der in den 1970er Jahren dann die VAKJP hervorging, die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in Deutschland. Zuvor wurde die Berufsbezeichnung in »Analytischer Kinder- und Jugend­ lichenpsychotherapeut« geändert, womit deutlich gemacht wurde, dass auch Psychagogen befähigt waren, Psychotherapie auszuüben und Störungen mit Krankheitswert zu behandeln. Gleichzeitig wurde mit der Namensgebung aber auch deutlich gemacht, dass es keine Kinder­ analytiker und damit auch keine Psychoanalytiker waren, und dies ist bis heute so geblieben. Mit dem Psychotherapeutengesetz (PsychThG) im Jahre 1999 wurde als Zugangsvoraussetzung für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten neben der Qualifikation als Diplom-Psychologe mit Schwerpunkt in Klinischer Psychologie auch der Abschluss in einem Studiengang der Pädagogik/Sozialpädagogik festgeschrieben. Im Kommentar zum PsychThG wird als Begründung angegeben, dass sich aus der Geschichte des Berufes vom Psychagogen zum Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten die Pädagogik als Zugangsberuf bewährt habe. Durch die in diesen Studiengängen vermittelten Kenntnisse im Umgang mit Kindern und Jugendlichen würden die im Vergleich zum Psychologischen Psychotherapeuten bestehenden Unterschiede teilweise wettgemacht. Wenn auf Unterschiede aufmerksam gemacht wird, die »wettgemacht werden«, stellt sich mir die Frage: Ist die Therapie von Kindern, Jugendlichen und Spätadoleszenten dann doch so deutlich von der Therapie mit Erwachsenen zu unterscheiden bzw. abzugrenzen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich im Folgenden drei Fallbeispiele aus meiner Ausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin vorstellen. Es handelt sich dabei um ein zu Beginn der Therapie 6-jähriges Mädchen, einen 15-jährigen Jugendlichen und eine 20-jährige Adoleszente.

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Fallbeispiel 1: Aus der Anfangszeit der Therapie eines 6-jährigen Mädchens Emma2 wurde wegen zunehmender Angstzustände, Alpträumen sowie selbstverletzendem Verhalten und körperlicher Unruhe angemeldet. Zur Biografie lässt sich kurz sagen, dass Emma ungeplant in eine bereits konflikthafte Beziehung ihrer Eltern hineingeboren wurde. Bis zum endgültigen Aus der elterlichen Beziehung – Emma war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt – gab es immer wieder viele Trennungen, während derer Emma abwechselnd bei ihrer Mutter, ihrem Vater oder den Großeltern lebte. Es folgte ein längerer Sorgerechtsstreit, bevor der Vater – auch auf Wunsch der Mutter hin – zwei Jahre später das Aufenthaltsbestimmungsrecht erhielt. Zum Zeitpunkt des Therapiebeginns lebte Emma mit ihrem Vater und dessen neuer Lebensgefährtin zusammen und hatte ihre leibliche Mutter seit knapp einem Jahr weder gesehen noch gesprochen. Mein Eindruck war, dass Emmas Problematik durch abgewehrte Gefühle von Minderwertigkeit, Trauer und Wut sowie narzisstischer Kränkung, durch Entwicklungsdefizite und Verlustängste verursacht war. Ich entschloss mich, eine analytische Psychotherapie zu beantragen, um ihr eine strukturelle Nachreifung ermöglichen zu können. Die ersten Stunden der Therapie verliefen sehr hektisch, eher chaotisch ab: Emma konnte sich nur schwer entscheiden, was sie spielen wollte, zog alle Schubladen auf und forderte mich auf, ihr alles zu zeigen. Sie begann mit dem Aufbau unterschiedlicher Spiele, denen wir uns dann einige wenige Minuten zuwandten, bevor sie offenbar das Interesse verlor und ein neues Spiel heraussuchte. Dabei rannte sie häufig durch den Raum, sah sich etwas an, legte es wieder weg und rannte weiter. Ihr ganzes Tun glich einem ungeplanten, aufgeregten Agieren. Auf kein Spiel ließ sie sich wirklich ein und beendete es, bevor es überhaupt richtig begonnen wurde. Mit der gleichen Hektik stellte sie mir viele Fragen: »Wohnt hier jemand?«, »Hast du Kinder?«, »Wer sind denn die anderen da draußen?« Ich spürte im Kontakt mit ihr eine Flut von ambivalenten Gefühlen in mir aufkommen, war deutlich angespannt, etwas unruhig und hatte Angst davor, dass mir die Situation entgleitet. Gleichzeitig rührte mich Emma aber auch sehr an, und ich wollte ihr nichts verwehren, zumal sie deutlich schuldbewusst reagierte, als ich einmal anmerkte, dass wir erst aufräumen müssten, bevor wir ein weiteres Spiel aufbauen könnten. Obwohl mein Widerstand in den ersten Stunden mit Emma stieg, wehrte ich mich nur bedingt mit einer deutlichen Grenzsetzung gegen das »Gehetztwerden«. Über mein Annehmen und (Aus-)Halten konnte Emma ihre innere Not zum Ausdruck bringen, die Belastbarkeit unserer Beziehung auf die Probe stellen, und ich konnte mir annähernd vorstellen, wie ängstlich, verloren und affektüberflutet sie sich fühlen musste. Allmählich beruhigte sie sich aber soweit, dass sie ihre affektiv vermittelten Zustände in ein bildhaft belebtes Rollenspiel transformierte. 2 Alle Namen in den Fallbeispielen sind aus Gründen der Anonymisierung geändert.

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Emma baute dazu eine Höhle, in der sie als schreckliches Monster lebte, und ich bekam von Emma die Rolle einer Prinzessin zugewiesen, die sich verlaufen hatte und im Wald die Höhle und das Monster entdeckt. Emma wies mich an, ich solle fürchterliche Angst vor dem Monster haben, das »riesengroß und böse ist«, dürfe aber nicht aufgeben und müsste mich dem Monster immer wieder annähern, immer wieder um seine Gunst werben. Je mehr ich mich vor dem wütenden Gebrüll des Monsters erschreckte, desto aufgeregter wurde Emma. Sie rannte durch den Raum, brüllte mich an (»Was willst du hier?« »Verschwinde, das ist meine Höhle!«), verjagte mich zurück in den Wald und wartete dann auf meine erneute Annäherung. Eher hilflos als wirkungsvoll versuchte ich unser Spiel zu kommentieren, doch alle meine Worte wurden von Emma konsequent übergangen oder abgewehrt. Ich spürte bereits nach wenigen Stunden eine beinahe lähmende Müdigkeit in mir aufkommen. Emma bestimmte über mich, sodass ich mich gehetzt, beherrscht und hilflos fühlte. Alles, was ich sagte, lehnte Emma ab. Ein Innehalten, Nachdenken, Bemerkungen von mir über das Spiel oder Deutungen ertrug sie nicht. Wenn ich ihr meine Gegenübertragungsgefühle zur Verfügung stellte, wandte sie sich ab und begann mit einem neuen Spiel. Emma ließ mich durch das Spiel sehr genau spüren, wie es ihr geht und unter welchem Druck sie steht. Ihre Zerrissenheit, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung bildeten sich im Spiel ab: Emma führte mich immer wieder in eine ausweglose Situation, in der es scheinbar keine Möglichkeit gab, das Gegenüber für sich zu gewinnen und unversehrt zu bleiben. Sie nahm sich den Raum, um ihr Chaos im Spiel symbolisch darzustellen, und ließ mich fühlen, wie sie sich fühlte, was bei mir Atemlosigkeit und manchmal auch Entsetzen auslöste. »Die Vorgänge in der psychoanalytischen Situation werden heute gemeinhin so beschrieben, dass der Analytiker, der seinem Patienten zuhört, dessen unverdautes Material in sich aufnimmt und über seine Teilhabe und sein Sinnverstehen dem Patienten verarbeitbar macht. Dadurch, dass es dem Analytiker möglich wird, einen bisher unerschlossenen Sinn zu finden, strukturiert sich das psychische Material in neuem Kontext. Die auf diesem Vorgang aufbauende Deutung macht dem Patienten bisher Unverstandenes seelisch verdaubar und potentiell einer psychischen Integration zugänglich« (Scharff, 2007, S. 84). Die psychoanalytische Behandlung findet jedoch nicht nur in der Dimension der Sprache statt, sondern auch in der Dimension des Spiels bzw. der Handlung, was Begriffe deutlich machen wie »Szene«, »Rollenübernahme« oder »Handlungsdialog«, die in Theorie und Praxis der Psychoanalyse Eingang gefunden haben (Streeck, 2000). Königswege ins Unbewusste finden sich nicht allein durch Worte, vielmehr eröffnen sich neue Spielräume, zu denken, zu fühlen und zu verarbeiten oft durch multimodalen Austausch in bewegten und gleichermaßen bewegenden Handlungsdialogen (Trautmann-Voigt u. Voigt, 2009). Dabei kann die »Reflexion des therapeutischen Spielgeschehens einerseits unmittelbar und direkt während des Spiels erfolgen, oder sie kann sich in einem nichtreflexiven Tun bzw. Handlungsdialog inszenieren, so wie ihn Klüwer beschrieben hat. Dieser ist im nichtdeklarativen Gedächtnis kodiert und kann mitunter weder sprachlich noch reflexiv repräsentiert werden« (Tibud, 2013, S. 51).

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Im weiteren Verlauf der insgesamt 2,5-jährigen Therapie mit Emma entwickelte sie noch viele Rollenspiele, über die es uns allmählich gelang, ihre verfolgenden Introjekte und unverdauten Affekte über die Handlungssprache des Spiels wiederbeleben und bearbeiten zu können. Auch die therapeutischen Interventionen, Antworten und Deutungen fanden meist eher primärprozesshaft im Handlungsdialog statt. Die Stunden mit ihr wurden aber deutlich ruhiger, weniger hektisch, und es wurde zunehmend möglich, neben dem Als-ob-­Modus auch in die sprachliche Konversation und ins Nachdenken – in den reflektierenden Modus – zu kommen. Allerdings hat Emma vorwiegend im Rollenspiel – bis zum Ende der Behandlung – Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, ihre Erinnerungen, Konflikte und Affekte darzustellen sowie Wünsche und Lösungen zu entwerfen, sodass eine emotionale Integration und Nachreifung im Kontext des Übertragungsgeschehens gelungen ist. Emma verletzt sich nicht mehr, hat Freunde gefunden und kann die Trauer und den Ärger über den Verlust der Mutter und ihre daraus resultierende, symptomauslösende Vernichtungsangst verstehen und ausdrücken. Fallbeispiel 2: Aus der Anfangszeit der Therapie eines 15-jährigen Jugendlichen Denis wurde von seinem Vater zur Therapie angemeldet, weil er zunehmend niedergeschlagen sei, sich immer weiter zurückziehe, kaum Freunde habe und überdurchschnittlich häufig krank sei, ohne dass eine körperliche Ursache gefunden werden könne. Bereits während der ersten Stunden wurde deutlich, dass vor allen Dingen die Schule und Denis Klassenlehrerin den Eltern zu einer Therapie geraten hatten und dass Denis zwar bereitwillig mitkam, für sich selbst jedoch nur bedingt einen Leidensdruck formulieren konnte. Dennoch berichtete Denis mir während der Probatorik anstandslos und geradezu brav von seinem Alltag, der aus Schule, Computerspielen, vielem Schlafen und dem Zeitverbringen mit seiner Mutter bestand. Ich konnte recht schnell etwas von seiner eigenen Beunruhigung und Problematik erspüren – gerade durch seinen eher flüssig wirkenden Bericht hielt er mich aber auch auf Distanz. Die Therapie mit Denis begann schleppend. Zu Beginn war es kaum möglich, regelmäßige Sitzungen stattfinden zu lassen, da Denis Vater beinahe jede dritte Stunde aufgrund einer Erkrankung seines Sohnes absagte. In den darauffolgenden Stunden entschuldigte sich Denis immer für sein Fehlen und betonte, dass es ihm »wirklich nicht gut« gegangen sei. Auf Gespräche über seine häufigen körperlichen Beschwerden ließ er sich jedoch nicht ein und reagierte mit Rückzug und Verallgemeinerungen (»Alle in meiner Klasse sind gerade krank«). Zudem fiel es ihm lange Zeit sehr schwer, sich im Therapieraum auf eine Beschäftigung einzulassen. Er schaute sich unschlüssig um, senkte dann meistens den Kopf und spielte mit den Bändern seiner Kapuzenjacke. Dabei wirkte er deutlich affektgemindert und traurig und erzählte von sich aus kaum etwas. Nach einer Weile suchte er dann häufig Gesellschafts- bzw. Kartenspiele aus, zeigte dabei aber wenig Motivation, zu gewinnen oder sich aus meinem Sieg etwas zu machen. Jegliche Gefühle, ob Freude oder Wut, wurden gänzlich unterdrückt oder zurückgehalten.

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In der Gegenübertragung entstanden quälende Leere und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die Stunden gestalteten sich weiterhin so, dass Denis schweigend mit mir Monopoly oder ein Kartenspiel spielte und bei einer Niederlage kommentarlos ein neues Spiel heraussuchte. Auf Äußerungen meinerseits ging Denis nicht ein oder zuckte nur mit den Schultern. Wenn er etwas erwiderte, dann meistens: »Ja, kann schon sein«, danach schwieg er wieder. Ich kam zunehmend mit Selbstzweifeln in Kontakt und fragte mich, ob Denis nicht doch in einem weitaus größeren Maße »geschickt« wurde, als es mir zu Beginn bewusst war. Nach circa zwölf Stunden fand eine erste, deutliche Veränderung in Denis Auftreten statt. Er wandte sich mir nun erstmals direkt zu und forderte mich auf, »etwas zu tun« (»Mischen Sie schon mal die Karten!«). Zu diesem Zeitpunkt konnte er auch erstmals formulieren, dass »eigentlich nie jemand wirklich mit mir gespielt hat« und er sich habe immer allein beschäftigen müssen. Er begann, mir von Erinnerungen an seine Kindheit zu berichten, und erschien mir zunehmend etwas gelöster in seinen Gesichtszügen. Auch fanden erstmals regelmäßige Termine statt. Wie kam es zu dieser Veränderung? Aufgrund seiner häufigen Fehlzeiten in der Schule und seinem ungepflegten äußeren Erscheinungsbild nahm die Klassenlehrerin von Denis zwischenzeitlich Kontakt zum Jugendamt auf, und es fanden Gespräche zwischen dem Jugendamt und Denis Eltern statt. In dieser Zeit bat der Vater mich vermehrt um Elterntermine, da ihn die ganze Situation nach eigenen Angaben »völlig überfordere« und er nicht wisse, was er mit seinem Sohn »machen solle«. Im Zuge dieser Termine konnte er dann erstmals formulieren, dass er eigentlich gar nicht wisse, wer sein Sohn sei. Er erinnerte sich, dass er selbst aus einer Familie komme, in der wenig Interesse für die Kinder gezeigt wurde, dass er es nie »gelernt« habe, auf andere einzugehen. Dabei begann er zu weinen, und es wurde eine tiefe Leere und Verzweiflung, aber auch eine deutliche Anspannung spürbar. Wichtig schien es mir hierbei zu sein, den Vater nicht zu »verurteilen«, sondern ihn darin zu unterstützen und zu ermutigen, seinen Sohn wahrnehmen zu lernen und ihm durch Zuwendung und positive Verstärkung ein Gefühl von Bedeutung und Geliebtwerden zu geben. Dabei stand ich dem Vater immer wieder durch »stellvertretendes Mentalisieren« zur Verfügung, und er erprobte erste Versuche, seinen Sohn richtig »kennenzulernen« und ihn zu fördern. Auch wenn er aufgrund einer ausgeprägten Fokussierung auf eigene Probleme und auch aufgrund seiner emotional eingeschränkten Möglichkeiten immer wieder an seine Grenzen geriet, konnte er in Besinnung auf seine eigene Geschichte und Persönlichkeit Projektionen schrittweise etwas zurücknehmen. Diese Entwicklung in der »Vater-Sohn-Beziehung« zeigte sich nun auch deutlich in den Therapiestunden. Denis nahm mich offenbar zunehmend als unterstützendes und förderndes Objekt wahr, und es gelang mir, eine trag­fähige Beziehung zu ihm aufzubauen. Die Gespräche mit dem Vater und parallel hierzu Denis’ Nachfragen in den Therapiestunden (er erkundigte sich danach, ob sein Vater beim letzten Termin auch da gewesen sei) ermöglichten es mir, zu verstehen, dass es bei Denis zu Beginn der Therapie primär darum ging, ihm mein Interesse an seiner Person und seinen Wünschen und Bedürfnissen

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zu vermitteln. Ich hatte den Eindruck, ich musste mich erst »beweisen«, bevor sich der therapeutische Prozess entfalten und eine Widerstandstransformation hin zu einem eigenen Interesse über die Wirksamkeit von unbewussten Prozessen stattfinden konnte. Im weiteren Verlauf der Therapie konnte Denis in Ansätzen Gefühle von Minderwertigkeit und Schwäche zulassen und besprechen und in der Folge erste Autonomiewünsche umsetzen, indem er sich dem Freundeskreis seiner Schwester zuwandte und mehr alterstypische Dinge unternahm. Fallbeispiel 3: Aus der Therapie einer 20-jährigen Adoleszenten Die 20-jährige Lena meldete sich bei mir zu einer Therapie an, weil sie unter verschiedenen psychosomatischen Beschwerden sowie zwanghaften Symptomen litt. Lena gab an, dass sie seit Beginn ihrer Ausbildung vor anderthalb Jahren kaum noch »zur Ruhe komme«, oft gehetzt und fahrig sei und große Schwierigkeiten habe, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Zudem habe sie »ganz generell Probleme mit Freundschaften«. Lena berichtete mir all dies in der Probatorik sehr detailliert und sie konnte sehr differenziert über sich und ihre Situation sprechen. Inhaltlich standen im Verlauf der Therapie die Ablösung von den Eltern – primär von der Mutter –, adoleszente Reifungsschritte und soziale Integration bei den Gleichaltrigen im Vordergrund. In den Therapiestunden erzählte Lena von ihrem Arbeitsplatz, von Auseinandersetzungen, aber auch von positiven Erfahrungen mit Freunden und von ihrem immerwährenden Druck, in allem, was sie tue, perfekt sein zu müssen. Ich konzentrierte mich anfangs darauf, sie in ihrem Wunsch nach Selbstständigkeit zu unterstützen, Zusammenhänge in der Beziehung zu anderen zu verstehen, sich selbst mit dem eigenen Erleben wahrzunehmen und sich von den anderen unterscheiden zu können. In diesem Zusammenhang fiel Lena auf, dass sie es kaum zulasse, dass andere »zu nah an mich herankommen«. Sie nehme sich selbst gerne zurück und konzentriere sich darauf, zu »erahnen«, was die anderen brauchen. Damit sicherte sich Lena zum einen die Aufmerksamkeit und Zuwendung ihr nahestehender Bezugspersonen, zum anderen behielt sie auf diesem Wege aber auch die »Kontrolle« und umging so das für sie sehr beängstigende Gefühl des »Sich-ausgeliefert-Fühlens« (indem sie eigene Schwächen und Probleme negierte). Dieses Thema fand nun auch vermehrt seinen Weg in die Therapie und wurde zu einer Belastungsprobe der therapeutischen Beziehung. Lena begann über viele Stunden, ins »Geschichtenerzählen« zu verfallen und von »alltäglichen Dingen« zu berichten, die sich nur schwer therapeutisch verwerten ließen. Sie reihte Satz an Satz, ohne Pause, und vermied es dabei, Gesprächslücken entstehen oder mich wirklich zu Wort kommen zu lassen. Sie betonte immer wieder, dass es momentan nichts »Gefühlsmäßiges« zu erzählen gäbe, ihre Gedanken sich ohnehin nur um die anstehende Abschlussprüfung drehen würden und sie »eigentlich gut drauf« sei. Gleichzeitig wirkte sie auf mich aber müde, ausgelaugt und sehr »abgeklärt«. In dieser Phase durchlief ich ein Wechselbad der Gefühle. Ich fühlte mich zunehmend als Therapeutin verunsichert und kam mit Selbstzweifeln in Berüh-

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rung, Lena gar nicht richtig helfen zu können. Gleichzeitig spürte ich auch Langeweile und eine deutliche Genervtheit in mir aufsteigen. Ich nahm sie als stur und provokativ wahr und stieg schließlich auf die Inszenierung ein, indem ich ihr ebenfalls meine Zweifel offenbarte und sie fragte, ob es vor dem Hintergrund ihrer anstehenden Prüfungen eventuell nicht der richtige Zeitpunkt sei, um eine aufdeckende Arbeit zu beginnen. Lena reagierte deutlich gekränkt und fühlte sich ungerecht behandelt, und durch diese emotionale Reaktion konnte sich der therapeutische Prozess entfalten. Gemeinsam erarbeiteten wir, dass hinter den »Geschichten« eigentlich ihre eigene Unsicherheit und ihr Überforderungsgefühl standen. Sie fühlte sich ähnlich hilflos wie früher oft bei ihren Eltern, als sie den Eindruck gehabt habe, ihre Mutter »unterhalten« (»Sie hatte doch tagsüber nur mich«) und ihrem Vater eine »gute Tochter« sein zu müssen. Auch bei mir habe sie das Gefühl gehabt, dass sie mir etwas »bieten« und mich gut unterhalten müsse, wodurch sie sich jedoch auch überfordert und »angegriffen« gefühlt habe, dass das von ihr Erbrachte nicht ausreiche – sie mir also nicht genügte. Nach dieser Episode veränderte sich deutlich die Arbeit in den Stunden und parallel dazu auch meine Gegenübertragung. Lena zeigte sich zunehmend authentischer, und meine Genervtheit wich eher schwesterlich-freundschaftlichen Gefühlen. Wir konnten thematisieren, dass sie sich schon seit Langem einen Auszug aus dem Elternhaus und eine eigene kleine Wohnung wünschte, aber Angst davor habe, dass ihre Mutter dies nicht unterstützen würde. Dabei wurde erstmals eine deutliche Traurigkeit spürbar. Lena konnte im Anschluss formulieren, dass sie über den Versuch, es allen recht zu machen »vergesse, mich selber mitzuteilen«. Diese Erkenntnis setzte sie im weiteren Verlauf der Therapie schrittweise in ihrem sozialen Umfeld um und begann, Wünsche und Bedürfnisse zu äußern und sich auch mal zu »trauen«, etwas von sich preiszugeben. Lena zeigte während des Therapieverlaufs ein großes Interesse daran, sich selbst besser zu verstehen und mit sich zufriedener zu werden. Besonders die von mir empfundene sehr schwierige Phase der »Verweigerung« Lenas, sich auf die Therapie wirklich einzulassen, erwies sich als äußerst fruchtbar und hat letztlich ein therapeutisches Arbeiten erst ermöglicht.

Die Einheit in der Differenz – alles anders oder doch gleich? Die Behandlungen von Emma, Denis und Lena waren mit ganz eigenen, spezifischen Herausforderungen verbunden: –– In der Kindertherapie mit Emma war es lange Zeit nicht möglich, eine Bearbeitung auf der verbalen Ebene stattfinden zu lassen, und es galt für mich, ganz in den »Spieldialog« mit Emma einzutreten. Dies war ein Drahtseilakt, der mir mitunter nicht immer leicht fiel. –– In der Therapie mit Denis ging es lange Zeit darum, die Attacken auf den Rahmen zu verstehen und zu bearbeiten. Denis agierte im

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Zeichen des Widerstandes gegen die Behandlung und die Übertragungsbeziehung, sodass es für mich besonders wichtig war, die dahinterstehende kommunikative Funktion wahrzunehmen. Für Denis war es entscheidend, dass unsere Beziehung seine Angriffe »überlebte« und ich die Stunden weiterhin für ihn zur Verfügung stellte, auch wenn er sich nicht an die Vereinbarungen hielt. Auch die Elternarbeit war bei Denis von großer Bedeutung. Es galt, ein Arbeitsbündnis herzustellen, das auf die Reflexion des inneren Bildes vom Kind, der Delegation an das Kind sowie auf die Bearbeitung der eigenen Erfahrungen mit den Eltern und nicht zuletzt auch der Paardynamik zielte. Es mussten »diejenigen elterlichen Persönlichkeitsanteile zum Gegenstand der begleitenden Psychotherapie gemacht werden, welche zentral wirksam sind in der Beziehung zum Kind« (Burchartz, 2012, S. 136). –– In der Behandlung mit Lena bestand die Herausforderung in der Wahl der richtigen Intervention. Über Spiegelung, Klarifikation und Containing gelang es uns, an Lenas verleugneten Autonomiewünschen im Zusammenhang mit den dazugehörigen Ängsten und Schuldgefühlen zu arbeiten. Dabei fand die Therapie in einem ganz klassischen Faceto-Face-Setting statt, und Lena äußerte einmal den Wunsch, sich hinlegen zu dürfen, um mit mir über etwas zu sprechen, bei dem sie mich aus Schamgefühlen heraus nicht ansehen wollte. Ein anderes Mal legte sie sich dafür in die Hängematte. Im gesamten Verlauf der Therapie zeigte Lena ein großes Interesse daran, sich selbst besser zu verstehen, und sie imponierte mir mit einer ausgesprochen guten Fähigkeit und Bereitschaft, zu assoziieren und zu reflektieren. Ich komme nun auf meine anfangs gestellte Frage zurück: Ist die Therapie von Kindern, Jugendlichen und Spätadoleszenten so deutlich von der Therapie Erwachsener zu unterscheiden bzw. abzugrenzen? Im Fallbeispiel von Emma ist dies sicherlich leicht zu beantworten: Das Setting ist ein anderes, natürlich, und ebenso die psychoanalytische Technik. Ich war gefordert, mich »auf die im Spiel inszenierten psychischen Zustände, Affekte, Phantasien, Übertragungen und Konflikte einzulassen, sie in der Beziehungserfahrung wahrzunehmen, zu verstehen, zu übersetzen, zu beantworten und in einen Beziehungs- und Spieldialog einzubringen« (Tibud, 2015a, S. 5).

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In den Therapien mit Denis und Lena habe ich die Unterschiede nicht mehr so deutlich wahrgenommen. Besondere technische Herausforderungen bestanden nach wie vor – vor allen Dingen in der Therapie mit Denis –, aber ebenso war eine Annäherung an die Methoden der Erwachsenentherapie erkennbar. Melanie Klein betont in ihrem Buch »Die Psychoanalyse des Kindes« »die größere Nähe der Analysen von Jugendlichen zu denen von Erwachsenen«, was die »volle Beherrschung der bei den Erwachsenen angewendeten Technik voraussetzt« (Klein, 1932/1997, S. 127). Holder fasst dies so zusammen, »dass es eine normale Entwicklungslinie gibt, die von einer averbalen, vom Spielen beherrschten, frühesten Entwicklungsphase über eine Phase der Mischung von Spielen und Verbalisieren zu einer Dominanz der verbalen Ausdrucksweise führt […] und wo die diesbezüglichen Unterschiede zu Erwachsenen nur noch gering sind. Die größere Nähe von Jugendlichenanalysen zu denen Erwachsener zeigt sich auch in dem Umstand, dass es nicht selten vorkommt, dass ältere Jugendliche […] mehr oder weniger wie Erwachsene frei assoziieren können« (Holder, 2002, S. 141). Psychoanalytische Arbeit in der ambulanten Praxis bewegt sich immer – unabhängig davon, ob es sich um Erwachsenen- oder Kinderund Jugendlichenpsychotherapie handelt – in einem Feld, das durch verschiedene Vorgaben geprägt ist: die berufs- und sozialrechtlichen Regelwerke, die Ethik und Berufsordnungen der Profession, die Elemente des Behandlungsvertrags, der Schweigepflicht, des Settings, der psychoanalytischen Technik und ihrer möglichen Modifizierungen (Walz-Pawlita, 2010). Allen psychoanalytisch orientierten Verfahren und Anwendungen liegt die Annahme eines Unbewussten zugrunde. Die Erforschung des eigenen und des fremden Unbewussten, die Fähigkeit, damit einerseits deutend umzugehen, andererseits sich berühren zu lassen von den vielfältigen Ausformungen und Bewältigungen beim Gegenüber ist Grundlage jeder analytischen Tätigkeit. Dabei setzt analytische Kompetenz ein explizites psychoanalytisches Methoden- und Störungswissen voraus. Was aber zur Professionalität des Handelns hinzukommen muss, ist die kreative Nutzung dieser Kenntnisse in Interaktionen, die nie plan- und voraussehbar sind. Psychotherapeutische Kompetenz erfordert eine Art »implizites Beziehungswissen« (Daniel Stern), dessen systematische Nutzung und

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Verwendung für Heilungsprozesse im Patienten das ausmacht, was wir die »Kunst« der therapeutischen Arbeit nennen. Es gilt, einen Weg zu finden, sich soweit in die jeweilige Beziehung einzubringen, dass entwicklungsfördernd das Verständnis des Patienten für seine Probleme und Schwierigkeiten im intersubjektiven Feld gestärkt werden kann. Dabei wird die Kompetenz eines Therapeuten daran sichtbar, was er in der psychotherapeutischen Beziehung bei seinem Patienten bewirkt, ob er entscheidend zur Linderung oder Heilung einer seelischen Verarbeitungsstörung beiträgt (Kahl-Popp, 2007). Buchholz beschreibt dies wie folgt: »Psychotherapie ist ein soziales Ereignis, sie ist nicht Anwendung von wissenschaftlichem Wissen; sie ist eine in jedem Fall einzigartige Veranstaltung, die nicht auf (Behandlungs-)Technik reduziert werden kann, und diese Einzigartigkeit beschreibt man am besten als Interaktion, die eine Interaktion der Bilder einschließt« (Buchholz, 2000, S. 13). Ich verstehe psychoanalytische Kompetenz als die Fähigkeit, durch das gemeinsame Beziehungserleben in einem direkten, emotional getönten Austausch – auf verbalen oder nonverbalen Ebenen – Veränderungsprozesse unmittelbar und spürbar anzustoßen. Emotionales Verstehen und damit die Bereitschaft, sich berühren zu lassen, sind die Grundlage jeder analytischen Behandlung – sowohl in der Erwachsenen- als auch in der Kindertherapie.

Ein kritischer Blick auf das Standing der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Der Kindertherapie gebührt im Vergleich zur Erwachsenentherapie im Ausbildungskontext ein gleicher Stellenwert. Dennoch habe ich dies während meiner Ausbildung zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mitunter nicht immer so empfunden, wobei ich deutlich machen möchte – und fühle mich dabei auch selbst angesprochen –, dass die analytischen Kindertherapeuten selbst aktiv werden und sich für eine entsprechende Entwicklung einsetzen müssen. Die Kinderanalyse und damit auch die analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (AKJP) ist oft als »Stiefkind« der Psychoanalyse bezeichnet worden, womit eine Entwertung und Geringschätzung verbunden ist, die auch

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sechzig Jahre nach der Gründung der Vereinigung analytischer Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten – so habe ich manchmal den Eindruck – noch Bestand hat. Schon im Sprachgebrauch findet sich eine deutliche Degradierung, denn wir sind demnach keine Psychoanalytiker, sondern schlicht die »KiJus« oder die »Kindertherapeuten«. Der Beruf des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ist in Deutschland hervorgegangen aus dem des Psychagogen. Die damaligen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, ausschließlich psychodynamisch ausgebildet, hatten allesamt einen pädagogischen Eingangsberuf. Dies änderte sich erst mit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes im Januar 1999. Seither ist »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut(in)« eine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung, die eine staatliche Zulassung zur selbstständigen Ausübung von Heilkunde (Approbation) voraussetzt. Aber auch derzeit hat die ganz überwiegende Mehrzahl der bereits berufstätigen und auch der in Ausbildung befindlichen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einen pädagogischen Zugangsberuf. In einer im Jahre 2009 durchgeführten Untersuchung, in der Sozialpädagogen unter anderem nach ihrer Motivation, sich in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ausbilden zu lassen, befragt wurden, ergaben sich zwei – wie ich meine – entscheidende Ergebnisse: Zum einen liegen die Gründe für einen Wunsch nach einem beruflichen Identitätswechsel vom Pädagogen zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Prestigezuwachs. Zum anderen besteht eine gewisse Tendenz bei den befragten (angehenden) Psychotherapeuten, ihre berufliche Herkunft zu verleugnen (Ohling, 2010). Es erscheint mir, als habe die Unsicherheit bezüglich der Wertigkeit des Grundberufes einen großen Einfluss auf das Selbstbild der angehenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, als gelinge ihnen nicht so recht die Ablösung von dem Status des »Heilhilfserziehers«, wodurch sich die Geschichte der Psychagogik gewissermaßen fortsetzt und eine transgenerationale Kränkung weitergegeben wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es um ein grundlegendes Statusproblem der Pädagogik in der Hierarchie der Geisteswissenschaften und um ein Gefühl der Inferiorität gegenüber der Psychoanalyse geht. Dabei liegt es an uns, ein Selbstverständnis als gleichwertige Psychoanalytiker zu entwickeln und unsere berufliche Herkunft als Res-

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source und als Vorerfahrung zu betrachten, die uns bereits mit vielen Themen unseres späteren psychotherapeutischen Alltags vertraut gemacht hat: Affektregulation, Bindungsverhalten, Elternarbeit, gruppen- bzw. familiendynamische Prozesse oder Intersubjektivität, um nur einige zu nennen. Wir sollten nicht die »KiJus« sein und uns auch nicht selbst so bezeichnen, sondern uns als Psychoanalytiker für Kinder und Jugendliche verstehen, die mit den Psychoanalytikern für Erwachsene auf Augenhöhe sind. Beide Fachrichtungen beeinflussen sich gegenseitig, und es ist unbestreitbar, dass Kinderanalytiker wie Donald Winnicott, Margaret Mahler oder René Spitz das psychoanalytische Gedankengut und Wissen beträchtlich erweitert haben und dadurch auch einen großen Einfluss auf die analytische Behandlung von Erwachsenen genommen haben. Die Darbietung bzw. die Erscheinung des Seelischen und die Resonanz darauf zeigt sich in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in einem anderen Gewand, der Umgang mit dieser erfolgt jedoch mithilfe der gleichen fachlichen Kenntnisse: Die Konzepte des Unbewussten, der Übertragung-Gegenübertragung, Deutung, Angst und Abwehr, Containment, innere und äußere Welt und deren Austausch beziehungsweise wechselseitige Beeinflussung und spezifische Abwehrmechanismen, wie Projektion, Introjektion u. a., bilden die Grundlagen auch der psychoanalytischen Therapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Die analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist keineswegs nur eine bloße Anwendung der Psychoanalyse auf Kinder, sondern sie ist eine Realisierung der Psychoanalyse neben der Erwachsenenanalyse. Was beide gemeinsam haben, ist die psychoanalytische Methode der Erkenntnisgewinnung. Damit einhergehend sollten aus meiner Sicht auch in den Ausbildungsinstituten und in den Fachverbänden weitere Entwicklungen vorangetrieben werden wie beispielsweise die gleichrangige Mitgliedschaft in der DPV3 bzw. der DPG, ein gemeinsamer Prüfungsausschuss oder die Weiterqualifizierung von AKJP-Supervisoren zu Selbsterfahrungsleitern oder Lehranalytikern. Barbara Diepold schrieb 1994, dass »in der Lehranalyse wichtige Identifizierungen geschehen, über die sich 3 Deutsche Psychoanalytische Vereinigung

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berufliche Identität oftmals erst herausbildet«. Sie sah die Reste von Unsicherheiten unserer Berufsgruppe in dieser realen Abhängigkeit, in der es uns nicht möglich ist, unseren Nachwuchs selbstständig zu generieren. Auch zwanzig Jahre später hat sich daran nichts geändert, obwohl die psychoanalytischen Ausbildungsinstitute diese Möglichkeit im Rahmen der Gesetzesvorgaben durchaus haben. Ich habe mit meinen Fallbeispielen versucht, aufzuzeigen, dass sich die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie nicht gradlinig von der Therapie mit Erwachsenen abgrenzen lässt, dass auch Kindertherapeuten mit den Techniken der Erwachsenenanalyse arbeiten und dass die benötigten fachlichen Kenntnisse auf dem gleichen Theoriegebäude beruhen. Eine Trennung der beiden Berufe, wie im Psychotherapeutengesetz mit der Altersbeschränkung »bis zum 21. Lebensjahr« festgeschrieben, ergibt sich aus der geschichtlichen Entwicklung und ist sicherlich aus Versorgungsgründen erforderlich und auch angemessen, schafft aber durch die unterschiedliche Bewertung beider Fachrichtungen – wie beispielsweise die Verwehrung einer nachträglichen Weiterqualifikation in Erwachsenenanalyse, wie dies im umgekehrten Fall für Erwachsenentherapeuten möglich ist – Probleme für das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein von analytischen Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten. Auf dem Weg von der Psychagogik zur analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist viel erreicht worden –, ich bin hoffnungsvoll, dass weitere »Reifungsschritte« möglich werden.

Literatur Böhm, F. (1952). Zur Ausbildung und Arbeitsweise der Psychagogen (Erziehungsbetreuer). Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 1 (3), 65–71. Buchholz, M. B. (2000). Psychotherapie – Profession oder Wissenschaft. Journal für Psychologie, 8 (4), 3–16. Buchholz, M. B. (2003). Metaphern und ihre Analysen im therapeutischen Dialog. Familiendynamik, 28 (1), 64–94. Burchartz, A. (2012). Psychodynamische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Das tiefenpsychologisch fundierte Verfahren: Basiswissen und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer.

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Diepold, B. (1994). Von der Psychagogik zur analytischen Kinderpsychotherapie. Vortrag zum 40-jährigen Bestehen des Göttinger Psychoanalytischen Instituts in Tiefenbrunn am 26.11.1994. www.diepold.de/barbara/von_der_ psychagogik.pdf (8.7.2015). Auch in I. Weber (Hrsg.) (1995), Symposion »40 Jahre Psychoanalytisches Institut Göttingen« (S. 65–72). Göttingen. Grieser, J. (2007). Freiheit und Entwicklung im triangulären Raum. Psyche, 61 (6), 560–589. Holder, A. (2002). Psychoanalyse bei Kindern und Jugendlichen. Geschichte, Anwendungen, Kontroversen. Stuttgart: Kohlhammer. Kahl-Popp, J. (2007). Lernen und Lehren psychotherapeutischer Kompetenz am Beispiel der psychoanalytischen Ausbildung. Würzburg: Ergon. Klein, M. (1932/1997). Die Psychoanalyse des Kindes, Gesammelte Schriften, Bd. 2. Stuttgart u. Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Ohling, M. (2010). Wer wird Psychotherapeut? Interviews mit (angehenden) Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Psychotherapie, 15 (2), 174– 181. https://cip-medien.com/wp-content/uploads/02.Ohling.pdf (8.12.2015). Raue, J. (1998). »Was macht ein analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut?« Über die Arbeit des Kindertherapeuten im analytischen Prozess. In U. Jongbloed-Schurig, A. Wolff (Hrsg.), »Denn wir können die Kinder in unserem Sinne nicht formen«. Beiträge zur Psychoanalyse des Kindes- und Jugendalters (S. 113–130). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Scharff, J. M. (2007). Psychoanalyse und inszenierende Interaktion: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In P. Geissler, G. Heisterkamp (Hrsg.), Psychoanalyse der Lebensbewegungen (S. 83–98). Wien u. New York: Springer. Streeck, U. (Hrsg.) (2000). Erinnern, Agieren und Inszenieren. Enactments und Szenische Darstellungen im therapeutischen Prozess. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Tibud, S. (2013). Lehrjahre sind Spieljahre. Selbsterfahrung mit dem Medium Spiel in der Ausbildung zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Deutschland (Master-Thesis). Universität Köln. Tibud, S. (2015a). Ludo ergo sum – Ich spiele, also bin ich … ­KinderanalytikerIn. Selbsterfahrung im Spiel in der Ausbildung zum analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Öffentlicher Vortrag auf der VAKJPWerkstatttagung zum Thema Identität am 25.1.2015. Tibud, S. (2015b). Profession ist mehr als Wissen. Unveröffentlichter Vortrag. Köln. Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (Hrsg.) (2009). Affektregulation und Sinnfindung in der Psychotherapie. Gießen: Psychosozial-Verlag. Walz-Pawlita, S. (2010). Welche Ausbildung brauchen wir für die ambulante Praxistätigkeit? Vortrag auf dem Berufspolitisches Seminar Hannover am 27.2.2010. http://dgpt.de/fileadmin/download/berufspolitik/veranstaltungen/2010_Walz_Pawlita.pdf (8.12.2015).

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Sexualisierter und narzisstischer Missbrauch von Macht in Institutionen

Zusammenfassung Das gesellschaftliche Tabu, sexuellen Missbrauch in der Familie und in sozialen Einrichtungen, wie pädagogischen und psychoanalytischen Instituten, zu sehen, ist inzwischen weitgehend gelockert, zum Teil ganz aufgehoben. Trotzdem begünstigen Institutionen oft narzisstischen und sexualisierten Missbrauch von Macht durch narzisstische (oft charismatische) Leiterpersönlichkeiten, wenn eine Identifikation mit dem Aggressor im Sinne einer Täter-Identifikation nicht überwunden wird, sodass die Identifikation mit dem Opfer zurücktritt. Darüber hinaus begünstigt das Festhalten an der Macht einer »Gerontokratie«, d. h. der Macht der etablierten Älteren, sowie die Angst, die Existenz der Institution durch ein Aufdecken in Gefahr zu bringen, die Perpetuierung des Missbrauchs. Das Gegenmittel besteht im präventiven Sprechen über die Missbrauchsdynamik, insbesondere auch während der Ausbildung von Pädagogen und Psychotherapeuten.

Zweifaches Tabu Liebe in Psychotherapie und Psychoanalyse – von der Erotik über sexuelles Begehren bis hin zur borderlineartig sexualisierten Aggression – und die Überschreitung der durch Abstinenz, Asymmetrie und Rahmen an sich wohldefinierten Grenzen der therapeutischen Beziehung durch sexuellen Missbrauch sind zwei noch immer tabuisierte Bereiche: 1. Die Übertragungsliebe war von Beginn an ein Markenzeichen der Psychoanalyse – im Feuer der Übertragung sollen frühe konfliktuöse und traumatisierende Beziehungserfahrungen erlebt und nachträglich überwunden werden (»Goldmine«). Trotzdem erfährt man in der psychoanalytischen Ausbildung wenig über die mannigfaltigen Formen der »Liebe in der Analyse« (so das Motto der DGPT-Tagung 1996), und auch später spielt sie im psychoanaly-

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tischen Diskurs eine marginale Rolle, wenn auch einige wenige klassische Veröffentlichungen sozusagen als Meilensteine herausragen. Das relative Tabu trägt dazu bei, dass die Grenzen der Übertragung hin zum Ausagieren immer wieder von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten überschritten werden, die ihrer sexuellen Gegenübertragung insofern erliegen, als sie den symbolischen Raum der therapeutischen Beziehung verlassen und missbräuchlich eine reale sexuelle Beziehung agieren (»Minenfeld«; Hirsch, 2012). Die schöne Doppelmetapher der zweifachen Bedeutung der »Mine« sowohl für die überragende Bedeutung der Übertragungsliebe (auch der Gegenübertragungsliebe) für die psychoanalytische Psychotherapie als auch für die immense Zerstörungskraft für den Fall ihres grenzverletzenden Missbrauchs hat Ethel Person (1994) gefunden. 2. Das andere Tabu betrifft die sexuelle Grenzüberschreitung in Abhängigkeits-, besonders in therapeutischen Verhältnissen. Auch hier gilt: Je weniger gesprochen wird, desto eher wird gehandelt und desto leichter bleibt ein Handeln verborgen. Sexuelles Handeln in der Psychotherapie zerstört die virtuelle Beziehung genau wie Inzest die reale Vater-Tochter-Beziehung. Die Parallelen zum familiären sexuellen Missbrauch und auch zur sexuellen Ausbeutung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses z. B. in reformpädagogischen und konfessionellen Institutionen sind deutlich: Narzisstische Größenphantasien und sexualisierte Macht Schwächeren und Abhängigen gegenüber werden agiert, dadurch wird ein Versprechen gebrochen – ein Therapeut für die Patientin, ein Lehrer für den Schüler und ein Vater für die Tochter zu sein – mit stets katastrophalen Folgen oft für beide Beteiligten. Wenn auch häufig ein kollusives Moment enthalten ist – der oder die Mächtige und der oder die Abhängige sind letztlich beide narzisstisch bedürftig und suchen gegenseitige Ergänzung –, liegt die Verantwortung immer bei dem, der seine Professionalität, seine »ärztliche Aufgabe über ein schönes Erlebnis« (Freud, 1915/1946, S. 319) verrät. Die Verantwortung liegt aber auch bei den Institutionen: Zum Beispiel schützen Familienzusammenhalt, Ideologie der alternativen Pädagogik und Indifferenz der psychotherapeutischen Organisationen eher die Täter und vernachlässigen die Opfer.

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Narzissmus und Institution Auf geheimnisvolle Weise lassen gesellschaftliche Veränderungen immer wieder lange bestehende Missbrauchsverhältnisse plötzlich ans Licht der Öffentlichkeit kommen, über die jahrzehntelang der Mantel des Schweigens gebreitet blieb. Wie konnten wir alle bis zur Mitte der 1980er Jahre die Relevanz und Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs in der Familie so gründlich übersehen, die doch seitdem zunehmend erkannt und als traurige Realität bewusst geworden sind? Zwanzig Jahre später kamen wie aus heiterem Himmel Missbrauchsverhältnisse großen Ausmaßes in den katholischen Institutionen an die Oberfläche – warum denn nicht früher? – als ob, und so war es ja auch, jemand ein Tabu gebrochen hätte, dessen Mut und Empörung größer waren als die Loyalität der Institution gegenüber, zu der er gehörte. Sozusagen im gleichen Atemzug erfasste die Welle der Aufklärung gewisse reform­pädagogische Einrichtungen gleich mit. Schon vorher hatte das Bewusstsein von sexuellem Missbrauch in psychoanalytischen Instituten zu wachsen begonnen. Ein allgemeines Merkmal aller Missbrauchs- und Gewaltverhältnisse in den verschiedensten Institutionen von der Familie über psychoanalytische Institute bis hin zu religiösen Sekten wirft bereits ein Licht auf ihren narzisstischen Charakter: Die Missbraucher schaffen sich selbstherrlich ihre eigenen Gesetze, mit denen sie die Basisregeln sozialen Zusammenlebens aushebeln, z. B. das Inzestverbot oder das Abstinenzgebot, sie nehmen sich in grandioser Weise heraus, was den Menschen sonst verboten ist. So fallen Sätze wie: »Ich kann doch mit meiner Tochter machen, was ich will!«, man spricht vom »pädagogischen Eros« oder kümmert sich mehr um das Seelenheil des Täters als um das Wohl des Opfers. Bittner hat sich sogar zu der Aussage verstiegen, die Analyse sei tot, wenn es nicht die Möglichkeit der Realisierung der Übertragungsliebe gäbe! Über den pathologischen Narzissmus von bestimmten Leiterpersönlichkeiten haben z. B. Kernberg (1985; dt. 1988) und Erdheim (2005) berichtet. Solche Missbraucher ihrer Macht finden sich in allen möglichen Institutionen. Besonders prekär wird der Missbrauch, wenn die Opfer Abhängige sind, wie Kinder in Familien und anderen Einrichtungen, besonders auch, wenn es keine Zeugen gibt, die verhindernd

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eingreifen könnten. Eine vergleichbar intime Abhängigkeitssituation ist die therapeutische Beziehung, ebenso die Lehranalyse, und es erstaunt doch sehr, wie bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Institute und die Fachgesellschaften ihre triangulierende Kontroll- und Schutzfunktion vernachlässigt haben, obwohl die entsprechenden Ethik-Richt­linien längst erlassen worden sind. Der Missbrauch durch einen individuellen Täter ist eingebettet in ein kollusives System – die Familie, die pädagogischen Einrichtungen, die psychotherapeutischen Institute. Immer wieder klagen die Betroffenen über die kaum zu durchdringenden Abwehrstrategien, durch die das System und die Täter geschützt, die Opfer aber noch einmal zu Opfern gemacht werden (auch wenn sich in jüngster Zeit einiges geändert hat). Ein Opfer sagt rückblickend: »Bei Betroffenen von sexueller Gewalt im Bereich von Institutionen wie der katholischen Kirche kommt zum eigentlichen Verbrechen die zweite Tat durch die Institution hinzu. Diese hat in der Vergangenheit gar nicht oder nicht adäquat auf Rückmeldungen von Opfern reagiert. […] Zu erfahren, dass ›meine‹ beiden Täter vor mir und nach mir jeweils Dutzende andere Jungen missbraucht haben, hat mich mehr geschockt als alles andere. […] Die Vorgesetzten dieser Männer hätten meinen Missbrauch verhindern können. Doch die Täter wanderten ins innerkirchliche Täterschutzprogramm für gefallene Mitbrüder. […] Die Opfer wurden alleine gelassen« (Katsch, 2012). Bei der Untersuchung der inzestuösen Dynamik von psychoanalytischen Instituten konzentriert sich Peter Zagermann (2010, S. 11 ff.) ganz auf die »endogame« Dynamik der örtlichen Ausbildungsausschüsse (AA). Denn diese seien es, die einzig Kandidaten für das Lehranalytikeramt vorschlagen könnten. Der Autor beschreibt eine pervertierte, entgleiste Dynamik, in der dieser Ausschuss seine triangulierende – im besten Sinne ödipale – Funktion verwandle in eine abgeschottete, sich als wahre Elite definierende, mächtige Untergruppierung der Institute. Im unbewussten Erleben wird Generativität, also Sexualität, nur von dieser Elitegruppe ausgeübt; es wird ein »sexuelles Monopol« (Zagermann, 2010, S. 12) beansprucht, die Reproduktion erfolgt aber endogam-inzestuös, d. h., es werden von Gleichen immer nur wieder neue »Gleiche« erzeugt. Inzest in diesem Zusammenhang bedeutet dann »Verleugnung von Trennung, des Ausschlusses des Dritten und

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damit des Neues bewirkenden Moments« (S. 13). Ich erinnere hier an die Dynamik des »Pygmalion-Komplexes«, in unserem Fall also etwa so: Der Lehranalytiker verliebt sich in das idealisierte, selbst erschaffene Objekt seiner Lehranalysandin, um sich mit ihr phantasmatisch zu einer quasi göttlich-omnipotenten Einheit zu verschmelzen – einen Dritten gibt es dabei nicht. Ich denke, dass in unserem Zusammenhang eine solche narzisstischinzestuöse, sich als Träger des wahren Wissens verstehende Elite den Boden für die von allen mehr oder weniger stillschweigend geduldete oder sogar gutgeheißene missbräuchliche Aneignung von Macht darstellen kann. Denn will man dazugehören, sind Kritik oder auch nur neues Denken unmöglich: »Je unfruchtbarer und gelähmter ein AA und ein Institut ist, desto massiver setzt sich diese Ausschlussthematik ins Werk, um die kreative Armut durch die narzisstische Fiktion zu vertuschen« (Zagermann, 2010, S. 13). Es kommt zu »Abtreibungsinszenierungen und der bedenkenlosen Lizenz zum blanken Hass« (S. 13). Die »Abtreibung«, also der Ausschluss, trifft natürlich die Andersdenkenden. Das wirft ein Licht darauf, warum es so schwer ist, als Opfer sich innerhalb der Institution Hilfe zu holen. Denn das würde bedeuten, gerade als schwächstes Glied – womöglich stark regrediert (und zwar gerade durch die Verwirrung von Anspruch und Realität in analytischen Missbrauchsverhältnissen) – aus dem Abhängigkeitsverhältnis heraus stärker und mutiger zu sein als die mittelbar Beteiligten, die ihrerseits aus falsch verstandener Loyalität und mehr oder weniger weitgehender Identifikation mit dem Missbrauchsgeschehen offene Anzeichen missbräuchlichen, übergriffigen Verhaltens nicht sehen und benennen können oder wollen. Ein weiteres Moment liegt darin, »dass ein AA des beschriebenen endogamen Typus anfällig dafür ist, von narzisstischen Persönlichkeiten dominiert zu werden. Nahezu jedes Institut […], dessen AA diesem Typus gehorcht, hat entsprechende Konstellationen in seinen Annalen, ohne dass jedoch die maligne Koinzidenz von institutioneller Struktur und Persönlichkeit konsequent ins Auge gefasst worden wäre. Narzisstische Persönlichkeiten und endogame AA-Struktur verhalten sich zueinander wie Öl, das aufs Feuer geschüttet wird« (Zagermann, 2010, S. 15). Der Narzissmus des Täters bzw. seine narzisstische Störung ist ja das allgemein hervorstechende Merkmal der Missbrauchsdynamik in Analysen und Therapien:

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»Vermutlich ist die unaufgelöste narzisstische Pathologie des Analytikers die Hauptursache dafür, dass die Gegenübertragung in Form eines Beitrags zur Erotisierung der psychoanalytischen Situation oder gar eines Durchbrechens der Grenzen des psychoanalytischen Settings agiert wird. Meiner Ansicht nach sind sexuelle Beziehungen mit Patienten meist ein Symptom für die narzisstische Charakterpathologie des Analytikers, die von einer gewichtigen Über-Ich-Pathologie begleitet ist« (Kernberg, 1994, S. 816). Zagermann bezieht sich dann auf den Fall extremen multiplen Missbrauchs durch eine Persönlichkeit, die jahrelang Leiter des örtlichen Ausbildungsausschusses gewesen war: »Der Missbrauch betraf, wie sich herausstellt, jeden denkbaren Bereich: sexuell, finanziell und eine komplette Missachtung der Schweigepflicht« (Zagermann, 2010, S. 17). Jedenfalls in der Vergangenheit muss es extrem schwer gewesen sein, Verdachtsmomente, Berichte, Gerüchte, Andeutungen, aber auch offenes Fehlverhalten mit einem missbrauchenden Kollegen selbst zu besprechen, wenn der in keiner Weise einsichtig und zur Selbstreflexion fähig war: »Gerade Erfahrungen wie diejenigen in M., wo eine Persönlichkeit vom Zuschnitt Masud Khans, die, offensichtlich ohne funktionierendes Gewissen, jede Art von Grenzüberschreitung ins Werk setzte, über zwölf Jahre Leiter des AA war, das Institut dominierte […], lassen mich an den Selbstregulations- und Selbstbeurteilungskräften eines lokalen Instituts zweifeln. Ich habe es selbst miterlebt, dass es uns Jahrzehnte gekostet hat, und welche enormen gruppendynamischen Widerstände der Verleugnung, Idealisierung und Abspaltung zu überwinden waren, bis wir allmählich bereit waren, etwas grundsätzlich in Frage zu stellen« (Zagermann, 2010, S. 17). Auch die Kollegin Gabrielle Weidenfeller (2010, S. 19 ff.) beklagt, wie schwer es gewesen sei, den missbrauchenden Kollegen zu begrenzen. Die betroffenen Analysandinnen hätten »aus Scham- und Schuldgefühlen, zum Teil auch aus Angst, lange geschwiegen« (S. 20). Aber auch das Institut bzw. seine Vertreter waren lange tatenlos: »Die an der Oberfläche sichtbaren Zeichen einer solchen Fehlhaltung – auffallende Gesten, unangemessene Vertraulichkeiten, ein allzu rascher Übergang zu privaten Kontakten, von Lehranalyse zu Supervision u. ä. – wurden jedoch als Einzelfälle beurteilt und erschienen als

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solche von außen betrachtet tendenziell als Bagatellen. Die Weigerung oder die Unfähigkeit G. S.’s als Lehranalytiker, die Realität der Übertragung anzuerkennen, mit der Folge, dass aus libidinösen wie aggressiven Äußerungen seiner Analysanden/innen stets bitterer Ernst wurde, wurde im Laufe der Zeit zunehmend deutlich geschildert. Zur realitätsgerechten Einschätzung des Ausmaßes aller möglichen Folgen einer solchen Einstellung fehlte allerdings im konkreten Falle nicht nur den [lokalen] M.’er Kollegen selbst, sondern auch den Kommissionsmitgliedern von außen die letzte böse Phantasie« (S. 20). Das kann ja nur so übersetzt werden, dass es schlicht nicht vorstellbar war, die sichtbaren Anzeichen in die konkrete Missbrauchsrealität zu übersetzen, es sei denn, man hätte eine »böse Phantasie« zur Verfügung. Inzwischen kann aber gesprochen werden  – in der Mitgliederversammlung der betreffenden Gesellschaft werden Befürchtungen geäußert, ob an dem besagten Institut überhaupt noch eine Ausbildung stattfinden kann. Die Meinungen sind kontrovers, ob es sich um einen Straftatbestand handelt – sexuelle Übergriffe auf Abhängige nämlich. Man beklagt den fehlenden Mut, die lange bekannten Abstinenzverletzungen nicht vonseiten der Institutsgruppe unterbunden zu haben: »Es finde ein Sehen und Nicht-Sehen zugleich statt.« »Da müsse man unsere Kultur in Frage stellen. Jetzt tun wir es, vorher waren wir wohl nicht dazu in der Lage« (S. 20).

Paranoide Festung Es gibt eine Gemeinsamkeit der Missbrauchssysteme: Sie sind der (gesellschaftlichen) Umgebung gegenüber abgeschottet, sodass ein korrigierendes Drittes, auch Zeugen, die ein Eingreifen von außen herbeiführen könnten, weitgehend ausgeschlossen sind. Für die InzestFamilie habe ich (Hirsch, 1987/1999, S. 145) gefunden: »Das einzige Merkmal, das m. E. durchgehend beobachtet werden kann, ist das der sozialen Isolation, wenn sie nicht von einer sozialen Fassade verdeckt wird –, die Familie ist eine ›paranoide Festung‹, umgeben von Feinden; innerhalb ihrer Grenzen werden alle Bedürfnisse ihrer Mitglieder befriedigt, die sich eng zusammenschließen.«

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Für die Reformpädagogik macht besonders Christian Füller (2011, S. 51) auf die »totale Institution« aufmerksam, auf die »hohen Mauern« der Abgeschiedenheit, andererseits aber auch auf »die tarnende Ideologie des pädagogischen Eros und der Knabenliebe, die für den seriellen sexuellen Missbrauch umkodiert wird« (S. 248). Der Autor zitiert die Ermittlerinnen, die das Missbrauchssystem untersuchten und einen »Mikrokosmos« gefunden haben sowie einen »herrschenden Kodex […], der möglicherweise von allen Erwachsenen geteilt wurde« (S. 95) und die Übergriffe ermöglicht habe. Die geografische Abgeschiedenheit all dieser Institute mag als Bild gelten für ihre soziale Isolation, mit der sie sich der öffentlichen Kontrolle entziehen. Psychoanalytische Institute sind natürlich nicht geografisch abgelegen, aber sie bilden doch innerhalb der Gesellschaft ein von außen schwer einsehbares und kontrollierbares Biotop. Es ist ja auch nicht nur die Kultur eines einzelnen betroffenen Instituts, sondern in der Regel und besonders in der Vergangenheit das Versagen der überregionalen Gesellschaften, in die es eingebettet ist. Für das Klosterinternat Ettal behält sich der Vatikan die Kontrollfunktion vor – es ist ein hartnäckiger Kompetenzstreit bekannt geworden, ob denn der Münchner Erzbischof belastete Verantwortliche entlassen kann oder ob das Benediktinerkloster direkt dem Vatikan unterstünde. Schließlich siegte der Vatikan, der mit den Verantwortlichen weitaus milder umging und z. B. die vom Bischof abgesetzten Würdenträger prompt wieder an ihre Stelle setzte (Obermayer u. ­Stadler, 2011). Natürlich ist auch das Behandlungszimmer des Psychotherapeuten und auch das des Lehranalytikers völlig von der Umwelt isoliert; im Grunde kann man sich nicht vorstellen, dass eine (junge) Frau sich Sitzung für Sitzung einem (nicht mehr ganz so jungen) männlichen Therapeuten über die allerintimsten Bereiche öffnet, ohne dass man sich in erotisch-sexueller Weise über kurz oder lang näherkommt, schließlich hat man sich ja gewählt, und Sympathie und Erotik spielen vielleicht nicht die geringste Rolle für die Wahl einer Patientin bzw. deren Wahl eines Therapeuten oder Lehranalytikers. Erst wenn die drei Bedingungen der analytischen Therapie: Rahmen, Abstinenz und Asymmetrie der Beziehung unterlaufen, verwässert oder zerstört werden, kann es zum

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Missbrauch der einen oder anderen Qualität kommen; jedenfalls gibt es keine Zeugen, niemand sieht, was im Behandlungszimmer geschieht. Was aber Ausbildungsinstitute betrifft, erstreckt sich der Kontakt zwischen Lehranalytiker und Analysandinnen natürlich über das Behandlungszimmer hinaus ins Institut hinein, und der Raum für übergriffiges Verhalten, den das Institut entsprechenden Persönlichkeiten lässt, ist – wenigstens in der Vergangenheit – ziemlich groß.

Die Identifikation der Opfer und der Institutionen mit dem Aggressor Zur Abhängigkeit des Opfers vom Täter gehört die unterwerfende Identifikation mit dem Aggressor, die Ferenczi (1933/1964) zuerst beschrieben hat (Hirsch, 1996, 1997), eine Identifikation, die dem Täter Recht gibt – der würde sagen: »Mit dir kann man’s machen …«, sodass das Opfer fortan meint: »Mit mir kann man’s machen …« Diese Form der Identifikation dient auch dem System, sei es dem der Inzestfamilie oder auch besonders derartigen Machtverhältnissen in therapeutischen Beziehungen und in pädagogischen Institutionen und auch psychoanalytischen Ausbildungsinstituten. Jürgen Dehmers (2011, S. 263) zitiert aus einem Artikel Amelie Frieds, einer ehemaligen Odenwaldschülerin: »Sie schwärmt von der Schule mit ihren aufgeklärten, fortschrittlichen Lehrern, die in den 1970er Jahren ihren ›rebellischen Geist genährt‹, ihr Mut und Widerständigkeit beigebracht hat.« Dehmers weist auf die »permanente Relativierung« der Schulwirklichkeit hin, wenn er das doppelte Denken der Autorin zitiert: »Ja, die Übergriffe waren schrecklich, ja, es war unpassend, mit den Lehrern abends zu saufen, ja, ich fühlte mich vernachlässigt, […] aber es war doch auch schön, ja, aber zu Hause wäre es noch schlimmer gewesen, […] ja, aber hier bin ich herausgefordert worden, ja, aber hier konnte ich mich ausprobieren, ja, aber der Gerold war doch so nett« (Amelie Fried, zitiert nach Dehmers, 2011, S. 263). Hier sieht man deutlich die Funktion derartiger Identifizierungen (der Opfer selbst), nämlich die der Bagatellisierung der Realität des Missbrauchs- und der Machtverhältnisse, auch der Folgeschäden. Ähnlich hängen Identifikation und bagatellisierende Abwehr vonseiten der

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Institutionen zusammen, die aus Schuldabwehr oder besonders, um die Institution zu schützen, die Realität nicht sehen können oder wollen. Es gibt sehr viele Berichte über institutionelle Vertuschungs- und Verleugnungstaktiken der dann empörten, inzwischen erwachsenen Opfer. Als Pater Robert wegen seiner Grenzverletzungen verhaftet wird, verbietet der Abt allen Schülern, über den Fall zu reden (Obermayer u. Stadler, 2011, S. 49). Man lügt, indem man die Abwesenheit des Paters mit Krankheit begründet, während er im Gefängnis sitzt (Obermayer u. Stadler, 2011, S. 50). »Natürlich« ist der gute Ruf der Institution zu schützen (Obermayer u. Stadler, 2011, S. 137): Christian Füller (2011, S. 245) berichtet von Hartmut von Hentig, der betont, »dass sexuelle Handlungen an, mit oder vor Kindern falsch sind – auch mit ihrem Willen«, der aber fortfährt: »Die Leiden der Opfer hatte und habe ich nicht zu beurteilen.« Und dann weiter: »Beckers segensreiche Wirkungen sollten nicht so total verschwiegen werden, wie das jetzt geschieht.« Immer wieder werden die Taten gegen das »Werk« des Täters aufgerechnet. Füller (S. 180) berichtet von Sybille Volkholz, »eine[r] der bekanntesten Personen der bildungspolitischen Szene. Volkholz war Berliner Schulsenatorin, leitete viele Jahre die Bildungskommission der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung«: »›Gerold Becker habe ich als einen guten Pädagogen kennengelernt, der viele originelle Ideen hatte‹, sagte sie. ›Auch wenn ein Mensch schwere Schuld auf sich geladen hat, kann man doch nicht sein Werk völlig entwerten.‹ Becker wäre in ihren Augen ein ›einfühlsamer Mann‹« (S. 179). Man kann nach dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in psychoanalytischen Institutionen krasse Spaltungen erleben, in denen sich gegensätzliche Parteien unversöhnlich gegenüberstehen: Kollegen, die an der Idealisierung der entsprechenden Persönlichkeit festhalten und auf ihre Verdienste für das Institut und ihre Beliebtheit hinweisen, und andere, die sich mit den Opfern identifizieren und solidarisieren. Im Fall eines psychoanalytischen Instituts hatte der Leiter sich nicht nur zahlreiche, auch sexuelle Übergriffe geleistet, sondern hatte auch publizistisch Sexualität zwischen Analytiker und Analysandin propagiert. Als das Institut durch eine externe Gruppendynamikerin die Missbrauchskultur aufarbeiten wollte, ergab sich mitten durch die Institutsgruppe eine Spaltung zwischen klaren Verurteilern und ebenso klaren Befürwortern,

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die sich die Argumente des Leiters zu eigen gemacht hatten, und zu der letzten Gruppe gehörte sogar die Ehefrau des Grenzüberschreiters. Die Loyalität dem Missbraucher gegenüber wird oft nicht klar und deutlich ausgesprochen, es ist mehr eine identifikatorische Haltung, die sich bei mündlichen und schriftlichen Äußerungen (z. B. in der gruppendynamischen Aufarbeitung des Missbrauchs im Institut bzw. den schriftlichen Protokollen) eher zwischen den Zeilen äußert. Auch für das oben beschriebene psychoanalytische Institut gab es in der Identifikation mit dem Aggressor Stimmen, die den Missbrauch bagatellisierten und ihn mit den Verdiensten des Lehranalytikers aufrechnen wollten: So weist Kerstin Dittrich (Dittrich, 2011, S. 67 ff.), eine Kollegin, die selbst jahrelang als Vertrauensanalytikerin in der Ethikkommission der DGPT tätig gewesen ist (vgl. auch Antje Vollmer, Mitglied des Runden Tischs Heimerziehung, die die Odenwald-Geschehnisse relativierte), darauf hin, »dass Erstdarstellungen erheblich modifiziert werden müssen [nicht einmal oft zitiert werden müssen …]. Es gab Extremfälle, bei denen Borderline-Patienten ihre Analytiker jahrelang grundlos verfolgten« (Dittrich, 2011, S. 67). Weiter: »Tagegenau nach seinem Tod, noch vor der Trauerfeier, wird ›enthüllt‹ – was suggeriert, es habe vorher keinerlei Kenntnis über Fehlverhalten bestanden –, dass es sich um den mutmaßlich (Hervorhebung M. H.) schwerwiegendsten Fall eines habituellen Missbrauchers in der deutschen Psychoanalyse handelt.« Das »enthüllt« steht in Anführungszeichen; die Autorin spricht dann von »Einschätzung der angeblichen Vorkommnisse« (Dittrich, 2011, S. 67; Hervorhebung M. H.) und sie stutzt über »die unverkennbare Tendenz zur Dämonisierung der Person G. S.’s«. Die Autorin geht noch einen Schritt weiter: »Als ›vorbeugende Diffamierung‹ empfinde ich, wie sich Frau W. [Weidenfeller, 2010] über diejenigen Kollegen äußert, die ihre eigenen Erfahrungen mit einem geschätzten Lehrer und Ausbilder (Hervorhebung M. H.) mit diesen vernichtenden Darstellungen nicht in Deckung zu bringen vermögen und mit sehr guten Gründen von der Stichhaltigkeit der erhobenen Vorwürfe nicht überzeugt sind. Frau W. unterstellt ihnen, die ›eigentliche Wahrheit‹ leugnen zu wollen oder sogar einer infantilen Idealisierung erlegen zu sein.« Und dann, als ob durch die guten Eigenschaften des Protagonisten die Verfehlungen relativiert werden könnten, spricht Dittrich (S. 68) davon, dass er als »der positive Repräsentant der DPV und äußerst integrer Kollege« gegolten habe, ein »väterlicher Mentor

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und Lehrer«. Und als wäre nicht die Tat, sondern das Sprechen darüber das eigentliche Übel: »Die jetzt […] kursierenden Gerüchte haben bei den zahlreichen (ehemaligen) Ausbildungskandidaten, bei seinen Nachanalysanden, bei Bekannten und Freunden zu tiefer Irritation geführt.« Der Vorsitzende der Vereinigung antwortete lakonisch: Es seien keine Gerüchte, sondern Tatsachen, um die es ginge. In psychoanalytischen Institutionen gibt es also Identifikationsformen, die eher den Täter schützen und das Opfer alleinlassen. Kommen Missbrauchsfälle in psychoanalytisch-psychotherapeutischen Instituten vor, entstehen, wie erwähnt, häufig Spaltungen der Institutsgruppe – die einen sind mehr mit dem Opfer, die anderen mit dem Täter identifiziert, der als tragische Figur gesehen wird, der zwar Schuld auf sich geladen und sich verstrickt hat, aber doch seine Verdienste hat, die man auch sehen müsse. Einmal wurde ich zur Durchführung einer ganztägigen Fortbildungsveranstaltung zum Thema »Macht« eingeladen. Ich sah mich konfrontiert mit einer Großgruppe von über dreißig Teilnehmenden, sämtlich Dozenten und Lehrtherapeuten/Lehrtherapeutinnen eines überregionalen Vereins zur Psychotherapieweiterbildung. Der Schwerpunkt meiner impulsgebenden Ausführung lag bei narzisstischem Machtmissbrauch in Institutionen, ich hatte aber gleich das Gefühl, gegen eine Wand zu sprechen. Es gab keine Rückmeldungen, die rudimentäre Diskussion verlief schleppend. Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich die Dynamik des großen Arbeitswiderstands nicht verstand. Da meldete sich eine Teilnehmerin zu Wort, die – endlich – ein »Familiengeheimnis« preisgab: Man könne hier nicht so abstrakt diskutieren, noch dazu am eigentlichen Thema insofern vorbei, als es doch um sexuelle Macht gehe, begangen von einem nicht anwesenden Mitglied des Verbandes, der sich mehrerer sexueller Übergriffe Ausbildungsteilnehmerinnen gegenüber schuldig gemacht hatte. Nun erst begann eine zunehmend lebhafte Diskussion, in der die Ambivalenz dem Kollegen und den Vorfällen gegenüber durch Spaltung in die geschilderten Parteien zu bewältigen versucht wurde, eine Spaltung, die unter diesen Umständen nicht überwunden werden konnte, denn die Ambivalenz war schon in der Einladung begründet: Aufarbeitung des Missbrauchs durch mich als externen Gruppendynamiker, dem aber gleichzeitig verschwiegen wurde, worum es eigentlich ging.

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Vier Gutachten zu einem Missbrauch in der Analyse Vor Jahren erhielt ich die informelle Anfrage eines Vorstandsmitglieds eines psychoanalytischen Berufsverbands, ob ich ein Gutachten übernehmen könne, inwieweit die sexuelle Beziehung einer Analytikerin mit ihrem Patienten einem Behandlungs- bzw. Kunstfehler entspräche und wieweit seine Schadensersatzforderungen berechtigt seien. Ich stimmte zu; bald darauf wurde ich von dem betreffenden Zivilgericht angefragt, und ich übernahm die Aufgabe, ein solches Gutachten zu schreiben. Wichtig war, dass der Auftrag vom Gericht kam, nicht etwa von der Beschuldigten; schon deshalb fühlte ich mich in meiner Beurteilung ganz frei und begann ein intensives Literaturstudium, bestellte auch den Kläger zu zwei Interviews und korrespondierte mit der Beklagten, um Unklarheiten zu beseitigen. Ich schickte das fertige Gutachten ans Gericht, bekam aber lange Zeit keinerlei Rückmeldung. Auf einer Tagung begegnete mir der Kollege, von dem ich die Anfrage bekommen hatte, der mich wütend anfuhr, was mir eingefallen sei, ich hätte die Kollegin doch exkulpieren sollen! Konsterniert entgegnete ich, mir sei ein solcher Auftrag nicht erteilt worden (das eventuelle augenzwinkernde, averbale Vorwegnehmen meines Ergebnisses, das die Kollegin entlasten sollte, hatte ich allerdings nicht wahrgenommen), ich hätte nach bestem Wissen und Gewissen wissenschaftlich argumentiert. Da sagte er: »Dann hätten Sie den Auftrag zurückgeben müssen!« Das aber war keineswegs der Fall, denn nicht die Beklagte, sondern das Gericht hatte mich beauftragt. Erst nachdem die Klage auch in der zweiten Instanz zurückgewiesen worden war, bekam ich vom Rechtsanwalt des Klägers, der meine Argumentation ohne Weiteres nachvollziehen konnte, die Gutachten von drei Kollegen zugeschickt, die sämtlich gegensätzlicher Auffassung waren als ich. Beide Gerichte schlossen sich diesen Gutachten an. Sexuelle Beziehungen in Abhängigkeitsverhältnissen, besonders in therapeutischen, fanden erst im April 1998 Eingang ins Strafgesetzbuch. Wieweit die Gutachten in den damaligen Zeitgeist passten, wie die Gutachten heute ausfallen würden, auch ob sie anders ausgefallen wären, wenn es sich um einen männlichen Therapeuten und eine weibliche Patientin gehandelt hätte, mag dahingestellt bleiben. Die sexuelle Beziehung in diesem Fall begann direkt, nachdem die Einzelanalyse abrupt beendet worden war, der Patient sich aber noch

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weitere sechs Wochen in der von seiner Analytikerin geleiteten psychotherapeutischen Gruppe befand. Weil also von der Auflösung einer Übertragungsbeziehung keine Rede sein konnte, befand ich eine klare Verletzung der Abstinenz von Kunstfehlercharakter, relativierte aber die Möglichkeit der Kausalität zwischen der Beziehung und den später aufgetretenen Symptomen des Patienten deutlich. Hier nun Beispiele der Identifikation der Berater und Gutachter mit der Kollegin: Der Patient hatte sich wegen einer fachlichen Stellungnahme zur Aufnahme einer realen Beziehung zu seiner Therapeutin an Herrn Prof. E. (emeritierter Ordinarius der Universität Y.) gewandt. Herr Professor E. sagte Herrn G. damals, er sei ein »freier Mann« und solle tun, was er für richtig halte. Was die Analytikerin tun oder nicht tun sollte, ist wohl nicht besprochen worden. In seinem Gutachten kommt Dr. A. zu dem Schluss: »Die zitierten Auffassungen, dass der Abbruch bzw. die Beendigung der Therapie das Abstinenzgebot nicht aufhebe, stellen ›berufsethische Normen‹ dar, die zwar – im Falle einer Verfolgung – Gegenstand eines Standes-, jedoch nicht straf- oder zivilrechtlichen Verfahrens sein könnten« (zitiert nach Hirsch, 2012, S. 188). Dr. A. wird nicht erkannt haben, dass er sich in seiner Argumentation im Sinne der »dritten Option« (Buchholz, Lamott u. Mörtl, 2008) widerspricht, d. h., eine unklare Aussage wird von einem unklaren Widerspruch in einem Atemzug konterkariert: »Sobald sie erkannte, dass sie begann, am Charakter der Gefühle von Herrn Ganter als ›Übertragungsliebe‹ zu zweifeln, betrieb sie [!] (einvernehmlich mit Herrn Ganter) den Abschluss der Therapie und nahm eine reale Beziehung zu ihm erst nach einer Latenzzeit von mehreren Wochen nach Abschluss dieser Therapie auf« (zitiert nach Hirsch, 2012, S. 188). Das heißt, die Kollegin »betrieb« aktiv das Ende der Therapie, weil sie annahm, es handele sich nicht mehr um Übertragung. Die privaten Treffen waren jedoch schon eine »reale Beziehung«, nicht erst der sexuelle Kontakt. In seinem Gutachten, in dem er die Kollegin exkulpiert, schreibt Professor B.: »Die Therapie ist zwar nicht zu ihrem intendierten Ende gekommen, sie wird aber in geordneten Bahnen und in beiderseitigem Einverständnis abgelöst durch eine neue Gemeinsamkeit zwischen einem ›freien

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Mann‹ [hier folgt Professor B. dem Votum von Professor E.] und einer Frau, die erkennbar souverän handelt, beizeiten erkennt, dass die Therapie so nicht weitergehen kann, für sich Rat holt, für Herrn G. Rat schafft. […] Nichts macht hier den Eindruck der Unbedachtheit, Überstürztheit, Übervorteilung, Machtausübung usw.« (zitiert nach Hirsch, 2012, S. 190). Professor B. zieht ein Fazit: »Frau Dr. […] hat anlässlich der psychotherapeutischen Behandlung des Herrn […] nicht gegen Verhaltenspflichten und/oder Sorgfaltspflichten verstoßen, insbesondere hat sie nicht ein Abstinenzgebot verletzt« (zitiert nach Hirsch, 2012, S. 190). Aus dem Gutachten von Professor C.: Professor C., ein renommierter Psychoanalytiker, weist erst einmal auf die Schwierigkeiten der Therapie und auf die Besonderheiten der therapeutischen Beziehung hin: Es gehe um »narzisstische Verletzungen«, »ein sehr aggressives Verhältnis zu der behandelnden Therapeutin«, »später ein zunehmend anhängliches [Verhältnis], was ihm die Trennung auch während nur kurzer Therapiepausen erschwerte […], Therapiepausen sind für den Pat. fast eine Katastrophe«. Auch Professor C. spricht viel mehr vom Erleben und Verhalten des Patienten, selten vom Erleben und Verhalten der Analytikerin. Aber er kritisiert durchaus auch die Analytikerin: Wenn Frau Dr. […] geglaubt habe, sie müsse sich in den Patienten verlieben – »Liebe wegen Suiziddrohung« –, »wäre ihr in der Tat ein Mangel an Professionalität zuzurechnen«. Und er meint, es lasse sich »trefflich streiten«, ob es sich um eine »schonende Beendigung« gehandelt habe, wie die Analytikerin behauptete. Zur Persistenz der Übertragungsqualitäten nach Beendigung von Therapien konzidiert Prof. C., »dass die Erfahrung weltweit zeigt, dass Beziehungen nach Beendigung von Therapien potentiell von erheblichen Belastungen bedroht sind, die aus unaufgelösten, unbewussten Beziehungserwartungen (d. h. Übertragungen) stammen, so ist doch für den Einzelfall keine kausale Notwendigkeit anzunehmen, wie schon von Prof. E. angemerkt«. Und weiter: »Dass es Empfehlungen der Fachgesellschaften geben sollte und inzwischen auch verschiedene derartige Stellungnahmen vorliegen, ändert m. E. nichts an der Freiheit beider Beteiligter nach Beendigung einer Psychoanalyse.« Man erinnert sich wieder an die »dritte Option«, mit der Buchholz et al. (2008) eine Argumentation beschreiben, die weder Ja noch Nein meint, das eine zugibt und es gleich wieder bestreitet, um das andere dagegenzusetzen.

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Professor C. folgt nun voll und ganz der Einschätzung Professor E.’s, Herr G. sei »ein freier Mann«. Professor C. meint nämlich, »dass mit Beendigung der Behandlung nach beiderseitiger Absprache Chancen und Risiken auf beiden Schultern der Beteiligten gleich verteilt sind. Dass Herr G. nur die Chancen einer freiheitlichen Position und nicht auch die Risiken eines Missglückens der angestrebten Beziehung ins Auge zu fassen schien, kann der Beklagten m. E. nicht angelastet werden. Ob es vernünftig für Psychotherapeuten ist, sich nach einer Behandlung auf eine intime Freundschaft mit deinem Ex-Patienten einzulassen, steht auf einem anderen Blatt.« Stets wird betont, der Patient sei ein freier Mann, er ist also der Mann, der frei ist, die Initiative zu ergreifen. Ob die Analytikerin eine freie Frau sei, wird nicht einmal gedacht.

Sehen und nicht sehen Wer verleugnet und bagatellisiert, muss ein implizites Wissen und ein entsprechendes Schuldgefühl haben, deshalb ja die Abwehr. Das erklärt auch sowohl das Nicht-Handeln der gesamten Lehrerschaft der Odenwaldschule über Jahre hinweg, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen. Christian Füller (2011, S. 98) spricht von einer »Zweiteilung in den Doppelstaat Odenwaldschule von besonderer Fürsorge und gleichzeitigem Missbrauch, von Wissen und Nicht-Wissen«. Auch nach Aufdecken der Missbrauchskultur gab es heftige Verleugnungstendenzen, die sich zweier Strategien bedienten: Einmal wurde behauptet, die Realität des Missbrauchs zu benennen, würde die einzigartige Reformpädagogik zerstören, etwa: »Wenn ihr das öffentlich macht, macht ihr die Schule zu!« (zitiert nach Dehmers, 2011, S. 129), und zum anderen müsse man doch anerkennen, wie viel außerordentlich Bedeutendes der Haupttäter Becker für die Reformpädagogik getan habe, und schon deshalb müsse man endlich einen Schlussstrich ziehen und zur Tagesordnung übergehen. Beide Aufrechnungen sind genau gesehen irrational. (Auch in dem von mir oben zitierten, gut dokumentierten Fall eines psychoanalytischen Ausbildungsinstituts wurde auf die Verdienste, gar die Beliebtheit des Missbrauchs-Analytikers sozusagen strafmildernd hingewiesen.)

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Für die Odenwaldschule bemerkt Füller (2011, S. 99): »Die Nebentäter haben sich schuldig gemacht – und weigern sich aus diesem Grund, über die Haupttäter zu sprechen. Sie sind Teil des Schweigekartells, das immer noch rund um die Haupttäter gebildet wird.« Auch im Kloster Ettal gab es, wie überhaupt über Jahrzehnte in konfessionellen und anderen privaten Institutionen, eine »systematisch praktizierte Kultur des Wegschauens und Verschweigens«, so im Zwischenbericht kurz nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle im Kloster Ettal und anderen katholischen Internaten (Obermayer u. Stadler, 2011, S. 26). Wenigstens hundert Schüler seien »systematisch misshandelt und missbraucht worden«, die Kultur des Wegschauens und Verschweigens habe den Tätern ihr Treiben erst ermöglicht. Die Abwehrstrategien der Vertreter der Institution waren auch im Falle des Klosters Ettal bemüht, den guten Ruf der Schule zu erhalten. »Das Lebenswerk darf nicht in Gefahr geraten. Nicht das Lebenswerk einzelner Mönche, nicht der Ruf Ettals als Vorzeige-Internat. Vor diesem Hintergrund ist die ehrliche und umfassende Aufklärung kaum möglich. Denn es darf kein ›System Ettal‹ geben« (Obermayer u. Stadler, 2011, S. 254). Auch in den psychoanalytisch/psychotherapeutischen Institutionen gab es jahrzehntelang eine Kultur des Wegschauens, des Nicht-Redens, des Nicht-Wahrhabenwollens. In einem psychoanalytischen Institut gab es den Fall eines aufgrund einer schließlich diagnostizierten schweren psychischen Störung fast verwahrlosten Lehranalytikers, der zwar keine sexuellen Übergriffe begangen hatte, sich aber vielfältige Funktionalisierungen, Unzuverlässigkeiten, Einblicke in sein Privatleben und Rollenumkehrforderungen seinen Analysandinnen gegenüber geleistet hatte. Als sich eine betroffene Kandidatin an das Institut um Hilfe wandte, sagte man ihr, man wisse darum, habe auch schon Gespräche mit ihm geführt, aber sie solle doch bedenken, wenn das öffentlich werde, verliere das Institut die Zulassung und könne dichtmachen – das werde sie doch nicht wollen. Ganz ähnlich erging es ehemaligen Schülern der Odenwaldschule, die Opfer geworden waren und sich an Die Zeit wandten, von deren Redaktion sie zur Antwort bekamen, »dass man ›wegen ein paar missbrauchter Kinder die Reformpädagogik nicht kaputt machen werde‹« (Dehmers, 2011, S. 138). Gisela Krauss (2011, S. 70) berichtet aus den Anfängen ihrer Arbeit als Vertrauensanalytikerin:

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»Die Frage war: Wie kann man die sich meldenden Patienten und Lehranalysanden (LA) bzw. Ausbildungskandidaten (AK) schützen und stabilisieren? Wie geht man mit einem bis dahin geschätzten und oft in den jeweiligen Instituten verwurzelten Kollegen um, der solcher Grenzverletzungen beschuldigt wird – und das alles in einer schutzgewährenden Anonymität? Die Institutsmitglieder waren in Aufruhr und gespalten: Was und wem sollte man glauben? Sollte man wirklich versuchen, das alles aufzuklären, gar aufzuarbeiten oder doch besser unter den Teppich zu kehren, um ›der Psychoanalyse nicht zu schaden‹?« Inzwischen aber ist ein deutlicher Wandel eingekehrt; entsprechende Ethikkommissionen der Berufsverbände arbeiten inzwischen wirkungsvoll und solidarisieren sich mit den Opfern, besonders, nachdem auch Sexualität mit erwachsenen Abhängigen als Straftat Eingang ins Strafgesetzbuch gefunden hat (§ 174c seit 1998).

Schlussbemerkung Wie Freud (1915/1946) mit Sorge festgestellt hat, sind alle Analytiker gefährdet – denn sie spielen gewissermaßen mit dem Feuer –, über den sexuellen Missbrauch weit hinausgehend eigene narzisstische Bedürfnisse entgegen dem Interesse der Patienten einzubringen und sich in manchmal subtiler Weise von ihnen narzisstische Zufuhr zu holen. Nicht die Ausbeutung allein, nicht Sexualität als solche – die man aber nicht von der Beziehung trennen kann – ist destruktiv, vielmehr ist es die Pervertierung der Versorgungsrichtung – schließlich sollte der Mächtige Diener des Schwachen sein, die Eltern für das Kind, der Lehrer für den Schüler, der Analytiker für die Analysandin sorgen. Destruktiv ist die illegitime Verwendung legitimer abhängiger Liebe für die eigene narzisstische Aufwertung und destruktiv ist die »Sprachverwirrung« (Ferenczi, 1933/1964), die ja eine Verwirrung über die verschiedenen Definitionen von Liebe ist. Die destruktive Wirkung wird verstärkt durch die Verschleierung und Vertuschung dieser sozusagen neuen, wahren Beziehungswirklichkeit, sodass im Abhängigen Verwirrung und Hilflosigkeit entstehen, die er mit Dritten nicht klären und zurechtrücken kann, denn es gibt keine Zeugen, wenn die Institution versagt.

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Inzestuöse sexuelle Ausbeutung eines Kindes in der Familie oder einer Patientin (eines Patienten) in der therapeutischen Beziehung verstehe ich als extreme Ausbildung, sozusagen als Modellfall einer solchen Dynamik. Man trifft sie darüber hinaus in mehr oder weniger subtiler Ausprägung überall an, in jeder Institution in Bereichen wie Bildung, Politik, Wirtschaft und vor allem in helfenden Berufen und Ausbildungsverhältnissen, indem die Zerstörung umso größer sein muss, je intimer die Beziehungen von Mächtigen und Schwachem, Beschützern und Schützlingen sind.

Literatur Buchholz, M. B., Lamott, F., Mörtl, K. (2008). Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern. Gießen: Psychosozial-Verlag. Dehmers, J. (2011). »Wie laut soll ich denn noch schreien?« Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Reinbek: Rowohlt. Dittrich, K. (2011). Zu den Anschuldigungen gegen Henning Graf v. Schlieffen. DPV-Informationen, 51, 67–68. Erdheim, M. (2005). Das Traumatisierende an der Macht. In A. Springer, A. Gerlach, A.-M. Schlösser (Hrsg.), Macht und Ohnmacht (S. 11–25). Gießen: Psychosozial-Verlag. Ferenczi, S. (1933/1964). Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. In Bausteine der Psychoanalyse (Bd. III, S. 511–525). Bern: Huber. Freud, S. (1915/1946). Bemerkungen über die Übertragungsliebe. GW X, S. 306–321. Frankfurt a. M.: Fischer. Füller, C. (2011). Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln: DuMont. Hirsch, M. (1987/1999). Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie (3., überarb. Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag. Hirsch, M. (1996). Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor – nach Ferenczi und nach Anna Freud. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 45, 198–205. Hirsch, M. (1997). Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (2012). »Goldmine und Minenfeld« – Liebe und sexueller Machtmissbrauch in der analytischen Psychotherapie und in anderen Abhängigkeitsverhältnissen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Katsch, M. (2012). Es hört nicht auf, es wird nur anders. Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche: Zwischenbilanz eines Betroffenen. Süddeutsche Zeitung, 28./29.1.2012.

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Kernberg, O. F. (1985; dt. 1988). Innere Welt und äußere Realität. Anwendungen der Objektbeziehungstheorie. München u. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse. Kernberg, O. F. (1994). Liebe im analytischen Setting. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 48, 808–826. Krauss, G. (2011). Erfahrungen einer Vertrauensanalytikerin der DGPT. Psychoanalyse im Widerspruch, 23 (46), 67–78. Obermayer, B., Stadler, R. (2011). Bruder, was hast Du getan? Kloster Ettal. Die Täter, die Opfer, das System. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Person, E. S. (1994). Die erotische Übertragung bei Frauen und Männern: Unterschiede und Folgen. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 48, 783–807. Weidenfeller, G. (2010). Zu Peter Zagermanns Beitrag und zu den Vorgängen in der PAM. DPV-Informationen, 48, 19–20. Zagermann, P. (2010). Thesen zum Herz der Finsternis. DPV-Informationen, 48, 11–19.

Petr Günsberg

Willkommen im Land der Feinde Der psychotherapeutische Umgang mit Ressentiments einer speziellen Gruppe von Migranten

Zusammenfassung Der auf einem Vortrag beruhende Text beschäftigt sich mit Ambivalenzen, die bei der Integration in ein fremdes Land – das zugleich ehemals Feindesland war – auftreten können. Berücksichtigt werden dabei Sprache, Kultur, Geschichte und insbesondere die vorhandenen und tradierten Ressentiments dem neuen Land gegenüber. Soziale und psychische Integration kann nur gelingen, wenn alle mit diesem Prozess verbundenen Prozesse aufgedeckt, benannt und aufgearbeitet werden. Die Problematik wird an zwei Fallvignetten verdeutlicht.

Aus eigener Erfahrung und aus zahlreichen Gesprächen mit Patienten beschäftigen mich schon länger der schwierige und von hoher Ambivalenz geprägte Alltag sowie die psychischen Belastungen von Menschen, die in einem anderen Land geboren wurden und nun aus unterschied­ lichen Gründen in der neuen Heimat leben – einer Heimat, die zugleich oft als ehemaliges Feindesland erlebt wird. Meine Idee ist, dass alte und vorhandene Feindschaft und Ressentiments nicht einfach an der Grenze zu dem neuen und hoffentlich sicheren Land abgelegt werden wie alte Kleidungsstücke. Man nimmt sie wie in einem unsichtbaren Koffer mit und muss mit ihnen umgehen. Sie durchdringen die anstehende Integration und erschweren diese, weil Ressentiments überprüft und neu bewertet werden müssen und zugleich doch auch eine wichtige stabilisierende Funktion haben. Dieser Prozess kann der anstehenden Integration im Wege stehen. Hinzu kommt, dass sie in einer Fremdsprache stattfindet, der wichtige Merkmale und Faktoren einer Muttersprache fehlen. Nun haben die politischen Umstände der letzten Monate das Thema Flucht und Migration dramatisch aktualisiert, und es scheint, als sei mein Thema gar nicht mehr interessant oder wichtig, weil offenbar andere Aspekte der derzeitigen Krisenbewältigung im Vordergrund

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stehen. Ich denke dennoch, dass nur ein genaues und besonnen-differenziertes Hinsehen und das Verstehen des Prozesses die Integration gelingen lassen kann. Augenblicklich kommt es mir beim Lesen der Nachrichten, Dossiers und zahlreichen mehr oder weniger erhellenden Expertenartikel so vor, als würden unter dem Druck, schnell handeln zu müssen, trennende Aspekte – wie z. B. die fehlende gemeinsame Sprache und kulturelle Unterschiede – als solche nicht wahrgenommen und übersehen. Die Kenntnis und Beachtung gerade auch der trennenden (Vor-)Erfahrungen ist aber notwendig, um die Integration im neuen Land gelingen zu lassen. Ich vermute, dass das in der deutschen Bevölkerung übrig gebliebene Schuldgefühl aus dem Zweiten Weltkrieg dazu führt, vorwiegend versorgend zu agieren und dabei vor allem das interpersonell Trennende im öffentlichen Diskurs auszublenden oder es im Gegenteil ausschließlich und insofern ausschließend zu betrachten. Dadurch bleibt jedoch nicht nur die Komplexität gesellschaftlicher und psychischer Strukturen von Flucht und Integration verschwommen; es besteht zudem die Gefahr, die individuell unterschiedlich motivierten intrapsychischen Vorgänge während der Integration zu übersehen. Aus meiner Kenntnis und therapeutischen Erfahrung heraus kann dies mittelfristig zu weitreichenden Problemen führen – jenen ähnlich, die sich seinerzeit aus den von Irrtümern und Vorurteilen durchsetzten Vorstellungen vom »richtigen« Umgang mit nicht einheimischen Arbeitern direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet hatten. Damals hat die Präsenz der rund acht Millionen Zwangs- und Fremdarbeiter und die noch vorhandene diffuse rassische Vorstellung von Volkszugehörigkeit eine eindeutige Abgegrenztheit nahegelegt, die sich in den 1950er Jahren auf den Umgang mit den neu rekrutierten »Gastarbeitern« übertrug. So viel in verkürzter Form zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation in Deutschland, die sich nahezu täglich mit weiteren Beobachtungen ergänzen lässt. Ich möchte mich nachfolgend vorrangig mit drei Aspekten der Integration beschäftigen: mit der Dynamik von Flucht, mit der Sprache und mit Ressentiments. Meine Überlegungen werde ich anhand von Literaturbeispielen und Fallvignetten beispielhaft verdeutlichen, wobei ich mich schwerpunktmäßig mit dem Trennenden und mit Aspekten negativer Übertragung in Behandlungen beschäftigen werde.

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Petr Günsberg

Tiefgreifende Ambivalenz Wie mag es sein, in das Land eines ehemaligen Feindes emigrieren zu müssen, um zu überleben, zu arbeiten, zu studieren und ein normales Leben führen zu können? Dies ist ein Aspekt, der sich auf die ohnehin schon schwierige Situation der Flucht gleichsam aufsattelt. Arno Gruen spricht in diesem Zusammenhang von einem eigentümlichen Zustand des »inneren Exils« als Widerstand gegen und Schutz vor der fremden Umgebung zugleich: Das »Drinnen-Sein« in der Gesellschaft – ganz praktisch gemeint, aber auch als psychisches Phänomen – bedeutet seiner Meinung nach den Verlust des »Draußen-Seins«, also sozusagen das Noch-mit-einem-Bein-im-alten-und-vertrauten-LebenStehen (Gruen, 2012). Die Integration wird zuweilen zu dem schier unmöglichen Spagat, an der Herkunft festhalten zu wollen und sich zugleich auf das Neue einzulassen. Wie geht das Seelische mit dieser Situation um, in der sich womöglich alte und tradierte Ressentiments – die sich oft aus früheren eigenen oder delegierten Überresten von Verletzungen entwickelt haben – mit den Wünschen nach einem neuen zufriedenen Leben kreuzen? Und wie verarbeitet man diese alten (und mitgebrachten) Verletzungen und wie werden sie integriert, um wieder in einer Gemeinschaft ankommen und sich aufgehoben fühlen zu können, ohne sich dabei massiver Abwehrmechanismen wie der Spaltung oder unangemessener Projektionen bedienen zu müssen?

Was Begriffe transportieren Der Begriff »Emigration« umfasst an sich schon viele einzelne Aspekte und Perspektiven, komplexe psychische Strukturen und letztlich auch daraus resultierende Verhaltensweisen. In meiner Praxis begegne ich immer wieder Patienten mit Migrationserfahrung – bei ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten und zugleich einer sich ähnelnden Symptomatik –, die erst nach längerem Zögern und Behandlungsverlauf in der Therapie über innere diffuse und sich oft widersprechende Gefühle und Konflikte sprechen und damit eine teils bewusst, teils unbewusst verborgene, innere Welt offenlegen.

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Dies geschieht unabhängig vom Alter, Geschlecht oder Bildungsstand. Zunächst mag es so ausgesehen haben, als sei die narzisstische Hülle intakt geblieben. Im Verlauf der Therapie werden dann aber Konflikte deutlich, die ihrer Struktur nach neurotisch sind. Bei näherer Betrachtung lassen sich entwicklungsbedingte Fixierungen feststellen, die durch eigene Fluchterlebnisse oder durch das Aufwachsen in Flüchtlings- und Migrationsfamilien in erster oder zweiter Generation in eine Störung von Krankheitswert münden. Dies kann sich unter anderem in verfestigten und schwer auflösbaren Loyalitäten der Familie gegenüber äußern, die spätestens in der Adoleszenz und beim Auszug aus der Familie zu auffälligen Symptombildungen führen. Diese Konflikte stellen somit eine Anpassungsproblematik dar, zu der eine neurotische Störung hinzukommen kann. Dadurch entsteht ein psychodynamisches Gemisch, das durch seine Komplexität diagnostisch nur schwer zu differenzieren ist. Ein früher üblicher, psychoanalytischer Blick auf diese Phänomene, der den Sachverhalt bis in die 1970er Jahre im Sinne Melanie Kleins (1962) als »frühen Konflikt« interpretierte, führte nicht selten in der therapeutischen Beziehung zu Missverständnissen und bei betroffenen Patienten zu dem Gefühl, im empfundenen Leiden missachtet und entwertet zu werden. Davon berichteten ehemalige Patienten mit KZ- und Kriegserfahrungen, denen ich begegnet bin. Besonders plastisch ist das Thema in dem Buch »Spätschäden nach Extrembelastungen« von Hans Joachim Herberg (1971) beschrieben, in dem Referate einer internationalen medizinisch-juristischen Konferenz aus den Jahren 1969–1971 dokumentiert sind. In diesen Texten finden sich erschreckende Beispiele unzureichender Fachkenntnisse und zugleich das Fehlen eines psychodynamischen Verständnisses für die Betroffenen – wenn etwa postuliert wird, Neurosen seien genetischen Ursprungs, oder wenn unterstellt wird, Säuglinge und Kinder würden bis zum dritten Lebensjahr traumatische Ereignisse gar nicht richtig wahrnehmen und brauchten sie deshalb auch nicht zu verarbeiten. Mit solcherlei »Theorien« versuchte man tatsächlich, KZ-Kindern, sofern sie überlebt hatten, Entschädigungen zu verwehren. Doch zurück zum Thema Migration und Integration: »Migration« hat viele Namen. Noch vor etwa vierzig Jahren ging man ins »Exil« oder, etwas blumiger formuliert, in die »Emigration« – obwohl man

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in Wirklichkeit meist vor einer Verfolgung mehr oder weniger Hals über Kopf die eigene Heimat verließ. Im heutigen (deutschen) Sprachgebrauch werden »Emigranten« nun zu »Asylanten« und »Flüchtlingen« oder auch zu »Wirtschaftsflüchtlingen«. Den Bezeichnungen lassen sich weitere hinzufügen, z. B. »Kriegsflüchtlinge«, »Vertriebene«, »Zuwanderer« oder »Immigranten«. Dabei liegen den verschiedenen Bezeichnungen jeweils ganz unterschiedliche Blickwinkel (und somit indirekt auch Identifikationsmuster) zugrunde: Einmal wird die Handlung aus der Perspektive des Fliehenden beschrieben, ein andermal aus der Perspektive derer, die Fremde im eigenen Land aufnehmen. In den unterschiedlichen Bezeichnungen sind diese Perspektiven implizit enthalten: Im »weg von«, »aus heraus« (lat. ex) und im »hin zu« oder »hinein« (lat. in/im) spiegelt sich die Perspektive des Fliehenden, der Begriff des Asylanten greift eher die Perspektive derjenigen auf, die bereits im neuen Land leben und mit den plötzlichen Neuankömmlingen umgehen müssen, also die Sicht der Einwohner. Emigranten sind mit dem Exil identifiziert, also mit der unfreiwilligen Flucht und dem Verlust der Heimat. Das erschwert das Ankommen im neuen Land – ganz im Gegensatz zu Migranten, die zunächst das Neue im Gastland suchen und für die der Verlust nicht im Vordergrund steht. Der Migrant hat im Gegensatz zum Exilanten seine Heimat nicht grundsätzlich verloren; er kann immer wieder zurück, mit der Familie telefonieren und ihr von seiner Reise und den Erlebnissen erzählen etc. Heute kann die Familie zudem die Reise per Facebook zu Hause mitverfolgen. Der Exilant ist abgeschnitten von seiner Heimat, der Familie, den vertrauten Ritualen. Salman Akhtar, ein amerikanischer Psychoanalytiker, der in Indien geboren wurde und in Virginia lebt, beschreibt dies wie folgt (2007, S. 114): »Die Flucht beraubt ihn [den Exilanten] der Möglichkeit, durch Kontakte mit dem Heimatland ›emotional aufzutanken‹, in Anlehnung an Margaret Mahler, und sich damit seiner inneren Verbindung zu seinem Land zu vergewissern.« Julia Kristeva, eine gebürtige Bulgarin, Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin, sieht in dem Flüchtigen eine besondere Verletztheit, verursacht durch den Verlust der Muttersprache und der Heimat (Kristeva, 1993). Zugleich erkennt sie bei ihm eine besondere Anpassungsleistung – und zwar die Fähigkeit zur Triangulierung der neuen Situation, weil ihm durch die Flucht oder das

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Exil das Dyadische (der Muttersprache) abhandengekommen ist und er sich im Grunde schlagartig in einer trianguliert-erwachsenen Welt wiederfindet. Als weiteres Charakteristikum versteckt er seine innere Verletzung durch diese besondere äußere Anpassungs- und Leistungs­ fähigkeit, eine Verletzung, die ihm oft selbst verborgen bleibt. Folgt man Julia Kristeva, so fühlt sich der Flüchtling keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe. Der Raum des Flüchtigen ist ein fahrender Zug, ein fliegendes Flugzeug, ein jedes Anhalten ausschließendes Transitgefühl.

Der Spalt im Erleben und die Rolle der Übergangsobjekte Diesen Verlust und diese Verletzung kenne ich auch aus eigener Erfahrung: Es dauerte 21 Jahre, bis ich nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes wieder in die Tschechoslowakei fahren konnte, da meine Eltern in Abwesenheit zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurden und wir außer Landes bleiben mussten. In der Zwischenzeit gab es keinen Kontakt zu Familienangehörigen ohne eine Störung seitens der Sicherheitsorgane, keine Möglichkeit, zu Beerdigungen zu fahren oder bei Hochzeiten mitzufeiern; Freundschaften rissen ab oder überdauerten die Zeit nicht. Mein Kinderzimmer war weg, mitsamt den für mich wichtigen und vertrauten Gegenständen, früheren Übergangs­ objekten, wie sie sich in jedem Kinderzimmer ansammeln. Zum Übergangsphänomen und dem Transitgefühl äußerte sich Edward Said, ein palästinensischer Literaturtheoretiker und Publizist. Er schrieb dazu in seinem Buch »Reflections on Exile« (2013, Kap. 17): »Exilanten nehmen mindestens zwei Realitäten gleichzeitig wahr, diese Pluralität des Blicks schafft eine Wahrnehmung gleichzeitiger Dimensionen, die kontrapunktisch ist« (eigene Übersetzung). In diesem Sinne wird die neue Lebensrealität stets verglichen mit der verloren gegangenen, und es stellt sich immer wieder die Frage: Was hätte anders werden können im verlorenen Leben? So entsteht ein permanent doppelter Blick, bestehend aus der Außenbetrachtung eines Fremden und der Innenbetrachtung im Hier und Jetzt. Dies sind Parallelprozesse, die nach außen hin unsichtbar bleiben und oft zu einer Art »Spalt« in der Unmittelbarkeit des aktuellen Erlebens führen. Dies ist ein die Wahrnehmung betreffender, bedeut-

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samer Aspekt, weil er auch die Doppeltheit und dadurch die Verlangsamung der Aufnahme und Bearbeitung von Sinneseindrücken bestimmt. Diese Verlangsamung behindert das unmittelbare Empfinden eines Gemeinschaftserlebens und Gefühls, was zu Zuständen der passageren Einsamkeit führt. Verschiedenste Formen von Übergangsobjekten sind bei dem inneren und äußeren Integrationsprozess von Bedeutung; diese fehlen allerdings bei Emigranten und Exilanten oft (dabei spielt es auch eine große Rolle, dass sie sich nicht wesentlich von den Übergangsobjekten des neuen Landes unterscheiden). Zu Übergangsobjekten zählen z. B. gemeinsame Rituale, etwa religiöse wie Taufe oder Kommunion etc. Kommt man aus einem säkularen Land oder etwa aus einem muslimischen, kann das schon sehr schwierig sein. Ehemalige DDR-Bürger, insbesondere solche, die zur Wende Kinder waren, erzählen mir des Öfteren, welche vertrauten Rituale, Lieder oder Fernsehsendungen nicht mehr Teil ihrer aktuellen Lebensrealität sind. Zwei von etwa fünf Übergangsobjekten konnte ich in meinem Fall retten und bis heute hüten; sie bilden vielleicht auch die Grundlage meines Berufes: Das eine ist ein Krankenwagen-, das andere ein U-Boot-Modell – beides steht vielleicht für meine Arbeit mit dem ­Unbewussten.  Sie werden sich vielleicht fragen: Ist das wichtig? Mir klingt seit Jahren der schwere Seufzer einer Patientin im Ohr, die sich, nachdem ihre Kindheit in der DDR scheinbar gar keine Rolle mehr spielte, darüber empörte, dass ihr Geburtsland plötzlich »einfach« nicht mehr existierte und im Gegensatz zu den anderen Ostblockländern »einfach« weg war – komplett gelöscht. Danach folgten viele Sitzungen, in denen sie sich an die Kindheit und die damalige Lebenssituation, wenn auch nur an einzelne Fetzen, erinnerte. Für sie und die Behandlung war diese Bearbeitung von Erinnerungen der Beginn einer sich langsam entwickelnden inneren Integration. Mit den »anderen Ostblockstaaten« hatte sie allerdings nicht ganz recht, denn aus dem alten Ostblock haben es einige Staaten auch nicht in die postsozialistische Zeit geschafft; auch sie brachen auseinander – und dies oft leider unter kriegerischen Begleitumständen. Zudem überlegen manche Patienten, wenn sie Erinnerungen erzählen, ob sie den Staat so nennen sollen, wie er früher hieß, oder ob sie ihn beim aktu-

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ellen Namen nennen sollen – dieser ist nämlich emotional ein völlig anderer. Der »alte« Name ist schließlich mit ganz eigenen Bildern verbunden. Machen Sie einmal selbst die Probe: Wenn Sie z. B. an die Kürzel UdSSR, SBZ oder DDR oder an die Namen Jugoslawien und Sowjetunion denken – tauchen bei Ihnen nicht sofort viele alte Erinnerungen auf, die sonst weg wären? Auch die Sprache ist so ein seltsames, haltendes und trennendes Element zugleich. Am neuen Ort fehlt es an emotionaler Sprache, dem stillschweigenden Sich-Verstehen sowohl in der Muttersprache als auch in der Verwendung vermeintlich gleicher Begriffe – was sich in Träumen zeigt und im Humor, für den es einer guten Kenntnis der Sprache bedarf. Ästhetik, Verhaltensregeln, aber auch die Weltgeschichte sind anders, oft werden Geschehnisse aus einer anderen Perspektive ganz verschieden interpretiert. Und nicht zu vergessen: Märchen, Literatur und Musik. (Zum Glück gab es für mich »Kulturbotschafter« wie die Zeichentrickfigur des Maulwurfs, Pan Tau und selbst Karel Gott …) All diese Aspekte sorgen sonst für ein implizites Sich-Verstehen innerhalb einer Gemeinschaft, das den Fremden erst einmal verborgen bleibt und fehlt.

Der Verlust der Muttersprache und seine Bedeutung für die Psychotherapie In den vergangenen Jahren wird in zunehmendem Maße über die Muttersprache und deren Verlust geschrieben. Winnicott (1973/2015) sieht die Muttersprache als Umweltmutter und Übergangsraum, der eine autonome psychische Entwicklung erst ermöglicht, und Bion (1992) benutzt den Begriff der »Behälterbrust«, die notwendig ist, um den Übergang von Beta- zu Alpha-Elementen zu ermöglichen. Die Muttersprache ist zuständig für die affektive Besetzung von Gegenständen und Tätigkeiten des Lebens, und der Verlust der Muttersprache führt zum Verlust dieser affektiv besetzten Welt. Für Julia Kristeva (1993) und Didier Anzieu (1991) besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Haut-Ich und der veränderten Körperwahrnehmung nach dem Verlust der Muttersprache. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Annahme einer symbiotischen

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Verbindungsfunktion der Muttersprache als eine Art »Kitt« innerhalb der symbiotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Wie oben erwähnt, ist diese besonders affektiv geprägt und bestimmt die frühe Beziehung. Und auch Lacan (1957/2006), der den Wert der Sprache hoch angesetzt hat, spricht ihr in der frühen Entwicklungsphase des Kindes die Bedeutung eines Spiegelstadiums zu. Selbst wenn diese Bedeutung nicht die einzig wichtige ist, so ist die Muttersprache offensichtlich strukturbildend und psychisch stabilisierend. Meine Muttersprache ist Tschechisch, die meines Vaters Deutsch. Die Sprache des Vaters wird oft beschrieben als diejenige, die dem Kind aus der engen Bindung zur Mutter heraushilft und ihm sozusagen die äußere Welt eröffnet, also triangulierend wirkt – im Gegensatz zu der inneren und dyadischen Welt des Kindes mit der Mutter. Ich selbst musste meine Muttersprache nicht aufgeben, aber sie blieb auf den familiären Kreis begrenzt. Häufig aber ist das anders – z. B. bei Patienten, die gezwungen waren, aufgrund von Anpassungswünschen der Eltern die Muttersprache zu vergessen, um nur noch die Sprache des neuen Landes zu sprechen. Diese Patienten brauchen in der Behandlung länger dafür, eigene Affekte wahrzunehmen, und können erst im späteren Behandlungsverlauf über sie verfügen. Mit Petrifizierung, einer Versteinerung, lässt sich das latente Selbstempfinden einiger meiner Patienten umschreiben. Sie entsteht häufig als Folge des Verlusts der Muttersprache und dem damit verbundenen Verlust des frühen inneren Halts. Zugleich erfolgt eine Suche nach Ganzheit und dem Gefühl des Geborgenseins über den Umweg der narzisstischen Selbstbesetzung des Körpers und der verlorenen Sprache – um den Preis einer latenten Isolation und Behinderung in der Integration von Neuem und Altem. Somit ist die Beibehaltung der Muttersprache in vielen Migrationsfamilien ein Schutz vor der »toten Mutter« im Sinne André Greens (Green, 2004). Gleichzeitig wird eine andere Welt geschaffen, in der Affekte an andere Objekte und Personen gekoppelt sind. Dieser Vorgang der Bildung zweier Welten führt zu einer Art psychischem Vexierbild oder dem oben bereits erwähnten Doppelten oder Parallelen. So entstehen meines Erachtens Parallelwelten und Parallelgesellschaften – nicht nur statistisch und demografisch, sondern intrapsychisch – und sie funktionieren zeitgleich, in einem »monadischen Zugleich«.

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Patienten (meist weibliche) türkischer Herkunft berichten von Phasen in ihrem Leben und während bestimmter Phasen der Behandlung, in denen sie zu Hause nur türkisches Radio, türkische Fernsehsendungen und türkische Musik auswählen, um darüber die Muttersprache emotional wieder aufzuladen, um sich vor dem Gefühl der inneren Leere und Angst zu schützen –, obwohl sie Kollegen und Freunden restlos integriert erscheinen und die deutsche Sprache akzentfrei sprechen. Dieser Mechanismus entspricht dem oben erwähnten emotionalen Auftanken nach Salman Akhtar. Er ist wichtig für die innere Stabilität, und ich halte es für bedeutsam, die Patienten in solchen Phasen auf ebendiese stabilisierende Bedeutung hinzuweisen, damit sie ihr Verhalten nicht als Integrationsversagen auffassen. Der Wunsch, Psychotherapie in der Muttersprache durchführen zu können, ist für manche Patienten auch der Wunsch, im übertragenen Sinne zur Mutter zurückkehren zu können – als Schutz vor der neuen, »kühlen« Fremdsprache, was in der Begrifflichkeit von Claude Legeultel die Abkehr vom »kalten Vater« bedeutet (Legeultel, 2001). Mit dem »kalten Vater« ist der entwicklungspsychologische Schritt gemeint, sich aus der engen Bindung zur Mutter lösen zu können. Die Sprache des Vaters ist in der Regel nicht auf eine Symbiose ausgerichtet, sondern unbewusst ein Versuch, das Kind von der Mutter zu lösen und eine Nähe zum Vater aufzubauen. Sie hat eine triangulierende Wirkung. Das macht der Vater, indem er die äußere Welt in seiner Sprache mit einbezieht und auch weniger symbiotische Emotionen aufbaut. Ein Exilant ist zu sehr in der fremden Welt und ihm fehlt das Vertraute – daher die Suche nach der Muttersprache. Beide Sprachen aber, die Mutter- wie die Vater- bzw. Fremdsprache, beinhalten eine Beruhigung und ein Entwicklungsversprechen zugleich. Julia Kristeva spricht in ihrem beeindruckenden Buch, »Fremde sind wir uns selbst« (1993) in düsterer Weise vom Zustand eines Dazwischen-Seins, einem Selbsterleben, in dem es keine in sich selbst spürbare Zugehörigkeit gibt. Den Rest der Muttersprache beschreibt sie als ungeliebtes und verkümmertes Kind, das unnütz ist und zugleich eine Bedeutung hat, die in Ambivalenz mit Sehnsucht, Wut und Entwertungsphantasien gegen sich oder andere besetzt wird (sie kann narzisstisch überhöht werden oder aber sie erzeugt Scham).

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Die Behandlung tschechischer Patienten hat mir Mut gemacht, auch mit anderweitig muttersprachlichen Patienten, wenngleich in deutscher Sprache, zu arbeiten – und dabei emotionale Phänomene, von denen ich annehme, dass auch diese Patienten sie erleben, in einer Weise anzusprechen, die sich insbesondere bei verborgenen Identitätsproblemen kognitiv und emotional als äußerst hilfreich und öffnend erwiesen hat. Wie sinnvoll eine Behandlung in der Muttersprache sein kann, wurde mir in meiner ersten Behandlung eines tschechischen Patienten mehr als deutlich, in der ich unser beider Muttersprache vermieden habe – aus Sorge, sie nicht gut genug und zu sehr in einer regressiv-jugendlichen Art zu sprechen. Auf Deutsch blieb die Behandlung allerdings wie eine Suche nach Vertrautem, das aber nicht benannt wurde. Vielmehr ergab sich häufig eine kühle, technisierende Beschreibung des Alltags und der Symptome anstelle einer narrativ-affektualen Arbeitsatmosphäre. Der Patient, Herr L., war wie ich 1968 nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten emigriert – allerdings im Alter von 21 Jahren, ohne Familie – und hatte sich dementsprechend allein durchs Leben geschlagen. Sein Vater, ein hoher Offizier, hatte sich (wie es auch einige andere tschechische Offiziere getan haben) nach der Besetzung erschossen. Zu seiner Mutter hatte Herr L. eine ambivalente Beziehung, die sehr nah war – zu nah und sexuell missbräuchlich, wie sich herausstellte. Dies führte zu einer explosiv ambivalenten Beziehung zu ihr, die geprägt wurde von symbiotischen Wünschen, denen er zugleich entfliehen wollte. Seine massiven Aggressionen gegen sie und zugleich gegen den nicht triangulierenden Vater richtete der Patient gegen sich selbst, und zwar in verfolgender Weise, mit depressiver und präpsychotisch-paranoider Symptomatik. Real gestaltete er sich in Deutschland einerseits alsbald eine ähnliche Konstellation mit »Müttern«, unter anderem mit seiner langjährigen Hausärztin, die sich in übergriffiger Weise und über ihre Arbeit hinaus um ihn kümmern wollte. Andererseits wohnte er in den ersten zwei Jahren im Haushalt eines pensionierten Beamten, der während des Zweiten Weltkriegs ein hoher S ­ S-Offizier gewesen war. Für ihn führte er gegen freie Kost und Logis den Haushalt – wie ein »Putzfleck«, wie man im Tschechischen einen Gefreiten nannte, der einem Offizier zu Diensten war (für einen tschechischen Offizierssohn eigentlich ein Unding). Herrn L. sprach mit starkem tschechischem Akzent, dennoch hielt ich mich zurück, mit ihm Tschechisch zu sprechen. Dies führte zunächst zu einer guten und straffen Arbeitsatmosphäre, die auf der realen Ebene durch die für ihn affektschwache deutsche Fremdsprache zu vielerlei Klärungen in der Biografie führte und seine depressive Symptomatik wie auch seine innere Aggression reduzierte. In dieser Zeit unterhielt Herr L. eine Beziehung zu einer älteren deutschen Frau, die er lediglich zum gemeinsamen Sex traf, offenbar eine Wiederholung

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der missbräuchlichen Beziehung zur Mutter. Im Therapieverlauf wurde er affektvoller – je mehr wir sein Leben, die Familiengeschichte und die Flucht rekonstruierten – und er vermisste zunehmend emotionale Beziehungen. Zugleich entwickelte er Wut auf seine Eltern und stellvertretend für seinen Vater auch gegen mich und auf die Tatsache, dass er geflüchtet und es ihm bisher nicht recht gelungen war, in Deutschland Fuß zu fassen. Zugleich versuchte er, seine Freundin gegenüber meiner Deutung einer Wiederholung der ambivalenten Mutterbeziehung zu schützen, was ihn in einen inneren Konflikt mir gegenüber führte: Einerseits sollte ich ihn väterlich beschützen und ihm zugleich nicht die Dyade mit der »Mutter« streitig machen. Er konnte diese Wut nur schlecht kanalisieren und richtete sie immer wieder über Selbstanklagen und Vorwürfe gegen sich selbst. Er fühlte sich zunehmend ohnmächtig, gleichzeitig war er aber über seine Lebendigkeit erfreut. Dieser Spagat wurde allerdings immer größer, und mir fiel es immer schwerer, ihn strukturell zusammenzuhalten. An diesem Punkt, bis zu dem ich in gewisser Weise einen distanziert väterlichen Kontakt zu ihm hielt, wäre es wahrscheinlich wichtig gewesen, mithilfe der Muttersprache gemeinsam mit ihm die vorhandenen diffusen Affekte zu sortieren und mich dabei als »mütterlicher Container« zur Verfügung zu stellen. Da ich dies nicht tat – unter anderem aus Respekt und einer gewissen Scheu vor seinen Aggressionen und sicher auch vor meinen damals nicht genügend geklärten Haltungen zur eigenen Emigrationsgeschichte, sodann aber auch aus der Tatsache heraus, dass ich, wie er bis dahin, mit keinem anderen Tschechen außerhalb meiner Familie über die Emigration und das Leben in Deutschland sprach –, vermied ich es weiterhin, mich als »Landsmann« zu zeigen, obgleich ich sicher war, dass er dies längst wusste. Im Nachhinein denke ich, dass dies genau der springende Punkt war, der ihm und mir zu schaffen machte: dass etwas Vorhandenes keine Benennung fand und somit der bei ihm im Stillen erfolgenden paranoiden Verarbeitung seines psychischen Konflikts Vorschub leistete. Diesen inneren Konflikt verarbeitete er zunehmend mit einer wahnhaften Form der biografischen Reflexion, in der bald nichts mehr an seinem Ort war und sich alles nur noch drehte. Auch ich war für ihn ein Tscheche und war es zugleich nicht. Um eine Psychose abzuwenden, wurde eine medikamentöse Mitbehandlung sowie weitestgehend eine Abkehr vom aufdeckenden Arbeiten notwendig. Nach der akuten Krise ging Herr L. wieder auf sicheres Terrain und zu der mütterlichen Hausärztin zurück, und wir beendeten die Therapie. Diese wichtige Entwicklung war leider nicht mehr bearbeitbar. Für mich kam es trotz der zwischenzeitlichen Verbesserungen im Gesamtzustand des Patienten einem Scheitern sehr nah, weil ich zu spät erkannt hatte, dass die Muttersprache mit ihrer differenzierten Verwobenheit in unterschiedliche Affekte notwendig gewesen wäre, um zu einer gemeinsamen Affektsprache zu gelangen und all die objektund beziehungsbezogenen intrapsychischen Schattierungen bearbeiten zu können. Eine solche Bearbeitung wäre notwendig gewesen, um seine innere Zerrissenheit zu integrieren. Nur dies hätte zu einer größeren inneren Autonomie und Sicherheit führen können.

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Bei nachfolgenden Patienten tschechischer Herkunft habe ich meine Haltung zur Behandlung korrigiert, indem ich sie in deren und meiner Muttersprache durchführte. Und auch wenn die Patienten nicht vergleichbar sind, so hat diese Korrektur mir selbst eine andere Arbeitsweise und einen neuen Zugang zu diesen Patienten ermöglicht, die dem zu deutschen Patienten in deutscher Sprache entspricht.

Die Verdrängung des aggressiven Selbstanteils und das »Unvergebbare« Hinzugekommen ist allerdings ein zusätzlicher Aspekt, auf den ich im Folgenden zu sprechen kommen möchte. Er betrifft den Titel meiner Ausführungen. Zwei wesentliche Faktoren sind mir wichtig: Da ist zum einen der Vorgang der sprachlich-kulturellen Anpassung an das neue Land, in dem sich der Emigrant bzw. Migrant plötzlich befindet, und zum anderen der zusätzliche Faktor der ehemals oder aktuell feindlichen und als feindlich empfundenen Gesellschaft. Ich gehe davon aus – was im Verlauf einiger meiner Behandlungen deutlich wurde und zunehmend wird –, dass grundsätzlich mehr Ressentiments vorhanden und wirksam sind, als bewusst empfunden werden. Und zwar von beiden Seiten. Und: Feindschaft bleibt, wie schon gesagt, nicht an der Grenze liegen. Manche von Ihnen mögen jetzt vielleicht denken: Schon wieder das Thema »Transgenerationalität«, also die Weitergabe oder auch das Verschweigen von mehr oder weniger affektbesetzten Erinnerungen und Rekonstruktionen der Lebensgeschichte. Es geht mir aber nicht allein darum, sondern vor allem um das absichtlich Verborgene und das unbewusst Gehaltene. Vielleicht haben Sie mit ehemals verfeindeten Menschen oder auch mit Menschen aus der nachfolgenden Generation gesprochen und dabei erfahren, dass sie keine Feindschaft mehr erleben. Ich sehe das kritisch und anders. Da gibt es zum einen diejenigen, die nicht mit Ihnen sprechen wollen, sich unsichtbar machen, und zum anderen diejenigen – und mit ihnen beschäftigen sich meine Überlegungen –, die etwas sagen und parallel und im Stillen auch noch etwas anderes denken. Ganz zu

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schweigen von den Menschen oder Patienten, deren Ressentiments unbewusst wirksam sind und die nicht selten erst durch Überbelastung der eigenen Abwehrmechanismen, bedingt durch verschiedenste Auslöser, in Form psychosomatischer und psychischer Symptome auffällig, krank – wenngleich noch nicht hellhörig für tiefere persönliche Zusammenhänge – werden. Beim Durchforsten der Fachliteratur stieß ich immer wieder auf interessante theoretische Drehungen. Als Beispiel seien die außergewöhnlichen Arbeiten von Anna Leszczynska-Koenen (2009) und Jana Burgerová (2009) genannt, die zur Mehrsprachlichkeit sehr durchdachte Artikel geschrieben und sich ihrerseits wesentlich mit Julia Kristevas Ansatz zum Fremdsein auseinandergesetzt haben. Jana Burgerová hat darüber hinaus insbesondere das schwierige Verhältnis der Tschechen und Deutschen thematisiert. Bei beiden fiel mir allerdings auf, dass sie – sobald es aus meiner Sicht sozusagen »um die Wurst« ging, also um die Frage: Was macht man nun mit den eigenen Ressentiments? – auf Erklärungsmodelle der psychoanalytischen Sprachwissenschaften zurückgreifen, damit realpolitische und historische Gegebenheiten als vorhanden annehmen und diese auch sehr sorgsam in einen Diskurs bringen, sie dann allerdings als vermeintlich selbsterklärend stehen lassen. Was ich bei dieser Betrachtung vermisse, ist der aggressive Selbstanteil des Exilanten oder Patienten: der innere Disput, der kindliche Zorn auf das Objekt, das den Verlust zugefügt hat – vielleicht auf den Vater (im Sinne der Vatersprache), auf die neue Sprache als dem »Dritten«, das den Exilanten aus der mütterlichen Dyade gerissen hat. Dieser Verlust führt oft zu einem permanent gesteigerten aggressiven und zornigen Selbstgefühl. Die Sprache allein erklärt nicht den inneren Kampf, nicht die Destruktivität, die, so wie ich dieses Phänomen von Patienten kennengelernt habe, durch Ambivalenz und durch ausgelöste Loyalitätskonflikte genährt wird. Vielleicht ist es dem permanenten intrapsychischen Reparationsversuch geschuldet, aggressive Anteile zu bannen, dem man (die Patienten wie auch der Autor selbst) erliegt, sodass dieser Aspekt aus dem Blick gerät. Ich denke, dass es sich um ein permanentes Oszillieren zwischen den verschiedenen psychischen Entwicklungsstufen und strukturellen Ebenen handelt, und zwar unter Zuhilfenahme unterschiedlicher

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Abwehrmechanismen, was wie in jedem Abwehrvorgang zumindest zu Behinderungen und Komplikationen der psychischen Funktion führt. Hinzu kommen noch äußere Geschehnisse, also persönliche Erfahrungen oder solche von nahen Verwandten, mit hoher affektiver Aufladung. Daher ist auch für die therapeutische Arbeit die Kenntnis der Landesgeschichte und der geopolitischen Verwicklung von großer Bedeutung, um die unterschiedlich bedingten Abwehrmaßnahmen zu verstehen. Eine Patientin aus dem ehemaligen Jugoslawien, die zunächst jegliche Auswirkungen des Balkankonflikts auf ihr aktuelles Leben verneinte, sagte mir in einer Stunde, in der die Atmosphäre nicht nachvollziehbar bleiern war, plötzlich sehr entschieden und für mich überraschend: »Das, was die mit uns gemacht haben, werde ich ihnen nicht in hundert Jahren verzeihen!« Da war der innere und äußere Balkankonflikt auf einmal im Therapieraum – mit all seiner Wucht und Bitterkeit. Und diese Patientin war nicht die einzige. Auch russische und polnische Patienten verloren immer wieder die vermeintliche Contenance. Angesichts dessen wirken die Wünsche nach einem schnellen Schlussstrich und einer Aussöhnung ziemlich utopisch.

Vamik Volkan beschreibt in seinem Buch »Blutsgrenzen«, wie serbische Soldaten im Verhör gefangen genommenen türkischen Journalisten vorwarfen, »sie« hätten fünfhundert Jahre lang die Serben unterdrückt und gefoltert. Anschließend drohten sie den Journalisten: »Wir werden mit euch tun, was eure Vorfahren mit uns getan haben« (Volkan, 1999, S. 104). Und Richard Goldstone, Vorsitzender der internationalen, unabhängigen Untersuchungskommission im Kosovo und zugleich Kenner vieler Konfliktherde in der Welt, stellt im Verlauf seiner Ernest Jones Memorial Lecture ernüchtert fest: »Wir stellen zu hohe Erwartungen an das Verhalten traumatisierter Völker« (Goldstone, zit. nach Said, 2004, S. 90). Dies berührt auch den intrapsychischen Vorgang des Vergebens und der dadurch möglichen Aufgabe eigener Ressentiments. Volkan (1999) schreibt dazu, dass seiner Meinung nach nur Großgruppenprozesse Veränderungen bewirken, die viel Trauerarbeit erfordern, sich nicht erbitten lassen und in vielen kleinen Schritten vor sich gehen. Ähnliches, aber konsequenter, denkt Jacques Derrida in seinem Essay zur Vergebung des Unvergebbaren und formuliert dies so: »Das Vergeben, wenn es denn existiert, kann nur das Unvergebbare, das Unsühnbare vergeben – und also das Unmögliche tun. Das Vergebbare, das Läss-

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liche, das Entschuldbare, das, was man immer vergeben kann, das ist kein Vergeben« (Derrida, 2004; zit. nach Raveling, 2014, S. 160). Diese etwas verschraubte Formulierung macht deutlich, dass ein Vergeben – oder eine Abkehr von bewussten und noch viel mehr von unbewussten Ressentiments – nur mittels eines äußerst komplexen psychischen Vorgangs geleistet werden kann und die Grenzen des bislang Bekannten weit überschreitet. Ich denke, dass das Vergeben und die Trauer wichtige, progressive psychische Prozesse sind, um einen Zugang zu den eigenen Affekten zu ermöglichen. Die Ressentiments behindern diesen Zugang, denn sie befriedigen auf trügerische Weise – wie narzisstische Plomben. Als ich mit sechs Jahren aufgrund einer beruflichen Veränderung meines Vaters mit meiner Familie für vier Jahre nach Ostberlin zog, habe ich am ersten Morgen dort, ohne zu wissen, was mich antrieb, aus den wenigen deutschen Wörtern, die ich kannte, diese aus dem Fenster gerufen: »Du Schwein!« Jahre später wurde mir klar, dass es sich um die Beschimpfung handelte, die meine Eltern während der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei zwischen 1939 und 1945 immer wieder von den deutschen Besatzern gehört hatten. Da waren offenbar erlebte Erinnerungen meiner Eltern durch meine unterschiedlichen Identifikationen mit ihnen bei mir deponiert und wirksam geworden, ohne dass ich sie hätte steuern können. Als wir zwei Monate später als Familie zum ersten Mal über den Checkpoint Charlie nach Westberlin fuhren, sagte mein Vater mit Grabesstimme: »Jetzt sind wir im faschistischen Deutschland.« So war das – und es bedurfte eines langen Prozesses, bis ich mich in Deutschland heimisch fühlen und die in mir agierende, konflikthafte Feindschaft integrieren konnte. In mehreren meiner Behandlungen tschechischer Patienten waren eine depressive Symptomatik, Angststörungen und Suchtkompensation sowie diffuse narzisstische Störungen durch die tschechisch-deutsche Geschichte zusätzlich beeinflusst worden. Dazu seien an dieser Stelle nur zwei markante historische Ereignisse genannt, die die tschechische Sicht auf typische Weise prägen: die Verbrennung des Reformators Jan Hus während des Konzils von Konstanz 1415 mit nachfolgendem Kampf zwischen den böhmischen Ständen und dem Haus Habsburg. Dieser endete 1620 mit der Schlacht am Weißen Berg und einer Massenhinrichtung tschechischer Adliger

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auf dem Prager Altstädter Ring, gefolgt von einer dreihundert Jahre währenden Unterwerfung durch die K.-u.-k.-Monarchie. Der jüngere Konflikt im letzten Jahrhundert setzte mit der Besetzung durch HitlerDeutschland am 15.3.1939 ein und dauerte bis zum Mai 1945. Für mich beschreibt Peter Demetz, ein tschechisch-amerikanischer Literaturwissenschaftler, sehr plastisch den Zerfall und die Zersetzung einer psychischen Struktur anhand dieser Zeit: »Die [deutsche] Okkupation […] verwandelte […] die moderne Stadt Prag, die gestern noch ein lebendiger, für alle offener Raum gewesen war, wieder in einen ungeordneten, geradezu mittelalterlichen Flickenteppich mit strengen Trennungen und brutaler Ausgrenzung« (Demetz 2007, S. 80). Unverarbeitete aktuelle und geschichtliche Trauerprozesse, das Zurück-und-nach-vorn-Blicken, wirkten in den Behandlungsprozessen der genannten tschechischen Patienten oft wie ein Januskopf und erzeugten einen schwer durchschaubaren Konfliktherd. Ein weiteres Beispiel: Herr I., ein tschechischer Intellektueller, früher in der Tschechoslowakei und im Ausland hoch angesehen, kam wegen seiner Spielsucht zu mir. Ich führte die Behandlung auf Tschechisch durch, da ich – anders noch als Jahre zuvor – weniger Angst davor hatte, meine Tschechischkenntnisse könnten sich als unzulänglich erweisen. Die Veränderung im therapeutischen Prozess stellte sich schnell ein: Das gemeinsame Verstehen, eine Basis, wirkte vertrauensbildend und ermöglichte es, nicht nur über die aktuelle Problematik zu sprechen, sondern auch über das andere, nicht Gesagte, das Freunden und auch der deutschen Ehefrau gegenüber nicht Gesagte. Damit meine ich das zu Beginn meiner Ausführungen genannte Paralleldenken, wie Edward Said die zwei Realitäten nennt, durch die eine »Wahrnehmung gleichzeitiger Dimensionen« (Said, 2004, S. 13) erzeugt wird. Gemeint ist natürlich keine psychotische Wahrnehmung im Sinne eines: »Was erzählen die denn da, das war doch ganz anders!« Zu Beginn der Behandlung wurde zunehmend deutlich, dass bei Herrn I. eine innere Leere bestand, die auch durch ein durchaus erfülltes privates Umfeld sowie öffentliche Anerkennung nicht aufgefüllt werden konnte. Es fehlte – und das wurde erst nach einer gewissen Zeit deutlich – die innere Auseinandersetzung mit dem Leben in Deutschland einerseits und dem nach wie vor vorhandenen, eindeutigen Ressentiment dem alten Feind gegenüber andererseits. Herr I. hatte aus seiner Familiengeschichte genügend Episoden zu erzählen, die allesamt von Erniedrigung, Misshandlung und Mord durch die deutsche Besatzungsmacht handelten. Diese Geschichten schienen zunächst verblasst und für sein aktuelles Leben belanglos zu sein. Die ersten Behandlungsstunden waren von einer eigentümlichen Dynamik geprägt. Einerseits gab es eine Vertrautheit zwischen Patient und ­Therapeut,

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andererseits eine nachvollziehbare narzisstische Psychodynamik – resultierend aus dem fortgeschrittenen Lebensalter und der rentenbedingten Umorientierung des Patienten sowie altersbedingten körperlichen Einbußen und nachvollziehbaren Eheproblemen. Das hätte für einen »ordentlichen« Psychotherapieantrag genügt. Gleichsam schleichend stellten sich aber zugleich Fragen an mich ein – etwa danach, was ich von dieser oder jener politischen Situation halte –, die ich aus der Übertragung heraus verstand (Vater-Übertragung), zugleich aber unsicher danach hinterfragte, ob es dabei nicht noch um etwas anderes ginge. Benennen und auflösen konnte Herr I. das zunächst nicht; dagegen führten meine Angebote der Geschichtsperspektive langsam insofern in die richtige Richtung, als zunehmend die Blutleere verschwand und im Gegenzug die andere Dimension, das Doppelte oder die oben genannte Parallelität, einen affektreicheren Raum erhielt. Der Patient erzählte nun öfter von Situationen aus den letzten Jahren, in denen er immer eine scheinbar unmittelbar offizielle Meinung zu allem hatte und zugleich auch eine andere Sicht, über die er aber Stillschweigen bewahrte. Manchmal fiel ihm diese Sicht erst im Nachhinein ein, oft auch erst nach den Therapiesitzungen. Erst die Anerkennung der versteckten Perspektive als legitime eigene Sichtweise, die zusätzlich vorhanden ist, führte zu einer größeren und differenzierten Repräsentanz innerer Objekte und Beziehungen. Nicht, dass er plötzlich angefangen hätte, alles »herauszuposaunen«, was er sich so dachte; aber seine zunehmend differenzierte Sicht führte durch deren größere innere Akzeptanz und dadurch, dass sie ihren legitimen Platz im eigenen Leben einzunehmen begann, zu größerer innerer Befriedigung. Er konnte plötzlich auch unangenehme Gespräche zu Ende führen oder sie als offene Themen stehen lassen, ohne sich wie früher danach leer zu fühlen. Die empfundene Feindschaft zu Deutschland war nicht weg, aber sie war nicht mehr so bedrohlich und er fühlte sich nicht mehr derart ohnmächtig. In seiner Spielsucht war die Ohnmacht ein wichtiger Punkt gewesen. Als Intellektueller, der sonst wie ein Schachspieler die Welt zu durchdringen versuchte, lieferte er sich beim Roulette – und hier insbesondere im Setzen auf Schwarz oder Rot – ohnmächtig dem Schicksal aus: ganz so, wie er sich oft als Fremder, der Schweigen musste, ohnmächtig gefühlt hatte. Die zunehmende Integration dieser Doppeltheit machte ihn zufriedener und autonomer. Er fuhr wieder öfter nach Tschechien; zugleich war er ruhiger und in sich ruhender geworden, was sich sowohl in der Ehe als auch im Freundeskreis in Deutschland auswirkte. Die hier beim Roulette beschriebene Ohnmacht spielte auch in anderen meiner Behandlungen eine wichtige Rolle – etwa bei dem Offizierssohn, Herrn L. Denn auch er wiederholte durch seine Bereitschaft, einem ehemaligen SS-­ Offizier zu dienen, ein pathologisches Gemisch aus den Zutaten Ohnmacht in der Unterwerfung und Hilflosigkeit, aus denen sich grollender, aber abgewehrter Zorn entwickelte.

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Petr Günsberg

Resümee Ich finde es bedeutsam, sich der Komplexität und Doppeltheit bei Patienten mit ähnlichen Problemstellungen bewusst zu sein. Die therapeutische Arbeit mit Flüchtlingen und Exilanten erfordert meiner Meinung nach neben Kenntnissen über die Bedeutung der Fremdsprachlichkeit und die Bedeutung des Verlusts der Heimat sowie der Muttersprache mit ihren basalen und affektiven Aspekten auch klinisches Wissen über neurotische Verarbeitungsmodi. Auch kulturelle und ethnologisch-soziologische Fragestellungen sind bedeutsam, und meist begegnet uns eine Kombination aus all diesen Aspekten – und dann wird es kompliziert und schwer, bekannte Abwehrmechanismen in den jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen zu verstehen. Ich möchte daher auf die Komplexität von Flüchtlingsidentitäten unter diesem speziellen Aspekt der Muttersprachlichkeit sowie auf das Fremdsein in seinen intersubjektiv-psychologischen Aspekten hinweisen und gegen ein zu schnelles implizites Wissen und scheinbares therapeutisches Verstehen des Patienten votieren. Zudem plädiere ich dafür, den Resten eigener geschichtlicher Ressentiments gegenüber wachsam zu sein und zugleich nach einer gemeinsamen, verborgenen Dynamik Ausschau zu halten, die sich nur allzu leicht hinter manchmal vordergründig imponierenden Geschichten auf Seiten der Patienten und dem unter Umständen allzu aggressionsgehemmten Verstehenwollen auf Seiten der Therapeuten versteckt. Und schließlich möchte ich dazu auffordern, Feindschaft in Behandlungen nicht zu tabuisieren, ihr nicht auszuweichen und zu akzeptieren, dass Ressentiments einerseits Halt geben und andererseits die Integration behindern, und auch, dass manche Ambivalenzen kaum auflösbar sind. Um eine psychische Integration in der Psychotherapie zu erreichen, ist es gegebenenfalls unausweichlich (darin Jacques Derridas Thesen zum Unvergebbaren folgend), mit hoch aggressiven und feindseligen Anteilen umzugehen und diese gezielt deutend und anbietend in den gemeinsamen Behandlungsraum zu stellen. Und nicht zuletzt gehören auch die aversiven Anteile des Therapeuten mit in die Behandlung – zumindest als bekannte und vertraute Anteile, um sie in der Interaktion und Übertragungsarbeit mit dem Patienten identifizieren und auseinanderhalten zu können.

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Elisabeth Rohrbach

Institutionslogik in der Psychiatrie versus patientenorientierte Behandlung Von der Innensicht zur Außensicht – und umgekehrt

Zusammenfassung Die Institution Psychiatrie bekommt zahlreiche widersprüchliche Aufgaben übertragen – von Patienten, Angehörigen, Gerichten, der Öffentlichkeit. Es gilt, mit dem Widerspruch umzugehen, dass die psychiatrische Klinik auf der einen Seite Menschen behandeln soll mit dem Ziel der Heilung oder zumindest Linderung, dass sie andererseits dafür zuständig ist, Menschen, die »verrückt« geworden sind, aus- und einzuschließen, der Öffentlichkeit also die Auseinandersetzung mit Verrücktheit abzunehmen und Menschen auch gegen ihren Willen zu behandeln. Ist die Psychiatrie die »totale Institution«, wo Macht und Ohnmacht aufeinandertreffen? Wie gestalten sich hier Beziehungen? Gibt es überhaupt Heilung in der psychiatrischen Klinik? Ist eine sinnvolle und wirksame Behandlung von psychisch kranken Menschen in einer psychiatrischen Klinik realistisch und möglich? Anhand dieser Fragen soll ein Einblick in die Widersprüche und Konflikte der Arbeit in einer psychiatrischen Klinik gegeben werden.

Klinik als Institution Die Klinik ist eine Institution – dies ist ein zentraler soziologischer Begriff. Die psychiatrische Klinik ist ein Gefüge von sozialen Strukturen mit gesellschaftlich relevanten Funktionen: Diagnostik, Behandlung, Versorgung von akut und chronisch psychisch kranken Menschen, auch Prävention gehört zu ihren Aufgaben. Sie strukturiert und regelt bei Wahrnehmung dieser Aufgaben soziales Handeln und die Beziehungen der Menschen untereinander. Die Aufgaben sind teilweise von außen herangetragen, zum anderen Teil auch von innen entstehend. Anders als somatische Kliniken hat die institutionelle Psychiatrie von der Gesellschaft jedoch auch eine Ordnungsfunktion übertragen bekommen, was besondere Konsequenzen und Konflikte mit sich bringt. Die

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Legitimation der Institution erfolgt durch Aufgaben und Ziele, die Werten folgen, die im bewussten und unbewussten Regelwerk symbolisiert sind und die bei den Akteuren, also den Mitarbeitern und den Patienten, emotional verankert sind. Nach Erving Goffman – einem kanadischen Soziologen (1922– 1982) – ist die psychiatrische Klinik eine »totale Institution«: Das Leben der Menschen findet an diesem Ort statt und das Zusammenleben ist Regeln, die von einer zentralen Autoritätsinstanz vorgegeben sind, unterworfen. Es gibt eine Stationsordnung und einen festen Tagesablauf. Diese Vorgaben und die Struktur dienen den Zielen der Institution, denen sich alle dort Arbeitenden und die Patienten zu unterwerfen haben. Eine zentrale These in Goffmans Buch »Asylums« (1961; dt. 1973) ist, dass der wichtigste Faktor, der einen Patienten prägt, nicht seine Krankheit ist, sondern die Institution, der er ausgeliefert ist. Mithilfe der Institutionen erhält sich die Gesellschaft funktionsfähig. Die Gesellschaft beteuert ihre »Normalität« durch Aussperrung und Einschließung von »Verrücktheit«. Inzwischen sind wir im Jahr vierzig nach der Psychiatrie-Enquete in Deutschland – die Psychiatrie von 2015 ist nicht mehr die Psychiatrie von 1975 – und das ist gut so (Armbruster, Dieterich, Hahn u. Ratzke, 2015). Die Institution psychiatrisches Krankenhaus hat sich verändert. Sie ist offener geworden, wobei wir das Offene nach wie vor auch verteidigen müssen.

Funktionslogik einer psychiatrischen Klinik Das Krankenhaus für Psychiatrie unterliegt einer vielfältigen Logik, die das Funktionieren bestimmt. Diese Logik bestimmt sich durch von außen und auch von innen herangetragene Erwartungen, Vorstellungen und Aufträge. Diese haben sich in den letzten Jahren verändert und weiter- oder vielleicht auch zurückentwickelt. Wir haben hierzulande ein komplexes Versorgungssystem für psychisch kranke Menschen – in einer Großstadt wie Köln ist es deutlich mehr strukturiert und vielfältiger als in ländlichen Regionen, wo Menschen länger auf Behandlung warten, weitere Wege zurücklegen müssen und weniger Alternativen haben. In unserem Versorgungssystem

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besteht eine historisch gewachsene Aufteilung in verschiedene Sektoren: ambulant, stationär, teilstationär, rehabilitativ. Es gibt oft Schwierigkeiten, diese Sektorengrenzen zu überwinden. So besteht einiges an Misstrauen der Akteure in den verschiedenen Bereichen untereinander – warum eigentlich? Zunächst etwas zu den Grundsätzen der Behandlung in einer psychiatrischen Klinik: Psychoanalytisches Arbeiten in der Psychiatrie – kann man das denn heute (noch)? Ist das noch zeitgemäß? Psychoanalytisch arbeiten heißt hier übrigens nicht, dass wir die Patienten auf die Couch legen – also mit der klassischen analytischen Methode behandeln. Wir verstehen die Patienten, die zu uns kommen, vielmehr mithilfe unserer analytischen Grundauffassungen – als Menschen mit jeweils spezifischen Beziehungserfahrungen und auf dem Hintergrund ihrer individuellen Biografie und ihrer relevanten (frühen und späteren) Erfahrungen und deren individueller Verarbeitung. Durch Beziehungserfahrungen, die manchmal bewusst, zum großen Teil aber unbewusst sind, werden Menschen geprägt. So entwickelt und entscheidet sich, wie der Einzelne auf die Welt und andere Menschen zugeht und seine Beziehungen gestaltet. Wenn jemand mit Beziehungs- und Verhaltensmustern bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben nicht (mehr) zurechtkommt, an seine Grenzen stößt, entwickelt er vielleicht Symptome. In der Psychiatrie und Psychotherapie – ob ambulant oder in der Klinik – geht es dann darum, diese Entwicklung zu verstehen und zu bearbeiten.

Aufgaben einer psychiatrischen Klinik Die psychiatrische Klinik hat vielfältige Aufgaben, und diese Aufgaben sind regelmäßig konflikthaft. Unterschiedliche Erwartungen der verschiedenen Akteure treffen aufeinander. Welche Aufgaben werden von wem an die psychiatrische Klinik heran­getragen? –– Aus der Sicht der Menschen, die die psychiatrische Klinik in Anspruch nehmen, also der Patienten, und aus der Sicht der Angehörigen und anderer Menschen aus dem sozialen Umfeld:

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• Diagnostik nach den geltenden wissenschaftlichen Prinzipien. Identifizierung, Stärkung und Förderung, Nutzung von eigenen Ressourcen, Resilienzfaktoren. • Behandlung nach den geltenden wissenschaftlichen Erkenntnissen – möglichst Heilen der Menschen, die zur Aufnahme kommen oder die die Ambulanz aufsuchen. Mittel dabei sind Psychotherapie, Psychopharmakologie, Milieutherapie, Therapien zur Förderung der Kreativität, Bewegung und Sport, Soziotherapie zur Stärkung der sozialen Kompetenz und Bewältigung von sozialen Krisen. Ist eine Heilung nicht möglich, dann geht es um Symptomlinderung, um Unterstützung beim Prozess der Akzeptanz der Erkrankung, um Recovery. • Umgang mit dem Wahn, mit der Nicht-Normalität, dem Anderssein; Umgang mit der »Verrücktheit«. • Entgegenbringung von omnipotenten Erwartungen auf Entlastung, Heilung, Beseitigung der Symptome, auf Veränderung der Verhältnisse (hier wird der Klinik viel Veränderungsmacht zugeschrieben). • Entgegenbringung von Projektionen: Es wird Verantwortung abgegeben und abgenommen, Gefühle von Macht und Ohnmacht werden projiziert und auch bekämpft. Das Unangenehme, Schräge, Aggressive wird projiziert (Wenn man sich so verhält, muss man krank sein …). • Schutz der Patienten, die zur Aufnahme kommen, Schutz vor Gewalt: der eigenen und der durch andere erfahrenen Gewalt. Umgang mit Gewalt und Abbau von Aggression. • Hilfe für die Patienten bei der Wiederherstellung der Fähigkeit zur Erfüllung der sozialen Rolle – wenn sie das denn wollen – oder bei der Veränderung ihrer sozialen Rolle und bei der Selbststeuerung ihrer Impulse und Affekte. • Schutz der Bezugspersonen (Angehörige, Familie, Nachbarn) vor aggressiven Patienten mit psychischen Erkrankungen oder Schutz der Patienten vor Angehörigen mit unrealistischen Erwartungen bzw. Befürchtungen: Hilfe bei der Schaffung von Distanz zur Bewältigung von Nähe-Distanz-Konflikten. –– Aus der Sicht der Psychiater und Psychotherapeuten in der ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung und auch

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der weiteren Akteure im psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfe­ system: • Bewältigung von Krisen bei Menschen mit psychischen Erkrankungen durch das Angebot eines niederschwelligen Zugangs zu Hilfen, 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. • Konstanz des therapeutischen Angebots auch über die stationäre Versorgung hinaus bei Patienten, die im ambulanten Versorgungssystem noch keinen Platz gefunden haben. Organisation des Übergangs in die weitere Versorgung. –– Aus der Sicht der Gesellschaft, also von Kommune, Bürger, Politik, Öffentlichkeit und Gerichten: • Ordnungsfunktion: Schutz der Öffentlichkeit vor aggressiven psychisch kranken Menschen, Unterbringung von psychisch Kranken nach PsychKG (Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten) oder BtG (Betreuungsgesetz). Problematisch ist eine weitere Aufgabe: Verwahrung von psychisch kranken Menschen, die keine Behandlung wünschen, mit Medikamenten, Psychotherapie, sonstigen Behandlungsformen. Wahrnehmen einer sozialen Kontrolle. –– Aus der Sicht der Kostenträger/Krankenkassen: • Wirtschaftliches Arbeiten wird gefordert durch Gebot der Kostenträger (SGB V), Berücksichtigung wirtschaftlicher Grundsätze der Klinik. Konflikte dabei z. B. durch teure Medikamente und teure Untersuchungen. –– Aus der Sicht der in der Klinik Arbeitenden: • Sicherheit am Arbeitsplatz, Schutz der Mitarbeiter vor gewalttätigen Übergriffen von Patienten, Ermöglichen von Behandlung.

Abläufe in der psychiatrischen Klinik Folgende Ablaufschritte sind besonders bedeutsam: –– Klärung des Zuweisungskontexts: Wer veranlasst die Aufnahme? Warum kommt der/die Betreffende gerade jetzt? Wer schickt wen weshalb? Handelt es sich um eine Selbsteinweisung oder um eine Zuweisung durch den behandelnden Arzt oder durch Angehörige?

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–– Auftragsklärung: Wer will was von wem? Auf dem Hintergrund der verschiedenen Erwartungen an das Hilfesystem gibt es hier oft Konflikte. –– Stellt die Aufnahme eine Entlastung für den Patienten dar oder nicht? Kontaktaufnahme mit den behandelnden Ärzten/Psychotherapeuten. Herstellen einer einvernehmlichen Grundlage mit dem Patienten/den Angehörigen/sonstigen Akteuren. Umgang mit Ambivalenzen und Loyalitätskonflikten. –– Herstellung und Aufrechterhaltung eines Behandlungsbündnisses. Mit wem – außer dem Patienten – ist hier eine Kooperation herzustellen? Überprüfung des Behandlungsbündnisses über die Zeit, über die nächsten Behandlungsstufen, über zunehmende Orientierung nach außen und Belastungssteigerung. Motivierung zur Herstellung einer möglichst einvernehmlichen Behandlungsgrundlage. Informieren über Behandlungsalternativen – auch über Nicht-Behandlung. –– Identifizierung von Kontextfaktoren: Warum kam es gerade jetzt zur Krise? Was sind die Auslösefaktoren? Ist es möglich, solche Faktoren zu entschärfen? Ist eine Deeskalation der Krise möglich oder gibt es Widerstände dagegen: vonseiten des Patienten oder vielleicht von anderer Seite? Durch Entlastung Erarbeitung neuer Perspektiven, vielleicht auch auf die eigene Beteiligung der Behandelnden oder des Patienten an der Eskalation der Krise. –– Entlassung: Erarbeitung von (erneuten Dekompensationen) vorbeugenden Maßnahmen für die Zeit nach der Entlassung, Organisierung der Weiterbehandlung. Kontaktaufnahme mit dem ambulanten Hilfesystem, dem behandelnden Psychiater oder Psychotherapeuten. Das ist eine Skizze der Phasen einer stationären, auch tagesklinischen Behandlung. Diese Phasen laufen nicht linear ab, sondern greifen ineinander, manchmal kehrt man zu einer Phase zurück, die man schon durchlaufen hat, wo sich jedoch wieder Handlungsbedarf ergibt. Die Frage ist hier, für welche Behandlungsphasen man unbedingt das stationäre Setting benötigt. Es wäre vorstellbar, mit einer komplexeren ambulanten Versorgung hier auch mehr in den ambulanten Bereich zu verlagern. Allerdings wären dazu die Sektorengrenzen zu öffnen und

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Versorgungsmodelle auch mit anderen (ambulanten) Akteuren im Versorgungssystem zu entwickeln und umzusetzen. Dies erscheint durchaus möglich und machbar.

Diagnostik zwischen Norm und Krampf Im diagnostischen Zusammenhang stellt sich die Frage: Was ist normal und was nicht? Intuitiv mag jeder eine Vorstellungen davon haben, was normal ist. Daraus erwachsen zahlreiche Normen. Es besteht eine größere Variabilität bei den verschiedenen Ausprägungen einer Störung als zwischen der jeweiligen Störung und dem Normalzustand bzw. anderen psychischen Störungen. Es gibt in der Psychiatrie bislang keinen einzigen Labortest zu biologischen Markern, mit der sich Normalität von psychischer Störung abgrenzen ließe – trotz intensiver Bemühungen. Es gibt keine einfachen Antworten. Alle unsere Diagnosen beruhen auf subjektiven Urteilen, und diese sind naturgemäß fehlbar. Von unseren psychoanalytischen Lehrern haben wir gelernt, dass es Normalität nicht wirklich gibt und dass wir sie auch nicht unbedingt brauchen. Niemand ist wirklich ganz normal, und das ist auch beruhigend. Jeder hat etwas Neurotisches und jeder könnte etwas mehr Einsicht in sein »inneres Haus« brauchen. Wir alle unterdrücken verbotene Impulse, die sich in Symptomen, Träumen und manchmal auch in Kunstwerken zeigen. Jeder benutzt seine ihm eigenen Abwehrmechanismen und gestaltet damit seine Beziehungen und sein Leben, geht seiner Arbeit nach und ist kreativ. So schwer Normalität zu fassen ist, so schwierig ist es auch, Abnormität zu definieren. Wir haben ebenfalls keine Definition für psychische Störung. Diese Tatsache greifen Psychiatriekritiker gerne auf und stellen den ganzen Berufsstand infrage. Wenn psychische Störungen so schwer zu definieren sind, gibt es sie dann überhaupt? Wer jedoch jemals mit psychischen Krankheiten zu tun hatte, sei es als Patient, Angehöriger, Psychiater, Psychiatriepfleger oder Psychotherapeut, für den sind psychische Krankheiten schmerzliche Realität. Wir benutzen in der Arbeit das ICD-10- bzw. das DSM-5-System, also Diagnosemanuale und Symptomkataloge. Das Ziel ist dabei eine

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möglichst große Übereinstimmung zwischen den Fachleuten und die Vermeidung von willkürlichen Diagnosestellungen. Es geht aber auch um die Nachvollziehbarkeit für die Betroffenen und den Schutz vor Fehldiagnosen. Allen Frances (2013, S. 54) sagt dazu: »Das DSM muss einfach bleiben, aber die Psychiatrie muss es nicht. Die DSM-Beurteilung sollte nur einen kleinen Teil der Gesamtbeurteilung ausmachen.« Das andere ist das komplexe individuelle Leben des Einzelnen in seinem Beziehungsgefüge. Wenn wir nicht aufpassen, wird aus einer nuancierten Psychiatrie mit differenzierten Beschreibungen des Erlebens und Verhaltens der einzelnen Menschen eine Checklisten-­ Psychiatrie. Längst überfällig ist eine Reform des Abrechnungswesens: Jeder potenzielle Klient, der eine psychiatrische Ambulanz, Praxis oder Klinik betritt, bekommt eine F-Diagnose nach der Einteilung des für uns gültigen ICD-10-Katalogs, auch wenn keine psychische Erkrankung vorliegt. Warum? Weil man ansonsten die Leistung, auch die Diagnostik und Beratung, nicht abrechnen kann. Hier wäre ein Abrechnungsverfahren wünschenswert, mit dem man nicht den Umweg über eine (möglichst leichte) Störung machen muss.

Wann kommt es zu einem Behandlungs(an)gebot? Ein stationäres oder tagesklinisches Behandlungsangebot wird dann gemacht, wenn die ambulanten Behandlungsmöglichkeiten nicht ausreichen. Bei einer tagesklinischen Behandlung sind die Voraussetzungen aufseiten des Klienten: einigermaßen stabile Wohnverhältnisse – das ist manchmal auch nur ein Bauwagen –, einige soziale Kontakte, die Fähigkeit zur Bewältigung von Alleinsein und zur Strukturierung der Abende und Wochenenden sowie eine gewisse Fähigkeit zur Selbstversorgung. Ein stationäres Behandlungsangebot setzt voraus: Jemand ist aufgrund seiner Symptomatik nicht in der Lage, seine alltäglichen Dinge und ein basales soziales Leben selbstständig zu regeln. Oder: Die Suizidalität bzw. krankheitsbedingte Aggression können nicht mehr autonom reguliert werden und führen dazu, dass der Betreffende der Kon-

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trolle von außen bedarf. Der Patient kommt freiwillig oder wird gegen seinen Willen in die Klinik gebracht – nach PsychKG oder nach dem BtG. Oft gibt es schon einen mehr oder weniger langen Vorlauf, bis es zur Aufnahme in die Klinik kommt. Mit dieser Aufnahme wird Verantwortung an die Institution Psychiatrie abgegeben, die zugleich eine Ordnungsfunktion und einen Behandlungsauftrag hat. Diese Funktionen widersprechen sich oft. Die Patienten in der Psychiatrie, die in stationärer Behandlung sind, sind zunächst von ihrer sonstigen Lebensumwelt weitgehend getrennt und abgeschnitten. Sie führen miteinander ein Leben, für das Regeln gelten. Die Patienten sprechen auch selbst immer wieder vom »Leben draußen«, und dass »hier drinnen andere Regeln gelten, dass man z. B. freundlicher miteinander umgeht«, aber auch, dass man sich Regeln unterwerfen oder anpassen muss, die zunächst befremdlich scheinen, aber das Zusammenleben regeln. Bei der (freiwilligen oder unfreiwilligen) Einweisung in einer akuten Krise gilt: Die Psychiatrie bekommt die Verantwortung für das Aggressive, Destruktive, das Nicht-Normale, das Nicht-Realitätsangepasste. Dies gilt nicht nur für die Forensik, sondern auch für die »ganz normale« psychiatrische Klinik. Werden psychisch kranke Menschen einer Behandlung zugeführt, dann ist das Problem zuweilen, dass der Betroffene mit seinem natürlichen Willen eine Behandlung nicht will – und das kann eine Behandlung jedweder Art betreffen. Beispiel für eine akute Zuspitzung: Es gibt seit Langem Konflikte in dem Haus, in dem der Patient lebt, mit anderen Mietparteien: Hänseleien, Spott, Ausgrenzung des psychisch kranken Menschen, Streit und Bedrohungen durch die Nachbarn und ihre Kinder – hier eskaliert etwas und eine Psychose wird akut. Ein weiteres Beispiel: Wahnhafte Störungen führen zu einer krisenhaften Steigerung, der Betreffende fühlt sich durch die Nachbarn abgehört und per Datenaustausch überwacht. Dies ist für ihn nicht zu ertragen. Er wehrt sich, schaltet die Stereoanlage ein, um sich vor dem Abhören zu schützen. Sie läuft Tag und Nacht auf voller Lautstärke. Das ist wiederum für die anderen Hausbewohner kaum zu ertragen. Ansprechen und Bitten helfen nichts – die Polizei wird gerufen, mehrmals, doch sie zieht wieder ab. Schließlich eskaliert das Ganze, es kommt zu Drohungen, dann zu Tätlichkeiten. Die herbeigerufene Polizei bringt schließlich den Betreffenden in die Klinik.

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Die wichtigsten Behandlungsmittel der psychiatrischen Klinik Gerade die Psychopharmakotherapie, also die medikamentöse Behandlung, prägt das Bild von der Psychiatrie. Gängig ist die Meinung »Da wird man doch nur mit Medikamenten vollgestopft!« Aber die Medikation ist nur ein Baustein von mehreren in der Behandlung – so sollte es zumindest sein. Nicht minder wichtig ist Psychotherapie. Nachhaltig wirksame Psychotherapie nimmt den Menschen in die Verantwortung und bewegt ihn dazu, seine Einstellung zum Leben zu überdenken und zu verändern. Das Ziel dabei ist Heilung (was nicht unbedingt Symptomfreiheit heißt, jedoch ein selbstbestimmt gestaltetes Leben, evtl. trotz und mit Symptomen), aber oft wird der Heilungsprozess nicht gewollt, nur das Ergebnis – das ist nicht nur in der Klinik so. Und Leid zu lindern, geht oft auch mit Enttäuschungen einher, etwa, weil nicht immer eine so große Linderung erreicht wird, wie erhofft und erwartet. Das Paradoxon der (psychoanalytisch ausgerichteten) Psychotherapie besteht darin, dass Psychotherapeut und Patient miteinander kooperieren (müssen), dass aber der Patient – viel mehr als in der S ­ omatik – aktiver Mitarbeiter, letztlich sogar Regisseur des Prozesses sein soll/ muss, nicht der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin. Enttäuschungen sind hier vorprogrammiert, aber die Annahme des aktiven Herr-im-Hause-Status ist für einen erfolgreichen Heilungsprozess unabdingbar. Dies gilt auch für die Psychoedukation, also die Vermittlung von Wissen über die Erkrankung. Was der Patient oder die Patientin mit erworbenem Wissen machen, ist ihren eigenen Entscheidungen überlassen. In der Tagesklinik können Menschen in analytischen Gruppen­ psychotherapien erleben und erfahren, wie jedes einzelne Gruppenmitglied sich und andere wahrnimmt, wie es empfindet, wie Erleben und Handeln motiviert und organisiert sind. Die Milieutherapie dient der Gestaltung einer Umgebung, die die verschiedenen Lebensbereiche abbildet. Sie erfasst und versteht nach Möglichkeit die Art des einzelnen Patienten, wie er seine unmittelbare Umgebung gestaltet. Hier haben die Krankenschwestern und -pfleger

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am meisten im Alltag mit den Patienten zu tun, sie bekommen so auch unmittelbar zu spüren, wie jemand seine Beziehungen gestaltet. In der Bewegungs- und Tanztherapie stehen Erfahrungen mit dem Körper im Zentrum. Es geht um die Förderung von Freude und Spaß an der Bewegung, um Beruhigung durch körperliche Entspannung, Kontakt mit anderen beim Sport, z. B. in der Laufgruppe oder beim Tanzen. Die Kunsttherapie dient dem kreativen Gestalten, der Symbolisierung von Gefühlen und der Gedanken auf einem nicht sprachlichen Weg. Eine wichtige Rolle für das Behandlungsgeschehen und -klima spielt die Supervision. Supervisoren fördern den Blick von außen auf die Dynamik der Symptomatik, die Entfaltung von Bindungen und Loyalitäten (im Leben des Patienten wie auch im Behandlungsgeschehen), das Interaktionsgeschehen mit seinen Wechselwirkungen zwischen Patienten und Team und auch auf die Dynamik der Institution und die Dynamik im sozialen Feld des Teams im Umgang mit Patienten. Ziel ist dabei die (Wieder-)Herstellung der Reflexionsfähigkeit des Teams, falls es in den Stürmen von Verwicklungen ins Schleudern kommt. Ein häufiger Fall der Behandlung in der Klinik ist die Unterbringung nach PsychKG oder BtG. Hier ist das Ziel eher von außen vorgegeben: Sicherung, Wiederherstellung der Ordnung durch Sicherung des »Störers«. Beispiel 1: Eine Patientin wird aus dem Wohnheim, in dem sie seit einigen Jahren lebte, in die Klinik gebracht. Sie verhielt sich in ihrem Lebensumfeld zunehmend gereizt, hatte andere Bewohner beschimpft und auch geschlagen. Nach einer Eingewöhnung in die Klinik beruhigt sie sich. Eine weitere Behandlung lehnt sie aber ab – insbesondere eine medikamentöse. Wenn auch die Gefährdung (für sich und andere), die vor der Aufnahme bestand, akut nicht mehr gegeben war, so bestand doch ein nicht unerhebliches Risiko des Rückfalls in die damaligen (destruktiven) Erlebnis- und Verhaltensweisen, wenn sie in ihr früheres Lebensumfeld zurückkehren würde. Eine weitergehende (unterstützende) Behandlung (in diesem Fall: mit Psychopharmaka) lehnte sie aber ab. Diese konnte aber ohne ihre Einwilligung nicht stattfinden, denn gegen den Willen der Betroffenen wäre sie ein fundamentaler Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte gewesen. Was als Möglichkeit blieb, waren Verhandlungen und Überzeugungsversuche.

Nach der Entscheidung des BGH 2012 und der Neufassung des Betreuungsgesetzes 2013 darf es eine Zwangsmedikation bei nach BtG untergebrachten Patienten nur mit Genehmigung des Gerichts geben. Eine

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medikamentöse Behandlung gegen den natürlichen Willen der Betroffenen ist nicht möglich. Eine solche Behandlung muss beim Amtsgericht beantragt werden – in einem solchen Fall muss genau angegeben werden, welche Medikamente eingesetzt werden sollen und in welcher Dosierung. Das Amtsgericht beauftragt dann einen Gutachter, einen Facharzt für Psychiatrie, der nicht aus der beantragenden Klinik kommen darf. Der Gutachter erstellt sein Gutachten, danach kommt es zu einer richterlichen Anhörung. Erst dann darf – bei entsprechender Entscheidung – der Patient auch gegen seinen Willen medikamentös behandelt werden. All das kann viel Zeit in Anspruch nehmen. Wer setzt sich mit dem Menschen auseinander, der von seinem gesetzlichen Betreuer gegen seinen Willen in der Klinik untergebracht worden ist und – vielleicht über Wochen – eine Behandlung ablehnt? Es sind die Mitarbeiter der geschützten Station der psychiatrischen Klinik: Ärzte, Pflegepersonal und Sozialarbeiter. Beispiel 2: Eine Patientin wird auf Veranlassung ihrer gesetzlichen Betreuerin in die Klinik in einem akut psychotischen Zustand eingewiesen. Sie ist hier weiterhin psychotisch, angespannt und getrieben – eine medikamentöse Behandlung darf jedoch (zunächst) gegen ihren Willen nicht stattfinden. Erst hat der gesamte, oben beschriebene Ablauf zu erfolgen. Der hierzu erforderliche Zeitaufwand liegt bei etwa vier bis sechs Wochen. Es kann passieren, dass in dieser Zeit die richterlich angeordnete Unterbringung (bis zu sechs Wochen) bereits abläuft.

Sie merken: Ein sorgfältiges und verantwortungsbewusstes Krisenmanagement kostet oft viel Zeit und Kraft. Dies ist nicht nur ökonomisch zu beurteilen, oft geht auch wertvolle Behandlungszeit verloren. Besonders belastend ist dies – für Patienten wie auch für Behandler – im Fall einer akuten Manie oder einer akuten Psychose, noch mehr sogar bei einer Kombination von Psychose und Sucht. In diesen Fällen sind auch Situationen, in denen Aggression und Gewalt oder Gewaltandrohungen eine große Rolle spielen, nicht selten. Der Konflikt, in dem Menschen, die von Berufs wegen mit psychiatrisch auffälligen Menschen zu tun haben, ist also oft gravierend: Auf der einen Seite gilt es, das Rechtsgut der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung (ob und wie sich ein Betroffener behandeln lassen will) zu respektieren und zu schützen. Und Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Klinik sind einschneidend. Auf der anderen Seite ist

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es aber nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung, von einer akuten Psychose betroffen zu sein. Menschen, die solche außerordentlich belastende Krisen durchleben, sind nicht nur schwer erkrankt, sie können das Ausmaß der bestehenden Selbst- und manchmal auch Fremdgefährdung meist nicht erkennen und sie haben zudem – über längere Zeit, im akuten Stadium der Krise – oft keine Krankheitseinsicht. Neben der Tatsache, dass es für »Psychiatriearbeiter« so etwas wie einen allgemein gesellschaftlichen Behandlungsauftrag gibt, ist auch der Umstand zu beachten, das heilkundlich Tätige in besonderem Maße zur Hilfeleistung verpflichtet sind. Es ist ihr Beruf und ihr Ziel, zu heilen oder zumindest zur Linderung von Leiden beizutragen. Neben diesen inneren Konfliktlagen hat auch die Umstellung auf ein neues Finanzierungssystem im Bereich der stationären Psychiatrie, das PEPP – Pauschaliertes Entgelt in Psychiatrie und Psychosomatik – weitere Probleme geschaffen. Da die psychiatrische Einrichtung mit zunehmender Behandlungsdauer eines Patienten immer weniger Geld erhält, entsteht ein ökonomischer Druck in Richtung kürzerer Verweildauern. Aber in der Psychiatrie braucht man, wie auch in der Psychotherapie, genau das Gegenteil: Zeit. Zum Beispiel, wenn es um Probleme geht, die mit Gewaltbereitschaft, Gewaltausübung oder Gewalterfahrungen zu tun haben. Aber auch in vielen anderen Fällen lässt sich die fachlich begründete Dauer eines Behandlungs- und Heilungsprozesses nicht voraussagen und somit standardisieren.

Konflikte mit und in der Psychiatrie Eine bekannte kritische Frage lautet: Gibt es ein Recht des Nicht-Wahnsinns über den Wahnsinn (nach Foucault, 2015). Man kann diese Frage auch so differenzieren: Was ist der wahnhaften Allmachtsphantasie, anderen Menschen die eigene verrückte Welt anzudienen oder aufzunötigen, entgegenzusetzen? Die Frage gilt natürlich auch umgekehrt: Wie viel Normalität wird zwingend vorgeschrieben? Was ist zu tun, wenn z. B. die psychotische Nachbarin im Haus jede Nacht schreit und poltert, Gegenstände, auch Glasflaschen, vom Balkon wirft und auf Bitten oder auch nachdrücklichere Interventionen der Hausmitbewohner mit aggressivem Schreien und Drohungen reagiert? Es ist schon schwierig,

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vielleicht irgendwann unerträglich und riskant – bei allem Verständnis –, mit einer solchen Nachbarin Tür an Tür zu wohnen. Für ein solches Verhalten gibt es sicher innere Gründe, aber wie kann man mit einem solchen Mitmenschen zusammenleben? Die Selbstbestimmung über den eigenen Raum und die eigene Gesundheit ist ein hohes Gut – aber für alle Beteiligten! Was ist zu tun, wenn jemand, in einer wahnhaften Allmachtsphantasie lebend, die Grenzen der Mitmenschen im Haus, auf der Straße, im Stadtviertel ständig überschreitet und Angst auslöst? Wenn die Person sich nicht behandeln lassen will, kann man sie (auf Dauer) nicht zwingen. Aber was dann? Und was ist hier die Aufgabe der Psychiatrie?

In unserer Gesellschaft besteht die Verpflichtung des Einzelnen zur Eigenverantwortlichkeit. Die öffentliche Debatte nach dem durch einen psychisch kranken Co-Piloten erzwungenen Absturz der ­German-Wings-Maschine hat dieses Thema erneut in den Blick gerückt. Wenn jemand eine Erkrankung hat – auch und gerade eine psychische Erkrankung –, bei der eine Behandlung möglich ist, hat der Patient oder die Patientin und auch der Fachmann oder die Fachfrau, der/die dies erkennt, nicht auch die Verantwortung dafür, den durch die Krankheit des Betroffenen drohenden, erheblichen Schaden – in der unmittelbaren Umgebung, der Hausgemeinschaft, der Familie, im Berufsleben – zumindest von anderen abzuwenden? Gegebenenfalls und nur dann, wenn erheblicher nachhaltiger Schaden droht, muss diese Verantwortung, wenn möglich, zeitweise von jemand anderem übernommen werden: zum Beispiel in der akuten Krisenzeit von der psychiatrischen Klinik

Gewalt in der Psychiatrie und die Risiken für die Mitarbeitenden Die psychiatrische Klinik ist ein nicht ungefährlicher Arbeitsplatz. Jeder, der in der Psychiatrie arbeitet, weiß, dass Gewalt und Aggressionen dort gehäuft vorkommen. Mitarbeitende werden beschimpft, bedroht, auch körperlich attackiert und verletzt. Statistiken belegen, dass Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Laufe ihres Berufslebens zu 50 % von tätlicher Gewalt betroffen sind, Pflegekräfte sogar zu 70 %. In der Öffentlichkeit wird allerdings viel häufiger von Gewalt der Psychiatriemitarbeitenden gegenüber Patienten berichtet.

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Das Thema Gewalt ist schambesetzt, man fühlt sich schuldig und inkompetent. Gewalt hat für die in der Psychiatrie arbeitenden Menschen psychische Folgen: Sie kann z. B. dazu führen, dass sie überlegen, ob sie den Beruf wechseln sollen. Konkrete Gewalterfahrungen, also Attacken von Patienten, können auch körperliche Folgen haben. Der Umgang mit gewaltbereiten Patienten ist deshalb eine heikle Aufgabe in der Psychiatrie. Es geht ja nicht nur darum, Gewalt möglichst zu verhindern, sondern auch um die therapeutische Aufgabe, psychisch kranke Menschen dabei zu unterstützen, ihre gewalttätigen und gewaltauslösenden Anteile in ihr Selbstkonzept, in ihr Ich zu integrieren und so überhaupt erst beherrschbar zu machen. Bei einer psychischen Erkrankung ist Gewalt zunächst als Ausdruck eines Nicht-­ Zurecht-Kommens mit einer problematischen Lebenssituation zu sehen. Aggressive Übergriffe kann es natürlich auch bereits im Vorfeld, vor der stationären psychiatrischen Behandlung, geben. Dann ist die Frage: Wie viel Aggression wurde toleriert, bevor jemand in die psychiatrische Klinik eingewiesen wird? Aggressionen in der Vorgeschichte sind ein bedeutsamer Indikator für aggressives Verhalten in der Klinik und sind auch deshalb sehr ernst zu nehmen. Es gibt ein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit: Das gilt für Mitarbeiter, Patienten und Angehörige. In Gesundheitsberufen, insbesondere in der Psychiatrie, gibt es neben dem Risiko, tätlich angegriffen zu werden, das Risiko für die seelische Gesundheit, denn man ist umgeben von Menschen, die einen regelhaft entwerten.

Entwicklung der psychiatrischen Versorgung: Was wir brauchen Was benötigen wir zur Durchführung und Verbesserung der psychiatrischen Arbeit? Hier sollen nur die wichtigsten Punkte herausgegriffen werden: –– Wir brauchen flexiblere Systeme mit Angeboten, die sich den jeweiligen Bedürfnissen anpassen: mehr Durchlässigkeit der ambulanten, stationären und tagesklinischen Sektoren, sodass die Behandlung variabel, je nach aktuellem Bedarf, gestaltet werden kann. Wir brauchen eine flexiblere Handhabung von Psychotherapiekontingenten

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und hier mehr Rückkopplungsmöglichkeiten. Wir brauchen ebenso eine Flexibilisierung der Finanzierungsmodelle jenseits von ICD-10Zwangs- und Pseudodiagnosen. Dies könnte insgesamt ein Modell für eine integrierte Versorgung werden. Wir brauchen die Bereitstellung und Finanzierung von Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen. Hier könnte eine psychiatrische Klinik im Stadtviertel auch eine Anlaufstelle sein, wenn etwas zu eskalieren droht, am besten vor der großen Krise. Wir brauchen vernünftigere Anforderungen an die Dokumentation vonseiten der Kostenträger und auch der Behörden und Gerichte. Hier gibt es viele Möglichkeiten der »Verschlankung«. An die Kostenträger gerichtet: Die Verkürzung der Verweildauer hat Grenzen und kann der nötigen und möglichen Behandlungsqualität entgegenstehen. Nicht nur, weil die Zeit mitzählt, in der noch keine Einvernehmlichkeit (etwa hinsichtlich der medikamentösen Behandlung) hergestellt werden kann (die Zeit, die man für die Erwirkung eines richterlichen Beschlusses benötigt, ist unbedingt zu berücksichtigen!), sondern auch, weil die Behandlung einer psychischen Erkrankung oft sehr komplex ist und der Einbeziehung des gesamten sozialen Systems bedarf. An den Gesetzgeber gerichtet: Es steht die Novellierung des PsychKG NRW vonseiten des Landes an. Eine Überarbeitung ist dringend nötig. Da man der psychiatrischen Klinik nun einmal eine Ordnungsfunktion zugewiesen hat, benötigt diese auch die Möglichkeiten, eine Behandlung nach den gebotenen fachlichen Qualitätsstandards durchzuführen. Ein Appell an die Gerichte: Wir brauchen die Beschleunigung vieler Verfahren, um keinen kontraproduktiven und teils auch (für die unterschiedlichen Beteiligten) gefährlichen Behandlungsleerlauf zu haben.

Fazit Die Frage, ob eine sinnvolle und wirksame Behandlung von psychisch kranken Menschen in einer psychiatrischen Klinik realistisch und möglich ist, lässt sich klar mit einem Ja beantworten. Die Qualität der Behandlung in einer psychiatrischen Klinik steht und fällt allerdings mit

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der Qualität, dem Engagement, der Erfahrung, Bereitschaft und Fähigkeit der Mitarbeitenden, sich auf die oft schwierigen Menschen, die sich – freiwillig oder nicht freiwillig – in unsere Behandlung begeben, einzustellen und einzulassen. Und sie steht und fällt mit den behandlungsförderlichen oder -behindernden System- und Umweltbedingungen, unter denen die Psychiatrie arbeitet.

Literatur Armbruster, J., Dieterich, A., Hahn, D., Ratzke, K. (Hrsg.) (2015). 40 Jahre Psychiatrie-Enquete – Blick zurück nach vorn. Köln: Psychiatrie Verlag. Foucault, M. (2015). Die Macht der Psychiatrie – Vorlesungen am College de France 1973–1974. Berlin: Suhrkamp. Frances, A. (2013). Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: DuMont. Goffman, E. (1961; dt. 1973). Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Michael J. Froese

Der Systemumbruch von 1989 und seine intergenerationellen Folgen für Ostdeutsche

Zusammenfassung Lange ist innerhalb der Psychoanalyse der Einfluss der äußeren zugunsten der inneren, der psychischen Realität geleugnet worden. Mit dem Wissen über die nachhaltigen Wirkungen des Holocaust begann diese Haltung fragwürdig zu werden. Inzwischen gehen wir davon aus, dass neben Kriegen auch massive politisch-kulturelle Ausnahmezustände erhebliche psychische Verunsicherungen von Subjekten wie von Familiensystemen erzeugen. Der Systemumbruch von 1989 hatte neben weitreichenden ökonomischen und politischen auch anhaltende psychische Folgen für viele Bürger der ehemaligen DDR. Es kam unter dem Zusammenbruch der alten Gesellschaft und dem Neuanfang im zunächst fremden westlich-demokratischen System zu einem Zusammenrücken der Generationen. Dabei gerieten die Älteren eher ungewollt in den Zustand einer zweiten, dieses Mal kulturell bedingten Adoleszenz, während die Kinder dieser Eltern zum Teil erheblich durch die Verunsicherungen ihrer primären Objekte beeinflusst wurden. Anhand von zwei Fallbeispielen wird die Arbeitsweise einer psychohistorischen Gruppe dargestellt, mit deren Hilfe der Einfluss historischer Ereignisse auf die Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik herausgearbeitet wird. Unsere Ergebnisse stehen beispielhaft für psychische Transformationsprozesse, wie sie beim Übergang aus einer autoritären in eine westlich-demokratische Gesellschaft entstehen.

Geschichte und deren Metabolisierung John Bowlby half während des »Blitz«-Krieges 1939/40, Kinder aus London zu evakuieren. Ähnlich wie Anna Freud und Dorothee Burlingham interessierte er sich dafür, wie Kinder die überwältigenden Erlebnisse der deutschen Bombenangriffe verarbeiteten. Er bemerkte, wie bestimmte Phantasien, die Kinder entwickelten, nur als Reaktion auf die emotionalen Reaktionen ihrer Mütter erklärt werden konnten. Bowlby war schon Ende der 1930er Jahre unter der Supervision von

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­Melanie Klein der Frage nachgegangen, weshalb bestimmte Mütter unter extremen Angstzuständen litten und wie sich diese auf ihr Kind auswirkten. Obwohl Klein Bowlbys Überlegungen konsequent ignorierte, widmete dieser sich unbeirrt dem Thema, wie intergenerationelle Übertragungen von Bindungsschwierigkeiten und ungelöste Themen von einer Generation auf die nächste verstanden werden können. An diesem Punkt kam es 1952 zwischen Bowlby und der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft zum Eklat. Seine Annahme eines separaten und primären motivationalen Systems der Bindung galt als unanalytisch. Lange vernachlässigten Psychoanalytiker die seelischen Wunden, die die äußere Realität hinterlässt (Volkan, Ast u. Greer, 2002; Volkan, 2015; Oliner, 2015). Bis heute scheint es in manchen Arbeiten nur intrapsychische oder interpersonale Momente zu geben. Die Welt mit ihren kulturellen, politischen, historischen und traumatischen Momenten wurde nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Die Nachwirkungen der Kriege brachten das Verständnis für traumatische Prozesse zurück. Im Zusammenhang mit der Shoah-Forschung entstand das Konzept der transgenerationellen Weitergabe (Kestenberg, 1972). Heute stellen uns Kriege und Migration in unerwartet hohem Ausmaß vor neue behandlungstechnische Herausforderungen. In der psychoanalytischen Literatur werden im Wesentlichen zwei Konzepte der Weitergabe beschrieben. Zunächst wurde die Weitergabe von unaushaltbarem traumatischem Material beschrieben, für deren Verarbeitung die nächste(n) Generation(en) in Anspruch genommen wird (werden). Dabei blieb der Modus dieser Weitergabe stets etwas rätselhaft. In neueren Veröffentlichungen wird auf die Bedeutung von durch Traumata geschädigten Bindungsmustern hingewiesen, die diese Vorgänge besser verständlich machen können (Salberg, 2015). Faimberg (2005) hatte vom Telescoping der Generationen gesprochen und Identifikationen die entscheidende Rolle bei der Weitergabe »stummer Geschichten« zugeschrieben – wie die Teleskop-Metapher ein Zusammenrücken der Generationen treffend ins Bild setzt. Was dem Kind von den traumatisierten Erwachsenen weitergeben wird, sind die »Selbst- und Objektbilder der älteren Generation« (Volkan, 2012, S. 238). Unter dem Bindungsaspekt betrachtet werden die gegenseitige Regulation bzw. Dissoziation von Affekten zum Thema (Salberg, 2015). Mit anderen Worten: Das transgenerationelle Trauma existiert unter

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diesem Gesichtspunkt stets als Bindungstrauma. Denn Eltern und Kinder bilden eine Bindungseinheit. Geht man davon aus, dass kleine Kinder ständig die emotionale Präsenz ihrer Eltern auf der Suche nach Bindung scannen, dann entsteht die Frage: wie reagieren Kinder auf den traumatisch abwesenden Teil der Eltern? Bindungsforscher beschreiben die Sehnsucht der Kinder, sich mit den traumatisierten oder prätraumatisierten Selbstanteilen der Eltern zu verbinden. Sie beschreiben aber auch »Löcher« in dieser Bindung. Das Bindungstrauma führt bei den Kindern zu Fragmentierungen und Rollenumkehr. Dabei versuchen die Kinder, nicht selten erfolglos, die Eltern von außen zu heilen. Aber das ist die Textur der traumatischen Bindung: Wie fühlt es sich für das Kind an, mit dem seelisch verwundeten Elternteil verbunden zu sein? Volkan (2012) hat neuerdings das Konzept der Deponierung entwickelt. Während bei der Identifikation aktiv Objektbilder und andere Eigenschaften einer anderen Person introjiziert werden, verlagert oder projiziert der Erwachsene unerträgliche Selbstanteile in das Kind. Die Deponierung ist der projektiven Identifizierung verwandt. Wir kennen das Phänomen des Deponenten vom Ersatzkind-Phänomen. Im Prozess der transgenerationellen Übertragung kann es zu einer Übertragung der die Eltern belastenden Bilder auf die sich entwickelnden Selbstrepräsentanzen des Kindes kommen, um von ihnen »frei« zu werden. In anderen Fällen würden – so Volkan – Eltern deponieren, um ersehnte oder idealisierte Bilder in der nächsten Generation »lebendig« zu halten. »Die Kinder, die zu Reservoiren werden, entwickeln eine Pathologie oder auch nicht, je nachdem, wie sie mit dem umgehen, was von den Erwachsenen in ihre innere Welt deponiert wurde« (Volkan, 2012, S. 243).

»Ich hatte das Glück, als Kind eine Revolution zu erleben« »Die DDR war gestorben, bevor sie uns in ein Leben voller Verbote stecken konnten. […] Wir, so musste es scheinen, waren die erste Generation, die sich in nichts mehr von ihren Altersgenossen im Westen unterscheiden würde. Welch in Irrtum!«

So formuliert es Christian Brangel, 35, Jahrgang 1979, in der Zeit. Die Wochenzeitung hatte zum 25. Jubiläum des Mauerfalls 2014 sechs junge Ostdeutsche um ihre Stellungnahme zum Mauerfall gebeten. Christian Brangel fährt fort:

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»Arbeitslosigkeit zog bei uns ein, da war ich gerade elf. Sie saß jetzt abends mit bei uns am Küchentisch. Und sie wohnte bei uns. Sie war überall. […] Frankfurt (Oder) war ein Bombenkrater der Biografien. Viele, die früher wichtig gewesen waren, waren jetzt unwichtig. Die meisten aber waren unwichtig und blieben es. […] Die Eliten des alten Systems, Politiker, Polizisten, Lehrer waren verschwunden oder total verunsichert. Die Protagonisten des neuen Systems mussten ihre Autorität erst erwerben. […] Das gesellschaftliche Magnetfeld hatte sich aufgelöst. Die moralische Kompassnadel, die den Menschen zeigt, was gut und was falsch ist, fing im Osten zu rotieren an, sie hatte ihren Fixpunkt verloren. […] In diesen Jahren des Suchens wuchs ich auf. Das war herrlich – einerseits. Niemand zwang uns Gehorsam auf. Vor dem Polizeirevier spross wilder Cannabis, und keinen schien es zu stören. Wir tanzten, kifften und knutschten in den Clubs, die wir in verfallenden Gebäuden eingerichtet hatten. Die Musik aus Berlin schallte herüber und mit ihr das Gefühl, dass eine gute Zeit begann. […] Doch da war noch etwas anderes. […] Die Revolution von 1989 war friedlich verlaufen. Jetzt kam die Gewalt. Auf den Schulfeten brüllten wir die AntiNeonazi-Hymne ›Schrei nach Liebe‹ von den Ärzten mit. Am Rand der Tanzfläche standen die neuen Nazis und merkten sich, wer mittanzte. Wehe dem, den sie als Feind ausgemacht hatten. Bald gab es die ersten Toten: In Fürstenwalde erschlugen zwei Nazis einen Arbeitslosen, der sie um eine Zigarette angeschnorrt hatte. Sie brachen ihm die Beine und rammten ihm einen Schaufelstiel in den Mund. In Eberswalde folterten zwei junge Erwachsene und zwei Kinder – keine Nazis – einen 14-jährigen Jugendlichen. Das sind nur zwei Beispiele für eine Verrohung, die im Osten der neunziger Jahre um sich griff. […] Irgendwann löste die Gewalt bei vielen kein Entsetzen mehr aus, sondern Gleichgültigkeit. »Warum musst du auch lange Haare tragen?« Das war alles, was ein Nachbar zu mir sagte, als mich eine Gruppe von Nazis mal wieder zusammengeschlagen hatte. Als Jugendlicher war ich irritiert, von dem, was passierte. […] Damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass allein der Westen vorgab, was in Deutschland diskutiert wurde: In Büchern, Zeitungen, Fernsehsendungen war von Ostdeutschen die Rede. […] Aber kaum ein Westdeutscher kam auf die Idee, sich als Westdeutscher zu bezeichnen. Der Westen war ganz selbstverständlich die Sonne, um die alles andere in Deutschland kreiste. Ich habe jahrelang versucht, mit dieser Ignoranz meinen Frieden zu machen. Ich habe den Westdeutschen in mir gesucht und wollte Konrad Adenauer und Fritz Walter auch zu meiner Geschichte machen. Es ist mir nicht gelungen. Irgendwann fing ich an, mich vom Westen abzukehren. Ich schrieb uns Ostdeutschen kollektive Eigenschaften zu: Solidarität, menschliche Nähe. Was für ein Blödsinn! Deutsche Muslime lächeln wohl milde, wenn sie von meinen Problemen lesen. Ihnen mag es seit Jahrzehnten ähnlich gehen. Ein türkischer Verbandsvertreter sagte mir einmal: »Ihr Ossis habt immerhin die Möglichkeit, unterzutauchen. Wir dagegen werden immer auffallen.« Das ist vielleicht der wichtigste Satz, den ich je im Westen gehört habe. Die westlichen Meinungsführer haben nicht mitbekommen wollen, welcher Zivilisationsbruch sich im Osten der Neunziger vollzog. Und noch heute vermeiden sie den Blick dorthin« (Die Zeit, 45, 2014, S. 15).

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Psychische Kosten der deutschen Vereinigung Mit dem Mauerfall von 1989 und der deutschen Vereinigung endete für Deutschland der Zweite Weltkrieg. Für viele Ostdeutsche war es ein »positives Trauma«, endlich wieder vereint zu sein. Sie brachen mit großen Hoffnungen in die westliche Welt auf und ahnten nicht, welch schwere Jahre ihnen bevorstanden. Der Weg, den Ostdeutschland in den 25 Jahren in der Folge gehen musste, war lang und steinig. Wie lassen sich die psychischen Spuren dieses Übergangs auf dem Hintergrund von traumatischen Erfahrungen zweier Kriege und dem Leben unter den repressiven Bedingungen der DDR-Zeit angemessen beschreiben? Ich werde argumentieren, dass ostdeutsche Familien meist deutlich auf den Systemumbruch reagierten: Es kam unter dem Zusammenbruch der alten, autoritären Gesellschaft und dem Neuanfang im zunächst fremden westlich-demokratischen System zu einem Zusammenrücken der Generationen. Dabei gerieten die Älteren eher ungewollt in den Zustand einer zweiten, dieses Mal kulturell bedingten Adoleszenz, während die Kinder dieser Elterngeneration zum Teil erheblich von den Verunsicherungen ihrer primären Objekte beeinflusst wurden. Aber diese Prozesse verliefen selten traumatisch. Sie bedeuteten allerdings erhebliche existenzielle Erschütterungen, Verunsicherungen durch den Verlust des Vertrauten und die Notwendigkeiten eine neue, bikulturelle Identität zu erwerben, wie wir sie von Migrationsprozessen her kennen. Will man Ostdeutsche besser verstehen, kann man sie als unsichtbare Migranten ansehen.

Entstehung und Arbeitsweise einer psychohistorischen Arbeitsgruppe Eine Gruppe von Lehranalytikern der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse Berlin (APB) begann in den späten 1990er Jahren der Frage nachzugehen, wie sich die politische Vergangenheit der DDR in psychoanalytischen und therapeutischen Prozessen abbildet. Die lebensbeeinflussende, fundamentale Bedeutung historischer Umstände hatten diejenigen, die schon vor dem Mauerfall im Osten Deutschlands gelebt hatten, eindrucksvoll am eigenen Leibe erfahren: Viele hatten unter

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der deutschen Teilung, dem 17. Juni 1953, dem Mauerbau, dem niedergeschlagenen Aufstand von 1956 und dem Ersticken des Prager Frühlings gelitten. Zu den prägenden historischen Ereignissen gehörten aber auch das Hoffen und Aufbegehren gegen das repressive System mit der »­Solidarnosc-Bewegung« in Polen, »Glasnost« und »Perestroika« Gorbatschows sowie die Beteiligung an der Friedlichen Revolution von 1989. So wurde es für unsere Arbeitsgruppe ein besonderes Anliegen, die Einflüsse der Geschichte sowohl zu einem Schwerpunkt kollegialer Diskussionen und zu einem wichtigen Bestandteil in der Ausbildung junger Kollegen zu machen. In einer von Annette Simon Ende der 1990er Jahre gegründeten »AG Psychoanalyse und Gesellschaft« gingen wir in dieser Gruppe spezifischen DDR-Themen nach: Wir untersuchten den Umgang mit Kriegsfolgen, die Auswirkungen von Krippenerziehung, Stasibespitzelung und politischer Haft. Auf mehreren Arbeitstagungen des Instituts wurden psychische Prägungen bzw. Traumatisierungen in den Zeiten der Diktatur untersucht (Seidler u. Froese, 2009). Einen zentralen Stellenwert nahm im Laufe der Zeit aber die Frage ein, wie Ostdeutsche den Systemumbruch von 1989/90 verarbeitet hatten. In dieser Gruppe haben wir verschiedene Setting-Varianten probiert und circa fünfzig Fälle, bei denen wir besondere historische Einflüsse vermuteten, untersucht (Froese u. Seidler, 2001; Horzetzky, 2009; Simon, 2014; Ecke, Froese u. Seidler, 2014; Wachholz-Abiodun, 2014; Seidler, 2015; Froese, 2014, 2015; Seidler, 2015; Trobisch-Lüttke u. Bomberg, 2015).

Erschütterungen der Generationen Wichtigster Befund unserer Untersuchungen war, dass der politische und kulturelle Systemwechsel von 1989 ostdeutsche Familien stark betroffen hat. Dieses Resultat deckt sich mit Erfahrungen, die Trauma-Forscher wie David Becker (2014) in Südamerika gewonnen haben. Becker fand in einer Untersuchung in vier lateinamerikanischen Ländern, dass der Übergang einer Gesellschaft von der Diktatur zur Postdiktatur – ähnlich wie vom Krieg in den Frieden – regelhaft schwere Krisen hervorgerufen hat. Wir stellten in diesem Zusammenhang bei unseren Patienten fest, dass diese seltener über Nachwirkungen von Stasibespitzelung und politischer Haft, sondern vielmehr in der über-

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wiegenden Zahl der Fälle über die Folgen von Mauerfall und deutscher Vereinigung klagten. Unter den Beschwerden, über die damals 40- bis 50-jährige Menschen angesichts verbreiteter existenzieller Krisen klagten, standen Erlebnisse des Nicht-Gewollt-Seins, des Sich-Ausgeschlossen-Fühlens und Sich-Nicht-Gebraucht-Fühlens, die schon früh erlebte, ähnlich strukturierte traumatische Erfahrungen wiederbeleben konnten. Besonders in den ersten Jahren, als es im Gefolge einer Deindustrialisierung ganzer Landstriche zu einer Massenarbeitslosigkeit kam, sprach man von einem besonderen Störungsbild, das Verbitterungssyndrom, das Enttäuschung, Kränkung und die relative Unfähigkeit, hiermit offensiv umzugehen, beschreibt. Unter psychoanalytischer Perspektive kann man nun fragen: Wie ging es den Kindern der hiervon Betroffenen, die sich in den sensiblen Phasen früher Kindheit und Adoleszenz befanden? Wir stellten fest: Neben besonders betroffenen älteren Erwachsenen gab es ein erhöhtes Risiko für Jugendliche, die 1989 in der Pubertät waren. Wie es Christian Brangel im oben zitierten ZEIT-Artikel stellvertretend für viele seiner Generation beschreibt, hat der Systemwechsel zuerst den primären Bezugspersonen zugesetzt, sekundär aber auch den Jugendlichen selbst. Diese reagierten auf die verunsicherten Eltern vor allem dadurch, dass sie Formen entwickelten, sich um diese zu kümmern. Je nach Persönlichkeitsstruktur und Familiendynamik kam es zu einem Zusammenrücken der Generationen: Nach unseren Erfahrungen traten bei Jugendlichen, die zur Zeit der existenziellen Labilisierungen ihrer Primärobjekte in der frühen Adoleszenz waren, die stärksten Verunsicherungen auf. Sie entwickelten meist verschiedene Formen von Parentifizierung. Parallel zu verzögerten Ablösungsprozessen durch Parentifizierung haben wir pseudoprogressive Entwicklungen beobachtet, bei denen sich Adoleszente forciert von ihren Eltern abwandten. Kamen Patienten mit solchen Erfahrungen in Therapien, bildeten sich diese Parentifizierungen auch in der Übertragung zu ihren Analytikern ab. Junge Erwachsene mit entsprechenden Erfahrungen sind geübt darin, ihre Primärobjekte zu beschützen, zu versorgen und sich um sie zu kümmern. Insofern waren entsprechende Übertragungsentwicklungen nicht nur als übliche Abwehr unreifer Abhängigkeitswünsche zu verstehen. Hier wurde eine Übertragungsgestalt ausgebildet und inszeniert, in der das Ineinanderrücken der Generationen zum

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Ausdruck kam. In den Therapien tauchten dabei häufig auch massive Verleugnungen dieser Abhängigkeit auf, sodass länger dauernde Therapien nicht zustande kamen oder zu früh beendet wurden. Patienten mit pseudoprogressiven Mustern neigten hier zu der Einschätzung, dass sie Therapien nicht brauchten oder beendeten oder entwickelten einen Widerstand gegen die Psychogenese ihrer Beschwerden überhaupt. Marion Oliner (2015) gehört zu denen, die sich seit längerer Zeit um eine angemessene Berücksichtigung der äußeren Realität in der Psychoanalyse bemühen. Oliner fragt: Wie können Kinder verwundeter, traumatisierter Eltern diese als psychische Objekte für ihre eigene Entwicklung und Individuation verwenden? Unter Bezugnahme auf Winnicotts Konzept der Objektverwendung beschreibt Oliner: Die Nichtbelastbarkeit einer Generation bewirkt vor allem, dass deren Kinder auf Formen der unbewussten Omnipotenz zurückfallen. Winnicott hat mit dem Konzept der Objektverwendung die Kategorie der äußeren Realität in die Objektbeziehungstheorie eingeführt. Es geht nicht mehr nur um die Beziehung zum Objekt, sondern um Qualitäten des Objektes selbst. Winnicott meint mit Objektverwendung im Kern, dass das Objekt die Fähigkeit besitzt, den (potenziell tödlichen) Angriff des Säuglings zu überleben. Oliner findet bei Eltern, die durch äußere Ereignisse verunsichert und leidend sind, nur eingeschränkte Möglichkeiten, Hassattacken von Jugendlichen zu ertragen. »Die Unfähigkeit zu überleben muss nicht unbedingt mit dem Tod oder realen Verlust des Objekts zusammenhängen; sie kann auch in Reaktionen wie psychischem Rückzug, Schwäche angesichts von Aggression und vielen anderen, ähnlichen Reaktionen auf Angriffe Ausdruck finden. Das Ergebnis ist eine Rückkehr zur Omnipotenz, weil das Objekt sich als unzuverlässig erwiesen hat« (Oliner, 2015, S. 10).

»Ob das der Osten aus uns gemacht hat?« An einem Beispiel möchte ich zeigen, wie wir in unserer psychohistorischen Gruppe gearbeitet haben: Johannes (Name geändert), ein 31-jähriger Handwerker aus der Nähe von Potsdam, wurde mir mit relativ schweren Zwangssymptomen geschickt. Er sei zu einer Psychiaterin gegangen, weil er nicht 30 Jahre alt werden wollte und immer noch so in seiner Entwicklung festhänge, wie das gegenwärtig der Fall sei.

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Als ich seine Krankenkassenkarte einlese, sehe ich auf sein Foto. Darauf trägt er seine Haare so merkwürdig quer über der Stirn, dass ich spontan an einen Hitlerjungen denken muss. Kurz darauf berichtet er, dass er furchtbare Angst vor Veränderungen habe, wobei er sich vor allem ein Studium und eine feste Beziehung wünsche. Sein Vater hat die Familie verlassen, nachdem die Mauer gefallen ist. Der Patient ist zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Bei fast jeder Gelegenheit, in welcher er mit Polizisten oder anderen Vertretern der staatlichen Autorität in Kontakt komme, spüre er einen heftigen Drang, sich mit ihnen anzulegen und schaffe es kaum, seine Wut im Zaum zu halten. Johannes’ Mutter sei ängstlich, streng und immer mit sich beschäftigt gewesen. Nachdem der Vater weg war, habe sie von ihm verlangt, dass es sich um die zwei Jahre jüngere Schwester, um Haus und Garten kümmere. Er schämte sich für die Situation, ohne Vater in einem alten, ungepflegten Haus zu leben. So tauchte er in amerikanische Serien ein, in denen das Leben, ideal – wie er es sich vorstellte – stattfand. Johannes kommt 1989, zur Zeit des Mauerfalls, in die Schule. Zum Glück ist da ein Onkel, der sich wie ein Vater um ihn kümmert. Drei Jahre später verunglückt dieser tödlich. Die Familie ist geschockt, Johannes entwickelt Zwangssymptome. Glücklicherweise gibt es noch einen Großvater, der ihm Zeichnen und Schnitzen beibringt. Der Opa war von seiner Frau wegen eines Mannes aus einem Nachbardorf verlassen worden und hatte zu Trinken begonnen. Infolge eines Sturzes ist er querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Nach drei Jahren kehrt die Oma zur Familie zurück und versuchte eine Wiedergutmachung mit der Pflege ihres Mannes und dem Sich-Kümmern um die Kinder und Enkel. Auffallend ist, in welch aggressiver Weise sowohl dieser Opa als auch Johannes’ Mutter darauf achten, die Kinder von Kriegsspielzeug fernzuhalten. So schneidet die Mutter den Indianern, mit denen er als kleiner Junge spielt, mit einer Schere Revolver oder Gewehre ab, sodass sie zum Kriegsspiel unbrauchbar sind. Auch Großvater und zwei seiner Onkel reagieren heftig, wenn die Kinder Krieg spielen oder kämpfen wollen. Mehrere Familienmitglieder vertreten heute – wie Johannes – militant konsumkritische und antikapitalistische Haltungen. Gleichzeitig leiden mehrere Mitglieder der Großfamilie – wie Johannes – unter Zwangssymptomen. Und Johannes beschreibt eine Atmosphäre im Ort und in den Familien mehrerer seiner Freunde als »braune Soße«, eine latent wütende Haltung. Früher galt die Wut dem Osten, d. h. der staatlichen Autorität. Heute ist es der Kapitalismus, der erneut enttäuscht und nicht hält, was man sich von ihm versprochen hat. Auf mich wirkt Johannes im Kontrast zu den berichteten unterdrückten massiven Wutgefühlen geradezu zahm und lieb, sodass ich mich entschließe, ihn in unserer psychohistorischen Gruppe vorzustellen. In der Gruppe wird bald gefragt: Welchen Zusammenhang mag es zwischen Johannes’ linksaggressivem Potenzial und der »braunen Soße« geben? Ein Kollege weiß vom sogenannten Massaker von Treuenbrietzen, aus dessen weiterem Umfeld Johannes kommt. Die SS konnte die Stadt noch einmal von den Russen zurückerobern. Am Morgen des 23. April 1945 brachte sie daraufhin 120 Kriegsgefangene um. Nachdem die Russen den Ort zum zweiten Mal eingenommen hatten, töteten sie ihrerseits circa 1.000 Männer, die hier wohnten oder als Flüchtlinge in der Nähe greifbar

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waren. Wir sind plötzlich sehr beschäftigt mit Phantasien von massiver Gewalt und erschrecken, wie wenig wir davon wissen, obwohl sich die Ereignisse nur 60 km von unserer Haustür entfernt ereigneten und seit Mitte der 1990er Jahre Berichte hierzu in der Presse erschienen waren. Aber – wie bei anderen Traumatisierungen – entsteht bei diesen, möglicherweise transgenerationell wirkenden Ereignissen die Frage, ob mein Patient hiervon tatsächlich betroffen ist. Ein Kollege sagt, ihm falle auf, dass ich eine ähnlich abwertende Formulierung über die DDR-Zeit und den »Osten« gebrauche, wie ich sie oft von meinem Patienten höre. Der Osten als Container für alles Schlechte? Es wird überlegt, ob ich mit dieser unbewussten Identifizierung mit meinem Patienten dessen Verschiebung seiner Enttäuschung an seine Eltern-Objekte auf den Staat mitmache? Bei mir klingt innerlich etwas an. Mir fallen nach unserer Sitzung mehrere Szenen ein, in welchen ich mich wunderte, was alles in der DDR schlecht gewesen sein soll. In den folgenden Stunden beginne ich, darauf zu achten, ob ich weiterhin mit Johannes in diesem Punkt »kooperiere«. Ganz offenbar wurde »der Osten« auch zum Container vor allem für Enttäuschungen an seinen Eltern. Als es mir gelingt, seine Enttäuschung auch auf unsere Arbeit zu beziehen, kann er ziemlich erleichtert erzählen, wie sehr ihn die Arbeit mit mir anstrengt und wie unzufrieden er mit dem bisherigen Ergebnis doch ist. Kurz darauf kann Johannes sehr spezifisch über die familiären Erlebnisse und ihre Einordnung sprechen: »Vor allem die Oma hatte immer wieder uns Kindern, von diesen schrecklichen Dingen erzählt. Die Geschichten, die über Treuenbrietzen erzählt wurden, hatten etwas Tiefböses. Meine Oma konnte sich gut an vieles erinnern. Und ich glaube, dass ein Teil meiner Ängste von diesen schlimmen Erzählungen geprägt sind. Natürlich erzählte Oma sehr spannend. Wenn ich Kinder habe, werde ich auf alle Fälle darauf achten, dass meine Mutter ihnen nicht diese Geschichten erzählt. Ich war jedenfalls sehr jung. Sie kochte für uns. Und sie hatte Angst, dass uns etwas passiert. Da brachte sie natürlich viele Negativbeispiele, damit wir nicht unvorsichtig sein sollten. Die Munitionsfabrik, wo die Russen waren, war nur einen Kilometer entfernt. Sie sagte, ich sollte auf keinen Fall im Wald was essen, weil alles Mögliche giftig sein könnte. So schlug ich jeden Fingerhut kaputt, damit nicht meine kleine Schwester so was essen würde. Alles sehr übertrieben! Unsere Onkel haben im Gegensatz zu unserer Oma nie über irgendwas wirklich mit uns gesprochen. […] Bei bestimmten Themen bricht es dann heraus. Ich hadere die ganze Zeit mit mir selbst. Da einen gesunden Mittelweg zu finden, ist schwer. Ob das der Osten aus uns gemacht hat? […] Diesen Konflikt habe ich von klein an. Ich weiß noch, ich beobachtete Ameisen sehr lange, bis ich herausfand, wer tötet wen? Oder wie ich selbst eine Hornisse getötet habe, was ich eigentlich nicht durfte. Ich schnitt sie auf und sah, wie ihr Herz immer noch pochte. Das war faszinierend. Ich guckte immer in den Himmel und habe mich entschuldigt, weil ich wusste, es ist falsch! Oder – wenn ich mich mit meiner Freundin vergleiche: In ihrer Waldorfschule in Berlin-Zehlendorf hielten die älteren den jüngeren Kindern die Türen auf. Bei uns hattest du Glück, wenn dich die Älteren nicht von der Treppe schubsten. Deswegen mein Hass auf die Lehrer: Weil die sich nicht kümmerten. Die ließen zu, dass sich die Kinder in den Pausen prügelten und gingen nicht dazwischen.

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Einmal wurde mein Freund bald zwanzig Minuten von einem Älteren geschlagen. Einer rannte ins Sekretariat und wollte Hilfe holen. Aber keiner kam, es war Mittagspause. Als ich es M. erzählte, merkte ich erst an ihrer Reaktion, wie viel Angst ich wohl selbst gehabt haben muss. Heute denke ich, man hätte die Eltern zur Verantwortung ziehen oder zu den Eltern gehen müssen. Aber was hätte einem da auf dem Schulhof geblüht?«

Auf Johannes trifft die Annahme Oliners zu, dass, wer von den elterlichen Objekten keine wirkliche Verwendung machen kann, unbewusst auf Zustände von Omnipotenz fixiert bleibt. Johannes’ Zwangsimpulse spiegeln sein inneres Dilemma: »Immer wenn ich etwas wirklich begehre, werde ich mit einer Katastrophe bestraft! Wenn ich mich dagegen passiv verhalte, kann ich nicht enttäuscht, verlassen oder anderweitig bestraft werden!« Bestand eine frühe Katastrophe für Johannes im Verlust des Vaters, kommt es wenige Jahre später anlässlich des Unfalltodes seines Onkels zum nächsten traumatischen Verlust. Die Mutter erlebt er als nur enttäuschend. Die Oma, die die Kriegsgräuel erlebt hat, deponiert in den noch kleinen Kindern angstvoll magische Deutungen eben der Art, die sich in Johannes innerem Dilemma wiederfinden und seine Passivität zementieren. Johannes kann sich zwar als ödipaler Sieger fühlen, fühlt sich aber in dieser Rolle überfordert und zieht sich zurück in eine tröstende Traumwelt amerikanischer Filme. Dort findet er das familiäre Glück, das er real vermisst. Als er den Vaterersatz, den geliebten Onkel, durch einen Unfall verliert, entwickelt er seine Symptomatik.

Das Amfortas-Syndrom Mehrfach wurden von Kollegen – vor allem in den ersten Jahren unserer Gruppenarbeit – Patienten vorgestellt, bei denen wir »Täter«-Anteile vermuteten. Welche Übertragungsfiguren entwickelten sich in solchen Therapien? Zunächst stellten wir fest, dass die Möglichkeiten von Therapeuten, mit Täteranteilen zu arbeiten, sehr stark von ihren Fähigkeiten abhängt, mit ihren negativen Eigenübertragungen umzugehen. Für mehrere von uns, die in der DDR politisch oppositionell eingestellt und während der friedlichen Revolution in der Bürgerbewegung engagiert waren, wurde es erst im Laufe mehrerer Jahre und unter dem Einfluss eigener analytischer Erfahrungen möglich, mit »Tätern« zu arbeiten. In den ersten Jahren kam

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es häufiger zu agierten Verweigerungen psychotherapeutischer Behandlungen oder Abbrüchen bald nach deren Beginn. Ein Kollege brachte es im geschützten Rahmen unserer psychohistorischen Gruppe einmal auf die Formel: »Dieser Patient hat keine Analyse verdient!« Eine Form der Abwehr eigener negativer Übertragungen auf den Patienten zeigte sich in Form von Hemmungen, Patienten mit vermeintlichen Täteranteilen direkt zu konfrontieren. Besonders ausgeprägt war diese Reaktionsbildung bei Kollegen, die selbst politischer Verfolgung oder Haft ausgesetzt waren. Gerade sie gerieten am ehesten in Versuchung, jetzt ihrerseits diesen Patienten gegenüber Macht auszuüben. Sie reagierten mit ihren Hemmungen auf Impulse, sich an ihren Patienten für früher erlittenes Unrecht rächen zu wollen. Wir fanden hierfür das Bild des Amfortas-Syndroms. In Wolfram von Eschenbachs ParzivalErzählung könnte Parzival den an einer nicht heilen wollenden Wunde leidenden Gralskönig Amfortas erlösen, wenn er ihm die »richtige« Frage stellte. Die richtige Frage wäre die nach der Ursache seines Traumas. Aber Parzival ist jung, unerfahren und wagt es nicht, den König mit dessen Untat zu konfrontieren. »Sag, was du siehst«! lässt Richard Wagner Gurnemanz seinem Schützling ermutigend zurufen. Aber erst als Parzival nach längerer Entwicklung zum Mann gereift ist, findet er den Mut, dem alten, leidenden König die erlösende Frage nach dem (Täter-)Trauma zu stellen. »Täter-« oder »Opferanteile« unserer Patienten können als evokative Objekte angesehen werden, wie Christopher Bollas (2009) es für bedeutsame Objektbezüge vorgeschlagen hat. Diese Objekte regen unsere Phantasien in besonderer Weise an. Sie können eine Versuchung für uns Analytiker darstellen, aktuell ein Szenario herzustellen, in welchem wir eine günstigere Rolle einnehmen als beim »vorherigen Mal«. Je eher Kollegen politisch verfolgt waren, desto vorsichtiger reagierten sie im Sinne einer Reaktionsbildung gegenüber aggressiven Impulsen auf den Patienten. Der kantige Spruch »So ein Patient hat keine Analyse verdient!« stammt aus jener Zeit. Heute, wo wir eher Kinder ehemaliger »Täter« in der Therapie sehen, gelingt es uns – auch dank der psychohistorischen Arbeit –, besser mit solchen Übertragungsproblemen umzugehen. Vera Kattermann, eine Kollegin unseres Institutes, beschreibt darüber hinaus ein Täter-Opfer-Paradoxon, das die Aufarbeitung der deutschen Geschichte grundsätzlich erschwert: »Die Ambiguität von

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Täter- und Opfererfahrungen schafft eine innerseelische Pattsituation, die […] die Fähigkeit zu seelischer Verarbeitung einschränkt. Bis heute fällt es in der öffentlichen Auseinandersetzung schwer, Opfer- und Täteraspekte als zusammengehörig zu empfinden und zu reflektieren« (Kattermann, 2015, S. 1047). Schuldgefühle behindern noch heute das Betrauern von Verlusten und Traumata sowohl in West- als auch in Ostdeutschland.

Erfahrungen aus Ost-West-Behandlungen und die autoritäre Übertragung Ostdeutsche mussten sich nach dem Systemwechsel die westdeutsche Kultur aneignen. Berlin stellt wie kein anderer Ort ein Labor dieses Transformationsprozesses dar. Daher sehen wir in Ost-West-Konstellationen von Patienten und Psychotherapeuten eine interessante Möglichkeit zum Studium dieser Übergangsphänomene. Wie wir schon in früheren Arbeiten zeigen konnten, bleiben dem »fremden Blick« kulturelle Selbstverständlichkeiten der von Patient und Therapeut geteilten Kultur verschlossen (Marahrens-Schürg u. Froese, 1997). Dieser Blick kann aber das von Therapeut und Patient geteilte kulturell Selbstverständliche erhellen. Kommen beide aus fremden Kulturen, entstehen zusätzliche Verständnismöglichkeiten, wenn es gelingt, das kulturell Fremde zu analysieren. Hinsichtlich der Herkunftskultur seines Patienten ist aber der fremde Therapeut oft »blind« (Marahrens-Schürg u. Froese, 1997). Insofern entsteht die Frage, ob der Therapeut kultursensibel arbeiten will und kann. Dorothee Adam-Lauterbach, eine Lehranalytikerin unseres Institutes mit West-Sozialisation, hat mehrere Behandlungen von Ost-­Patienten durch Therapeuten aus dem Westen untersucht und interessante Besonderheiten beschrieben: Sie findet es hilfreich, Ost-Patienten zu fragen, warum sie – wenn sie die Wahl haben – einen West-Therapeuten wählen. Sie beobachtet bei sich die Tendenz zu einer vorschnellen Übernahme einer Opferperspektive, welche bei genauerem Hinsehen oft Abwehrcharakter hat. Auf West-Seite dient die vorschnelle Bereitschaft, sich mit der Realitätsdeutung des »Ost-Patienten« zu identifizieren, dazu, Fremdheit, Distanz und Schuldgefühle für das Aufwachsen im freien Teil Deutschlands abzuwehren. Und für den im Osten aufgewachsenen

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Patienten kann mit der Einnahme einer Opferrolle eine angemessene Auseinandersetzung mit seiner Biografie, mit Schuld-, aber vor allem mit Schamaffekten vermieden werden. Denn gerade Letztere spielen in autoritären Kulturen eine besondere Rolle. »Das war eine richtige West-Tussi!« Die Patientin, Frau L., erzählt, dass sie aufgrund des kirchlichen Engagements ihrer Familie in Leipzig kein Abitur machen konnte. Sie selbst war aktiv in der Protestbewegung, stellte zusammen mit anderen politisch engagierten Jugendlichen Flugblätter her, die aufgrund ihres kritischen Inhalts verboten wurden. Sie hätte in der DDR exzellente Schulleistungen gehabt und hätte gerne Medizin studiert, durfte aber nur eine Ausbildung als Bauzeichnerin machen, da ihr der Zugang zum Abitur verwehrt worden war. Zu Beginn der Therapie war sie Anfang 40 und kam wegen Ängsten, Depressionen und vielfältigen psychosomatischen Beschwerden in die Behandlung. Sie lebte in einer unglücklichen Ehe mit einem im Westen aufgewachsenen Mann, von dem sie sich nicht verstanden fühlte. Das Ehepaar kommunizierte kaum miteinander und hatte wenige Berührungspunkte. Von den drei gemeinsamen Kindern war ein Kind wegen massiver psychischer Störungen in stationärer Behandlung. Frau L. litt unter ihrem Hausfrauendasein, was sie auf ihre Ausbildung zurückführte, mit der sie nach der Wende keine Chance gehabt hätte, beruflich Fuß zu fassen. Sie sah sich als Opfer der DDR-Repression, weil sie sich vom Staat um ihr Abitur betrogen und sich deshalb als beruflich gescheitert erlebte. Während die Therapeutin sie zu Beginn der Behandlung als mutige Leipziger Montagsdemonstrantin phantasiert und idealisiert hatte und keine Zweifel an den von ihr erlebten staatlichen Einschränkungen hatte, problematisierten die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten in einer Balintgruppen-Sitzung die Darstellung ihrer Biografie und relativierten die von der Patientin vermittelte Unmöglichkeit, in der DDR das Abitur unter den beschriebenen Bedingungen machen zu können. Es hätte bei genügend Engagement, Umwegen und Einsatz durchaus Möglichkeiten gegeben, die Hochschulreife zu erlangen. Es wurde der Therapeutin bewusst, wie sehr sie sich mit der (Opfer-)Perspektive von Frau L. (über)identifiziert hatte. Die Auseinandersetzung in der Gruppe führte dazu, dass aufgrund der veränderten Perspektive eine stärkere Sensibilität für die biografischen Besonderheiten der Patientin entstand. Tatsächlich konnte dann im weiteren Verlauf der Behandlung herausgearbeitet werden, dass es neben den staatlichen Einschränkungen überwiegend familiale und neurotische Gründe waren, die das berufliche Scheitern der Patientin bedingt hatten. Letztendlich bestätigte sich die Einschätzung der Ost-Kollegen, dass Frau L. sich eigentlich von ihren Eltern in ihren Bildungswünschen nicht unterstützt gefühlt hatte. Es wurde der Patientin im weiteren psychoanalytischen Prozess zunehmend schmerzhaft bewusst, wie wenig sie sich von klein auf wahrgenommen und schon immer alleingelassen gefühlt hatte, was sich in der Wahl ihres Ehepartners wiederholt und in der Ehe reinszeniert hatte. Unbewusst war sie von den Eltern enttäuscht und hatte diese Enttäuschung auf das politische System verschoben.

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Das Beispiel kann natürlich nicht die ganze Komplexität der Behandlung wiedergeben, aber durchaus illustrieren, dass in der »westlichen Gegenübertragung« bei der Behandlung von Ostpatienten eine – unter Umständen auch aus Unwissenheit geborene – zu schnelle und vereinfachende Übernahme einer Opfer-Perspektive bzw. die Gefahr der Überidentifikation mit einer Opferrolle erfolgen kann. Adam-Lauterbach beschreibt, dass sie in Analysen mit Ost-Patienten weniger Phantasie zu haben glaubt. Es sei, als fehle ihr ein äußerer Erfahrungs- und ein innerer Vorstellungsraum, der passende Bilder, Assoziationen und Gefühle produziere bzw. zulasse. Dazu passend beschreibt sie das Gefühl, von Ost-Patienten weniger idealisiert zu werden. Wir konnten nachträglich verstehen, dass Adam-Lauterbach beschreibt, wie sich eine im Kern autoritär strukturierte Übertragungsbeziehung etabliert hat. Das Leben in einer autoritären Gesellschaft fordert von den in ihr lebenden Menschen spezifische Anpassungen an die Herrschenden. So erzeugen autoritäre Staaten mittels ihrer Kontrollinstitutionen eine anhaltende Atmosphäre der Angst, insbesondere für diejenigen, die sich politisch nicht konform verhalten. In einer solchen Atmosphäre sind Spaltungen zwischen dem Offiziellen und dem Persönlichen im Zweifel überlebenswichtig. Emotionales wird zugunsten von Rationalem zurückgedrängt. Der »neue Mensch« sollte ideologisch erzogen werden und nicht etwa – wie im Westen – durch Emanzipation entstehen. Als psychisches Erbe der DDR-Sozialisation wurden spezifische Formen und Modalitäten der Anpassung benötigt, gelernt und verinnerlicht. Einen zentralen Anpassungsmechanismus hat Margarete Meador (2001, S. 25 f.) beschrieben: »Die Spaltung selbst ist die in ein gutes beschützendes Objekt, mit dem man sich leicht identifizieren kann, und in ein böses, Ordnung und Gesetz vertretendes, das abgelehnt und projiziert wird. Auf diese Weise wird die gesetzgebende Funktion nicht in reiner Form in das Überich integriert.« Dieser inneren Spaltung folgte der DDR-Alltag. Den Gesetzen des Staates beugte man sich. Man unterwarf sich ihnen, allerdings ohne ihre Autorität wirklich anzuerkennen. So konnten sie zugleich in Teilen ignoriert und zum Teil lustvoll hintergangen werden. Das führte zu massenhafter Nichtachtung staatlicher Vorgaben, mit den bekannten Resultaten fehlenden Engagements, von Mangelwirtschaft und wirtschaftlichem Niedergang.

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In psychoanalytischen Behandlungen werden Analytiker von ostdeutschen Patienten leicht als eine Autorität wahrgenommen, mit der man zunächst im Modus der Unterwerfung umzugehen versucht. Der Patient versucht einerseits, herauszufinden, was der Analytiker »will«, und versucht, sich darauf einzustellen. Gleichzeitig schützt er sich, indem er zumeist schambesetzte wichtige »private« Details für sich behält, um nicht in einer Weise bloßgestellt oder gar bestraft zu werden, wie er es in der autoritären Gesellschaft oft erlebt hat. Kollegen aus dem Westen waren dankbar, wenn wir sie auf diese Dynamik aufmerksam machten. Beim Durcharbeiten der autoritären Übertragung geht es darum, die gespaltenen inneren Objekte zu integrieren. Dabei – auch darauf hat Meador hingewiesen – kündigen große Schuldgefühle oft die Auseinandersetzung mit den erhalten gebliebenen ödipal-gesetzlosen Wünschen nach strafloser Ignoranz des väterlichen Gesetzes und Vereinigung mit dem Mütterlichen an.

Fazit: Geschichte erwarten und mitbedenken! In diesem Beitrag habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie sehr die innere Entwicklung eines Menschen durch äußere, historische Ereignisse beeinflusst werden kann. Mauerfall und deutsche Vereinigung bieten ein gutes Beispiel hierfür, dies zu studieren. Ich habe junge Ostdeutsche zu Wort kommen lassen, die über ihre Erfahrungen in den »Zeiten der Wende« berichten. Und ich habe Arbeitsweise und Ergebnisse einer psychohistorischen Arbeitsgruppe vorgestellt. Manches von deren Ergebnissen gilt für den Übergang aus autoritären Gesellschaften überhaupt. Den Übergang aus einer autoritären in die westlich-demokratische Gesellschaft verstehen wir heute als den Prozess einer Migration. Der Erwerb einer neuen Identität kommt, einer zweiten Pubertät, einer dieses Mal kulturellen Adoleszenz gleich. Dieses Konzept hilft, die Mühen, Irritationen und Rückfälle im Finden einer neuen, bikulturellen Identität von psychopathologischen Entwicklungen zu unterscheiden. Dabei stellt die Weitergabe nicht ausreichend verarbeiteter unbewussten Materials auf die je nachfolgende Generation eine wichtige Brücke dar. Für die betroffenen Menschen bleibt das Hineinwachsen in die

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westlich-demokratische Gesellschaft ein aufregender, störanfälliger und nicht endender Prozess: Denn erst die ihr nachfolgende Generation, das zeigt die Migrationsforschung, hat die tatsächliche Chance, mit Bildung einer eigenen Identität wirklich in dieser Gesellschaft anzukommen! Die Einbeziehung historischer Einflüsse auf unsere Patienten erfordert einen besonderen Aufwand, einen Extraschritt. Den geht man in einem speziellen Setting gemeinsam mit Kollegen leichter und erfolgreicher. Für uns, die wir uns dieser Arbeit gestellt haben, wurde er zu einem anregenden und kreativen Prozess psychohistorischer Selbsterfahrung. Inzwischen gehören diese Erfahrungen für die meisten von uns als eine psychohistorische Wahrnehmungseinstellung zu unserer psychoanalytischen Haltung.

Literatur Adam-Lauterbach, D. (2014). »Das war so eine richtige West-Tussi«. Aspekte der Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik in West-Ost-Therapien. In C. Ecke, M. J. Froese, C. Seidler (Hrsg.), Psychoanalyse in Ostberlin (S. 101–112). Berlin: Edition bodoni. Becker, D. (2014). Die Erfindung des Traumas. Verflochtene Geschichten. Gießen: Psychosozial-Verlag. Bollas, C. (2009). The Evocative Object World. London: Routledge. Bomberg, K.-H. (2009). Traumatisierung durch politische Haft in der DDR. In C. Seidler, M. J. Froese (Hrsg.), Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland (S. 141–150). Gießen: Psychosozial-Verlag. Ecke, C., Froese, M. J., Seidler, C. (Hrsg.) (2014). Vom Glück des Wiederfindens. Psychoanalyse in Ostberlin. Berlin: Edition Bodoni. Faimberg, H. (2005). Telescoping of Generations. Listening to the Narcissistic Links Between Generations (New Library of Psychoanalysis). London u. New York: Routledge. Froese, M. J. (2011). »Dieser Patient hat keine Analyse verdient!« DDR-Geschichte im Behandlungszimmer. In P. Diederichs, J. Frommer, F. Wellendorf (Hrsg.), Äußere und innere Realität. Theorie und Behandlungstechnik der Psychoanalyse im Wandel (S. 316–330). Stuttgart: Klett-Cotta. Froese, M. J. (2014). DDR-Geschichte in der Übertragung. Ergebnisse und behandlungstechnische Überlegungen aus einer psychohistorischen Balintgruppe. In C. Ecke, M. J. Froese, C. Seidler (Hrsg.), Vom Glück des Wiederfindens. Psychoanalyse in Ostberlin (S. 75–100). Berlin: Edition bodoni. Froese, M. J. (2015). Der Osten in uns. Vom weitergegebenen Trauma zur kulturellen Adoleszenz. In S. Walz-Pawlita, B. Unruh, B. Janta (Hrsg.), Identitäten (S. 170–186). Gießen: Psychosozial-Verlag.

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Froese, M. J., Seidler, C. (Hrsg.) (2001). Leben im Übergang. Reihe Psychoanalyse in Ostberlin. Berlin: edition bodoni. Horzetzky, F. (2009). Die Wende in Ostdeutschland für die damals Jugendlichen. Trauma und nachhaltig prägende Erfahrung. In C. Seidler, M. J. Froese (Hrsg.), Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland (S. 245–266). Gießen: Psychosozial-Verlag. Kattermann, V. (2015). Unerträgliche Verbindungen. Nachdenken über Verquickungen von »Täter«- und »Opfer«-Erfahrungen am Beispiel nationalsozialistischer Gewalt. Psyche, 69 (11), 1046–1070. Kestenberg, J. S. (1972). Psychoanalytic contributions to the problem of children of survivors from Nazi persecution. Israel Annals of Psychiatry and Related Disciplines, 10, 311–325. Machleidt, W., Heinz, A. (Hrsg.) (2010). Praxis der interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie. Migration und psychische Gesundheit. München: Elsevier, Urban & Fischer. Marahrens-Schürg, C., Froese, M. J. (1997). Liebende im Schatten der Zeit. In K. Höhfeld, A.-M. Schlösser (Hrsg.), Psychoanalyse der Liebe (S. 281–292). Gießen: Psychosozial-Verlag. Meador, M. (2001). Über eine Anpassungsfigur. In M. J. Froese, C. Seidler (Hrsg.), Leben im Übergang (Reihe Psychoanalyse in Ostberlin, Bd. 2, S. 24–27). Berlin: Edition Bodoni. Oliner, M. M. (2015). Psychische Realität im Kontext. Reflexionen über Trauma, Psychoanalyse und die persönliche Geschichte. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Salberg, J. (2015). The Texture of Traumatic Attachment: Presence and Ghostly Absence in Transgenerational Transmission. The Psychoanalytic Quarterly, 84 (1), 21–46. Seidler, C. (2015). Psychoanalyse und Gesellschaft. Ein Lehr- und Erfahrungsbuch aus Deutschlands Osten. Berlin: edition bodoni. Seidler, C., Froese, M. J. (Hrsg.) (2009). Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland. Gießen: Psychosozial-Verlag. Simon, A. (2014). Thesen zum Verrat. In C. Ecke, M. J. Froese, C. Seidler (Hrsg.), Vom Glück des Wiederfindens. Psychoanalyse in Ostberlin (S. 141– 146). Berlin: Edition bodoni. Trobisch-Lüttke, S., Bombert, K.-H. (Hrsg) (2015). Verborgene Wunden. Spätfolgen politischer Traumatisierung und ihre transgenerationelle Weitergabe. Gießen: Psychosozial-Verlag. Wachholz-Abiodun, A. (2014). Eine Begegnung unter schwierigen Vorzeichen. Vorstellung einer Patientin in der psychohistorischen Balintgruppe. In C. Ecke, M. J. Froese, C. Seidler (Hrsg.), Vom Glück des Wiederfindens. Psychoanalyse in Ostberlin (S. 127–140). Berlin: Edition bodoni. Volkan, V. D. (2012). Die Erweiterung der psychoanalytischen Behandlungstechnik bei neurotischen, traumatisierten, narzisstischen und BorderlinePersönlichkeitsorganisationen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Volkan, V. D. (2015). A Nazi Legacy: A Study of Depositing, Transgenerational Transmission, Dissociation and Remembering Through Action. London: Karnac. Volkan, V. D., Ast, G., Greer, W. (2002). The Third Reich in the Unconscious: Transgenerational Transmission and its Consequences. New York: Brunner-Routledge.

Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Marion Werth

Menschen in der DGIP Interview1 mit Ulrich Seidel und Günter Vogel

Unter der Überschrift »Menschen in der DGIP« werden auf den jährlichen Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie Personen vorgestellt und vor allem jüngeren Kolleginnen und Kollegen persönlich bekannt gemacht, die sich in unterschiedlichen Funktionen, oft über Jahre hinweg, für die Individualpsychologie engagiert haben und auch aktuell noch engagieren. Dabei geht es in den Interviews nicht nur um die sachlichen Verdienste derer, die die Individualpsychologie mitgeprägt und mitgestaltet haben – es geht auch darum, sie als Menschen in ihren ganz persönlichen Eigenarten, in ihrer jeweiligen Entwicklung und in ihren Handlungsmotiven sichtbar und spürbar werden zu lassen. Die beiden Interviewten in diesem Jahr, Dr. (Ulrich) Uli Seidel und Günter Vogel, haben sich neben anderen zahlreichen Aktivitäten besonders mit der »Gruppenpsychotherapie« beschäftigt. Diese Arbeitsform, die über viele Jahre hinweg eine Art Markenzeichen der Individualpsychologie war und dann eine Zeit lang etwas in den Hintergrund beraterischer und vor allem psychotherapeutischer Arbeit geraten ist, wird seit einiger Zeit wieder verstärkt beachtet und praktiziert.

1 Dieser Beitrag ist das überarbeitete und gekürzte Transkript eines 105-minütigen Gesprächs vom 1.11.2015.

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Die Interviewerinnen Elisabeth Fuchs-Brüninghoff arbeitet als selbstständige Beraterin und Coach. Sie ist Lehrberaterin (DGIP) und seit mehr als zwanzig Jahren in der Beraterweiterbildung tätig. Außerdem ist sie seit vielen Jahren Mitglied in der AGJ (Arbeitsgemeinschaft Jahrestagungen). Marion Werth ist Diplom-Psychologin und Individualpsychologische Psychoanalytikerin. Sie arbeitet seit zwanzig Jahren als Organisationsberaterin und Coach von Führungskräften und Teams. Außerdem engagiert sie sich am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln e. V. in der Weiterbildung und ist dort Mitglied im Ausbildungsausschuss.

Einleitung Das Gespräch begann mit einem Verweis auf den besonderen Reiz des Sonntagmorgens als Übergangsraum. Dann wurden die Zuhörenden gebeten, etwas zu früheren Begegnungen mit den Interviewten zu sagen. Einige Personen aus dem Publikum schilderten Begegnungen mit ihnen, meist im Ausbildungs- oder professionellen Kontext – etwa bei Prüfungen im Studium oder in der Psychotherapieausbildung. Bemerkenswerterweise drehen sich die meisten Erinnerungen um unerwartete Wendungen zum Guten oder sie würdigen bereichernde Erfahrungen.

Das Interview Marion Werth: Herr Vogel, möchten Sie so gesehen werden, wie Sie hier beschrieben wurden? Günter Vogel: Ja, ich fühle mich gerne so verstanden – weil es immer meine Absicht war, mit einer wohlwollenden Haltung Menschen zu begleiten. Ich habe mir dementsprechend auch die hierzu passenden therapeutischen Konzepte ausgesucht. Marion Werth: Es wurde auch gesagt, dass man von Ihnen viel gelernt hat. Das wundert nicht, wenn man sich anschaut, über welche Qualifi-

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kationen Sie verfügen. Sie sind klinischer Psychologe, Psychoanalytiker, Lehranalytiker, Supervisor, Sie sind Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Gruppenlehranalytiker, gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater. Nun haben Sie sich in diesem Jahr dazu entschlossen, ihre Ämter im Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln niederzulegen – Sie möchten also etwas beenden. Ich möchte jetzt aber mit Ihnen zu den Anfängen zurückkehren.

Die persönlichen Anfänge in Individualpsychologie Günter Vogel: Dann möchte ich damit beginnen, zu erzählen, wie ich überhaupt zur IP gekommen bin. Das ganzheitliche Denken, das bei Adler ja zentral ist, habe ich hier in Köln bei Professor Wilhelm Salber2 und seiner »Morphologie« kennengelernt. Dann habe ich ein Praktikum bei Alwin Huttanus3 gemacht, in der psychiatrischen Tagesklinik in Düren. Er hat für die Individualpsychologie geworben – es begann gerade ein neuer Ausbildungskurs in Aachen. Ich musste aber erst noch mein Diplom machen! Der schulpsychologische Dienst, wo ich auch mal gearbeitet hatte, hätte mich gerne übernommen, aber das wollte ich nicht, weil die Kollegen dort nicht tiefenpsychologisch orientiert waren. Dann hörte ich am Aachener Institut, dass eine Individualpsychologische Praxis einen Mitarbeiter suchte. Der Praxisinhaber war Siegfried Seeger. Er war Mitbegründer der Alfred-Adler-Gesellschaft und muss, wenn ich richtig informiert bin, zusammen mit Wolfgang Metzger4 in den 1960er Jahren im Vorstand dieser Vereinigung gewesen sein.5 Jedenfalls 2 Prof. Dr. Wilhelm Salber war von 1963 bis 1993 Direktor des Psychologischen Instituts der Universität zu Köln. 3 Dr. rer. pol. Alwin Huttanus, Fachpsychologe für Klinische Psychologie und Psychoanalytische Therapie, Psychoanalytiker DGIP. 4 Prof. Dr. Wolfgang Metzger war bis 1968 Professor für Psychologie an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster, 1962 Mitbegründer und erster Vorsitzender der Alfred-Adler-Gesellschaft (seit 1970 »Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie«) und langjähriger Herausgeber (der Fischer-Taschenbuchausgabe) der Schriften Alfred Adlers. 5 Siegfried Seeger war seit 1966 zweiter Vorsitzender der Alfred-Adler-­ Gesellschaft.

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hatte er seine Praxis in Aachen und er hat, glaube ich, auch als Erster einen Ausbildungsgang in Individualpsychologischer Psychotherapie in Aachen gegründet. Da gab es das Alfred-Adler-Institut noch nicht. Ich bin also zu ihm hingegangen und habe angefragt, ob ich mitarbeiten könnte. Da habe ich erstmals live individualpsychologische Atmosphäre erlebt. Seeger hat mich gefragt, was ich bisher denn so gemacht hätte und ob ich Gutachten schreiben könnte. »Ja«, sagte ich, »das habe ich bei Salber gelernt.« Als ich ihm dann mein Diplomzeugnis vorlegen wollte – ich hatte das ja gerade mal ein, zwei Wochen –, sagte er: »Ach, das interessiert mich gar nicht. Ich beurteile die Menschen so, wie sie erscheinen und auftreten.« Am Ende hat er dann aber doch gesagt: »Wenn sie es schon mal dabeihaben, dann zeigen sie es mir mal!« Dann sprach er mit mir über meine Aufgaben: »Nachher kommt eine Patientin, in anderthalb Stunden. Können Sie mit ihr sprechen, um anschließend den Bericht an den Gutachter zu schreiben?« Da habe ich spontan »Ja« gesagt, bin noch mal ein bisschen durch die Stadt gelaufen und habe überlegt, was das überhaupt sein könnte: ein »Bericht an den Gutachter«. Nun ja, ich habe mit der Patientin gesprochen und habe den Bericht verfasst. Ach ja – Seeger gab mir noch so ein kleines Heftchen – es gab damals kaum Literatur zu diesem Thema. Wenn ich mich recht erinnere, informierte ein Text von Dietrich Langen (1970) über die Abwicklung tiefenpsychologischer und analytischer Therapien in der kassenärztlichen Versorgung. Das habe ich dann studiert. Drei Tage lang habe ich an diesem Bericht geschrieben, habe 35 DM dafür bekommen. Ein paar Wochen später bot mir dann der delegierende Arzt – damals waren ja alle psychologischen Behandler sogenannte »Nichtärztliche Therapeuten« und konnten nur im Rahmen des »Delegationsverfahrens« Psychotherapien durchführen – 160 DM für die Abfassung eines »Berichts an den Gutachter«. Tja, so war das damals. Marion Werth: Das war aber eine steile Karriere! Günter Vogel: Nun ja – es hat sicherlich von Anfang an dazu beigetragen, meinen Weg in die Selbstständigkeit zu suchen. Nicht so sehr wegen des Geldes, sondern weil ich so selbst erfahren hatte, was schon in den Seminaren im Ausbildungskurs über Ermutigung und schöpferischer Kraft gesagt worden war!

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Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Jetzt möchte ich Uli Seidel mit seinen Weiterbildungen und Abschlüssen genauer vorstellen. Er ist Psychoanalytiker DGIP und DGPT, Lehr- und Kontrollanalytiker DGIP/DGPT, aber auch Gruppenanalytiker, gruppenanalytischer Teamsupervisor, Organisationsberater (DEAG) und Sexualtherapeut. Außerdem hat er eine Weiterbildung in Gruppendynamik abgeschlossen, ist Chi-Gong-­ Lehrer und – last, but not least – Imker! Ganz offensichtlich ist er jemand, der immer gerne gelernt hat, der immer wieder zu neuen Ufern aufgebrochen ist. Uli, du warst schon früh viel unterwegs: Geboren im Vogtland, in der Nähe von Plauen, kamst du im Alter von 13 Jahren in den Westen, nach Kassel, besuchtest dort eine koedukative Schule, zogst dann ins Rheinland, hast in Köln studiert und in Bonn promoviert. Wie bist du vom Studium – oder von der Promotion – zur Individualpsychologie gekommen? Uli Seidel: Ich kam schon während des Studiums zur IP. Verschiedene Assistenten von Salber hatten Verbindungen zum Düsseldorfer AlfredAdler-Institut6. Da war vor allem Günter Heisterkamp aktiv – damals war er Assistent an der Pädagogischen Hochschule, glaube ich, und die war direkt neben dem Psychologischen Institut. Von Adler hatte ich im Studium gehört, er interessierte mich. Ich kann nicht sagen, dass ich theoretisch schon so viel gewusst hätte, um sagen zu können, ich entscheide mich bewusst für Adler. Es waren die Personen, die ich kannte, die mich da hingezogen haben. Allerdings ging es für mich in dieser Zeit auch um die Frage – ich habe seinerzeit schon in der Erziehungsberatung gearbeitet – was ich längerfristig machen will. Klar war, ich wollte selbstständig arbeiten. Eine abgeschlossene Psychotherapieausbildung schien mir eine gute Möglichkeit zu sein, mich später niederzulassen und ein gesichertes Einkommen zu haben. So bin ich zur IP gekommen, ans Düsseldorfer Institut. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Du hast dann tatsächlich recht früh selbstständig gearbeitet – und hast dich nie in Organisationen wirklich einbinden lassen. Außer im Delmenhorster Institut (Alfred-Adler-Institut

6 Damals: Institut für wissenschaftliche Individualpsychologie.

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Nord), wo du zehn Jahre lang das Institut geleitet hast. Was war deine Motivation, das zu machen? Uli Seidel: Also: Ich war eine Zeit lang auch angestellt. Ich bin ja vorhin an meine Zeit als Assistent an der Uni in Bonn erinnert worden. Das waren wunderschöne, gute Zeiten, die mich sehr geprägt haben. Aber auch da, wenn ich das jetzt bedenke, waren die Menschen ausschlaggebend, die dort waren. Da war Professor Alf Däumling7 und das Team, in dem ich gearbeitet habe. Aber auch Delmenhorst hatte viel mit Beziehungen zu tun. »Alleinherrscherin« war dort ja seinerzeit Thea Ahrens8. Ich kam nach Delmenhorst, hatte meine individualpsychologische Ausbildung in Düsseldorf abgeschlossen und ich glaube, Günter Heisterkamp hatte ihr einmal gesagt: »Ach, der Uli Seidel, das ist schon ein guter Mann, der kann euch helfen.« Es war gerade die Zeit, als das Delmenhorster Institut von der Kassenärztliche Bundesvereinigung anerkannt worden war und damit die Abrechnungsgenehmigung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherungen bekommen hatte. Das hieß, jetzt musste gelernt werden, wie man die Berichte an die Gutachter schreibt – aber kaum einer konnte das. Da kam ich gelegen: »Uli, du hast doch in Düsseldorf die Ausbildung gemacht, du hast schon im Delegationsverfahren gearbeitet, mach doch die entsprechenden Kurse hier bei uns!« Und dann kamen natürlich auch all die Menschen, die schon länger ihre Ausbildung abgeschlossen hatten und jetzt Berichte schreiben mussten, in den Kurs. Wie ich dann Institutsleiter geworden bin, kann ich gar nicht so genau sagen. Ich glaube, dass da im Hintergrund … Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: … andere entschieden haben oder Fäden gezogen haben?

7 Prof. Dr. Alf Däumling war von 1963 bis zu seiner Emeritierung 1981 Professor für klinische Psychologie an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. 8 Thea (»Thedi«) Ahrens, langjährige Vorsitzende des AAI Nord und Leiterin der Delmenhorster Fortbildungstage.

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Uli Seidel: Thedi … ja, sie hat wohl die Fäden gezogen, und es war ziemlich schwer, aus ihren Fäden oder Fängen wieder herauszukommen. Einige von den Älteren, die hier sitzen, wissen das wahrscheinlich. Ich glaube, was sie wollte, das ist meistens auch passiert. Ich bin froh, dass ich mich in der Funktion, die ich dann hatte, aus diesen Fäden lösen konnte – was sie auch zugelassen hat, und das fand ich toll. Vielleicht war es ihr möglich, weil ich auch vieles in ihrem Sinne gemacht habe.

Das Sich-Einlassen und die psychoanalytische Haltung Marion Werth: Sie haben jetzt beide erzählt, dass Sie sich auf Dinge eingelassen haben. Gestern sagte auch Herr Sasse9, dass es oft die Hingabe ist, die das Leben bereichert. Aber gibt es auch Dinge, auf die Sie sich nicht einlassen? Oder nicht eingelassen haben auf ihrem Weg? Uli Seidel: Ich habe lange gebraucht, bis ich mich auf die Ehe eingelassen habe. Das hat ziemlich lange gedauert, und ich bin froh, dass ich schließlich geheiratet habe. Wenn ich gerade ins Publikum schaue und meinen Sohn dort sitzen sehe, dann fühle ich mich in diesem Entschluss einmal mehr bestätigt. Marion Werth: »Ich war immer selbstständig«, haben Sie, Herr Vogel, im Vorgespräch gesagt. Gab es auch Dinge, die Sie abgelehnt haben, obwohl sie Ihnen angeboten wurden? Günter Vogel: Ich möchte mich lieber auf das Berufliche beschränken, sonst fehlt die Zeit nachher. Uli Seidel: Günter, ich hab schon verstanden! Das ist keine Selbsterfahrungsgruppe hier!

9 Vergleiche auch die Schriftfassung seines Vortrags »Vom Verharren im inneren Gefängnis oder warum Emanzipation ohne ermutigende Beziehung nicht gelingen kann« in diesem Tagungsband.

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Günter Vogel: Ja, den Rahmen kann man aber natürlich immer individuell definieren. Zum Einlassen und wohlwollenden Begleiten gehört für mich jedenfalls, sich angemessen abzugrenzen. Wie bei mir seinerzeit gegenüber nicht tiefenpsychologisch orientierten Aufgaben und Tätigkeitsfeldern. Das hat sich allerdings im Laufe der Zeit auch geändert: Ich bin allmählich offener für andere Verfahren geworden. Dabei ist mir aber wichtig: Wenn ich andere Vorgehensweisen integriere, dann immer auf dem Hintergrund einer analytischen Haltung und Denkweise. Aber mir fällt jetzt noch etwas anderes ein, nämlich: Ich wollte mich lange Zeit nicht auf die Institutsarbeit in Aachen einlassen. Dann hat Ulrike Lehmkuhl10 mir in zahlreichen »Motivationsgesprächen« in Delmenhorst, in den Pausen und auch schon mal bei Spaziergängen an den schönen Weihern im Delmenhorster Stadtpark, nahegelegt, eben doch Aufgaben im Aachener Institut zu übernehmen. Ich hab’s dann gemacht und nachher habe ich das auch sehr, sehr gerne gemacht. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Uli, du hast mal einen Vortrag gehalten (und diesen dann später auch veröffentlicht) mit dem Titel: »Ach wie gut, dass niemand weiß …, dass ich Individualpsychologe heiß.« Du hast darüber gesprochen und geschrieben, dass wir Individualpsychologen teilweise Identitätsprobleme haben, weil wir oft Schwierigkeiten haben, uns zur Individualpsychologie zu »bekennen«. Nun bist du ja jemand, der eine individualpsychologische Ausbildung hat, der in einem adlerianischen Institut aktiv geworden ist, der aber auch diverse andere Sachen gemacht hat. Inwieweit ist die Individualpsychologie für dich ein inhaltliches oder geistiges Zuhause? Uli Seidel: Die Individualpsychologie ist auf jeden Fall mein Zuhause, meine geistige therapeutische Heimat. Wenn ich nicht irgendwo so ein Zuhause hätte, würde ich mich, glaube ich, in anderen Dingen verlieren. Im Laufe meiner Orientierungsbewegungen gab es Phasen, in denen ich ein Problem hatte: Sollte ich mich »Psychoanalytiker DGIP« oder 10 Ulrike Lehmkuhl, Univ. Prof., Dr. med. und Dipl. Psych., war bis 2015 Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité in Berlin, erste Vorsitzende der DGIP von 1987 bis 2004. Sie ist u. a. Herausgeberin und Mitherausgeberin der »Beiträge zur Individualpsychologie«.

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»Psychoanalytiker DGPT« nennen? Ich hatte sogar Schwierigkeiten, mich überhaupt mit diesem »Psychoanalytiker« zu identifizieren. Ich habe gesagt: »Das bin ich doch gar nicht!« Dann habe ich mit Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen und habe gemerkt: Na ja, ich bin es ja doch, aber nicht so in diesem klassischen Sinne. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, was es bedeutet, eine psychoanalytische Haltung zu haben und nicht einer Theorie anzuhaften. Insofern lässt sich das, was ich im Laufe der Zeit alles getan habe, nicht nur mit der Individualpsychologie vereinen, sondern vor allem mit ihrem Menschenbild, ihrer Zielorientiertheit und ihrem ganzheitlichen Verständnis. Das alles deckt sich mit meinen Grundüberzeugungen. Tatsächlich bin ich damals, noch zu meiner Zeit in Bonn, meinem damaligen Chef, Alf Däumling, »in die Hände gefallen«. Ich weiß nicht einmal, welche Ausbildung er genau hatte, aber er war jemand, der ganz offen war. Gelegentlich sagte er, er sei Jungianer. Wir aber waren in der Abteilung Klinische Psychologie alles Mitarbeiter mit unterschied­lichen Verfahren oder unterschiedlichen Hintergründen, das war von Alf Däumling bewusst so gewollt. Damals habe ich gemerkt, dass das gut möglich ist, dass Dinge nebeneinanderstehen können und man trotzdem eine gemeinsame Basis hat. In diesem Sinne ist die Individualpsychologie meine Grundlage. Marion Werth: Ist die IP für Sie, Herr Vogel, auch die geistige Heimat, oder kommt noch anderes dazu? Günter Vogel: Bei mir ist es ähnlich, aber auch etwas anders. Anders insofern, als ich von Anfang an zweigleisig gefahren bin. Ich bin bis heute mit in der freudianischen Tradition stehenden Analytikern befreundet, auch mit Mitgliedern der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Nicht zuletzt habe ich acht Jahre mit Luise Redde­ mann11 zusammengearbeitet, anfangs als freier Mitarbeiter, später hatten wir eine Praxisgemeinschaft. Frau Reddemann war damals phasenweise streng und zum Teil orthodox-analytisch ausgerichtet, was vielleicht auch ihren weiteren Werdegang erklärt. 11 Prof. Dr. med. Luise Reddemann, Nervenärztin und Psychoanalytikerin, Begründerin der »Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie PITT«.

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Ich will damit sagen, dass mich Begriffe und Konzepte von Adler wie die »finale Betrachtungsweise«, die »finale Verarbeitungsweise«, die »schöpferische Kraft« und das Konzept der »Ermutigung« – bei allem Interesse an anderen Sichtweisen – die ganze Zeit über – es sind im nächsten Monat exakt vierzig Jahre – begleitet und geleitet haben. Und das nicht nur intuitiv, aus dem Bauch heraus: Ich habe mir immer wohlüberlegt auch andere Konzepte dazugeholt – ob das Sichtweisen der analytischen Ich-Psychotherapie waren (damals sprach man ja noch mehr von Ich-strukturellen Störungen, woraus sich dann später die Konzepte der strukturellen Therapie entwickelt haben) oder die entwicklungsfördernde Psychotherapie. Jahrelang war ich bei Peter Fürstenau12 in Fortbildung – seine Auffassungen und Erkenntnisse sind dem adlerschen Konzept der Ermutigung verwandt. Es war auch möglich, die für Adlerianer ja besonders wichtige finale Betrachtungsweise mit anderen analytischen Konzepten zu verbinden, etwa mit den Modellvorstellungen von Mentzos13 über Formen der neurotischen Konfliktverarbeitung. Auch hier finden wir die Bedeutung der Zielgerichtetheit menschlichen Handelns oder den Aspekt der Dysfunktionalität neurotischer Symptome. Hier fand ich adlersche Gedanken zeitgemäß formuliert: Dysfunktionale Erlebens- und Verhaltensweisen haben immer eine Zielgerichtetheit, damit versucht die betroffene Person immer – in der Regel natürlich unbewusst –, etwas zu bearbeiten, etwas zu erreichen oder zu verhindern. Es gab aber auch Phasen, wo ich Schwierigkeiten hatte, individualpsychologisches und klassisch freudianisches Gedankengut miteinander zu verbinden. Wo ich mich manchmal sozusagen in Parallelwelten befunden habe. Aber, ich glaube, im Großen und Ganzen ist mir die Integration gelungen. Marion Werth: Sie sagten einmal »Ich bin immer Analytiker geblieben.« Ist das damit gemeint?

12 Prof. Dr. phil. Peter Fürstenau gilt als Vertreter der systemischen und ressourcenorientierten analytischen Psychotherapie und Psychoanalyse. 13 Stavros Mentzos (1930–2015) war Psychiater und Psychoanalytiker und Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums der Universität Frankfurt a. M.

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Günter Vogel: Ja, die analytische Haltung ist immer meine Grundeinstellung. Ich würde das so formulieren: Zu meiner Identität gehört es, analytisch-individualpsychologisch zu denken, zu verstehen und zu intervenieren. Darüber hinaus sind vielfältige Behandlungskonzepte von Bedeutung und hilfreich, etwa konfliktzentrierte, strukturzentrierte, entwicklungsfördernde oder lösungsorientierte Interventionsformen. Mit dieser Konzeption fühle ich mich als Analytiker. Selbst wenn ich früher gelegentlich konsiliarisch zu Notfallgesprächen ins Krankenhaus gerufen wurde, habe ich mit einer solchen analytischen Haltung diese eine Sitzung dort durchgeführt. Später kam dann aber noch das systemische Denken und die Arbeit mit Gruppen dazu, aber auch das auf diesem Hintergrund des analytischen Verstehens, Denkens und vor allen Dingen auch Reflektierens. Ich bin also sehr dafür, auch andere Methoden und Techniken kennenzulernen und mitzubenutzen, wenn sie mit meinen Grundhaltungen in Übereinklang zu bringen sind. So habe ich mich z. B. intensiver mit der Behandlung von Angststörungen beschäftigt. Bei diesen Störungen liegt es ja auf der Hand, dass man auch verhaltenstherapeutische Techniken integriert, aber immer mit der oben beschriebenen Grundhaltung und verbunden mit analytischen Reflexionen. Die Frage: »Was geschieht da? Wie könnte hier das Übertragungsgeschehen zu verstehen sein, welche unbewusste Dynamik, welche Konflikte führen zu dieser Form von Symptombildung?« Solche Überlegungen sind mir bis heute wichtig, und es war insofern immer ein Anliegen für mich, für ein tiefenpsychologisches Verständnis und die tiefenpsychologischen Behandlungsansätze zu werben.

Psychodrama und Gruppentherapie Marion Werth: Haben sie, Herr Seidel, auch experimentiert? Waren auch für Sie die ersten zehn Berufsjahre eine experimentelle Zeit? Eine bewegte Zeit war es ja, wie wir eben gehört haben, auf jeden Fall. Uli Seidel: Das war eine sehr experimentelle Zeit. Ich habe 1968 angefangen zu studieren und 1972/73 im Köln Diplom gemacht. Diese Zeit, Ende der 1960er, die ganzen 1970er Jahre und auch noch der Beginn

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der 1980er Jahre waren eine sehr experimentierfreudige Zeit – die allerdings für mich auch etwas eingegrenzt war durch meine individualpsychologische Ausbildung. Ich glaube, dass ich am Anfang, als ich anfing zu arbeiten, eher wenig riskiert habe. Aber andererseits war das damals eben doch eine insgesamt eher experimentierfreudige Zeit. Günter Vogel: Uli, da kann ich dir nur beipflichten. Ich habe damals beispielsweise eine Kindertherapiegruppe geleitet – die haben wir damals schon über die Kasse im Delegationsverfahren abgerechnet – obwohl ich dafür noch gar keine Zulassung hatte. Weder die Versicherungsträger noch die Gutachter haben das bemerkt. Uli Seidel: Ich weiß nicht, ob das Düsseldorfer Institut auch so offen war für Experimente oder nur mein Lehranalytiker. Ich habe 1975 in Düsseldorf die Ausbildung begonnen, war aber gleichzeitig in einer Psychodrama-Ausbildung. Das war zumindest für meinen Lehranalytiker kein Problem. Der fand das sehr spannend. Marion Werth: Wie war das möglich? Psychodrama – oder andere Formen – zur Individualpsychologie hinzuzunehmen? Und wie hat die Verbindung funktioniert? Wie kam es dazu? Gab es einen Mangel in der Ausbildung oder was hat zu diesem Entschluss geführt? Uli Seidel: Also, das hatte erst einmal gar nichts miteinander zu tun. 1974, glaube ich, im Frühjahr, ist Jakob Levi, der sich Moreno nannte, verstorben. Ich erzähle mal die Geschichte, obwohl ich nicht weiß, ob alles so der Wahrheit entspricht, wie ich es jetzt berichte. Auf dem Totenbett soll Moreno zu seinen Schülerinnen, die Deutsche und bereit waren, nach Deutschland (zurück) zu gehen, gesagt haben: »Wenn ich tot bin, bringt ihr bitte mein Erbe dorthin.« Eine der Frauen hatte, wie viele Amerikaner, einen Deutschen im Stammbaum. Zu ihr sagte er: »Du bist prädestiniert, geh du nach Deutschland.« Und diese Frau stand dann Ende 1974 mit einem Koffer, ihrem Mann (der Tenor war) und zwei Kindern in Köln. Sie hatte Kontakt zum »Kölner Therapeutenkollektiv«. Ich weiß nicht, ob es diese Institution heute überhaupt noch gibt. Da ist sie jedenfalls dann eingezogen: mit Koffer, Mann und ihren zwei Kindern. Im Haus des Kollektivs gab es

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einen Gruppenraum, und als sie den sah, soll sie gesagt haben: »Hier mache ich eine Psychodramagruppe.« Da ich in Köln studiert hatte und die Leute aus dem Kollektiv kannte, haben sie mich gefragt: »Hast du nicht Lust auf Psychodrama?« Ich hatte keine Ahnung, was das ist, wollte aber mal schauen. Und dann war ich so fasziniert von dieser Frau als Ausbilderin, dass ich sagte: »Ja, ich mache es.« Als ich ihre Arbeitsweise kennenlernte, war ich fasziniert und ganz erschlagen von dem, was mit dieser Methode möglich war. Vorher hatte ich Gruppendynamik in Münster gemacht, hatte diverse andere Gruppenerfahrungen, kannte ein bisschen Bioenergetik. Aber das, was da passierte, fand ich toll, überwältigend. Fast gleichzeitig habe ich in Düsseldorf meine IP-Ausbildung begonnen. »Gruppe« spielte im Institut in Düsseldorf damals auch eine wichtige, jedoch eine ganz andere Rolle. Es gab eine die Ausbildung begleitende Gruppe und Gruppenselbsterfahrung. Ich weiß nicht mehr genau, wie es dann passiert ist, ich war da schon in Delmenhorst, hatte meine beiden Ausbildungen länger schon beendet, da wurde ich von verschiedenen Seiten gebeten, das Psychodrama mal vorzustellen, in München, Düsseldorf und dann auch in Delmenhorst. So hat sich das verbunden, ganz praktisch und in mir, denn die Konzepte, das Menschenbild und die Methoden beider Schulen sind nach meiner Auffassung sehr kompatibel. Ich war ja keineswegs der Erste, der so dachte. Es gab vor mir schon mehrere Individualpsychologen, die mit Psychodrama gearbeitet und auch darüber veröffentlicht hatten. Marion Werth: Wie war das für Sie, Herr Vogel? Wie sind Sie zur Gruppenpsychotherapie gekommen? Ich weiß, dass Sie mit Frau Reddemann zusammengearbeitet haben – war das der Anlass oder gibt es noch einen anderen Faden, von dem wir noch nichts wissen? Günter Vogel: Mir ist auf der Fahrt hierher heute morgen klar geworden, wie prägend meine Praktika-Erfahrungen waren: Schulpsychologischer Dienst, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, psychosomatische Klinik, dann die Landesklinik – da ist das Interesse für Gruppen­behandlung bei mir geweckt worden. Ich hatte das Glück, als Praktikant bei einer stationären analytischen Gruppentherapie als beobachtender Teilnehmer dabei zu sein. Die Gruppenleiter waren Luise

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Reddemann und Günther Langensiepen, Psychiater und Analytiker in Köln. Ich durfte schon als »kleiner« Praktikant alle Gruppensitzungen beobachten und auch die Supervision nachher miterleben, die die beiden nach jeder Sitzung hatten. Das hat mich außerordentlich fasziniert. Damals wurde nach dem Konzept »Behandlung der Gruppe als Ganzes« gearbeitet. Das ist, würde ich heute sagen, eine recht fragwürdige Methode und für viele Patienten eine Überforderung, um nicht zu sagen Traumatisierung. Aber es hatte auch etwas sehr Faszinierendes für mich und auch für die Gruppenleiter, denn es ist eine enorme narzisstische Aufwertung, wenn man auf diese Weise eine Deutungshoheit hat. Mich hat außerordentlich beeindruckt, welche Reaktionen man mit solchen Behandlungen auslösen kann. Ich habe viele Patienten auch nach den Sitzungen auf der Station erlebt. Es hat mich sehr fasziniert, wie bei Patienten, die sich überhaupt nicht in die Gruppe einbringen konnten, durch die Teilnahme an der Gruppe trotzdem Veränderungen in Gang gekommen waren. Später hat Luise Reddemann sich in Düren niedergelassen. Sie war lange Zeit die Erste, die hier Psychotherapie anbot. Wir arbeiteten dann zusammen, hatten bald eine derartige Fülle an Patienten, dass wir zunächst aus rein pragmatischen Gründen dazu übergingen, viele Patienten in Gruppen zu behandeln. Was aus heutiger Sicht sicherlich nicht immer ideal war. In den »Hoch-Zeiten« hatten wir zwölf Therapiegruppen in der Woche, jeden Tag zwei – es wurde ja damals auch samstags gearbeitet. Ich hatte das Glück, über vier Jahre in vier Gruppen Co-Therapeut zu sein. Da habe ich viel gelernt. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Und wie kam es zur Verbindung Gruppentherapie und Individualpsychologie? Günter Vogel: Das muss Ende der 1980er Jahre gewesen sein. Immer wieder war bei den Lehranalytikertreffen, die ja überregional einmal im Jahr stattfinden, gesagt worden: »Der Adler, der hat doch auch schon in Gruppen in seinen Beratungsstellen gearbeitet, das ist doch originär individualpsychologisch, sollen wir das nicht auch anbieten?« Pragmatisch, wie man war, wurde gefragt: »Wer hat denn Erfahrungen mit Gruppen?« Damals meldeten sich nur Alwin Huttanus, der schon die Gruppenausbildung bei der DAGG (dem Dachverband für Gruppen-

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analyse) begonnen oder abgeschlossen hatte, und ich, weil ich ja schon viel mit Gruppen gearbeitet hatte. Also haben wir in der Fachgruppe Lehranalyse der DGIP einen Vortrag gehalten. Danach hatte sich die einhellige Auffassung durchgesetzt, dass individualpsychologische Psychotherapeuten auch Gruppen anbieten sollten. Später, ich glaube 1990 oder 1991, ist dann die AGG (Arbeitsgemeinschaft für Gruppentherapie der Alfred-Adler-Institute in der DGIP) entstanden, die viele Jahre überregional die theoretische Ausbildung für alle sechs Adlerinstitute organisiert hat. Diese AGG habe ich dann zwölf Jahre geleitet und selbst auch viele Ausbildungsgänge hier in Köln begleitet. Natürlich tauchte in diesem Zusammenhang auch immer wieder die Frage auf: »Was ist individualpsychologische Gruppen­ psychotherapie?« Marion Werth: Gruppen haben heute in der psychoanalytischen Ausbildung nicht mehr den Stellenwert wie damals. Woran liegt das? Was sind Ihre Hypothesen, womit hat das zu tun? Uli Seidel: Bei uns in Delmenhorst gab es den Umbruch mit der Anerkennung des Instituts durch die Kassenärztliche Vereinigung und die DGPT. Wir haben damals die von diesen Institutionen vorgegebenen Richtlinien übernommen, in denen Gruppenselbsterfahrung (und das Erlernen gruppentherapeutischer Behandlungsformen) während der Regel-Ausbildung nicht vorgesehen war und ist. Da sich die Anforderungen an die Ausbildungsteilnehmer durch die Anpassung an die DGPT-Richtlinien in vielen anderen Punkten drastisch erhöht hatten, fiel bei uns »die Gruppe« einfach weg, was wir sehr schade finden. Dabei ist die Bedeutung der Gruppe so groß: Seit wir auf der Welt sind, leben wir immer in Gruppen. Es ist wirklich sehr schade, dass dieser Ausbildungsbestandteil weggefallen ist. Ich glaube übrigens, dass das auch viel mit einem Blickwinkel zu tun hat, der sich allmählich in den Adler-Instituten durchgesetzt hatte: Weg von der Individualpsychologie und hin zu mehr »klassisch« psychoanalytischen Behandlungsformen. Wir hatten da aber auch zugegebenermaßen viel Nachholbedarf. Günter Vogel: Ein entscheidender Punkt war auch, dass mit den neuen Richtlinien der DGPT die Gruppenselbsterfahrung nicht mehr als (Teil

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der) Lehranalyse für die Ausbildung zum Einzelanalytiker anerkannt wurde. Früher war die Gruppenselbsterfahrung für Ausbildungsteilnehmer in der DGIP obligatorisch – mit ein Grund, warum viele Adlerianer an Gruppentherapie interessiert waren. Zu meiner Zeit mussten wir ja noch – und das war gut so – Gruppenselbsterfahrung machen. Marion Werth: Sie sagen: »Das war auch gut so.« Warum? Günter Vogel: Weil man in der Gruppe die Möglichkeit hat, ganz andere Beziehungserfahrungen nicht nur zu machen, sondern auch zu reflektieren, also zu erleben und, mit einer guten Gruppenleitung, auch durchzuarbeiten. Damit will ich die Bedeutung von Einzeltherapien und Einzelanalysen nicht schmälern. In manchen Fällen sind diese dringend notwendig oder sogar die einzig mögliche Arbeitsform, aber eine Gruppenpsychoanalyse erweitert das Spektrum der Selbsterfahrung noch einmal auf einer ganz anderen Ebene. Man könnte sagen: Nicht nur auf einer ödipalen, sondern auch auf einer postödipalen Ebene können hier Konflikte in vielfältigen Bezügen erlebt und bearbeitet werden. Marion Werth: Es gibt ja auch Psychoanalytiker, die Angst haben, Gruppen zu machen. Wieso haben Sie keine? Günter Vogel: Ich kenne durchaus auch diese natürliche Angst vor Gruppen. In bestimmten, problematischen Gruppensituationen kommt sie immer wieder. Man kann und soll sie meines Erachtens gar nicht verlieren. Sie ist ja sogar ein Anreiz und schärft die Wahrnehmung für die Konflikte, Probleme und Herausforderungen, die sich gerade in Gruppenprozessen ergeben. Ich kann mich auch an, oft nahezu unerträgliche Gefühle erinnern, die damit zu tun hatten – vor allem, als ich anfing, mit Gruppen zu arbeiten –, dass ich die Dynamik der Gesamtgruppe nicht so recht verstand. Das könnte auch daran gelegen haben, dass ich am Anfang meist teilnehmender Beobachter in den Gruppen war und dann die Supervision dieser Gruppenanalysen miterlebt habe. Das war oft tatsächlich nicht leicht zu verstehen. Da gab es beispielsweise damals einen Supervisor – er war DPV-Analytiker –, der gab irgendwie beeindruckende »Super-Deutungen«. Heute würde ich sagen, sehr, sehr abgehoben und weit entfernt vom konkreten Lebens-

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alltag der Patienten. Damals hat mich das gereizt, herausgefordert, ich wollte das auch können. Ich weiß auch – das habe ich später in der Supervision von angehenden Gruppentherapeuten erfahren –, dass die Gruppenpsychotherapie vielen große Angst macht wegen der Unüberschaubarkeit der Abläufe in einer Gruppe. Wir fühlen uns in der Einzelsituation, insbesondere, wenn uns Patienten mit der Zeit recht vertraut sind, manchmal ganz wohl und sicher. Die Prozesse in der Einzelbehandlung sind uns vertraut, und die Therapie »läuft«. Was aber in einer Gruppe an Dynamik abläuft, das weiß man vorher nie! Was machen z. B. diejenigen Gruppenmitglieder, die aus meinem Blickfeld geraten? Solche Fragen und Situationen können tatsächlich Angst machen. Wenn man aber nachher, in der Supervision, lernt, auch mit solchen, relativ undurchschaubaren Situationen umzugehen, dann können ganz spannende Phänomene und Prozesse erkannt werden, die sich in der Einzeltherapie so gar nicht erst ereignen. Auch deshalb werbe ich gerne für Gruppenbehandlungen. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Wie ist das für dich, Uli? Was macht für dich den Reiz in der Arbeit mit Gruppen aus? Wo liegt für dich die Anstrengung, und kennst auch du Befürchtungen? Uli Seidel: Ich bin, wenn ich jetzt darüber nachdenke, eher ein bisschen überrascht, dass ich zur Gruppe gekommen bin. Meine ersten Gruppenerfahrungen waren nämlich nicht nur gut. Ich machte sie bei der Arbeitsgemeinschaft Gruppendynamik in Münster (AGM). Ich habe da ein sogenanntes »Laboratorium« mitgemacht – ich weiß gar nicht mehr wie lange, vielleicht eine Woche oder zehn Tage. Großgruppe, Kleingruppe, absolut ohne Struktur. Man saß in der Gruppe, es gab zwei Trainer, von denen ich erwartet hatte, dass die auch mal was sagen. Aber von denen kam nichts. Es war alles nur strukturlos. Ja, das war da damals so. Sie nannten das »Therapie für Gesunde«. Das war meine erste Gruppenerfahrung als Teilnehmer. Ich habe in dieser Gruppe erlebt – ich war damals 22 oder 23 Jahre alt –, wie sich zwei gestandene Pastoren plötzlich vor der Gruppe prügelten. Ich dachte natürlich, einer der Trainer greift jetzt ein. Das war aber nicht so. »Wo bin ich hier gelandet?«, fragte ich mich. Aus lauter Verzweiflung und Einsamkeit habe ich mich in eine Teilnehmerin verliebt – aber die hatte

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sich »natürlich« leider in den Gruppenleiter verliebt. So war das. Das war meine erste Gruppenerfahrung. Dass ich das ausgehalten habe und geblieben bin, hat, glaube ich, mit mir und meiner Geschichte zu tun. Ich bin in einer Großfamilie groß geworden auf dem Land. Mein Vater war Bäcker, und alle Verwandten lebten als Großfamilie zusammen unter einem Dach: Oma, Tante, Cousine. Das war Gruppe pur. Da hatte ich reichlich »Gruppen-Vorerfahrung«. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Und da gab es auch Schwierigkeiten, die sich nicht aufgelöst haben? Und: Du bist in der Gruppe ja auch geblieben, in der Familiengruppe. Uli Seidel: Ja, das ist vielleicht der Humus. Und dann habe ich später doch noch die richtigen »Gruppen-Leute« getroffen. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Ab wann war Gruppe für dich dann positiv? Nach diesen ersten, nicht so erquicklichen Erfahrungen? Uli Seidel: Ich bin ja wieder hingegangen, habe weiter Gruppendynamik gelernt. Es war auch nicht so, dass es nur negativ war. Es war eben dramatisch. Meine ersten Erfahrungen hatten mich zunächst sehr verwirrt und durcheinandergebracht, aber ich bin dabeigeblieben und später dann selbst in der Ausbildung von Gruppentherapeuten aktiv geworden. In unseren Ausbildungsgängen der AGG habe ich oft das Thema »Indikation« vertreten. Ich habe dann nicht nur theoretisiert, sondern den Teilnehmern auch Übungen angeboten. Da gab es z. B. folgende kleine Übung: Ich bat die Teilnehmer, sich in Zweierkonstellationen zusammenzutun. Einer war Therapeut, einer war Patient. Der Therapeut sollte die Indikation für die richtige Behandlungsform stellen. Der Teilnehmer in der Therapeutenrolle hatten eine halbe bis dreiviertel Stunde Zeit, ein Erstgespräch zu führen, ein ganz normales Erstgespräch. Dann bekam der »Therapeut« einen Zettel von mir, auf dem stand: »Egal, wie dieses Erstgespräch gelaufen ist, du stellst jetzt die Indikation Gruppentherapie. Du sagst zum »Patienten«:»Ich habe eine Gruppe, komm da rein!« Und – ich glaube, fast alle, bis auf ganz wenige Ausnahmen der Personen in der Patientenrolle, die ja alle gleichzeitig Teilnehmer

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in der Gruppentherapieausbildung waren – haben reagiert mit: »Nee, warum das denn, ich möchte lieber eine Einzelbehandlung!« Die waren ganz irritiert, sie wollten nicht in die Gruppe, obwohl sie selbst in der Ausbildung zum Gruppentherapeuten waren. Dann haben wir die Situation reflektiert und darüber gesprochen, wie das für einen Patienten ist, wenn ich ihm gegenüber sitze und sage: »Wunderbar, ich habe einen Platz in der Gruppe für Sie.« Was löst das aus? Den meisten Patienten macht es einfach eine Menge Angst. Sie haben eine Stunde hinter sich, ein Erstgespräch, in dem sie nicht nur befragt wurden, sondern sich auch verstanden fühlten – und dann sagt der Therapeut: »Ich habe da eine Gruppe für Sie.« »Nein!« Da zeigt sich die Angst vor der Gruppe. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Was ist der Gewinn für dich, mit Gruppen zu arbeiten? Was macht dir Freude? Uli Seidel: Ich empfinde die Begegnung mit vielen Menschen in der Gruppe, diese Unterschiedlichkeit, das, was die unterschiedlichen Teilnehmer mitbringen, als eine große Bereicherung. Vielleicht spielt auch eine Rolle, dass in dieser Art von Arbeit eine Menge Bestätigung für den Therapeuten drin ist. Ich glaube, man hat als Gruppenpsychotherapeut eine größere Potenz. Man bewirkt sehr viel, es passiert mehr als in der Einzeltherapie. Das auszuhalten, damit umzugehen, dieses Geflecht zu erfassen, zu verstehen – all das kostet oft viel Energie, aber es bringt auch ganz viel Energie zurück. Günter Vogel: Da kann ich mich noch mal einklinken, jetzt aber aus der Patientenperspektive. Denn genau diesen Gewinn haben die Patienten auch! Zum Thema »Indikationsstellung«: Grundsätzlich finde ich, die Frage, welche Therapieform als die geeignetste erscheint, sollte immer in einem gemeinsamen Prozess der Abstimmung zwischen Therapeut und Patient geklärt werden. Dazu gehört immer auch eine gründliche Aufklärung und Vorbereitung der Patienten. Ist dieser Prozess gut gelaufen, läuft die Behandlung besser. Auf die Gruppe bezogen, kläre ich die Patienten über die enormen Herausforderungen auf, die sich in einer Gruppentherapie meist ergeben, sage ihnen, was eine Teilnahme für sie bedeuten kann und dass die Dynamik in Gruppen anfangs von vielen als Anstrengung und Härte

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erlebt wird. Dann kommt das berühmte »Aber«. Dann zähle ich die Vorteile auf: In der Gruppe kommt es schneller zu tieferen, konstruktiven regressiven Prozessen, die therapeutisch genutzt und viel schneller – in der Regel mit dem Ende der jeweiligen Gruppensitzung – wieder beendet werden können. Wer sich auf die Gruppe einlässt, erlebt meist schnell einen Zuwachs an sozialer Kompetenz oder sozialer Potenz. Davon hattest du, Uli, eben gesprochen, das geschieht auf Therapeuten- und Patientenseite gleichermaßen. All dies kann man möglichen Interessenten an einer Gruppe sagen, so kann man analytische Gruppenarbeit »schmackhaft machen«, so kann man Patienten zur Teilnahme an einer Psychotherapiegruppe motivieren.

Zur Zukunft von Individualpsychologie und ihrer Organisation Marion Werth: Herr Vogel, in unserem Vorgespräch habe ich Sie gefragt, ob Sie Trends in der psychotherapeutischen Landschaft sehen. Einen haben Sie schon benannt: dass Gruppenarbeit in den zurückliegenden Jahren seltener geworden ist. Sie haben auch gesagt, dass man früher anders mit dem Thema Aggression umgegangen sei. Würden Sie das auch so sehen, Herr Seidel? Uli Seidel: Dazu will ich zunächst einmal sagen: Ich glaube, dass er kippt – der Trend mit der Gruppe. Die Gründe, dass er kippt, mögen ökonomische sein: Gruppentherapie wird inzwischen besser bezahlt. Außerdem lässt sich die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung mit Gruppenpsychotherapie besser sicherstellen. Die Gruppe bekommt wieder eine größere Bedeutung, da bin ich absolut sicher. Marion Werth: Und was ist mit dem Umgang der Therapeuten mit Aggression im Rahmen von Einzel- oder Gruppenbehandlungen? Günter Vogel: Das ist natürlich erst einmal persönlichkeitsbedingt, ob jemand – Therapeut wie Patient – dazu tendiert, in der therapeutischen Situation aggressiv oder konfrontativ zu agieren. Es sind in der Regel ja auch nur konstruktive Äußerungsformen von Aggressionen sinnvoll.

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Wenn diese aus irgendwelchen Gründen zu entarten drohen, sind sie, so gut es geht, einzugrenzen. Das ist ganz klar. Aber: Ich stelle die These in den Raum, dass Patienten in den letzten Jahren oder Jahrzehnten zunehmend als Opfer gesehen wurden und nicht auch als Täter, als (verantwortlich) handelnde Personen. Diese Sichtweise hat Konsequenzen im Hinblick auf die Haltung der Therapeuten und ihre Vorgehensweise in der therapeutischen Sitzung. Das heißt natürlich nicht, dass ich dafür plädiere, Patienten anzugreifen, anzuklagen oder ihnen etwas vorzuwerfen – nein, im konstruktiven Sinne aggressiv sein heißt, Patienten mit ihrer Eigenverantwortlichkeit zu konfrontieren. Das sind jetzt die ödipalen Themen, von denen ich manchmal den Eindruck habe, dass die nicht mehr so häufig aufgegriffen werden wie früher. Fragen zum Thema Rivalität, Konkurrenz, Neid, Eifersucht oder auch zu zum Teil nicht immer so guten Absichten und Impulsen, die in Konflikten zwischen Menschen eine Rolle spielen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Patienten durch die weitgehende Vermeidung dieser Themen heute weniger in ihrer Verantwortlichkeit angesprochen werden. Wenn man das aber in der therapeutischen Situation macht, wird man sofort merken, dass sich die Atmosphäre verändert. Dann ist der Therapeut nicht mehr nur der wohlwollende Begleiter – der ich ja auch gerne bin –, sondern es geht dann darum, Patienten mit ihren problematischen Lebens- und Verhaltensweisen zu konfrontieren. Das Ziel ist dabei ja nicht, den Patienten zu verurteilen, sondern ihn dazu zu ermutigen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, und ihn darin zu unterstützen, am Ende besser die Verantwortung für die eigenen Gefühle und Handlungen übernehmen zu können. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Sonntagmorgen als Übergangsraum, so sind wir heute gestartet. Jetzt sitzen hier zwei Personen, die viele Jahre sehr aktiv in der DGIP waren und die durch ihre Arbeit den Verein mitgeprägt haben. In wenigen Wochen findet am Rande der Delegiertenversammlung der DGIP eine Zukunftswerkstatt statt. In diesem Zusammenhang noch diese Frage: Wo kann es mit der DGIP hingehen? Was braucht dieser Verein, was braucht diese Fachgesellschaft, um zukunftsfähig zu bleiben, zukunftsfähig zu werden? Oder hat die DGIP vielleicht gar keine Zukunft?

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Uli Seidel: Wenn ich den gestrigen Abend14 sehe, hat sie eine Zukunft. Es waren so viele junge Leute da, es ist Stimmung da, es ist Gemeinschaft da, es gibt viel Interesse und auch heute, es ist Sonntagmorgen, sehe ich noch relativ viele Zuhörende hier. Ich hatte eine Zeit lang Angst, dass die DGIP bald untergehen könnte. Die Mitgliederzahlen, auch die Anzahl der Teilnehmer an den Jahrestagungen waren rapide zurückgegangen, und ich dachte: »Mein Gott, wo landet das?« Aber dann hat sich erneut viel verändert: Ein bisschen war das so wie Regen in der Sahara. Ich habe da gar keine Sorge. Deine Frage, Elisabeth, war, was braucht die DGIP? Kann ich so einfach gar nicht sagen, weiß ich nicht, aber ich habe keine Sorge. Günter Vogel: Ich will mal so anfangen. Ich bin sehr für methodische Klarheit, auf dem Hintergrund von durchdachten und verstehbaren Konzepten. Ich bin darüber hinaus für Spontaneität und intuitives Handeln. Auf dem Hintergrund meiner Grundhaltung kann und will ich mein therapeutisches Handeln reflektieren, sodass daraus kein negatives Agieren entsteht. Was ich gerne weitergeben möchte ist, dass es auf der einen Seite so etwas gibt wie ein analytisches Arbeiten im engeren Sinne und dass es darüber hinaus viele Modifikationsmöglichkeiten in der praktischen Arbeit gibt. Hier würde ich gerne die Weiterentwicklung in der Individualpsychologie sehen. Wenn ich heute noch am Anfang oder in der Mitte meines Berufs­ lebens stehen würde, würde ich wieder neue Gruppen anbieten: Kurzzeitgruppen, störungsspezifische, auf bestimmte Krankheitsbilder bezogene oder auf die Thematik interkultureller Konflikte bezogene Gruppen. Mit Blick auf das diesjährige Tagungsthema »Geschlossene Gesellschaften« kann ich sagen: Für Flüchtlinge, aber auch für die einheimische Bevölkerung – alle brauchen Hilfe dabei, mit den aktuellen Problemen umzugehen. Auch hier bieten sich Gruppen an. Sicherlich nicht immer nur psychoanalytische Therapiegruppen, aber auch diese. Das kann man durchaus realisieren mit einer analytischen Haltung 14 Herr Seidel bezieht sich hier auf den jährlich im Rahmen der Tagung stattfindenden Gesellschaftsabend, der in diesem Jahr in der Hahnentorburg in Köln stattfand.

Menschen in der DGIP253

und Vorgehensweise, die bereit ist, in die Tiefe zu gehen und sich die unbewussten Konflikte und Mangelsituationen der Betroffenen anzuschauen. Ziel sollte meines Erachtens immer sein, Menschen dabei zu helfen, ihr Gesamtleben besser zu meistern. Nach meinem Verständnis ist es immer eine individualpsychologische Perspektive, die Bewältigung des gesamten Lebens im Auge zu behalten. Marion Werth: Ein klares Statement! Noch eine weitere Frage: Sie sind ja beide Funktionäre gewesen, auch in Adler-Instituten. Herr Seidel, Sie haben das Delmenhorster Institut geleitet, Herr Vogel, Sie waren zwölf Jahre lang Leiter der Arbeitsgemeinschaft Gruppenpsychotherapie AGG. Soll es diese Institutionen weiter (bzw. wieder) geben, soll es die Adlerinstitute und soll es die DGIP weiterhin geben? Hat all das aus Ihrer Sicht eine Zukunft? Oder sollte alles ganz anders werden? Günter Vogel: Ich meine, ich hätte gerade die Frage sinngemäß schon beantwortet. Ich kann und will weiter für die Adler-Institute und die DGIP werben. Es gibt so viele engagierte Kolleginnen und Kollegen, die das hier super machen und die Sache der Individualpsychologie konsequent und überzeugend vertreten. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Aber noch einmal genauer: »Wie ist das mit der Organisation? Wie viele Motivationsgespräche haben Sie, Herr Vogel, schon geführt, wie Ulrike Lehmkuhl das vor Jahren mit ihnen gemacht hat, damit andere auch in Funktionen gehen? Günter Vogel: Schon viele. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Und die Funktionen sind auch gut nachbesetzt? Günter Vogel: Ich kann nur sagen, dass ich schon für Nachwuchsausbilder gesorgt habe. Uli Seidel: Ich war immer optimistisch, warum auch immer, dass das mit der DGIP weitergeht. Die Mitverantwortung für das Gesamte ist

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Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Marion Werth

mir, offen gesagt, inzwischen aber ein bisschen zu groß und zu weit weg. Ich konzentriere mich eher auf das Alfred-Adler-Institut Nord. Dass es da weitergeht – und es geht da weiter. In Delmenhorst haben wir insgesamt etwa fünfzig bis sechzig Ausbildungskandidaten. Ich habe gegenwärtig hier keine Sorgen, es melden sich genügend Interessenten an und wir machen eine gute Ausbildung. Ich vermute, das ist in den anderen Adler-Instituten genauso. Wir haben viel zu bieten und einiges, was andere nicht zu bieten haben. Viele Kolleginnen und Kollegen kommen, weil sie gehört haben oder wissen: Da bekomme ich eine gute, fundierte Ausbildung und da stimmt das Klima, der Umgang miteinander. Vielleicht leben wir auch in der Ausbildung noch ein wenig davon, was wir Gemeinschaftsgefühl nennen. Wenn wir das beibehalten und solche Veranstaltungen wie diese Jahrestagung hinbekommen, warum sollte es uns bald nicht mehr geben? Günter Vogel: Da kann ich nur zustimmen. Ich will jetzt hier nicht in eine übertriebene Idealisierung verfallen und auch nicht nur auf die Inhalte Bezug nehmen. Unsere offene und wohlwollende Haltung ist es, die viele Kollegen überzeugt. Ohne allzu sehr in ein Schwarz-WeißDenken zu verfallen – auch in anderen Verbänden arbeiten ja engagierte und von ihrer Sache überzeugte Menschen –: Wir dürfen ruhig selbstbewusst auf unsere Stärken hinweisen. Wenn in Zukunft die Arbeit mit Gruppen in unseren Ausbildungsgängen, vielleicht auch gefördert durch die DGIP, wieder mehr Gewicht bekommen würde, wäre das ein weiterer Pluspunkt für uns und eine Sache, bei der wir auf eine lange Tradition zurückblicken können. Marion Werth: Das sind doch eine Menge ermutigende Worte und Gedanken für die Zukunft der Institute und auch der DGIP. Wir möchten uns bei Ihnen beiden ganz herzlich bedanken, dass sie heute hierhergekommen sind und über sich gesprochen haben. Sie hatten ja zunächst beide gesagt, dass Sie nicht so gerne kommen wollen, haben sich dann aber doch überreden lassen … Elisabeth Fuchs-Brüninghoff:  … vielleicht auch überzeugen oder gewinnen lassen …

Menschen in der DGIP255

Marion Werth: … Herr Seidel meinte zunächst etwas zähneknirschend: »Mir ist gesagt worden, es ist eine Ehre …« Günter Vogel: Es könnte auch sein, dass es die Angst vor der Großgruppe ist. Da haben wir beide schon Hunderte von Seminaren gemacht, aber dann sitzen wir hier, konnten uns nicht vorbereiten mit Literaturstudium oder Ähnlichem und sind immer noch irgendwie aufgeregt. Marion Werth: Ich kann nur sagen, wir haben uns an ihren Ausführungen erfreut. Ich bin ganz stolz, dass Sie zu der Geschichte der Individualpsychologie mit ihren persönlichen Geschichten beigetragen haben und dass wir diese Geschichte jetzt um ein weiteres Kapitel ergänzen können. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff: Auch von mir ein herzliches Dankeschön, dass Sie sich auf diese offene Situation und das Gespräch mit uns hier eingelassen haben!

Literatur Langen, D. (1970). Tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie in der kassenärztlichen Sprechstunde. Stuttgart: Hippokrates Verlag.

Die Autorinnen und Autoren

Michael J. Froese ist Sozialpsychologe, niedergelassener Psychoanalytiker (DPG, DGPT) und Gruppenanalytiker in Potsdam. In der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin (APB) ist er als Dozent, Supervisor und Lehranalytiker tätig. Arbeitsschwerpunkt: Gesellschaft und Psychoanalyse. Elisabeth Fuchs-Brüninghoff ist als Individualpsychologische Beraterin und Lehrberaterin (DGIP) selbständig im Bereich Beratung, Coach­ing und Fortbildung tätig. Petr Günsberg, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DGIP, DGPT), ist als Supervisor und Lehranalytiker am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln und in eigener Praxis tätig. Mathias Hirsch, Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (affiliiertes Mitglied DPV, DGPT), Gruppenanalytiker und in ausklingender psychoanalytischer Praxis in Düsseldorf tätig. Bärbel Husmann, Dr. phil., Dipl.-Päd., Individualpsychologische Beraterin (DGIP), Religions- und Chemielehrerin, ist als stellvertretende Schulleiterin am Gymnasium Meckelfeld/Niedersachsen tätig. Holger Kirsch, Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP/DGPT), ist als Professor für Sozialmedizin am Fachbereich Soziale Arbeit der Evangelischen Hochschule Darmstadt und am Alfred-Adler-Institut Mainz tätig und verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für Individualpsychologie.

Die Autorinnen und Autoren257

Angelika E. Otto, Dipl.-Psych., ist derzeit Ausbildungskandidatin am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln. Natalie Pampel, M. A., ist Erziehungswissenschaftlerin und derzeit Ausbildungskandidatin am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln. Elisabeth Rohrbach, Dr. med., Dipl.-Psych., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, ist ärzt­liche Leiterin der Tagesklinik Alteburger Straße in Köln und im Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin tätig. Heiner Sasse, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker und Lehrana­ lytiker (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Witten, am Alfred-­ Adler-Institut Düsseldorf und als Lehrbeauftragter an der Universität ­Witten-Herdecke tätig. Albrecht Stadler, Dipl.-Psych., erster Vorsitzender der DGIP, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in München und am dortigen Alfred-Adler-Institut tätig. Judith Steinbeck, Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT), ist in eigener Praxis in Köln und am dortigen Alfred-Adler-Institut tätig. Pit Wahl, Dipl.-Psych., ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP, DGPT), Supervisor und Dozent am Alfred-Adler-Institut Düsseldorf sowie in eigener Praxis in Bonn tätig. Marion Werth, Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT), ist als Organisationsberaterin und Coach von Führungskräften und Teams sowie am Alfred-Adler-Institut Aachen-Köln tätig.

Personenverzeichnis

A Abbas, A. 106, 135 Adam-Lauterbach, D. 225, 229 Adler, A. 9 f., 20, 27, 40, 43, 45 ff., 58 ff., 88 f., 101, 103, 113, 133, 233, 235, 240, 244 Ahrens, T. 236 Aichhorn, A. 47 f., 60, 141 Akhtar, S. 180, 185, 195 Albani, C. 52, 60 Allen, J. G. 63 Alves, E. M. 103 f. Anderson, L. 82, 84 Ansbacher, H. L. 57, 60 Ansbacher, R. R. 57, 60 Anzieu, D. 183, 195 Armbruster, J. 197, 212 Ast, G. 214, 230 B Baer, J. C. 49, 58, 60 Bahrke, U. 134 f. Bauer, K. O. 44 Bauer, U. 50, 62 Bauman, J. 19 Bauman, Z. 8, 15, 18 f., 21 ff., 28 Becker, D. 218, 229 Becker, G. 165 Beckert, O. 84 Bergler, E. 89 Berkmann, L. 57, 60 Bernfeld, S. 47 f. Berthelsen, D. 91, 103 Bevington, D. 58 ff.

Bieber, I. 90 Bion, W. R. 183, 195 Bittlingmayer, U. H. 50, 62 Blaser, G. 52, 60 Blaß, J. 103 Blech, J. 53, 60 Blomberg, J. 135 Böhm, F. 141, 154 Bollas, C. 195, 224, 229 Böllinger, L. 102 f. Bomberg, K.-H. 218, 229 Bombert, K.-H. 230 Bosma, M. 55, 60 Bourdieu, P. 52 Bowlby, J. 213 f. Brähler, E. 52, 60 Bramesfeld, A. 61 Brangel, C. 215, 219 Braun, C. v. 101, 103 Brehm, M. 106, 136 Broberg, J. 135 Brockmann, J. 106, 133 Bruder-Bezzel, A. 46, 60, 89, 103, 113, 133 f. Bruder, K.-J. 113, 134 Brüggemann, B. R. 49, 60 Brunner, R. 43 Bruns, G. 47, 61 Buchen, H. 44 Buchholz, M. B. 109, 134, 139, 151, 154, 169 f., 174 Burchartz, A. 149, 154 Burgerová, J. 189, 195 Burlingham, D. T. 10, 91 f., 213

Personenverzeichnis259 C Carlsson, F. 135 Chasseguet-Smirgel, J. 99, 104 Chomeini, A. 65 Cremerius, J. 97, 103 D Dannecker, M. 95 f., 100 Datler, W. 47, 61 Däumling, A. 236, 239 Deck, R. 50, 54, 60 Dehmers, J. 164, 171 f., 174 Demetz, P. 192, 195 Denecke, F.-J. 109 Deneke, F.-W. 134 Derrida, J. 190, 194 f. Deserno, H. 61 Deutsch, H. 92, 96, 99, 103 Diederichs, P. 229 Diepold, B. 155 Dieterich, A. 197, 212 Dietrich, P. S. 55, 63 Dittrich, K. 166, 174 Dornes, M. 53, 60, 113, 134 Dorn, T. 27 f. Drees, R. 84 Duhigg, C. 134 E Ecke, C. 218, 229 f. Eckert, J. 106, 133 Egle, U. T. 56 f., 60, 62 Ehrenberg, A. 49, 61 Eiling, A. 106, 136 Eliot, T. S. 27 Erdheim, M. 54, 61, 113, 134, 158, 174 Ermann, M. 97, 100, 103 F Faimberg, H. 214, 229 Falke, M. 29 Federn, E. 87, 104 Felitti, V. J. 54 f., 61 Ferenczi, S. 88, 164, 173 f. Ferro, A. 109, 134 Fichtl, P. 91, 103

Fließ, W. 86 Fonagy, P. 58 ff., 63 Fosshage, J. L. 113, 135 Foucault, M. 208, 212 Frances, A. 203, 212 Franz, M. 51, 61 Freud, A. 10, 57, 61, 90 ff., 96, 104, 141, 174, 213 Freud, S. 10, 20, 45, 86 ff., 91, 101, 103, 113, 119, 134, 157, 173 f. Frick, J. 40, 43 Fried, A. 164 Froese, M. J. 218, 225, 229 f., 256 Frommer, J. 229 Fuchs-Brüninghoff, E. 29, 39, 43, 232, 256 Fuggle, P. 58, 60 Füller, C. 163, 165, 171 f., 174 Fürstenau, P. 240 Furtmüller, C. 47, 60 G Gallese, V. 109, 134 Gastner, J. 106, 134 Gauß, C.-F. 33 Geissler, P. 155 Gerhaher, C. 28 Gerlach, A. 134 f., 174 Gerst, T. 53, 61 Gieseke, S. 53, 61 Gissrau, B. 98, 103 Glas, A. 16, 28 Glevarec, H. 101 ff. Goffman, E. 197, 212 Goldstone, R. 190 Grande, T. 106, 134 Green, A. 184, 195 Greer, W. 214, 230 Grieser, J. 139, 155 Grobe, T. G. 136 Gröner, H. 39, 43 Gruen, A. 178, 195 Gstach, J. 47, 61 Günsberg, P. 256 Günter, M. 47, 61

260Personenverzeichnis H Häffner, S. 51, 61 Hahn, D. 61, 197, 212 Han, B.-C. 113, 134 Handlbauer, B. 46 f., 61 Hartmann, S. 106, 134 Hattie, J. A. C. 39, 43 Haubl, R. 49, 61 Hau, S. 61 Heimann, P. 48, 61 Heinz, A. 230 Heipertz, W. 52, 63 Heisterkamp, G. 155, 235 f. Henrich, G. 106, 134 Hensel, G. 24, 28 Hentig, H. v. 40, 44, 165 Herberg, H.-J. 179, 195 Herrmann, P. 41, 44 Herschbach, P. 53, 61 Herzer, M. 87, 104 Hillenkamp, S. 22, 28 Hilsenroth, M. 106, 135 Hirschfeld, M. 86 ff., 104 Hirsch, M. 157, 162, 164, 169 f., 174, 256 Hobson, P. 109, 134 Hofstadter, D. 109, 134 Höhfeld, K. 230 Holder, A. 150, 155 Hölling, H. 51, 61 Holmes, J. 113, 130, 134 Hörmann, G. 52, 63 Horzetzky, F. 218, 230 Huber, D. 106, 134 Huber, G. 28 Hurrelmann, K. 50, 52, 56, 58, 62 Hus, J. 191 Husmann, B. 41, 44, 256 Huttanus, A. 233, 244 J Jakobsen, T. 106, 134 Jankélévitch, V. 195 Janta, B. 229 Johne, M. 103 Jones, E. 88, 190

Jongbloed-Schurig, U. 155 Jung, C. G. 20 K Kächele, H. 134 f. Kafka, F. 28 Kahl-Popp, J. 151, 155 Kant, E. 119 Katsch, M. 159, 174 Kattermann, V. 224 f., 230 Kaufmann, L. 58, 62 Keller, W. 106, 134 Kermani, N. 25 Kernberg, O. F. 95 f., 104, 119, 135, 158, 161, 175 Kestenberg, J. S. 214, 230 Keupp, W. 54, 62 Khan, M. 161 King, M. S. 49, 60 Kirsch, H. 62, 256 Klein, M. 119, 135, 150, 155, 179, 195, 214 Klemm, K. 44 Kleve, H. 54, 62 Kliner, K. 106, 135 Klug, G. 106, 134 Klußmann, R. 119, 135 Klüwer, R. 144 Kohlberg, L. 119 Kölch, M. 47, 62 Kolip, P. 49, 58, 62 König, T. 44 Kordy, H. 53, 62, 106, 135 Kraft, S. 106, 135 Krauss, G. 172, 175 Kristenson, I. 56 f., 62 Kristeva, J. 180 f., 183, 185, 189, 195 Kuh, F. 54, 62 Kühn, R. 133 Kümpers, S. 56, 63 Kuns, M. 51, 61 Künzler, E. 92, 96, 104 L Lacan, J. 184, 195 Lachmann, F. M. 113, 135 Lamott, F. 169, 174

Personenverzeichnis261 Langen, D. 234, 255 Langensiepen, G. 244 Lazar, A. 135 Legeultel, C. 185, 195 Lehmkuhl, U. 44, 61, 134, 136, 238, 253 Leichsenring, F. 106, 135 Leszczynska-Koenen, A. 189, 195 Leuzinger-Bohleber, M. 61, 134 f. Levi, J. 242 Lichtenberg, J. D. 113, 135 Lieberz, K. 51, 61 Luhmann, N. 32, 34, 44, 119 Luther, M. 119 Luyten, P. 106, 135 M Machleidt, W. 230 Mackenbach, M. 52, 62 Mahler, M. 153 Mann, T. 20 Marahrens-Schürg, C. 225, 230 Marmot, M. 50, 52, 60, 62 f. Mayes, L. C. 58, 63 McClelland, D. C. 113 McDougall, J. 92 f., 96, 99, 104 McDougall, W. 113 Meador, M. 227, 230 Melchior, M. 57, 60 Mentzos, S. 240 Merkens, H. 32, 34, 44 Mertens, W. 98, 104 Metzger, W. 233 Meyer, H. 36, 44 Miller, J.-A. 195 Mitscherlich, A. 93 Moor, P. 88, 91, 97, 104 Moreno, J. L. 242 Morgenthaler, F. 98, 104 Mörtl, K. 169, 174 Mousson, P. 84 Müller, B. 48, 62 Müller, W. 17, 28 Multimeier, J. 135 Münch, K. 19, 28, 135 Munz, D. 19, 28, 135

N Negele, A. 134 f. Neises, M. 49, 60, 62 Nickel, R. 57, 62 Nunberg, H. 87, 104, 119, 135 O Oberbracht, C. 106, 134 Obermayer, B. 163, 165, 172, 175 Oelkers, J. 38, 44 Ohling, M. 152, 155 Oliner, M. M. 214, 220, 223, 230 Ortmann, K. 54, 62 Otto, A. E. 64, 257 P Pampel, N. 257 Paul, R. 103 Person, E. S. 157, 175 Pfeifer, H. 44 Poluda-Korte, E. S. 99, 104 Power, D. 54, 62 Puschner, B. 106, 135 Q Quindeau, I. 95 f., 98 f., 104, 113, 135 R Rabung, S. 106, 135 Rado, S. 89 Ramien, T. 104 Rank, O. 88 Ratzke, K. 197, 212 Rauchfleisch, U. 88 f., 98, 104 Raue, J. 137, 155 Raveling, W. 191, 195 Reddemann, L. 239, 243 f. Reiss, S. 113, 135 Reister, G. 51, 61 Renlund, C. 134 Rennert, D. 106, 135 Renn, W. 84 Richardson, P. 134 Richter, M. 50, 62, 106, 135 Rohrbach, E. 257 Rolff, H.-G. 36 f., 44

262Personenverzeichnis Ronte, D. 80, 84 Rose, J. 195 Rosenbrock, R. 56, 63 Rossouw, T. I. 59, 63 Rudolf, G. 106, 134 S Sadler, L. S. 58 f., 63 Saed, B. 9, 64, 66, 69, 72, 74, 80 f., 83 f. Said, E. W. 181, 190, 192, 195 Salberg, J. 214, 230 Salber, W. 233 ff. Sandell, R. 106, 135 Sander, E. 109, 134 Sartre, J.-P. 23 f., 30 f., 34, 44 Sasse, H. 44, 113, 120, 134 ff., 237, 257 Scharff, J. M. 144, 155 Schepank, H. 51, 63 Schlack, R. 51, 61 Schlieffen, H. Graf v. 174 Schlösser, A.-M. 134 f., 174, 230 Schlüter, T. 106, 133 Schmidt-Ott, G. 60, 62 Schmitz, N. 51, 61 Schneider, G. 122, 136 Schnelzer, T. 58, 63 Schoon, I. 55, 63 Schramm, S. 109, 136 Schröder, J. 84 Schubert, F. 17, 28 Schubert, J. 106, 135 Schwartz, F.-W. 61 Seeger, S. 233 Seidel, U. 231 Seidler, C. 218, 229 f. Seidler, G. H. 122, 136 Shahlawandian, B. 84 Shedler, J. 106, 136 Siegel, E. V. 90, 99, 104 Siegrist, J. 50, 52, 60, 62 f. Simon, A. 218, 230 Slade, A. 58, 63 Socarides, C. W. 90, 93 ff., 104 Spitz, R. 119, 136, 153 Springer, A. 19, 28, 134 f., 174

Stadler, A. 257 Stadler, R. 163, 165, 172, 175 Steinbeck, J. 257 Steinmann, S. 136 Stemmer-Lück, M. 48, 63 Stern, D. N. 109, 136, 150 Stoller, R. J. 96 ff., 104 Stoppe, G. 61 Streeck, U. 144, 155 Sturzbecher, D. 55, 63 T Tenbrink, D. 48, 63 Tenckhoff, B. 135 Theorell, T. 63 Tibud, S. 138 f., 144, 149, 155 Tossmann, P. 106, 136 Trautmann-Voigt, S. 144, 155 Trescher, H. G. 48, 62 Tress, W. 51, 61 Trobisch-Lüttke, S. 218, 230 U Unruh, B. 229 Unterberg, J. 84 V Vaillant, G. E. 57, 63 Virchow, R. 46 Vogel, G. 231 Voigt, B. 144, 155 Volkan, V. D. 190, 195, 214 f., 230 Volkholz, S. 165 Vollmer, A. 166 W Wachholz-Abiodun, A. 218, 230 Wagner, R. 27 f. Wahl, P. 44, 134, 136, 257 Walker, C. E. 103 Walz-Pawlita, S. 150, 155, 229 Wassermann, I. 47, 63 Weber, A. 52, 63 Weber, I. 155 Weidenfeller, G. 161, 166, 175 Wellendorf, F. 229 Werth, M. 232, 257 Wilkenfeld, B. 49, 60

Personenverzeichnis263 Winnicott, D. W. 153, 183, 195, 220 Witte, K.-H. 43, 133, 136 Wolff, A. 47 f., 155 Wolff, U. 47 Wurmser, L. 113, 119, 124 f., 130, 136 Wüstenhagen, C. 109, 136

Y Young-Bruehl, E. 90 f., 104 Z Zagermann, P. 159 ff., 175 Zepf, S. 106, 134 Zimmer, S. 58, 62 Zulliger, H. 141

Stichwortverzeichnis

A Abgrenzung 7, 9, 113, 154, 202 Abhängigkeitserkrankungen 120 Abhängigkeitsverhältnis 160, 168 Abkapselung 9, 11 Abnormität 202 Abstinenz 128, 156, 158, 162 Adlerianer 240, 246 Adoleszenz, zweite 213, 217 Affektdissoziation 214 affektgemindert 145 Affektregulation 214 affektschwach 186 Affektüberflutung 143 affektvoll 187 AGG 245, 248, 253 Aggressionsabbau 199 Aggressionshemmung 194 agieren, ausagieren 127, 157, 161, 224 Akzeptanz der Erkrankung 199 Ambivalenz 20, 22, 28, 87, 122, 167, 176, 178, 185, 189, 194 Amfortas-Syndrom 223 f. Angst, flüssige 21 Anpassungsleistung 105, 180 Anpassungsmechanismus 227 Anpassungsproblematik 179 Anpassungsstörungen 9, 52 Arbeitsbündnis, therapeutisches 126 f., 130, 149 Auffälligkeit, psychische 47, 51 Ausbeutung, interpersonelle 94 Ausbeutung, sexuelle 157, 173 f. Ausbeutung, soziale 117

Ausgrenzung 7, 75, 100 f., 103 f., 192, 204 Außenwirkung 90 f. autoritärer Charakter 48 Autoritätsinstanz 197 averbal 150, 168 aversive Anteile 194 B Bagatellisierung 122, 162, 164, 171 Balintgruppe 226 Bedeutsamkeitsgefühl 146 Bedingungen, soziale 46 Behandlungsbündnis 201 Behandlungsdauer 106 f., 132, 208 Belastungssteigerung 201 Besonderungsversuche 111 Bewegungstherapie 206 Beziehungsfähigkeit 128 Beziehungswissen, implizites 150 bikulturell 217 Bilder, innere 70 Bildersprache, paraverbal 139 Bildungsreformen 38 Bindung, gute 130 Bindungsfähigkeit 7, 54 Bindungstheorie 46, 59, 61 Bisexualität 99 Borderline 96, 120, 156, 166 BtG 200, 204, 206 C Checklisten-Psychiatrie 203 Community, psychoanalytische 12 Container 131, 187, 222 Containment 149, 153

Stichwortverzeichnis265 Coping 52 Coping-Fähigkeiten 51 D Dazwischen-Sein 185 Dekompensation 201 Delmenhorster Institut 235, 243, 245, 253 Deponierung 191 Desidentifikation 100 Doppelexistenz 26 Doppeltheit 182, 184, 193 f. Drehbühnenmetapher 69 DSM 202 Dyade 181, 184, 187, 189 E Egozentrik 49, 117 f. Eigenübertragung, negative 223 Eigenverantwortlichkeit 29, 36, 39 Einbindungserfahrung 7 Emigrant 83, 180, 182 Emigration 91, 141, 178 f., 187 Entwertungsphantasien 185 Entwicklungsaufgaben, psychische 198 entwicklungsförderliche Faktoren 8 Ermutigung 10, 40, 234, 240 Eros, pädagogischer 158, 163 Ersatzbindungen 21 Ethnopsychoanalytiker 54 Exilant 180, 185, 189 Exklusion 8, 83, 101 Extraschritt, therapeutischer 229 F Fatalismus 55 Feminisierung 100 Feminitätsschub 95 Finalität 240 Flüchtling 8, 15, 83, 181, 252 Flüchtlingsstrom 22 Forensik 204 fremdenfeindlich 8, 18 fremdenfreundlich 8 Fremdgefährdung 208 Fremdschädigung 118, 120

Fremdsprache und Identität 176, 185 f. Fremdsprachlichkeit 194 G gegenagieren, siehe auch agieren, ausagieren 132 Gegenübertragung 48, 124, 126, 128, 131 f., 144, 148, 161 Gegenübertragungsdynamik 13, 213, 229 Gegenübertragung, sexuelle 157 Gegenübertragungsliebe 157 Gegenübertragung, westliche 227 Geliebtwerden 146 Gemeinschaftsgefühl 57, 254 generative Schemata 52 Gerontokratie 156 Geschlossene Gesellschaft, Theaterstück von Sartre 23, 30 Gewalt, Schutz vor 199 Gewalt, Umgang mit 199 gleichgeschlechtlich 10, 99, 101 f. Globalisierung 15, 22 f. Grenzüberschreiter 166 Grenzüberschreitung 122, 157, 161 Grenzverletzung 122, 157, 165, 173 Großgruppenprozesse 190 Gruppendynamik 12, 161, 165, 235, 243, 247 f. Gruppenlehranalytiker 233 Gruppenpsychotherapie 14, 205, 231, 243, 245, 247, 250, 253 Gruppenselbsterfahrung 243, 245 Gruppentheorieausbildung 14 H Handicap, sozial-ökönomisches 40 Hard-to-reach-Klienten 46 Health-Belief-Modell 52 Heilungsprozess 151, 205, 208 Heilungswunsch 13, 127 Herumeiern, humanes 130, 132 Heterosexualitäten 98 heterosexuell 90, 94 f., 102 Heuchelei 91 Hilflosigkeitsgefühl 72, 124, 144, 148, 173, 193

266Stichwortverzeichnis Holocaust 20, 213 Homoehe 101 Homosexualitäten 98 Homosexualität und Psychoanalyse 10, 85, 87 ff., 92, 95 ff., 100 Humor 29, 42, 73, 183 I ICD-10 97, 202, 211 Identifikation 166 mit dem Aggressor 164, 166, 174 mit den Opfern 12 mit den Tätern 12 Indikationsstellung 249 Individualpsychologie, soziale Bezüge 48 Inferioritätsgefühl, siehe auch Minderwertigkeitsgefühl 152 Inklusionserfahrungen 8 Institutionslogik 12, 196 Integration psychische 12, 93, 99, 144 f., 176, 182, 184, 193 f., 240 soziale 12, 57, 60, 147, 176 ff. Interaktion 150 f., 155, 194, 206 Intergenerationalität 13, 214 Interventionsformen, therapeutische 241 Introjekt 145, 174 Introjektion 122, 153 Inzest 90, 94, 157 ff., 162, 164, 174 Irritation 13, 30, 69 f., 79, 81, 167, 228 J Jugendlichenanalyse 150 Jungianer 239 K Kaufsucht 22 Kausalattributionsstil 52 Kerngeschlechtsidentität 98 KiJus 137, 152 f. Kinderanalyse 137, 140, 151 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten 11, 137, 152, 233 kollusiv 157, 159 Konfliktbewältigungsstrategien 57

Konfliktkumulation 58 Konfrontationshemmung 224 Konsumismus 21 Krankheitseinsicht 139, 208 Kunsttherapie 206 L Labilisierung 219 Latenzkinder 140 Lebendigkeit 42, 187 Lebensbedingungen 9, 45, 47, 50, 52, 56 Lebensstil 22, 39, 54 Leiterpersönlichkeiten 158 Lesben 10, 86, 94, 101 Lesbianismus 92 lesbisch 92, 94 lesbischer Komplex 99 Liebe, abhängige, legitime 173 Liebe in der Analyse, Tagung 156 Linderung 151, 196, 205, 208 Loyalität 158, 160, 166 Loyalitätskonflikt 189, 201 M Macht Beziehungen 11 Gefälle 11 gute 128 Missbrauch 11, 167 Machtstreben 111, 113 f., 117, 123, 132 Männerlastigkeit 98 Masochismus 124 masochistisch 93 f. Massaker von Treuenbrietzen 221 Mentalisierung 46, 50, 54, 57 ff., 130 Mentalisierung, stellvertretende 146 Milieutherapie 205 Minderwertigkeitsgefühl 143, 147 Missbrauch, allgemein 117, 121 Missbrauch, analytischer 160, 168 Missbraucher 158 Missbrauch, multipler 161 Missbrauchsarten 12 Missbrauchsdynamik 160 Missbrauch, sexueller 34, 156, 158 f., 163, 172

Stichwortverzeichnis267 Missbrauchskultur 165, 171 Missbrauchssystem 162 Missbrauchsverhältnisse 160, 164 Mittelschicht 47 Moderne feste 20 f. flüchtige 8, 21 flüssige 8, 18 Morbidität 57 Morbidität. schichtabhängig 54 Mortalität 54 Multiproblempatienten 53 Muttersprache 176, 180, 183 f., 186, 188, 194 N Nähe-Distanz-Konflikt 199 Narzissmus 120, 158 narzisstisch 49, 132, 143, 156 ff., 160 f., 170, 173, 179, 184 f., 191 nonverbal 151 Not-Abwehr-Überkompensationskomplex 108, 111, 118, 120 Nützlichkeit für die Gemeinschaft, nach Adler 46 O Objekte, evokative 224 Ödipuskomplex, weiblicher 99 Ohnmacht 12, 49, 114, 124, 127 f., 134 f., 144, 174, 187, 193, 196, 199 omnipotent 160, 199 Omnipotenz 220, 223 Omnipotenz, Rückkehr zur 220 Opferanteile 224 Opportunitätsentscheidungen. 10 P Paardynamik 149 Pädagogik, psychoanalytische 45 Parallelwelten 240 paraverbal 139 Parentifizierung 219 Passungsangebot 128 Pathologisierung 88, 96 f., 100 Patientenorientierung 12, 196 PEPP 208

Persönlichkeitsrechte 13, 206 Perspektivübernahme 121 Petrifizierung, psychische 184 PISA-Schock 29, 35, 37 PITT 239 Postmoderne 15, 18, 20 Potenz, psychotherapeutische 249 Potenz, soziale 250 Prävalenz 51 f., 56 Prävention 46 Problemlagen, multiple 46 Pseudodiagnose 211 pseudoprogressiv 219 Psychagogik 152, 154 Psychiatrie-Enquete 197, 212 Psychiatrie, Funktionslogik 197 PsychKG 200, 204, 206, 211 Psychodrama 241 ff. Psychoedukation 205 psychohistorisch 13, 217, 220, 224, 229 Psychologisierung 54 Psychopharmaka 199, 205 f. Psychotherapieforschung 133 Pubertät, zweite 228 Public Health 46 Pygmalion-Komplex 160 Q Queer Family 102 R Reaktionsbildung 224 Recovery 199 Reformpädagogik 163, 171 Regenbogenfamilien 101 f. regredieren 160 Reifungsschritte 154 Reifungsschritte, adoleszente 147 Resilienz 46, 54, 199 Ressentiment 12, 22, 176 f., 188 f., 191 f., 194 rigide 11, 105, 130, 132 Rigidität 109, 120, 122, 125

268Stichwortverzeichnis S Sado-Masochismus 124 Schamgefühl 124, 130 f., 133, 149, 161, 185, 210, 226, 228 schichtbezogene psychische Probleme Mittelschicht 45, 47 Oberschicht 47, 51 Unterschicht 47, 51, 53 Schlechtigkeitsgefühle 140 Schuldgefühl 92 f., 149, 161, 171, 174, 177, 225, 228 Schulreformen 36 Schweigekartell 172 Schwule 10, 86, 94, 101 Schwulenfeindlichkeit 98 Selbstausbeutung 49 Selbstbestrafung 93 f. Selbstgefährdung 208 Selbstreferenzialität 34 selbstreferenziell 32 Selbstschädigung 118, 120, 125, 131 Selbststeuerung 199 Selbstwirksamkeitserleben 56 Sicherheiten 8, 15, 20 f. Sicherheitsbedürfnis 17 soziale Milieus 45 Sozialisationsbedingungen 89 Sozialmedizin 46 Spaltung, psychische 48, 227 Statusproblem 152 Status, sozialer 9, 45, 49, 53, 55, 114 Status, sozioökonomischer 45, 50 f. Statusstreben 111, 113 f., 117, 123, 132 Sterberisiko 57 Stottern 72 f., 77 Stressmodell 52 Stressreaktivität 55 Stress-Vulnerabilitätsmodelle 52 Supervision 39, 161, 206, 213, 244, 246 f. Supervisor 233, 235, 246, 256 System geschlossenes 34 offenes 34 Systemumbruch 13, 213, 217 f.

T Tabu 12, 86, 99, 156 ff., 194 Tanztherapie 206 Täteranteile 223 f. Täter-Opfer-Paradoxon 224 Telescoping, der Generationen 214 Therapie für Gesunde 247 Transformationsprozesse, psychische 14 Transgenerationalität 188, 215 transgenerationell 222 Trauma 214 Trauma, Extrembelastung 179, 195 Traumakonzepte 50 Trauma, positives 217 Traumatisierung 60, 222, 229 f., 244 Trennungsaggression 130 Trennungsangst 128 Trennungsfähigkeit 109, 122 f., 127 f., 130 Trennungsunfähigkeit 128 Trennungsunwilligkeit 128 triangulär 100 triangulierend 159, 184 ff. Triangulierung 123, 180 f. Triangulierungsmacht 123 U Übergangsobjekt 181 Übergriff 162 ff., 167, 200, 210 übergriffig 160, 186 Über-Ich 11, 108, 114, 118 ff., 123, 126, 133, 161 Überkompensation 118 Übertragung 48, 120, 126 f., 131 f., 138, 140, 145, 149, 156, 162, 215, 219, 229, 241 Übertragung, autoritäre 225, 227 f. Übertragung, erotische 175 Übertragung, negative 177, 224 Übertragungsarbeit 194 Übertragungsbeziehung 169 Übertragungsdynamik 13, 213 Übertragungsfiguren 223 Übertragungsliebe 156 f., 169, 174.  Siehe Gegenübertragungsliebe

Stichwortverzeichnis269 Übertragungsprobleme 224 Übertragungsqualitäten 170 Übertragung, Vater-Übertragung 193 unanalytisch 214 Unfreiheit 22 Ungleichheit, gesundheitliche 50 Unsicherheit 17, 21 f., 49, 148, 152 Unterversorgung, psychotherapeutische 53, 106 Unterwerfungsagieren 130 Unterwerfungsleistung 105 Unvergebbares 188, 190, 194 Unversehrtheit, Recht auf 210

Vernichtungsangst 145 Verrücktheit 196 f., 199 Verweildauer 211 Verwurzelung 12 Völker, traumatisierte 190 Vulnerabilität 52

V Vatersprache 184 f., 189 Veränderungsmacht 199 Verbitterungssyndrom 219 Vergebbares 190 Vergeben 191 Vergeben, intrapsychischer Vorgang 190 Verhaltenstherapie 56, 107, 241 Verlebendigung 126

Z Zugehörigkeit 7, 47, 54, 83, 177, 185 Zukunft, DGIP 14, 251 Zukunft, Individualpsychologie 14, 250 Zusammenrücken der Generationen 214, 217, 219 Zwangsdiagnose 211 Zwangsheilung, nach Adler 88 Zweierbeziehung 102, 139

W Wandelwunsch 124 Weitergabe, intergenerationelle 188, 214, 228, 230 West-Ost-Therapien 229 Willkommenskultur 68 Wirksamkeitsfetischismus 133